Sie sind auf Seite 1von 513

Germanistik

Sprachwissenschaft
Literaturwissenschaft
Schlüsselkompetenzen

Heinz Drügh
Susanne Komfort-Hein
Andreas Kraß
Cécile Meier
Gabriele Rohowski
Robert Seidel
Helmut Weiß
(Hrsg.)
Germanistik
Sprachwissenschaft – Literaturwissenschaft – Schlüsselkompetenzen

Herausgegeben von
Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein, Andreas Kraß, Cécile Meier,
Gabriele Rohowski, Robert Seidel und Helmut Weiß

Mit Beiträgen von Hans-Heino Ewers, Eric Fuß, Angela Grimm,


Agnes Jäger, Christian Metz, Petra Schulz, Regina Toepfer und Bernd Zegowitz

Mit 140 Abbildungen

Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar


Die Herausgeber/innen
Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein, Andreas Kraß, Cécile Meier, Gabriele Rohowski,
Robert Seidel und Helmut Weiß lehren am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik
bzw. am Institut für Linguistik der Goethe-Universität Frankfurt am Main (s. auch S. 493).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-476-02298-1
ISBN 978-3-476-00399-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00399-7
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist
ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2012 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2012
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis
Vorwort XI

I. Zur Praxis des Germanistik-Studiums 1

1 Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder 3


1.1 Lesen 4
1.1.1 Was lesen Studierende? 4
1.1.2 Wissenschaftliche Texte lesen – Texte wissenschaftlich lesen 6
1.1.3 Wie lesen Studierende? 9
1.2 Reden und Präsentieren 11
1.3 Schreiben 13
1.3.1 Kleine Textsorten 14
1.3.2 Literatursuche 16
1.3.3 Die Hausarbeit 19
1.4 Berufsfelder für Germanist/innen 24

II. Sprachwissenschaft 27

1 Einleitung 29

2 Grammatik 37
2.1 Phonetik und Phonologie 37
2.1.1 Einleitung 37
2.1.2 Phonetik 37
2.1.3 Phonologie 41
2.2 Morphologie 48
2.2.1 Einleitung 48
2.2.2 Grundbegriffe und Teilbereiche 49
2.2.3 Flexion 54
2.2.4 Wortbildung 57
2.3 Syntax 64
2.3.1 Einleitung 64
2.3.2 Satzgliedbau 65
2.3.3 Satzbau 70
2.3.4 Satzarten und komplexe Sätze 76

3 Semantik und Pragmatik 81


3.1 Einleitung 81
3.2 Evidenz für Bedeutungen 81
3.2.1 Paraphrasen 82
3.2.2 Sprecherurteile 83
3.2.3 Funktion von sprachlichen Ausdrücken 83
3.2.4 Was Bedeutungen sind … 84
3.3 Bedeutungsebenen 86
3.3.1 Ausdrucksbedeutung 87
3.3.2 Äußerungsbedeutung 89
3.3.3 Kommunikativer Sinn 94
3.3.4 Expressive und soziale Bedeutung 95

V
Inhaltsverzeichnis

3.3.5 Semantik-Pragmatik-Schnittstelle 96
3.4 Bedeutungsverschiebungen und Mehrdeutigkeiten 96
3.4.1 Metonymie 97
3.4.2 Metapher 97
3.4.3 Lexikalische Mehrdeutigkeiten 98
3.4.4 Strukturelle Mehrdeutigkeiten 102
3.5 Bedeutungsbeziehungen 104
3.5.1 Bedeutungsbeziehungen zwischen Wörtern 104
3.5.2 Bedeutungsbeziehungen zwischen Sätzen 107
3.5.3 Kollokationen 108
3.6 Regeln der Sprachverwendung 108
3.6.1 Implikaturen 109
3.6.2 Sprechakte 113

4 Sprachgeschichte 121
4.1 Einleitung 121
4.2 Sprachwandel und seine Ursachen 122
4.2.1 Wer ändert Sprachen: Erwachsene, Jugendliche, Kinder? 122
4.2.2 Interne Ursachen 123
4.2.3 Externe Ursachen 123
4.3 Herkunft und Periodisierung des Deutschen 124
4.3.1 Herkunft und Verwandtschaft 124
4.3.2 Periodisierung und Binnengliederung 127
4.4 Phonologischer Wandel 129
4.4.1 Arten von Lautwandel 129
4.4.2 Überblick: Lautentwicklungen zum und im Deutschen 132
4.4.3 Ausgewählte Lautwandelphänomene 133
4.5 Morphologischer und lexikalischer Wandel 135
4.5.1 Phonologisch bedingter morphologischer Wandel 135
4.5.2 Syntaktisch bedingter morphologischer Wandel 136
4.5.3 Morphologie-intern bedingter morphologischer Wandel 138
4.5.4 Lexikalischer Wandel 141
4.6 Syntaktischer Wandel 143
4.6.1 Wortstellungswandel 143
4.6.2 Verlauf und Ursachen syntaktischen Wandels 146
4.7 Semantischer Wandel 149
4.7.1 Quantitativer semantischer Wandel 149
4.7.2 Qualitativer semantischer Wandel 150
4.7.3 Ursachen semantischen Wandels 151

5 Spracherwerb 155
5.1 Einleitung 155
5.1.1 Einfluss von Anlage und Umwelt 155
5.1.2 Spracherwerbsforschung und Linguistik 157
5.2 Erstspracherwerb 157
5.2.1 Phonologieerwerb 159
5.2.2 Wortschatzerwerb 160
5.2.3 Erwerb der Syntax und Morphologie 161
5.2.4 Erwerb der Semantik und Pragmatik 162
5.3 Früher Zweitspracherwerb 164
5.3.1 Phonologieerwerb 164
5.3.2 Wortschatzerwerb 165
5.3.3 Erwerb der Morphologie und Syntax 166

VI
Inhaltsverzeichnis

5.3.4 Erwerb der Semantik und Pragmatik 166


5.4 Sprachentwicklungsstörungen 167
5.4.1 Phonologische Störungen 167
5.4.2 Lexikalische Störungen 168
5.4.3 Syntaktische und morphologische Störungen 168
5.4.4 Semantische und pragmatische Störungen 169
5.4.5 Mögliche Ursachen von SSES 169
5.4.6 Spezifische Sprachentwicklungsstörung im frühen Zweitspracherwerb 170

III. Literaturwissenschaft 173

1 Literaturtheoretische Grundbegriffe 175


1.1 Text und Textverstehen 175
1.1.1 Text 175
1.1.2 Textverstehen 176
1.2 Literatur/Literarizität und Fiktionalität 180
1.2.1 Was ist Literatur? 180
1.2.2 Fiktionalität 182
1.2.3 Literarizität 183
1.3 Intertextualität 186
1.3.1 Texttheoretischer Ansatz 187
1.3.2 Textdeskriptive Ansätze 188
1.4 Rhetorik und Poetik 190
1.4.1 Rhetorik 191
1.4.2 Poetik 193
1.4.3 Literarische Stilistik 194

2 Medientheoretische Grundbegriffe 197


2.1 Literatur und auditive Medien 197
2.1.1 Stimme und Schrift 197
2.1.2 Akustische Aspekte der Literatur 199
2.1.3 Literarästhetik und Musik 201
2.2 Literatur und Schriftmedien 203
2.2.1 Vom Papyrus zum Papier 203
2.2.2 Von der Handschrift zum Buchdruck 204
2.2.3 Die Entwicklung des Buchmarkts 205
2.2.4 Das Zeitungswesen 207
2.3 Literatur und Bildmedien 209
2.3.1 Text-Bild-Beziehungen 210
2.3.2 Literatur und Bildende Kunst 212
2.3.3 Literatur und Fotografie, Film und Fernsehen 213

3 Kleine Literaturgeschichte 217


3.1 Einleitung 217
3.1.1 Literaturgeschichtsschreibung 217
3.1.2 Zur Problematik literarhistorischer Periodisierung (Epochen) 219
3.2 Mittelalter 223
3.2.1 Althochdeutsche Literatur (770–900) 223
3.2.2 Frühmittelhochdeutsche Literatur (1050–1170) 229
3.2.3 Mittelhochdeutsche Literatur (1170–1220) 234
3.2.4 Spätmittelhochdeutsche Literatur (1220–1450) 245

VII
Inhaltsverzeichnis

3.3 Frühe Neuzeit 254


3.3.1 Humanismus 254
3.3.2 Barock 265
3.3.3 Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang 276
3.4 Klassik und Romantik 288
3.4.1 Die Begriffe ›Klassik‹ und ›Romantik‹ 288
3.4.2 Ereignis- und Sozialgeschichte 291
3.4.3 Poetologie und Ästhetik 293
3.4.4 Gattungen 298
3.5 Das 19. Jahrhundert 311
3.5.1 Vormärz 311
3.5.2 Realismus 319
3.5.3 Naturalismus und Jahrhundertwende 327
3.6 Das 20. Jahrhundert 339
3.6.1 Avantgarde und Moderne (1910–1945) 339
3.6.2 Nachkriegsliteratur/Literatur nach 1968 359
3.6.3 Literatur nach 1989/Pop-Literatur 368
3.7 Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur 372
3.7.1 Aufbruch im 18. Jahrhundert 372
3.7.2 Märchenzauber und Moderne 373
3.7.3 Das Kinderbuch im Biedermeier 375
3.7.4 Jahrhundertwende und Weimarer Republik 376
3.7.5 Nachkriegszeit in Westdeutschland und Österreich 377
3.7.6 Die neue Kinder- und Jugendliteratur ab den 1970er Jahren 379
3.7.7 Jüngste Entwicklungstendenzen 380
3.7.8 Plurimedialität und Medienverbund 381

4 Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse 383


4.1 Einleitung 383
4.1.1 Gattung als Ordnungs- und Klassifikationsbegriff 383
4.1.2 Gattungen und (Literatur-)Geschichte 385
4.1.3 Gattungstheorie und (Literatur-)Geschichte: Vor und jenseits der Gattungstrias 386
4.2 Erzählende Literatur 388
4.2.1 Der Akt des Erzählens 388
4.2.2 Gattungen 391
4.2.3 Die Analyse erzählender Texte 394
4.2.4 Discours 394
4.2.5 Histoire 407
4.3 Lyrik 413
4.3.1 Grundlagen: Poetische Sprache 413
4.3.2 Grundbegriffe der Gedichtanalyse 415
4.3.3 Lyrische Einzelgattungen 429
4.4 Drama 433
4.4.1 Das aristotelische Dramenmodell und seine Strukturelemente 433
4.4.2 Modifikationen des aristotelischen Dramenmodells 441
4.4.3 Dramatische Einzelgattungen 450

5 Literatur- und kulturtheoretische Zugänge 453


5.1 Einleitung 453
5.2 Zeichen: Semiologische Zugänge 454
5.2.1 Das Fiktive und das Imaginäre 454
5.2.2 Kultursemiotische Perspektiven 455
5.2.3 Strukturalismus und Dekonstruktion 458

VIII
Inhaltsverzeichnis

5.3 Geschichte: Historiographische Zugänge 463


5.3.1 Kulturelle Erinnerung 463
5.3.2 Diskursgeschichte 466
5.3.3 Literatur und Historiographie 468
5.4 Kultur: Ethnologische Zugänge 471
5.4.1 Literaturwissenschaft und Ethnographie 471
5.4.2 Übergangsriten und Liminalität 473
5.4.3 Fremdheit und Inter-/Transkulturalität 474
5.5 Geschlecht: Gendertheoretische Zugänge 478
5.5.1 Psychoanalytische Grundlagen 478
5.5.2 Geschlechterforschung (Gender Studies) 479
5.5.3 Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies) 481

IV. Anhang 483

1 Literaturverzeichnis 485
1.1 Sprachwissenschaft 485
1.2 Literaturwissenschaft 487
1.3 Schlüsselkompetenzen und Praxis 491

2 Abkürzungen 492

3 Die Autorinnen und Autoren 493

4 Abbildungsnachweis 494

5 Personenregister 495

6 Sachregister 501

IX
Vorwort

Vorwort
Diese Einführung in die Germanistik wurde von Zum anderen liegt ein Spezifikum des Bandes
Lehrenden der Johann Wolfgang Goethe-Universi- in der Verknüpfung von relativer systematischer
tät in Frankfurt am Main konzipiert und verfasst. Einheitlichkeit in der Materialdarbietung und er-
Sie richtet sich zunächst an Studierende der B. A.- kennbaren Divergenzen der von den verschiedenen
Studiengänge sowie der Lehramtsstudiengänge Autor/innen verfolgten methodischen und theore-
und ist ausdrücklich nicht nur für den Einstieg in tischen Ansätze. Während die Vergleichbarkeit des
das germanistische Fachstudium gedacht, sondern Aufbaus vor allem innerhalb der epochen- und
soll zur Orientierung, zum Lernen und zum Nach- gattungsgeschichtlichen Kapitel die Orientierung
schlagen idealerweise das ganze Studium beglei- gerade für Studienanfänger/innen erleichtern soll,
ten. Auch M. A.-Studierende und Praktiker wie erfordern die unterschiedlichen methodischen Zu-
Lehrer, Journalisten oder Verlagslektoren dürften gänge und theoretischen Konzepte eine gewisse
den Band mit Gewinn konsultieren, der histori- Flexibilität der Leser/innen. Es hätte jedoch auch
sche und systematische Aspekte der Literatur- und wenig Sinn, hinter diesem Anspruch zurückzu-
Sprachwissenschaft erörtert, Fachbegriffe kontext- bleiben, werden die Studierenden in der akademi-
bezogen erläutert, aktuelle wissenschaftliche Theo- schen Praxis doch ebenfalls vom ersten Semester
rien vorstellt und in die Praxis der akademischen an mit einer erheblichen Vielfalt von Forschungs-
Disziplin ›Germanistik‹ einführt. Gegenüber ande- und Erklärungsansätzen konfrontiert. Anstatt zu
ren neueren Einführungen und Studienbüchern behaupten, dass es einen Königsweg zur letztgül-
zeichnet sich das Buch vor allem durch zwei Be- tigen Erfassung sprach- und literaturwissenschaft-
sonderheiten aus. licher Phänomene gebe, hat das Frankfurter Team
Sprache und Literatur: Zum einen sind die bei- daher einen Mittelweg zwischen der schulmäßi-
den großen Teildisziplinen der Germanistik, näm- gen Normativität üblicher Lehrbücher und einer
lich Linguistik (Sprachwissenschaft) und Litera- die Fachdiskussion bereichernden Diversität der
turwissenschaft, in einem Band vereint. Obwohl tatsächlich vorzufindenden Lehrkonzepte einge-
die beiden Bereiche sich seit den Anfängen der schlagen. Anders formuliert: Die Autor/innen der
disziplinären Institutionalisierung des Faches zu einzelnen Kapitel beanspruchen für ihre Darlegun-
Beginn des 19. Jahrhunderts stark auseinander gen selbstverständlich eine Verbindlichkeit, deren
entwickelt haben und sich in der heutigen Univer- Maßstab nicht persönliche Vorlieben und kurzle-
sitätslandschaft vielfach sogar an verschiedenen bige Trends sind, und sie belegen diesen Anspruch,
Instituten wiederfinden, gehen die Autorinnen indem sie sich auf kanonisches Textmaterial und
und Autoren von einer grundsätzlichen Einheit wissenschaftliche Standardwerke stützen. Sie neh-
der Germanistik aus. Die beiden Fachteile werden men sich jedoch zugleich die Freiheit, in Auswahl
zwar in dem Band getrennt behandelt, doch wird und Darbietung ihrer Gegenstände und im Rück-
auf Berührungen oder divergierende Zugangswei- griff auf neuere Wissenschaftsparadigmen deutli-
sen – etwa im Fall des Metaphernbegriffs oder des che individuelle Akzente zu setzen, die von den
strukturalistischen Paradigmas – ausdrücklich hin- kritischen Studierenden eben nicht, wie es ein Un-
gewiesen. In Fällen, wo traditionell eine Vermi- wort unserer Tage suggeriert, als ›alternativlos‹ auf-
schung von literatur- und sprachwissenschaftlichen genommen werden sollen.
Aspekten beobachtet wird und unterrichtsprak- Die Gliederung des Bandes bedarf keiner aus-
tisch auch gerechtfertigt erscheint, wird hingegen führlichen Erläuterung. In den Einführungsteil
die systematische Trennung hervorgehoben; so ist »Zur Praxis des Germanistik-Studiums« sind auch
in den literarhistorischen Kapiteln zu Mittelalter Lehrerfahrungen eingegangen, die an dem sehr er-
und Früher Neuzeit der sprachliche Aspekt ledig- folgreich arbeitenden disziplinenübergreifenden
lich als medien- und kommunikationsspezifisches »Schreibzentrum« der Frankfurter Goethe-Univer-
Faktum berücksichtigt, während die im engeren sität gewonnen wurden. Überdies reflektieren die-
Sinne sprachhistorischen Befunde im linguisti- se einleitenden Passagen das Selbstverständnis des
schen Teil behandelt werden. Der Einführungsteil Faches sowie dessen Position im gesellschaftlichen
»Zur Praxis des Germanistik-Studiums« stellt wiede- Diskurs und – in Konsequenz daraus – die sich für
rum den disziplinären Zusammenhang des Faches Germanist/innen bietenden beruflichen Optionen.
Germanistik heraus. Die beiden Teile zur Sprach- und zur Literaturwis-

XI
Vorwort

senschaft berücksichtigen die im akademischen ßerlichen Grund der Umfangsbeschränkung auch


Unterricht eingeführten Stoffgebiete in übersicht- eine leicht provokative Note: Die Frage (frei nach
licher und nachvollziehbarer Gliederung. Im litera- Schiller) »Was heißt und zu welchem Ende stu-
turwissenschaftlichen Teil werden die epochen- diert man Germanistik?« wird in unserem Band
und gattungsgeschichtlichen Kapitel von drei nicht umständlich erörtert, sondern mit den ersten
Theorieblöcken eingerahmt. Der Grund hierfür liegt drei Worten des Einleitungskapitels sogleich be-
darin, dass bei einer – denkbaren – sukzessiven Lek- antwortet: »Lesen, reden, schreiben«. Mit diesem
türe des gesamten Bandes die vorgeschalteten text- Rekurs auf die sogenannten ›Schlüsselkompeten-
und medientheoretischen Passagen mit einem in der zen‹ soll nun beileibe nicht einer geistfeindlichen
Schule gewonnenen Alltagswissen über Literatur zu Pragmatisierung des Germanistikstudiums gehul-
bewältigen sind, während das Verständnis der ab- digt werden, aber es gilt doch festzuhalten: Nur
schließenden kulturwissenschaftlichen Teilkapitel wer analytisch zu lesen versteht, wird Literatur als
eine gewisse Kenntnis literarhistorischer Zusam- spezifische Realisationsform des kulturellen Ge-
menhänge erfordert oder durch sie doch maßgeb- dächtnisses begreifen oder (mit Goethe) die litera-
lich erleichtert wird. Im Anhang des Bandes finden rischen Werke »urteilend genießen«; nur wer Texte
sich ausführliche bibliographische Angaben zu grammatisch und rhetorisch zuverlässig beschrei-
Standardwerken des Faches; allerdings wurde auch ben und eigene Stellungnahmen korrekt und ange-
bei den Literaturnachweisen in den einzelnen Ka- messen formulieren kann, besitzt die Grundlage
piteln streng ausgewählt, speziellere Literatur zu dafür, das Medium ›Sprache‹ bis in seine physiolo-
bestimmten Autoren und Werken findet man hier gischen und psychologischen Bedingtheiten hinein
also nicht. verstehen zu lernen.
Das Layout des Buches ist wie in vergleichbaren Ein Wort noch zur generellen Problematik, die
Einführungsbänden des Metzler-Verlags beson- der Übergang vom Deutschunterricht in der Schule
ders leserfreundlich gestaltet. Neben einer farbigen zum akademischen Lehrbetrieb mit sich bringt:
Strukturierung und anderen Hervorhebungsverfah- Angehende Germanist/innen müssen – und hierin
ren dienen vor allem die Kästen mit Definitionen liegt die Eigenverantwortung der Studierenden –
und vertiefenden Informationen dazu, den Lektüre- von Anfang an akzeptieren, dass ihr Fach nicht we-
prozess vorzustrukturieren. Im Einzelnen variieren niger ›wissenschaftlich‹, das heißt durch präzise
die Mittel der Orientierung und Illustration gemäß Fachterminologie, eine breite Basis erforderlicher
den Erfordernissen der jeweiligen Thematik. In den Kenntnisse und ein Arsenal von Theorien bestimmt
literaturwissenschaftlichen Kapiteln bieten sich ist als andere Fächer auch. Germanistik ist nicht
Musterinterpretationen ausgewählter Primärtexte an, ›leicht‹! Wer sich darauf einstellt, dass ein kompe-
die linguistischen Teile arbeiten mit Beispielanaly- tenter Umgang mit deutscher Sprache, Literatur
sen und bedienen sich häufig graphischer Darstel- und Kultur begriffliche Genauigkeit, systemati-
lungstechniken. Bei der Binnengliederung der Kapi- sches und historisches Wissen sowie methodische
tel wird auf Analogie geachtet; so finden sich zu den und theoretische Reflexion verlangt, dem soll mit
einzelnen Epochen der Literaturgeschichte jeweils dieser Einführung in die Germanistik ein zuverläs-
Abschnitte zur Poetik, zur Lyrik, zum Drama und siges, umfassendes und – nicht zuletzt durch die
zur erzählenden Literatur. Zeittafeln und Werklisten ausführlichen Literaturhinweise – weiterführendes
vermitteln einen kompakten Überblick über die je- Arbeitsinstrument zur Verfügung gestellt werden.
weilige Epoche und deren literarische Produktion. Wir danken folgenden Personen, die uns bei
Anders als viele andere Einführungen beginnt der Arbeit an diesem Band geholfen haben: Maria
der vorliegende Band nicht mit einem plakativen Theresa Distler, Lisa Gäbel, Melanie Hobich, Gerrit
Zitat aus den Anfangsjahren der Germanistik, und Kentner, Rosemarie Tracy, Kathrin Würth, Jil Truh-
er enthält auch kein eigenes Kapitel zur Fachge- öl, Ede Zimmermann sowie Nico Dennefleh,
schichte. Dies soll nicht heißen, dass die Verfas- Christiane Dreßler, Katharina Fabel, Frederic Hain,
ser/innen sich nicht der vielfältigen Traditionen, in Ninja Roth, Sandy Scheffler, Andreas Teppe, Su-
denen ihre Disziplin steht, bewusst wären. Auf- sanne Trissler und insbesondere Ute Hechtfischer,
merksame Leser/innen werden an der einen oder die uns als Lektorin sachkundig unterstützte.
anderen Stelle des Buches exemplarische Hinweise
auf Deutungs- und Analyseansätze vergangener Frankfurt am Main, im Februar 2012
Epochen finden. Der Verzicht auf eine dezidierte Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein,
Herleitung des disziplinären Selbstverständnisses Andreas Kraß, Cécile Meier, Gabriele Rohowski,
aus der Geschichte des Faches hat neben dem äu- Robert Seidel und Helmut Weiß

XII
I. Zur Praxis des Germanistik-Studiums
1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder

1 Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder


1.1 Lesen
1.2 Reden und Präsentieren
1.3 Schreiben
1.4 Berufsfelder für Germanist/innen

Lesen, reden, schreiben  – diese drei Fähigkeiten Schlüsselkompetenzen in den Geisteswissenschaf-


sind es, deren Ausbildung und Verfestigung im ten: Neben der Text- und Analysekompetenz
Zentrum des Germanistik-Studiums stehen. Sie kommt der Darstellungskompetenz eine wichtige
sind zugleich für jedes erfolgreiche Studium un- Rolle zu. Sie wird auch als Schreibkompetenz be-
entbehrlich, gleich welcher Fachrichtung. Denn zeichnet. Im Studium überlagern sich dabei stets
der Umgang mit Wissen – seine Aneignung, Ver- fachliche und allgemeine Kompetenzen; es ist
waltung und Anwendung – besteht nicht im bloß kaum möglich, beide Kompetenzbereiche eindeu-
passiven Erwerb und in der unkritischen Repro- tig voneinander zu trennen. Zumal der Erwerb
duktion rein fachlicher Kenntnisse. Studieren er- fachspezifischer Fähigkeiten auch die Aneignung
fordert die Fähigkeit, Zugänge zu Inhalten er- von Schlüsselkompetenzen befördern kann. So
schließen und anderen zu vermitteln, also das kann sich beispielsweise ›trockenes‹ Theoriewis-
Vermögen zur präzisen, analytischen Lektüre, die sen über Rhetorik positiv auf die Moderationskom-
Befähigung zur exakten, gut verständlichen münd- petenz eines Studierenden auswirken.
lichen Präsentation der zentralen Thesen und Ar- N Text- und Analysekompetenz: Die Studieren-
gumente eines Textes sowie zu deren schriftlicher den entwickeln ein Bewusstsein für die epochen-
Dokumentation. Wofür Germanist/innen Experten und gattungsspezifische Struktur und Thematik
sind – lesen, reden, schreiben –, bildet damit eine von Primärtexten. Fachspezifische Lernstrategien
Trias von Fähigkeiten, die den sogenannten und Arbeitstechniken unterstützen die Fähigkeit,
Schlüsselkompetenzen zuzuordnen ist. wissenschaftliche Beiträge kritisch zu reflektieren
und angemessen zu bewerten; zugleich erwerben
die Studierenden Methoden- und Theoriewissen.
Zum Begriff N Darstellungs- und Schreibkompetenz: Die Stu-
dierenden erproben in der Aneignung verschie-
Als   Schlüsselkompetenzen werden im dener Textsorten (z. B. Thesenpapier, Protokoll,
Unterschied zu den studiengangspezifi- Essay und Hausarbeit) Schreibtechniken, die sie
schen fachlichen Kompetenzen verschie- befähigen, Analysen und Thesen argumentativ
dene allgemeine Fähigkeiten bezeichnet, die nachvollziehbar und ›adressatengerecht‹ vorzu-
im Studium und im Beruf wichtig sind. Zu stellen (vgl. Frank u. a. 2007, S. 116 ff.). Wissen-
ihnen zählen praxisbezogene und soziale, schaftliche Texte zu schreiben, erfordert ein ganzes
(inter-)kulturelle Kompetenzen, aber auch Bündel an Einzelkompetenzen: Planungs-, Formu-
Sprachkompetenzen. Die Schlüsselkompe- lierungs- und Überarbeitungskompetenzen sowie
tenzen können entweder integrativ in den syntaktische, lexikalische und textorientierte Kom-
fachbezogenen Veranstaltungen und/oder petenzen (vgl. u. a. Nünning 2008). Viele Universi-
additiv in Tutorien, Übungen, Workshops, täten bieten inzwischen in fachübergreifenden
Praktika und anderen studienbegleitenden Schreibzentren Übungen an, die den Schreibpro-
Lehrangeboten erworben werden. Anders zess begleiten.
als bei den fachlichen Qualifikationen ist es N Moderations- und Präsentationskompetenz:
nicht üblich, sie im Rahmen eines eigenstän- Die Studierenden lernen, Arbeitsgruppen und Se-
digen, formalisierten Verfahrens zu beurtei- minargespräche zu moderieren (Formulieren offe-
len. Sie wirken sich jedoch unmittelbar auf ner Fragen, Paraphrasieren, Zusammenfassen)
die Prüfungsleistungen aus und beeinflus- und Arbeitsergebnisse plausibel und anschaulich
sen deren Bewertung durch die Prüfer. zu vermitteln. Ob Handout oder Thesenpapier so-
wie mediale Hilfsmittel (u. a. Folien, Beamer,

3
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

Overhead-Projektor) das Referat und die Diskus- teln, Arbeitsergebnisse nachvollziehbar und präzi-
sion begleiten, wird mit der Seminarleitung in der se darzustellen.
Vorbereitungsphase abgestimmt (vgl. Händel u. a. Welche Formen und Strategien dabei von Be-
2007, 129 ff.). deutung sind, soll im folgenden Abschnitt veran-
N Informations- und Medienkompetenz: In Tu- schaulicht werden. Eines sei vorweggeschickt:
torien, Übungen und Seminaren wird die fach- Damit dieses Ziel erreicht werden kann, müssen
und themenorientierte Recherche von Informatio- bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Nicht von
nen (z. B. Datenbanken, Online-Fachportale) ein- ungefähr heißt es in vielen Studienordnungen des
geübt. Technische Medienkompetenz ist eine Bachelor-Studiengangs Germanistik, dass die »Be-
wichtige Voraussetzung für die Nutzung von E- reitschaft zu umfangreicher Lektüre« und die
Learning-Angeboten sowie den professionellen »gute Beherrschung der deutschen Sprache in
Umgang mit Geräten, Präsentationsprogrammen Wort und Schrift« wichtige fachspezifische Vor-
(z. B. PowerPoint) oder anderen Hilfsmitteln. aussetzungen sind. Die Studierenden müssen den
Aus dieser Aufstellung geht hervor, was die Anspruch haben, sich Traditionen, Methoden und
Germanistik mit allen anderen (insbesondere geis- Diskurse der Textauslegung kritisch anzueignen
teswissenschaftlichen) Studiengängen verbindet: (s. Kap. III.5). Der souveräne Umgang mit den Re-
Sie zielt darauf, die Studierenden zu verantwort- geln der Orthographie und der Zeichensetzung
lichem wissenschaftlichen Arbeiten anzuleiten wird von den Lehrenden als selbstverständlich vo-
und ihnen die nötigen Kompetenzen zu vermit- rausgesetzt.

Weiterführende Literatur
Frank, Andrea/Haacke, Stefanie/Lahm, Swantje: Händel, Daniel/Kresimon, Andrea/Schneider, Jost:
Schlüsselkompetenzen: Schreiben in Studium und Beruf. Schlüsselkompetenzen: Reden – Argumentieren – Über-
Stuttgart/Weimar 2007. zeugen. Stuttgart/Weimar 2007.
Nünning, Vera (Hg.): Schlüsselqualifikationen: Qualifikatio-
nen für Studium und Beruf. Stuttgart/Weimar 2008.

1.1 | Lesen
1.1.1 | Was lesen Studierende? klassische Prinzip prodesse et delectare (nützen
und erfreuen), vom römischen Dichter Horaz vor
Welche Texte haben Sie im Deutschunterricht in 2000 Jahren in der Ars poetica formuliert, begleitet
der Oberstufe gelesen? Was lesen Sie in den Se- auch die Leseerfahrungen im Studium. Wahr-
mesterferien? – Diese Fragen verweisen schon auf scheinlich haben Sie deshalb Germanistik als Stu-
den Unterschied zwischen der Pflichtlektüre im dienfach gewählt, weil Sie gerne lesen und schon
Studium und den privaten Leseinteressen. Das früh Bücher gelesen haben, die bis heute in Ihrer

Zur Vertiefung

Leseformen
Daniel Kehlmanns Bestseller Die Vermessung der Welt (2005) wird vom breiten Lesepublikum als »Doppelbio-
graphie« der beiden Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß gelesen; Literaturkritiker
loben das Buch als »federleichten philosophischen Roman« (Markus Thiel, Münchner Merkur, 20.9.2005) und
»Alterswerk eines jungen Schriftstellers« (Martin Lüdke, Frankfurter Rundschau, 28.9.2005) oder kritisieren die
»verkopften Intellektuellen […], diese Pappkameraden« (Tilman Spreckelsen, FAZ, 8.3.2009). Den Übergang zu
literaturwissenschaftlichen Aspekten markiert das Resümee des Literaturwissenschaftlers, Literaturredakteurs
und Journalisten André Hille mit der Gattungszuschreibung ›Abenteuerroman‹: »Ein spannender Abenteuerro-
man für Erwachsene, […] aber beileibe kein genialisches Meisterwerk« (literaturkritik.de, Nr. 12, Dezember
2005). Die Literaturwissenschaft fragt z. B. nach dem Verhältnis von Fakten und Fiktion, untersucht die Dialog-
und Redestrukturen (indirekte Rede!) oder die Funktion der Erzählerkommentare.

4
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Was lesen Studierende?

privaten Bibliothek einen Ehrenplatz haben. Vom 570 Seiten. Lesen heißt nicht nur, die im Text ent-
rein genussvollen, identifikatorischen Lesen ge- haltenen Buchstaben zu entziffern oder zu deco-
langen Sie Schritt für Schritt zum kritisch-reflek- dieren: Im Akt des Lesens generieren Sie Deutun-
tierenden Lesen der literarischen Texte und der gen des Textes.
Fülle an begleitenden Texten, die die literarischen
Texte vorstellen und bewerten (Literaturkritik) so- Zur Vertiefung
wie kategorisieren, analysieren und interpretieren
(Forschungsliteratur). Lebenszeit und Lesezeit
Klassiker: Im Idealfall wird ein Roman, den Sie Der Schriftsteller Arno Schmidt, ein passionierter
im Seminar zu den Klassikern der Aufklärung ken- Leser, der sich wiederholt mit der Frage des litera-
nengelernt haben, zu Ihrem neuen Lieblingsbuch. rischen Kanons und der Anzahl der zu lesenden
Sie werden aber nicht nur aufregende und interes- Bücher auseinandergesetzt hat, bietet viele Ant-
sante Texte lesen: Die Meisterwerke glänzen auch worten. Er warnt: »Es gibt noch weit beunruhigen-
deshalb so intensiv, weil sie von einer Fülle eher dere Betrachtungen hier! Setzen wir, daß man vom
durchschnittlicher Texte umgeben sind. Je weiter 5000. Tage an leidlich mit Verstand zu lesen fähig
Sie im Studium voranschreiten, desto aufmerksa- sei; dann hätte man, bei einem green old age von
mer wird Ihr Blick für die offenen und versteckten 20000, demnach rund 15000 Lesetage zur Verfü-
Bezüge der Texte zueinander. Was können, was gung. […] Sagen wir, durchschnittlich alle 5 Tage
dürfen Autor/innen mit den Texten anderer Auto- 1 neues Buch – dann ergibt sich der erschreckende
r/innen machen? Oft fragen Studierende: Muss Umstand, daß man im Laufe des Lebens nur 3000
man diese Spuren entdecken, wie kann man sie Bücher zu lesen vermag! Und selbst wenn man nur
entdecken? »Klassiker«, so Moritz Baßler zu »ka- 3 Tage für eines benötigte, wären’s immer erst
nonischen Meistern«, »sind diejenigen Autoren arme 5000. Da sollte es doch wahrlich, bei Erwä-
und Werke, auf die die anderen mehr oder weniger gung der Tatsache, daß es bereits zwischen 10 und
ausdrücklich, mehr oder weniger selbstverständ- 20 Millionen verschiedene Bücher auf unserem
lich verweisen. Klassiker sind diejenigen Werkstü- Erdrund gibt, sorgfältig auswählen heißen. Ich
cke, deren Kenntnis die anderen Künstler bei ihren möchte es noch heilsam=schroffer formulieren:
Hörern, Lesern oder Betrachtern stillschweigend Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch oder auch nur
voraussetzen« (Baßler 2005, S. 12). Durchschnittliches zu lesen: Sie schaffen in Ihrem
Kanon: Mit den Begriffen ›Kanon‹ und ›Klassi- Leben nicht einmal sämtliche Bände der Hochlite-
ker‹ stellt sich zugleich die Frage nach den Kriteri- ratur!« (Julianische Tage, 1961, III/4, S. 91–92)
en und Kategorien, die die Auswahl der Lektüre
bestimmen. Gibt es Texte, die unbedingt auf die
studienbegleitende Leseliste zu setzen sind? Die Verbindung mit anderen Geistes- und Kulturwis-
Leseliste des Literaturwissenschaftlers Wulf Sege- senschaften: In der Germanistik stehen nicht nur
brecht (2000), ein kleines Bändchen von etwa 85 die deutschsprachige Literatur und die deutsche
Seiten, stellt die titelgebende Frage »Was sollen Sprache im Zentrum der wissenschaftlichen Ar-
Germanisten lesen?«. Segebrecht beantwortet sie beit, sondern auch die Überschneidungen mit eu-
im Vorwort kühn mit dem Schlagwort »Alles«, um ropäischen und außereuropäischen Literaturen,
anschließend zugleich auf den empfehlenden Cha- Sprachen und Kulturen von der Antike bis zur
rakter der vorgestellten Texte und Anthologien zu Gegenwart. Wer Germanistik als Fach wählt, liest
verweisen (zur literarischen Kanonbildung vgl. voraussichtlich auch die Odyssee von Homer, die
auch Arnold 2002). Metamorphosen von Ovid, Erzählungen aus Tau-
Wie viele Bücher, wie viele Texte werden Sie sendundeine Nacht, biblische Texte, sprachphi-
voraussichtlich im Durchschnitt im Semester für losophische Abhandlungen von Wilhelm von
die Arbeit in den Seminaren, Übungen und Vorle- Humboldt und kulturgeschichtliche Essays. Eng
sungen lesen? Keiner kann alles lesen, auch nicht verbunden ist die Germanistik auch mit den Fä-
die leidenschaftlichen Leser/innen. Ignorieren Sie chern Geschichts-, Kunst-, Musik- und Religions-
jedoch alle Empfehlungen, in denen der Lektüre- wissenschaften. Wir treffen historische Figuren,
Umfang mit Seitenzahlen quantifiziert wird. Ein zum Beispiel den französischen König Heinrich IV.
fünfzeiliges Gedicht von Paul Celan kann Ihnen in Heinrich Manns Romanzyklus Henri Quatre,
ebenso viel Lesezeit und Interpretationsarbeit ab- berühmte Bilder lernen wir in literarischen Be-
verlangen wie Max Frischs Roman Stiller mit ca. schreibungen neu sehen, wir lesen Opernlibretti

5
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

und hören Arien, in Hermann Hesses Zeitschriftentitel informieren zugleich über das
Roman Siddhartha mit dem Unterti- wissenschaftliche Renommee der Publikationen.
tel »Eine indische Dichtung« begeg- Der Umkehrschluss ist jedoch nicht zulässig: Inno-
nen wir der religiösen Gedankenwelt vative Beiträge junger Wissenschaftler/innen fin-
des Hinduismus und des Buddhis- den Sie oft in Publikationen von Verlagen, die sich
mus. Auch prominenten Vertretern abseits des wissenschaftlichen Mainstreams zu
weiterer Fächer begegnen wir in lite- etablieren versuchen.
rarischen Texten: Mit dem Naturfor- Wenn Sie Ältere deutsche Literatur und ihre
scher Alexander von Humboldt rei- Wissenschaft gewählt haben, lesen Sie mittel-
sen wir in den südamerikanischen hochdeutsche Texte (noch eine Fremdsprache, die
Urwald, und wir begleiten den Ma- es zu lernen gilt), Gedichte von Walther von der
thematiker Carl Friedrich Gauß bei Vogelweide und Oswald von Wolkenstein, das Ni-
seinen Vermessungsarbeiten (Daniel belungenlied und Mären des Strickers. Eine der
Kehlmann: Die Vermessung der Welt, ersten Buchempfehlungen ist ein Klassiker: Mat-
2005). thias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch,
Deutsches Wörterbuch: Sie lernen 3 Bände. Leipzig 1872–1878, ein Nachdruck er-
alte und neue Wörter kennen. Wenn schien in Stuttgart 1992. Übersetzen ist eine der
Sie die Bedeutung eines Wortes nicht wichtigsten Übungen: Sie lernen, dass die Wörter
(mehr) kennen, obwohl es offen- »frouwe« und »wîp« keineswegs bedeutungsgleich
sichtlich zur deutschen Sprache ge- mit den Wörtern »Frau« und »Weib« sind, sondern
hört, schlagen Sie im Deutschen »frouwe« für adlige Frauen und »wîp« allgemein
Jacob und Wilhelm Grimm: Wörterbuch der Brüder Grimm nach. für das weibliche Geschlecht bzw. verheiratete
Deutsches Wörterbuch, 1. Band (1854) Begonnen im Jahr 1854, der letzte Frauen verwendet wurde.
Band erschien erst 1960, stellt es in Wenn Sie Neuere deutsche Literaturwissen-
32 Teilbänden die Entwicklung der deutschen schaft studieren, lesen Sie barocke Sonette, philo-
Sprache seit dem 16. Jh. vor, mit einer imponieren- sophische Texte der Frühaufklärung, Georg Büch-
den Fülle an Belegen auch aus früheren Jahrhun- ners Hessischen Landboten und einen Pop-Roman
derten. Es ist eine Fundgrube, die inzwischen von Thomas Meinecke. Begleitend lesen Sie ausge-
auch im Internet frei zugänglich ist (vgl. http:// wählte Beiträge aus der Forschungsliteratur. Neu-
germazope.uni-trier.de/Projects/DWB). gierig schlagen Sie das erste Buch auf. Viele –
literarische und wissenschaftliche – Texte, die Sie
im Studium lesen, verstehen Sie beim ersten Lesen
nicht. Dies ist eine sich wiederholende Erfahrung,
1.1.2 | Wissenschaftliche Texte lesen – nicht nur im Germanistik-Studium. Ursache ist zu-
Texte wissenschaftlich lesen nächst nicht nur die Fülle an fremden Wörtern,
Fachbegriffen, die es auch in der Germanistik zu
Die fachlichen Schwerpunkte in der Germanistik lernen gilt. Die scheinbar so objektive Fachsprache
stellen jeweils zwei Komponenten vor: Sprache ist zudem in den Geisteswissenschaften alles an-
und Wissenschaft, Literatur und Wissenschaft. dere als einheitlich. Schlägt man zum Beispiel den
Wenn Sie Sprachwissenschaft gewählt haben, Gattungsbegriff ›Novelle‹ in verschiedenen Lexika
lesen Sie wissenschaftliche Beiträge, oft in Eng- oder Handbüchern nach, wird man auf divergie-
lisch verfasst, die zum Beispiel folgendes Thema rende Beschreibungen stoßen. Eine intensive und
vorstellen: Frederick J. Newmeyer: Possible and kritische Beschäftigung mit der jeweiligen Fach-
Probable Languages: A Generative Perspective on sprache und ihren Begriffen ist deshalb studienbe-
Linguistic Typology. Oxford University Press 2005. gleitend zu empfehlen.
Oder ein deutscher Titel: Thomas E. Zimmermann: Artikel der Forschungsliteratur dokumentieren
»Zu Risiken und Nebenwirkungen von Bedeutungs- auch die Wissenschaftsgeschichte der Germanis-
postulaten«. In: Linguistische Berichte 146 (1993), tik, zeigen die Konjunkturen alter und neuer Para-
S. 263–282. Erst mit zunehmender Lektürepraxis digmen. Sie werden Texte wiederholt lesen müs-
und Semesterzahl können Sie am Titel ablesen, ob sen, um Schritt für Schritt vom Wortsinn eines
ein Beitrag eine Fragestellung der generativen Textes zu seinen impliziten, abstrakten Aussagen
Grammatik, der formalen Semantik oder der histo- zu gelangen. Forschungsbeiträge sind darüber hi-
rischen Linguistik aufgreift. Ort und Verlag sowie naus auch geprägt von stilistischen Vorlieben,

6
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Wissenschaftliche
Texte lesen

akademischen Ritualen und explizitem Adressa- N Studienbücher stellen in der Regel die Ge-
tenbezug. schichte und Entwicklungsschwerpunkte von Teil-
Typen der wissenschaftlichen Literatur sind z. B.: gebieten vor (zum Beispiel Einführung in die Ro-
N Dissertationen und Habilitationen, die beiden mantik, Einführung in die Morphologie); sie geben
klassischen Qualifikationsschriften für die akade- einen Überblick über zentrale Forschungskonzepte
mische Laufbahn, richten sich nicht an einen stu- und Methoden, stellen wichtige Autor/innen so-
dentischen Leserkreis. Sie wollen Experten mit wie Themenschwerpunkte in Detailanalysen vor.
stringenten Thesen überzeugen und einen innova- N Kompendien (lat. compendium: Abkürzung)
tiven Beitrag zu einem Forschungsgebiet leisten. präsentieren ein Fach oder Teilgebiete eines Faches
Über die zunächst fremde Fachsprache hinaus bie- in konzentrierter Form. Sie können als Lehrbuch
ten solche Bücher auch unterschiedliche methodi- und Nachschlagewerk genutzt werden.
sche Zugänge, die es bei der Lektüre zu entdecken N Handbücher erläutern in alphabetischer oder
gilt. Oft geben schon die Titel und Untertitel Hin- systematischer Reihenfolge die wichtigsten Fach-
weise auf den jeweils gewählten methodischen begriffe, Gegenstände und Themen eines Fachge-
Zugang. bietes. Der Umfang kann je nach Tiefe der Darstel-
N Monographien: Dissertationen und Habilitatio- lung erheblich variieren.
nen sind z. B. Monographien, d. h., ein/e Autor/in N Lexika bieten in alphabetischer Reihenfolge
schreibt eine Abhandlung z. B. über ein spezifi- knappe Beschreibungen zentraler Begriffe, The-
sches Thema und/oder ein Werk. Wesentlich um- men und Werke einer Epoche, einer Gattung oder
fangreicher ist das Angebot der unselbständigen allgemein zu den wichtigsten Begriffen von Litera-
Schriften, z. B. Aufsätze in Zeitschriften, Sammel- tur- und Sprachwissenschaft (z. B. Reallexikon des
bänden oder Lexika. Mittelalters, Kindlers Literatur Lexikon, Grimms
N Zeitschriftenaufsätze recherchiert man über die Wörterbuch). Wie das Lexikon ist auch die alle
Kataloge der Universitätsbibliotheken; viele Bei- Fachgebiete umfassende Enzyklopädie zugleich
träge können inzwischen online gelesen und ausge- Nachschlagewerk und Sachwörterbuch. Die Ency-
druckt werden. In Zeitschriftenaufsätzen wird ein clopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des
Thema konzentriert vorgestellt. Oft verweisen die arts et des métiers von Diderot und d’Alembert
Titel der Zeitschriften auf die thematischen Schwer- (1751–1780, 35 Bände) spiegelt den Anspruch der
punkte und die methodische Ausrichtung der Bei- Herausgeber, im umfassenden Sinn zum Projekt
träge (z. B. Arbitrium – Zeitschrift für Rezensionen Aufklärung beizutragen. Im 21. Jh. lösen zuneh-
zur germanistischen Literaturwissenschaft; Daph- mend kostenpflichtige und frei zugängliche On-
nis – Zeitschrift für Mittlere deutsche Literatur; line-Enzyklopädien die gedruckten Vorgänger ab.
IASL – Internationales Archiv für Sozialgeschichte Die Editionswissenschaft, der Arbeitsbereich Textausgaben
der deutschen Literatur; ZGL – Zeitschrift für Ger- der Philologien, der alte und neuere Texte für die
manistische Linguistik; LiLi – Zeitschrift für Litera- wissenschaftliche Arbeit aufbereitet, unterscheidet
turwissenschaft und Linguistik). zwischen verschiedenen Ausgaben: Leseausgabe,
N In einer Herausgeberschrift, z. B. einem Ta- Studienausgabe und historisch-kritische Ausgabe.
gungsband oder einer Festschrift, werden Beiträge Diese Ausgaben differieren vor allem hinsichtlich
mehrerer Autor/innen zu einem Thema oder ver- der Präzision und Tiefe der zur Verfügung ge-
schiedenen Aspekten eines Themas von einem stellten Materialien und Kommentare. Haben Sie
oder mehreren Herausgeber/n zusammengestellt. schon einmal den Hinweis gelesen: »Ausgabe letz-
N Einführungsbände, oft mit dem Titel ›Grund- ter Hand«? Die letzte von Goethe betreute und
lagen‹ oder ›Basiswissen‹, richten sich an Studie- autorisierte Ausgabe seiner Werke (28 Bände,
rende in der ersten Studienphase und informieren 1827–1830) trägt diesen Zusatz. Die Editionswis-
über Grundlagen eines fachlichen Schwerpunk- senschaftlerin Anne Bohnenkamp-Renken, Mit-
tes. Sie bieten einen Überblick über die zentra- herausgeberin der geplanten digitalisierten Faust-
len Arbeitsfelder und Fachbegriffe der jeweiligen Ausgabe, betont die Bedeutung »theoretischer, ja
Teildisziplinen, sei es die Einführung in die Erzähl- ideologischer Grundannahmen über das Wesen
theorie von Matías Martínez und Michael Scheffel, des literarischen Kunstwerks und seine Beziehun-
die Einführung in die Gedichtanalyse von Dieter gen zu zentralen Größen wie Autor und Leser für
Burdorf oder die Einführung in die germanistische das editorische Verfahren«: »Ob ein Kunstwerk
Linguistik von Jörg Meibauer u. a. (Werk) als perfekte, dauerhafte, vollendete Gestalt
oder aber als Prozess von grundsätzlicher Offen-

7
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

heit aufgefasst wird, ob es als Schöpfung eines enthalten, sollten Sie im Studium nicht verwen-
Künstlers oder als Ergebnis verschiedener sozialer den. Interessant und aufschlussreich kann die Un-
Determinanten angesehen wird, hat Konsequen- tersuchung der Marginalien, Änderungen, Aus-
zen für die Anlage einer Edition« (Bohnenkamp- lassungen und Umstellungen in verschiedenen
Renken 2003). Fassungen oder die Analyse der unterschiedlichen
N Die historisch-kritische Ausgabe, die im Auf- Schreibmaterialien (lose Blätter, Notizblöcke,
trag der Großherzogin Sophie von Sachsen in den Hefte verschiedener Größe) sein, wenn Sie eine
Jahren 1887 bis 1919 in Weimar erschien, umfasst rezeptionsgeschichtliche Themenstellung wählen.
143 Bände und 3 Bände mit Nachträgen. Noch Wie hat sich zum Beispiel die Überlieferung eines
nicht enthalten sind die Gespräche und die nach mittelalterlichen Textes von der Handschrift über
Abschluss der Weimarer Ausgabe gefundenen den Buchdruck bis zum 20. Jh. verändert? Wie
Briefe. Die 40-bändige historisch-kritische Aus- wirkt sich der Wechsel von den großen Quarthef-
gabe im Deutschen Klassiker Verlag (seit 1999) ten zu den kleinen Oktavheften auf den Schreib-
richtet sich explizit an Studierende und Wissen- prozess von Kafka aus?
schaftler/innen. Der Verlagsname signalisiert zu- N Faksimile-Edition: Antworten auf diese Frage
dem eine gut begründete Auswahl der edierten finden Sie in der Faksimile-Edition der Historisch-
Texte – die Zugehörigkeit zum Kanon ist garan- Kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften,
tiert. In historisch-kritischen Ausgaben werden Drucke und Typoskripte Kafkas, herausgegeben
Entstehungsstufen, Notizen und Arbeitsmateria- von Roland Reuß und Peter Staengle (1995 ff.). Der
lien, Textfassungen und Varianten, Entstehungs-, Nachlassverwalter Max Brod entsprach nicht dem
Rezeptions- und Forschungsgeschichte detailliert Willen des Autors, nach seinem Tod 1924 alle Ma-
vorgestellt. Nicht nur hilfreich, sondern in vielen nuskripte zu verbrennen. Brod begann bereits ein
Fällen unentbehrlich sind darüber hinaus Stel- Jahr später mit der Edition der überlieferten Frag-
lenkommentare, die zum Beispiel inzwischen mente. Die posthum editierte fragmentarische Er-
ungebräuchliche Wörter und Redewendungen er- zählung Der Jäger Gracchus zeigt in den meisten
läutern, kontroverse Lesarten vorstellen und in- Ausgaben noch heute die Spuren der Eingriffe: Aus
tertextuelle Anspielungen enträtseln (vgl. Sittig fragmentarischen Prosastücken im Oktavheft B
2008, S. 22–34). Die Herausgeber dieser großen setzte Brod den Text zusammen, deshalb lesen wir
Ausgaben müssen zudem entscheiden, ob sie die im Gespräch des Jägers Gracchus mit dem Bürger-
Texte nach den Erstdrucken oder nach der »Aus- meister der kleinen Stadt, in deren Hafen die Barke
gabe letzter Hand« edieren. des untoten Jägers angelandet ist, folgenden Satz:
N Lese- und Studienausgabe: Als Klassiker der »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe, nie-
zuverlässigen Lese- und Studienausgabe gilt die mand wird kommen, mir zu helfen. […] Der Ge-
14-bändige Hamburger Goethe-Ausgabe, heraus- danke, mir helfen zu wollen, ist eine Krankheit
gegeben von Erich Trunz (Taschenbuchausgabe und muß im Bett geheilt werden.« Der Verweis auf
seit 1982 ff.). Für modernisierte Leseausgaben, so die »monologische Schreibsituation« irritiert im
zum Beispiel die 2005 von Harald Fricke heraus- Gespräch; der Blick in die Manuskript-Fragmente
gegebenen und kommentierten Sprüche in Prosa, zeigt, dass Brod aus den überlieferten Fragmenten
die sämtliche Maximen und Reflexionen auf einen Text zusammengefügt hat, der Anlass zu di-
knapp 500 Seiten vorstellen, wirbt der Verlag mit vergierenden Interpretationen bietet (vgl. Martí-
dem Hinweis, dass die Texte vom philologischen nez/Scheffel 2009, S. 105 f.).
Ballast befreit worden seien. Für das begrenzte N Werkausgaben: Die Texte wichtiger Autor/innen
Budget sind auch Studienausgaben akzeptabel, der letzten 50 Jahre stehen inzwischen in Werkaus-
deren Textgestalt an Historisch-Kritischen Ausga- gaben zur Verfügung, zum Beispiel Ilse Aichinger,
ben orientiert ist. Die Reclam-Studienausgabe der Ingeborg Bachmann, Christa Wolf, Thomas Bern-
»romantische[n] Tragödie« Die Jungfrau von Orle- hard und Günter Grass. Der erste Band der Werke
ans folgt der Nationalausgabe von Schillers Wer- von Heinrich Böll, Träger des Nobelpreises für Lite-
ken; in den Anmerkungen wird darauf verwiesen, ratur 1972, erschien 2002; im November 2010 wurde
dass die Orthographie auf der »Grundlage der die Ausgabe mit Band 27, dem Register abgeschlos-
neuen amtlichen Rechtsschreibregeln behutsam sen. Die Ausgabe folgt editionswissenschaftlichen
modernisiert« (2002, S. 139) wurde. Prüfen Sie Kriterien (Textentstehung, Überlieferung, Stellen-
sorgfältig, ob eine Ausgabe über Editionsprinzi- kommentar sowie Bibliographie) und erlaubt mit
pien informiert. Ausgaben, die keinerlei Hinweise dem Registerband eine rasche Orientierung. Die

8
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Wie lesen Studierende?

Zur Vertiefung

Lesarten
»[…] Soviele Köpfe, soviele Lesarten, eine richtiger als die andere. Damit soll nichts gegen die Arbeit der Philo-
logen gesagt sein und gegen die zuverlässigen, die kritischen, die ›gesicherten‹ Texte, die sie verspricht; ganz im
Gegenteil. Aber ihre Treue ist nur eine unter den vielen Möglichkeiten, die wir haben, einen Autor beim Wort
zu nehmen. Man kann ihn auch nacherzählen, oder rückwärts lesen, oder verspotten, oder bestehlen, oder wei-
terdichten, oder übersetzen … Lesen heißt immer auch: zerstören – wer das nicht glauben will, möge die Ge-
hirnforscher fragen –; zerstören und wieder zusammensetzen. Dabei entsteht allemal etwas Neues. Ein Klassi-
ker ist ein Autor, der das nicht nur verträgt; er verlangt es, er ist nicht totzukriegen durch unsere liebevolle
Roheit, unser grausames Interesse.« (Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte
zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr, 1985, S. VII, Vorwort).

Sorge des Verlags und der Herausgeber, dass nach 1.1.3 | Wie lesen Studierende?
dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs im März 2009
große Teile des dort gelagerten Böll-Nachlasses ver- Was lesen Sie gerne? Historische Romane, roman-
loren seien und somit eine wichtige Grundlage für tische Gedichte, Autobiographien, Reportagen,
die Ausgabe vernichtet sei, hat sich nicht bestätigt, Briefe, Sachbücher, Comics, die Zeitung? Nur we-
auch wenn Verluste zu beklagen sind. nige werden im ersten Semester eine Grammatik,
N Handschriften und frühe Drucke: Stellen schon ein etymologisches Wörterbuch oder das riesige
moderne Texte Studierende häufig vor große Pro- Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften von
bleme, gilt dies umso mehr für alte Texte. Die erste Robert Musil nennen. Auch im Studium werden
Begegnung mit Handschriften und frühen Drucken Sie weiterhin Romane und Erzählungen lesen,
(Inkunabeln, Wiegendrucke genannt) wird zum Le- weil Sie den Stil eines Autors, einer Autorin schät-
seabenteuer, das an die ersten Buchstabierexperi- zen, Interesse an einem Thema haben (Liebe, Na-
mente in der Grundschule erinnert. Auch wenn das tur oder Verbrechen), sich mit der Hauptfigur
Nibelungenlied, die Manessische Liederhandschrift identifizieren, mit ihr leiden. Sie werden diese Tex-
und Das Narrenschiff von Sebastian Brant heute in te zugleich anders lesen lernen. Schon Goethe
zuverlässigen Ausgaben zugänglich sind und zu- wusste: »Es ist ein großer Unterschied, ob ich lese
dem eine Vielzahl guter Übersetzungen zum Ver- zu Genuß und Belebung oder zu Erkenntnis und
gleich der Übertragungen herausfordert, ist die ge- Belehrung« (Maximen und Reflexionen). Studie-
legentliche Rückkehr zu den Quellen auch im rende formulieren häufig die Sorge, die präzise
21. Jh. für Studierende ein unverzichtbarer Lern- Analyse eines Textes könne seinen ästhetischen
schritt. Die konkrete Begegnung mit alten Büchern Reiz zerstören. Deshalb muss Goethes Maxime er-
ist auch ein Erlebnis für die Sinne. Zwar dürfen Sie weitert werden: Genuss und Erkenntnis sind im
meist aus konservatorischen Gründen nicht in den Studium der Germanistik keine Gegensätze, son-
Bänden blättern, trotzdem sehen, riechen und hö- dern verbinden sich im Idealfall harmonisch. Das
ren(!) Sie alte Bücher anders als moderne Ausga- Ziel der Erkenntnis kann gleichwohl beim Lesen
ben. Die Archäologen der alten Texte, die Vertreter eines Textes extrem unterschiedlich sein. In den
der Handschriftenkunde (Kodikologie) und der hitzigen Debatten der Nach-68er-Jahre spottete
Inkunabelkunde, haben umfangreiche Informa- Hans Magnus Enzensberger in seiner berühmten
tionen über die materialen Träger der Texte (Papy- Polemik über den Interpretationswahn: »Beschei-
rus, Pergament und Papier) sowie Format und Aus- dener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den
stattung (auch Bilderschmuck) zusammengetragen Erzeugnissen der Poesie«: »Wenn zehn Leute ei-
(vgl. Jakobi-Mirwald 2004). Einen guten Überblick nen literarischen Text lesen, kommt es zu zehn
bietet das Internetportal »Mediaevum«. Dort finden verschiedenen Lektüren. Das weiß doch jeder. […]
Sie auch ein Beispiel für ein gelungenes E-Learning- Das Resultat der Lektüre ist mithin durch den Text
Projekt, »Ad fontes – Einführung in den Umgang nicht determiniert und nicht determinierbar. Der
mit Quellen im Archiv«, sowie zahlreiche Facharti- Leser hat in diesem Sinne immer recht. Und es
kel zu vielen Aspekten mittelalter- und frühneuzeit- kann ihm niemand die Freiheit nehmen, von ei-
licher Buchkunde. nem Text den Gebrauch zu machen, der ihm paßt«

9
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

(Enzensberger 1976/1988, S. 33). Der promovierte sen zu verschaffen; manchmal genügt schon
Germanist Enzensberger wusste gleichwohl, dass ein Blick in das Inhaltsverzeichnis, um zu er-
es für die Lektüre und den Gebrauch von Texten kennen, ob der Titel hält, was er verspricht.
im Studium nachvollziehbare Regeln und Prämis- N Question: Klären Sie, welche Fragen Sie zum
sen gibt. Beispiel bei der Themenfindung für eine Haus-
Hörbücher: Oft erscheint heute gleichzeitig mit arbeit oder während der Vorbereitung eines Re-
der gedruckten Ausgabe eines Buches die Hörbuch- ferats an den Text haben.
Version, teils gelesen von der Autorin oder vom Au- N Read: Erst wenn Sie annehmen können, dass
tor, und fast alle klassischen Texte können inzwi- das Buch/der Beitrag Antworten auf Ihre Fra-
schen als Hörbuch erworben werden. Es ist völlig gen bieten könnte, beginnen Sie zu lesen, ein
legitim, einen Text zunächst über das auditive Me- erstes orientierendes, analytisches Lesen, ob
dium kennenzulernen. Wer seriös Germanistik mit dem Bleistift oder dem Marker in der
(oder eine andere Philologie) studieren will, kann Hand.
jedoch auf die gedruckte Ausgabe für die detaillier- N Recite: Fassen Sie die wichtigsten Passagen und
te Textarbeit nicht verzichten. Der Lesende kann Thesen mit eigenen Worten zusammen.
Sätze, Abschnitte, ganze Kapitel wiederholen, er N Review: Lesen Sie ausgewählte oder auch bis-
kann vorblättern, zum Anfang zurückkehren. her unklar gebliebene Passagen erneut und er-
Lesetechniken – Lesestrategien: Die Suche nach gänzen oder korrigieren Sie Ihre Notizen.
effizienten Lesetechniken ist kein Phänomen der Realistisch ist die Perspektive, dass Sie nach eini-
Gegenwart. Professionelle Leser/innen haben im- gen Semestern Techniken und Strategien entwi-
mer schon nach Möglichkeiten ge- ckeln werden, die Ihre Lesearbeit unterstützen.
sucht, die Leseeffizienz zu steigern. Unabhängig davon, ob Sie schon in der Oberstufe
Ein anschauliches Beispiel ist das gelernt haben, einen Text präzise zu lesen, oder ob
Bücherrad, ein rotierendes Lesepult, Sie eine der oben genannten Methoden für sich
an dem der Leser ca. zwölf Bücher entdeckt haben: Das orientierende, analysierende
gleichzeitig anschauen kann. Der ita- und strukturierende Lesen ist die Basisarbeit im
lienische Ingenieur Agostino Ramelli gesamten Studium.
stellte es 1588 in seinem Buch Le di- Close reading: Oft werden auch begleitende
verse et artificiose machine del capi- Übungen mit dem Schwerpunkt close reading an-
tano vor. Noch 2008 schreibt die geboten. Diese intensive und konzentrierte Lektü-
»Stiftung Lesen« unter der Schirm- re eines Textes ergänzt zum einen Seminare und
herrschaft der Bundesministerin für Vorlesungen, zum anderen schult sie den Blick für
Bildung und Forschung mit Verweis strukturelle Details und semantische Nuancen.
auf das Bücherrad von Ramelli ei- Auch Lektüre bedarf der Wiederholung: Spätes-
nen Wettbewerb aus, mit dem Ideen tens in der Examensphase lesen Sie ein Buch er-
für lesefördernde Möbel gesucht neut und neu. Umwege und Irrwege werden Ihre
wurden. Lesegeschichte auch im Studium prägen. Ein Ge-
Kurse zum effektiven Lesen wer- dicht, das Sie vor drei Semestern noch begeistert
den inzwischen an vielen Universitä- hat, finden Sie nun missglückt und langweilig.
Rotierendes Lesepult ten angeboten: Quer-Lesen, Schnell- Nicht das Gedicht hat sich verändert, sondern Sie
von Agostino Ramelli, 1588 Lesen, »Improved Reading«, SQ3R- haben im Studium neue ästhetische Präferenzen
Methode. Kurse, die versprechen, entwickelt. Vielleicht erleben Sie beim erneuten
dass Sie in Zukunft beim ausgiebigen Frühstück Lesen aber auch die »Begeisterung entrückter
ein Lektürepensum von 300 Seiten für das Seminar Lesestunden«; so emphatisch beschreibt Hermann
um 14 Uhr spielend bewältigen können, sollten Sie Hesse seine Erfahrungen im Gedicht »Beim Wie-
ignorieren. Unter dem Stichwort »Improved Rea- derlesen des Maler Nolten«, nachdem er Mörikes
ding« finden Sie Angebote, die versprechen, Lese- Roman nach Jahren noch einmal gelesen hat.
tempo und Leseintensität mit gezielten Übungen Medienkompetenz: Wissenschaftliches Lesen
und »speziell entwickelten Geräten« zu optimieren. lernen bedeutet im 21. Jh. auch, Medienkompe-
Die SQ3R-Methode versucht, in fünf Schritten tenz auszubilden und den Umgang mit Medien
Lesetechniken und -strategien zu vermitteln: kritisch zu reflektieren: Dies gilt sowohl für die
N Survey: Im ersten Schritt gilt es, sich einen klassischen Printmedien als auch für das ständig
Überblick über die zentralen Themen und The- wachsende Online-Angebot. Themenhefte der

10
1.2
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Wie lesen Studierende?

Zeitschrift GEO, Bertelsmann-Universallexika aus sich zum Beispiel über die Virtuelle Fachbibliothek
den 1950er Jahren oder gekürzte und geglättete Germanistik – Germanistik im Netz, die von Exper-
Ausgaben der Klassiker bieten keine soliden ten betreut und regelmäßig aktualisiert wird
Grundlagen für seriöse Studienbeiträge. Ob ein (http://www.germanistik-im-netz.de), oder nut-
Beitrag im Online-Portal Wikipedia verlässliche In- zen Sie das Angebot seriöser Fachportale zu den
formationen bietet, können Studierende in der Re- germanistischen Schwerpunkten (zum Beispiel
gel nicht zuverlässig beurteilen. Informieren Sie LINSE – Linguistik Server Essen).

Weiterführende Literatur
Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Literarische Kanonbildung Enzensberger, Hans Magnus: »Bescheidener Vorschlag
(Text + Kritik, Sonderband 9). München 2002. zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der
Baßler, Moritz: »Was blitzt und funkelt, in Reichtum und Poesie« [1976]. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn.
Fülle. Woran erkennt man einen Klassiker? Drei Thesen Frankfurt a. M. 1988, S. 23 ff.
zum Umgang mit kanonischen Meistern«. In: Jakobi-Mirwald, Christine: Das mittelalterliche Buch.
Literaturen 1–2 (2005), S. 9–16. Funktion und Ausstattung. Stuttgart 2004.
Bohnenkamp-Renken, Anne: »Neugermanistische Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die
Editionswissenschaft«. In: Hans Walter Gabler/Dies. Erzähltheorie. München 82009.
(Hg.): Kompendium der Editionswissenschaft. Universi- Segebrecht, Wulf: Was sollen Germanisten lesen? Ein
tät München 2003 (online unter: http://www.edkomp. Vorschlag. Berlin 2000.
uni-muenchen.de/CD1/frame_edkomp_AB.html). Sittig, Claudius: Arbeitstechniken Germanistik. Stuttgart
2008.

1.2 | Reden und Präsentieren


Im Studium dominieren auch im Bachelor-Zeital- Seminare »sind republikanische Veranstaltun-
ter folgende Veranstaltungstypen: Vorlesung, Se- gen; sie leben von der aktiven Mitarbeit aller Teil-
minar und Übung. In der Vorlesung können Sie in nehmer« (Albrecht Koschorke). Studieren bedeu-
der Regel zuhören und mitschreiben, im Seminar tet, sich aktiv an den Diskussionen zu beteiligen,
und in der Übung müssen Sie reden, mitreden, re- das im Selbststudium erarbeitete Wissen im Aus-
ferieren, diskutieren, argumentieren, begründen, tausch mit der Seminargruppe auf den Prüfstand
nachfragen, widersprechen, plädieren, analysie- zu stellen. Auch im Seminar ist das analysierende
ren, interpretieren, nachweisen, erörtern und zu- und kritische Lesen Grundlage des Gesprächs. Für
sammenfassen. Teilnehmer und Lehrende sind Sitzungen, in de-
Vorlesungen bieten regelmäßig die Gelegenheit, nen nur wenige gut und viele gar nicht vorbereitet
professionellen Redner/innen zuzuhören. Was sind, unergiebig und quälend. Das Seminar ist
unterscheidet einen guten Redner von einem »der Ort, an dem die generelle Forderung nach ei-
schlechten Redner? Die schon in den Klassikern ner Einheit von Forschung und Lehre ihre fachspe-
der antiken Rhetorik festgelegten vier Redeteile – zifische Verwirklichung findet« (Wegmann 2000,
Einleitung/Redeanfang (exordium), Erzählung/ S. 124). Gute Seminarsitzungen zeichnen sich
Darstellung (narratio), Beweisführung (argumen- nicht dadurch aus, dass am Ende wohlformulierte
tatio) und Redeschluss/Zusammenfassung (pero- Sätze des Lehrenden in der Mitschrift stehen; gute
ratio, conclusio) – bieten auch im heutigen Stu- Seminarsitzungen, an die Sie sich noch lange erin-
dienalltag für Lehrende und Studierende eine nern, sind geprägt von heftigen Diskussionen, die
handwerkliche Orientierung. Bewertungskriterien im besten Fall direkt nach der Sitzung fortgesetzt
sind darüber hinaus u. a. Klarheit und Angemes- werden. Eine auch heute noch aktuelle Empfeh-
senheit von Sprache, Stil und Redeschmuck lung können Sie in einem berühmten Essay von
(s. Kap. III.1.4). Ein Redner, der von Thema zu Heinrich von Kleist nachlesen: »Wenn du etwas
Thema springt, seine Zuhörer/innen ignoriert, wissen willst und es durch Meditation nicht fin-
monoton vom Blatt abliest und am Ende der Vorle- den kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher
sung keine Zeit mehr für eine kurze Zusammenfas- Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir auf-
sung hat, wird sein Publikum nicht fesseln (vgl. stößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben
Händel u. a. 2007). ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich

11
1.2
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Reden und Präsentieren

es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: den kommentierten Vorlesungsverzeichnissen ge-
nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst er- gebenen Lektürehinweise, um schon zu Semester-
zählen.« Der Essay, um 1805 entstanden und post- beginn gut informiert und wohlbegründet eine
hum 1878 im Druck erschienen, trägt den Titel Entscheidung für ein Referat treffen zu können.
Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken Der Vortrag sollte in der Regel nicht länger als 15
beim Reden. Er ist als Brief an einen Freund in- bis 20 Minuten sein; zwei Ziele sind zu erreichen:
szeniert; sein offenes Ende verweist zudem auf die Zum einen wird eine Themenstellung begleitet
Unabschließbarkeit des dialogischen Austauschs von Forschungsbeiträgen und -konzepten vorge-
von Gedanken und sprachlichem Handeln. Im Un- stellt, zum anderen wird auf dieser Basis eine wis-
terschied zu Kleist sind Sie Mitglied einer Gruppe senschaftliche Diskussion geführt. Oft werden Re-
scharf denkender Köpfe, die nach dem aufmerksa- ferate von Handouts begleitet, sie enthalten
men Zuhören sofort nachfragen und diskutieren begleitende Informationen (Gliederung des Vor-
wollen. trags, erste Informationen zu Aufbau und Struktur
Seit der Antike gibt es eine Fülle an Modellen eines Textes, Erläuterungen der Fachbegriffe, Zita-
für die Interaktion im Gespräch: Platon stellt zum te aus der Forschungsliteratur, Literaturverzeich-
Beispiel in den sokratischen Dialogen die Begeg- nis). Prägnanter können Thesenpapiere die Dis-
nung zwischen Lehrer und Schüler als Wechsel- kussion begleiten (s. 1.3.1).
spiel von Frage und Antwort vor. Der bekannteste Präsentationstechniken: Nutzen Sie die Ange-
Dialog, das Symposion (Das Gastmahl, so die bote der modernen Präsentationstechniken, wenn
deutsche Übertragung von Friedrich Schleierma- diese eine sinnvolle Ergänzung zum Vortrag bie-
cher 1807), leiht noch heute wissenschaftlichen ten. Sie können mit Unterstützung des Overhead-
Tagungen seinen Namen. Ebenso wie Lust am Le- Projektors Folien während des Vortrags beschrif-
sen eine wichtige Voraussetzung für Lesekompe- ten, um eine These zu entwickeln, oder Sie stellen
tenz ist, vermitteln Sprach- und Debattier-›Spiele‹ mit dem Beamer eine PowerPoint-Präsentation
Erfahrungen und Routinen, die eine gute Basis für vor. Wiederholungen der Textauszüge, die auf dem
den Erwerb rhetorischer Kompetenzen bilden. Handout stehen oder in den vorbereiteten Texten
»Spiel ist«, so die Definition des Kulturanthropolo- nachzulesen sind, sind überflüssig.
gen Johan Huizinga, »eine freiwillige Handlung Präsentationskompetenz: Mit jedem gelunge-
oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festge- nen Referat stellen Sie auch Ihre Informations- und
setzter Grenzen von Raum und Zeit nach freiwillig Vermittlungskompetenzen unter Beweis (vgl. Hän-
angenommenen, aber unbedingt bindenden Re- del u. a. 2007). Viele Studierende trauen sich zu-
geln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und nächst nicht, ein Referat zu übernehmen. Die
begleitet wird von einem Gefühl der Spannung Angst, vor einer fremden Gruppe zu sprechen, und
und Freude und einem Bewußtsein des ›Anders- die Sorge, sich vielleicht zu blamieren, sind
seins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹« (1938/2009, ernstzunehmende Gründe. Auch hier hilft nur die
S. 37). ständige Übung. Schon beim zweiten, dritten Refe-
Referat: Der überzeugende Vortrag ist das Er- rat werden Sie merken, dass Sie das Zeitlimit gut
gebnis eines komplexen Arbeitsprozesses. Dies gilt einhalten und die ausgewählten Thesen die Dis-
auch für das Referat. Wenn Sie in einem Seminar kussion anstoßen. Die ersten Semester sollten Sie
ein Referat halten, haben Sie damit in den meisten als universitäre Lehrjahre aktiv nutzen. Spätestens
Fällen eine wichtige Voraussetzung für den Schein- in der Prüfungsphase machen sich die Trainings-
erwerb erfüllt, vor allem signalisieren Sie Ihre Be- einheiten bezahlt.
reitschaft, aktiv und verantwortlich zum Gelingen Falls Gruppenreferate vorgesehen sind, ist dies
der Veranstaltung beizutragen. Ein gelungenes Re- auch als Aufforderung an jedes Mitglied der Grup-
ferat setzt intensive Lektüre voraus, eine gut be- pe zu verstehen, aktiv in allen Phasen der Vor-
gründete Auswahl der im mündlichen Vortrag vor- bereitung mitzuarbeiten und gemeinsam für das
zustellenden Themen und eine plausible Struktur. Gelingen Verantwortung zu übernehmen. Der Hin-
Wichtigste Voraussetzung für den Erfolg ist ein weis, »Diesen Text kenne ich nicht, den hat XY ge-
grundlegendes Interesse am Thema. Dies mag auf lesen«, ist nicht akzeptabel. Vor allem bei Grup-
den ersten Blick als banale Bemerkung erscheinen; penreferaten wird der vorgesehene Zeitrahmen oft
im Semesteralltag zeigt sich jedoch schnell, dass deutlich überschritten. Zeit für die Diskussion
ein Referat zu einem ›übrig gebliebenen‹ Thema muss jedoch auf jeden Fall bleiben: Deshalb ist es
nur selten überzeugt. Deshalb nutzen Sie die in sinnvoll, schon bei der Planung zu überlegen, wel-

12
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

che Passagen gekürzt oder übersprungen werden ren und zu visualisieren sowie das anschließende
können, ohne dass der Zusammenhang verloren- Seminargespräch zu moderieren. Reden ist eine
geht. Eine gute Vorübung ist, den Vortrag zu pro- sprachliche Handlung, ein performativer Akt. Die
ben, gerade die Gruppe bietet dafür eine gute Ge- ›Performance‹ der Vortragenden beeinflusst un-
legenheit. Wann immer möglich, lesen Sie ein mittelbar den Grad der Aufmerksamkeit der Zuhö-
fertiges Manuskript nicht vor. rer/innen. Alltagssprache ist im Referat und in der
Mit der Übernahme von Referaten im Studium Seminardiskussion nicht angemessen.
lernen Sie Schritt für Schritt, Themen zu präsentie-

Weiterführende Literatur
Händel, Daniel/Kresimon, Andrea/Schneider, Jost: Wegmann, Nikolaus: »Im Seminar«. In: Thomas Rathmann
Schlüsselkompetenzen: Reden – Argumentieren – Über- (Hg.): Texte, Wissen, Qualifikationen. Über epistemologi-
zeugen. Stuttgart/Weimar 2007. sche, wissenschaftspragmatische und kulturpolitische
Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur Aspekte eines Studiums der Germanistik. Berlin 2000,
im Spiel [1938]. Reinbek bei Hamburg 2009. S. 120–127.

1.3 | Schreiben
Schreibgeräte: Die Geschichte meiner Schreibma- dem eigentlichen Schreiben beginnen, wird etwa
schine lautet der Titel eines Buches des amerikani- ein Drittel der Gesamtzeit vergangen sein. Verzich-
schen Autors Paul Auster: »Es war eine Olympia- ten Sie auf Inhaltsreferate, dafür bleibt keine Zeit.
Reiseschreibmaschine, hergestellt in Westdeutsch- Reservieren Sie auf jeden Fall vor der Abgabe ein
land. Dieses Land gibt es nicht mehr, aber seit wenig Zeit für eine aufmerksame Lektüre der
jenem Tag im Jahre 1974 ist jedes Wort, das ich Klausur. Vor allem im Einführungsbereich oder ab-
geschrieben habe, auf dieser Maschine getippt hängig vom Seminarthema werden auch Multiple-
worden« (2005, S. 12). Die Wahl des richtigen Choice-Klausuren geschrieben. Im Anschluss an
Schreibgeräts ist nicht nur für Auster entscheidend literaturwissenschaftliche Seminare ist die Über-
für die erfolgreiche Schreibarbeit: Bertolt Brecht prüfung der Lernfortschritte mit dem Frage-Ant-
bevorzugte seine »Erika«, Franz Kafka tippte auf wort-Verfahren meist nicht sinnvoll. Sie sollen ja
einer »Oliver 5«. Ob Sie für Ihre Arbeit ein Apple- nicht zeigen, dass Sie gut auswendiglernen kön-
Gerät bevorzugen oder sich für ein Sonderangebot nen, sondern eine Themenstellung problemorien-
aus der breiten Palette der Personal-Computer tiert ohne die üblichen Hilfestellungen aufbereiten
oder Laptops entscheiden, ist zum einen eine fi- und ausformulieren können. In sprachwissen-
nanzielle Frage, hängt zum anderen jedoch auch schaftlichen Klausuren werden Freitext- und
von Status-Zuschreibungen und ästhetischen Vor- Übungsaufgaben sowie Multiple-Choice-Fragen oft
lieben ab. Aber auch im Zeitalter der Textverarbei- gemischt. Die folgenden Beispiele verdeutlichen
tung am PC schreiben wir weiterhin ständig mit die fachspezifischen Klausurthemen in Einfüh-
der Hand, mit Bleistift, Filzstift, Kugelschreiber rungsveranstaltungen:
und Füllfederhalter, auch der Tafelanschrieb ist im
PowerPoint-Zeitalter noch nicht aus der Mode ge-
kommen. Ältere deutsche Literatur Beispiele für
Klausur: Eine B. A.-typische Prüfungsform ist Sprachgeschichte und Grammatik: Geben Sie Klausurthemen
die Klausur. In begrenzter Zeit muss eine zuvor zu den folgenden Wörtern die neuhochdeut-
unbekannte Themenstellung oder Aufgabe bear- sche Entsprechung an und benennen Sie
beitet werden. Zunächst brauchen Sie Zeit, ein (bezüglich des Vokalismus), welche lautliche
Konzept zu entwickeln, die in der Themenstellung Entwicklung vom Mittelhochdeutschen zum
genannten Stichwörter in eine argumentative Neuhochdeutschen stattgefunden hat: gesagen,
Struktur zu übertragen, einen Text sorgfältig und guot, viur.
analytisch zu lesen, Ihr Wissen zu aktivieren und Literaturgeschichte: Nennen Sie zwei Zentren
mit den angeführten Aspekten und Fragen zu ver- mittelalterlicher Literatur und charakterisieren
binden (vgl. Delabar 2009, S. 142 ff.). Bevor Sie mit

13
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

rakter. Sie werden entweder unabhängig von ei-


Sie sie jeweils kurz. Welche Grundvorausset- nem größeren Schreibprojekt für die Diskussion im
zung für den mittelalterlichen Literaturbetrieb Seminar oder als Teil einer größeren Arbeit ge-
muss erfüllt sein? schrieben.
Abstract: In vielen Fachzeitschriften steht vor
Neuere deutsche Literatur oder nach dem eigentlichen Artikel eine knappe
Textanalytische Fragestellung: Beschreiben Zusammenfassung (vgl. zum Beispiel Deutsche
und erläutern Sie den Auszug aus Theodor Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Storms Novelle Im Schloß nach den Kategorien Geistesgeschichte – DVjs). Bei der Recherche nach
der formalen Erzähltextanalyse: Aufbau, Zeit, geeigneter Forschungsliteratur erlauben diese von
Modus und Stimme. den Autoren verfassten Abstracts eine rasche Ori-
Literaturtheoretische Fragestellung: »Machen entierung über Themenstellung, Methode und Er-
von Literatur bedeutet […] in erster Linie Ma- gebnisse. Das Abstract (abgeleitet vom Verb ›ab-
chen aus Literatur, das heißt Weiter-, Wider- strahieren‹: verallgemeinern, auf etwas verzichten)
und Umschreiben« (Renate Lachmann). Erläu- ist auch für die Vorbereitung eines Referats oder
tern Sie bitte diesen Satz im Blick auf den einer Hausarbeit eine nützliche Arbeitsform, um
Begriff der Intertextualität. Was bedeutet das Leseergebnisse konzentriert zusammenzufassen.
für ein Verständnis der Kategorien ›Autor‹ und In der Einleitung eines Referats oder einer Hausar-
›Text‹? beit werden zunächst die wichtigsten Beiträge mit
den zentralen Thesen vorgestellt. Ein Abstract ist
Sprachwissenschaft keine Rezension, d. h. eine wertende Besprechung
Morphologie: Analysieren Sie die Morphem- eines Beitrags oder eines Buches. Gleichwohl zei-
struktur des folgenden Wortes in Form eines gen Sie bereits mit der Vorstellung eines bestimm-
Strukturbaums: Zerstreuung ten Beitrags im Referat oder im Exposé zu Ihrer
Syntax: a) Bestimmen Sie in folgendem Satz Arbeit die Präferenz für einen thematischen
das Prädikat und die Satzglieder (Umfang, Schwerpunkt und eine methodisch-theoretische
Wortart des Kopfes, Funktion, Valenz): »die […] Fragestellung.
dem Bürgermeister aber einen weiteren Monat Thesenpapier: Warum ist ein gelungenes The-
nahezu unbeschwerten Politisierens ermögli- senpapier eine der schwierigsten und zugleich
chen mochte.« wichtigsten Herausforderungen im Semesteralltag?
b) Analysieren Sie den Satz nach dem Felder- Im Unterschied zum Handout (s. 1.2) erfordert das
modell/topologischen Modell. Thesenpapier die konzentrierte Darstellung der
c) Analysieren Sie das unterstrichene Satzglied zentralen, oft auch kontroversen Aussagen der
in Form eines Phrasenstrukturbaums. wissenschaftlichen Beiträge. Mit dem Thesenpa-
pier werden Bewertungen vor- bzw. Behauptun-
gen aufgestellt, die begründet werden müssen.
Thesen sollen die Diskussion anregen, sie können
1.3.1 | Kleine Textsorten provozieren. Die Vortragenden müssen so gut vor-
bereitet sein, dass sie überzeugende Argumente
Viele kleine Textsorten prägen den universitären und Belege vorbringen können. Bei guter Vorberei-
Alltag: die Mitschrift in Vorlesung und Seminar, tung dient es dem Vortragenden als Leitfaden, eine
das Exzerpt, das Abstract und das Thesenpapier ausführliche schriftliche Dokumentation ist (zu-
bei der Vorbereitung von Referaten, Hausarbeiten nächst) überflüssig. Ob eine lineare Abfolge oder
und Prüfungen, der Essay als seminarbegleitende eine kontroverse Vorstellung gewählt wird, ist ab-
Reflexion einer speziellen Fragestellung, das Proto- hängig von der Komplexität der Themenstellung.
koll, eine der unbeliebten Textsorten im Studium, In der ersten Variante werden Thesen zu einer
als Dokumentation einer Diskussion, die Dispositi- wissenschaftlichen Position vorgestellt, die in der
on oder das Exposé am Start zu einer längeren anschließenden Diskussion verteidigt wird. Häufig
schriftlichen Arbeit sowie die Rezension als kriti- liegen zum Beispiel zur Interpretation eines litera-
sche Vorstellung eines Textes. Die Hausarbeit ist rischen Textes kontroverse Beiträge vor. Auf die
die wissenschaftliche Kür im Spektrum der univer- Vorstellung und Diskussion der ersten These folgt
sitären Textsorten. Die kleinen Textsorten haben die Vorstellung und Diskussion der Gegenthese
vor allem rekapitulierenden, resümierenden Cha- (vgl. Sesink 2007, 139 ff.).

14
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Kleine Textsorten

(vgl. Gebhard 2005, S. 283–287; Frank u. a. 2007,


Beispiel: Thesenpapier S. 156 ff.). Protokolle sind in vielen Arbeitsfeldern
Sollen Vor- und Nachteile eines Literaturkanons Standardtexte, die Sie regelmäßig schreiben müs-
in Form von Thesen und Gegenthesen disku- sen. Nutzen Sie also die Lehrzeit im Studium, um
tiert werden, können folgende Thesen die Dis- Ihre Kompetenzen zu trainieren.
kussion einleiten: Essay: Im Unterschied zum Protokoll oder Expo-
1. These: Ein Literaturkanon führt zu breit ge- sé ist der Essay eine akademische Textsorte, für die
fächerten Literaturkenntnissen. verbindliche Regeln zu formulieren (fast) unmög-
1. Gegenthese: Ein Literaturkanon führt zu lich ist. Jedes Fach, jeder Lehrende hat seine Vor-
oberflächlichem Lesen und ›Abhaken‹ der Lese- stellungen, wie ein gelungener Essay zu schreiben
liste. ist. Das französische Wort essai erlaubt eine Viel-
2. These: Ein Literaturkanon hebt das Niveau zahl an Übersetzungen: Versuch, Annäherung,
des Studiums. Probe, Prüfung, Test – Begriffe, die die semanti-
2. Gegenthese: Ein Literaturkanon führt zu Un- sche Breite vom neutralen Ausprobieren bis zum
selbständigkeit und Fachblindheit. konkreten Prüfen/Geprüftwerden umfassen. Für
die Textsorte ›Essay‹ sollte zu Beginn des Studiums
eine längere Probezeit eingeplant werden. Ent-
Die Seminarteilnehmer sind explizit aufgefordert, scheidend für die argumentative Struktur und die
kritisch zu fragen und die Thesen auf den Prüf- stilistische Gestaltung eines Essays ist die Themen-
stand zu stellen. Auf dem Thesenpapier stehen bzw. Fragestellung, zum Beispiel die pointierte
neben den Angaben zum Seminar und dem Titel Vorstellung eines Textes, die auch persönliche
des Vortrags auch alle Literaturangaben, auf die in Kommentare und Wertungen enthalten kann oder
den Thesen Bezug genommen wird. Die Thesen muss, oder die Diskussion kontroverser Thesen.
werden durchnummeriert, im Durchschnitt sollte Ein Essay überzeugt mit prägnanten Formulierun-
eine These nicht mehr als zwei bis drei Sätze um- gen sowie stichhaltigen Reflexionen und Argumen-
fassen. ten. In der Regel sind Essays in drei Schritten auf-
Protokoll: Ein Protokoll dokumentiert den Ver- gebaut: In der Einleitung wird das Thema knapp
lauf der Diskussion im Seminar. Ob Sie die aus- vorgestellt, das im Hauptteil Schritt für Schritt aus-
führliche Version des Verlaufsprotokolls oder die geführt wird; im Resümee können auch weitere
knappe Version des Ergebnisprotokolls wählen, Perspektiven gebündelt werden (vgl. Stadter 2003,
klären Sie vor dem Schreiben. Das Protokoll ist das S. 65–92). Lesen Sie die ›großen‹ Essays, lernen Sie
Produkt, ihm voraus geht das Protokollieren. Wer mit Vorbildern (imitatio). Michel de Montaignes
ein Protokoll übernimmt, steht vor mehreren Auf- Essay über »Die Kunst des Gesprächs« lohnt auch
gaben: konzentriertes Zuhören, präzises Notieren nach 400 Jahren noch die Lektüre.
wichtiger Aussagen und Positionen, Nachfragen, Exposé: Mit einem Exposé (auch Disposition,
falls Begriffe unklar geblieben sind oder Argumen- Entwurf) geben Sie einen kurzen Überblick über
te in der Diskussion durcheinanderwirbeln, Schrei- Ihr Arbeitsvorhaben. Es ist ein Konzept, das im
ben der ersten Fassung (Korrektur durch die Semi- Prozess des Schreibens präzisiert wird, d. h. even-
narleitung), eventuell Schreiben der zweiten tuell auch revidiert, gekürzt oder erweitert wird.
Fassung (nach der Diskussion im Seminar). Sie Das Exposé informiert den Betreuer über Ihr Vor-
lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterschei- haben, er kann Tipps geben, wie das Thema um-
den. Die Darstellung muss übersichtlich, sachlich strukturiert, präzisiert oder reduziert werden
und neutral sein; persönliche Kommentare und kann. Im Exposé werden Frage- bzw. Themen-
Bewertungen gehören nicht ins Protokoll. stellung skizziert, der Stand der Forschung refe-
Mit den Protokollen liegt am Ende des Semes- riert, das methodische Vorgehen begründet und
ters eine Textsammlung vor, die von Studierenden die vorläufige Auswahl der Primär- und Sekundär-
geschrieben, von der Seminarleitung überprüft texte vorgestellt; ein Zeitplan ist spätestens in der
und der Seminargruppe abgenommen wurde. Pro- Examensphase eine nützliche Orientierung. Auch
tokolle sind die Scharniere zwischen den einzel- wenn das Exposé eine vorläufige Planung skiz-
nen Sitzungen. Sie bieten auch noch nach Semes- ziert, kann es im Prozess des Schreibens dabei hel-
tern und in der Prüfungsphase einen Überblick fen, die Arbeitsfortschritte zu überprüfen und
über die Entwicklung von Themen und Diskussio- Schreibblockaden zu überwinden. Wenn Sie sich
nen, sie dokumentieren Irrwege und Fortschritte für ein Stipendium bewerben wollen oder eine Dis-

15
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

sertation anstreben, ist ein gutes Exposé Voraus- IASL-Beiträge sind von Wissenschaftlern für Wis-
setzung für eine positive Entscheidung. Auch au- senschaftler geschrieben. Gleichwohl bieten sie
ßerhalb der Universität ist das Exposé ein wichtiges auch Studierenden vor allem in der Prüfungsphase
Instrument für die Evaluation von Schreibprojek- eine gute Orientierung. Dies gilt auch für die Be-
ten. Im Literaturbetrieb zum Beispiel ist ein Expo- sprechungen wissenschaftlicher Bücher im Inter-
sé oft Grundlage für die Entscheidung eines Verla- net-Portal literaturkritik.de.
ges, ein geplantes Buchprojekt zu fördern und
seine Publikation in Aussicht zu stellen oder dem
Verfasser eine freundliche Absage zu schicken.
Rezension: In vielen Bachelor-Studiengängen 1.3.2 | Literatursuche
lernen Sie in Übungen, neue Bücher vorzustellen
und sachlich zu bewerten. Rezensionen (lat. re- Planen Sie eine Hausarbeit zu Goethes Werther?
censere: mustern) haben eine wichtige Vermittler- Die Literaturliste, die Sie im Seminar bekommen
rolle zwischen Autor/innen, Verlag, Buchmarkt haben, listet schon 20 Monographien und Aufsätze
und Leser/innen. Besprechungen von Büchern le- auf. In der Bibliographie der Deutschen Sprache
sen und hören Sie in Zeitungen, (Fach-)Zeitschrif- und Literatur (abgekürzt: BDSL, bequem über die
ten, im Internet, im Fernsehen und im Radio. Kri- Online-Kataloge der Universitätsbibliotheken zu
tische Rezensionen eines literarischen Werks erreichen) werden für die Suchanfrage »Goethe,
informieren den Leser über Thema, Aufbau und Werther« für die Jahre 1985 bis 2009 ca. 450 Titel
Inhalt, Sprache und Stil. Ist der Autor bisher kaum aufgelistet. Erweitern Sie die Schlagwörter um den
bekannt, kann er mit einem kleinen biographi- Begriff »Brief«, erhalten Sie fünf Einträge. Eine prä-
schen Porträt vorgestellt werden; ein neues Werk zise Fragestellung ist also unbedingt nötig, um aus
eines bekannten Autors erlaubt Hinweise auf die der Vielzahl der Artikel und Bücher gezielt auszu-
bisherige Entwicklung. Die Bewertung schließ- wählen. Möchten Sie hingegen einen neu erschie-
lich sollte sich nicht mit rhetorischen Floskeln nenen Roman vorstellen, werden Sie noch keine
begnügen, sondern nachvollziehbare und plausi- wissenschaftliche Literatur finden. Sie sind ange-
ble Argumente anführen (vgl. Anz/Baasner 2004, wiesen auf die aktuellen Besprechungen in den
S. 226 ff.). Vor allem vor den großen Buchmessen Tages- und Wochenzeitungen oder im Internet. Vor
in Leipzig und Frankfurt finden Sie in vielen Zei- allem dort werden Sie in spezialisierten Online-
tungen (FAZ, FR, SZ, TAZ, NZZ etc.) und Zeit- Portalen wie zum Beispiel literaturkritik.de fündig
schriften (DIE ZEIT, DER SPIEGEL etc.) sowie in (vgl. Franke u. a. 2010).
Magazinen (Literaturen etc.) Extraseiten oder Bei- Nehmen Sie an den Führungen und Schulun-
lagen, in denen die wichtigsten Neuerscheinungen gen der Universitäts- und Institutsbibliotheken zu
vorgestellt werden: Belletristik, Kinder- und Ju- Beginn des Studiums und bei Bedarf teil: Auch die
gendliteratur, Sach- und Fachbücher. Nutzung des Online-Katalogs und der schnelle Zu-
Die Rezension einer wissenschaftlichen Veröf- griff auf die Datenbanken wird in kleinen Gruppen
fentlichung stellt Aufbau, Thesen, Argumentation geübt, Probleme können sofort besprochen, Strate-
und Ergebnisse vor; im Resümee werden Stärken gien der Recherche erprobt werden. Mit Literatur-
und Schwächen eines Beitrages sachlich abgewo- verwaltungsprogrammen (LiteRat, Citavi, Litlink,
gen. Die Internationale Bibliographie der Rezensio- Bibliographix etc.), die von vielen Bibliotheken
nen wissenschaftlicher Literatur (IBR, erscheint inzwischen kostenlos angeboten werden, können
seit 1971, monatliche Aktualisierung) verzeichnet Sie recherchieren, Literaturangaben ohne den Um-
ca. 1,2 Millionen Nachweise, vor allem für die weg Kopie oder Notizzettel direkt erfassen, Kom-
Geistes- und Sozialwissenschaften. Das Online- mentare einfügen, Querverbindungen markieren
Portal IASL (IASLonline.de), seit 1998 Nachfolger und Fachbegriffe verbinden, so dass die Arbeitser-
des gedruckten Internationalen Archivs für die gebnisse auch für weitere Projekte genutzt werden
Sozialgeschichte der Literatur, stellt kostenfrei Re- können. Die Programme versprechen Wissens-
zensionen wissenschaftlicher Neuerscheinungen und Projektmanagement; ob sie diese Versprechen
vor. Die Besprechungen werden, so können Sie einlösen, müssen Sie im Praxistest herausfinden.
auf der Homepage lesen, kritisch begutachtet, Bibliographieren/Recherchieren: Im Seminar
»sachhaltige Information und theoretische Reflexi- werden schon erste Hinweise auf wichtige For-
on« charakterisieren die Beiträge. Nicht auf An- schungsbeiträge gegeben, die für eine Hausarbeit
hieb werden Sie alle Besprechungen verstehen: überprüft und evtl. ergänzt werden. Die Texte sind

16
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Literatursuche

oft schnell ausgewählt, als nächste Schritte folgen gister) die systematischen Bände. Online ist die
Suche, Auswahl und Beschaffung der begleitenden Bibliographie noch nicht erreichbar; seit 2002 kön-
Forschungsliteratur. Hilfestellungen bei der auto- nen Sie in den Jahrgängen 1998 ff. auf CD-ROM
ren-, themen- oder epochenbezogenen Recherche recherchieren.
gibt zum Beispiel das Handbuch von Hansjürgen N MLA – Modern Language Association (www.
Blinn (2005). Die Online-Angebote der Universitä- mla.org/bibliography): Die internationale Biblio-
ten sind in den letzten Jahren systematisch ausge- graphie der Modern Language Association ver-
baut worden. Die klassischen Karteikästen, diffe- zeichnet Monographien und unselbständig er-
renziert nach alphabetischem und systematischem schienene Beiträge zu Literatur und Sprache,
Katalog, werden in der Regel nicht mehr aktuali- Literatur- und Sprachwissenschaft der Germanis-
siert. Über den OPAC (Online Public Access Cata- tik (auch: Anglistik/Amerikanistik, Romanistik,
logue) der Bibliotheken sind viele Datenbanken Klassische Philologien etc.) seit 1926. Seit 2004
bequem und kostenfrei zu erreichen. Einen Über- stellt die MLA auch Abstracts zu einzelnen Beiträ-
blick gibt das Online-Portal der Deutschen Natio- gen vor.
nalbibliothek (http://www.d-nb.de): Sie ist »die N BLLDB – Bibliography of Linguistic Literature
zentrale Archivbibliothek und das nationalbiogra- Database: Sprachwissenschaftler können online
fische Zentrum der Bundesrepublik Deutschland«. auf diese Bibliographie zugreifen – http://www.
Dort finden Sie alle seit 1913 in Deutschland pu- blldb-online.de (vgl. Delabar 2009, S. 37 ff.).
blizierten deutschsprachigen Bücher und Medien, Die Fachbibliographien bieten mit ihren diffe-
in zunehmendem Umfang auch Tonträger, elektro- renzierten Suchfunktionen zuverlässige Arbeits-
nische Datenträger und Netzpublikationen. Der instrumente. Wenn Sie als Suchbegriffe über
Karlsruher Virtuelle Katalog (KVK), angesiedelt an Google »Franz Kafka« eingeben, erhalten Sie ca.
der Universitätsbibliothek Karlsruhe, ist als Meta- 2 880 000 Einträge (Stand: Februar 2012), einge-
katalog konzipiert, der in Bibliotheks- und Buch- grenzt auf Seiten aus Deutschland. Wenn Sie viel-
handelskatalogen weltweit mehr als 500 Millionen sprachig oder mutig sind und die Option »Das
Bücher und Zeitschriften nachweist. Web« wählen, also die weltweite Suche, stellt
Folgende Fachbibliographien, die gedruckt Google 10 400 000 Einträge vor. Es überrascht, wie
und/oder online zur Verfügung stehen, haben sich oft dieser Einstieg zum Bibliographieren genutzt
bewährt: wird. Ein Register, d. h. eine Suchfunktion mit hie-
N BDSL – Bibliographie der Deutschen Sprache rarchischen Subkategorien, in zuverlässigen und
und Literatur (www.bdsl-online.de): Die Deut- anspruchsvollen Büchern noch vorhanden, bieten
sche Forschungsgemeinschaft unterstützt das viele Suchmaschinen nicht. Sie sind aufgefordert,
»Sondersammelgebiet Germanistik: Deutsche Spra- eine Hierarchie zu entwickeln. Das Netz ist ver-
che und Literatur« der Universitätsbibliothek gleichbar mit einem unterirdischen Wurzelwerk,
Frankfurt finanziell. Erstellt wird die Bibliographie einem Rhizom, das eine Überfülle an nicht ge-
von der Redaktion der Bibliothek durch Autopsie, wichteten Zufallsfunden liefert.
das heißt, die bibliographischen Angaben der Bü- Auswahl: Auch wenn Sie beim Bibliographieren
cher und Zeitschriften werden vor Ort überprüft in den Fachportalen vielversprechend klingende
und ›nach Augenschein‹ erstellt. Seit 2004 ist die Titel gefunden haben, bedeutet dies nicht, dass
BDSL online zu erreichen; inzwischen sind viele Sie in den nächsten Tagen mit dem Lesen begin-
Bibliotheken über Lizenzen angeschlossen, so nen können. Oft sind die Bücher ausgeliehen oder
dass Sie auch als Erasmus-Student/in in Rom Zu- müssen über Fernleihe bestellt werden. Dies muss
griff auf die BDSL haben und über Fernleihe und bei der Zeitplanung berücksichtigt werden. Eine
International Library Loan (ILL) Aufsätze bestel- umfangreiche Literaturliste belegt zunächst nur
len können. die Quantität der Beschäftigung; entscheidend ist
N Germanistik: In der zweiten großen Fach- die überzeugende und methodisch reflektierte
Bibliographie, der gedruckten Zeitschrift Germa- Auswahl und ihre Begründung im Exposé. Wenn
nistik, werden zudem viele Monographien und der zu bewältigende Bücherstapel zu groß wird,
Sammelbände mit kleinen Referaten vorgestellt, in ist dies häufig der Grund, der als Entschuldigung
denen Themenstellung und Durchführung knapp für die verspätete Abgabe oder gar den Abbruch
skizziert und bewertet werden. Jährlich erschei- einer Arbeit genannt wird. Für Recherche, Aus-
nen zwei Bände, im Abstand von vier bis fünf Jah- wahl und Lektüre der Beiträge sollte insgesamt
ren ergänzen Registerbände (Namen- und Sachre- nicht mehr als ein Drittel der Arbeitszeit einge-

17
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

plant werden. Unabhängig davon, ob Sie die ers- funktionen anbieten, mit denen Sie in großen Text-
ten Ergebnisse der Lesearbeit konventionell auf ausgaben schnell recherchieren können.
Zetteln/Karteikarten vermerken oder direkt in eine Der Zitationsindex ist im Wissenschaftsbetrieb
Textdatei eingeben, wichtig ist, Zitate korrekt zu ein Instrument, das mit quantitativen Mitteln Aus-
notieren, Auslassungen zu markieren und die nö- sagen über die Qualität eines Beitrags treffen will.
tigen bibliographischen Angaben sorgfältig zu ver- Vor allem in den Naturwissenschaften gilt die Häu-
merken. Wenn Sie in der Schlussphase der Arbeit figkeit des Zitiertwerdens als Indikator für die
auf ein inzwischen wieder ausgeliehenes Buch Reputation und Qualität der wissenschaftlichen
warten müssen, um Angaben zu ergänzen oder zu Beiträge. Auch in den geisteswissenschaftlichen
korrigieren, verpassen Sie eventuell die Frist für Fächern gibt es sogenannte Zitier-Stars, die in vie-
die Abgabe. len Beiträgen anzutreffen sind. Sie spiegeln zu-
Zitieren/Belegen: Zitieren heißt belegen, heißt gleich – zumindest für eine bestimmte Zeit – aktu-
Teilhabe an Texten und Diskursen. Zitate knüpfen elle Diskussionen und theoretische Präferenzen.
Verbindungen, die die eigene Argumentation un- Mit zunehmend geschultem Blick erkennen Sie
terstützen und auf andere Forschungen verweisen. schon an den Titelstichwörtern, zu welcher wis-
Die Anführungszeichen markieren die fremden senschaftlichen Schule ein Beitrag gehört.
Stimmen, sie signalisieren dem Leser ›direkte Systematik der Nachweise: In vielen Ratgebern
Rede‹. Auch beim direkten Zitieren bleibt die eige- zum wissenschaftlichen Schreiben finden Sie Vor-
ne Stimme dominant, sie wählt aus, kürzt, stellt schläge für die Systematik der Nachweise. Sinnvoll
um, bewertet. Unabhängig davon, welche Form ist es, vor Beginn des Schreibens nachzufragen, ob
des Zitats gewählt wird, wörtliche Wiedergabe und welche Vorgaben es an Ihrem Institut gibt. Die
oder sinngemäßes Zitat, gelten die Regeln der gewählte Form muss im Prozess des Schreibens
Überprüfbarkeit durch einen korrekten Nachweis beibehalten werden. Sie können die Kurzform mit
und der korrekten Wiedergabe des Zitierten. Verfassername, Jahreszahl und Seitenangabe (Har-
Nicht die Quantität der Zitate, Belege und Ver- vard-Systematik) wählen und die vollständigen
weise garantiert die Qualität des Geschriebenen, bibliographischen Angaben nur im Literaturver-
sondern die plausible Auswahl der Texte. Der ame- zeichnis anführen oder diese auch in der ersten
rikanische Historiker Anthony Grafton hat in sei- Fußnote vorstellen (vgl. Sittig 2008, S. 73–86; Dela-
ner Untersuchung mit dem pointierten Titel Die bar 2009, S. 126–131).
tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote dieses Systematik des Zitierens: In den Ratgebern von
Problem prägnant beschrieben: »In Wirklichkeit Sittig und Delabar finden Sie auch viele Beispiele,
kann selbstverständlich niemand je das Spektrum wie Sie Zitate kürzen, umstellen und in den eige-
von Quellen ausschöpfen, die für ein wichtiges nen Text integrieren können. Vor allem beim indi-
Problem relevant sind – und viel weniger noch alle rekten Zitieren ist die Fehlerquote hoch: Die For-
in einer Anmerkung zitieren. […] Nur die richti- men des Konjunktiv I sind zum Beispiel problema-
gen Fußnoten, nicht eine beliebige Ansammlung tisch, wenn sie identisch mit den Indikativformen
von Verweisen, ließen einen Text eine kritische sind. Der Konjunktiv sollte nicht übermäßig einge-
Nachprüfung mit Glanz bestehen« (Grafton 1995, setzt werden; die Texte bekommen eine auffällige
S. 30 f., 59 f.). Künstlichkeit. Problematisch ist, wenn ein Zitat
Zitierfähigkeit ist ein zentrales Kriterium für die im Zitat nicht als solches erkannt und markiert
Auswahl. Dies gilt sowohl für die Ausgaben der wird. Dies führt dazu, dass ein Zitat dem ›fal-
literarischen Texte (s. 1.1.2) als auch für die wis- schen‹ Autor zugewiesen wird. Ein typischer An-
senschaftliche Literatur, unabhängig davon, ob die fängerfehler ist auch der sog. Zitatenmix: In einem
Zitate aus Büchern stammen oder im Netz zu fin- Abschnitt von ca. 10 Zeilen wird aus drei For-
den sind. Beiträge aus Wikipedia sind nicht zitier- schungsbeiträgen zitiert, die sich hinsichtlich der
fähig, da sie wissenschaftlichen Standards meist theoretischen Basis, der argumentativen Struktur
nicht genügen. Jeder – auch ein völlig Fachfrem- und der sprachlichen Gestaltung extrem unter-
der – kann hier einen Beitrag schreiben oder einen scheiden. Es entsteht ein rhetorisch-argumentati-
bereits vorhandenen Beitrag verändern. Digitali- ves Pastiche im Wortsinn (ital. pasticcio: Eintopf),
sierte Texte und Textausgaben sollten wann immer gemischt aus oft divergierenden, methodisch un-
möglich mit Studienausgaben bzw. historisch- verträglichen und wissenschaftshistorisch entlege-
kritischen Ausgaben verglichen werden. Nützlich nen Positionen, begleitet von einigen wenigen ei-
sind digitalisierte Studienausgaben, da sie Such- genen Sätzen. Das Verhältnis von Eigenem und

18
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Die Hausarbeit

Fremdem ist für jede Form wissenschaftlicher Tex- ten eine rechtsverbindliche Erklärung abzugeben.
te angemessen zu gewichten. Auch die Möglich- Der Wissenschaftstheoretiker Gerhard Fröhlich
keit, die Argumentation in den Fußnoten fortzu- stellt in seinem Beitrag »Plagiate und unethische
setzen und zu vertiefen, sollte zunächst nur be- Autorenschaften« Varianten vor: das Totalplagiat,
dingt genutzt werden. Alle wichtigen Argumente das Übersetzungsplagiat, das Teilplagiat als »wis-
gehören in den Haupttext. senschaftliches Cuvée«, das Ideenplagiat, »altruis-
Zitat und Urheberrecht: Was hat Zitieren mit tische Plagiate«, Autoplagiate, Verbal- und Bildpla-
dem deutschen Urheberrecht zu tun? In der Regel giate (Fröhlich 2006, S. 81–82). Im Semesteralltag
gelten geisteswissenschaftliche Seminararbeiten – sind all diese Formen regelmäßig zu finden. Be-
im Unterschied zu den oft standardisierten The- sonders beliebt ist das »wissenschaftliche Cuvée«,
men in den Naturwissenschaften – als individuelle ein Zusammenschnitt von Texten, die das Aufspü-
Leistung. Die Pflicht zu zitieren, bedeutet auch, ren der Quellen der Einzeltexte im Unterschied zu
die Autorität des fremden Textes anzuerkennen. einem Totalplagiat komplizierter machen. Cuvées
Im Urheberrecht werden die Begriffe ›Bearbeiten‹, fallen trotzdem schnell auf, weil Argumentation
›Umgestalten‹, ›Benutzen‹ und ›Zitieren‹ (§§ 3, 23, und sprachliche Gestaltung einzelner Passagen
24 und 51) angeführt, um die verschiedenen Stu- überhaupt nicht zusammenpassen. Die Zeit, die
fen zu präzisieren. Für die wissenschaftliche Ar- mit ›Copy and Paste‹ (Ausschneiden und Einfü-
beit ist vor allem Paragraph 51: »Zitate« wichtig. Er gen) vertan wird, kann und sollte in jedem Fall
schützt den ›Urheber‹ und formuliert Regeln für effizienter und rechtlich unbedenklich für eigene
den ›Benutzer‹: gedankliche Arbeit genutzt werden.

Zur Vertiefung

Gesetz über Urheberecht und verwandte 1.3.3 | Die Hausarbeit


Schutzrechte, 1966, § 51 Zitate
»Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und Vor allem in Pro- und Hauptseminaren ist das Ver-
öffentliche Wiedergabe eines veröffentlichten Wer- fassen einer Hausarbeit die Voraussetzung für das
kes zum Zweck des Zitats, sofern die Nutzung in Bestehen der Modulprüfung bzw. für den Erwerb
ihrem Umfang durch den besonderen Zweck ge- eines qualifizierten Leistungsnachweises. Mit der
rechtfertigt ist. Zulässig ist dies insbesondere, wenn Hausarbeit zeigen Sie, dass Sie eine Themenstel-
1. einzelne Werke nach der Veröffentlichung in ein lung in einem begrenzten zeitlichen Rahmen wis-
selbständiges wissenschaftliches Werk zur Erläute- senschaftlich angemessen und sprachlich korrekt
rung des Inhalts aufgenommen werden, bearbeiten können. Da Sie in den modularisierten
2. Stellen eines Werkes nach der Veröffentlichung Studiengängen oft enge Zeitvorgaben für die Abga-
in einem selbständigen Sprachwerk angeführt wer- be haben, ist eine gute Planung und Abstimmung
den, […].« der einzelnen Arbeitsschritte umso wichtiger. Für
eine Hausarbeit erhalten Sie je nach Modulvorga-
ben bis zu vier Kreditpunkte. Vier Kreditpunkte
Auch für studentische Arbeiten gilt das Urheber- bedeuten 120 Arbeitsstunden, d. h. ca. 4 bis 6 Wo-
recht: Lesen Sie bitte das Kleingedruckte auf der chen. Diese Zeit gilt es zu planen. Versuchen Sie,
Homepage von Hausarbeiten.de. Kopien und Aus- bei der Abwägung zwischen Wunschthema und
drucke dürfen nur für den privaten und sonstigen Arbeitsbedingungen einen realistischen Mittelweg
eigenen Gebrauch angefertigt werden (§ 53 Urhe- zu finden.
berrecht). Als Benutzer/in sind Sie verantwortlich Themenstellung suchen und eingrenzen (inven-
für die Einhaltung der juristischen Vorschriften. tio): Was interessiert Sie an einem Text? Welches
Plagiate: Im Studium werden Sie ständig aufge- Erkenntnisinteresse haben Sie? Ein vorgegebenes
fordert, Auskunft zu geben über Ihre Quellen und Thema lässt wenig Spielraum für eigene Ideen.
den Gebrauch, den Sie von ihnen machen. Die Wenn möglich, formulieren Sie ein eigenes The-
Zahl der Teil- und vollständigen Plagiate nimmt ma. In der Regel wird eine Themen- oder Frage-
dramatisch zu. Das Angebot an frei verfügbaren stellung nicht isoliert am häuslichen Schreibtisch
und käuflichen Hausarbeiten wächst im Netz täg- entwickelt, sondern entsteht in der Diskussion im
lich. Alle Universitäten fordern ihre Studierenden Seminar, in der intensiven Beschäftigung mit lite-
inzwischen auf, bei größeren schriftlichen Arbei- rarischen und wissenschaftlichen Texten. Die The-

19
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

menstellung sollte so präzise wie möglich und so Titelformulierung und den Kapitelüberschriften –
eng wie nötig formuliert werden: »Eine Arbeit, die mit der Netzwerk-Technik oder dem Mind-Map-
mehr hält, als ihr Titel verspricht, überrascht den ping visualisieren und strukturieren (vgl. Stary/
Leser auf positive Weise. Eine Arbeit, die die Er- Kretschmer 2004, S. 121 ff.; Frank u. a. 2007,
wartungen enttäuscht, die ihr Titel weckt, er- S. 84 ff.). Wählen Sie die Netzwerk-Technik, ver-
scheint womöglich in einem schlechteren Lichte, binden Sie die ausgewählten Begriffe mit Relatio-
als sie eigentlich verdiente« (Sesink 2007, S. 94). nen, die die thematischen, methodischen oder
Überlegen Sie deshalb schon in dieser ersten Ar- logischen Beziehungen zwischen den Begriffen
beitsphase, wie Sie ein Thema vorstellen möchten: präzisieren: Sie können Eigenschaften benennen,
Haben Sie im ersten Schritt einen Autor und/oder Bedingungen formulieren, Begründungen geben,
Texte ausgewählt, werden Sie im zweiten Schritt – vergleichen, Schlussfolgerungen ziehen etc. Wenn
in Auseinandersetzung mit den Forschungsbeiträ- Sie ein Mind-Map entwickeln, gehen Sie von ei-
gen – entscheiden, ob Sie eine literaturhistorische, nem zentralen Begriff aus und stellen jeden neuen
eine literaturtheoretische oder eine textanalytische Aspekt in einer vom Zentrum ausgehenden Linie
Untersuchung planen. In der Sprachwissenschaft dar. Ob Sie im ersten Arbeitsschritt die klassische
können Sie eine sprachgeschichtliche oder syste- Form des Baumdiagramms oder eine andere grafi-
matische Perspektive wählen. Die Arbeitsschritte sche Form für die Visualisierung wählen, sollten
der Themenwahl, der Recherche und der Argu- Sie vom Stand der Vorarbeiten abhängig machen.
mentation sind nicht zu trennen; erst wenn Sie die Die Baumstruktur mit Stamm, Ästen und Zweigen
ausgewählten Texte und Bücher aufmerksam gele- bildet schon eine hierarchische Systematik ab. Im
sen haben, werden Sie erkennen, ob ein Text die zweiten Arbeitsschritt übertragen Sie Begriffe
im Titel vorgestellten Aspekte auch so ausführt, (und Relationen) in eine chronologische, lineare
wie Sie dies in Bezug auf Ihr Thema erwartet ha- oder hierarchische Struktur (vgl. Stary 2009). Mit
ben. Enttäuscht sind Sie, wenn Sie große Probleme diesem Arbeitsschritt legen Sie das weitere Vorge-
haben, den Text zu verstehen, sei es, weil seine hen verbindlich fest: Sie haben Methoden, Theo-
Thesen auf theoretischen Prämissen basieren, die rien und Thesen im Hinblick auf das Untersu-
Sie (noch) nicht kennen, oder weil er in einem chungsziel ausgewählt und kennen nun den Weg
Wissenschaftsjargon verfasst ist, der (zunächst) von der Titelformulierung bis zum Resümee.
völlig unverständlich ist. Wählen Sie einen der Themenstellung angemesse-
Strukturieren und gliedern (dispositio): Spätes- nen Grad der Untergliederung. In einer Arbeit von
tens jetzt sollte die Themenstellung präzisiert und 15 Seiten ist die Unterteilung des Hauptteils in
fixiert werden. Die Titelformulierung kann infor- fünf Subkapitel mit jeweils drei weiteren Subkapi-
mieren über Autor, Werk, Gattungsreferenz, Me- teln zu kleinteilig.
thodik oder Forschungsfeld. Die gelungene Formu- Einleitung: Nur Umberto Eco, der prominente
lierung des Titels ist die Visitenkarte der Arbeit, italienische Semiotiker und Bestseller-Autor,
die neugierig macht und zum Weiterlesen verlockt. kann es sich leisten, Studierenden in seinem
Im Semesteralltag landen auf den Schreibtischen auch in Deutschland wiederholt aufgelegten Rat-
der Lehrenden Dutzende Arbeiten. Mit einer rhe- geber Wie man eine wissenschaftliche Abschluß-
torisch-prägnanten und thematisch präzisen For- arbeit schreibt folgenden Rat zu geben: »Eine
mulierung gewinnen Sie auf jeden Fall schon ein- gute, endgültige Fassung der Einleitung soll errei-
mal ihre Aufmerksamkeit. Ein gut strukturiertes chen, daß der Leser sich mit ihr begnügt, alles
und formuliertes Inhaltsverzeichnis signalisiert versteht und den Rest der Arbeit nicht mehr liest«
dem Leser eine wohldurchdachte Abfolge der ein- (Eco 2010, S. 145). Eine gut strukturierte Einlei-
zelnen Kapitel und begriffliche Präzision. Wie ist tung verstärkt vielmehr das Interesse, Ihre im
die Themenstellung auf dem Titelblatt mit den Hauptteil vorgestellten Analysen und Diskussio-
Formulierungen und Fachbegriffen der einzelnen nen intensiv zu lesen. In der Einleitung werden
Kapitelüberschriften verknüpft? Wechseln Sie Fragestellung, Arbeitsthesen, die die Diskussion
nicht ständig die sprachliche Form: Eine Mischung begleitenden Forschungsbeiträge, Kriterien der
aus Frage- und Aussagesätzen sowie Nominalkon- Auswahl der Forschungsliteratur, der methodi-
struktionen verweist nicht auf ein durchdachtes sche Zugriff und die Textgrundlage vorgestellt.
Konzept. Abschließend werden die einzelnen Arbeits-
Die gesammelten Informationen und Ideen schritte, orientiert an der Struktur des Inhaltsver-
können Sie – ausgehend von den Begriffen in der zeichnisses, skizziert.

20
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Die Hausarbeit

Hauptteil: Im Hauptteil führen Sie das in der Darstellung von Thesen und Antithesen eine Syn-
Einleitung angekündigte Arbeitsprojekt aus. Oft these entwickelt wird.
wollen Studierende als erstes Kapitel ein Inhalts- Beschreibungen, Definitionen und Thesen/Hy-
referat der literarischen Texte schreiben; dies ist pothesen prägen das argumentative Profil eines
überflüssig. Die genaue Kenntnis der Texte kön- Textes. Definitionen sind dann wichtig, wenn ein
nen Sie voraussetzen. Zeigen Sie am Text an ex- Begriff in der Forschungsliteratur nicht einheitlich
emplarischen Stellen auf, wie Ihre Hauptthese zu beschrieben wird, Sie also eine Arbeitsdefinition
belegen ist. Sie müssen nicht alle Textstellen an- vorstellen müssen. Der Begriff ›Groteske‹ wird
führen, entscheidend ist die plausible Auswahl zum Beispiel einerseits als literarische Subgattung
der ausgewählten Passagen. Dies gilt auch für definiert, andererseits als eine dem Text immanen-
die Forschungsliteratur. Verzichten Sie auf Para- te Schreibstrategie charakterisiert. Thesen/Hypo-
phrasierungen, wählen Sie präzise Verben für thesen bedürfen der Überprüfung, ob die zugrun-
die Vorstellung der zentralen Thesen. Mit der Ar- deliegenden Aussagen und Annahmen plausibel
beit zeigen Sie, dass Sie literarische Texte oder sind. Verweise auf Allgemeinwissen oder morali-
sprachwissenschaftliche Fragen in Auseinander- sche Schlüsse sind nicht zulässig.
setzung mit Forschungsliteratur kritisch lesen Formulieren: Satzverknüpfungen, Konjunkti-
und argumentativ überzeugend beschreiben kön- onen, Prädikate, Tempora und Wiederholungen
nen. beeinflussen die Lesbarkeit eines Textes. In kom-
Zusammenfassung: Nennen Sie das abschlie- plizierten, überlangen Satzkonstruktionen ver-
ßende Kapitel nicht einfach ›Schluss‹, sondern schwinden leicht die wichtigen Aussagen. Mit den
deuten Sie mit der Überschrift an, welche Perspek- passenden Konjunktionen geben Sie eine Lesehilfe
tive Sie wählen: Zusammenfassung, Resümee, und legen fest, wie die Aussagen der einzelnen Satz-
Ausblick. Das letzte Kapitel korrespondiert mit der teile aufeinander bezogen sind. Mit einer kausalen
Einleitung: Wird in der Einleitung die Themenstel- Konjunktion wird eine Begründung eingeleitet,
lung zunächst vom Allgemeinen (Seminarthema) disjunktive Konjunktionen verweisen auf Alternati-
zum Spezifischen (Thema der Hausarbeit) entwi- ven: entweder – oder; mit modalen Konjunktionen
ckelt, sollten Sie nun ausgehend von den Detail- werden Bedingungen bzw. Einschränkungen ein-
ergebnissen der Untersuchung wieder zu abstrak- geleitet. Mit dem Wechsel von komplexen Satzgefü-
teren, generalisierenden Aussagen kommen. Mit gen (unterordnende Konjunktionen) zur Satzreihe
einem Ausblick verweisen Sie auf mögliche weite- (nebenordnende Konjunktionen) gönnen Sie dem
re Fragestellungen und Perspektiven. Leser zudem eine kleine Verschnaufpause. Falls Sie
Argumentieren heißt begründen, Synonyme zum letzten Mal in der 8. Klasse Grammatikunter-
sind »veranschaulichen«, »verdeutlichen«, »ausle- richt hatten, sollten Sie spätestens in dieser Arbeits-
gen« und »nachweisen«. Die Argumentations- phase Ihre Handbibliothek um eine gute Gramma-
theorie und ihre Praxis sind in der Rhetorik den tik erweitern. Eine Garantie für gut formulierte und
Produktionsstufen der Erfindung (inventio) und präzise Aussagen ist damit nicht verbunden.
der Gliederung (dispositio) zugeordnet (vgl. Ott- Aktiv formulieren: Die deutsche Sprache bietet
mers 2007). Deduktion und Induktion sind die eine große Fülle an Verben, die gedankliche Tätig-
wichtigsten Grundformen wissenschaftlichen Ar- keiten beschreiben. Viele Arbeitsschritte können
gumentierens. Beim deduktiven Vorgehen werden mit Verben charakterisiert werden. In der Einlei-
auf der Basis einer detaillierten Analyse allgemei- tung werden Sie zunächst beschreiben, referieren,
ne Schlüsse gezogen. Wählen Sie hingegen einen erläutern, definieren und vorstellen, im Hauptteil
induktiven Zugang, gehen Sie von einer bestimm- vor allem dokumentieren, analysieren, hervorhe-
ten These, einer theoretischen Fragestellung aus, ben, konkretisieren, präzisieren, illustrieren, argu-
die Sie Schritt für Schritt am Text belegen. Sowohl mentieren, kommentieren, kritisieren, im Resümee
bei stärker literaturgeschichtlich ausgerichteten rekapitulieren, pointieren, abstrahieren. Wenn auf
als auch bei gattungs- oder epochenbezogenen einer Seite fünfmal die Formulierung zu lesen ist:
Themenstellungen können Sie beide Perspektiven »Der Autor sagt«, ist dies nicht nur ein Hinweis auf
wählen oder auch verbinden. Darüber hinaus die noch wenig geschulte Schreibpraxis, sondern
müssen Sie entscheiden, ob Sie die Themenstel- verweist auch auf die unzureichende analytische
lung in einer chronologischen, systematischen Lektüre der Forschungsbeiträge.
oder komparatistischen Struktur anordnen. Eine Metaphern: Auch die Wissenschaftssprache
dialektische Gliederung verlangt, dass nach der kommt nicht ohne Metaphern aus. Lexikalisierte

21
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

Metaphern benutzen wir in vielen Bereichen: wohnheiten kritisch zu überprüfen. Den Tele-
graue Theorie, tote Sprache, Eselsohr, Bücherberg grammstil wiederum sollten Sie den Nachrichten-
etc. In den Naturwissenschaften, z. B. in der Gene- agenturen überlassen. Lesen Sie die Sätze laut vor,
tik, helfen kognitive Metaphern, komplexe und zu Hause nach dem Abendessen oder in der Ar-
unsichtbare Sachverhalte und Vorgänge anschau- beitsgruppe. Planen Sie ein paar Tage Zeit ein, in
lich zu machen. Neutral sind diese Metaphern denen Sie den Text nicht lesen und korrigieren.
nicht: Sie stellen Denkmodelle vor, interpretieren Diese Auszeit hilft, die beim Schreiben entstande-
und bewerten. Wenn Sie im Referat einen ›Black- ne Textblindheit zu neutralisieren. Dies gilt nicht
out‹ haben und darauf hinweisen, dass Ihr Ge- nur für Orthographie und Interpunktion, sondern
dächtnis wie eine Festplatte nach einer Virusatta- auch für die Übergänge zwischen den einzelnen
cke gelöscht ist, verwenden Sie Metaphern aus Kapiteln und Zusammenfassungen. Gründen Sie
technischen Bereichen. Formulierungen wie: »Die schon im ersten Semester eine Redaktions- und
These des Beitrags hat sich als Eintagsfliege erwie- Editionsgruppe. Lesen und korrigieren Sie fremde
sen« oder: »Der Verfasser hatte einen guten Rie- Texte; diese Arbeit schärft den Blick für eigene und
cher für den Text« sind indiskutabel. Wenn Sie mit fremde Texte, eine Kompetenz, die Sie in vielen
einer falschen Metapher ›Schiffbruch‹ erleiden, Berufsfeldern unbedingt brauchen.
sind Sie bei der Formulierungsarbeit ›gestrandet‹. In der Forschungsliteratur wird die Verwen-
Vermeiden Sie auch Übertreibungen (Hyperbeln), dung des Personalpronomen ›ich‹ kontrovers dis-
Untertreibungen (Litotes) und Euphemismen (vgl. kutiert. Beispiele wie »In meiner Hausarbeit zu Effi
Bünting u. a. 2000, S. 197 ff.). Briest möchte ich mich mit dem Romananfang be-
Überarbeiten: Wenn die Schreibarbeit abge- schäftigen und dessen Funktion genauer untersu-
schlossen scheint, fordert diese letzte Arbeitspha- chen« überzeugen schon beim ersten Lesen nicht.
se noch einmal besondere Konzentration und Wählen Sie einen Mittelweg und verwenden Sie
Sorgfalt. Oft werden Arbeiten abgegeben, die nicht die Ich-Perspektive sehr sparsam. Ihr Name auf
korrigiert sind. Entweder bleibt keine Zeit mehr dem Titelblatt verbürgt Ihre intellektuelle Leis-
für eine sorgfältige Überarbeitung des Textes, oder tung. Vermeiden sollten Sie auf jeden Fall die Plu-
Studierende sind – zunächst – überzeugt, die Ar- ral-Form ›wir‹, es sei denn, Sie schreiben einen
beit sei fertig. Mehrere Korrekturgänge sind jedoch Text als Gemeinschaftsarbeit. Auch dann muss die
unbedingt nötig. Überprüfen Sie, ob die argumen- individuelle Leistung deutlich gekennzeichnet
tative Struktur nachvollziehbar ist, lösen Sie lo- werden. Zurückhaltend sollten Sie mit emphati-
gische Sprünge oder Brüche auf. Haben Sie die schen Bekenntnissen sein: Lobeshymnen oder
Fachbegriffe einheitlich verwendet? Wenn Sie »Me- spöttische Kritik gehören nicht in eine Hausarbeit.
tapher« meinen und »Symbol« schreiben, müssen Bewertungskriterien: Auch in wissenschaftli-
Sie unbedingt noch einmal nachlesen, wie die Be- chen Texten können Sachebene und Darstel-
griffe in der Forschungsliteratur verwendet wer- lungsebene unterschieden werden. Auf der Sach-
den. Stilblüten und falsche Metaphern irritieren ebene angesiedelt sind konzeptionelle und
nicht nur in Hausarbeiten. Streichen Sie Wieder- methodische Kriterien wie sachlich-inhaltlich an-
holungen (»Wie schon erwähnt!«) und überflüs- gemessene Darstellung des Themas, Strukturie-
sige Füllwörter (»natürlich«, »normalerweise«), rung, Perspektivierung und Argumentation; auf
kontrollieren Sie Zitate und Quellenangaben sowie der Darstellungsebene äußere Form, sprachlich-
auch die Vollständigkeit und Systematik des stilistische Gestaltung, fachliche und grammati-
Literaturverzeichnisses. Bilden Sie aus einzelnen sche Korrektheit (vgl. Pospiech 2005, S. 232). Die
Sätzen Abschnitte; ein Abschnitt ist eine gedankli- Schreibdidaktiker Otto Kruse und Eva-Maria Ja-
che, argumentative Einheit. kobs nennen ein ganzes Bündel an Kompetenzen,
Glätten Sie sprachliche Stolpersteine, trennen das für eine gute Hausarbeit aktiviert werden
Sie sich von umgangssprachlichen Formulierun- muss: Textsortenkompetenz, Stilkompetenz, rhe-
gen: Sachlichkeit und Klarheit sind zentrale Kri- torische Kompetenz, die Fähigkeit zur Herstellung
terien für gutes Schreiben. Spätestens beim von Text-Text-Bezügen sowie Lese- und Rezepti-
Korrekturlesen fallen auch Satzkonstruktionen onskompetenz (vgl. Kruse/Jakobs 1999).
auf, die syntaktische Widersprüche enthalten. Vor allem in der ersten Phase des Studiums
Falls Sie immer schon Bandwurm- oder Schachtel- ›passiert‹ es, dass Sie eine Arbeit mit dem Kommen-
sätze und komplexe Nominalstrukturen bevorzugt tar »Überarbeiten« zurückbekommen. Falls die Ar-
haben, nutzen Sie jetzt die Gelegenheit, diese Ge- beit die Modulprüfung ist, ist dies nach der Prü-

22
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Die Hausarbeit

fungsordnung in der Regel nicht zulässig. Auch Schreibzentren: An vielen Universitäten sind
wenn Sie zunächst schockiert und frustriert sind: inzwischen Schreiblabors oder Schreibwerkstätten
Nehmen Sie die Anmerkungen und Kommentare etabliert, die bei massiven Schreibstörungen und
zum Anlass, diese kritisch zu reflektieren und her- -blockaden beraten und Hilfestellungen geben.
auszufinden, in welchem Bereich Sie nachbessern Studienbegleitend werden Tutorien und Übungen
müssen. Je früher Sie eine detaillierte und begrün- angeboten, in denen Formen und Strategien wis-
dete Fehleranalyse bekommen, desto gezielter senschaftlichen Schreibens, Präsentationstechniken
können Sie daran arbeiten, die Mängel zu reduzie- und rhetorische Kompetenzen vermittelt werden.
ren. Auch die Note 4 (5 Notenpunkte) sollte Sie Gedruckte Ratgeber für das wissenschaftliche Ar-
nachdenklich machen: Sie haben zwar bestanden, beiten sollten Sie jedoch nicht als ›Knigge‹ für das
doch Anlass zu übergroßer Freude haben Sie nicht. Studium begreifen. Zwar werden in vielen aktuel-
Die Note 4 signalisiert, dass Ihre Arbeit noch er- len Ratgebern ›Umgangsformen‹ für Texte und
hebliche Mängel aufweist, die Sie keineswegs ig- Textsorten beschrieben und Regeln formuliert, wie
norieren sollten. Falls Sie Kommentare nicht ver- Studierende mit den Texten kommunizieren (le-
stehen und Korrekturzeichen nicht kennen, fragen sen, reden, schreiben) können. Fixe und ultimati-
Sie in der Besprechung nach. Die gängigen Korrek- ve Rezepte werden jedoch mit guten Gründen
turzeichen mit Erläuterungen finden Sie im Duden meist nicht gegeben. In den guten Ratgebern wer-
Rechtschreibung im Abschnitt »Textkorrektur«. Ihre den Sie darauf hingewiesen, dass neben dem stän-
Kenntnis wird bei der professionellen Redaktion in digen Schreibtraining am häuslichen Schreibtisch
vielen Berufen vorausgesetzt. oder in der Bibliothek auch die Sekundärtugenden
Schreibblockaden: »Schreiben ist schwierig« Disziplin (auch: Ausdauer, Beharrlichkeit), Pünkt-
(Narr/Stary 1999, S. 10). Diese banale Erfahrung lichkeit und Zuverlässigkeit, zugleich aber Neugier
macht fast jeder im Lauf des Studiums. Die eben und Kreativität den Studienerfolg entscheidend be-
beschriebene Situation, die Besprechung einer einflussen.
missglückten Hausarbeit, führt manchmal dazu, Der Philosoph Walter Benjamin hat die hand-
dass die Unbefangenheit beim Schreiben verloren- werklichen Aspekte des Schreibens in einem klei-
geht. Der Übergang vom schulischen zum wissen- nen Beitrag, »Die Technik des Schriftstellers in
schaftlichen Schreiben ist eine enorme Herausfor- dreizehn Thesen« (Einbahnstraße, 1928), charak-
derung. Schwierig ist vor allem der Übergang vom terisiert. Die VII. These sollte jeder Schreibende,
Lesen und Exzerpieren zum Strukturieren, Argu- der uninspiriert am Schreibtisch sitzt, unbedingt
mentieren und Formulieren. Dann häufen sich die beherzigen: »Höre niemals mit dem Schreiben auf,
Gründe, warum der Schreibprozess ins Stocken weil dir nichts mehr einfällt. Es ist ein Gebot der
gerät. Diese Gründe können sowohl in einer wenig literarischen Ehre, nur dann abzubrechen, wenn
motivierenden Arbeitsumgebung liegen als auch ein Termin (eine Mahlzeit, eine Verabredung) ein-
in der wenig zielorientierten Vorbereitung, der un- zuhalten oder das Werk beendet ist.« Auch Schrei-
klaren Themenstellung (vgl. Frank u. a. 2007; Kru- ben ist, so einsam und verlassen Sie sich vielleicht
se 2007). In den modularisierten Studiengängen am Schreibtisch fühlen mögen, reine Interaktion;
steigt zudem der Druck, in immer kürzerer Zeit Sie korrespondieren mit den Primär- und Sekun-
prüfungsrelevante Texte produzieren zu müssen. därtexten, jede Fußnote verbindet Ihren Text mit
Es ist kein Zufall, dass das Angebot an Ratgebern anderen Texten. Schreiben Sie wenn möglich täg-
mit scheinbar sicheren Tipps ständig zunimmt. lich und setzen Sie sich realistische Ziele.

Weiterführende Literatur
Anz, Thomas/Baasner, Rainer (Hg.): Literaturkritik – Ge- Delabar, Walter: Literaturwissenschaftliche Arbeitstechni-
schichte, Theorie, Praxis. München 2004. ken. Eine Einführung. Darmstadt 2009.
Blinn, Hansjürgen: Informationshandbuch Deutsche Frank, Andrea/Haacke, Stefanie/Lahm, Swantje: Schlüssel-
Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 42005. kompetenzen: Schreiben in Studium und Beruf.
Bünting, Karl-Dieter/Bitterlich, Axel/Pospiech, Ulrike: Stuttgart 2007.
Schreiben im Studium. Ein Trainingsprogramm. Franke, Fabian/Klein, Annette/Schüller-Zwierlein, André:
Frankfurt a. M. 2000. Schlüsselkompetenzen: Literatur recherchieren in
Eco, Umberto: Wie man eine wissenschaftliche Abschlußar- Bibliotheken und Internet. Stuttgart/Weimar 2010.
beit schreibt. Doktor-, Diplom- und Magisterarbeiten in Fröhlich, Gerhard: »Plagiate und unethische Autorenschaf-
den Geistes- und Sozialwissenschaften. Stuttgart 132010. ten«. In: Information. Wissenschaft & Praxis 57 (2006) 2,
S. 81–89.

23
1.4
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Berufsfelder für
Germanist/innen

Gebhard, Walter: »Für eine Kultur des Protokolls. Zur Sprachwerk. Zur Begründung und Umsetzung eines
didaktischen Bedeutung einer wenig geliebten feedbackorientierten Lehrgangs zur Einführung in das
Textsorte«. In: Michael Niehaus/Hans-Walter wissenschaftliche Schreiben. Frankfurt a. M. 2005.
Schmidt-Hannisa (Hg.): Das Protokoll. Kulturelle Sesink, Werner: Einführung in das wissenschaftliche
Funktionen einer Textsorte. Frankfurt a. M. 2005, Arbeiten. Mit Internet, Textverarbeitung und Präsenta-
S. 271–287. tion. München 72007.
Grafton, Anthony: Die tragischen Ursprünge der deutschen Sittig, Claudius: Arbeitstechniken Germanistik. Stuttgart
Fußnote. Berlin 1995. 2008.
Kruse, Otto: Keine Angst vor dem leeren Blatt. Ohne Stadter, Andrea: »Der Essay als Ziel und Instrument
Schreibblockaden durchs Studium. Frankfurt a. M./ geisteswissenschaftlicher Schreibdidaktik. Über-
New York 122007. legungen zur Erweiterung des universitären Textsor-
– /Eva-Maria Jakobs: »Schreiben lernen an der Hoch- tenkanons«. In: Konrad Ehlich/Angelika Steets (Hg.):
schule: Ein Überblick«. In: Otto Kruse/Eva-Maria Wissenschaftliches Schreiben lehren und lernen. Berlin/
Jakobs/Gabriela Ruhmann (Hg.): Schlüsselkompetenz New York 2003, S. 65–92.
Schreiben. Konzepte, Methoden, Projekte für Schreibbe- Stary, Joachim: »Wissenschaftliche Literatur lesen und
ratung und Schreibdidaktik an der Hochschule. Neuwied verstehen«. In: Norbert Franck/Joachim Stary (Hg.):
1999. Die Technik wissenschaftlichen Arbeitens. Eine
Narr, Wolf-Dieter/Stary, Joachim (Hg.): Lust und Last des praktische Anleitung. Paderborn/München/ Wien/
wissenschaftlichen Schreibens. Hochschullehrerinnen Zürich 142009, S. 71–96.
und Hochschullehrer geben Studierenden Tips. Frankfurt – /Kretschmer, Horst: Umgang mit wissenschaftlicher
a. M. 1999. Literatur. Eine Arbeitshilfe für das sozial- und geistes-
Ottmers, Clemens: Rhetorik. Stuttgart 22007. wissenschaftliche Studium. Frankfurt a. M. 2004.
Pospiech, Ulrike: Schreibend schreiben lernen. Schreibend
schreiben lernen. Über die Schreibhandlung zum Text als

1.4 | Berufsfelder für Germanist/innen


Wenn man Medizin studiert, wird man – voraus- Im Bachelor-Studiengang wählen Sie an vielen
sichtlich – Arzt. Studiert man Jura, sind die beruf- Universitäten neben dem Hauptfach Germanistik
lichen Perspektiven schon differenzierter: im ein Nebenfach. Viele Studierende kombinieren
Staatsdienst, als selbständiger Anwalt oder als Ju- Germanistik mit einer weiteren Philologie (Anglis-
rist in einem Unternehmen. Beginnt man ein Ger- tik, Amerikanistik, Romanistik, Slawistik oder Si-
manistik-Studium, wird sofort die Frage nach den nologie), mit Politik- oder Sozialwissenschaften
Zukunftsperspektiven gestellt. Die Bundesagentur und in zunehmender Zahl mit Betriebswirtschafts-
für Arbeit führt neben den fachlichen Kompeten- lehre oder Jura. Im Laufe des Studiums werden Sie
zen (einer Liste mit Fächern und wenigen Arbeits- sich sowohl im Haupt- als auch im Nebenfach spe-
bereichen) auf ihrem Internet-Portal folgende Soft zialisieren; eine gute Grundlage für diese Entschei-
Skills für Literaturwissenschaftler/innen an: Denk- dung kann zum Beispiel ein Praktikum sein.
vermögen(!), Flexibilität, Kontaktfähigkeit, Lern- Praktikum: In fast allen Studiengängen ist ein
bereitschaft, Organisationsfähigkeit, pädagogische berufsvorbereitendes Praktikum zu absolvieren,
Fähigkeit, sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Einen oder es kann im Optionalbereich gewählt werden.
guten Überblick bietet der 2008 von Vera Nünning Im Praktikum können Studierende die im Studium
herausgegebene Band Schlüsselkompetenzen: Qua- erworbenen Kompetenzen erproben und erwei-
lifikationen für Studium und Beruf. Neben den tern, sie sammeln erste berufspraktische Erfah-
studienspezifischen Kompetenzen werden auch rungen. In der Bücherstadt Frankfurt ist der An-
»Moderationskompetenzen und Verhandlungs- sturm auf die begrenzten Praktikumsplätze in den
führung«, »Interkulturelle Kompetenz« und »Sozia- großen Verlagen enorm. Voraussetzungen für die
le Kompetenzen« anschaulich und mit Beispielen Bewerbung sind ein mit sehr gutem Erfolg abge-
aus der Praxis vorgestellt. Auch die Text- und Dar- schlossenes Grundstudium, gute Fremdsprachen-
stellungskompetenz befähigt Sie, in divergieren- kenntnisse und ein Quäntchen Glück. Bei attrakti-
den Berufsfeldern so unterschiedlichen Textsorten ven Angeboten, die den zeitlichen Rahmen der
wie Geschäftsberichten, Politikerreden, Gesetzes- vorlesungsfreien Zeit überschreiten, sollten Sie
vorlagen oder journalistischen Berichten Ihre trotzdem nicht zögern, zuzusagen.
›Handschrift‹ einzuschreiben. Berufsfeld Wissenschaft/Universität: Wenn Sie
vorhaben, die wissenschaftliche Laufbahn einzu-

24
1.4
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Berufsfelder für
Germanist/innen

schlagen, werden Sie nach dem Bachelor- zu- werber/innen auf Stellen in den Medien und im
nächst den Master-, dann den Doktortitel anstre- Literatur- und Kulturmanagement gehören Sie
ben. Spätestens im Master-Studiengang müssen dann, wenn Sie zuvor im Praktikum bereits gute
Sie sich spezialisieren; Sie wählen entweder einen Kontakte knüpfen konnten. Nicht zu allen Berufs-
der klassischen Schwerpunkte der Germanistik feldern, die zum Beispiel eine sprachwissen-
oder einen der vielen neuen Master-Studiengänge schaftliche Ausbildung voraussetzen, haben Sie
(z. B. Internationale Literaturen – Uni Tübingen, nach Abschluss des Studiums Zugang. Die Com-
Kognitive Linguistik – Uni Frankfurt, Kultur und puterlinguistik kann oft erst als Spezialisierung im
Wirtschaft: Germanistik – Uni Mannheim). Fragen Master-Studiengang gewählt werden. Je nach
Sie Ihre Professor/innen nach ihren Erfahrungen. Zahl und Qualifikation der Mitbewerber werden
Der lange Weg in die Wissenschaft verlangt neben Sie im Verlagswesen als Bachelor-Absolvent keine
besten Qualifikationen Ausdauer und Disziplin. Chance auf Einstellung haben.
Wenn Sie nach dem Master-Examen eine befristete Mehr denn je werden Germanist/innen in Zu-
Stelle als »Wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in« er- kunft auch in Berufsfeldern tätig werden, die bis-
obern, gehören Sie bereits zum privilegierten her nicht zu den klassischen Arbeitsgebieten
Universitätsclub. Etwa 8 bis 10 Jahre können Sie gehörten. Thomas Gottschalk (Deutschlehrer
im Durchschnitt für Dissertation und Habilitation und Fernsehmoderator), Michael Groß (promo-
rechnen, zumal wenn Sie Arbeitsprojekte gewählt vierter Literaturwissenschaftler, Olympiasieger im
haben, die mit intensiver Archiv- und Quellenar- Schwimmen und Unternehmensberater) und
beit verbunden sind. Mit Mitte dreißig können Sie Wolfgang Thierse (Literatur- und Kulturwissen-
im günstigen Fall auf das Bewerbungskarussell um schaftler, Politiker und Vizepräsident des Deut-
eine Professur aufspringen. Werden Professuren schen Bundestages) sind prominente Beispiele,
mit dem Schwerpunkt »Neuere deutsche Literatur« die zeigen, dass nicht die eine lebenslange Ar-
ausgeschrieben, bewerben sich ca. 80 bis 120
hoch qualifizierte Wissenschaftler/innen. Beispiele für Berufsfelder
Außeruniversitäre Berufsfelder: Dieser lange
Weg, an dessen Ziel keineswegs ein sicherer Ar- Sprachwissenschaft
beitsplatz wartet, ist für viele Studierende ein ent- N Klinische Linguistik (Diagnostik und
scheidender Grund, nach dem Studium einen Ar- Therapie von Sprachstörungen)
beitsplatz außerhalb der Universität zu suchen. N Sprachheilpädagogik / Logopädie
Germanist/innen werden überall dort gebraucht, N Maschinelle Sprachverarbeitung
wo gesprochene und/oder schriftliche Sprache im (Computerlinguistik)
Zentrum der Berufstätigkeit steht. Das Germanis- N Forensische Linguistik
tik-Studium ist keine Berufsausbildung, es berei- Literaturwissenschaft
tet auf die Übernahme von Tätigkeiten in vielen N Medien (Rundfunk, Fernsehen, Internet –
kulturellen, öffentlichen und sozialen Bereichen z. B. Literaturkritik, Redaktion)
vor. Wenn Sie sich auf eine Stelle im Bibliotheks- N Literatur- und Kulturmanagement (Litera-
wesen bewerben wollen, müssen Sie in der Regel turhäuser, Literaturveranstaltungen etc.)
nach dem Examen eine zusätzliche Ausbildung N Theater / Dramaturgie
für den höheren Bibliotheksdienst an wissen- Sprach- und Literaturwissenschaft
schaftlichen Bibliotheken absolvieren. Falls Sie N Medien (Theater, Rundfunk, Fernsehen)
auf Dauer eine Stelle im journalistischen Bereich N Archive / Dokumentationswesen / Biblio-
suchen, ist auch ein Aufbaustudiengang zu emp- theken / Museen
fehlen, der berufsspezifische Kenntnisse und N Übersetzen / Dolmetschen
Kompetenzen vermittelt. Wissenschaftliche Insti- N Bildungseinrichtungen und Sprach-
tutionen wiederum suchen vor allem Mitarbei- schulen
ter/innen, die ein spezifisches fachliches Profil N Verlagswesen (Buch, Zeitung/Zeitschrift)
bieten, zum Beispiel mit dem Schwerpunkt Frühe N Werbung / Public Relations
Neuzeit (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel) N Verwaltung / Behörden / Politik
oder deutsche Literatur von der Aufklärung bis N Privatwirtschaft (Interne Fortbildung,
zur Gegenwart (Deutsches Literaturarchiv Mar- Öffentlichkeitsarbeit etc.)
bach). Diese Archive informieren auch online N Beratungsunternehmen
über offene Stellen. Zu den aussichtsreichen Be-

25
1.4
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Berufsfelder für
Germanist/innen

beitsstelle, sondern viele berufliche Etappen jen- Bewerben: Bereiten Sie sich auf die Zeit nach
seits der germanistischen Klassiker Lektorat, Re- dem Studium vor: Lernen Sie Stellenausschreibun-
daktion oder Archiv möglich sind und sein gen lesen, schreiben Sie Bewerbungen und proben
werden (vgl. Nünning 2008, S. 308 ff.; Rathmann Sie Bewerbungsgespräche. Nutzen Sie alle Gele-
2000, S. 182–237). Ob Sie als Literaturredakteur genheiten, potentielle zukünftige Kolleginnen und
bei der Frauenzeitschrift Brigitte, als Marketingex- Kollegen über ihren Weg in den Beruf zu befragen.
pertin bei Opel, Pressesprecherin beim Deutschen Oft ist der persönliche Kontakt die entscheidende
Fußball-Bund oder als Verhandlungsprofi bei der Voraussetzung für eine Empfehlung und eine Ein-
Unternehmensberatung Boston Consulting arbei- ladung. Auch in den Geisteswissenschaften haben
ten: Die im Studium erworbenen fachlichen Qua- Netzwerke eine zentrale Funktion als Schaltstelle
lifikationen und fachübergreifenden Schlüssel- zwischen akademischer Ausbildung und Berufsle-
kompetenzen bilden eine solide Basis für viele ben. An vielen Universitäten übernehmen Alumni-
Berufsfelder. Vereine diese Aufgaben.

Weiterführende Literatur
Nünning, Vera (Hg.): Schlüsselqualifikationen: Qualifikatio- »Examen – und dann in welchen Beruf?« mit Beiträgen
nen für Studium und Beruf. Stuttgart/Weimar 2008. u. a. von Felicitas Hoppe, Sybille Cramer und Wolfgang
Rathmann, Thomas (Hg.): Texte, Wissen, Qualifikationen. Thierse).
Ein Wegweiser für Germanisten. Berlin 2000 (Kapitel:
Gabriele Rohowski

26
II. Sprachwissenschaft
1
Sprachwissenschaft

1 Einleitung
Stellen Sie sich vor, Sie müssen die folgenden Sät- Der Satz in (1b) wurde von Noam Chomsky,
ze beurteilen. Was beobachten Sie? dem Begründer der generativen Grammatik, 1957
in die sprachwissenschaftliche Diskussion einge-
(1) a Kleine, anhängliche Katzen schlafen gut. bracht, um zu zeigen, dass Bedeutung und Gram-
b Farblose, grüne Ideen schlafen wütend. matik, also Form und Funktion der Bestandteile
des Satzes, unabhängig voneinander sind. Beide
Wir sind uns sicher einig, dass Satz (1a) normal Sätze in (1) haben dieselbe Form: In beiden folgt
klingt. Bei Satz (1b) dagegen stimmt schon auf ein Nomen auf zwei Adjektive. Dem Nomen folgt
den ersten Blick etwas nicht. Satz (1a) ist sinn- jeweils ein Verb und dem Verb ein Adverb; diese
voll, wir können uns zu diesem Satz eine konkrete Elemente haben in beiden Sätzen dieselbe Funkti-
Situation vorstellen und diesem Satz dann zustim- on. Der Unterschied zwischen (1a) und (1b) liegt
men oder ihn bestreiten. Satz (1b) erscheint da- in der Tatsache, dass der eine Satz sinnvoll ist, der
gegen sinnlos. Das ist jedem Muttersprachler so- andere aber auf den ersten Blick sinnlos.
fort klar. Sich zu dem Satz eine konkrete Situation Die Sätze in (1) sind also grammatisch, aber
vorzustellen, fällt schwer. Unsere erste Reaktion: unterscheiden sich in der Sinnhaftigkeit.
Ideen können weder schlafen noch wütend sein. Betrachten Sie nun die Sätze in (2). Was fällt
Und eigentlich schlafen nur Tiere und Menschen. hier auf?
Und wie kann etwas grün und zugleich farblos
sein? Das ist unmöglich! Satz (1b) enthält dem- (2) a Katzen gut klein schlafen anhänglich.
nach einen Widerspruch. Wir können diesen Satz b Ich montags arbeiten müssen.
auf Anhieb nicht verstehen, und daher können wir
auch der Information dieses Satzes weder zustim- Wir sind uns vermutlich wiederum einig, dass mit
men noch sie ablehnen. den Sätzen in (2) ebenfalls etwas nicht stimmt.
Eine Interpretation von (1b) wäre höchstens Wir könnten sagen: Das ist kein Deutsch. Was
denkbar, wenn man sich den Satz als Teil eines nicht stimmt, ist also etwas anderes als das, was
Gedichts vorstellt. Die Zeile bedürfte dann aber mit (1b) nicht stimmt. Die Sätze in (2) sind un-
der Auslegung oder Uminterpretation. Es könnte grammatisch; Form und Funktion der Wörter
sich um eine Metapher handeln. Dem Resultat der stimmen nicht. (2a) ist einfach Wortsalat. Eine Äu-
Uminterpretation könnten wir dann zustimmen ßerung wie (2b) haben wir vielleicht schon einmal
oder auch nicht, es sei denn, auch die Auslegung gehört: von einem Sprecher, der Deutsch nicht als
oder Uminterpretation ist ›nur‹ metaphorisch zu Muttersprache spricht, sondern erst als Erwachse-
verstehen. ner gelernt hat. Die Form von (2b) kann leicht
repariert werden, so dass der Satz verständlich
wird: Ich muss montags arbeiten. Für die Repara-
Raoul Schrott und Arthur Jacobs über tur von (2a) müssten dagegen fast alle Wörter um- Interpretationsversuch
»Farblose, grüne Ideen schlafen wütend« gestellt und anders flektiert (d. h. gebeugt) werden.
»›grün‹ kann lexikalisch auch ›jung, unausgego- Sprachwissenschaftler/innen interessieren sich da-
ren‹ bedeuten, ›farblos‹ auch ›langweilig und für, woran es genau liegt, dass Sätze grammatisch
charakterlos‹; ›Idee‹ lässt sich als Personifikation oder ungrammatisch sind, sinnvoll oder nicht
auffassen, die das anthropomorphisierende Ad- sinnvoll erscheinen. Was beobachten wir bei den
verb ›wütend‹ verstärkt; und ›schlafen‹ lässt sich Sätzen in (3)?
als konnotativer Ausdruck für eine noch nicht
realisierte Potentialität begreifen. Mit ein wenig (3) a Berta schneidet Marianne die Haare.
semantischer Feinabstimmung – über genau je- b Marianne bekommt von Berta die Haare geschnitten.
nes Prozedere, mit dem man auch Gedichte in-
terpretiert – gelangt man zur durchaus sinnvol- Beide Sätze sind grammatisch und sinnvoll. Darü-
len Aussage: Undefiniert unausgegorene Ideen ber hinaus erkennt jeder Muttersprachler des
stecken voll unbewusster Aggression.« (Frank- Deutschen, dass es einen systematischen Zusam-
furter Allgemeine Zeitung 2.3.2011, S. N3) menhang zwischen diesen Sätzen gibt. Das Dativ-
objekt Marianne im ersten Satz ist das Subjekt

29
1
Einleitung

Marianne im zweiten. Das Subjekt des ersten Sat- N Gesellschaftsschicht/Gruppe: Die verwendete
zes Berta wird zu einem Ausdruck mit von im Sprache kann abhängig sein von der Gruppe, in
zweiten. Und das ist generell so, unabhängig da- der sie gesprochen wird. Man spricht dann von
von, was man als Subjekt oder Dativobjekt ein- einer Gruppensprache (auch Soziolekt). Be-
setzt. Die beiden Sätze unterscheiden sich nur in kannt sind Jugendsprachen wie z. B. der soge-
der Art, wie die Ausdrücke kombiniert werden. nannte Ethnolekt oder Fachsprachen in der
Einige von uns mögen Sätze wie (3b) nicht Wissenschaft.
schön finden. Darum geht es der Sprachwissen- N Ort des Sprachgebiets: Die verwendete Spra-
schaft jedoch nicht. Für die Sprachwissenschaftler che kann abhängig sein vom Ort, an dem sie
ist interessant, dass es die Konstruktion in (3b) gesprochen wird. Ortsgebundene Sprachformen
(das sog. Rezipienten-Passiv) überhaupt gibt. Sie werden als Dialekte bezeichnet.
möchten insbesondere den Zusammenhang dieser N Erwerbstyp: Die verwendete Sprache unter-
Konstruktion mit dem Aktivsatz in (3a) erklären scheidet sich danach, ob sie von erwachsenen
und richtig vorhersagen, unter welchen Bedingun- Muttersprachlern gesprochen wird oder von
gen man das Rezipienten-Passiv bilden kann, ob Kindern, die sich noch im Spracherwerbspro-
es andere Verben als bekommen gibt, die sich zess befinden, oder von erwachsenen Nicht-
ebenfalls zur Passivbildung eignen, etc. Muttersprachlern, die die Sprache noch nicht
Grammatik und Norm Fragen der Sprachnorm, also danach, was beherrschen (s. Beispiel 2b).
»gutes und richtiges Deutsch« ist, interessieren N Sprachstadium: Sprache kann modern oder
Sprachwissenschaftler/innen weniger als Politi- altmodisch sein. Dieses Kriterium kann sowohl
ker und Sprachpfleger. Über den richtigen die Grammatikalität wie auch die Wortwahl be-
Sprachgebrauch, den wir in Gesetzestexten, Wi- treffen. Diese Variation betrifft die Variation ei-
kipedia-Artikeln oder Kochbüchern zum Beispiel ner Sprache im Laufe der Zeit. Von der Zeit
gewöhnt sind, entscheiden Normen, die sich hängt auch ab, was als modern gilt und was
meistens über Konventionen herausbilden. Na- nicht.
türlich setzt diese Ausdrucksweise Grammatika- N Im Zusammenhang mit Sprachvariation spricht
lität voraus. Die Variante der deutschen Sprache, man statt von Sprachen von Varietäten, zu de-
die diesen Normen folgt, gilt als das Hochdeut- nen sowohl die Standardsprache, also das
sche. Es gibt jedoch selbst im Hochdeutschen Hochdeutsche, als auch Soziolekte und Dia-
bezüglich der Normen offizielle Zweifelsfälle; lekte sowie historische Varianten zu zählen
zudem bestehen bei jedem Sprecher mehr Unsi- sind. Wir sind alle mehrsprachig insofern, als
cherheiten als gemeinhin angenommen. Würden wir mühelos zwischen einzelnen Varietäten hin
Sie beispielsweise eher die E-Mail oder das E- und her wechseln können. Schon Kinder sind
Mail sagen? Würden Sie Sätze wie diesen akzep- sich im Klaren darüber, dass ein Gespräch mit
tieren: Er hatte keine Zeit, weil er musste noch für den Eltern oder einer Lehrperson eine andere
die Klausur lernen? Sprache erfordert als die Unterhaltung mit Al-
Normative (präskriptive) Grammatiken enthal- tersgenossen. Ebenso können Kinder, die mehr-
ten Vorschriften über die korrekte Verwendung sprachig aufwachsen, mühelos ihre Sprache an
von Sprache. Sie haben im Wesentlichen die Funk- den Gesprächspartner anpassen (vgl. Tracy/
tion, bestimmte Varianten einer Sprache als gram- Gawlitzek-Maiwald 2000).
matisch oder historisch korrekt, als ›logisch‹ oder Implizites Wissen: Sprache ist ein wesentliches
ästhetisch höherwertig auszuzeichnen. Tatsäch- Merkmal, das das Menschsein von anderen Exis-
lich ist aber zwischen verschiedenen Sprechern tenzformen (zum Beispiel im Tierreich) unter-
und Schreibern immer eine große sprachliche Vari- scheidet. Erfahren wir also etwas über die mensch-
ation zu beobachten. Das heißt, was als richtig liche Sprache, dann erfahren wir auch etwas über
gilt, ist ein ideelles Konstrukt. uns. Als Sprecher/innen einer Sprache verfügen
Dimensionen der Variation: Sprachliche Varia- wir ganz offensichtlich über Wissen, das uns nicht
tion ist durch die folgenden Faktoren bestimmt: nur dazu befähigt, Äußerungen zu verstehen und
Faktoren N Stilebene/Register: Die geschriebene Sprache zu produzieren, sondern auch dazu, Urteile über
sprachlicher Variation ist von der gesprochenen Sprache zu unter- Sprache zu fällen, wie in den einleitenden Beispie-
scheiden. Genauso ist eine Sprache mit vulgä- len illustriert. Dieses Wissen ist einem Mutter-
ren Ausdrücken von gehobener oder besonders sprachler in der Regel nicht bewusst: Es ist impli-
höflicher Ausdrucksweise zu unterscheiden. zit. Mindestens eine Sprache können wir einfach

30
1
Einleitung

sprechen, verstehen und beurteilen. Wir kennen Zur Vertiefung


die Regeln, ohne dass uns jemand diese explizit
beigebracht hätte und ohne dass wir diese Regeln Kompetenz und Performanz
alle beschreiben könnten. Alle Menschen haben in Bezug auf ihre Erstsprache eine bestimmte Fähigkeit,
Die Situation ist vergleichbar mit dem Ballwurf. die sog. Sprachkompetenz. Diese Fähigkeit erlaubt es ihnen, sprachliche Ausdrü-
Wir alle sind ab einem bestimmten Alter in der cke zu bilden und zu verstehen. Der Begriff der Sprachkompetenz stammt von
Lage, einen Ball zu werfen (wenn die physiologi- Noam Chomsky (1965). Das implizite Sprachwissen ist von seiner konkreten An-
schen Voraussetzungen gegeben sind) oder zu fan- wendung abzugrenzen, der Performanz. Nur in der Sprachverwendung lässt
gen. Aber kaum jemand ist in der Lage zu sagen, sich das verborgene sprachliche Wissen studieren. Sätze, die in der Kommunika-
wie genau er oder sie das macht. Wir können es tion verwendet werden, sind Realisierungen der Sprachkompetenz.
einfach. Genauso, wie wir einfach nur feststellen, Bereits Ferdinand de Saussure, der Begründer des Strukturalismus, unterscheidet
dass es uns möglich ist, einen Ball zu werfen und in seinem Cours de linguistique générale (1916) verschiedene Sprachbegriffe:
zu fangen, beobachten wir, dass es uns möglich Er differenziert zwischen
ist, zu sprechen, Sprache zu verstehen und zu be- N langage, der »Fähigkeit menschlicher Rede«
urteilen. N langue, dem Sprachsystem
Die Sprachwissenschaft ist dem Geheimnis N parole, dem konkreten Sprechen
auf der Spur, wie Sprache funktioniert, welche Dabei entsprechen die Begriffe langage und parole in etwa den Begriffen ›Kompe-
Regeln zu grammatischen Äußerungen führen tenz‹ und ›Performanz‹ bei Chomsky, während der Begriff langue (verstanden als
und wie Sprache in der Kommunikation verwen- abstraktes einzelsprachliches Zeichen- und Regelsystem) keine unmittelbare Ent-
det wird. Sie liefert die Fachsprache für die Un- sprechung bei Chomsky hat.
tersuchung. Die kognitive Linguistik generativer Prägung hat das Erkenntnisinteresse vom
abstrakten Sprachsystem hin zum individuellen Sprachvermögen verschoben.
Definition Chomsky (1986) unterscheidet daher zwischen I- und E-Sprache: Das ›I‹ im Be-
griff I-Sprache steht für individuell, intern und intensional. Damit ist das im Erst-
Die   Sprachwissenschaft (auch Linguistik, spracherwerb erworbene, mentale Wissen gemeint, das einen kompetenten Spre-
von lat. lingua: Sprache, Zunge) ist diejenige cher ausmacht. Das ›E‹ im Begriff E-Sprache steht für extern, die E-Sprache
Disziplin, welche die menschliche Sprache entspricht in etwa der Sprachproduktion, also z. B. den Gesprächen oder Texten,
untersucht. in denen eine Sprache sich materialisiert. Das eigentliche Untersuchungsobjekt
der kognitiven Linguistik ist die I-Sprache, da sie die Sprachfähigkeit erforscht.
Die E-Sprache ist aber auch relevant, da manchmal nur durch sie der Zugang zur
Wissenschaft: Bei wissenschaftlichen Untersu- I-Sprache möglich ist. Das gilt z. B. für historische Sprachstufen: Da es keine
chungen unterscheidet man üblicherweise einen Sprecher des Althochdeutschen mehr gibt, die wir fragen könnten, ob eine be-
Objektbereich, eine Perspektive, unter der die Un- stimmte Form oder Konstruktion für sie grammatisch ist, sind wir auf die über-
tersuchung erfolgt, und eine oder mehrere typi- lieferten Textzeugnisse angewiesen, um die Grammatik des Althochdeutschen zu
sche Methoden, die für die wissenschaftliche Tä- rekonstruieren.
tigkeit verwendet werden. Die Erkenntnisse über
den Objektbereich werden zu einer Theorie zu-
sammengefasst. Wendet man diese Kriterien auf Die sprachlichen Daten können experimentell er- Linguistik als Wissenschaft
die Disziplin der Sprachwissenschaft an, ergibt zielt werden oder durch Selbstbeobachtung (Intro-
sich folgende Charakterisierung: spektion) zustande kommen. Sie können aber
N Objektbereich: Der Gegenstand der Untersu- auch in mündlicher oder schriftlicher Form schon
chung sind sprachliche Ausdrücke, also Wortbe- vorliegen. Insbesondere für historische Sprachstu-
standteile, Wörter, Wortsequenzen, Sätze oder fen ist man auf die überlieferten Textzeugnisse an-
Texte bzw. Gespräche. gewiesen.
N Perspektive: Die sprachlichen Ausdrücke kön- N Die Daten werden segmentiert (in kleinste
nen im Hinblick auf ihre verschiedenen Eigen- sprachliche Einheiten zerlegt), klassifiziert (die
schaften untersucht werden: die Lautgestalt der kleinsten Einheiten werden zu Klassen mit glei-
Ausdrücke, ihre Bedeutung, die Art, wie die Aus- chen Eigenschaften zusammengefasst) und im
drücke kombiniert werden, ihre Verwendung in Rahmen der verwendeten Theorie analysiert. Ge-
der Kommunikation durch den Menschen, die his- sucht wird jeweils nach Mustern und Regeln, die
torische Entwicklung, ihr Erwerb etc. den Objektbereich charakterisieren.
N Methode: Erkenntnisse werden durch die Be- N Theorie: Ziel der Analyse ist eine Beschreibung
obachtung sprachlicher Phänomene gewonnen. von Sprache als Objekt. Die Beschreibung umfasst

31
1
Einleitung

ein Inventar von sprachlichen Einheiten und im wendet wird. Sprachlichen Ausdrücken werden
besten Fall Verallgemeinerungen (sog. Generalisie- Zeichen oder Zeichenfolgen zugeordnet, deren
rungen), die in Form von gültigen Regeln, Mustern Kombination und Verwendung einer bestimmten,
und Prinzipien ausgedrückt werden können. Dar- abstrakten Systematik unterliegen. Die sprachli-
über hinaus erlaubt die Beschreibung unter Um- chen Zeichen bilden die Einheiten dieses Systems
ständen Vorhersagen über und Erklärungen für und die Kombinationsregeln die Struktur. Das Zei-
sprachliche Phänomene. Von einer Theorie spricht chen vermittelt zwischen dem beim Sprechen pro-
man nur dann, wenn die Beschreibung wider- duzierten Lautstrom (bzw. Schriftzeichen oder
spruchsfrei ist. Gebärden) und dem ausgedrückten Gedanken.
N Repräsentation: Um die Widerspruchsfreiheit Dieses Zeichensystem ist stetigem Wandel unter-
zu garantieren oder zumindest leichter überprüf- worfen.
bar zu machen, verwendet man manchmal – wie Beteiligte Disziplinen: Steht die Untersuchung
in den Naturwissenschaften üblich – formale Re- des Systemcharakters der menschlichen Sprache
präsentationen. Das heißt nichts anderes, als dass im Vordergrund des Interesses, dann ist die
die theoretischen Erkenntnisse in eine formale Sprachwissenschaft eine Teildisziplin der Semio-
Sprache übersetzt werden. tik, der Lehre der Zeichensysteme. Steht im Vor-
Nur wenn die Forschungstätigkeiten eine wi- dergrund, dass das sprachliche System als Modell
derspruchsfreie Theorie zum Ziel haben, kann für das sprachliche Wissen von Menschen unter-
man sie wissenschaftliche Tätigkeiten nennen sucht wird, dann ist die Sprachwissenschaft eine
(vgl. Posner 2003). Teildisziplin der Kognitionswissenschaft. Man
kann unter Umständen noch weiter gehen und
Zur Vertiefung Sprachsystemen physiologische Realität zuspre-
chen. Das heißt nichts anderes, als dass unser
Metasprache und Objektsprache Gehirn so konzipiert ist, dass das Sprachsystem
Die wissenschaftlichen Beschreibungen sind wie- dort angelegt sein kann. In dieser Sichtweise ist
der in einer menschlichen (oder wie erwähnt einer Sprachwissenschaft eine Teildisziplin der Human-
formalen) Sprache verfasst. Wir verwenden also biologie.
unter Umständen unsere eigene Sprache, um ein Sprachliche Zeichen haben zwei Seiten: das Be-
sprachliches Objekt, nämlich unsere eigene Spra- zeichnende (Lautbild) und das Bezeichnete (Vor-
che, zu beschreiben. Die zu beschreibende Spra- stellung) (zum Strukturalismus s. Kap. III.5.2.3).
che heißt demgemäß Objektsprache und die be-
schreibende Sprache wird Metasprache genannt. Definition
Die Metasprache ist die Fachsprache, in der wir
über Sprache als Untersuchungsgegenstand spre-   Bilateraler Zeichenbegriff: Das Zeichen
chen. Als Illustration mag das Satzpaar Frankfurt ist bei de Saussure eine mentale Einheit:
ist schön vs. Frankfurt hat neun Buchstaben die- Die beiden Seiten des Zeichens werden Laut-
nen. Im ersten Satz wird der Name der Stadt bild (auch Signifikant, Bezeichnendes, franz.
Frankfurt verwendet. Wir bezeichnen die Stadt. signifiant) und Vorstellung (auch Signifikat,
Im zweiten Satz wird nicht der Name verwendet; Bezeichnetes; franz. signifié, concept)
vielmehr wird eine Eigenschaft des sprachlichen genannt.
Objektes Frankfurt genannt. Objektsprachliche
Elemente werden in der Regel kursiv gesetzt.
De Saussure visualisiert das Zeichen für einen
Ausdruck wie Hund wie folgt: /h3nd/ repräsen-
Der Versuch, die Modelle und Methoden der Na- tiert das, was man weiß, wenn man weiß, wie
turwissenschaften zu übernehmen, ist eines der Hund ausgesprochen wird.
Erfolgsrezepte der modernen Sprachwissenschaft.
Sprachbegriff Sprache: Die wissenschaftliche Tätigkeit setzt
voraus, dass der Untersuchungsgegenstand, also
Signifié
die Sprache, überhaupt Gesetzmäßigkeiten unter- Vorstellung
liegt. Er muss Systemcharakter haben. Allgemein
spricht man von der menschlichen Sprache als ei- /h3nd/ Lautbild
nem Zeichensystem, das zur Kommunikation ver- Signifiant

32
1
Einleitung

Die Beziehung zwischen den beiden Bestandteilen Ein Paradigma ist eine Sammlung von sprachli-
des Zeichens ist arbiträr (= willkürlich). Es be- chen Einheiten (Zeichen oder einzelne Laute), de-
steht also z. B. kein innerer oder notwendiger Zu- ren Austausch einen Funktions- oder Bedeutungs-
sammenhang zwischen der Lautfolge, die mit dem wechsel zur Folge hat. Paradigmenbildung ist die
Wort Hund verbunden ist, und dem damit be- Voraussetzung für die Klassifikation von sprachli-
zeichneten Tier. Es gibt aber Ausnahmen wie Ku- chen Einheiten.
ckuck. Der Name des Kuckucks ist abgeleitet von Syntagma: Die Elemente der einzelnen Paradig-
seinem Ruf. Die arbiträre Beziehung zwischen men können zu neuen Wörtern, Wortfolgen oder
Laut und Vorstellung zeigt sich u. a. daran, dass Sätzen zusammengesetzt werden: Der Papagei
Sprachen gelegentlich unterschiedliche Lautfolgen frisst Körner. Zwischen den Elementen bestehen
für dieselbe Vorstellung benutzen: Briefmarke vs. Beziehungen. Diese Beziehung nennt man syntag-
Postwertzeichen. matisch. Jede Kette von Einheiten in einer linearen
Außerdem ist die Zuordnung konventionell, Abfolge von Ausdrücken einer Äußerung nennt
d. h. sie unterliegt gesellschaftlichen Abmachun- man Syntagma.
gen. Die Beziehung muss also gelernt werden Mentale Grammatik: Die Regeln für die Kombi- Mentale Repräsentationen
(zum Bedeutungsbegriff s. Kap. II.3.2.4; zum Wort- nation der sprachlichen Einheiten zu Wörtern und von Sprache
schatzerwerb s. Kap. II.5.2.2). Sätzen sind ebenfalls mental gespeichert. Unter der
Mentales Lexikon: Für das Zeicheninventar Annahme, dass Sprache ein kognitives System ist,
hat sich heute der Begriff des mentalen Lexikons existieren mentale Grammatik und mentales Lexi-
etabliert. Das mentale Lexikon ist Bestandteil des kon im Kopf. Der Begriff der mentalen Grammatik
sprachlichen Wissens eines jeden Sprechers. Zu- unterscheidet sich wesentlich von dem traditionel-
sätzlich zum Lautbild und der Vorstellung sind len Grammatikbegriff. Traditionelle Grammatiken
auch Informationen zur Verwendung des Zei- sind möglichst vollständige Beschreibungen der
chens in der Produktion von Wörtern oder Sätzen Sprache. Sie beinhalten eine Sammlung von Gene-
gespeichert (s. Kap. II.2.2.2.1) sowie unter Um- ralisierungen über die Beobachtungen zu dieser
ständen Registerinformationen. Diese Informati- Sprache. Auf der Basis der beschreibenden Gram-
on regelt, in welchem Sprachstil ein Zeichen zu matik sollte sich die mentale Grammatik modellie-
verwenden ist (schriftlich, mündlich, dialektal, ren lassen.
neutral). Merkmale der menschlichen Sprache sind ins-
Paradigma: Die sprachlichen Einheiten des besondere die folgenden: die sog. zweifache
mentalen Lexikons stehen in paradigmatischen Gliederung der Sprache (Martinet 1960), die Re-
Beziehungen zueinander. Betrachtet wird hier der kursivität der Regeln (Chomsky 1957), die sog.
Effekt der Ersetzung eines sprachlichen Elementes Kompositionalität der Bedeutung (Frege 1884) und
durch ein anderes im Wort- oder Satzzusammen- die situationelle Ungebundenheit (Hockett 1960).
hang. Die Frage ist, ob zwei (oder mehr) Elemente N Zweifache Gliederung der Sprache: In der Merkmale
in derselben sprachlichen Umgebung vorkommen Kommunikation (schriftlich oder mündlich oder
können oder nicht. mittels der Gebärden einer Gebärdensprache) wer-
N Opposition: Stellt sich ein Unterschied in der den Ausdrücke für die Zeichen, nicht die Zeichen
Funktion oder Bedeutung ein, wenn ein Aus- selbst realisiert. Wörter, Sätze oder Texte sind Rea-
druck durch einen anderen ersetzt wird, dann lisierungen von Zeichenketten. Sprachliche Mittei-
stehen die beiden Ausdrücke in Opposition: Pa- lungen sind grundsätzlich zweifach gliederbar.
pagei und Wellensittich stehen in dieser Bezie- Einerseits können wir einen Lautstrom in bedeu-
hung, weil beide in der sprachlichen Umgebung tungstragende Einheiten zerlegen: Wörter oder
Der … frisst Körner vorkommen können. kleinere bedeutungstragende Einheiten, sog. Mor-
N Komplementäre Distribution liegt vor, wenn phe bzw. Morpheme (s. Kap. II.2.2). Andererseits
zwei Elemente niemals in derselben Umgebung können wir diese Einheiten in bedeutungsdiffe-
realisierbar sind. Als Beispiel kann hier die Plu- renzierende Einheiten zerlegen: die einzelnen
ralbildung im Deutschen gelten. Laute bzw. Phoneme. Der Ausdruck Hund ist mit
N Von freier Variation spricht man, wenn zwei der Lautfolge /h3nd/ assoziiert und eine Bedeu-
Elemente in derselben Umgebung stehen kön- tungseinheit. Ändern wir einen Laut in der Laut-
nen, ohne dass sich ein Funktions- oder Bedeu- folge, ändert sich die Bedeutung. Ersetzen wir das
tungsunterschied ergibt: Briefmarke/Postwert- /h/ in Hund durch ein /f/ ergibt sich Fund. Die
zeichen. beiden Wörter unterscheiden sich nur bezüglich

33
1
Einleitung

eines Lautes. /f/ und /h/ können bedeutungstra- Unsere Sprachfähigkeit in Bezug auf all diesen
gende Einheiten unterscheiden. Die Laute haben Ebenen wird durch die kommunikativen Fähig-
aber einzeln keine Bedeutung. Diese zweifache keiten komplettiert: Wir wissen üblicherweise,
Gliederung betrifft das Lautbild im Saussure’schen wie sprachliche Ausdrücke in der Verwendungssi-
Zeichen. Das Lautbild kann eine bedeutungstra- tuation zu verstehen sind, auch wenn dieses Ver-
gende Einheit repräsentieren und selbst aus be- ständnis von dem abweicht, was gesagt wird. Kön-
deutungslosen Einheiten, den Lauten, zusammen- nen Sie die Tür schließen? ist zum Beispiel als
gesetzt sein. Frage formuliert, auf die man mit ja oder nein ant-
N Rekursivität der Regeln: Aus einfacheren worten kann. Gemeint ist aber normalerweise die
sprachlichen Ausdrücken können komplexere Aus- Aufforderung oder Bitte, die Tür zu schließen. Die-
drücke zusammengesetzt werden, die neue Ge- se Thematik ist Gegenstand der Pragmatik.
danken ausdrücken, die niemals vorher produziert Die Linguistik erforscht die Sprache als System,
oder gehört wurden. Sprache ist kreativ. Um diese und zwar
Eigenschaft der Sprache zu erfassen, sind rekur- N synchron, d. h. die Gleichzeitigkeit sprachli-
sive Regeln für die Beschreibung der Strukturen cher Elemente (das System zu einem bestimm-
notwendig, also Regeln, die auf sich selbst wieder ten Zeitpunkt)
angewendet werden können, um komplexe Aus- N diachron, d. h. die zeitliche Abfolge (Verände-
drücke zu erzeugen. Illustrieren lässt sich das an rung, Entwicklung) eines Systems (z. B. die Ent-
Konstruktionen mit Genitivattributen: der Papagei wicklung des Konsonantensystems vom Alt-
der Frau des Chefs meiner Mutter. Die Konstrukti- hochdeutschen zum Neuhochdeutschen)
onsregel, die dieser Wortfolge zugrunde liegt, ge- Zwei weitere Untersuchungsansätze lassen sich
neriert aus einer Kombination von Nomen und neben diesen zwei zentralen Forschungsausrich-
Genitivattribut einen komplexen Ausdruck, dem tungen unterscheiden:
man wieder ein Genitivattribut hinzufügen kann N typologisch, d. h. der Vergleich verschiedener
etc. Dieser Prozess kann unendlich wiederholt sprachlicher Systeme (z. B. Deutsch im Ver-
werden. Und wir könnten solche Konstruktionen gleich zum Türkischen)
prinzipiell verstehen, würde uns unser Gedächtnis N ontogenetisch, d. h. die Veränderung des
nicht einen Strich durch die Rechnung machen. Sprachsystems im einzelnen Individuum im
N Kompositionalität: Den Regeln, die für die Kon- Lauf des Spracherwerbs
struktionen von Wortfolgen eingesetzt werden, Diese Einführung in die Sprachwissenschaft ent-
entsprechen Regeln für die Bedeutung. Die Bedeu- hält Kapitel zu allen linguistischen Kernbereichen
tung eines komplexen Ausdruckes ergibt sich aus sowie zur historischen Linguistik und zum Sprach-
der Bedeutung seiner unmittelbaren Teile und der erwerb, die weitere zentrale Bereiche darstellen.
Art ihrer Kombination. Eine Wortsequenz kann da- Phonologie/Phonetik: Die Phonetik erforscht,
mit mehr als eine Bedeutung erhalten, wenn mehr eher naturwissenschaftlich orientiert, wie konkre-
als eine Verknüpfungsmöglichkeit für die einfa- te Sprachlaute materiell beschaffen sind, gebildet
chen Ausdrücke existiert: teure Papageien und Wel- und wahrgenommen werden. Die Phonologie ab-
lensittiche kann bedeuten »Papageien, die teuer strahiert dagegen von den konkreten materiellen
sind, und Wellensittiche«, aber auch »Papageien Lauteigenschaften und beschreibt die Merkmale
und Wellensittiche und davon jeweils die teuren«. und Stellung von Lauteinheiten vor dem Hinter-
N Situationelle Ungebundenheit: Mit menschli- grund ihrer bedeutungsunterscheidenden Funk-
cher Sprache kann man Gedanken über Tatsachen tion im Lautsystem der jeweiligen Sprache.
und Fakten ausdrücken, die in der aktuellen Situa- Die Morphologie ist als »Lehre von den For-
tion des Gesprächs nicht gegeben sind. Man kann men« Teilgebiet verschiedener wissenschaftlicher
Träume erzählen oder sich schildern, wie es wäre, Disziplinen wie Biologie, Geologie und Sprachwis-
wenn es nicht so ist, wie es ist. senschaft. Gegenstand der linguistischen Morpho-
Sprachebenen Sprachebenen: Der Systemcharakter der Spra- logie sind die universellen und sprachspezifischen
und Disziplinen che drückt sich auf verschiedenen Ebenen aus. Die Regularitäten, die den Aufbau und die innere
wichtigsten sprachlichen Ebenen sind: Struktur komplexer Wörter betreffen. Die zentrale
N Phonologie (Phoneme) Erkenntnis ist dabei, dass komplexe Wörter aus
N Morphologie (Morpheme) kleineren Bausteinen zusammengesetzt sind, die
N Syntax (Satzstruktur) mit einer bestimmten Bedeutung bzw. einer be-
N Semantik (Wort- und Satzbedeutung) stimmten grammatischen Funktion assoziiert sind

34
1
Einleitung

(sog. Morpheme). Im Rahmen dieser Einführung che Rolle in den an der Kognitionswissenschaft
werden grundlegende theoretische Begriffe und (cognitive science) beteiligten Disziplinen wie der
Analysemethoden der modernen Morphologie vor- Psychologie, Informatik/künstliche Intelligenz,
gestellt und anhand einer Auswahl wesentlicher den Neurowissenschaften und in der Soziologie.
morphologischer Phänomene des Deutschen moti- Die historische Sprachwissenschaft beschäftigt
viert. sich mit der Geschichte der deutschen Sprache
Die Syntax ist die Teildisziplin der Sprachwis- von den Anfängen der Überlieferung bis zur Ge-
senschaft, die Sätze, deren Aufbau und Eigen- genwart. Im Zentrum stehen die Erforschung und
schaften untersucht. Auf den ersten Blick bestehen Beschreibung der Prinzipien und Regelmäßig-
Sätze einfach aus einer Kette von Wörtern. Bei ge- keiten grammatisch-strukturellen Sprachwan-
nauerer Betrachtung stellt man fest, dass in einem dels, z. B. Veränderungen in der Morphologie und
Satz bestimmte Wörter voneinander abhängen Syntax sowie mögliche Zusammenhänge zwischen
(Dependenz) bzw. enger zusammengehören und beiden. Aber auch generellere Fragen wie, warum
sogenannte Konstituenten bilden (Konstituenz). es überhaupt Sprachwandel gibt und wie er mit
Die universellen und sprachspezifischen Prinzi- anderen Aspekten (insbesondere Spracherwerb
pien der Syntax werden anhand des deutschen und Sprachgebrauch) zusammenhängt, werden
Satzes vorgestellt. Die Darstellung orientiert sich untersucht.
einerseits an der langen Tradition der deskriptiven Die Spracherwerbsforschung ist Teil der Psy-
deutschen Grammatik, wie sie unter anderem im cholinguistik. Sie untersucht, wie Sprecher/innen
Duden ihren Ausdruck findet, ist andererseits aber eine oder mehrere Sprachen erwerben und welche
dezidiert der Tradition der generativen Grammatik Erwerbsprozesse diesen Weg bestimmen. Die
verpflichtet. Spracherwerbsforschung lässt sich dabei u. a. von
In der Semantik und Pragmatik kann man drei folgenden Fragen leiten:
Interessenschwerpunkte ausmachen : N Welche Phänomene werden sprachübergreifend
N Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit: Mit gleich erworben?
vielen sprachlichen Ausdrücken beziehen wir N Welchen Einfluss hat die jeweilige Grammatik
uns auf Dinge in der Welt, auf die diese Ausdrü- auf den Spracherwerb?
cke angewendet werden können. Die Kenntnis N Mit welchen Voraussetzungen sind Sprachler-
der Bedeutung eines sprachlichen Ausdruckes ner für die Bewältigung der Erwerbsaufgabe
ermöglicht den Bezug. Wie sieht dieser Bezug ausgestattet?
aus? Um zentrale Einflussgrößen des Spracherwerbs zu
N Verhältnis von Sprache und Denken: Mit erforschen, wird u. a. untersucht, welche Rolle das
Sprache drücken wir Gedanken aus. Welcher Alter bei Erwerbsbeginn für den Spracherwerbs-
Teil des sprachlichen Wissens befähigt uns verlauf und -erfolg spielt. Die Erforschung von
dazu? Sprachstörungen kann Antwort darauf geben,
N Verhältnis von Sprache und Handlung: Mit inwieweit sprachliche und nichtsprachliche Fä-
Sprache kann man handeln. Man kann Personen higkeiten zusammenhängen. Zwischen Spracher-
informieren, beeinflussen, manipulieren. Wel- werbsforschung und linguistischer Theorie beste-
chen Gesetzmäßigkeiten folgen diese Handlun- hen vielfältige Wechselbeziehungen. Die linguisti-
gen und wie sind sprachliche Handlungen von sche Theorie erlaubt die Ableitung spezifischer
nicht-sprachlichen Handlungen abzugrenzen? Vorhersagen für den Erwerb. Gleichzeitig helfen
Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig. Die Ergebnisse aus dem Spracherwerb, konkurrieren-
größten Impulse haben Semantik und Pragmatik de linguistische Erklärungsansätze zu überprüfen.
erst seit Anfang des 19. Jh.s aus der Sprachphiloso- Unerwartete Ergebnisse liefern neue Forschungs-
phie erhalten. Semantik und Pragmatik spielen ih- fragen für die linguistische Theorie und tragen so
rerseits seit der kognitiven Wende eine wesentli- zur Theoriebildung bei.

35
1
Einleitung

Literatur
Chomsky, Noam (1957): Syntactic Structures. Den Haag. (Hg.): Semiotics: A Handbook on the Sign-Theoretic
– (1965): Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge, Foundations of Nature and Culture. Band III. Berlin/
Mass. New York, S. 2341–2374.
– (1986): Knowledge of Language: Its Nature, Origin, and Saussure, Ferdinand de (32001): Grundfragen der
Use. New York u. a. allgemeinen Sprachwissenschaft [1931]. Berlin/New York
Frege, Gottlob (1884): Grundlagen der Arithmetik. Eine (franz. Cours de linguistique générale. Redigé par
logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff Charles Bally et Albert Séchehaye. Paris/Lausanne 1916;
2
der Zahl. Breslau. 1922).
Hockett, Charles (1960): »The Origin of Speech«. In: Tracy, Rosemarie/Gawlitzek-Maiwald, Ira (2000):
Scientific American 203, S. 88–106. »Bilingualismus in der frühen Kindheit«. In: Hannelore
Martinet, André (1960): Éléments de linguistique générale. Grimm (Hg.): Sprachentwicklung. Enzyklopädie der
Paris. Psychologie CIII, Band. 3. Göttingen, S. 495–535.
Posner Roland (2003): »The Relationship between
Individual Disciplines and Interdisciplinary Approa-
ches«. In: Ders./Klaus Robering/Thomas A. Sebeok Cécile Meier, Petra Schulz und Helmut Weiß

36
2.1
Grammatik

2 Grammatik
2.1 Phonetik und Phonologie
2.2 Morphologie
2.3 Syntax

2.1 | Phonetik und Phonologie


2.1.1 | Einleitung Atemluft den Kehlkopf passiert, ohne in Schwin-
gungen versetzt zu werden. Dies ist bei der Pro-
Sprache tritt zunächst, bevor sie beispielsweise duktion stimmloser Konsonanten der Fall. Außer-
verschriftlicht wird, vor allem als Lautsprache dem können die Stimmlippen auch verschlossen
auf – man spricht daher auch vom Primat der ge- und dann plötzlich geöffnet werden, wodurch der
sprochenen Sprache. Mit den lautlichen Aspekten sog. Knacklaut, auch bezeichnet als Glottisver-
einer Sprache beschäftigen sich die sprachwissen- schlusslaut oder fester Stimmeinsatz, zum Beispiel
schaftlichen Teildisziplinen der Phonetik und der vor Vokalen im Anlaut (s. u.) erzeugt wird.
Phonologie. 3. Artikulation: Der Luftstrom wird im Rachen- Phasen der
raum und der Mund- und Nasenhöhle (man Lautproduktion
spricht hier auch vom Ansatzrohr) moduliert. Da-
bei sind eine ganze Reihe von Artikulationsorga-
2.1.2 | Phonetik nen beteiligt, nämlich Lippen, Zunge, Zähne, Gau-
men, Zäpfchen und Nasenraum (s. Abb. 1).
Die Phonetik untersucht die materiellen, insbeson- Die auf diese Weise erzeugten Einzellaute, die
dere die physiologischen und physikalischen Ei- der Sprecher einer Sprache auditiv segmentieren,
genschaften mündlicher Äußerungen. Je nach- d. h. aufgrund des Höreindrucks als Einzellaute
dem, ob dabei der Sprecher, das Schallsignal oder unterscheiden kann, werden auch als Phone be-
der Hörer im Zentrum der Betrachtung steht, un- zeichnet.
terscheidet man Artikulatorische, Akustische und Der Hörer ist in der Lage, den kontinuierli-
Auditive Phonetik. Wir werden uns im Folgenden chen Sprachschall in seiner Sprache in Phone zu
auf die Artikulatorische Phonetik beschränken, zerlegen. Um Phone exakt zu notieren (auch
zumal die hier gewonnenen Erkenntnisse eine ›transkribieren‹), verwendet man üblicherweise Abbildung 1:
zentrale Rolle in der Phonologie sowie in weiteren die Zeichen des internationalen phonetischen Artikulationsstellen
Bereichen der Sprachwissenschaft spielen, etwa Alphabets (IPA). Diese besondere Schreibweise und -organe
in der Sprachgeschichte (s. Kap. II.4) (zu den ande-
ren phonetischen Teilgebieten vgl. Kohler 1995;
Pompino-Marschall 2003; Reetz 2003).
1
1 Harter Gaumen (palatal)
2
2.1.2.1 | Phonetische Grundlagen 11 2 Weicher Gaumen/Velum (velar)
Die Lautproduktion erfolgt in drei Phasen: 9 6 3 Zäpfchen/Uvula (uvular)
10 108 7 3 4 Rachenraum/Pharynx (pharyngal)
1. Initiation: Über Lungen und Atemwege strömt
Atemluft aus. 9 5 Kehldeckel/Epiglottis (epiglottal)
2. Phonation: Die Atemluft wird bei ihrem Weg 6 Zungenrücken (dorsal)
durch den Kehlkopf (Larynx) mithilfe der bewegli- 4 7 Zungenblatt (laminal)
chen Stimmlippen, die die Stimmritze (Glottis) 8 Zungenspitze (apikal)
umschließen, in Schwingungen versetzt, so dass 9 Lippen (labial)
ein Stimmton erzeugt wird. Die Erzeugung eines 10 Zähne (dental)
Stimmtons erfolgt bei allen Vokalen und bei be- 5
11 Zahndamm (alveolar)
stimmten Konsonanten (s. u.). Die Stimmlippen
können dagegen auch geöffnet werden, so dass die

37
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

Definition N stimmhaft/stimmlos: Klassifikation nach der


Beteiligung eines Stimmtons oder dem Fehlen
Ein   Phon ist eine durch auditive Segmen- desselben
tierung gewonnene lautliche Elementarein-
heit. Phone können nach ihrer artikulatori- 1. Die Klassifikation nach der Artikulationsart ist
schen Hervorbringung klassifiziert werden. den Zeilen der Tabelle zu entnehmen:
Sie werden in der IPA (International Phonetic N Bei Plosiven (Verschlusslauten) wird der Luft-
Alphabet)-Transkription wiedergegeben und strom kurzzeitig ganz blockiert. Dann wird der
in eckigen Klammern notiert: […]. Verschluss plötzlich wieder geöffnet, wobei die
Luft ein Explosionsgeräusch erzeugt. Zu den
Plosiven gehören im Deutschen die Laute [p]
ist nötig, da unsere Orthographie die Laute nicht wie in Perle, [b] wie in Boot, [t] wie in Tau, [d]
eindeutig abbildet. So hat ein Buchstabe oft ver- wie in Ding, [k] wie in Kiste und [g] wie in
schiedene lautliche Entsprechungen, etwa das v Geist, aber auch der oben erwähnte Knacklaut
in viel im Unterschied zu dem in variabel (in IPA- oder Glottisverschlusslaut vor Vokalen im An-
Schreibweise [f] vs. [v]). Umgekehrt kommt es laut [‫( ]ݦ‬z. B. am Beginn von an [‫ݦ‬an]), da
auch vor, dass ein und derselbe Laut orthogra- hier ein entsprechender Verschluss im Kehlkopf
phisch durch verschiedene Buchstaben oder selbst erfolgt.
Buchstabenkombinationen wiedergegeben wird, N Frikative (Reibelaute, Spiranten) werden da-
beispielsweise der lange e-Laut in er, leer und gegen gebildet, indem der Luftstrom durch ein
Lehrer (in IPA-Schreibweise jeweils [e:]). Die IPA- Artikulationsorgan eingeengt wird. Die entste-
Zeichen sind dagegen eindeutig und zudem für henden Luftturbulenzen erzeugen ein Reibege-
alle Sprachen verwendbar. räusch. Dies ist der Fall bei den meisten deut-
Phone lassen sich nach ihrer lautlichen Hervor- schen Konsonanten, nämlich bei [f] wie in
bringung klassifizieren. Wird die ausströmende viel, [v] wie in warm, [s] wie in große, [z] wie
Luft durch eines der Artikulationsorgane auf ir- in Sache, [‫ ]ݕ‬wie in schön, [‫ ]ݤ‬wie in Garage,
gendeine Art behindert, entstehen Konsonanten. [ç] wie in ich (sog. Ich-Laut), [x] wie in Koch
Bei der Hervorbringung von Vokalen kann die (auch als Ach-Laut bezeichnet, wobei nach [a]
Luft dagegen ungehindert ausströmen. genau genommen die uvulare Variante [Ȥ] ge-
sprochen wird), [Ȥ] wie in Dach, [‫]ݓ‬, der von
vielen Sprechern des Deutschen, insbeson-
2.1.2.2. | Die Konsonanten des Deutschen
dere im Rheinland, produzierte r-Laut z. B. in
Artikulationsart Alle Konsonanten, also die Phone, bei deren Er- Reise und der Hauchlaut [h] wie in Hof.
zeugung der Luftstrom behindert wird, können Plosive und Frikative werden auch unter dem
nach folgenden drei Kriterien klassifiziert werden Oberbegriff Obstruenten zusammengefasst.
(s. Tab. 1; vgl. auch Kohler 1999; Ramers 1998): N Als Nasale werden diejenigen Konsonanten be-
N Artikulationsart: Klassifikation nach der Art zeichnet, bei denen der Mundraum verschlos-
der Behinderung der ausströmenden Luft sen und das Gaumensegel (Velum), das sonst
N Artikulationsort: Klassifikation nach der Stelle die Nasenhöhle verschließt, gesenkt wird, so
Tabelle 1: oder dem Organ, mit dem die Atemluft behin- dass der Luftstrom durch die Nase entweicht.
Die Konsonanten dert wird Im Deutschen sind das die Laute [m] wie in
des Deutschen Mut, [n] wie in neu und [ƾ] wie in eng.

bilabial labio-dental dental alveolar post-alveolar palatal velar uvular glottal


Plosive p b t d k g ‫ݦ‬
Frikative f v s z ‫ݤ ݕ‬ ç x Ȥ ‫ݓ‬ h
Nasale m n ƾ
Laterale l
Vibranten r ‫ݒ‬
Gleitlaute j

38
2.1
Grammatik
Phonetik

N Laterale (laterale Approximanten) sind Laute, etwas weiter hinten gebildet und zwar am
bei denen der Luftstrom im Mundraum mittig Zahndamm (den Alveolen).
behindert wird und nur an den Zungenseiten N Zu den Alveolaren zählen im Deutschen die Artikulationsort
entweichen kann. Ein solcher Laut ist [l] wie in meisten Konsonanten: die Plosive [t] und [d],
lieb. die Frikative [s] und [z], der Nasal [n], der La-
N Die Vibranten werden durch einmaliges oder teral [l], sowie das ›gerollte‹ Zungenspitzen-r,
wiederholtes schnelles Schlagen eines bewegli- der Vibrant [r]. Noch etwas weiter hinten er-
chen Artikulationsorgans erzeugt. Die ›geroll- folgt die Engebildung für die Frikative [‫ ]ݕ‬und
ten‹ r-Varianten zählen im Deutschen dazu: das [‫]ݤ‬, die deshalb als post-alveolar (auch palato-
Zungenspitzen-r [r] sowie das Zäpfchen-r [‫]ݒ‬, alveolar) klassifiziert werden.
bei dem sich das Zäpfchen ähnlich wie beim N Die Palatale [!] und [j] werden am harten Gau-
Gurgeln bewegt. men gebildet.
Laterale und Vibranten werden auch unter dem N Velare dagegen entstehen am weichen Gau-
Oberbegriff Liquide zusammengefasst. men. Zu ihnen gehören die Plosive [k] und [g],
N Bei Gleitlauten (zentralen Approximanten) der Frikativ [x] sowie der Nasal [ƾ].
strömt die Luft durch eine Verengung in der N Bei den Uvularen erfolgt die Engebildung am
Zungenmitte aus. Die Engebildung ist jedoch so Zäpfchen (der Uvula). Dazu zählen die Frika-
gering, dass kein Reibegeräusch entsteht. Gleit- tive [Ȥ] und [‫ ]ݓ‬sowie der Vibrant [‫]ݒ‬, der eben-
laute werden daher auch als Halbvokale be- falls mit dem Zäpfchen produziert wird und
zeichnet. Im Standarddeutschen gibt es nur den zwar, indem dieses gegen die Hinterzunge
Gleitlaut [j] wie in ja. (In manchen Darstellun- schlägt.
gen wird der Anlaut von ja dagegen als palata- N Die Glottale [‫ ]ݦ‬und [h] werden gebildet, in-
ler Frikativ klassifiziert.) dem mithilfe der Stimmlippen ein Verschluss
N Die Affrikaten (›angeriebenen‹ Laute), im bzw. eine Engebildung direkt in der Stimmritze
Deutschen [pf] wie in Pfeil, [ts] wie in Ziel, aber (Glottis) im Kehlkopf erzeugt wird.
auch [t‫ ]ݕ‬wie in Kitsch, [d‫ ]ݤ‬wie in Dschungel
sowie u. a. in schweizerdeutschen Dialekten 3. Die Klassifikation nach stimmhaft bzw. stimmlos
[kx] statt des standarddeutschen [k] etwa in betrifft die Frage, ob bei der Bildung des entspre-
Zucker, sind Kombinationen aus am gleichen chenden Konsonanten ein Stimmton beteiligt ist stimmhaft/stimmlos
Artikulationsort gebildetem (homorganen) Plo- oder nicht. Während Nasale und Liquide prinzipi-
siv und Frikativ (und daher nicht gesondert in ell stimmhaft sind, gibt es bei den Obstruenten,
Tab. 1 aufgeführt). Der Verschluss wird nach also den Plosiven und den Frikativen, Paare von
dem Plosiv nicht vollständig gelöst, sondern mit gleicher Artikulationsart und am gleichen Arti-
geht in eine Engebildung an derselben (oder kulationsort gebildeten Lauten, die sich nur bzgl.
eng benachbarten) Artikulationsstelle über. der Stimmhaftigkeit unterscheiden. In Tabelle 1 ist
dann innerhalb einer Spalte der stimmlose Laut
2. Der Klassifikation nach dem Artikulationsort jeweils links, der stimmhafte rechts eingetragen.
entsprechen die einzelnen Spalten in Tabelle 1. Die Der Konsonant [p] ist also ein stimmloser bilabia-
Bezeichnungen leiten sich von den lateinischen ler Plosiv, [b] dagegen ein stimmhafter, [f] ist ein
Fachbegriffen für die verschiedenen Artikulations- stimmloser labiodentaler Frikativ, [v] ein stimm-
stellen und -organe ab (s. Abb. 1). hafter usw. (In der historischen Sprachwissen-
N Bilabiale Laute, im Deutschen [p], [b] und [m], schaft werden stimmhafte Plosive auch als Mediae
werden mit einem Verschluss bzw. einer Enge- bezeichnet und stimmlose Plosive als Tenues;
bildung mit beiden Lippen produziert. s. Kap. II.4.4.3.1).
N Bei den Labiodentalen [f] und [v] erfolgt die
Engebildung dagegen zwischen Unterlippe und
2.1.2.3 | Die Vokale des Deutschen
oberen Schneidezähnen. Bilabiale und Labio-
dentale werden auch unter dem Oberbegriff Im Gegensatz zu den Konsonanten wird bei den
›Labiale‹ zusammengefasst. Vokalen der Luftstrom in Rachen- und Mundraum
N Dentale werden mit einer Engebildung bzw. ei- nicht blockiert oder behindert. Die mithilfe der
nem Verschluss zwischen Zunge und oberen Stimmlippen in Schwingungen versetzte Luft er-
Schneidezähnen gebildet. Im Deutschen wer- zeugt vielmehr in dem durch Zunge und Lippen
den die entsprechenden Konsonanten i. d. R. verschieden geformten Resonanzraum oberhalb

39
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

der Glottis unterschiedliche Vokalklänge. Entspre- 2. Nach der Zungenhöhe, d. h. nach der vertikalen
chend können Vokale u. a. nach der Position der Ausrichtung der Zunge, unterscheidet man (siehe
Zunge und der Lippen klassifiziert werden. die waagerechten Einteilungen im Vokaltrapez):
Im sog. Vokaltrapez (oder auch Vokaldreieck) N Tiefe Vokale, für die die Zunge im Mund nach
sind die Vokale des Deutschen gemäß der horizon- unten bewegt wird, sind nur [] und [a].
talen und vertikalen Ausrichtung der Zunge ange- N Mittlere Vokale, bei denen die Zunge in einer
ordnet: mittleren Höhe verbleibt, sind die meisten Vo-
Alle Vokale lassen sich nach fünf Kriterien klas- kale im Deutschen, nämlich [e], [İ], [ø], [¬],
sifizieren: [‫]ۑ‬, [‫]ܣ‬, [o] und [‫]ܧ‬.
N Hohe Vokale, d. h. solche, bei denen die Zunge
Klassifikation 1. Gemäß der Zungenlage, also der horizontalen im Mund nach oben verschoben wird, sind im
der Vokale Zungenausrichtung, d. h. der Position des höchs- Deutschen [i], [ܼ], [y], [‫]ݡ‬, [u] und [‫]ݜ‬.
ten Punktes der Zunge im Mundraum, kann man
folgende Arten von Vokalen unterscheiden (siehe 3. Nach der Gespanntheit, d. h. nach der bei der
die senkrechten Einteilungen im Vokaltrapez): Artikulation aufgewendeten Muskelkraft, werden
unterschieden:
N Gespannte Vokale, die mit größerer Muskelan-
spannung gebildet werden, die etwa nötig ist,
um die Zunge im Mundraum weit nach vorn,
hinten, oben oder unten zu bewegen. Die Vo-
kale außerhalb der Ellipse in Abbildung 2 stel-
len die gespannten Vokale dar.
N Ungespannte Vokale, zu deren Artikulation
eine geringere Muskelkraft aufgewendet wird.
Die Vokale innerhalb der Ellipse in Abbildung 2
Abbildung 2: sind die ungespannten Vokale. Am wenigsten
Die Vokale des Deutschen Muskelspannung wird für das Schwa [‫ ]ۑ‬aufge-
(Vokaltrapez) wendet, da die Zunge hier die zentralste Posi-
tion einnimmt: Die Zunge wird für diesen Laut
N Vordervokale (auch Palatalvokale) werden ge- weder nach vorn oder hinten noch nach oben
bildet, indem die Zunge so verschoben wird, oder unten verschoben.
dass ihr höchster Punkt vorn im Mundraum ist.
Die meisten Vokale im Deutschen sind Vorder- 4. Gemäß der Vokallänge, also der Artikulations-
vokale. Hierzu zählen die Laute [i] wie in Tier, dauer, unterscheidet man:
[ܼ] wie in Kiste, [y] wie in Tür, [‫ ]ݡ‬wie in N Langvokale, deren Artikulationsdauer ver-
Küste, [e] wie in Meer, [İ] wie in Fest, [ø] wie gleichsweise lang ist.
in Möwe und [¬] wie in Löffel. N Kurzvokale, deren Artikulationsdauer dagegen
N Zentralvokale, bei denen der höchste Punkt kürzer ist.
der Zunge in der Mitte des Mundraums liegt, In der IPA-Schreibweise werden Langvokale mit
sind zum einen die a-Laute [] wie in Spaß und dem Zeichen [:] hinter dem Vokalzeichen gekenn-
[a] wie in lachen. Weiterhin zählt dazu das sog. zeichnet, Kurzvokale notiert man ohne dieses zu-
Schwa (auch ›Murmelvokal‹) [‫]ۑ‬, das beispiels- sätzliche Zeichen, also z. B. [İ:] in Käse im Unter-
weise in Flexionsendungen wie hüpfe oder Kü- schied zu [İ] in Kästen, [i:] wie in liest im
hen vorkommt. Auch das vokalisierte r [‫ ]ܣ‬wie Unterschied zu [ܼ] wie in List usw. Die Vokallänge
in Tier, Tür oder Lacher, das einem a-Laut gar korreliert im Standarddeutschen in der Regel mit
nicht so unähnlich ist, zählt zu den zentralen der Gespanntheit: Gespannte Vokale, also diejeni-
Vokalen (Es erfolgt hierbei ähnlich wie beim [‫]ݓ‬ gen außerhalb der Ellipse in Abbildung 2, werden
eine Annäherung von Zunge und Zäpfchen, je- in betonter Silbe mit längerer Dauer artikuliert als
doch weniger stark als bei diesem konsonanti- die ungespannten, die nur kurz vorkommen – mit
schen r). Ausnahme von [İ], das auch als Langvokal auftre-
N Hintere Vokale sind im Deutschen [u] wie in ten kann wie in Käse.
Stuhl, [‫ ]ݜ‬wie in Muschel, [o] wie in Ton und
[‫ ]ܧ‬wie in Topf.

40
2.1
Grammatik
Phonologie

5. Gemäß der Lippenrundung werden unterschie- Abbildung 3:


den: Artikulation
N Gerundete Vokale, die mit vorgestülpten, ge- der Diphthonge
rundeten Lippen artikuliert werden.
N Ungerundete Vokale, die ohne zusätzliche
Rundung der Lippen artikuliert werden.
Die Lippenrundung korreliert weitgehend mit der

Zungenlage: Alle hinteren Vokale sind im Deut-
schen gerundet, d. h. sie werden mit vorgestülp-
ten, gerundeten Lippen artikuliert. Alle zentralen
Vokale sind ungerundet. Bei den vorderen Vokalen
 
gibt es sowohl gerundete Vokale, nämlich [y], [‫]ݡ‬,
[ø] und [¬], als auch ungerundete, nämlich [i], [ܼ],
[e] und [İ]. se Ebenen spielen bei der Beschreibung von pho-
nologischen Prozessen und in der Akzentzuwei-
Diphthonge liegen vor, wenn zwei Vokale in einer sung eine entscheidende Rolle.
Silbe kombiniert werden. Im Deutschen zählen zu
den Diphthongen [aܼ࡬ ] wie in weiß, [a‫ ]࡬ݜ‬wie in Definition
Schaum und [‫ ] ࡬ܼܧ‬wie in neu. (Der kleine Bogen
unter dem zweiten Vokal ist das IPA-Zeichen für Ein   Phonem ist das kleinste distinktive
›nicht-silbisch‹, drückt also aus, dass der zweite (= bedeutungsunterscheidende) Segment
Vokal nicht zu einer neuen, sondern zu derselben einer Sprache. Phoneme stehen miteinander
Silbe gehört). Bei der Produktion von Diphthon- in Opposition, d. h. sie kontrastieren, und
gen bewegt sich die Zunge aus einer Vokalposition können daher durch Minimalpaarbildung
in eine andere, wie Abbildung 3 mithilfe des Vo- bestimmt werden. Phoneme werden in
kaltrapezes verdeutlicht. Schrägstriche eingeschlossen notiert: /…/.
Der Ausgangspunkt dieser Zungenbewegung
ist relativ eindeutig, der Endpunkt kann variieren,
was die Pfeile symbolisieren. (Daher findet man Minimalpaare sind Paare von Wörtern mit unter-
auch verschiedene Transkriptionen für die Diph- schiedlicher Bedeutung, die sich genau in einem
thonge, etwa [ae࡬ ] statt [aܼ࡬ ], [ao࡬ ] statt [a‫ ]࡬ݜ‬und [‫ܧ‬e࡬ ] Lautsegment unterscheiden. Im Deutschen bilden
statt [‫] ࡬ܼܧ‬.) Gemäß ihrer Artikulation sind übrigens z. B. folgende Wortpaare Minimalpaare:
auch die Kombinationen von Vokal und vokali- N Igel [‫ݦ‬i:g‫ۑ‬l] – Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] /i:/ vs. /e:/
siertem r, die zusammen in einer Silbe vorkom- N Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] – Ekel [‫ݦ‬e:k‫ۑ‬l] /g/ vs. /k/
men, Diphthonge, z. B. in Tier [i:‫]࡬ܣ‬, Tür [y:‫ ]࡬ܣ‬oder N Ekel [‫ݦ‬e:k‫ۑ‬l] – Esel [‫ݦ‬e:z‫ۑ‬l] /k/ vs. /z/
wer [e:‫]࡬ܣ‬. N Esel [‫ݦ‬e:z‫ۑ‬l] – edel [‫ݦ‬e:d‫ۑ‬l] /z/ vs. /d/

Einige Minimalpaare unterscheiden sich nur be- Minimalpaare


züglich einer einzigen Lauteigenschaft eines Seg-
2.1.3 | Phonologie
ments, z. B.
N Igel [‫ݦ‬i:g‫ۑ‬l] – Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] bezüglich der Eigen-
2.1.3.1 | Phonologische Grundbegriffe
schaft mittel/hoch beim zweiten Segment
und Merkmale N Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] – Ekel [‫ݦ‬e:k‫ۑ‬l] bezüglich der Eigen-
Die Phonologie beschäftigt sich mit der Struktur schaft stimmhaft/stimmlos beim dritten Seg-
und den Kombinationsmöglichkeiten von Lautein- ment
heiten. Sie untersucht die Funktion von Lauten N Esel [‫ݦ‬e:z‫ۑ‬l] – edel [‫ݦ‬e:d‫ۑ‬l] bezüglich der Arti-
(Phonemen) innerhalb eines Sprachsystems. Da- kulationsart Frikativ/Plosiv beim dritten Seg-
bei stehen nicht die konkreten materiellen Eigen- ment
schaften der Laute im Zentrum, sondern die Rolle Solche einzelnen Lauteigenschaften mit distinkti-
der Laute bei der Bedeutungsunterscheidung. Dar- ver Funktion nennt man phonologische Merkma-
über hinaus betrachtet die Phonologie auch Ebe- le (zuerst u. a. angenommen von Bloomfield 1933,
nen oberhalb des Einzellauts (des Segments) wie Trubetzkoy 1939, Chomsky/Halle 1968). Man
die Silbe, den Fuß und das prosodische Wort. Die- kann Phoneme daher auch als Bündel oder Kom-

41
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

plexe von bestimmten phonologischen Merkmalen bänder bei der Artikulation dieser Laute also auto-
auffassen. Auf diese Weise kann man die einzel- matisch schwingen. Sie unterscheiden sich damit
nen Phoneme noch genauer analysieren und das etwa von den Obstruenten, bei denen es zwar
Lautsystem einer Sprache noch einfacher beschrei- auch stimmhafte Laute gibt, diese sind aber nicht
ben (nach Wiese 2000 genügen 22 distinktive spontan stimmhaft.
Merkmale, um alle von ihm angesetzten 37 Phone- Nicht alle tatsächlichen Eigenschaften eines
me des Standarddeutschen zu erfassen). Lautes sind in einer Sprache distinktiv. Dies ist je
Phonologische Ein Ziel und gleichzeitig eine wichtige Heraus- nach Sprache unterschiedlich. So ist etwa im Deut-
Merkmale forderung der phonologischen Forschung ist es, schen das Merkmal [+/– aspiriert] nicht distink-
möglichst universelle phonologische Merkmale tiv. Dieses Merkmal gibt wieder, ob Plosive be-
zu definieren, so dass man prinzipiell die Laut- haucht sind oder nicht, d. h. ob nach der
systeme aller Sprachen mithilfe verschiedener Verschlusslösung bis zum Vokaleinsatz eine Zeit
Kombinationen des überschaubaren Inventars an lang Luft ausströmt, die als Hauchgeräusch wahr-
phonologischen Merkmalen beschreiben kann genommen wird (Transkription: [h]), z. B. im Fall
(Universalität). Phonologische Merkmale sind oft von [ph] in Pudel im Gegensatz zu [p] in Spule.
binär (zweiwertig), d. h. man kann bezüglich des In anderen Sprachen wie im Hindi gibt es Mini-
Merkmals einen Plus- und einen Minus-Wert un- malpaare, die sich nur bezüglich des phonologi-
terscheiden (Binarität). Das phonologische Merk- schen Merkmals [+/– aspiriert] unterscheiden. Im
mal, das bei dem Minimalpaar Igel – Egel distink- Deutschen ist eine entsprechende Minimalpaarbil-
tiv ist, wird beispielsweise als [+/– hoch] gefasst, dung nicht möglich und daher bezeichnet man die
das bei Egel – Ekel bedeutungsdifferenzierende aspirierte und nicht-aspirierte Variante eines Plo-
Merkmal als [+/– stimmhaft], das bei Esel – edel sivs als Allophone.
als [+/– kontinuierlich], d. h. die Luft kann bei der
Artikulation des Lautes ausströmen oder aber wird Definition
kurzzeitig blockiert. Gewisse Merkmale werden
dagegen als unär oder privativ angesehen, d. h. sie Als   Allophone bezeichnet man alle Vari-
sind bei einem Laut entweder anwesend oder ab- anten eines Phonems, die sich nur bezüglich
wesend. nicht distinktiver (nicht bedeutungsdifferen-
Die Laute, die durch eine Menge gemeinsamer zierender) Merkmale unterscheiden. Kenn-
Merkmale charakterisierbar sind, bilden sog. na- zeichnend für Allophone ist daher, dass eine
türliche Klassen. So bilden alle Vokale, Nasale Minimalpaarbildung nicht möglich ist.
und Liquide beispielsweise eine natürliche Klasse,
da sie alle das Merkmal [+ sonorant] aufweisen,
d. h. dass sie spontan stimmhaft sind, die Stimm- Zwei Arten der Varianz sind bei Allophonen zu un-
Zur Vertiefung terscheiden (vgl. Trubetzkoy 1939):
Stellungsbedingte Varianz oder kombinatori-
Phonologische Merkmale: Merkmalsmatrizen und Merkmalsgeometrien sche Allophonie liegt vor, wenn die Varianten des
Jedes Phonem kann in Form einer Liste oder Tabelle mit entsprechenden Plus- Phonems in komplementärer Distribution vor-
bzw. Minus-Werten für alle distinktiven Merkmale eindeutig charakterisiert wer- kommen, d. h. immer nur in verschiedenen Laut-
den (vgl. u. a. Ramers 1998; Wiese 2010; Hall 2011) z. B.: kontexten auftreten. Dies gilt im Deutschen etwa
/‫ݡ‬/ [- konsonantisch, + sonorant, – hinten, + vorn, + hoch, – tief, + rund, für das angeführte Beispiel der Aspiration von Plo-
– gespannt, – lang] siven, die typischerweise in einem bestimmten
Im Gegensatz zu der Ansicht, dass Segmente ein Bündel von Merkmalen ohne Lautkontext, nämlich am Silbenanfang vor Vokal
interne Struktur darstellen (zur Formalisierung in sog. Merkmalsmatrizen vgl. auftritt, in anderen Kontexten aber nicht. Ein wei-
Chomsky/Halle 1968), geht man heute in der Phonologie davon aus, dass die teres Beispiel für stellungsbedingte Varianz und
Segmente eine interne Merkmalsstruktur aufweisen. Phonologische Merkmale komplementäre Distribution ist die Verteilung des
können in größeren Klassen zusammengruppiert werden. Zwischen einzelnen Ich- bzw. Ach-Lauts: Nach hinteren und zentralen
Merkmalen bestehen Beziehungen. Bestimmte Merkmale tauchen nur im Zusam- Vokalen folgt der Laut [x] (z. B. in Loch oder
menhang mit anderen überhaupt auf oder aber folgen aus anderen. Dies wird Flucht), in allen anderen Kontexten der Laut [ç]
üblicherweise dargestellt, indem die phonologischen Merkmale in einem hierar- (z. B. in Hecht, Milch, Chemie), d. h. überall dort,
chisch organisierten Baum angeordnet werden (sog. Merkmalsgeometrien, vgl. wo [x] gesprochen wird, kommt [ç] normalerweise
Hall 2011; Spencer 1996; Wiese 2010). nicht vor und umgekehrt. Es gibt entsprechend im
Deutschen keine zwei Wörter mit unterschiedli-

42
2.1
Grammatik
Phonologie

cher Bedeutung, die sich nur im Ich- bzw. Ach- gung vor Nasal im Wortauslaut (z. B. Leben
Laut unterscheiden. Beide Laute sind folglich Allo- [le:bK] > [le:bnࡦ ]) oder Angleichung eines Nasals
phone eines Phonems. an einen vorausgehenden Plosiv (z. B. Leben
Freie Varianz kommt bei Allophonen ebenfalls [le:bn]/[le:bnࡦ ] > [le:bm]) zu beobachten.
vor. Die Wahl der jeweiligen Variante hängt dann Die Hauptarten phonologischer Prozesse wer-
nicht vom lautlichen Kontext ab, sondern z. B. von den im Folgenden kurz vorgestellt (vgl. Ramers
stilistischen, sozialen oder regionalen Faktoren. 1998; Hall 2011; Wiese 2010).
Ein in der Literatur häufig angeführtes Beispiel Assimilation nennt man den phonologischen
sind die verschiedenen Realisierungen des r-Lau- Prozess der Angleichung eines Segments in be-
tes im Deutschen (vgl. Kohler 1995, 165 f.): Neben stimmten Merkmalen an andere Segmente im Äu-
der Aussprache als uvularer Vibrant [‫ ]ݒ‬bzw. Fri- ßerungskontext. Dabei unterscheidet man nach
kativ [‫]ݓ‬, wird der r-Laut in regionalen Varianten der Richtung der Angleichung (Assimilationsrich-
des Deutschen wie dem Österreichisch-Bairischen tung) zwei Unterarten:
oder Alemannischen auch als gerolltes Zungen- N Progressive Assimilation liegt vor, wenn ein Phonologische
spitzen-r, also als alveolarer Vibrant [r] gespro- vorangehendes Segment die Angleichung eines Prozesse
chen. Dabei führt die Aussprache des r-Lautes als folgenden Segments bewirkt. Dies ist im Deut-
[‫]ݓ‬, [‫ ]ݒ‬oder [r] wiederum nie zu einem Bedeu- schen z. B. bei der erwähnten Angleichung ei-
tungsunterschied zwischen zwei Wörtern. Es lie- nes Nasals an einen vorausgehenden Plosiv
gen also ebenfalls Allophone eines einzigen Pho- bezüglich des Artikulationsortes bei schnellem
nems vor. (Insofern die verschiedenen r-Varianten Sprechtempo der Fall (Leben [le:bn]/[le:bnࡦ ] >
jedoch dialektal bedingt sind, ist die Varianz nicht [le:bm], legen [le:gn]/[le:gnࡦ ] > [le:gƾ]).
in einem strengen Sinn ›frei‹.) N Um regressive Assimilation handelt es sich da-
gegen, wenn ein nachfolgendes Element die
Angleichung eines vorausgehenden Elements
2.1.3.2 | Phonologische Prozesse und Regeln
bewirkt. Im Deutschen ist beispielsweise bei
Zwischen Minimalpaaren wie Bogen – Wogen ei- schnellem Sprechtempo auch die Angleichung
nerseits und Bogen – Bögen andererseits besteht eines Nasals bezüglich des Artikulationsortes
ein wichtiger Unterschied, insofern Bogen und an einen folgenden (velaren) Plosiv zu beob-
Bögen in einem engeren Zusammenhang stehen: achten (unklar [… nk …] > [… ƾk …]).
Beides sind Formen eines Lexems. Sie unterschei- Außerdem kann man Fälle von Assimilation nach
den sich lautlich nicht in beliebiger, sondern in der Nähe der beteiligten Segmente klassifizieren:
systematischer Weise. Der Zusammenhang ver- N In den eben angeführten Beispielen handelt es
schiedener Lautformen verwandter Wörter (etwa sich jeweils um Kontaktassimilation, d. h. eine
der Formen eines Lexems oder verschiedener ver- Angleichung unmittelbar benachbarter (adja-
wandter Lexeme wie z. B. Lob – löblich) kann zenter) Segmente.
durch Ableitung (Derivation) einer lautlichen N Von Fernassimilation spricht man dagegen bei
Form aus der anderen mithilfe phonologischer der Angleichung nicht-adjazenter Segmente,
Prozesse und Regeln dargestellt werden. also einer Assimilation über andere Segmente
Hierbei gibt es einerseits Prozesse, die durch hinweg. So ist der Umlaut im Althochdeutschen
das Sprachsystem bedingt sind. So ist beispiels- als die Angleichung eines Vokals an das Merk-
weise der Umlaut, der bei Bogen – Bögen zu beob- mal [+ vorn] eines /i/ oder /j/ in der Folgesilbe
achten ist, im heutigen Deutschen morphologisch zu beschreiben (s. Kap. II.4.5.1.1). Diese Vo-
bedingt: Er tritt vor bestimmten Pluralaffixen kalangleichung bezüglich der Zungenlage er-
(Tuch – Tüch-er, Bach – Bäch-e), vor dem Kompa- folgte auch über Konsonanten hinweg, z. B. in
rativaffix (alt – älter), im Konjunktiv II bestimmter gast ›Gast‹ – gesti ›Gäste‹.
Verben (hob – höbe) und vor Derivationssuffixen Dissimilation bezeichnet das Gegenstück zur Assi-
auf (Kalb – Kälb-chen). Auch im Althochdeutschen milation, also einen phonologischen Prozess, bei
war der Umlaut sprachintern bedingt, hier jedoch dem zwei Segmente einander in bestimmten Merk-
durch den Lautkontext (s. Kap. II.4.5.1.1). malen unähnlicher werden. Ein Beispiel hiefür ist
Zum anderen können phonologische Prozesse die sprachhistorische Entwicklung von wortfina-
durch Sprechtempo, Stilebene und Kommunika- len Konsonanten-Kombinationen aus zwei Frikati-
tionssituation bedingt sein. Bei höherem ven zu Plosiv und Frikativ, z. B. Mhd. wahs [vaȤs]
Sprechtempo ist im Deutschen etwa Schwa-Til- > Nhd. Wachs [vaks].

43
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

Elision ist ein phonologischer Prozess, bei dem 2.1.3.3 Die Silbe
Segmente getilgt werden. Oben wurde bereits die
Schwa-Tilgung vor Nasal im Wortauslaut erwähnt Nachdem wir uns mit einzelnen Lauten und deren
(z. B. Leben [le:bn] > [le:bnࡦ ]). Weitere Beispiele Merkmalen beschäftigt haben, betrachten wir im
wären die Tilgung stimmhafter Plosive vor silbi- Folgenden größere lautliche Einheiten näher, die
schen Nasalen (z. B. reden [‫ݒ‬e:dnࡦ ] > [‫ݒ‬e:nࡦ ]) oder aus Einzellauten zusammengesetzt sind: die Sil-
die Tilgung des wortfinalen Plosivs (z. B. in nicht ben. (Die Beschäftigung mit phonologischen
[nܼçt] > [nܼç]). Strukturen oberhalb des einzelnen Segments wird
Epenthese ist wiederum das Gegenstück zur auch als suprasegmentale Phonologie bezeichnet.)
Elision, bezeichnet also einen phonologischen
Prozess, bei dem Segmente hinzugefügt werden. Definition
So ist im Deutschen beispielsweise das Einfügen
eines am gleichen Artikulationsort gebildeten Plo- Eine   Silbe ist eine aus einem oder mehre-
sivs zwischen einem Nasal und einem alveolaren, ren Phonemen bestehende lautliche Einheit.
stimmlosen Obstruenten (/t/ oder /s/) zu beob- Sie enthält mindestens einen Kern oder
achten (z. B. kommt [… mt] > [… mpt]). Ein wei- Nukleus. Davor kann sie einen Ansatz oder
teres Beispiel ist die Insertion des Glottisver- Onset aufweisen. Nach dem Nukleus kann
schlusslautes vor Vokal im Deutschen, wie etwa in ein Auslaut, die Koda, folgen. Nukleus und
[‫ݦ‬alt] oder [te:‫ݦ‬:t‫]ܣ‬. Diese erfolgt jedoch nicht Koda bilden zusammen den Reim.
generell, sondern nur fußinitial (s. u.).
Neutralisierung nennt man einen phonologi-
schen Prozess, bei dem der Merkmalskontrast zwi- In der Phonologie spielen Silben eine große Rolle,
schen zwei Phonemen in einem bestimmten Kon- da sich beispielsweise eine Reihe phonologischer
text aufgehoben wird. Beispiel hierfür ist der für Prozesse auf Silben beziehen. Dies gilt etwa für die
das Deutsche typische Prozess der Auslautverhär- oben erwähnte Auslautverhärtung im Deutschen,
tung: Im Silbenauslaut (Koda, s. u.) wird der an- die nicht bloß am Wortende, sondern generell am
sonsten bedeutungsdifferenzierende Kontrast zwi- Ende von Silben, genauer in der Koda, erfolgt.
schen stimmhaften und stimmlosen Obstruenten Die Struktur einer Silbe (Symbol: ı) verdeut-
zugunsten der stimmlosen aufgegeben (z. B. bun- licht die Darstellung des monosyllabischen, d. h.
tes [… t …] – Bundes [… d …] aber bunt [… t] – einsilbigen Wortes Qualm in (1). Zwischen der
Bund [… t]). Schicht der Silbenkonstituenten (Onset, Nukleus
und Koda) und der Schicht der einzelnen Segmen-
Zur Vertiefung te ist die sog. Skelettschicht eingetragen, die u. a.
die Länge der Segmente abbildet. (Die Skelett-
Phonologische Regeln schicht wird in anderen Darstellungen statt mit X-
Phonologische Prozesse lassen sich in Form phonologischer Regeln beschreiben Postionen auch mit C-V-Positionen wiedergege-
(vgl. u. a. Ramers 1998; Wiese 2010; Hall 2011). Die allgemeine Form phonologi- ben. Daneben werden in der Phonologie auch
scher Regeln lautet: Silbenstrukturdarstellungen mit weiteren kleine-
A o B/X_Y ren Untereinheiten der Silbe, den sog. Moren, ver-
Das bedeutet: Merkmal(e) A (Input) wird/werden zu Merkmal(en) B (Output), wendet; weiterführend zu Silbenstrukturen vgl.
wenn A zwischen X und Y steht (Kontext), wobei X und Y wiederum phonologi- Ewen/van der Hulst 2001; Hall 2011; Ramers 1998;
sche Merkmale oder auch phonologische oder morphologische Grenzen sein Wiese 2000, 2010).
können (z. B. Wortgrenze, Morphemgrenze, Silbengrenze). Der waagerechte
Strich unten bezeichnet die Position des Inputs im Lautkontext. Der eben ange- (1) 
führte Prozess der Auslautverhärtung kann beispielsweise folgendermaßen als
phonologische Regel formalisiert werden: Onset Reim
[– sonorant, + konsonantisch, + stimmhaft] o [– stimmhaft]/_$
Die Merkmalskombination [– sonorant] (›nicht spontan stimmhaft‹), [+ konso-
Nukleus Koda
nantisch] (›mit Behinderung des Luftstroms oberhalb der Glottis‹) und [+
stimmhaft] kennzeichnet die stimmhaften Obstruenten. Diese werden [– stimm-
haft] vor einer Silbengrenze (Symbol: $). X X X X X

k v a l m

44
2.1
Grammatik
Phonologie

Das erste Element des Nukleus (im obigen Beispiel Bei der Analyse von Silbenstrukturen sind ein
besteht der Nukleus überhaupt nur aus einem Ele- paar Besonderheiten zu beachten:
ment, aber s. u.) bildet den Silbengipfel. Dies ist Diphthonge werden auf der Skelettschicht zwei
das Segment mit der höchsten Sonorität innerhalb X-Positionen zugeordnet, wie die Silbenstruktur
der Silbe, das heißt mit der höchsten Schallintensi- von weiß in (2) illustriert:
tät, der größten Lautstärke und dem größten Öff-
nungsgrad des Ansatzrohrs. Der Silbengipfel ist (2) 
meistens ein Vokal, seltener ein silbischer Konso-
nant (in IPA gekennzeichnet mit einem kleinen Onset Reim
Strich unter dem Lautsymbol, wie z. B. beim letz-
ten Konsonant in dem oben angeführten, zweisil-
bigen Wort [le:bnࡦ ]). Nukleus Koda
Innerhalb einer Silbe können Phoneme nicht
beliebig kombiniert werden. Es gibt hierbei viel-
X X X X
mehr eine Reihe von Beschränkungen. Die Kombi-
nationsmöglichkeiten, Tendenzen und Implikatio-
nen in Silbenstrukturen aufzudecken und zu v a  s
erklären, indem man sie etwa auf möglichst uni-
verselle Prinzipien zurückführt, ist ein weiteres Langvokale werden ebenfalls mit verzweigendem Silbenstruktur
Ziel der Phonologie. Die Lehre von den Regularitä- Nukleus dargestellt. Die Länge des Segments wird
ten einer bestimmten Sprache bezüglich dieser also durch die Zuordnung zu den X-Positionen der
Kombinatorik und Beschränkungen nennt sich Skelettschicht erfasst.
Phonotaktik. Eine phonotaktische Beschränkung Als Beispiel die Analyse des Einsilblers Lob in (3):
besteht beispielsweise darin, dass innerhalb der
Silbe die Sonorität zum Silbengipfel hin ansteigen (3) 
und danach abfallen muss. Diese Beschränkung
erklärt die Ungrammatikalität (gekennzeichnet Onset Reim
durch den hochgestellten Stern) einer Silbe wie
*[vkaml] (im Gegensatz etwa zu der Silbe
[kvalm]): Die Sonorität würde innerhalb der Silbe Nukleus Koda
zunächst abfallen, dann ansteigen, wieder fallen
und schließlich wieder ansteigen. Die unterschied-
X X X X
lich hohe Sonorität der verschiedenen Lautklas-
sen gibt die sog. Sonoritätshierarchie wieder
(s. Abb. 4). 1 o: p
Hieraus erklärt sich auch die spiegelbildliche
Anordnung von Plosiven und Nasalen/Liquiden Affrikaten stellen zwar akustisch eine Kombinati-
im Onset und in der Koda beispielsweise bei Klang on aus zwei Konsonanten, nämlich einem Plosiv
versus Kalk. Die Plosive als Laute mit der gerings- und einem Frikativ dar, verhalten sich aber wie ein
ten Sonorität stehen jeweils am äußeren Rand der einziges Segment und werden daher nur einer X-
Silbe. Nasale bzw. Liquide, die eine höhere Sono- Position auf der Skelettschicht zugeordnet. Dies
rität besitzen, stehen näher zum Silbengipfel hin. illustriert die Silbenstruktur von zum in (4)
(Mithilfe der Sonoritätshierarchie kann man auch (s. S. 46).
andere lautliche Gegebenheiten erklären, etwa die Untersucht man die verschiedenen Strukturen
verschiedenen Lautprodukte der zweiten Lautver- einer großen Zahl von Silben, erkennt man, dass es
schiebung, s. Kap. II.4.5.3.1). neben der oben erwähnten Beschränkung zum So-
noritätsverlauf innerhalb der Silbe auch Beschrän-

geringste Sonorität höchste Sonorität

Plosive Affrikaten Frikative Nasale Liquide hohe Vokale sonstige Vokale Abbildung 4:
Sonoritätshierarchie

45
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

(4)  2.1.3.4 | Akzent und Intonation

Onset Reim So wie ein oder mehrere Phoneme zusammen eine


Silbe (ı) bilden können, bilden auch Silben zu-
sammen wiederum Obereinheiten, die sog. Füße
Nukleus Koda (Ȉ). Ein Fuß enthält eine akzentuierte oder betonte
Silbe ıs (s für »strong«) und beliebig viele unbe-
tonte Silben ıw (w für »weak«). Man unterscheidet
X X X
kopfinitiale Füße, die mit der betonten Silbe be-
ginnen (ıs …), von kopffinalen Füßen, bei denen
t s m die betonte Silbe die letzte Silbe ist (… ıs). Füße
können in Form metrischer Bäume dargestellt wer-
kungen gibt, wieviele Segmente beispielsweise im den (vgl. Hall 2011). (Daneben gibt es auch die
Onset oder in der Koda vorkommen können. Die Darstellungsform als metrische Gitter, vgl. Hayes
maximale Silbe im Deutschen enthält zwei X-Posi- 1995). Die wichtigsten Fußtypen, die u. a. auch in
tionen im Onset. Eine Silbe wie *[pslaƾ] kann also der Dichtung als Versfuß Verwendung finden, sind
im Deutschen nicht vorkommen, obwohl sie (s. Kap. III.4.3.2.2):
durchaus der Beschränkung bezüglich des Sonori-
tätsverlaufs entspricht. Trochäus: Jambus:
Der Reim darf höchstens drei X-Positionen auf-
weisen. Nach Kurzvokal kann die Koda also maxi-  
mal aus zwei Konsonanten bestehen, nach Lang-
vokal oder Diphthong, die jeweils schon zwei    
X-Positionen auf der Skelettschicht entsprechen,    

dagegen nur aus einem Konsonanten. Diese Tatsa-


che motiviert auch die entsprechende silbenstruk- Daktylus: Anapäst:
Füße turelle Analyse mit verzweigendem Nukleus. So ist
etwa die komplexe Koda nach Kurzvokal in [∫İlm]  
möglich. Nach Langvokal kann dagegen wie etwa
in [∫e:l] nur ein Konsonant die Koda bilden. Eine      
Silbe *[∫e:lm] kann also im Deutschen nicht vor-    

kommen. Ebenso ist nach Diphthong eine Koda
aus einem Segment möglich, etwa in [za'l]. Eine Im Deutschen findet man im Bereich des Kern-
zweigliedrige Koda *[za'lm] o. ä. kommt dagegen wortschatzes vor allem den Trochäus als Fußtyp.
nicht vor. Diese Präferenz für Trochäen zeigt sich auch in der
Affrikaten verhalten sich dagegen wie ein einzi- Flexion (s. Kap. II.2.2.3): Flektierbare Einsilbler
ges konsonantisches Segment und entsprechen weisen in ihrem Flexionsparadigma auch zweisil-
daher auf der Skelettschicht bloß einer X-Position. bige, trochäische Formen auf (z. B. Baum – Bäu-
Dies illustrieren Fälle wie die erste Silbe im Wort me), Zweisilbler bleiben dagegen auch flektiert
Pflaume, die, da sie ja tatsächlich im Deutschen zweisilbig (z. B. Kanne – Kannen) (vgl. Eisenberg
vorkommt, offensichtlich nicht gegen die Be- u. a. 1992).
schränkung der maximalen Silbe verstößt, d. h. Füße sind wie Silben phonologische Domänen,
[pf] und [l] müssen jeweils in der Silbenstruktur auf die sich phonologische Prozesse beziehen kön-
einer Position X zugeordnet werden. Eine Ausnah- nen. Im Deutschen gilt dies beispielsweise für die
me bezüglich der Beschränkung zur maximalen oben erwähnte Epenthese des Glottisverschluss-
Silbe bilden allerdings die Obstruenten [t], [d], [s] lautes vor Vokal, die nicht bloß wie bei [‫ݦ‬alt] am
und [∫], die noch vor oder nach der Silbe stehen Wortanfang erfolgt, sondern auch wortintern, aber
können und dann als extrasilbisch bezeichnet auch nicht generell am Anfang einer Silbe, sondern
werden (man spricht auch vom Silbenpräfix bzw. nur am Anfang eines Fußes, daher [te‫ݦ‬:t‫ ]ܣ‬aber
Appendix). So erklärt sich etwa die komplexe *[ko‫ݒ‬e:‫( ]ݦ‬vgl. Hall 1992). Außerdem spielen
Lautfolge [∫t‫ ]ݒ‬in Strumpf. Füße bei der Akzentzuweisung eine zentrale Rolle.
Wortakzent: Füße bilden wiederum Oberein-
heiten, die phonologischen oder prosodischen

46
2.1
Grammatik
Phonologie

Wörter (Ȧ). Innerhalb des prosodischen Wortes Satzakzent wird durch Großbuchstaben gekenn- Wortakzent
trägt eine Silbe den Hauptakzent. Man nennt zeichnet. Er kann z. B. aufgrund unterschiedlicher und Satzakzent
dies den Wortakzent. Innerhalb eines Komposi- syntaktischer und informationsstruktureller Gege-
tums, d. h. eines zusammengesetzten Wortes benheiten im Satz variieren. Die Regularitäten für
(s. Kap. II.2.2), ist der entsprechende Fuß damit den Satzakzent zu erfassen und zu erklären ist ein
ebenfalls betont (Ȉs). Eine spannende Fragestel- weiteres Forschungsziel der Phonologie.
lung der Phonologie besteht darin, einen Algorith-
mus für den Wortakzent zu finden, also genau (6) Káthrin will MORgen nach Háuse fáhren.
vorherzusagen, wo der Wortakzent liegen muss. (7) Káthrin will mórgen nach HAUse fáhren.
Im Deutschen liegt der Wortakzent in der Regel
auf dem Wortstamm. Präfixe und Suffixe sind da- Die Intonation, d. h. der Tonhöhenverlauf, spielt
gegen normalerweise unbetont (Ausnahmen bil- ebenfalls auf der Satzebene eine wichtige Rolle.
den hier allerdings Prä- bzw. Suffixe wie ur-, un-, Die Intonation dient u. a. zur Unterscheidung ver-
-ei, -ieren). Innerhalb eines Kompositums liegt der schiedener Satzmodi (s. Kap. II.2.3.4.1):
Wortakzent in der Regel auf dem ersten Bestand- N Typisch für Deklarativsätze ist ein fallender,
teil (es sei denn, der zweite Bestandteil ist selbst sog. terminaler Verlauf, z. B. in Es regnet. \
wiederum ein Kompositum): N Interrogativsätze weisen dagegen einen steigen-
den, sog. interrogativen Verlauf auf, z. B. in Es
  regnet? /
Während der Verlauf der Tonhöhe auf der Satzebe-
  ne bedeutungsunterscheidend ist (der oben ange-
führte Deklarativsatz unterscheidet sich von dem
    Interrogativsatz nur durch den Tonhöhenverlauf),
 
   ist er im Deutschen im Unterschied zu anderen
Sprachen wie dem Chinesischen auf der Wortebe-
Satzakzent: Innerhalb eines ganzen Satzes ist ne in der Regel nicht distinktiv. Das Deutsche ist
wiederum eine Wortakzentsilbe am prominentes- entsprechend eine Intonationssprache und keine
ten, d. h. durch Tonhöhe hervorgehoben. Dieser Tonsprache.

Zitierte und weiterführende Literatur


Bloomfield, Leonard (1933): Language. New York. – (1999): »German«. In: Handbook of the International
Chomsky, Noam/Halle, Mark (1968): Sound Patterns of Phonetic Association. A Guide to the Use of the
English. New York. International Phonetic Alphabet. Cambridge, S. 86–89.
Duden-Aussprachewörterbuch (62005). Mannheim u. a. Pompino-Marschall, Bernd (22003): Einführung in die
Eisenberg, Peter u. a. (Hg.) (1992): Silbenphonologie des Phonetik [1995]. Berlin/New York.
Deutschen. Tübingen. Ramers, Karl Heinz (1998): Einführung in die Phonologie.
Ewen, Colin J./van der Hulst, Harry (2001): The Phonologi- München.
cal Structure of Words. An Introduction. Cambridge. Reetz, Henning (2003): Artikulatorische und akustische
Hall, Tracy Allan (1992): Syllable Structure and Syllable Phonetik. Trier.
Related Processes in German. Tübingen. Spencer, Andrew (1996): Phonology. Oxford.
– (22011): Phonologie. Eine Einführung. Berlin/New York. Trubetzkoy, Nikolaj S. (1939): Grundzüge der Phonologie.
Hayes, Bruce (1995): Metrical Stress Theory. Principles and Göttingen (Nachdr. 1958).
Case Studies. Chicago. Wiese, Richard (2000): The Phonology of German. Oxford.
Kohler, Klaus J. (21995): Einführung in die Phonetik des – (2010): Phonetik und Phonologie. Stuttgart.
Deutschen. Berlin.
Agnes Jäger

47
2.2
Grammatik
Morphologie

2.2 | Morphologie
2.2.1 | Einleitung demonstrieren die expressive Kraft der morpholo-
gischen Komponente unserer Grammatik, die uns
Gegenstand der Morphologie sind die universellen dazu befähigt, eine beliebige Zahl neuer Wörter zu
und sprachspezifischen Regularitäten, die die in- erzeugen und zu verstehen.
nere Struktur und den Aufbau von Wörtern betref- Folgende Typen von Neuschöpfungen unter-
fen. Der Begriff ›Morphologie‹ ist dabei selbst eine scheidet man in der Regel:
Wortschöpfung, die von Goethe gegen Ende des N Neubildungen entstehen (wie im vorliegenden
18. Jh.s geprägt wurde (aus gr. morphé: Form, Ge- Fall) durch die Rekombination von bereits exis-
stalt und -logie: Wissenschaft von, Lehre von) und tierenden Wortbausteinen;
bald in der Biologie als ›Lehre von den organi- N Entlehnungen nennt man Wörter, die aus an-
schen Formen‹ Verwendung fand. Später erfolgte deren Sprachen übernommen werden (vgl.
dann die Übertragung in die Sprachwissenschaft engl. hip, cool, Computer etc.);
als ›Lehre von den sprachlichen Formen‹. Der Phä- N Urschöpfungen entstehen durch neue Zuord-
nomenbereich der Morphologie lässt sich an ei- nungen von Lautkombinationen und Bedeu-
nem Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit des tung wie Hobbit oder Ork (aus J. R.R. Tolkiens
Gegenwartsdeutschen veranschaulichen. Zu Be- Herr der Ringe).
ginn der 1990er Jahre lancierte ein großer Geträn- Die Kreativität der Wortbildung ähnelt dabei der
kehersteller anlässlich der Einführung von PET- kombinatorischen Vielfalt, die wir beim Aufbau
Mehrzweckflaschen eine Werbekampagne, die komplexer Strukturen durch die Anwendung syn-
das neue Brause-Behältnis als unkaputtbar pries. taktischer Regeln beobachten können. Dies weist
Seitdem hat sich diese Neuschöpfung (auch darauf hin, dass auch die Erzeugung von Wörtern
Neologismus genannt) in der deutschen Gegen- durch ein System von Regeln bestimmt wird, das
wartssprache etabliert – eine entsprechende Goo- im Rahmen der theoretischen Morphologie formal
gle-Recherche am 18.9.2009 brachte es auf immer- rekonstruiert wird. Ein interessanter Unterschied
hin 96 200 Vorkommnisse. Dabei können die zwischen Morphologie und Syntax besteht jedoch
meisten Sprecher/innen intuitiv erkennen, dass darin, dass uns morphologische Neubildungen
unkaputtbar kein vollständig wohlgeformtes Wort wie unkaputtbar, googlen, simsen (Kurznachricht
des Deutschen darstellt. Diese Einschätzung wird mit dem Handy schicken), Gammelfleisch, oder
auch von dem folgenden Beitrag in einem Internet- Fanmeile unmittelbar auffallen, wenn wir sie zum
forum geteilt: ersten Mal wahrnehmen, während es uns in der
Regel nicht bewusst wird, wenn wir einem noch
»Also in meiner Dudenversion für den Rechner steht dieses Wort
nicht. Es hat sich aber eingebürgert, wenngleich es – so meine
Meinung – ein völliges Unwort ist.;-)« Beispielanalyse: unkaputtbar
Unkaputtbar besteht aus drei Wortbausteinen.
Trotz dieser grammatischen Vorbehalte können Basis des Worts ist das Adjektiv kaputt, an
wir dieses Wort ohne Weiteres verstehen. Dies das das Präfix (d. h. Vorsilbe) un- und das
lässt sich darauf zurückführen, dass ein kompe- Suffix (d. h. Nachsilbe) -bar angefügt wurden.
tenter Sprecher des Deutschen in der Lage ist, zu Das Präfix un- bringt eine Negation zum Aus-
erkennen, dass ein komplexes Wort wie unkaputt- druck, die auf die Basis angewendet wird,
bar in kleinere Bestandteile zerlegt werden kann, während das Suffix -bar zur Bildung von Ad-
denen jeweils eine spezifische Bedeutung zu- jektiven aus (zumeist transitiven) Verben
kommt. dient. Die eingeschränkte grammatische Ak-
Dieses Beispiel zeigt, dass gerade auch durch zeptabilität von unkaputtbar ist dabei auf eine
den Verstoß gegen grammatische Regularitäten ein »unsachgemäße« Verwendung des adjektivab-
besonders wirksamer kommunikativer Effekt er- leitenden Elements -bar zurückzuführen, das
zielt werden kann (dies macht man sich insbeson- im vorliegenden Fall fälschlicherweise nicht
dere in der Werbung zunutze, z. B. die mehrfachen an eine verbale Basis angefügt wurde, son-
Komparative attraktiverer als Werbeslogan für eine dern an ein Element – kaputt –, das bereits ein
Fluggesellschaft oder sicherererer für einen Online- Adjektiv ist.
Zahlungsservice). Neologismen wie unkaputtbar

48
2.2
Grammatik
Grundbegriffe
und Teilbereiche

nie zuvor gehörten Satz zum ersten Mal begegnen N Nomen (Substantive) bezeichnen oft konkrete Wortarten
(diese Beobachtung geht zurück auf den Linguis- Objekte (Tisch, Katze, Gurke, Hut etc.), zeigen spe-
ten Otto Jespersen). zielle Formen abhängig von Numerus oder Kasus
(Hut vs. Hüte, der Hut vs. des Huts) und können
durch Artikel oder Adjektive modifiziert werden
(der alte Hut).
2.2.2 | Grundbegriffe und Teilbereiche N Verben bezeichnen in der Regel Tätigkeiten (le-
sen, arbeiten, küssen, gehen etc.), treten in ver-
2.2.2.1 | Wörter, Wörter, Wörter
schiedenen Formen auf, die u. a. Tempus (sie geht
Wortschatz: Wörter sind der Bestandteil unserer vs. sie ging), Modus (sie geht vs. sie gehe) sowie
Sprache, dessen wir uns am meisten bewusst Person/Numerus des Subjekts (sie geht vs. du
sind. Dabei haben die wenigsten Sprecher einen gehst) signalisieren, und verlangen oft nominale
Begriff davon, wie groß der Zahl der Wörter ist, Kategorien als syntaktische Ergänzungen (ein
über die sie verfügen. Der Duden (Deutsches Uni- Buch lesen, den Frosch küssen).
versalwörterbuch) beziffert den (Gesamt-)Wort- N Adjektive bezeichnen Eigenschaften (alt, gut,
schatz der Alltagssprache auf ca. 500 000 Wörter. sauer, schnell etc.), können gesteigert (schnell–
Nimmt man dazu noch das Vokabular spezieller schneller–am schnellsten) werden und passen sich
Gebiete wie Fachsprachen hinzu, dürfte die Zahl in ihrer Form an Eigenschaften des Nomens an,
der Wörter in die Millionen gehen (so verzeich- das sie modifizieren (ein alter Mann, eine alte
net das Projekt Deutscher Wortschatz (http:// Frau, ein altes Pferd). Dabei ist zu beachten, dass
wortschatz.uni-leipzig.de/) mehr als 9 Millionen modifizierende Elemente wie Artikel und Adjek-
verschiedener Wörter und Wortgruppen). Natür- tive in einer bestimmten Abfolge auftreten (der
lich liegt die Zahl der Wörter, die von individuel- alte Hut vs. *alte der Hut).
len Sprecher/innen beherrscht werden, um eini- N Adverbien modifizieren Verben, Adjektive oder
ges darunter; so umfasst neueren Schätzungen andere Adverbien und bezeichnen z. B. die nähe-
zufolge der durchschnittliche Wortschatz ameri- ren Umstände einer Handlung (Maria küsst heute/
kanischer Collegestudenten ca. 17 000 Wörter oft/gerne Frösche) oder den Grad, zu dem ein Ad-
(D’Anna u. a. 1991). Die Größe des Wortschatzes jektiv oder Adverb zutrifft (ein echt/ziemlich alter
ist zudem abhängig von Faktoren wie Alter oder Hut, Maria küsst sehr/ausgesprochen gerne Frö-
Bildungsgrad und kann daher von Sprecher zu sche). Im Gegensatz zu den bislang genannten
Sprecher stark variieren (z. B. lassen sich laut Wortarten/lexikalischen Kategorien ist die Form
Goethe Wörterbuch ca. 90 000 Wörter in Goethes von Adverbien invariant.
Werken nachweisen). Darüber hinaus muss man N Präpositionen drücken zeitliche und räumliche
unterscheiden zwischen: Relationen aus (unter dem Hut, auf den Tisch,
N dem aktiven Wortschatz (Wörter, die man an- nach Weihnachten, vor Semesterende etc.). Präpo-
wenden kann) und sitionen verlangen in der Regel eine nominale Er-
N dem passiven Wortschatz (Wörter, die man gänzung und treten wie Adverbien nur in einer
verstehen kann). einzigen Form auf.
Dabei verfügen Kinder im Alter von 10 Jahren in Die genannten Wortarten haben gemeinsam, dass
der Regel bereits über einen Wortschatz von ca. wir in der Regel in der Lage sind, ihnen eine mehr
10 000 Wörtern, d. h., sie müssen während ihres oder weniger konkrete lexikalische Bedeutung zu-
Spracherwerbs mindestens 2 bis 3 neue Wörter zuordnen. Daher spricht man hier auch von lexi-
pro Tag gelernt haben. kalischen Kategorien. Darüber hinaus existieren
Mentales Lexikon: Man nimmt an, dass der Be- in jeder Sprache aber auch Wörter, deren Bedeu-
stand an Wörtern, über die ein einzelner Sprecher tungsgehalt weniger offensichtlich ist, und die in
verfügt, in einem mentalen Lexikon abgespeichert erster Linie dazu verwendet werden, grammatische
sind, das für jeden Lexikoneintrag Informationen Beziehungen oder Funktionen auszudrücken. In
wie Lautgestalt, Bedeutung und syntaktische Ka- Abgrenzung zu den lexikalischen Kategorien wer-
tegorie (traditionell: Wortart) enthält. Die Eintei- den diese Elemente auch als funktionale Kategori-
lung in Klassen von kategorial unterschiedlichen en bezeichnet. Dazu gehören Artikel, Pronomen,
Elementen ist dadurch motiviert, dass verschiede- subordinierende (nebensatzeinleitende) Konjunk-
ne Arten von Wörtern im Deutschen jeweils di- tionen wie dass, ob, koordinierende Konjunktio-
stinktive grammatische Eigenschaften aufweisen: nen wie und, oder, Auxiliare (Hilfsverben wie ha-

49
2.2
Grammatik
Morphologie

ben oder sein) sowie Partikeln wie ja, wohl, denn, So handelt es sich bei singen, singst, sang, gesun-
ruhig, bloß etc., die die Einstellung des Sprechers gen um unterschiedliche Realisierungsformen des
zu seiner Äußerung anzeigen (Komm ruhig her [Er- Lexems SING (Lexeme werden üblicherweise durch
laubnis] vs. Komm bloß her [Drohung]). Zudem die Verwendung von Großbuchstaben oder Kapi-
können auch Präpositionen in bestimmten Kontex- tälchen gekennzeichnet). Die Gesamtmenge aller
ten zum Ausdruck grammatischer Beziehungen Wortformen eines Lexems bilden ein Paradigma.
verwendet werden (Markierung des Objekts in Ma- Paradigmen stellen bestimmte Deklinations-/Kon-
ria wartet auf Peter, Markierung des Possessors/ jugationsmuster dar und werden in der Regel in
Besitzers in das Auto von meiner Mutter). Form einer Tabelle repräsentiert:
Allerdings enthält das mentale Lexikon nicht
nur vollständige Wörter, sondern auch kleinere Singular Plural
Wortbausteine wie un-, ver-, ent-, -bar, -lich etc., Nominativ Vater Väter
mit deren Hilfe komplexe Wörter gebildet werden
Akkusativ Vater Väter
können.
Inhalte des Wörter unterscheiden sich dabei nicht nur hin- Dativ Vater Vätern
mentalen Lexikons sichtlich ihrer Lautgestalt und Bedeutung, wie z. B. Genitiv Vaters Väter
Gurke oder Wolke, sondern wir können auch fest- Tabelle 1: Paradigma von Vater
stellen, dass ein und dasselbe Wort abhängig vom
syntaktischen Kontext, in dem es auftritt, unter-
schiedliche Formen annimmt: Was ist ein Wort? Wir wissen bereits, dass Wörter
der primäre Untersuchungsgegenstand der Mor-
(1) a Marias Vater scheint ein alter Patriarch zu sein. phologie sind. Was aber ist ein Wort? Die zunächst
b Mit den meisten Vätern dieser Generation verhält es sich wenig befriedigende Antwort auf diese Frage lau-
ähnlich. tet, dass es bislang keine allgemein akzeptierte for-
c Bislang konnte Maria den Vorwürfen ihres Vaters aber im- male Definition des Wortbegriffs gibt. Allerdings
mer Paroli bieten. existieren in der Literatur eine Reihe von Vorschlä-
gen, die wir heranziehen können, um unser intui-
In (1) tritt das Wort Vater in drei verschiedenen tives Vorverständnis dessen, was ein Wort ist, zu
Formen auf, die unterschiedliche Werte für die präzisieren (vgl. Di Sciullo/Williams 1987). Ab-
Merkmale Kasus und Numerus signalisieren: No- hängig davon, welche Kriterien bei der Definition
minativ Singular in (1a), Dativ Plural in (1b) und des Wortbegriffs Verwendung finden, unterschei-
Genitiv Singular in (1c). Traditionell wird dieses det man dabei zwischen phonologischen, morpho-
Phänomen als Deklination bezeichnet. Dabei geht logischen und morphosyntaktischen Ansätzen:
man in der Regel davon aus, dass nicht alle dekli- N Ein phonologischer Wortbegriff bestimmt
nierten Varianten eines Worts im Lexikon gespei- Wörter als Lautfolgen, die aufgrund von unab-
chert sind. Vielmehr handelt es sich bei Vater, Vä- hängigen phonetisch-phonologischen Kriterien
tern und Vaters um verschiedene Wortformen, die (Grenzsignale wie Pausen oder die Beobach-
durch entsprechende morphologische Regeln tung, dass Wörter in vielen Sprachen nur genau
(s. u.) erzeugt werden. Im Lexikon steht lediglich einen Hauptakzent tragen können) als separate
die Grundform eines Worts, die bei Nomen dem sprachliche Einheiten identifizierbar sind.
Nominativ Singular entspricht und die man auch N Vor dem Hintergrund eines morphosyntakti-
als Lexem bezeichnet (für eine ausführlichere Dis- schen Wortbegriffs können Wörter als kleinste
kussion des Lexembegriffs vgl. Gallmann 1991): frei auftretende sprachliche Zeichen definiert
werden, die mit bestimmten morphosyntakti-
Definition schen (oder semantischen) Merkmalen (z. B.
Nomen, Verb, Tempus, Genus, Numerus etc.)
Ein   Lexem ist eine abstrakte lexikalische assoziiert sind und Gegenstand von syntakti-
Basiseinheit, die in verschiedenen Wortfor- schen Regeln sein können.
men auftreten kann und Informationen N Ein rein morphologischer Wortbegriff rekur-
über grundlegende Eigenschaften wie Laut- riert auf die Tatsache, dass Wörter eine kom-
gestalt, Kernbedeutung und Wortart ent- plexe innere Struktur aufweisen, d. h., sie kön-
hält. nen, wie eingangs am Beispiel von unkaputtbar
illustriert, aus mehreren kleineren, nicht-kom-

50
2.2
Grammatik
Grundbegriffe
und Teilbereiche

plexen Bausteinen zusammengesetzt sein, die markierer zu, oder Expletiva wie das semantisch
selbst nicht frei vorkommen können wie un-, neutrale sog. Vorfeld-es, dessen syntaktische Funk-
-bar etc. Diese atomaren Bauelemente der Mor- tion lediglich darin besteht, in Sätzen wie Es wird
phologie nennt man Morpheme. gearbeitet die satzinitiale Position zu füllen. Darü-
ber hinaus zeigen Interjektionen wie äh, wow,
oops etc., dass die relevante außerphonologische
2.2.2.2 | Bausteine der Morphologie
Eigenschaft auch in einer bestimmten pragmati-
Der Begriff des Morphems ist der zentrale theoreti- schen Funktion bestehen kann. Es zeigt sich also, Wort und Morphem
sche Grundbegriff innerhalb der Morphologie. In dass im Rahmen der revidierten Definition des
Anlehnung an den Phonembegriff (kleinste bedeu- Morphembegriffs die Bedeutung nur eine der in
tungsdifferenzierende Einheit, s. Kap. II.2.1) wer- Betracht kommenden Möglichkeiten zur Identifi-
den Morpheme traditionell als kleinste bedeu- kation von Morphemen darstellt. Vor diesem Hin-
tungstragende sprachliche Einheiten bezeichnet, tergrund können wir nun den Begriff des Worts
die nicht mehr weiter in kleinere Einheiten mit definieren:
bestimmter Lautung und bestimmter Bedeutung
zerlegt werden können. Definition
Ein bekanntes Problem im Zusammenhang mit
einer bedeutungsbezogenen Definition des Mor-   Wörter sind frei auftretende sprachliche
phembegriffs betrifft die Tatsache, dass es Elemen- Zeichen, die aus kleineren Einheiten (Mor-
te gibt, deren Morphemstatus zwar unstrittig zu phemen) aufgebaut sein können und die
sein scheint, die aber keinen klaren semantischen ihrerseits Gegenstand von syntaktischen
Gehalt aufweisen. Zwar ist es noch einigermaßen Regeln zur Erzeugung größerer Zeichenkom-
deutlich, dass ein Morphem -er wie in Kinder die plexe wie Sätze oder Phrasen sein können.
semantisch relevante Kategorie [Plural] signalisiert
und dass die Bedeutung eines adjektivbildenden
Suffixes wie -lich sich in etwa durch ›wie ein X‹ Wörter und Morpheme können auch zusammen-
wiedergeben lässt (z. B. kind-lich). Bei einem Ele- fallen, wenn ein Wort nicht mehr in kleinere Ein-
ment wie -en, dessen grammatische Funktion dar- heiten zerlegt werden kann. In diesem Fall spricht
in besteht, den Infinitiv zu bilden, ist es jedoch man auch von monomorphematischen Wörtern
weitaus schwerer, dem Morphem einen eindeu- wie Vogel, Nest, Kind, Bett, während Wörter, die
tigen semantischen Gehalt zuzuschreiben. Auf- aus mehreren Morphemen bestehen, auch als
grund solcher Unklarheiten wollen wir in der Fol- komplexe Wörter bezeichnet werden (z. B.
ge von einer weiter gefassten Morphemdefinition Vogel+nest, Kind+bett, Kind+er, kind+lich,
ausgehen, die nicht ausschließlich auf die Bedeu- Kind+lich+keit). Wichtig ist in diesem Zusam-
tung eines Elements Bezug nimmt (vgl. Wurzel menhang die Beobachtung, dass Morphem- und
1984): Silbengrenzen oft nicht identisch sind ((du)
liegst, eine Silbe, aber zwei Morpheme; Kinder:
Definition morphologische Struktur Kind+er, Silbenstruk-
tur Kin-der).
  Morpheme sind einfache sprachliche Zei- Zwei Typen von morphologischen Bildungsele-
chen, die nicht mehr weiter in kleinere Ein- menten werden unterschieden – abhängig davon,
heiten mit bestimmter Lautung und min- ob Wortbausteine als eigenständige Wörter auftre-
destens einer außerphonologischen ten können:
Eigenschaft zerlegt werden können. N Gebundene Morpheme wie -en, -er, -lich, -keit
können nicht selbständig auftreten, sondern be-
nötigen stets ein Trägerelement bzw. eine Basis,
Bei der außerphonologischen Eigenschaft kann es mit der sie sich verknüpfen.
sich um die Bedeutung eines Morphems handeln N Freie Morpheme wie Kind, Schnee, breit, ka-
(z. B. bei Elementen wie Gurke, grün, gegen etc.). putt können auch als eigenständige Wörter
Es kann sich jedoch auch um eine morphosyntak- ohne Hinzufügung weiterer Bausteine erschei-
tische Eigenschaft handeln, die z. B. im Fall von -en nen.
darin besteht, den Infinitiv von Verben zu bilden. Man sieht also, dass Morpheme und Wörter zu-
Ähnliches gilt für Kasusmorpheme, den Infinitiv- sammenfallen können. Anstelle von »gebundenes

51
2.2
Grammatik
Morphologie

Morphem« wird in der Sprachwissenschaft oft fungiert. Letzteres involviert in der Regel die
Typen von gebundenen auch der Oberbegriff Affix gebraucht. Wie bereits Hinzufügung von Flexionsmorphemen, die gram-
Morphemen erwähnt, unterscheidet man bei Affixen/gebunde- matische Kategorien wie Kasus, Numerus, Person,
nen Morphemen zwischen Präfixen und Suffixen, Genus etc. ausdrücken (s. 2.2.3). Beispielsweise
abhängig davon, ob sie vor (Präfixe) oder nach werden im Lateinischen die verschiedenen frei
(Suffixe) ihrem Trägerelement stehen. Darüber hi- auftretenden Deklinationsformen des adjektivi-
naus gibt es im Deutschen einige wenige Zirkum- schen Stamms lucid- durch Hinzufügung von Fle-
fixe, bei denen eine bestimmte morphologische xionssuffixen wie -us ›Nominativ Singular Masku-
Eigenschaft durch eine Kombination aus Prä- und lin‹ oder -a ›Nominativ Singular Feminin‹ gebildet.
Suffix signalisiert wird wie im Falle des Partizip Vor diesem Hintergrund lässt sich der Begriff des
Perfekt (schwache Verben: ge-lach-t, ge-stell-t, ge- Stamms wie folgt definieren:
liebt-t etc.; starke Verben: ge-sung-en, ge-ruf-en, ge-
lung-en, ge-fror-en etc.). Bei näherer Betrachtung Definition
der Partizipformen können wir erkennen, dass sie
z. T. eine lexikalische Basis enthalten, die nicht Ein   Stamm ist ein (potentiell komplexer)
ohne Weiteres als freies Morphem auftreten kann Teil eines Worts, der noch nicht Gegenstand
(lach, stell, sung, lung etc.). Dies zeigt uns, dass von Flexionsprozessen gewesen ist.
auch lexikalische Elemente in gebundener Form,
d. h. unterhalb der Wortebene auftreten können.
Hierbei unterscheidet man zwischen Wurzeln und Die begriffliche Trennung von Stamm und Wurzel
Stämmen (vgl. z. B. Matthews 1991, S. 64). ist im Deutschen allerdings weniger einfach nach-
zuvollziehen, da Wurzeln und Stämme oft zusam-
Definition menfallen und auch frei auftreten können (vgl.
z. B. monomorphematische Adjektive wie blau,
  Wurzeln sind die einfachste, atomare gut, schön, süß etc., die Träger von Flexionsmor-
Form lexikalischer Morpheme. Sie enthalten phemen sein können oder Adverbien wie oft, sel-
keinerlei Affixe und bilden den lexikalischen ten, gern etc., die generell unflektiert auftreten).
Kern von Wörtern. Ein relevantes Beispiel ist aber z. B. die Klasse der
starken Verben im Deutschen. Hier können wir be-
obachten, dass unterschiedliche Tempus- und Mo-
Lexikalische Wurzeln und Stämme: Im Deutschen entsprechen dusformen des Verbs nicht durch Affixe, sondern
Morpheme Wurzeln oft freien Morphemen wie Bau, Kauf, durch Veränderungen des Stammvokals markiert
Ruf, Rat etc., während in vielen anderen Sprachen werden. Dieses Phänomen wird Ablaut genannt
Wurzeln zunächst Gegenstand weiterer morpholo- (s. Tab. 2).
gischer Prozesse sein müssen, um ein vollständi- Die unterschiedlichen Verbformen in Tabelle 2
ges Wort zu bilden. So liegt im Lateinischen dem sind jeweils Stämme, an die Flexionsaffixe heran-
Adjektiv lucidus ›leuchtend-nom.sg.mask.‹ und treten können. Die Faustregel für die Ermittlung
dem Verb lucere ›leuchten‹ die gleiche (abstrakte) des Verbstamms lautet somit »flektierte Verbform
Wurzel luc- zugrunde, die im ersteren Fall durch minus Flexionsendung = Stamm«. Der Wurzel
Hinzufügung des Derivationsmorphems -id- zu entspricht dabei derjenige Stamm, der in der 2.
einem adjektivischen Stamm umgeformt wird. Person Plural Indikativ Präsens erscheint (ihr fin-
Tabelle 2: Stämme sind also typischerweise eine Kombina- det – finden). Für das Deutsche gilt somit, dass
Beispiele für Ablautreihen tion aus Wurzel und weiteren Affixen, die als sämtliche Wurzeln auch (flektierbare) Stämme
im Deutschen morphologische Basis zur Bildung von Wörtern sein können, nicht aber umgekehrt. Da die Unter-
scheidung zwischen Stamm und Wurzel aber in
Vokalalternation Präsens Präteritum Partizip Perfekt
vielen Fällen keine größere Rolle spielt, wird statt
Stamm bzw. Wurzel oft auch der einfachere Be-
i-a-u find- fand- (ge)-fund-(en) griff (lexikalische) Basis verwendet.
e/i-a-e geb-, gib- gab- (ge)-geb-(en) Wurzel vs. Lexem: An dieser Stelle mag die Fra-
u-i-u ruf- rief- (ge)-ruf-(en) ge auftreten, wie sich die Begriffe ›Wurzel‹ und
ü-o-o lüg- log- (ge)-log-(en)
›Lexem‹ zueinander verhalten. Eine erste Antwort
darauf lautet, dass es sich bei Lexemen um ab-
i-a-o rinn- rann- (ge)-ronn-(en) strakte Elemente des Lexikons handelt, während

52
2.2
Grammatik
Grundbegriffe
und Teilbereiche

Wurzeln konkrete morphologische Einheiten dar- zugrundeliegenden Morphem zugeordnet ist. So


stellen. Ein weiterer wesentlicher Unterschied be- kann man die Wörter Bretter und später morpholo-
steht darin, dass Wurzeln stets atomare, nicht- gisch jeweils als eine Kombination aus zwei Mor-
komplexe Einheiten darstellen, während Lexeme phen (Basis + -er) analysieren. In einem zweiten
auch aus mehreren lexikalischen Elementen beste- Analyseschritt werden die Morphe dann klassifi-
hen können (vgl. z. B. zusammengesetzte Nomen ziert, d. h., sie werden als Allomorphe bestimmter
wie FAHRRAD oder sog. Partikelverben wie AUFGEBEN). Morpheme identifiziert, die im vorliegenden Bei-
Allerdings werden die beiden Begriffe in neueren spiel zufällig homophon sind (Pluralsuffix -er vs.
theoretischen Ansätzen oft auch synonym ge- Komparativsuffix -er).
braucht. So ersetzt der Begriff ›Wurzel‹ im Rah-
men der sog. ›Distribuierten Morphologie‹ das Zur Vertiefung
›Lexem‹ als abstrakte lexikalische Basiseinheit
(vgl. z. B. Harley/Noyer 1999). Die Verteilung von Allomorphen
Tabelle 3 zeigt eine andere Art von Morphem- Das Phänomen der Allomorphie kann als Hinweis darauf verstanden werden,
variation, die von der in Tabelle 2 illustrierten dass das eigentlich zugrundeliegende Morphem lediglich eine abstrakte gramma-
Stammalternation im Zusammenhang mit Ablaut- tische Funktion darstellt (also ein Bündel von morphologischen bzw. morpho-
reihen grundsätzlich unterschieden werden muss: syntaktischen Merkmalen, im vorliegenden Fall [Plural]), das durch die entspre-
chenden Allomorphe (= phonologische Ausbuchstabierungen eines abstrakten
Pluralendung Beispiele Morphems) realisiert wird (Matthews 1991). Die Wahl eines Allomorphs ist dabei
-e Tag, Tag-e von phonologischen, morphologischen und lexikalischen Faktoren bestimmt (vgl.
z. B. Grewendorf/Hamm/Sternefeld 1987). So ist die Verteilung (statt ›Verteilung‹
-e (mit Umlaut) Gast, Gäst-e
(fem.: Laus, Läus-e) sagt man auch ›Distribution‹) der Pluralmorpheme -en und -n phonologisch be-
dingt: Sie ist abhängig von der Struktur der vorangehenden Silbe. Enthält diese
-(e)n Bett, Bett-en
bereits den sog. Schwa-Laut []), so muss -n gewählt werden. In allen anderen
Hantel, Hantel-n
Fällen wird der Plural mit -en gebildet (ein vorangestelltes Sternchen kennzeich-
-er Brett, Brett-er
net nicht zulässige Formen: Hantel o Hantel-n, *Hantel-en; Form o Form-en,
-er (mit Umlaut) Haus, Häus-er *Form-n). Dabei handelt es sich um eine generelle phonologische Regularität des
-‡ (Nullmorphem) Engel, Engel-‡ Deutschen, die nicht nur bei der Pluralbildung, sondern z. B. auch bei der Infini-
-‡ (Nullmorphem mit Tochter, Töchter-‡ tivendung -en greift (segel-n, *segel-en; fühl-en, *fühl-n). Diese Beobachtung
Umlaut) kann durch die Annahme erfasst werden, dass das entsprechende Allomorph nur
-s Auto, Auto-s aus -n besteht, und dass die Einsetzung eines Schwa als Stützvokal erfolgen
muss, falls aus der Anfügung der Endung eine unzulässige Silbenstruktur resul-
Tabelle 3: Pluralendungen im Deutschen
tieren würde. Demgegenüber ist die Distribution der Pluralendung -er ein Bei-
spiel für eine morphologisch bedingte Wahl von Allomorphen, da diese Endung
Allomorphie: Wie aus Tabelle 3 ersichtlich, existie- nur bei Nomen mit dem Merkmal [-feminin] zu finden ist. Allerdings wird die
ren im Deutschen insgesamt acht verschiedene Wahl des Allomorphs durch diese Regel nicht vollständig determiniert, sondern
Möglichkeiten zur Bildung der Mehrzahl von No- lediglich eingeschränkt. Schließlich kann die Distribution eines Allomorphs auch
men (vgl. Eisenberg 2006; Duden 2006). Im Ge- von rein lexikalischen Faktoren abhängig sein. So kann die Tatsache, dass die
gensatz zum Ablaut, der dazu dient, bestimmte Pluralformen von Bett und Brett unterschiedliche Pluralendungen involvieren
Stammvarianten zu markieren, die eine unter- (-en vs. -er), nicht auf eine unabhängige phonologische oder morphologische Re-
schiedliche morphosyntaktische Funktion besitzen gularität zurückgeführt werden und muss daher von Sprechern während des
(z. B. Präsens vs. Präteritum), handelt es sich bei Spracherwerbs ›auswendig gelernt‹ werden.
den verschiedenen Pluralendungen um verschie-
dene Formelemente, die dieselbe grammatische/
morphologische Funktion haben. In Anlehnung an
2.2.2.3 | Teilbereiche der Morphologie
die phonologische Unterscheidung zwischen Allo-
phonen und Phonemen spricht man in diesem Zu- Bislang wurde bereits zwischen Flexions- und De-
sammenhang auch von Allomorphen eines Mor- rivationsmorphemen begrifflich unterschieden,
phems. ohne dass diese Unterscheidung systematisch be-
Analog zum Begriff des Phons ist ein Morph gründet bzw. vor einem theoretischen Hintergrund
eine bedeutungstragende bzw. grammatisch funk- eingeordnet wurde. Dies soll nun nachgeholt wer-
tionale Segmentfolge, die aber noch nicht einer den. Die Unterscheidung zwischen Flexion und
bestimmten Funktion bzw. einem bestimmten Derivation ist Bestandteil der traditionellen Auf-

53
2.2
Grammatik
Morphologie

gliederung der Morphologie in die Teilbereiche der schen Komponente der Grammatik verantwortlich
Flexion (Formenlehre) und Wortbildung, wobei sind, indem sie aus einer endlichen Menge von
letztere neben der Derivation auch noch die Kom- Wortbausteinen eine potentiell unendlich große
position umfasst: Zahl von Neubildungen erzeugen können. Gene-
rell gilt dabei, dass flektierte Formen nicht im
(2) Morphologie mentalen Lexikon abgelegt werden, während dies
bei gängigen Resultaten von Wortbildungsprozes-
sen (z. B. Ver-gangen-heit, Gammel-fleisch, Welt-
meister-schaft) durchaus der Fall ist. In der Regel
Flexion (Formenlehre) Wortbildung bereitet die Unterscheidung von Flexion und Wort-
bildung/Derivation kaum Probleme. Dennoch
kann man sich die Frage stellen, ob es sich bei
Flexion und Wortbildung um verschiedene oder
identische Prozesse des morphologischen Struk-
Konjugation Deklination Derivation Komposition turaufbaus handelt (die u. U. den gleichen Gesetz-
mäßigkeiten unterliegen müssten; für einen Über-
blick über relevante theoretische Ansätze vgl.
Teilbereiche Flexion: Mit dem Begriff ›Flexion‹ oder ›Formen- Spencer 1991).
der Flexion: lehre‹ bezeichnet man die regelmäßige Bildung
charakteristische (›Beugung‹) verschiedener Wortformen eines zu-
Eigenschaften grundeliegenden Lexems oder Wortstamms in Ab-
hängigkeit von grammatischen Kategorien wie Nu- 2.2.3 | Flexion
merus, Genus, Person, Kasus, Tempus, Modus
oder Komparativ. Ferner unterscheidet man traditi- Wir haben bereits gesehen, dass die Form eines
onell innerhalb der Flexion zwischen Worts abhängig ist vom syntaktischen Kontext, in
N verbaler Flexion (Konjugation, dem es auftritt. Dabei gilt generell, dass Stämme
lieb+st[2. Sg. Präsens Indikativ]) und flektiert werden müssen, um als Bausteine von
N nominaler Flexion (Deklination, Sätzen auftreten zu können. So können wir im
Vater+s[Genitiv Singular]), wobei letztere auch die Deutschen und in vielen anderen Sprachen beob-
Bildung flektierter Adjektive, Pronomen und achten, dass sich die Form eines Verbs in Abhän-
Artikel umfasst. gigkeit von den grammatischen Merkmalen (Per-
Wortbildung: Mit dem Begriff der Wortbildung son und Numerus) des Subjekts verändert: Ich
bezeichnet man die Bildung (neuer) komplexer geh-e, du geh-st, wir geh-en etc. Dieses Phänomen
Wörter durch die Kombination bereits vorhande- nennt man Kongruenz. Bei flektierten Verben wie
ner Wörter und Wortbausteine. Dabei unterschei- geh-st handelt es sich um komplexe Wortformen,
det man zwischen Komposition und Derivation, die aus einem Stamm und einer Flexionsendung
abhängig davon, ob das resultierende Wort meh- bestehen. Letztere signalisiert Person und Nume-
rere lexikalische Wurzeln umfasst (Gurken-ge- rus des Subjekts. Der Begriff der Flexion bezeich-
würz, Rot-wein, Kalt-licht-reflektor-stift-sockel-lam- net also die Bildung von Wortformen eines Lexems
pe) oder ob eine Kombination aus Wurzel und abhängig vom syntaktischen Kontext. Im Deut-
einem oder mehreren (gebundenen) Derivations- schen sind dabei die in Tabelle 4 genannten gram-
affixen vorliegt (Ver-pflicht-ung, auf-lös-bar, ver- matischen bzw. morphosyntaktischen Merkmale
un-möglich-en). beteiligt (Duden 2006, S. 131; keine Erwähnung
Flexion vs. Wortbildung: Ein wesentlicher Un- finden hier die Genus verbi [lat. ›Geschlecht des
terschied zwischen Flexion und Wortbildung be- Verbs‹, also z. B. Aktiv vs. Passiv] sowie die zu-
steht darin, dass nur letztere wortartverändernd sammengesetzten Tempusformen Perfekt, Plus-
wirkt (vgl. Verbstamm glaub- o Adjektiv unglaub- quamperfekt, Futur [I + II], da sie im Deutschen
lich o Nomen Unglaublichkeit). Flexionsprozesse durch syntaktische und nicht durch morphologi-
zeichnen sich ferner dadurch aus, dass sie auf eine sche Mittel gebildet werden).
geschlossene Klasse von gebundenen Morphemen Die verschiedenen Merkmalklassen sind dabei
zugreifen, die eine endliche Menge grammatischer nicht für alle Lexeme in gleicher Weise relevant
Funktionen kennzeichnen, während Prozesse der (z. B. spielt Komparation ausschließlich bei Adjek-
Wortbildung für die Kreativität der morphologi- tiven eine Rolle, nicht aber bei Verben oder No-

54
2.2
Grammatik
Flexion

Merkmal- Merkmalwerte die Konsonantenstruktur des Stamms betreffen


klasse (ich bringe, ich brachte; ich esse, ich habe ge-gess-
Person 1. Person, 2. Person, 3. Person en). Einen Extremfall stellen sog. Suppletivfor-
men dar, bei denen keinerlei phonologische Ge-
Numerus Singular, Plural
meinsamkeiten zwischen den flektierten Formen
Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum zu erkennen sind (ich bin, ich war). Suppletion
Kasus Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv entsteht im Laufe der historischen Entwicklung ei-
Komparation Positiv, Komparativ, Superlativ ner Sprache, wenn die Elemente eines Paradigmas
von verschiedenen Stämmen abgeleitet werden.
Modus Indikativ, Imperativ, Konjunktiv (I + II)
So beinhaltet das Paradigma des Auxiliars sein For-
Tempus Präsens, Präteritum men, die ursprünglich auf drei verschiedene (indo-
Tabelle 4: Grammatische Merkmalklassen und Merkmale europäische) Wurzeln zurückgehen.
im Deutschen
2.2.3.1 | Verbale Flexion
men). Diese charakteristischen Unterschiede kön- Wie bereits erwähnt, sind für die Verbflexion im
nen zur Einteilung in die verschiedenen Wortarten Deutschen die Merkmale Person, Numerus, Tem-
herangezogen werden (vgl. Duden 2006, S. 132): pus und Modus relevant. Allerdings zeigen nicht
alle Verbformen entsprechende Flexionsmarkierun- Verbformen und
Wortart Flexionsmerkmale gen. Der Infinitiv (singen), das Partizip I (singend) Konjugationsklassen
Verb Person, Numerus, Modus, Tempus und das Partizip II (gesungen) bleiben unflektiert
und werden als nicht-finite oder infinite Verbfor-
Substantiv Numerus, Kasus (lexikalisch festgelegt:
Genus) men bezeichnet, die im Deutschen zusammen mit
flektierten Hilfsverben die zusammengesetzten
Pronomen Person, Numerus, Genus, Kasus
analytischen Tempusformen wie Perfekt (ich habe
Artikel Numerus, Genus, Kasus gesungen) oder Futur (ich werde singen) bilden. Im
Adjektiv Numerus, Genus, Kasus, Komparation Gegensatz dazu spricht man von finiten Verben,
Nichtflektier- keine wenn die Verbformen Flexionsunterschiede hin-
bare sichtlich der eingangs genannten Merkmalskatego-
Wortarten rien signalisieren. Einfache finite Verben treten im
Tabelle 5: Wortarten und Flexionsmerkmale im Deutschen Deutschen in den synthetischen Tempusformen
Präsens und Präteritum auf. Die Infinitivendung
-en und die Partizipmorphologie werden generell
Ausdrucksmittel der Flexion: Die morphologischen auch den Flexionsendungen zugerechnet, da sie in
Mittel, von denen das Deutsche Gebrauch macht, komplementärer Distribution mit anderen Flexi-
um Flexionseigenschaften zu realisieren, umfas- onsendungen stehen (d. h., die Konjugationssuffixe
sen vor allem Suffixe (Kasus, Tempus, Kongruenz, können z. B. nicht an -en angehängt werden, vgl.
Numerus, Komparativ). Ein präfigales Bildungs- Altmann/Kemmerling 2000, S. 37). Für die flektier-
element (/g-/) tritt bei Partizipien auf, allerdings ten Verben des Deutschen gilt generell, dass an den
nur im Zusammenhang mit den Suffixen /-t/ Verbstamm zunächst die Tempusmarkierung und
(schwache Verben: ge-kauf-t) und /-n/ (starke anschließend die Kongruenzendung (signalisiert
Verben: ge-sung-en). Bei starken Verben ist zudem Person und Numerus des Subjekts) affigiert wer-
eine Änderung des Stammvokals zu beobachten, den (Verbstamm+Tempus+Kongruenz). Zusätz-
bei der ein Grundvokal durch einen anderen er- lich können Flexionsdistinktionen durch eine Ver-
setzt wird (Ablaut: ich spreche – ich sprach – ich änderungen des Stammvokals signalisiert werden
habe gesprochen). Vor allem bei der Pluralbildung (Ablaut). Abhängig von den morphologischen Mit-
von Nomen tritt eine andere Veränderung des teln, die zur Realisierung von Tempus und Modus
Stammvokals auf, bei der der Wurzelvokal durch herangezogen werden, unterscheidet man drei Fle-
einen entsprechenden Vordervokal (ä, ö, ü, äu) er- xionsklassen: schwache Verben, starke Verben
setzt wird (Umlaut: der Nagel, die Nägel; die Toch- und Suppletivformen (für detailliertere Übersich-
ter, die Töchter; zum synchronen Status von Um- ten, die weitere Teilklassen berücksichtigen vgl.
laut und Ablaut im Deutschen vgl. Wiese 1996). In Eisenberg 2006 und Duden 2006):
einigen Fällen treten auch Veränderungen auf, die

55
2.2
Grammatik
Morphologie

Schwache Verben: legen Starke Verben: singen Suppletivformen: sein 2.2.3.2 | Nominale Flexion
Präsens Präteritum Präsens Präteritum Präsens Präteritum
1. Sg. leg-e leg-te sing-e sang bin war Im Deutschen umfasst die nominale Flexion die
Merkmalskategorien Kasus, Numerus, Person (nur
2. Sg. leg-st leg-te-st sing-st sang-st bist war-st
bei Pronomen), Genus (nur bei Pronomen und Ad-
3. Sg. leg-t leg-te sing-t sang ist war
jektiven sichtbar markiert), sowie Komparation
1. Pl. leg-en leg-te-n sing-en sang-en sind war-en
(nur bei Adjektiven). Wie in vielen Sprachen si-
2. Pl. leg-t leg-te-t sing-t sang-t seid war-t gnalisieren die Pronominalformen die meisten Un-
3. Pl. leg-en leg-te-n sing-en sang-en sind war-en terscheidungen, während bei Substantiven und
auch Adjektiven eine Vielzahl von Formen zusam-
Tabelle 6: Schwache und starke Verben unterscheiden sich menfällt. Dabei kann man beobachten, dass nicht
Konjugationsklassen darin, dass nur in letzteren Flexionsunterschiede alle Substantive auf die gleiche Art flektiert wer-
im Deutschen durch Stammvokaländerung realisiert werden den. Abhängig von der Zahl und Art der jeweils
(Ablaut). Im Gegenwartsdeutschen ist nur die auftretenden Flexionsendungen unterscheidet man
schwache Flexionsklasse produktiv (vgl. Neubil- vier Hauptklassen der Substantivflexion im Deut-
dungen wie ich sims-e, ich sims-te, ich habe ge- schen (s. Tab. 7).
sims-t). Insgesamt existieren noch ca. 170 starke Starke und schwache Nomen: Anders als bei
Verben, von denen viele zum Grundwortschatz Verben ist die Unterscheidung zwischen starken
gehören und daher besonders häufig verwendet und schwachen Nomen nicht von dem Vorliegen
werden. einer Stammvokaländerung abhängig. Entschei-
Bei näherer Betrachtung der Paradigmen in Ta- dend ist lediglich die Stärke, d. h. relative Vielfäl-
belle 6 kann man feststellen, dass keine Eins-zu- tigkeit der auftretenden Endungen. Dabei gibt es
eins Zuordnung von (Wort-)Form und grammati- zwei entscheidende Kriterien:
scher Funktion vorliegt. Beispielsweise tritt die N Starke Nomen bilden den Genitiv Singular mit -s;
Form legt sowohl als 3. Person Singular (3. Sg.)als N Schwache Nomen weisen im Plural ausschließ-
auch als 2. Person Plural (2. Pl.) auf. Einen sol- lich die Endung -(e)n auf.
chen Zusammenfall verschiedener Wortformen Die sog. gemischte Deklination (wie z. B. bei
bzw. Zellen eines Paradigmas bezeichnet man als Ende oder Ohr) ist dadurch gekennzeichnet, dass
Synkretismus. Synkretismen treten oft in be- sie im Gegensatz zu allen anderen Flexionsklas-
stimmten Mustern auf, die für das Flexionssystem sen beide Kriterien in widersprüchlicher Art und
einer Sprache charakteristisch sind. So fallen im Weise erfüllt.
Deutschen in allen verbalen Flexionsklassen die Kasussynkretismus bei Nomen: Tabelle 7 zeigt
Formen für 1. Person Plural und 3. Person Plural außerdem, dass die Nominalparadigmen des Deut-
zusammen. In diesen Kontexten sind die Unter- schen von massivem Kasussynkretismus gekenn-
schiede hinsichtlich des Merkmals [Person] zeichnet sind. So gilt für praktisch alle Nomen,
neutralisiert; es findet sich nur eine Endung -en, dass Nominativ und Akkusativ in Singular und
die lediglich Numerus (Plural) signalisiert (ein Plural zusammenfallen (lediglich die schwachen
weiterer systematischer Synkretismus tritt im Zu- maskulinen Nomen weisen die Endung -en im Ak-
sammenhang von 1. Person Singular und 3. Per- kusativ Singular auf, die allerdings im Schwinden
son Singular im Präteritum auf). begriffen ist); bei den femininen Nomen wird le-
Zur Vertiefung diglich zwischen Singular und Plural unterschie-
den, d. h., es sind überhaupt keine Kasusunter-
Unterspezifikation scheidungen mehr sichtbar.
Bei der theoretischen Beschreibung von Synkretismen geht man oft davon aus, Pronomen: Im Vergleich dazu sind die Formen
dass die relevanten Flexionsaffixe für bestimmte morphosyntaktische Merkmale der Personalpronomen wesentlich aussagekräfti-
unterspezifiziert sind (also keine entsprechenden Merkmalwerte signalisieren). ger. Sie signalisieren nicht nur zusätzlich die
Der Begriff der Unterspezifikation drückt aus, dass es sich bei Synkretismen um Merkmale Person (1., 2., 3. Person) und Genus (in
eine fehlende Übereinstimmung (engl. mismatch) zwischen Syntax und Morpho- der 3. Person Singular: Maskulin, Feminin, Neu-
logie handelt, die dadurch zustandekommt, dass die Morphologie nur eine Teil- trum, abhängig von den relevanten Eigenschaften
menge der Merkmalsunterscheidungen realisiert/signalisiert, die in der Syntax des Substantivs, das vom Pronomen ersetzt wird),
repräsentiert sind (für entsprechende Analysen der deutschen Verbflexion vgl. sondern weisen auch eine wesentlich größere An-
Bierwisch 1961; Müller 2006). zahl von Kasusunterscheidungen auf (s. Tab. 8).

56
2.2
Grammatik
Wortbildung

I: Mask./Neut., stark II: Mask., schwach III: Mask./Neut., gemischt IV: Fem., schwach
Sg. Pl. Sg. Pl. Sg. Pl. Sg. Pl.
Nom. Berg Berg-e Hase Hase-n Ende Ende-n Frau Frau-en
Akk. Berg Berg-e Hase(-n) Hase-n Ende Ende-n Frau Frau-en Tabelle 7:
Flexionsklassen
Dat. Berg-(e) Berg-en Hase(-n) Hase-n Ende Ende-n Frau Frau-en
(Substantivflexion)
Gen. Berg-es Berg-e Hase-n Hase-n Ende-s Ende-n Frau Frau-en
des Deutschen

Synkretismen bei Pronomen: Daher spricht man 1. Person 2. Person 3. Person


im Zusammenhang mit Pronomen auch davon, Sg. Pl. Sg. Pl. Sg. Pl.
dass sie stark flektieren. Allerdings treten auch
Nom. ich wir du ihr er/sie/es sie
hier einige Synkretismen auf. So gibt es in der 3.
Person feminin nur eine einzige Form sie, die we- Akk. mich uns dich euch ihn/sie/es sie
der Numerus noch die Unterscheidung zwischen Dat. mir uns dir euch ihm/ihr/ihm ihnen
Nominativ und Akkusativ signalisiert (auch das
Gen. meiner unser deiner euer seiner/ihrer/seiner ihrer
Neutrum es unterscheidet nicht zwischen Nom.
und Akk.). Ferner fallen in der 1. und 2. Person
Plural Akkusativ und Dativ zusammen, und es lar feminin nicht zwischen Dativ und Genitiv un- Tabelle 8:
zeigt sich, dass im Plural generell keine Genus- terschieden wird – die gleichen Synkretismen auf, Personalpronomen
merkmale kodiert werden. Trotzdem können wir wie sie uns bereits bei den Personalpronomen der des Deutschen
festhalten, dass die Personalpronomen des Deut- 3. Person entgegengetreten sind (Bierwisch 1967;
schen wesentlich mehr morphosyntaktische Un- s. Tab. 9):
terscheidungen signalisieren als die Substantive.
Pronominale Flexion (Artikel): Bei Substantiven Maskulinum Neutrum Femininum Plural
werden Synkretismen zum Teil wieder dadurch Nom. dies-er dies-es dies-e dies-e
kompensiert, dass die entsprechenden Unterschei-
Akk. dies-en dies-es dies-e dies-e
dungen am Artikel, Demonstrativpronomen oder
Adjektiv markiert werden: Nom. der/dieser Hut vs. Dat. dies-em dies-em dies-er dies-en
Akk. den/diesen Hut bzw. Nom. ein alter Hut vs. Gen. dies-es dies-es dies-er dies-er
Akk. einen alten Hut. Diese Elemente fallen unter Tabelle 9: Pronominalflexion des Deutschen am Beispiel des Demonstrativpronomens dies-
die sog. pronominale Flexion und weisen interes-
santerweise – bis auf die Tatsache, dass im Singu-

Zur Vertiefung 2.2.4 | Wortbildung

Starke und schwache Adjektivflexion Bei der Wortbildung handelt es sich um die pro-
Das ohnehin recht komplexe System der pronomi- duktive Komponente der Morphologie, die es uns
nalen Flexion wird im Deutschen und anderen erlaubt, mithilfe einer endlichen Zahl von Wort-
germanischen Sprachen noch dadurch verkompli- bausteinen eine prinzipiell unendliche Zahl von
ziert, dass die Realisierung der Flexion am Adjek- (neuen) Wörtern zu erzeugen. Dies weist auf die
tiv abhängig ist vom syntaktischen Kontext. Die Existenz von strukturerzeugenden Regeln hin, die
Faustregel lautet dabei, dass das Adjektiv schwach die Verknüpfung von Morphemen steuern.
flektiert (d. h., weniger Unterscheidungen signali- Folgende Typen der Wortbildung finden sich im
siert), wenn die relevanten Unterscheidungen be- Deutschen:
reits am Artikel markiert werden, während es N die Derivation, d. h. die Bildung von Wörtern
stark flektiert, wenn die relevanten Merkmale durch die Kombination von Wörtern/Stämmen
nicht bereits am Artikel ausgedrückt werden: mit gebundenen Derivationsmorphemen wie
(3) a der alte Hut z. B. in Sinn+lich+keit;
b ein alter Hut N die Komposition, die traditionell definiert wird
c dem alten Hut als die Verknüpfung von Wörtern zu neuen
d mit altem Hut Wörtern (z. B. Donaudampfschifffahrtsgesell-
schaftskapitän);

57
2.2
Grammatik
Morphologie

N die sog. Konversion, bei der sich die Wortart suffixe nur mit einer einzigen Wortart verknüpft
(N[omen], V[erb], A[djektiv]) eines Elements werden können (vgl. die Diskussion von unkaputt-
ändert, ohne dass ein sichtbares Derivations- bar). Für alle Derivationsaffixe gilt, dass sie die
morphem vorhanden ist (die Infinitivendung Bedeutung der Basis, an die sie angehängt werden,
-en wird allgemein als Flexionsform aufgefasst (mehr oder weniger systematisch) verändern. So
und kann daher nicht die Wortart in Formen ist das Resultat der Suffigierung von -heit oder -keit
wie fisch-en bestimmen): stets ein (feminines) Nomen, das einen abstrakten
Begriff wie Einfachheit oder Heiterkeit bezeichnet.
(4) a N o V: Fisch, fisch-en; Nerv, nerv-en; Job, jobb-en; Bluff, Bildungselemente der Derivation: Die Tabel-
bluff-en len 10 und 11 geben einen Überblick über die Bil-
b V o N: laufen, Lauf; kicken, Kick; stauen, Stau dungselemente, die im Deutschen bei der Derivati-
c N o A: Schmuck, schmuck; Klasse, klasse; Elend, elend on beteiligt sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit;
d A o N: blau, (das) Blau; sein, (das) Sein; deutsch, (das) weitgehend unberücksichtigt bleiben z. B. nicht-
Deutsch native Elemente wie anti-, ex-, -iker, -ismus etc.;
vgl. Olsen 1986; Fleischer/Barz 1995; Altmann/
In der Forschung herrscht bislang noch keine Ei- Kemmerling 2000).
nigkeit darüber, ob die Konversion tatsächlich ei-
nen eigenständigen Wortbildungstyp darstellt oder Typ Präfixe Beispiele (Auswahl)
unter die Derivation subsumiert werden kann (un- VoV ge-, er-, ver-, be-, ge-winnen, er-warten,
ter der Annahme, dass bei den Bildungen in (4) ent-, zer-, miss-, ver-raten, be-raten,
ein wortartveränderndes Nullmorphem an die Ba- ab-, an-, über-, ent-binden, zer-reden,
auf-, unter-, nach-, miss-raten, ab-/an-/
sis affigiert wird, vgl. Olsen 1990). hinter-, durch-, über-/auf-/unter-/
um-, wider-/ nach-bauen
wieder-, voll-
2.2.4.1 | Derivation
NoN un-, ge-, be-, ur- Un-glück, Ge-flügel,
Für den Bereich der Derivation ist die Verwendung Be-hörde, Ur-sache
einer geschlossenen Klasse von gebundenen Mor- AoA un-, ge-, ur- un-schön, ge-mein,
phemen charakteristisch, die zur Wortbildung her- ur-alt
angezogen werden. Generell gilt, dass Derivations-
Tabelle 10: Derivationspräfixe (nativ) des Deutschen
morpheme an Wurzeln bzw. Stämme angehängt
(man sagt auch: affigiert) werden. Letztere kön-
nen dabei selbst komplex sein und bereits andere Produktivität: Dabei können wir beobachten, dass
Derivationsmorpheme enthalten, wie z. B. bei es Unterschiede hinsichtlich der Produktivität von
[Kind+lich]+keit. Ferner unterscheidet man für Wortbildungsprozessen gibt. Generell gilt, dass
Bildungselemente und das Deutsche zwischen Derivationspräfixen und nur solche Derivationsmorpheme als produktiv
strukturelle Eigenschaften Derivationssuffixen, die jeweils unterschiedliche bezeichnet werden, die in der Gegenwartssprache
Eigenschaften aufweisen. Insbesondere gilt, dass häufig zur Bildung neuer Wörter verwendet wer-
nur Derivationssuffixe wortartverändernd wirken den. So sind Neubildungen mit dem produktiven
(und z. B. auch das Genus des komplexen Worts Präfix un- sehr verbreitet (uncool, unkaputtbar
bestimmen, vgl. der Mann und die daraus abgelei- etc.), während das Element be- (wie in Be-hörde)
tete Diminutivform das Männchen), während De- nicht mehr zur Neubildung von Nomen herange-
rivationsspräfixe morphosyntaktische Eigenschaf- zogen wird und daher in diesem Bereich als un-
ten der Basis wie Wortart und Genus unberührt produktiv gilt (vgl. aber verbale Neubildungen wie
lassen. Dies kann durch die Annahme erfasst wer- be-eimern, be-simsen etc.). Letzteres betrifft auch
den, dass das Bildungselement, das die morpho- die Bildungen mit ge-, die zwar einigermaßen häu-
syntaktischen Eigenschaften des komplexen Worts fig sind, aber nicht mehr durch Neubildungen an-
bestimmt (der sog. Kopf), stets am rechten Rand gereichert werden:
des Ausdrucks erscheinen muss (sog. Right-Hand- N Verben: gelingen, gefallen, gedenken, geloben
Head-Rule, vgl. Di Sciullo/Williams 1987). Darü- N Nomen: Gebirge, Geäst, Gesträuch, Gebälk, Ge-
ber hinaus kann man beobachten, dass Deriva- büsch
tionspräfixe mit mehreren Arten von Basen N Adjektive: gesund, geschwind, geheim, geheuer
kompatibel sind (vgl. un+schön, Adjektiv, vs. Ein Ausnahme in doppelter Hinsicht sind jedoch
Un+glück, Nomen), während viele Derivations- Nomen, die durch Affigierung von ge- an Verben

58
2.2
Grammatik
Wortbildung

gebildet werden: Geplapper, Gelaber, Gehämmer, Typ Suffixe Beispiele (Auswahl)


Gehampel, Gebell; mit finalem Schwa: Gebrülle, N/V/A o V -er-(n), -el-(n), -ig-(en), mild-ern, blöd-eln, fest-igen, buchstab-
Gebelle, Geschluchze, Gehopse etc. Diese Bildun- -ier-(en), -isier-(en), ieren, krit-isieren, klass-ifizieren
gen sind zum einen in der Gegenwartssprache voll -ifizier-(en)
produktiv; zum anderen zeichnen sie sich schein- VoN -e, -ei, -el, -er/-ler/-ner, -nis, Bleib-e, Heuchel-ei, Deck-el, Lüg-ner,
bar dadurch aus, dass das Präfix in diesen Fällen -schaft, -sal/-sel, -t, -ung Ärger-nis, Machen-schaft, Rinn-sal,
Füll-sel, Fahr-t, Les-ung
ausnahmsweise wortartverändernd wirkt.
Derivation mittels Suffigierung: Derivations- AoN -heit/-keit/-igkeit, -nis, -ling, Heiter-keit, Falsch-heit, Genau-igkeit,
-i Finster-nis, Finster-ling, Soft-i
prozesse, die auf der Basis von Suffigierung ope-
rieren, sind im Deutschen weit verbreitet und ge- NoA -haft, -ig, -isch, -en/-ern, meister-haft, stein-ig, spieler-isch, blei-ern,
-lich, -los, -mäßig kind-lich, glück-los, sau-mäßig
hören zu den produktivsten Wortbildungstypen.
Adv o A -ig, -isch allein-ig, link-isch
Ein Blick auf die folgende Auswahl von Derivati-
onssuffixen lässt bereits wesentliche Unterschiede VoA -bar, -lich, -sam lös-bar, lös-lich, anschmieg-sam
zu der Klasse der Präfixe erkennen (für vollständi- A o Adv -ens, -lings, -weise, -s schnellst-ens, blind-lings, lächerlicher-
weise, bereit-s
gere Angaben vgl. Fleischer/Barz 1995; Altmann/
Kemmerling 2000): Derivationssuffixe können die N o Adv -weise, -wärts schritt-weise, seit-wärts
Wortart verändern (müssen es aber nicht, wie die VoV -el-(n), -er-(n) dräng-eln, blink-ern
unteren drei Zeilen von Tabelle 11 zeigen) und AoA -haft, -lich, -ig, -isch, -sam krank-haft, klein-lich, faul-ig, genial-isch,
sind gleichmäßiger auf die einzelnen Bildungs- satt-sam
klassen verteilt (während bei den Präfixen ein NoN -chen, -lein, -in, -er/-ler/-ner, Kind-chen, Männ-lein, Maler-in, Schäf-er,
-heit, -ling, -nis, -schaft, Kind-heit, Schreiber-ling, Bild-nis,
deutliches Übergewicht zugunsten der verbalen
-tum, -i Ärzte-schaft, Beamten-tum, Gruft-i
Derivation zu beobachten ist).
Auch hier können wir beobachten, dass nicht
alle genannten Bildungselemente in der Gegen- strukturen formal beschreiben lassen. Wir wissen Tabelle 11:
wartssprache in gleicher Weise produktiv sind. Be- aber bereits, dass Derivationssuffixe Wortart und Derivationssuffixe
sonders häufig sind z. B. Bildungen mithilfe des Genus eines Wortes bestimmen und außerdem Be- des Deutschen
Suffixes -er, das zur Ableitung agentivischer Nomen schränkungen unterliegen hinsichtlich der Basis,
(Säuf-er, Denk-er, Mal-er etc.) bzw. Nomen instru- an die sie angehängt werden können (so kann
menti (Weck-er, Kleb-er, Stap-ler etc.) aus Verben -ung nur an eine verbale Basis affigiert werden).
verwendet werden kann, oder Neubildungen auf Bei diesen Eigenschaften handelt es sich um lexi-
der Basis von -ung (Konkreta wie Schalt-ung oder kalische Eigenschaften der einzelnen Affixe, die im
Abstrakta wie Offenbar-ung). Unproduktiv ist hin- Lexikoneintrag eines Derivationsmorphems festge-
gegen das Suffix -t, das nur noch in ›fossilierter‹ halten werden. Hinzu kommen Informationen
Form in Wörtern wie Fahr-t auftritt. Eine Zwischen- über die Lautgestalt, Bedeutung und syntaktische
position nehmen Elemente wie -ei, -tum oder die Eigenschaften. So kann z. B. der Lexikoneintrag für
kaum noch produktiven Formen -sal/-sel ein. das Suffix -er wie folgt wiedergegeben werden
Morphologische Blockierung: Eine weitere Be- (Meibauer 2007, S. 42):
schränkung für Wortbildungsprozesse tritt in Fäl-
len wie *Stehler, *besen (in der Bedeutung ›fegen‹), Zur Vertiefung
*unoffen, *unlinks, *Großheit etc. zutage. Offenbar
kann eine potentiell mögliche Form nicht auf der Lexikoneintrag für das Suffix -er
Basis von Wortbildungsregeln erzeugt werden, PHON: /‫ܣ‬/
wenn das Lexikon bereits ein entsprechendes Wort MORPH: maskulin; ‡-Plural
mit gleicher Bedeutung enthält (im vorliegenden SYN: Naf; [V__ ]
Fall Dieb, fegen, geschlossen, rechts, Größe). In die- SEM: AGENS oder INSTRUMENT, das die V-Handlung ausführt
sem Zusammenhang spricht man auch davon, dass Dieser Lexikoneintrag besagt, dass es sich bei -er um ein nominales Affix (Naf)
die lexikalisierte Form eine synonyme Neubildung handelt, das eine verbale Basis als Ergänzung verlangt ([V__ ]). Das Resultat der
blockiert (vgl. Aronoff 1976; Werner 1995). Affigierung von -er ist dann ein maskulines Nomen, das seinen Plural durch
Lexikalische Eigenschaften von Derivationsmor- Nullsuffigierung (‡-Plural) bildet (der Denker, die Denker). Darüber hinaus wird
phemen: Bisher haben wir noch nicht die Frage auch die Bedeutung des so gebildeten Nomens festgelegt (zugehörig zur Klasse
behandelt, wie sich die unterschiedlichen Eigen- der Nomen agentis bzw. Nomen instrumenti; vgl. Meibauer 1995 für weitere
schaften von Derivationsaffixen sowie die damit Möglichkeiten).
einhergehenden Wortbildungsregeln bzw. Wort-

59
2.2
Grammatik
Morphologie

Der relevante Wortbildungsprozess kann nun (6) a [[[ver+änder]+lich]+keit]


durch eine Regel der Art N o V + Naf beschrieben b N
werden, die das Suffix -er mit einer verbalen Basis
(hier: denk-) verknüpft. Auf diese Weise entsteht
ein komplexes Wort (das Nomen Denker), dessen
Aufbau durch die Baumstruktur in (5) dargestellt A
Naf
werden kann:

(5) N
V A af

V Naf
Präf V
denk- -er

ver- änder -lich -keit


Hierarchische Wortstruktur: Die Verzweigungen
einer Baumstruktur werden auch Knoten genannt.
Sie werden gängigerweise mit Symbolen markiert, derlichkeit) keine korrekten Bildungen sind.
die die syntaktische Kategorie eines Elements si- Schließlich bilden wir durch die Hinzufügung von
gnalisieren. Der höchste Knoten des Baumes re- -keit ein abstraktes Nomen. Die vorliegende Struk-
präsentiert das gesamte Wort. Die Struktur in (5) tur zeigt uns ferner, dass in jeder Teilstruktur der
zeigt an, dass das Affix -er die syntaktische Kate- Kopf jeweils rechts steht und dass der hierarchisch
gorie des gesamten komplexen Worts (im vorlie- höchste rechte Kopf den Charakter des gesamten
genden Fall: N(omen)) determiniert, indem es sein komplexen Worts bestimmt.
Kategorienmerkmal ([N]) an den höchsten Knoten
des Baums vererbt. In diesem Zusammenhang
2.2.4.2 | Komposition
spricht man auch davon, dass das Suffix der Kopf
der komplexen Struktur ist. Der Kopf bestimmt Wie bereits oben erwähnt, werden Wörter, die
nicht nur die Wortart, sondern auch morphologi- mehrere lexikalische Wurzeln enthalten, als Kom-
sche Eigenschaften (Genus, Pluralbildung) und die posita bezeichnet. Für das Deutsche können wir
Grundbedeutung des Ausdrucks. In der Morpholo- beobachten, dass auch für Komposita die Right-
gie geht man ferner davon aus, dass sich der Kopf Hand-Head-Rule gilt, d. h., die Wortart (sowie Ge-
stets am rechten Rand der Wortstruktur befinden nus und Numerus) von Komposita wird stets
muss (Right-Hand-Head-Rule, s. o.). Vor dem Hin- durch das letzte Teilglied bestimmt, das somit den
tergrund dieser Strukturhypothesen können wir Kopf des Kompositums bildet (in den romanischen
Struktur nun auch komplexere Wörter analysieren. Wenn Sprachen treten allerdings auch ›linksköpfige‹
komplexer Wörter wir z. B. das Wort Veränderlichkeit näher betrach- Komposita auf, z. B. ital. capostazione ›Bahnhofs-
ten, können wir feststellen, dass bestimmte Be- vorsteher‹, span. lava platos ›Tellerwäscher‹):
standteile enger zusammengehören als andere. So
bilden [lich+keit] sicherlich keine Teilstruktur des (7) a N+N: Arm+leuchter, Brand+mauer, Draht+zieher,
Worts; ebenso wenig scheinen *änderlich bzw. Segel+boot, Wasser+stand
*Änderlichkeit wohlgeformte Wörter des Deut- b A+N: Rot+wein, Groß+küche, Dumm+kopf,
schen zu sein. Diese Einsichten lassen sich wie in Heiß+sporn
(6) durch Klammerung oder ein Baumdiagramm c V+N: Lauf+band, Web+stuhl, Renn+strecke
darstellen.
(8) a A+A: schwarz+blau, alt+klug, rutsch+fest
Diese Baumstruktur spiegelt die Ableitungsge-
b N+A: feuer+sicher, sprung+freudig, sattel+fest
schichte des komplexen Worts Veränderlichkeit
c V+A: red+selig, spring+freudig, lauf+müde
wider: Zunächst wird die verbale Basis änder mit
dem Präfix ver- verknüpft. Erst danach verbindet (9) a V+V: fahren+lassen, kennen+lernen, stehen+bleiben
sich das adjektivbildende Suffix -lich mit der beste- b N+V: preis+kegeln, bau+sparen, rad+fahren
henden Struktur. Auf diese Weise kann repräsen- c A+V: fest-sitzen, los+lassen, schwarz+malen
tiert werden, dass änderlich (und somit auch *Än-

60
2.2
Grammatik
Wortbildung

Traditionell werden Komposita als Kombinationen Possessivkomposita benennen insbesondere Lebe-


aus mehreren wortfähigen Elementen definiert. wesen nach einer charakteristischen (sichtbaren) Typen von Komposita
Beispiele wie Rühr+gerät (vs. *Rührengerät bzw. Eigenschaft, vgl. (10a). Dabei stehen Erst- und
*Rührtgerät) oder Fahr+stuhl zeigen jedoch, dass Zweitglied mitunter auch in einer metaphorischen
die Bausteine der Komposition auch kleiner als ein Beziehung, vgl. (10b):
Wort sein können. Für das Deutsche scheint es da-
her zutreffender, die Komposition als Verknüpfung (10) a Rotkehlchen, Schwarzwurzel, Plattkopf, Hinkefuß, Lang-
von Stämmen zu charakterisieren (Grewendorf/ ohr
Hamm/Sternefeld 1987, S. 264). Dies erfasst auch b Dickkopf ›starrköpfiger Mensch‹, Langfinger ›Dieb‹, Plap-
die bekannte Generalisierung, dass die Erstglieder permaul ›geschwätziger Mensch‹, Hasenfuß ›ängstlicher
von Komposita nicht flektiert werden können – Mensch‹
nur das gesamte Kompositum kann Gegenstand
von Flexionsregeln sein (vgl. engl. truckdriver – Neben Determinativkomposita existieren noch an-
*trucksdriver – truckdrivers). Je nach der syntakti- dere Bildungsvarianten, die der Komposition zuge-
schen Kategorie der kombinierten Elemente und rechnet werden.
der (semantischen/syntaktischen) Beziehung, die Kopulativkomposita: Zum einen sind hier Wort-
zwischen Erst- und Zweitglied eines Komposi- schöpfungen zu nennen, die sich dadurch aus-
tums besteht, lassen sich verschiedene Typen von zeichnen, dass Erst- und Zweitglied nicht in einer
Komposita unterscheiden (vgl. Eisenberg 2006, Modifizierer-Grundwort Beziehung stehen, son-
S. 226 ff.; Duden 2006). dern eher in einer symmetrischen Relation zuein-
Determinativkomposita sind der häufigste ander stehen und gleichberechtigt einen Beitrag
Kompositionstyp im Deutschen. Bei einem Deter- zur Gesamtbedeutung des Kompositums leisten.
minativkompositum wie Apfelwein legt das Zweit- Relevante Beispiele sind schwarzweiß, süßsauer,
glied die Grundbedeutung des Kompositums fest, Spieler-Trainer oder Dichterkomponist (Altmann/
die dann durch das Erstglied näher bestimmt/ein- Kemmerling 2000, S. 32 f.).
geschränkt und modifiziert wird. So handelt es
sich bei Apfelwein um eine spezielle Art von Wein. Zur Vertiefung
Durch die Wahl anderer Erstglieder ergeben sich
andere semantische Einschränkungen bzw. Teil- Fugenmorpheme
klassen von Wein wie z. B. Beerenwein, Billigwein, Bei vielen Komposita kann man beobachten, dass nach dem Erstglied ein sog.
Brandwein, Kirschwein, Altwein etc. Oft lässt sich Fugenmorphem eingeschoben wird:
die Bedeutung von Komposita allerdings nicht re-
gelmäßig auf der Basis der Bedeutung der Einzel- (11) a Frühlingsanfang, *Frühlinganfang
komponenten, sondern nur anhand des Äuße- B Tagestour, *Tagtour; aber: Tagtraum, *Tagestraum
rungskontexts erschließen (Grewendorf/Hamm/ c Verkaufserfolg, *Verkauferfolg; aber: Kaufvertrag, *Kaufsvertrag
Sternefeld 1987, S. 267): Sonnenschutz (Schutz vor
Sonne), aber Arbeitsschutz (nicht: Schutz vor Ar- Solche morphologischen ›Verbindungsstücke‹ treten zwar auch in der Derivation
beit). Abhängig von der Art der semantischen Be- auf (vgl. ahnung-s-los, sage-n-haft, Volk-s-tum); sie sind aber besonders häufig
ziehung, die zwischen Erst- und Zweitglied des bei Komposita vom Typ N+N. Hier wird allgemein angenommen, dass sich die
Kompositums vorliegt, unterscheidet man weitere Fugenelemente historisch aus den Flexionsendungen vorangestellter Genitivattri-
Untertypen von Determinativkomposita: bute herausgebildet haben, die als Bestandteil von Komposita reanalysiert wur-
Rektionskomposita wie Autoverkäufer, Gitar- den (vgl. frnhd. hymels thron o nhd. Himmelsthron). Heute kommt den Fugen-
renbauer oder Hausdurchsuchung zeichnen sich elementen aber keine Flexionsfunktion mehr zu (vgl. Fuhrhop 1996; Gallmann
dadurch aus, 1998). So signalisiert das Element -er- in Hühnerei keine Mehrzahl (es handelt
N dass das Zweitglied aus einem Verb abgeleitet sich nicht um das Ei mehrerer Hühner); genauso wenig handelt es sich bei dem
ist (d. h., es handelt sich um deverbale Nomen -es- in Freundeskreis um eine Genitiv Singular Endung (zu einem Freundeskreis
wie Verkäufer m verkaufen) und gehören mehrere Freunde; vgl. Meibauer 2007, S. 50). Die Setzung von Fugen-
N dass das semantische Verhältnis zwischen Erst- morphemen unterliegt regionaler und z. T. sprecherabhängiger Variation. So fin-
und Zweitglied dem Verhältnis zwischen dem den sich oft koexistierende Varianten mit bzw. ohne Fugenelement (Merkmal-s-
entsprechenden Verb und seiner Ergänzung/ bündel vs. Merkmal-bündel; Zugunglück vs. Zug-s-unglück [in österreichischen
seinem Objekt entspricht (Autoverkäufer = ›je- Varietäten]).
mand, der Autos verkauft‹).

61
2.2
Grammatik
Morphologie

Phrasenkomposita: Eine gänzlich andere Bil- Akzentzuweisung in Komposita: Bei Determina-


dungsvariante stellen Wörter wie Stelldichein, tivkomposita vom Typ A+B fällt der Wortakzent
Rundum-Sorglos-Paket oder Alles-was-das-Herz-be- (d. h. die lautliche Hervorhebung einer Silbe) in
gehrt-Shop dar. Während die bislang diskutierten der Regel auf die Hauptakzentstelle des modifizie-
Komposita durch die Kombination von (nomina- renden Elements A: Fuß+Ball = Fußball. Der
len) Stämmen zustandekamen, scheinen Phrasen- Hauptakzent kann allerdings auch auf B fallen,
komposita aus Elementen zu bestehen, die selbst wenn B selbst wiederum komplex ist (d. h., in
syntaktisch komplex sind. Dies wirft die Frage auf, zwei (oder mehr Bestandteile) verzweigt): Fußball
wie ein Wort Bestandteile enthalten kann, die of- +Weltmeisterschaft = Fußballweltmeisterschaft
fensichtlich phrasalen Charakter besitzen. Eine (vgl. Hoffmann 1995; Altmann/Kemmerling 2000).
mögliche Antwort besteht darin, anzunehmen, Komposita und Lexikon: Man geht davon aus,
dass keine strikte Trennung zwischen Wortbildung dass Komposita wie in (12) zunächst spontan mit-
und Syntax möglich ist und dass Komposita gene- hilfe von Wortbildungsregeln wie N o N +N ge-
rell in der syntaktischen Komponente der Gramma- bildet werden. Wenn das Kompositum in der Spre-
tik gebildet werden (Lieber 1992; für andere Auf- chergemeinschaft akzeptiert wird und Verbreitung
fassungen vgl. Höhle 1982 und Meibauer 2003). findet, dann spricht man auch von gängigen bzw.
Struktur von Komposita: Auch für Komposita gilt, usuellen Bildungen. Für gängige Bildungen wie
dass sie eine hierarchische Struktur aufweisen, die Fußballweltmeisterschaft geht man in der Regel da-
wir durch Klammerung (oder ein entsprechendes von aus, dass sie vollständig im Lexikon gespei-
Baumdiagramm) veranschaulichen können. So gilt chert werden, obwohl sie weiterhin eine transpa-
für das komplexe Kompositum Fußballweltmeister- rente Struktur aufweisen. Zuweilen finden sich
schaftsendspiel, dass es zwar die (selbst wiederum aber auch Komposita, bei denen die Bedeutung
komplexen) Bestandteile Fußball, Weltmeisterschaft der Einzelkomponenten nicht mehr erkennbar ist,
und Endspiel enthält, nicht aber die Elemente Fuß- weil das entsprechende Lexem nur in diesem ei-
ballwelt, Ballwelt, Meisterschaftsend(e) etc. Dies nen Kontext überlebt hat. Hier spricht man auch
können wir wie folgt repräsentieren: von sog. unikalen Morphemen wie z. B. in
Brom+beere, Him+beere, Schorn+stein (brom
(12) [[[Fuß+Ball]+[Welt+[Meister+schaft]]]+[End+spiel]] von mhd. bram(e) ›Ginster‹; him- von mhd. hinde
›Hirschkuh‹; Schorn- von ahd. scor ›Strebe, Stütze‹
Der Kopf eines Kompositums steht dabei stets am bzw. scorren ›herausragen‹, vgl. Grewendorf/
rechten Rand des komplexen Worts (im vorliegen- Hamm/Sternefeld 1987, S. 268).
den Beispiel dementsprechend Spiel bzw. das
Kompositum Endspiel).

Literatur
Altmann, Hans/Kemmerling, Silke (2000): Wortbildung Fuhrhop, Nanna (1996): »Fugenelemente«. In: Ewald Lang/
fürs Examen. Wiesbaden. Gisela Zifonun (Hg.): Deutsch – typologisch. Berlin/New
Aronoff, Mark (1976): Word Formation in Generative York, S. 525–550.
Grammar. Cambridge, Mass. Gallmann, Peter (1991): »Wort, Lexem und Lemma«. In:
Bierwisch, Manfred (1961): Zur Morphologie des deutschen Gerhard Augst/Burkhard Schaeder (Hg.): Rechtschreib-
Verbalsystems. Diss. Karl-Marx-Universität Leipzig. wörterbücher in der Diskussion. Geschichte – Analyse –
– (1967): »Syntactic Features in Morphology: General Perspektiven. Frankfurt a. M., S. 261–280.
Problems of So-called Pronominal Inflection in – (1998): »Fugenmorpheme als Nicht-Kasus-Suffixe«. In:
German«. In: To Honor Roman Jakobson: Essays on the Matthias Butt/Nanna Fuhrhop (Hg.): Variation und
Occasion of His Seventieth Birthday. Den Haag, Stabilität in der Wortstruktur. Hildesheim, S. 177–190.
S. 239–270. Grewendorf, Günther/Hamm, Fritz/Sternefeld, Wolfgang
D’Anna, Catherine/Zechmeister, Eugene B./Hall, James W. (1987): Sprachliches Wissen. Eine Einführung in moderne
(1991): »Toward a Meaningful Definition of Vocabulary Theorien der grammatischen Beschreibung. Frankfurt
Size«. In: Journal of Literacy Research 23, S. 109–122. a. M.
Di Sciullo, Anna Maria/Williams, Edwin (1987): On the Harley, Heidi/Noyer, Rolf (1999): »State-of-the-article:
Definition of Word. Cambridge, Mass. Distributed Morphology«. In: Glot International 4/4,
Duden. Die Grammatik (2006). Mannheim. 3–9.
Eisenberg, Peter (32006): Grundriss der deutschen Hoffmann, Ludger (1995): »Zur Position des Wortakzents
Grammatik, Bd. 1: Das Wort. Stuttgart/Weimar. im Deutschen«. In: José Cajot/Ludger Kremer/
Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der Hermann Niebaum (Hg.): Lingua Theodisca. Beiträge
deutschen Gegenwartssprache. Tübingen.

62
2.2
Grammatik
Literatur

zur Sprach- und Literaturwissenschaft. Jan Goossens Müller, Gereon (2006): »Subanalyse verbaler Flexionsmar-
zum 65. Geburtstag. Hamburg/Münster, S. 775–785. ker«. In: Eva Breindl/Lutz Gunkel/Bruno Strecker (Hg.):
Höhle, Tilman (1982): »Über Derivation und Komposition. Grammatische Untersuchungen, Analysen und
Zur Konstituentenstruktur von Wortbildungsproduk- Reflexionen. Festschrift für Gisela Zifonun. Tübingen,
ten im Deutschen«. In: Zeitschrift für Sprachwissen- S. 183–203.
schaft 1, S. 76–112. Olsen, Sue (1986): Wortbildung im Deutschen. Eine
Lieber, Rochelle (1992): Deconstructing Morphology: Word Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart.
Formation in Syntactic Theory. Chicago. – (1990): »Konversion als kombinatorischer Wortbildungs-
Matthews, P. H. (21991): Morphology. Cambridge. prozess«. In: Linguistische Berichte 127, S. 185–216.
Meibauer, Jörg (1995): »Wortbildung und Kognition. Spencer, Andrew (1991): Morphological Theory. An
Überlegungen zum deutschen -er-Suffix«. In: Deutsche Introduction to Word Structure in Generative Grammar.
Sprache 23, S. 97–123. Oxford.
– (2003): »Phrasenkomposita zwischen Wortsyntax und Werner, Anja (1995): »Blockierungsphänomene in der
Lexikon«. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 22/2, Wortbildung«. In: Papiere zur Linguistik 52, S. 43–65.
S. 153–188. Wiese, Richard (1996): »Morphological vs. Phonological
– (22007): »Lexikon und Morphologie«. In: Ders. u. a.: Rules: on German Umlaut and Ablaut«. In: Journal of
Einführung in die germanistische Linguistik. Stuttgart/ Linguistics 32, S. 113–135.
Weimar, S. 15–69. Wurzel, Wolfgang (1984): Flexionsmorphologie und
Natürlichkeit. Berlin.

Eric Fuß

63
2.3
Grammatik
Syntax

2.3 | Syntax
2.3.1 | Einleitung Substitutionstest ist der Proformentest. Hierbei
wird eine ganze Konstituente z. B. durch ein
Nachdem wir uns mit den Lauten und den Wörtern Pronomen oder ein Pronominaladverb (darun-
in der Sprache beschäftigt haben, kommen wir nun ter, dahin usw.) ersetzt:
zu größeren sprachlichen Einheiten: den Sätzen.
(3) Berta schüttet [ihrem geliebten Papagei] etwas Vogelfutter
Definition in den Käfig.
Berta schüttet [ihm] etwas Vogelfutter in den Käfig.
Die Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die
Sätze, deren Aufbau und Eigenschaften Auch syntaktische Regeln beziehen sich auf Kon-
untersucht, heißt   Syntax. stituenten, nicht einfach auf Einzelwörter. Eine
syntaktische Regel des Deutschen besagt beispiels-
weise, dass in einem Aussagesatz (Deklarativsatz)
Auf den ersten Blick bestehen Sätze einfach aus das finite Verb üblicherweise an zweiter Stelle
einer Kette von Wörtern. Bei genauerer Betrach- steht (s. dazu II.2.3.3.2). Damit ist jedoch nicht
tung stellt man jedoch schnell fest, dass in einem einfach das zweite Wort gemeint, wie folgende
Satz bestimmte Wörter voneinander abhängen Sätze illustrieren (ein Stern kennzeichnet ungram-
(Dependenz) bzw. enger zusammen gehören und matische Sätze):
sog. Konstituenten bilden (Konstituenz). Der
Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein hat diese (4) a [Berta] schüttet ihrem geliebten Papagei etwas Vogelfutter
grundlegende Einsicht folgendermaßen formuliert: in den Käfig.
»Ein Satz ist kein Wörtergemisch.« Welche Wörter b *[Ihrem] schüttet geliebten Papagei Berta etwas Vogelfut-
zusammen eine syntaktische Konstituente bilden, ter in den Käfig.
kann man mithilfe verschiedener Konstituen- c [Ihrem geliebten Papagei] schüttet Berta etwas Vogelfutter
tentests ermitteln. in den Käfig.
Konstituententests N Beim Interrogationstest oder Fragetest erfragt
man mit Ergänzungs- oder W-Fragen (Wer?, Die Annahme, dass ein Satz nicht eine bloße Wör-
Was?, Wem?, Wann?, Wo?, Wohin? usw.) ein- terkette ist, erklärt auch Mehrdeutigkeiten (Ambi-
zelne Konstituenten: guitäten) von Sätzen (s. Kap. II.3.4.4). So kann bei-
spielsweise der Satz Berta hat den Mann mit dem
(1) Berta schüttet ihrem geliebten Papagei etwas Vogelfutter in Fernglas gesehen auf zwei Arten verstanden wer-
den Käfig. den: (i) ›Berta benutzte ein Fernglas zur Beobach-
Wem schüttet Berta etwas Vogelfutter in den Käfig? – [ih- tung des Mannes‹ oder (ii) ›Der Mann, den Berta
rem geliebten Papagei] beobachtete, hatte ein Fernglas dabei‹. Wenn alle
Wohin schüttet Berta ihrem geliebten Papagei etwas Vogel- Wörter einfach gleichberechtigt nebeneinander
futter? – [in den Käfig] ständen wie in (5), könnte man dies nicht erfas-
usw. sen. Die Annahme unterschiedlicher möglicher
Konstituentengrenzen wie in (6 a) und (b) erklärt
N Der Rangiertest, auch Verschiebeprobe ge- dagegen, wie es zu den beiden Lesarten kommt.
nannt, macht sich die Tatsache zunutze, dass
Wörter, die Konstituenten bilden, zusammen (5) [Berta] [hat] [den] [Mann] [mit] [dem] [Fernglas] [gese-
im Satz bewegt werden können: hen].
(6) a [Berta] [hat] [den Mann] [mit dem Fernglas] [gesehen].
(2) [Ihrem geliebten Papagei] schüttet Berta etwas Vogelfutter (= Lesart i)
in den Käfig. b [Berta] [hat] [den Mann mit dem Fernglas] [gesehen].
Etwas Vogelfutter schüttet Berta [ihrem geliebten Papagei] (= Lesart ii)
in den Käfig.
Hier ist also wiederum die Konstituenz und damit
N Beim Substitutionstest oder Ersatztest werden die hierarchische Satzstruktur entscheidend, um
Konstituenten durch einen anderen sprachli- die beobachteten sprachlichen Phänomene richtig
chen Ausdruck ersetzt. Eine besondere Art des zu erfassen.

64
2.3
Grammatik
Satzgliedbau

2.3.2 | Satzgliedbau N Adverbphrasen (AdvP), also Konstituenten,


deren Kopf ein Adverb (Adv) ist, vgl. (9).
N Präpositionalphrasen (PP), also Konstituen-
2.3.2.1 | Satzglieder
ten, deren Kopf eine Präposition (P) ist, vgl. (10).
Im Folgenden betrachten wir die Konstituenten Man nimmt an, dass die Präposition (und nicht
und ihren Aufbau genauer. Ein Satz besteht in der etwa das Nomen) der Kopf ist, weil sie die gram-
Regel aus einem oder mehreren Satzgliedern und matischen und semantischen Eigenschaften der
dem Prädikat. ganzen Phrase wesentlich bestimmt. Durch die vo-
rangehende Präposition kann eine Präpositional- Klassifikation
Definition phrase beispielsweise im Unterschied zu Nominal- der Satzglieder
phrasen nicht als Subjekt verwendet werden.
Konstituenten, die sich gesamthaft vor das Semantisch gesehen, bezeichnet eine Präpositio-
finite Verb im Aussagesatz verschieben las- nalphrase auch keinen Gegenstand o. Ä. So ist in
sen, nennt man   Satzglieder. den Käfig in (10) z. B. keine Art von Käfig. Statt-
Unter dem   Prädikat versteht man in der dessen kann eine PP je nach Präposition etwa eine
Syntax alle zusammengehörigen verbalen Richtung wie in (10), einen Ort o. Ä. bezeichnen.
Teile im Satz, also das finite Verb sowie ggf.
infinite Verben oder auch eine Verbpartikel. (7) [NPnom Berta] mag [NPakk ihren bunten Papagei].
(8) Bertas Papagei ist [AP sehr schlau].
(9) Bertas Papagei krächzt [AdvP sehr oft].
Durch die Probe des Verschiebens vor das finite (10) Berta schüttet ihrem geliebten Papagei etwas Vogelfutter
Verb im Aussagesatz ermittelt man, wie viele Wör- [PP in den Käfig].
ter jedes Satzglied umfasst, also den Umfang der
Satzglieder. Satzglieder bestehen aus einem syn- 2. Nach der syntaktischen Funktion werden unter-
taktischen Kopf (manchmal auch Kern genannt) schieden:
und ggf. aus weiteren Konstituenten, den Glied- N Subjekt: in der Regel eine NP im Nominativ
teilen. wie in (11), die mit »Wer oder was?« erfragt
werden kann.
Definition N Objekte: meist ebenfalls Nominalphrasen, aber
in anderen Kasus. Man unterscheidet daher auch
Der   Kopf bestimmt wesentlich die gram- Akkusativobjekte vgl. (12a), Dativobjekte und
matischen und semantischen Merkmale der (im heutigen Deutschen eher seltene) Genitivob-
ganzen Konstituente. Man sagt auch, der jekte. Manchmal kommen Objekte aber auch in
Kopf projiziert, d. h. er gibt seine Merkmale der Form von Präpositionalphrasen vor. Man
an die Gesamtphrase weiter. nennt diese Präpositionalobjekte vgl. (12b).
N Prädikative: Satzglieder, die von einem Verb
oder einem Adjektiv und gleichzeitig vom Sub-
Satzglieder können nach verschiedenen Kriterien jekt oder Objekt abhängen, vgl. (13). Falls das
klassifiziert werden: Prädikativ eine NP ist, stimmt es im Kasus mit
der Bezugs-NP überein (s. 2.3.3.3). Prädikative
1. Nach der Wortart des Kopfes (zu den Wortarten können aber auch in Form anderer Phrasen auf-
s. Kap. II.2.2.3) unterscheidet man: treten, z. B. als Adjektivphrasen.
N Nominalphrasen (NP), also Konstituenten, de- N Adverbiale: Satzglieder, die Ort, Richtung, Zeit,
ren Kopf ein Substantiv/Nomen (N) ist. Aber auch Art, Ursache o. Ä. angeben. Man kann sie ent-
Pronomen, z. B. Personalpronomen, Relativprono- sprechend semantisch als Lokal-, Direktional-,
men usw. können Nominalphrasen bilden. Die Temporal-, Modal-, Kausaladverbiale usw. unter-
Nominalphrasen treten in verschiedenen Kasus klassifizieren. Adverbiale können in Form ganz
auf: im Nominativ, Genitiv, Dativ oder Akkusativ verschiedener Phrasen auftreten: als PPs wie in
(s. u.). In (7) sind die Nominalphrasen mit ihren (14a), NPs wie in (14b), APs, AdvPs usw.
Kasus gekennzeichnet. Der Kopf der Phrase ist je-
weils fett markiert. (11) [Bertas Papagei] krächzt sehr laut. (Subjekt)
N Adjektivphrasen (AP), also Konstituenten, de- (12) a Berta mag [ihren bunten Papagei]. (Akkusativobjekt)
ren Kopf ein Adjektiv (A) ist wie in (8). b Berta denkt oft [an ihren Papagei]. (Präpositionalobjekt)

65
2.3
Grammatik
Syntax

(13) Bertas Papagei ist nicht mehr [der Jüngste]. In (15) sieht z. B. das Verb denken zwei Ergänzun-
(Prädikativ zum Subjekt) gen vor: ein Subjekt und ein (Präpositional-)Ob-
(14) a Berta schüttet ihrem geliebten Papagei etwas Vogelfutter jekt. Das Adverbial ist dagegen frei hinzugefügt
[in den Käfig]. (Adverbiale, direktional) und nicht vom Verb gefordert.
b [Jeden Dienstag] geht Berta Vogelfutter kaufen.
(Adverbiale, temporal) (15) [Berta] denkt [oft] [an ihren Papagei].
(Ergänzung) (Angabe) (Ergänzung)
3. Nach der Valenz des Verbs können Satzglieder (16) a Berta geht (zur Zoohandlung)
ebenfalls klassifiziert werden. Sie können vom (nicht-obligatorische Ergänzung)
Prädikat des Satzes vorgesehen bzw. gefordert sein b Berta wohnt *(in Dresden) (obligatorische Ergänzung)
oder nicht. Man spricht hier von der Valenz des
Verbs. Satzglieder sind entsprechend valenznot-
2.3.2.2 | Phrasenstrukturen
wendig oder nicht. Intransitive (oder einwertige)
Verben haben beispielsweise nur ein Subjekt bei Innerhalb eines Satzes bilden nicht nur die Satz-
sich, transitive (oder zweiwertige) dagegen auch glieder Konstituenten. Syntaktische Strukturen
ein Objekt, ditransitive (oder dreiwertige) Verben sind – wie beispielsweise auch morphologische
haben zwei Objekte. Manche Verben wie z. B. woh- Strukturen – rekursiv. Eine syntaktische Phrase
nen fordern auch ein Adverbial z. B. eine PP wie in kann die gleiche Art von Phrase wiederum als Kon-
Dresden. Statt von der Valenz des Verbs spricht stituente enthalten. So enthält beispielsweise das
man auch von der Argumentstruktur. Man sagt, Satzglied Bertas Papagei, das insgesamt eine NP
das Verb selegiert oder subkategorisiert bestimmte mit dem Kopfnomen Papagei ist, außer dem Kopf
Satzglieder – seine Argumente. Man kann Satzglie- wiederum eine NP mit dem Kopfnomen Bertas (als
der daher auch klassifizieren als sog. Gliedteil mit der Funktion eines Attributs, s. u.).
N Ergänzungen (oder Argumente/Komplemente):
Satzglieder, die vom Verb vorgesehen sind. Bei (17) [NP [NP [N Bertas]] [N Papagei]]
den Ergänzungen gibt es wiederum obligatori-
sche, die explizit im Satz stehen müssen, und Wie wir sehen werden (s. II.2.3.3.3.), können auch
nicht-obligatorische, die auch weglassbar sind, die Satzglieder selbst wiederum Teil von größeren
ohne dass der Satz ungrammatisch wird vgl. Konstituenten sein. Ein Satz hat also eine unter
(16a) vs. (b). (Der Stern vor der runden Klam- Umständen recht komplexe Konstituenten- oder
mer bedeutet, dass der Satz ungrammatisch Phrasenstruktur, wobei jede Phrase endozentrisch
wird, wenn man die eingeklammerte Konstitu- ist, d. h. wieder ein Element als Kopf hat (Kopf-
ente weglässt.) prinzip). Syntaktische Strukturen lassen sich gut
N Angaben (oder Adjunkte): Satzglieder, die vom mit verzweigenden Grafiken veranschaulichen,
Verb nicht gefordert sind. ähnlich wie wir sie bereits in der Morphologie ken-
nengelernt haben (s. Kap. II.2.2.4.1). Man nennt

Beispiel Vorgehen bei der Bestimmung der Satzglieder


N Prädikat bestimmen N Satzglieder nach der syntaktischen Funktion
N Umfang der Satzglieder bestimmen bestimmen
N Satzglieder nach der Wortart des Kopfes be- N Satzglieder nach der Valenz bestimmen
stimmen

Umfang [Täglich] gibt [Berta] [ihrem geliebten Papagei] [frisches Trinkwasser]


Prädikat
Phrase (nach Wort- AP NPnom NPdat NPakk
art des Kopfes)
syntaktische Adverbiale Subjekt (indirektes / Dativ-) (direktes / Akkusativ-)
Funktion (temporal) Objekt Objekt
Valenz Angabe Ergänzung Ergänzung Ergänzung

66
2.3
Grammatik
Satzgliedbau

Zur Vertiefung

Syntax und Semantik: Argumentstruktur und thematische Rollen


Die Argumentstruktur ist Teil der im Lexikon gespeicherten Information, also des Lexikoneintrags des entspre-
chenden Wortes (s. Kap. II.2.2.2.1). Dort ist neben der Anzahl auch die Form der Argumente festgelegt. Das
Verb bekommen hat beispielsweise drei Argumente. Die ersten beiden haben die Form von NPs, das dritte
(optionale) die einer PP. Neben der Anzahl und Form der Argumente ist zudem für jedes Argument eine seman-
tische oder thematische Rolle (Theta-Rolle/T-Rolle) festgelegt, z. B.:
N Agens: Derjenige, der die Handlung ausführt oder verursacht.
N Thema/Patiens: Der-/dasjenige, das von der Handlung betroffen ist, z. B. seinen Zustand oder seinen Ort
wechselt.
N Experiencer: Derjenige, der etwas empfindet, sich etwas bewusst ist usw.
N Rezipient: Derjenige, der etwas erhält.
N Quelle: Dasjenige bzw. der Ort, von dem aus sich etwas wegbewegt.
N Ziel: Dasjenige bzw. der Ort, zu dem sich etwas hinbewegt.
Das Verb bekommen weist seinem ersten Argument beispielsweise die Rolle Rezipient zu, dem zweiten Thema
und dem dritten Quelle. Man kann dies folgendermaßen darstellen:

BEKOMM (x1, x2, x3)


NP NP (PP)
Rezipient Thema Quelle

Die semantische Information der Argumentstruktur und des sog. Theta-Rasters wird in der Syntax abgebildet:
Danach richtet sich u. a., wie viele Ergänzungen ein Verb haben kann und welche semantische Rolle vom Verb
an welche Phrase vergeben wird.

diese Darstellungsweise Phrasenstrukturbaum Papagei. Man sagt auch, er dominiert diese beiden
oder Baumgraph. Die gleiche Information kann Knoten, seine Tochterknoten, unmittelbar. Diese
auch (oft etwas weniger übersichtlich, aber platz- sind, da sie vom gleichen Mutterknoten abzwei-
sparender) mit indizierten Klammern wiedergege- gen, Schwesterknoten.
ben werden, wie etwa in (17), das als Phrasen- Phrasenstrukturen werden insbesondere im Phrasenstrukturen
strukturbaum wie in (18) aussehen würde: Rahmen der Generativen Grammatik untersucht,
für die v. a. die Arbeiten des amerikanischen
(18) NP Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky wegwei-
send waren. Daher ist die Terminologie oft eng-
lisch. Auf die verschiedenen Entwicklungsstufen
NP N der Generativen Grammatik von der frühen Trans-
formationsgrammatik (u. a. Chomsky 1965) über
Papagei
die Rektions- und Bindungstheorie der 80er und
N
90er Jahre (u. a. Chomsky 1981) bis zum Minima-
Bertas lismus (u. a. Chomsky 1995; Boskovic/Lasnik
2006) soll hier nicht im Einzelnen eingegangen
Die einzelnen miteinander verbundenen Punkte werden (weiterführend hierzu vgl. Baltin/Collins
im Phrasenstrukturbaum nennt man auch Kno- 2000; Brandt u. a. 2006; Dürscheid 2010; Grewen-
ten. Von einem Knoten gehen nach unten maximal dorf u. a. 2001; Grewendorf 2002; Haegeman 1994;
zwei Verzweigungen ab, d. h. Phrasenstrukturen Pafel 2010; Philippi/Tewes 2010; Stechow/Sterne-
sind binär. Um Beziehungen zwischen einzelnen feld 1988; Sternefeld 2008/2009). Die folgende
Knoten zu bezeichnen, bedient man sich meta- Darstellung ist an Analysen im Modell der Rek-
phorischer Ausdrücke wie in einem Familien- tions- und Bindungstheorie angelehnt mit einigen
stammbaum, nämlich Mutterknoten, Tochterkno- Vereinfachungen im Sinn des Minimalismus.
ten und Schwesterknoten. In (18) ist der oberste Wichtige Forschungsfragen der Syntax betref-
mit NP bezeichnete Knoten beispielsweise der fen u. a. die Position einzelner Elemente in der
Mutterknoten der NP Bertas und des Kopfnomens syntaktischen Struktur. Wenn beispielsweise zwei

67
2.3
Grammatik
Syntax

Elemente zwischen den gleichen Konstituenten im (19) a NP


Satz stehen können, aber nicht gleichzeitig auftre-
ten können, besetzen sie möglicherweise die glei-
che syntaktische Position. Wenn sie zusammen in DP N
einem Satz auftreten können, besetzen sie eher Papagei
zwei verschiedene Positionen usw. Darauf aufbau- D
end will man in der Syntax klären, welche (auch
der
über die hier vorgestellten hinausgehenden) syn-
taktischen Positionen und Strukturen grundsätz-
lich anzunehmen sind. Diese sollen möglichst uni-
(19) b NP
versell, also sprachübergreifend gültig sein und
dennoch erlauben, die einzelsprachliche Variation
abzuleiten. Weitere zentrale Forschungsziele be- DP N'
stehen darin, beobachtete phonologische, mor-
phologische oder semantische Eigenschaften von
D AP N
Phrasen und Sätzen auf der Grundlage der ange-
nommenen syntaktischen Struktur zu erklären so- der Papagei
wie zu begründen, warum bestimmte syntaktische A
Strukturen ungrammatisch sind. schlaue

ein bloßes Nomen (N, die minimale Projektions-


2.3.2.3 | Satzgliedinnenbau
stufe) noch eine vollständige Nominalphrase (NP,
Wie erwähnt, kann ein Satzglied neben dem Kopf die maximale Projektionsstufe). Solche Zwischen-
noch weitere Phrasen, die Gliedteile, enthalten. stufen werden in der Phrasenstruktur mit einem
Man spricht davon, dass diese in die übergeordne- kleinen Strich gekennzeichnet, in (19b) daher N'.
te Phrase eingebettet sind (s. o. Rekursivität). Ein Die englische Bezeichnung für diesen Strich lautet
anderer Ausdruck hierfür ist Verschachtelung. Im »bar«. Da die Möglichkeit von Zwischenstufen
Folgenden betrachten wir den Innenbau einiger nicht nur in einer NP, sondern, wie wir unten se-
Satzglieder genauer. hen werden, in jeder x-beliebigen Phrase XP gege-
ben ist, spricht man auch von der X-Bar-Theorie.
Attribute nennt man die Gliedteile von Nomi-
Nominalphrasen
nalphrasen (außer der DP). Zu ihnen gehören at-
Eine Nominalphrase enthält mindestens das Kopf- tributive Adjektivphrasen, wie in (19b), aber auch
Nomen. Wenn eine Nominalphrase einen Artikel Genitivattribute wie in (20a) und vergleichbare
oder ein anderes Begleiter-Pronomen (z. B. Posses- Konstruktionen wie in (20b).
siv- oder Demonstrativpronomen vor dem Nomen) Genitivattribute gehen als Gliedteile dem Kopf-
enthält – einen sog. Determinierer, so bildet dieses Nomen entweder voran (ersetzen die DP) oder fol-
Element eine Determiniererphrase (DP), vgl. gen ihm.
(19a/b). Die DP geht dem Kopf-Nomen in der No- N Possessive Attribute: Zum einen kommen pos-
minalphrase voran. Das gilt gewöhnlich auch für sessive Genitive vor, die Besitz oder Zugehörig-
Adjektivphrasen (AP), vgl. (19b). Die Determi- keit bezeichnen und voran- oder nachgestellt
niererphrase zweigt immer zuoberst links in der sein können: [[Bertas] Vogel] vs. [der Vogel [mei-
NP ab und bildet damit den sog. Spezifizierer
(engl. specifier, abgekürzt Spec) innerhalb der NP (20) a NP
(SpecNP). – Alternativ wird z. T. auch umgekehrt
D als Kopf der ganzen Phrase analysiert, der die
NP als Schwesterknoten als Ergänzung (Kom- NP N'
plement) nimmt, so dass ein Ausdruck wie der
(schlaue) Papagei insgesamt eine DP ist (weiter- N AP N
führend hierzu Brandt u. a. 2006; Pafel 2010; Ster- Bertas Papagei
nefeld 2008).
A
In (19b) ist der Mutterknoten von N nicht direkt
die NP. Der Ausdruck schlaue Papagei ist weder schlauer

68
2.3
Grammatik
Satzgliedbau

(20) b NP (21) a PP

DP N'
P NP

P AP N' für N
der schlaue Berta
N PP
Papagei
P NP (21) b PP
von
DP N
NP P
Nachbarin
P N zuliebe
meiner Berta

ner Nachbarin]]. Possessive Attribute können man spricht dabei von Rektion. In einer Präpositi-
aber auch eine andere Form haben. Sie treten onalphrase kann die Präposition mit dem definiten
auch auf als nachgestellte Präpositionalphrase Artikel der eingebetteten NP verschmolzen sein, Präpositionalphrasen
mit von z. B. [der Vogel [von Berta]] (vgl. auch z. B. [an [das [Meer]] > [ans [Meer]]. Fügungen
20b), als (im Standarddeutschen als nicht kor- aus Präposition und Pronomen werden teilweise
rekt geltende, deshalb mit § gekennzeichnete) durch Präpositionaladverbien ersetzt wie in (22).
vorangestellte Dativphrase mit possessivem De- Präpositionen können statt NPs auch Adjektiv-
terminierer (sog. possessiver Dativ) z. B. §[[(der) oder Adverbphrasen als Ergänzungen haben, vgl.
Berta ihr] Vogel] oder als vorangestellte Präposi- (23) und (24). Es gibt sogar Verschachtelungen
tionalphrase mit definitem Artikel §[[von Berta von Präpositionalphrasen wie in (25), also Präpo-
der] Vogel]. sitionalphrasen, die wiederum in einer Präpositio-
N Partitive Attribute: Ein Genitivattribut kann nalphrase stecken.
auch eine Teil-Ganzes-Beziehung bezeichnen.
Man spricht dann von einem partitiven Genitiv, (22) Der Papagei setzte sich [auf die Schaukel]. – Der Papagei
z. B. in [die Hälfte [des Futters]]. Weitere parti- setzte sich [darauf]. (statt: [auf sie])
tive Attribute sind z. B. Präpositionalphrasen (23) Berta hält ihr Haustier [PP für [AP sehr schlau]].
wie in [die Hälfte [vom Futter]] oder partitive (24) der Papagei [PP von [AdvP nebenan]]
Appositionen wie in [eine Schale [gutes Futter]]. (25) Dieser Vogelkäfig stammt [PP von [PP vor [NP dem Krieg]]].
(Mit partitivem Genitiv würde letztere Phrase
stattdessen [eine Schale [guten Futters]] lau- Manche Präpositionalphrasen können mit Aus-
ten – beides ist im Standarddeutschen mög- drücken erweitert werden, die ein Maß angeben.
lich.) Neben partitiven Appositionen gibt es Diese bilden dann den Spezifizierer der PP:
auch sog. lockere Appositionen wie in [Berta,
[meine Nachbarin]].
(26) a PP

Präpositionalphrasen
AP P'
Präpositionen verlangen in der Regel eine einge-
bettete Phrase als Ergänzung (Komplement) und
bilden mit dieser zusammen eine Präpositional- A P NP
phrase. Die eingebettete Phrase steht zumeist
rechts wie in (21a), kann aber auch links von der kurz vor DP N
Präposition stehen wie in (21b). Bei der eingebet-
D Käfig
teten Phrase handelt es sich meist um eine Nomi-
nalphrase. Die Präposition bestimmt deren Kasus; dem

69
2.3
Grammatik
Syntax

(26) b PP (27) c AP

NP P' AP A

A gemästete
DP N P NP
gut
D Schritt vor DP N
einen die [zwölf Kilogramm] schwere Vogelfuttertüte und
D Käfig das [gut gemästete] Haustier enthaltenen Adjektiv-
dem phrasen.

Auch in diesen Fällen kommt dann, ähnlich wie


z. B. oben in den NPs in (19b) und (20a/b) eine
2.3.3 | Satzbau
Zwischenebene in der Phrase vor – hier zwischen
P und PP, also P'.
2.3.3.1 | Das Feldermodell
Grundbegriffe: Nachdem wir die einzelnen Satz-
Adjektivphrasen
glieder und ihren Innenbau betrachtet haben,
Adjektivphrasen enthalten als Kopf ein Adjektiv kommen wir nun zum Aufbau ganzer Sätze. Das
wie in (27a/b) oder ein adjektivisch gebrauchtes Grundmuster deutscher Sätze ist geprägt von der
Partizip, also eine adjektivisch gebrauchte infinite Satzklammer, die durch die Teile des Prädikats
Verbform wie in (27c). Der Kopf kann mit ver- (verbale Klammer) bzw. durch eine subordinieren-
schiedenen Phrasen erweitert werden. Dies illus- de Konjunktion und das Prädikat gebildet wird.
trieren die syntaktischen Strukturen der in den Davor, dazwischen und danach befinden sich Be-
Ausdrücken die [auf ihren Papagei stolze] Berta, reiche, sog. Stellungsfelder oder topologische Fel-
der, in denen die Satzglieder stehen können. Man
spricht daher auch vom Feldermodell oder topo-
(27) a AP logischen Modell. Dieses traditionelle Satzmodell
geht wesentlich auf Drach (1937) zurück (zum Fel-
PP A dermodell vgl. Duden 2009, §§ 1338–1348).

(28) Feldermodell des deutschen Satzes


P NP stolze
linke rechte
Mittel- Nach-
Vorfeld Satz- Satz-
auf DP N feld feld
klammer klammer

Satzklammer
D Papagei
ihren
N Die linke Satzklammer (LSK) enthält maximal
eine Wortform: das finite Verb oder eine subor-
(27) b AP dinierende Konjunktion. Sie kann auch leer
sein.
NP A
N Die rechte Satzklammer (RSK) kann beliebig
viele Verbformen bzw. verbale Teile (z. B. auch
eine Verbpartikel) enthalten oder leer sein.
AP N schwere N Das Vorfeld, das topologische Feld vor der lin-
ken Satzklammer, enthält i. d. R. maximal ein
A Kilogramm Satzglied. Auch Interrogativ- bzw. Relativpro-
nomen stehen hier. Das Vorfeld kann ebenfalls
zwölf unbesetzt sein.

70
2.3
Grammatik
Satzbau

Vorfeld LSK Mittelfeld RSK Nachfeld


V2 Berta liebt ihren Papagei. – –
V2 Das Futter hat sie immer bei Kleintier-Schmidt gekauft. –
V2 Vor Jahren flog ihr der Vogel zu. –
V2 Peppi kann Berta gut unterhalten mit seinem Krächzen.
V1 – Wird der Papagei bald sprechen können?
V1 – Ist das aber ein schlauer Vogel! – –
Ve – wenn der Vogel schlafen soll. –
Ve der – abends richtig aktiv ist. –
Ve – dass Berta ihn gerade füttern will. –

N Das Mittelfeld, das topologische Feld zwischen Davon zu unterscheiden ist sog. Linksverset-
den beiden Satzklammern, kann beliebig viele zung, bei der ein ganzes Satzglied vor dem Vor-
Satzglieder enthalten oder leer sein. feld stehen kann und dann z. B. durch ein Pro-
N Das Nachfeld, also das topologische Feld nach nomen im Vorfeld wieder aufgegriffen wird. In
der rechten Satzklammer, ist im heutigen Deut- Konstruktionen mit Linksversetzung gibt es ein
schen seltener besetzt. Wenn ein Satzglied das Vorvorfeld:
Nachfeld besetzt, spricht man auch von Aus-
klammerung, da es dann außerhalb der Satz- Vorvorfeld Vorfeld LSK Mittelfeld RSK
klammer steht. Ausklammerung erfolgt häufig Der Peppi, das ist ein ganz –
bei Nebensätzen (s. u.). Auch umfangreichere schlauer Vogel.
Satzglieder z. B. komplexe PPs u. Ä. stehen ge-
legentlich im Nachfeld. (Hier hat es im Lauf In der rechten Satzklammer können wie erwähnt
der deutschen Sprachgeschichte syntaktischen prinzipiell beliebig viele Prädikatsteile stehen. Da-
Wandel gegeben; s. Kap. II.4.6.1.3). bei gilt im heutigen Deutschen üblicherweise die
Die Analyse einiger Sätze (s. Tabelle oben) nach Abfolge, dass das Hauptverb ganz links steht,
dem Feldermodell illustriert die genannten Regula- rechts von ihm ggf. ein Auxiliar oder Modalverb,
ritäten. Die Abkürzungen in der Spalte ganz links von dem das Hauptverb als Ergänzung gefordert
geben hier zusätzlich die Klassifikation des ent- wird usw. Es steht also jeweils das strukturell un-
sprechenden Satzes nach der Stellung des finiten tergeordnete vor dem strukturell übergeordneten
Verbs an. Verb. Das höchste Verb (V1) steht damit innerhalb
Drei wichtige Formtypen von Sätzen lassen sich der rechten Satzklammer ganz rechts; das Haupt-
unterscheiden: verb, das das tiefste Verb ist, ganz links, vgl. (29).
N Verbzweitsatz (V2): Satz mit finitem Verb an Diese Reihenfolge hat sich erst im Lauf der Sprach-
zweiter Stelle. Das finite Verb steht in der linken geschichte herausgebildet (s. Kap. II.4.6.1.1) und
Satzklammer. Ein Satzglied steht im Vorfeld. auch in den Dialekten gibt es diesbezüglich Varia-
N Verberstsatz (V1): Satz mit finitem Verb an ers- tion. Auch im Standarddeutschen wird die übliche
ter Stelle. Das finite Verb steht ebenfalls in der Reihenfolge der Prädikatsteile jedoch durch-
linken Satzklammer. Das Vorfeld ist jedoch brochen, wenn zwei oder mehr Infinitive zusam-
nicht besetzt. menkommen, vgl. (30). Das gilt auch bei sog. Er-
N Verbletztsatz/Verbendsatz (Ve): Satz mit fini- satzinfinitiv (Infinitivus pro infinitivo/IPP), d. h.
tem Verb an letzter Stelle. Das finite Verb steht wenn ein Modalverb wie sollen, müssen usw. oder
in der rechten Satzklammer. ein Wahrnehmungsverb wie hören, sehen usw.,
Besonderheiten: Koordinierende Konjunktionen das im Perfekt oder Plusquamperfekt verwendet
können noch vor dem ersten Satzglied bzw. vor wird und selbst einen Infinitiv einbettet, nicht wie
dem Vorfeld stehen: bei Perfekt/Plusquamperfekt ja eigentlich zu er-
warten im Partizip II, sondern selbst im Infinitiv
Vorfeld LSK Mittelfeld RSK steht. So tritt in (31) das Modalverb nicht in der
Und Bertas Papagei kann seit gestern sprechen. erwartungsgemäßen Form des Partizips II gewollt,
sondern als Ersatzinfinitiv wollen auf. Auch hier

71
2.3
Grammatik
Syntax

weicht die Abfolge der Prädikatsteile also von der allerdings nicht in regulären deutschen Aussage-
normalen Abfolge ab. sätzen.
Für die Annahme der Grundreihenfolge SOV im
(29) dass Berta ihren Papagei [V3 füttern] [V2 wollen] [V1 wird] Deutschen, d. h. insbesondere die Annahme, dass
(30) dass Berta ihren Papagei [V1 wird] [V3 füttern] [V2 wollen] das Verb dem Objekt folgt und nicht vorangeht,
(31) dass Berta ihn gerade [V1 hatte] [V3 füttern] [V2 wollen] sprechen jedoch verschiedene Argumente: Bei Par-
tikelverben kann die Verbpartikel morphologisch
Zur Vertiefung und syntaktisch vom Verbstamm getrennt werden,
vgl. (35b). Sie steht jedoch immer in der rechten
Abfolge der Satzglieder im Mittelfeld Satzklammer, also nach Subjekt und Objekt. Da-
Bei der Wortstellung im Mittelfeld spielen meh- mit markiert die Verbpartikel als Fixpunkt die zu-
rere konkurrierende Faktoren eine Rolle (vgl. wei- grundeliegende Position des Verbs. Der Verbstamm
terführend Duden 2009, §§ 1352–1368). Die fol- kann der Verbpartikel in der rechten Satzklammer
genden Tendenzen bei der Abfolge der Satzglieder unmittelbar folgen oder aber in die linke Satzklam-
im Mittelfeld lassen sich ausmachen: mer verschoben sein. Die Verbpartikel steht in bei-
N Kasus bei Ergänzungen: Nominativ vor Dativ den Fällen in der rechten Satzklammer und zeigt
vor Akkusativ vor Rest somit an, dass das Verb in der Grundabfolge nach
N Betonung: unbetonte Pronomen vor anderen dem Objekt steht.
NPs
N Belebtheit: belebt vor unbelebt (35) a dass Hans das Buch abgibt
N Definitheit: definit vor indefinit b Heute gibt Hans das Buch ab.
N Semantik: Bezugsphrase vor Prädikativ, Ab-
folge der Adverbialien (temporal vor modal Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang auch
etc.) der kindliche Spracherwerb, aus dem viele wichti-
N Informationsverteilung im Satz: bekannte In- ge Einsichten über sprachliche Strukturen und Ge-
formation vor neuer Information etc. setzmäßigkeiten gewonnen werden können und
der daher eine zentrale Rolle in der Sprachwissen-
schaft einnimmt. Sobald Kinder Objekte und Ver-
2.3.3.2 | Die Grundwortstellung im Deutschen
ben zusammen verwenden, produzieren sie im
Deutsch als SOV- und Nachdem wir einzelne Satzglieder und auch einige Deutschen praktisch ausschließlich die Abfolge
Verbzweitsprache grundsätzliche Dinge zu Stellungsregularitäten im Objekt-Verb (s. Kap. II.5.2.3), also etwa Apfel es-
Satz besprochen haben, wollen wir das Deutsche sen, Auto fahren (und nicht essen Apfel, fahren
vor diesem Hintergrund kurz sprachvergleichend Auto). Englischsprachige Kinder, die also eine
einordnen. Man kann die Sprachen der Welt typo- (S)VO-Sprache erwerben, produzieren dagegen
logisch u. a. danach einteilen, was die übliche Ab- fast immer die Abfolge Verb-Objekt, also etwa eat
folge von Subjekt (S), Objekt (O) und Prädikat apple, go by car (und nicht apple eat, by car go).
(bzw. finitem Verb: V) in der jeweiligen Sprache Übliche Aussagesätze im Deutschen weisen
ist. So gehört beispielsweise das Englische dem aber nun wie gesagt gerade nicht die Abfolge SOV
Typ der SVO-Sprachen an, vgl. (32). Das Walisi- auf. Dies liegt jedoch daran, dass es im Deutschen
sche ist dagegen eine VSO-Sprache, vgl. (33). wie in einigen wenigen anderen Sprachen, z. B. im
Holländischen, eine zusätzliche Regel gibt, die als
(32) I saw John (Englisch: SVO) Verb-Zweit-Regel bezeichnet wird. Das Deutsche
ich sah John ist daher eine sog. Verbzweitsprache. Die Verb-
›Ich sah John‹ Zweit-Regel besagt, dass in einem Aussagesatz das
(33) Gwelais i Emrys (Walisisch: VSO) finite Verb an der zweiten Stelle stehen muss. Das
sah ich Emrys heißt, das finite Verb ›wandert‹ aus seiner Grund-
›Ich sah Emrys‹ position in die linke Satzklammer und ein beliebi-
(34) (dass) ich Hans sah (Deutsch: SOV) ges Satzglied (nicht notwendigerweise das Sub-
jekt, sondern z. B. auch ein Objekt oder ein
Das Deutsche ist in Bezug auf die zugrundeliegen- Adverbial) wird noch zusätzlich davor gestellt.
de Wortstellung eine SOV-Sprache (keine SVO- Diese syntaktische Regel verschleiert etwas die
Sprache!). Diese Grundabfolge findet sich in mit Grundabfolge, denn durch sie werden aus der
Konjunktion eingeleiteten Nebensätzen vgl. (34), SOV-Basis (36a) sekundär z. B. Abfolgen wie SVO

72
2.3
Grammatik
Satzbau

(36b), OVS (36c) oder XP-VSO (36d) in deutschen Die IP


Aussagesätzen abgeleitet.
Nachdem Objekte und Adverbialien als Teile der
(36) a (dass) der Papagei sehr gern Salat frisst VP analysiert wurden, muss nun noch ein ganz
b Der Papagei frisst sehr gern Salat. zentrales Satzglied in der syntaktischen Struktur
c Salat frisst der Papagei sehr gern. untergebracht werden: das Subjekt. Wie wird die-
d Sehr gern frisst der Papagei Salat. ses mit dem Restsatz verbunden?
Die Grundlage für die Antwort auf diese Frage
bildet eine wichtige Beziehung, die zwischen dem
2.3.3.3 | Der Satz als Phrase
Subjekt und dem finiten Verb im Satz besteht. Das
finite Verb stimmt mit dem Subjekt in den mor-
Die VP
phosyntaktischen Merkmalen Person und Nu-
Einzelne Satzglieder haben wir schon syntaktisch merus (s. Kap. II.2.2.3) überein. Dies nennt man
analysiert. Sie bilden beispielsweise NPs, PPs oder Person-Numerus-Kongruenz (engl. agreement:
APs. Um nun auch vollständige Sätze zu analysie- Übereinstimmung). Am finiten Verb werden diese
ren, müssen wir noch weitere Phrasentypen an- Merkmale durch Flexion ausgedrückt.
nehmen. Das Verb bildet zusammen mit seinen Als Verbindung zwischen dem Subjekt und
Objekten und ggf. Adverbialen eine eigene Phrase, dem Restsatz fungiert daher die Verbflexion, für
deren Kopf es ist. Diese wird deshalb Verbalphra- die ein eigener syntaktischer Kopf I (oder INFL, für
se (VP) genannt. engl. inflexion: Flexion) mit dazugehöriger Phrase
IP angenommen wird.
(37) a    
  VP
(38) dass …
NP V IP
VP und IP

DP N  (SpecIP:) NP I'

D   N VP I
   sie [3. Pers., Sg., Präs., Indikativ]
NP V

(37) b 
    DP N mag
VP
D Papagei

PP V' ihren

P NP NP V Der I-Kopf steht innerhalb der IP im Deutschen im-


mer ganz rechts; man kann auch sagen: Die IP ist
(wie die VP) kopffinal. Der Flexionskopf I enthält
 DP N N   auch Informationen über Tempus und Modus des
Verbs (z. T. wird die IP daher in mehrere Teil-
D     projektionen wie die Tempusphrase TP oder die
Agreement-Phrase AgrP aufgespalten, was wir hier

vernachlässigen). Die Werte für Person und Nume-
rus übernimmt der I-Kopf vom Subjekt, das den
Entsprechend der Grundabfolge im Deutschen Spezifizierer der IP darstellt, das heißt, dasjenige
steht das Verb in der VP immer ganz rechts nach Element, das als erstes links von IP abzweigt. An
den Objekten. Objekte bekommen innerhalb der der Position SpecIP, der Subjektposition des Sat-
VP von V ihren Kasus (z. B. in (37a) die NP ihren zes, bekommt das Subjekt vom I-Kopf den Kasus
Papagei den Akkusativ vom Verb mag). Nominativ. (Manche Sprachwissenschaftler, z. B.

73
2.3
Grammatik
Syntax

Zur Vertiefung
dells fehlt damit also noch die Position für die lin-
Kasussyntax ke Satzklammer. Und auch Sätze mit Vorfeld
Weshalb steht ein Wort bzw. eine Phrase im Satz in einem bestimmten Kasus? können wir noch nicht analysieren. Daher ist eine
Der Kasus kann deshalb stehen, weil die entsprechende Konstituente in Abhän- weitere Projektion oberhalb der IP anzunehmen.
gigkeit von einem bestimmten syntaktischen Kopf steht, der diesen Kasus for- Diese wird üblicherweise als CP bezeichnet (C
dert, zuweist oder lizenziert. Man spricht hier auch von Rektionskasus. Präposi- bzw. COMP steht für engl. complementizer: Kom-
tionen verlangen etwa einen bestimmten Kasus ihrer Komplement-NP z. B. plementierer). Die Position C in der syntaktischen
[PP mit [NPdat dem Futter]]. Auch Nomen oder Adjektive können einer von ihnen Struktur entspricht genau der linken Satzklammer
abhängigen Nominalphrase einen Kasus zuweisen, z. B. [NP der Besuch [NPgen der im Feldermodell, d. h. sie ist entweder von einer
alten Dame]], [AP [NPdat vielen Leuten] bekannt]. Objekt-NPs erhalten ihren Kasus subordinierenden Konjunktion oder vom finiten
vom Verb. Ein Verb im Passiv verliert die Fähigkeit, seinem Objekt den Akkusativ Verb besetzt oder sie ist leer. Der Kopf C steht im-
zuzuweisen, so dass das eigentliche Akkusativ-Objekt in Passivkonstruktionen mer links von der IP.
als Subjekt im Nominativ erscheint:
(39) CP
Berta füttert [NPakk den Vogel].
{[NPnom Der Vogel] /*[NPakk Den Vogel]} wird gefüttert. C IP

Für den Nominativ des Subjekts ist der I-Kopf mit seinen Finitheitsmerkmalen dass NP I'
verantwortlich. Dies verdeutlicht die Gegenüberstellung von finiten Sätzen und
Infinitivkonstruktionen: Bei Letzteren ist ein I-Kopf ohne entsprechende Finit-
N VP I
heitsmerkmale anzunehmen. Das eigentliche Subjekt des Verbs kann dann tat-
sächlich nicht im Nominativ stehen, sondern erscheint z. B. ausnahmsweise in sie [3. Pers., Sg., Präs., Indikativ]
Abhängigkeit vom übergeordneten Verb im Akkusativ (sog. AcI: Accusativus NP V
cum Infinitivo):
DP N mag
(Ich höre,) dass [NPnom der Papagei] nebenan krächzt.
(Ich höre) {[NPakk den Papagei] /*[NPnom der Papagei]} nebenan krächzen.
D Papagei
Neben dem Rektionskasus gibt es u. a. auch Kongruenzkasus, d. h. ein Element ihren
steht in einem bestimmten Kasus, weil es im Kasus mit einem anderen Element
im Satz übereinstimmen muss. Jeder Satz, egal ob Haupt- oder Nebensatz, ist ins-
Dies gilt z. B. für Prädikative, die im Kasus mit ihrer Bezugsphrase übereinstim- gesamt eine CP. Die basisgenerierte Struktur ent-
men müssen: spricht im Deutschen der Grundabfolge SOV, wie
sie in einem mit Konjunktion eingeleiteten Neben-
[NPnom/Subj Er] ist [NPnom/Prädikativ ein schlauer Papagei]. satz wie (39) auch an der Oberfläche vorliegt. Die
Berta nennt [NPakk/Obj ihn] [NPakk/Prädikativ einen schlauen Papagei]. tatsächliche Wortstellung im konkreten Beispiel-
satz kann aber wie oben diskutiert auch von der
Kongruenzkasus kommt aber z. B. auch innerhalb von NPs vor: Hier müssen De- Grundabfolge abweichen (traditionell spricht man
terminierer, attributives Adjektiv und Nomen im Kasus übereinstimmen, etwa hier von der Oberflächenstruktur im Unterschied
bei [NPakk [DPakk einen] [APakk schlauen] [Nakk Papagei]]. zur Tiefenstruktur, vgl. Chomsky 1981). Man
nimmt an, dass sie durch syntaktische Bewegung
einzelner Konstituenten abgeleitet ist. (Bewegung
Haider (1993) und Sternefeld (2009), nehmen da- wird als allgemeine syntaktische Regel auch
gegen an, dass es im Deutschen keine IP gibt, das Move-Į (›Bewege Į‹) genannt, wobei Į eine belie-
Subjekt vielmehr seine Basisposition in der VP hat bige Konstituente ist).
und auch dort den Kasus Nominativ bekommt.) Der Hintergrund für die Annahme syntaktischer
Bewegungen besteht in der Beobachtung, dass
Konstituenten manchmal sozusagen gleichzeitig
Die CP
an mehrere Stellen im Satz gehören. In einem ge-
Der Verbendsatz dass sie ihren Papagei mag ist da- gebenen Satz kann beispielsweise das Objekt im
mit fast vollständig analysiert. Es fehlt allerdings Vorfeld stehen. Es gehört aber eigentlich wie alle
noch eine Position für die subordinierende Kon- Objekte in die VP (als Schwesterknoten von V,
junktion dass. In der Terminologie des Feldermo- s. o.), wo es ja auch von V den Kasus bekommt

74
2.3
Grammatik
Satzbau

und auch seine Thematische Rolle (z. B. Thema). Verbzweitsatz: Nun bleibt noch zu klären, wie die
Man nimmt als Lösung an, dass das Objekt oder Baumstruktur eines Verbzweitsatzes aussieht. Verberstsatz
auch jedes andere Satzglied sich aus seiner Basis- Hierfür fehlt uns eine Position, die im Feldermo- und Verbzweitsatz
position wegbewegen kann. Ebenso kann sich das dell dem Vorfeld entspricht. Man braucht nun aber
finite Verb aus seiner Basisposition am Ende des nicht noch eine weitere syntaktische Projektion
Satzes wegbewegen in die linke Satzklammer, d. h. über CP anzunehmen, sondern nutzt einfach das
nach C. X-bar-Modell, das heißt die prinzipielle Möglich-
Syntaktische Bewegung hinterlässt sog. Spuren keit, in jeder x-beliebigen Phrase eine Zwischen-
(engl. trace, abgekürzt t). Wo die Konstituente ein- stufe X' einzubauen, hier also C'. Das Vorfeld ist
mal stand bzw. wo sie im gegebenen Satz nicht die linke Schwester von C' und damit der Spezifi-
hörbar steht, aber eigentlich auch hingehören zierer der CP, also die von CP zuoberst links ab-
würde, steht eine Spur t. Um die Zuordnung bei zweigende Phrase.
mehreren Spuren eindeutig zu machen, wird t mit Ein Verbzweitsatz wird nun durch zwei syntak-
dem gleichen Index i, j, k usw. versehen, wie das tische Bewegungen aus der Grundabfolge SOV ab-
zugehörige bewegte Element. Man kann sich die geleitet: Zum einen wird, wie schon beim Verb-
Bewegung auch durch Pfeile verdeutlichen. Ein erstsatz, das finite Verb von V nach C bewegt. Zum
und dieselbe syntaktische Baumstruktur bildet so anderen wird aber noch ein beliebiges Satzglied
gleichzeitig die Tiefenstruktur mit den Basispositi- aus seiner Basisposition ins Vorfeld, also nach
onen aller Konstituenten und die Oberflächen- SpecCP bewegt, so dass das finite Verb die zweite
struktur des konkreten Satzes ab. Position im Satz einnimmt. Zu einem Satzglied im
Verberstsatz: Betrachten wir zunächst, wie ein Vorfeld gibt es folglich immer eine Spur weiter hin-
Verberstsatz wie Mag sie ihren Papagei? abgeleitet ten im Satz. Das ins Vorfeld bewegte Satzglied
wird. Die einzige Abweichung von der Grundab- kann z. B. ein Objekt sein, etwa in dem Satz Ihren
folge SOV sie ihren Papagei mag vgl. (38) und (39) Papagei mag sie. Dann gibt es außer der Verb-Spur
besteht hier darin, dass das finite Verb aus seiner unter V also noch eine Spur des Objekts an der
Basisposition V nach C bewegt worden ist (genau- ursprünglichen Objektposition als Schwester von
genommen über I, was hier vernachlässigt wird), V in der VP, wie die Baumstruktur (41) illustriert.
also aus der rechten in die linke Satzklammer. Da-
her wird in der syntaktischen Struktur unter V (41) CP
eine Spur t eingetragen, die den gleichen Index
(SpecCP:) NPi C'
(hier i) trägt, wie das Verb selbst, das nun aber an
C steht. DP N C IP
(40) CP
D Papagei magj NP I'

C IP Ihren N VP I
sie
Magi NP I' [3. Pers., Sg., Präs., Ind.]
ti V
N VP I tj

sie [3. Pers., Sg., Präs., Indikativ]


NP V
Das ins Vorfeld bewegte Satzglied kann aber auch
DP N ti ein anderes Satzglied sein, etwa das Subjekt. Dann
gibt es außer der Verbspur als weitere Spur im Satz
noch eine an der ursprünglichen Subjektposition,
D Papagei also an SpecIP. Dies ist z. B. in dem Satz Sie mag
ihren ihren Papagei der Fall, dessen Struktur in (42) wie-
dergegeben ist.
W-Bewegung: Wenn ein Satzglied aus einem
Interrogativpronomen bzw. -adverb (z. B. wer,
was, wann, wo) besteht oder ein solches enthält

75
2.3
Grammatik
Syntax

(42) CP 2.3.4 | Satzarten und komplexe Sätze


(SpecCP:) NPi C' 2.3.4.1 | Haupt- und Nebensätze
Sie C IP Bei den bisher analysierten Beispielen handelte es
sich um Einfachsätze, d. h. Sätze, die nur aus ei-
N magj ti I' nem Teilsatz bestehen. Es gibt aber auch Sätze, die
aus mehreren Teilsätzen bestehen, die komplexen
VP I Sätze. Letztere sind entweder Satzgefüge, d. h.
[3. Pers., Sg., ...] Komplexe aus Haupt- und Nebensätzen, oder
NP V Satzverbindungen, die aus mehreren Hauptsät-
zen zusammengesetzt sind.
DP N tj

D Papagei Definition
ihren Ein   Hauptsatz ist ein Teilsatz, der keinem
anderen Teilsatz untergeordnet ist.

w-Bewegung (z. B. welches Futter, von wo), so muss es, wie in


(43) dargestellt, ins Vorfeld bewegt werden. (Kom- Fünf Hauptsatzarten lassen sich unterscheiden,
men mehrere Interrogativa in einem Satz vor, so die auch als Satzmodi bezeichnet werden:
muss im Deutschen nur eines nach SpecCP bewegt N Aussagesatz (Deklarativsatz) vgl. (44)
werden.) N Fragesatz (Interrogativsatz), Unterarten: Ent-
scheidungsfrage oder Ja-Nein-Frage vgl. (45a),
(43) CP Ergänzungsfrage oder W-Frage vgl. (45b)
N Aufforderungssatz (Imperativsatz) vgl. (46)
(SpecCP:) NPi C' N Wunschsatz (Desiderativsatz) vgl. (47)
N Ausrufesatz (Exklamativsatz) vgl. (48)
N C IP
(44) Peppi ist ein ganz schlauer Vogel.
Wen magj NP I' (45) a Kann Peppi auch sprechen?
(45) b Was sagt er denn so?
N VP I (46) Komm her, Peppi!
sie [3. Pers., Sg., Präs., Ind.] (47) Wenn du doch nur herkommen würdest!
ti V
(48) Was dieser Papagei alles kann!
tj
Hauptsatzarten wie die Entscheidungsfragen, Auf-
forderungssätze oder Ausrufesätze verdeutlichen,
dass die verbreitete Definition von Hauptsatz als
Die obligatorische Bewegung nach SpecCP betrifft ›Satz mit Verbzweitstellung‹ nicht adäquat ist.
auch Interrogativa im Nebensatz (Ich möchte wis-
sen, weni sie ti mag) sowie Relativpronomen (der, Definition
die, das, welcher, was etc., z. B. Der Papagei, deni
sie ti mag). Da die meisten der von dieser obligato- Ein   Nebensatz ist ein Teilsatz, der einem
rischen Bewegung betroffenen Lexeme mit dem anderen Teilsatz untergeordnet ist. Der
Buchstaben »w« beginnen, wird dieses Phänomen jeweils übergeordnete Satz, in den der
auch als W-Bewegung bezeichnet (in Anlehnung Nebensatz eingebettet ist, wird auch Ma-
an den englischen Terminus wh-movement). trixsatz genannt.

76
2.3
Grammatik
Satzarten und
komplexe Sätze

Nebensätze können nach drei Kriterien klassifi- N Ein satzwertiger Infinitiv wie in (54) enthält
ziert werden: im Gegensatz zu den obigen Nebensatzarten
1. Nach dem Grad der Abhängigkeit, da sie per kein finites, sondern ein infinites Verb, ist aber
Definition von einem anderen Satz abhängen. syntaktisch äquivalent mit einem Satz. Die
N Ein Nebensatz ersten Grades ist direkt von ei- linke Satzklammer ist leer oder durch die Kon-
nem Hauptsatz abhängig. junktion um besetzt.
N Ein Nebensatz zweiten Grades ist ein Neben- Auch bei den Nebensätzen zeigt sich also, dass Nebensatzarten
satz, der von einem Nebensatz ersten Grades eine Definition von Haupt- und Nebensatz auf der
abhängt. Grundlage der Verbstellung nicht möglich ist: Ein
N Ein Nebensatz dritten Grades hängt von einem Nebensatz ist nicht generell ein Satz mit Verbend-
Nebensatz zweiten Grades ab, usw. stellung, wie die uneingeleiteten Nebensätze (52a)
In Beispiel (49) ist ein kursiv gekennzeichneter und (53a) zeigen. Dass es sich tatsächlich um Ne-
Nebensatz ersten Grades und ein kursiv und fett bensätze handelt, kann man sich u. a. verdeutli-
wiedergegebener Nebensatz zweiten Grades ent- chen, indem man sie in einen Konjuktionalsatz
halten. umformuliert, vgl. (52b) und (53b).

(49) [Hauptsatz Der Papagei hüpft aufgeregt in seinem Käfig hin (50) Der Papagei hüpft aufgeregt in seinem Käfig hin und her,
und her, [Nebensatz 1. Grades wenn Berta, [Nebensatz 2. Grades die ihm wenn Berta zur Tür herein kommt.
immer etwas Leckeres mitbringt,] zur Tür herein kommt.]] (51) … Berta, die ihm immer etwas Leckeres mitbringt
(52) a Hört Peppi Berta zur Tür hereinkommen, hüpft er aufgeregt
Prinzipiell gibt es keine grammatische Beschrän- in seinem Käfig hin und her.
kung bezüglich des Grades der Abhängigkeit: Die b Wenn Peppi Berta zur Tür hereinkommen hört, …
Syntax ist wie oben erwähnt rekursiv. Jeder Satz (53) a Er hofft, sie habe ihm wieder etwas Leckeres mitgebracht.
kann prinzipiell wiederum einen Nebensatz ent- b Er hofft, dass sie ihm wieder etwas Leckeres mitgebracht
halten. Es können zudem auch mehrere Nebensät- hat.
ze gleichen Grades in einem komplexen Satz vor- (54) Berta hätte fast vergessen, ihren Papagei zu füttern.
kommen. Die bloße Anzahl der Nebensätze in
einem komplexen Satz sagt also noch nichts über 3. Nach der syntaktischen Funktion: Dieses Kriteri-
ihren Abhängigkeitsgrad aus. um für Nebensätze wird ganz analog zur Klassifi-
2. Nach der Form, d. h. insbesondere danach, kation der Satzglieder bzw. Gliedteile angewandt,
wie das Vorfeld bzw. die linke Satzklammer be- denn der ganze Nebensatz ist ein Satzglied oder
setzt sind. Gliedteil des jeweils übergeordneten Satzes.
N Ein Konjunktionalsatz wird von einer subordi- N Ein Subjektsatz stellt insgesamt das Subjekt
nierenden Konjunktion eingeleitet, die die linke des übergeordneten Satzes dar, in (55) z. B. das
Satzklammer besetzt, vgl. (50), (52b) und (53b). Subjekt von erfüllen.
N Ein Pronominalsatz ist ein Nebensatz, der N Ein Objektsatz fungiert entsprechend als Ob-
durch ein spezielles Pronomen eingeleitet wird, jekt des übergeordneten Satzes, in (56) als Ob-
das im Vorfeld steht. Es kann sich hierbei um jekt von hoffen.
ein Interrogativpronomen (abhängige/indirekte N Ein Adverbialsatz ist ein Adverbial des überge-
Fragesätze) oder um ein Relativpronomen (Re- ordneten Satzes z. B. ein Temporal-, Lokal-, Mo-
lativsätze vgl. (51)) handeln. Üblicherweise dal-, Kausal- oder, wie in (57), ein Konditional-
werden alle mit Interrogativum eingeleiteten adverbial.
Nebensätze dem Einleitungstyp Pronominal- N Ein Prädikativsatz nimmt die Funktion eines
satz zugeordnet, auch die mit Interrogativad- Prädikativs im übergeordneten Satz ein, vgl.
verb (wann, wo usw.) eingeleiteten. (58).
N Ein uneingeleiteter Nebensatz ist ein Neben- N Ein Attributsatz stellt kein ganzes Satzglied,
satz, der keines der genannten Einleite-Ele- sondern nur ein Gliedteil des übergeordneten
mente aufweist. Uneingeleitete Nebensätze Satzes mit der Funktion Attribut dar. Der Ne-
können nach ihrer Verbstellung weiter unter- bensatz in (59) ist beispielsweise ein Attribut
teilt werden in uneingeleitete Verberstneben- zum Nomen Berta und entsprechend Gliedteil
sätze (typischerweise in der Funktion konditi- der Objekt-NP mit dem Kopf Berta.
onaler Adverbialsätze), vgl. (52a), und unein-
geleitete Verbzweitnebensätze, vgl. (53a).

77
2.3
Grammatik
Syntax

(55) Dass Peppi jetzt sogar sprechen kann, erfüllt Berta mit gro- im Vorfeld, im Nachfeld oder (seltener) im Mittel-
ßem Stolz. feld des Matrixsatzes. Sie selbst besitzen wiederum
(56) Er hofft, sie habe ihm wieder etwas Leckeres mitgebracht. auch evtl. Vorfeld, linke Satzklammer, Mittelfeld,
(57) Der Papagei hüpft aufgeregt in seinem Käfig hin und her, rechte Satzklammer usw. Dies veranschaulicht die
wenn Berta zur Tür herein kommt. Analyse eines komplexen Satzes nach dem Felder-
(58) Peppi ist, was man einen schlauen Vogel nennen könnte. modell (links). Der Nebensatz ist grau unterlegt.
(59) Peppi mag Berta, die ihm immer etwas Leckeres mitbringt. Wie können nun komplexe Sätze im Phrasen-
strukturbaum dargestellt werden? Hierfür bildet
wie schon bei der Darstellung der Satzglieder und
2.3.4.2 | Syntaktische Analyse
der Einfachsätze die eben besprochene, in der
komplexer Sätze
traditionellen Grammatik übliche Klassifikation
Nebensätze sind in den übergeordneten Satz (Ma- sowie die Analyse nach dem Feldermodell die
trixsatz) eingebettet, sind also Teil des Matrixsatzes Grundlage. Im Phrasenstrukturbaum stellen Ne-
und stehen entsprechend im topologischen Modell bensätze eigene CPs dar. Sie stehen an der Stelle,
die sie gemäß ihrer syntaktischen Funktion ein-
nehmen – als SpecIP bei Subjektsätzen, als Teil der
Vorfeld LSK Mittelfeld RSK NF VP bei Adverbialsätzen und Objektsätzen, als Teil
VF LSK MF RSK NF strahlt meine Nachbarin – – der NP des entsprechenden Bezugsnomens bei At-
– Wenn Peppi krächzt – tributsätzen – bzw. sind mit einer Spur an dieser
Stelle verknüpft, wenn sie ins Vorfeld oder Nach-
Analyse eines komplexen Satzes im Feldermodell/topologischen Modell feld des Matrixsatzes verschoben worden sind.

Beispiel Phrasenstrukturanalyse eines komplexen Satzes SpecCP, die ja wie oben besprochen dem Vorfeld
Betrachten wir als Beispiel wiederum den kom- entspricht. Man kann also syntaktische Bewe-
plexen Satz [[Wenn Peppi krächzt] strahlt meine gung des Nebensatzes aus der VP nach SpecCP
Nachbarin]. Der Nebensatz wenn Peppi krächzt, annehmen. Entsprechend hat der Nebensatz in
der ein Nebensatz ersten Grades und ein Kon- der VP des übergeordneten Satzes eine Spur t
junktionalsatz ist, kann gemäß seiner syntakti- hinterlassen.
schen Funktion als Adverbialsatz klassifiziert Der Nebensatz selbst stellt wie gesagt seinerseits
werden. Genau wie andere Adverbiale auch steht eine komplette CP dar, deren interne Struktur
er daher ›ursprünglich‹ als Teil der VP. Wie die ebenfalls baumgraphisch wiedergegeben werden
Analyse des Satzes nach dem Feldermodell erge- kann. Somit ergibt sich als Phrasenstruktur für
ben hat, steht der Nebensatz in der konkreten diesen komplexen Satz insgesamt die Struktur in
Abfolge hier aber im Vorfeld des Matrixsatzes, (60), in der der Nebensatz fett hervorgehoben ist.
im Phrasenstrukturbaum also an der Position

(60) CP

CPi C'

C IP C IP

Wenn NP I' strahltj NP I'

N VP I DP N VP I

Peppi V [3. Sg., Präs., Ind.] D Nachbarin ti V [3. Sg., ...]

krächzt meine ti

78
2.3
Grammatik
Literatur

Zitierte und weiterführende Literatur


Baltin, Mark/Collins, Chris (Hg.) (2000): The Handbook of Haider, Hubert (1993): Deutsche Syntax – generativ.
Contemporary Syntactic Theory. Oxford. Tübingen.
Boskovic, Zeljko/Lasnik, Howard (Hg.) (2006): Minimalist Heidolph, Karl-Erich u. a. (1981): Grundzüge einer
Syntax. The Essential Readings. Oxford. deutschen Grammatik. Berlin.
Brandt, Patrick/Dietrich, Rolf-Albert/Schön, Georg Jacobs, Joachim u. a. (Hg.) (1993/1995): Syntax. Ein
(22006): Sprachwissenschaft. Köln. internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung.
Chomsky, Noam (1965): Aspects of the Theory of Syntax. 2 Halbbde. Berlin/New York.
Cambridge, Mass. Müller, Gereon (2000): Elemente der optimalitätstheoreti-
– (1981): Lectures on Government and Binding. Dordrecht. schen Syntax. Tübingen.
– (1995): The Minimalist Program. Cambridge, Mass. Pafel, Jürgen (2010): Einführung in die Syntax. Stuttgart/
Drach, Erich (1937): Grundgedanken der deutschen Weimar.
Satzlehre. Frankfurt a. M. Philippi, Jule/Tewes, Michael (2010): Basiswissen
Duden. Die Grammatik (82009). Mannheim. Generative Grammatik. Göttingen.
Dürscheid, Christa (52010): Syntax. Grundlagen und Pittner, Karin/Berman, Judith (32008): Deutsche Syntax.
Theorien. Göttingen. Ein Arbeitsbuch. Tübingen.
Gallmann, Peter: Syntaxtheorie. 2001–2012 (Online unter: Stechow, Arnim von/Sternefeld, Wolfgang (1988):
www.syntax-theorie.de). Bausteine syntaktischen Wissens. Ein Lehrbuch der
Grewendorf, Günther (2002): Minimalistische Syntax. generativen Grammatik. Opladen.
Tübingen/Basel. Sternefeld, Wolfgang (32008/2009): Syntax. Eine
– /Hamm, Fritz/Sternefeld, Wolfgang (32001): Sprachliches morphologisch motivierte generative Beschreibung des
Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der Deutschen. 2 Bde. Tübingen.
grammatischen Beschreibung. Frankfurt a. M. Zifonun, Gisela u. a. (1997): Grammatik der deutschen
Haegeman, Liliane (21994): Introduction to Government Sprache. Berlin/New York.
and Binding Theory. Oxford. Agnes Jäger

79
3.2
Semantik und Pragmatik

3 Semantik und Pragmatik


3.1 Einleitung
3.2 Evidenz für Bedeutungen
3.3 Bedeutungsebenen
3.4 Bedeutungsverschiebungen und Mehrdeutigkeiten
3.5 Bedeutungsbeziehungen
3.6 Regeln der Sprachverwendung

3.1 | Einleitung
In der Semantik und Pragmatik wird der Aspekt Die Bezeichnungen ›Semantik‹ und ›Pragmatik‹
der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken un- für die Disziplinen stammen von Charles Morris
tersucht. Allgemein nimmt man an, dass sprachli- (1938). Die Art der Beziehung zwischen Semantik
che Ausdrücke Bedeutung haben – wir sagen und Pragmatik ist im Rahmen der Sprachwissen-
dann, dass wir ihre Bedeutung kennen. Sprachli- schaft allerdings umstritten. Morris’ Ansicht, dass
che Ausdrücke können aber auch bei der Verwen- es eine klare Trennlinie zwischen Semantik und
dung in der Kommunikation Bedeutung gewinnen. Pragmatik gebe, insofern als pragmatische Phäno-
Wir kennen diese Sorte Bedeutung allerdings mene sauber auf semantischen Phänomenen auf-
nicht, ohne dass die Ausdrücke verwendet wer- bauen, ist heute überholt. Betrachtet man Bedeu-
den. Diese beiden Perspektiven auf Bedeutung tungen in Dialogen oder im Textzusammenhang,
entsprechen der Unterscheidung der Teildiszipli- müssen in vielen Fällen Semantik und Pragmatik
nen Semantik und Pragmatik. ineinandergreifen, um die Bedeutung vollständig
abzubilden.

Definition Definition

In der   Semantik erforscht man die In der   Pragmatik werden diejenigen Bedeutungsarten untersucht,
Bedeutung (an sich) von einfachen und die bei der konkreten Verwendung der sprachlichen Ausdrücke entste-
komplexen Wörtern, aber auch von Phrasen hen, aber auch die Voraussetzungen und Effekte dieser Verwendung.
(also Wortfolgen) und natürlich von ganzen Analysiert wird die Verwendung von deiktischen Ausdrücken (Ausdrü-
Sätzen. Die Untersuchung von Wortbedeu- cke, deren Bedeutung von dem Sprecher, dem Hörer, dem Äußerungs-
tungen fällt dabei in den Bereich der lexi- zeitpunkt oder dem Ort der Äußerung abhängt), Präsuppositionen
kalischen Semantik. Bedeutungen von (Voraussetzungen für die Angemessenheit einer Äußerung), Implikatu-
Phrasen und Sätzen werden im Rahmen der ren (Informationen, die über die Bedeutung an sich der Ausdrücke hin-
Satzsemantik untersucht. Der Begriff ausgehen und in Abhängigkeit von der Äußerungssituation entstehen)
›Semantik‹ wird nicht nur für die Disziplin, und von sogenannten Sprechakten (die Voraussetzungen und Effekte
sondern auch für die Bedeutungsart ver- erfolgreicher Äußerungen). Auch der Begriff ›Pragmatik‹ wird außer für
wendet. die Disziplin auch für die Bedeutungsarten verwendet.

3.2 | Evidenz für Bedeutungen


Bedeutungen von natürlich-sprachlichen Ausdrü- N die Gesten einer Gebärdensprache: komplexe
cken werden durch sprachliche Äußerungen in Handzeichen
drei Formen vermittelt: N die geschriebenen Zeichen: Buchstabenfolgen,
N die Lautgestalt von sprachlichen Einheiten: die diese Einheiten kodieren
Schallwellen in unterschiedlichen Tonhöhen Sprecher einer Sprache kennen offensichtlich die
und mit variierender Lautstärke Bedeutungen der Ausdrücke ihrer Sprache und sie

81
3.2
Semantik und Pragmatik
Evidenz für Bedeutungen

gehen stillschweigend davon aus, dass sie vonein- Alle diese Methoden liefern Daten, die analy-
ander wissen, dass sie sich in dieser Kenntnis ei- siert und interpretiert werden müssen und als Evi-
nig sind. Woran kann man erkennen, dass jemand denz für Bedeutung zählen. Als Daten zählen au-
die Bedeutung eines Ausdruckes kennt? Welche ßerdem gewöhnliche Texte und Sequenzen von
Evidenz, welche Rechtfertigung gibt es für Bedeu- natürlich gesprochener Sprache, die heute als Kor-
tungen? pora (Sprachdatensammlungen) maschinell, das
Introspektion In der Linguistik ist die Introspektion (in der heißt für den Computer lesbar, aufbereitet und sta-
Psychologie auch Selbstbeobachtung genannt) tistisch ausgewertet werden können. Auch diese
eine weit verbreitete Methode, Evidenz für Bedeu- Daten können Aufschluss über Bedeutung geben.
tungen zu erhalten. Wir beschreiben, was wir Verfahren hierfür werden in der Korpuslinguistik
selbst über Bedeutung wissen, und wir nehmen entwickelt.
an, dass alle anderen Sprecher unserer Sprache Wir konzentrieren uns hier auf Daten der Intro-
unsere Beobachtung teilen. Treten Unsicherheiten spektion und auf Beobachtungen zur Funktion
bei der Introspektion auf, bietet sich die gesteuerte von Sprache.
Befragung von Muttersprachlern an (z. B. mit Fra-
gebogen).
Die Beobachtung des Sprachverhaltens von
Sprechern ist eine weitere Methode zur Gewinnung 3.2.1 | Paraphrasen
für Bedeutungen. Sprachverwendung ist eine Form
von Handeln. Und diese Handlungen kann man be- Sprecher einer Sprache sind grundsätzlich in der
obachten und den Gebrauch der Sprache beschrei- Lage, Ausdrücke ihrer Sprache zu erklären und mit
ben. In der Psycholinguistik werden heute Tests Ausdrücken zu umschreiben, die eine ähnliche Be-
zum Verhalten von Probanden beim Verständnis deutung haben. Man nennt diese Umschreibungen
von Sprache ausgewertet. Gemessen wird etwa die Paraphrasen. Sie werden im Rahmen der lexikali-
Reaktionszeit, in der ein Proband Verständnis si- schen Semantik verwendet, um Bedeutungen von
gnalisiert. In der Neurolinguistik werden Verfahren Wörtern zu erfassen. In der Lexikographie (die
zur Messung von Hirnaktivitäten bei der Sprach- Disziplin, die sich dem Erstellen von Wörterbü-
produktion und Sprachrezeption als Methoden zur chern widmet) werden sie verwendet, um ver-
Repräsentation von Bedeutungen eingesetzt. schiedene Bedeutungen eines Wortes zu unter-
Zur Vertiefung scheiden.
Für Inhaltswörter funktioniert die Paraphrasie-
Bedeutung = Paraphrase? rung von Bedeutungen relativ gut. Inhaltswörter
Paraphrasen von sprachlichen Ausdrücken sind in vielen Fällen entweder unvoll- werden für natürliche Arten und Stoffe (wie Tiger
ständige oder zu einschränkende Beschreibungen eines sprachlichen Ausdruckes und Wasser), Artefakte (wie Stuhl oder Drossel-
oder beides. Das illustriert der Original-Eintrag unter Liebe im Duden – Deutsches klappenstutzen) und Markenprodukte (wie Über-
Universalwörterbuch (2007): »[…] auf starker körperlicher, geistiger, seelischer raschungsei) oder Ereignisse (wie platzen) und
Anziehung beruhende Bindung an einen bestimmten Menschen [des anderen Ge- bestimmte Zustände (wie sitzen) verwendet. In
schlechts], verbunden mit dem Wunsch nach Zusammensein, Hingabe o.ä«. der Paraphrase nennen wir Kriterien, indem wir
Paraphrasen variieren von Muttersprachler zu Muttersprachler und, was an der Dinge/Ereignisse/Zustände beschreiben, die unter
Umschreibung einer Wortbedeutung tatsächlich zur Wortbedeutung gehört, ist den zu erklärenden Begriff fallen. Unter Umstän-
schwer abzugrenzen von Assoziationen bzw. subjektiven Erfahrungen oder Er- den ist Expertenwissen nötig, um eine Paraphrase
wartungen, die ein Muttersprachler mit einem Wort verbindet. Psychologische Ex- zu vervollständigen. Schwieriger sind Abstrakta
perimente haben gezeigt, dass die Paraphrasen von zwei Muttersprachlern zu ein zu paraphrasieren wie z. B. Wahrheit. Typischer-
und demselben Begriff im Schnitt nur zu 44 % übereinstimmen (Barsalou 1993). weise wird dafür eine tatsächliche Gegebenheit
Die Paraphrasen sind selbst wieder Zeichenfolgen und haben demnach eine ei- verallgemeinert, in der der zu beschreibende Aus-
gene Bedeutung, die wiederum paraphrasiert werden könnte, und auch diese Pa- druck eine Rolle spielt.
raphrase könnte man wieder paraphrasieren und so weiter und so fort. Paraphra- Funktionswörter werden von den Inhaltswör-
sierung als Methode für die Gewinnung von Bedeutungen hat also eigentlich nie tern abgegrenzt und oft kann man lesen, dass die-
ein Ende (unendlicher Regress). se nichts bedeuten (z. B. in Meibauer u. a. 2007,
Trotzdem stärkt das Faktum, dass wir in der Lage sind, Paraphrasen für die Be- S. 133). Eine Paraphrasierung ist unmöglich, wenn
deutung von sprachlichen Ausdrücken anzugeben, unsere Gewissheit, dass es die syntaktische Kategorie der Funktionswörter er-
Bedeutungen an sich gibt. Paraphrasen sind indirekte Evidenz für Bedeutungen. halten bleiben soll. Für Wörter wie den definiten
oder indefiniten Artikel (der, ein) oder die Partikel

82
3.2
Semantik und Pragmatik
Funktion von
sprachlichen Ausdrücken

wieder haben Muttersprachler auf Anhieb keine dass ihr Mann gestorben ist bedeuten dasselbe.
Umschreibungen parat. Denkbar sind aber Para- Sprecherurteile zu Bedeutungsbeziehungen sind
phrasierungen im Satzzusammenhang. Paraphra- Urteile über Sprache.
semuster für Konstruktionen mit diesen Ausdrü- Die Sprachkenntnisse erlauben dem Mutter- Bedeutungswissen
cken zu entwickeln, hat sich als Aufgabe der sprachler zu entscheiden, ob ein bestimmter
Satzsemantik etabliert. sprachlicher Ausdruck oder eine Kombination von
Der Satz (1) z. B. ist mehrdeutig, und diese Ausdrücken Bedeutung überhaupt zukommt
Mehrdeutigkeit kann weg-paraphrasiert werden. (Katz 1972). Die Buchstabenfolge raspberry z. B.
Die Paraphrasen kommen ohne wieder aus. Jeder hat keine Bedeutung im Deutschen, Himbeere aber
Paraphrase entspricht eine Lesart des Satzes in schon.
(1). Der Bedeutungsbestandteil, den wieder bei- Oft sind Muttersprachler auch in der Lage, Ur-
trägt, ist unterstrichen. teile über die Mehrdeutigkeit eines (einfachen
oder komplexen) Ausdruckes abzugeben. Die Ab-
(1) Bertha hat das Fenster wieder zu gemacht. machung Wir treffen uns bei der Bank kann leicht
a »Bertha hat das Fenster zugemacht und sie hat das Fenster zu Missverständnissen führen, wenn nicht klar ist,
schon einmal zugemacht.« ob es sich bei der Bank um eine Sitzgelegenheit
b »Bertha hat das Fenster zugemacht und es war schon ein- oder ein Geldinstitut handelt.
mal zu.« Das Wissen, das uns diese Urteile ermöglicht,
ist Bedeutungswissen. Auch Sprecherurteile er-
Der Bedeutungsunterschied ergibt sich nur da- lauben (wie Paraphrasen) nur indirekte Evidenz
durch, dass das lexikalische Material, aus dem der für Bedeutungen. Wenn Unsicherheiten bei den
Satz besteht, unterschiedlich in Bezug auf das Pa- Sprecherurteilen bestehen, ist die Evidenz außer-
raphrasemuster « …. und …. schon einmal …« dem unzuverlässig.
verteilt wird. In der ersten Lesart drückt der Satz
eine Wiederholung einer Handlung aus, in der
zweiten Lesart die Wiederherstellung eines Aus-
gangszustands. 3.2.3 | Funktion von sprachlichen
Paraphrasen setzen generell ein Sprecherurteil Ausdrücken
voraus, nämlich dass der paraphrasierte Ausdruck
und die Paraphrase dasselbe oder zumindest etwas Evidenz für Bedeutungen ist die Funktion von Funktion
Ähnliches bedeuten. Zwischen der Paraphrase und sprachlichen Ausdrücken. Sprache wird z. B. von
dem paraphrasierten Ausdruck besteht also eine einem Sprecher verwendet, um in einer bestimm-
Bedeutungsbeziehung. ten Äußerungssituation einem Hörer eine Mittei-
lung über Tatsachen zu machen: was es in der
Mensa zu essen gibt, wie lange die Post geöffnet
ist etc. Wir reden über Dinge in unserer Welt und
3.2.2 | Sprecherurteile schreiben ihnen Eigenschaften zu. Mit Sprache
drücken wir unsere Überzeugungen darüber aus,
Muttersprachler können entscheiden, ob Bedeu- wie die Dinge sich zueinander verhalten. Bedeu-
tungsbeziehungen zwischen Ausdrücken ihrer tungswissen erlaubt uns, mit sprachlichen Aus-
Sprache bestehen. Muttersprachler sind z. B. in der drücken einen Bezug zur Welt herzustellen und
Lage zu entscheiden, ob zwei einzelne Ausdrücke zu entscheiden, ob ein Ausdruck für etwas korrekt
dieselbe Bedeutung haben (wie z. B. stehlen und verwendet wird oder nicht. Wer mit dem Wort
entwenden) oder ob zwei Ausdrücke in der Be- Himbeere Brombeeren bezeichnet, macht einen
deutung irgendwie verwandt sind (wie z. B. er- Fehler. Wer sagt, dass die Rhone durch Deutsch-
schlagen und tot). Bedeutungsbeziehungen sind land fließt, sagt etwas Falsches.
natürlich auch über verschiedene Sprachen hin- Sprache können wir aber nicht nur für Mittei-
weg möglich. Englisch raspberry und deutsch lungen verwenden, wir können mit ihr auch Auf-
Himbeere bedeuten dasselbe. Außerdem kann forderungen zur Mitteilung (in der Form eines
man Bedeutungsbeziehungen nicht nur zwischen Fragesatzes) machen. Wir können durch Sprache
Bedeutungen von einzelnen Ausdrücken, sondern andere so beeinflussen, dass sie (nicht-sprachli-
auch zwischen Sätzen ausmachen. Bertha hat ih- che) Handlungen ausführen: dazu dienen Befehle.
ren Mann umgebracht und Bertha hat verursacht, Wir können Schenkungen sprachlich formulie-

83
3.2
Semantik und Pragmatik
Evidenz für Bedeutungen

ren, wodurch sich Besitzverhältnisse ändern. Ritu- lismus zurückverfolgen, wonach sprachliche Be-
ale der Namensgebung werden sprachlich voll- deutungen Bestandteile einer mentalen Einheit,
zogen. Wir können Sprache, naiv gesagt, dazu dem sog. Zeichen, sind (Saussure 1916/2001; Lin-
verwenden, die Welt zu verändern. ke u. a. 2004).
Darüber hinaus können wir mit Sprache unsere Konsens besteht heute in der kognitiven Se-
Einstellungen zu Tatsachen oder Dingen mitteilen mantik darüber, dass nicht jedem einzelnen Aus-
(z. B. zur Bewertung einer Tatsache oder eines druck (Lexem oder Morphem) ein psychischer Zu-
Dinges als gut oder schlecht, wünschenswert oder stand entspricht. Vielmehr stellt man sich vor,
bedauerlich). dass es ein Grundinventar von Bedeutungen gibt,
In all diesen Fällen verwenden wir einen be- aus denen sich die Bedeutungen für die einzelnen
stimmten, unter Umständen komplexen sprachli- Ausdrücke zusammensetzen. Eines der For-
chen Ausdruck, mit dem wir einen Bezug auf Din- schungsziele ist es, dieses Grundinventar zu er-
ge herstellen, und verfolgen damit bestimmte schließen.
Absichten. Auch diesen Aktivitäten liegt Bedeu- Wird Bedeutung eine mentale Realität zuge-
tungswissen zugrunde. sprochen, macht man klare Voraussagen für deren
Beobachtbarkeit in neurophysiologischen Experi-
menten, mit denen Bedeutungen im Kopf lokali-
siert werden können. Heute kann Hirnaktivität
3.2.4 | Was Bedeutungen sind … gemessen werden, indem die elektrische Aktivität
der Neuronen beobachtet wird. Erhöhte Aktivität
…, darüber gehen die Meinungen in der Sprach- drückt sich in einer Spannungsänderung aus, die
wissenschaft auseinander. Das hängt vor allem da- sich mittels eines Elektroenzephalogramms (EEG)
mit zusammen, dass keine Einigkeit darüber be- sichtbar machen lässt. Spannungsänderungen
steht, was als zentrale Evidenz für Bedeutung nach einem Reiz deuten dabei auf Schwierigkeiten
angesehen werden kann (Krifka 2011, Kap. 12) und bei der Sprachverarbeitung. Die Hirnforschung ist
wie der Bedeutungsbegriff überhaupt zu fassen ist sich heute einig, dass wir auch nach 20 Jahren
(Levinson 1983/2000, Kap. 1). Forschung von einer Lokalisation von sprachlicher
Weil Bedeutung nicht direkt beobachtbar ist, Bedeutung im Kopf noch weit entfernt sind (Barsa-
muss sie rekonstruiert werden. Wir greifen hier lou 2010).
drei wichtige Sichtweisen der Rekonstruktion ex- Charakteristisch ist für diesen Ansatz, dass Be-
emplarisch heraus. Bedeutungen sind – dabei ent- deutungen als psychische Zustände privater Natur
spricht jede Sichtweise einem Aspekt von Evidenz sind und deshalb Gesprächspartnern wechselsei-
für Bedeutungen –: mentale Objekte, abstrakte Ob- tig nicht zugänglich. Es muss also erklärt werden,
jekte oder Handlungen. wie es zur zwischenmenschlichen Verständigung
Mentale Objekte: Vertreter der sog. kognitiven kommt, wenn Bedeutungen etwas Mentales sind.
Semantik (z. B. Langacker 1987) und der konzep- Im Zentrum des Interesses dieser Ansätze stehen
tuellen Semantik (z. B. Jackendoff 1983) nehmen allerdings eher Fragestellungen, welche die Orga-
an, dass Bedeutungen (unter Umständen komple- nisation des mentalen Lexikons betreffen (lexikali-
xe) mentale Objekte sind. sche Semantik) und weniger Fragestellungen der
Kognitive Semantik Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass bestimm- Satzsemantik oder Pragmatik.
te Aspekte des sprachlichen Wissens einem Mut- Abstrakte Objekte: In der formalen Semantik
tersprachler durch Selbstbeobachtung zugänglich (in der Ausprägung einer Referenzsemantik) ist
sind. Es liegt demnach nahe, dieses Wissen entwe- die Ansicht Standard, dass Bedeutungen als etwas
der direkt als psychischen Zustand aufzufassen Objektivierbares aufzufassen sind, etwas Ab-
oder zumindest als mentale Repräsentation, die straktes, auf das aber alle Sprachbenutzer gemein-
auf den psychischen Zustand verweist. Ein ande- sam Zugriff haben.
rer Ausdruck für Bedeutung in diesem Sinne ist Ausgangspunkt für die Rekonstruktion dieser
Konzept (von engl. concept: Begriff) oder konzep- Objekte ist, wie übrigens auch beim handlungsba-
tuelle Struktur (z. B. Löbner 2003, Kap. 9). Sprach- sierten Bedeutungsbegriff (s. u.), die Funktion der
liche Information betrifft danach nicht die wirkli- Sprache. Mit Mitteilungen (in der Form von Dekla-
che Welt, sondern die Vorstellung (oder eine rativsätzen) kann man Fakten der Welt beschrei-
Projektion), die wir von der wirklichen Welt ha- ben und Mitteilungen können wahr oder falsch
ben. Diese Sichtweise kann man in den Struktura- sein, je nachdem ob sie die Fakten richtig beschrei-

84
3.2
Semantik und Pragmatik
Was Bedeutungen sind …

ben oder nicht. Damit ist der Bezug zwischen ger sind die Referenten der Namen. Nicht nur ein-
Sprache und Fakten der Welt hergestellt. Dass zelne Dinge können als Bezugsobjekte dienen,
Satzbedeutungen mit Wahrheit bzw. Falschheit in sondern auch die aus diesen Dingen konstruierten
Zusammenhang stehen, zeigt die folgende Überle- Mengen. Dinge kann man zu Mengen zusammen-
gung: Wenn von zwei Sätzen der eine wahr ist und fassen, die sich eine bestimmte Eigenschaft teilen.
der andere falsch, dann haben diese Sätze mit gro- Einstellige Prädikate wie husten beziehen sich z. B.
ßer Sicherheit unterschiedliche Bedeutung. So tri- auf Mengen von einzelnen Dingen (die Individuen,
vial diese Überlegung ist, sie stellt den Bezug zwi- die in der beschriebenen Situation husten). Man
schen der Bedeutung von Sätzen einerseits und kann Dinge aber auch zu Mengen von Paaren, Tri-
Wahrheit andererseits her. peln etc. zusammenfassen, die in einer bestimmten
Jemand, der eine Sprache beherrscht, kann je- Beziehung stehen. Und Mengen können selbst wie-
weils entscheiden, ob ein Satz die Umstände richtig der zu Mengen (von Mengen) zusammengefasst
beschreibt oder nicht. Er kann entscheiden, ob das, werden, wenn diese Mengen sich eine Eigenschaft
was der Satz ausdrückt, unter diesen Umständen teilen und so weiter.
wahr ist oder nicht. Mit anderen Worten: Er kennt Die formale Semantik nimmt als linguistische
die Bedingungen, unter denen der Satz wahr wäre, Disziplin ihren Ursprung um 1900 in der Sprach- Sprachphilosophie
wenn er einen Satz versteht. Man spricht generell philosophie und Logik. Dort wird der Systemcha- und Logik
von Wahrheitsbedingungen. Das Wissen um die rakter der wissenschaftlichen Argumentation er-
Bedeutung eines Satzes und das Wissen um die forscht. In den 1970er Jahren wurde erstmals
Wahrheitsbedingungen des Satzes ist also dasselbe. erkannt, dass die Erkenntnisse über formale Spra-
Eine Möglichkeit, Satzbedeutungen zu rekonstru- chen, die in der Mathematik und Naturwissen-
ieren, ist damit, Satzbedeutungen direkt mit Wahr- schaften verwendet werden, auch auf natürliche
heitsbedingungen gleichzusetzen. Eine zentrale Sprachen übertragbar sind (Montague 1974). Die-
Rolle bei der Identifikation von Bedeutung spielt se Arbeiten haben zur Vereinfachung der damals
die semantische Kompetenz von Sprechern einer modernen syntaktischen Analysen geführt.
Sprache, Urteile über den Zusammenhang zwi- Im Gegensatz zur Sichtweise der kognitiven Se-
schen Sprache und beschriebener Welt zu fällen. mantik kann die formale Semantik nur einen klei-
Damit ist noch nicht erklärt, wie sich Satzbe- nen Beitrag zur Organisation des mentalen Lexi-
deutungen aus den Bedeutungen der einzelnen kons liefern. Die Bedeutungsbeziehung zwischen
Bausteine der Sätze ergeben. Muttersprachler sind Baum und Pflanze kann z. B. als Beziehung zwi-
grundsätzlich in der Lage, auf der Basis eines end- schen zwei Mengen von Dingen, eben Bäumen
lichen Inventars von Ausdrücken und Kombinati- und Pflanzen, rekonstruiert werden. Im Zentrum
onsregeln unendlich viele Sätze zu produzieren
und zu verstehen (= Kreativität der Sprache). Zur Vertiefung
Man nimmt an, dass der Kreativität auf der Bedeu-
tungsseite ein Prinzip zugrunde liegt: Das Kompo- Extension und Intension
sitionalitätsprinzip besagt, dass sich die Bedeu- Das Begriffspaar ›Extension‹ und ›Intension‹ ist untrennbar mit der formalen Se-
tung eines komplexen sprachlichen Ausdruckes mantik verbunden. Beide Begriffe stehen für unterschiedliche Bedeutungsaspekte.
aus der Bedeutung der Bestandteile dieses Aus- Die Unterscheidung geht auf Rudolf Carnap (1947) zurück, der damit die Begriffe
druckes ergibt und aus der Art der Kombination ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ von Gottlob Frege (1898) mengentheoretisch rekonstru-
dieser Teile. ierte.
Die Wahrheitsbedingungen spezifizieren eine Unter der Extension eines sprachlichen Ausdruckes versteht man seinen Objekt-
mögliche Sachlage, Situationen, Teile unserer Welt, bezug in einer konkreten Situation. Die Extension des Ausdrucks der Präsident
das heißt Dinge (wie Personen, Tiere, Objekte, der Vereinigten Staaten zum Beispiel ist 2011 Barack Obama. Derselbe Ausdruck
Orte, Ereignisse etc.) mit Eigenschaften und Bezie- bezieht sich am 12. April 1861 aber auf Abraham Lincoln. Je nach betrachtetem
hungen untereinander. Die Idee der Konstruktion Zeitpunkt ist die Extension dieses Ausdrucks also unterschiedlich.
von Wortbedeutungen besteht im Wesentlichen da- Von den konkreten Umständen kann man natürlich abstrahieren. Dann kommt
rin, die Bedeutungen von sprachlichen Ausdrücken man zu einem Bedeutungsbegriff, bei dem beliebigen Umständen Extensionen
mit Gegenstücken dieser Bezugsobjekte (die in den zugeordnet sind. Dieser Bedeutungsaspekt ist also eine Funktion, die Umständen
Wahrheitsbedingungen eine Rolle spielen) zu iden- Extensionen zuordnet. Statt von einer Funktion, die möglichen Umständen
tifizieren. Mit Eigennamen bezieht man sich auf (= Situationen) Extensionen zuordnet, spricht man auch kurz von Intension
(reale oder fiktive) Personen, Tiere, Orte, Gegen- (vgl. Lohnstein 2011 oder Elbourne 2011).
stände, die diesen Namen tragen. Die Namensträ-

85
3.3
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsebenen

des Interesses dieses Ansatzes stehen aber tatsäch- bel. Er motivierte die Sprechakttheorie als wichti-
lich Fragestellungen, die die semantischen Effekte gen Bestandteil der Pragmatik (Austin 1962; Searle
der Wortkombination betreffen. Pragmatische Be- 1969), aber als Ergänzung semantischer Theorien.
deutungsaspekte können und sollen im Rahmen Ausblick: Es ist übertrieben zu behaupten, dass
der formalen Semantik nicht dargestellt werden. diese drei Sichtweisen auf Bedeutung sich wider-
Neuere Strömungen in der formalen Pragmatik in- sprechen, und es ist falsch, eine Sichtweise als die
tegrieren die Resultate der formalen Semantik in »Richtige« zu deklarieren. Diese Sichtweisen re-
die Beschreibung von Diskurs und Text (vgl. präsentieren vielmehr verschiedene Teilperspekti-
Kamp/Reyle 1989). ven auf einen weit gefassten Begriff von Bedeu-
Handlungen: Die sog. pragmatische Wende ist tung. Allerdings überlappen sich die Auffassungen
der Auslöser dafür, sprachliche Bedeutung mit den teilweise noch und es besteht Uneinigkeit darüber,
jeweils mittels Sprache ausgeführten Handlungen wie die Schnittstellen zu anderen Teilbereichen
Sprachpragmatik zu identifizieren. Diese Sichtweise findet man in der Grammatik (Syntax und Morphologie) auszu-
Arbeiten, die dem Behaviorismus verpflichtet gestalten sind. Theoretisch am weitesten entwi-
sind. Die Idee, dass Handlungen Bedeutungen sein ckelt ist die Auffassung, dass Bedeutungen mit
können, war in den 1970er Jahren ein Gegenent- abstrakten Objekten gleichzusetzen sind. Die for-
wurf zu den semantischen Betrachtungsweisen male Semantik verfügt über eine mathematisch
der formalen Semantik oder zu strukturalistischen fundierte Repräsentationssprache. In neuerer Zeit
Betrachtungsweisen des sprachlichen Systems. gibt es aber auch Bestrebungen, der kognitiven Be-
Ausgangspunkt dieser Sichtweise ist, dass die deutungstheorie eine formale Repräsentation zu
Verwendung von Sprache eine Form von mensch- geben (Blutner 1994) bzw. die Terminologie der
lichem Handeln ist. Dadurch, dass ein Sprecher formalen Semantik mit kognitiven Kategorien zu
Sequenzen von Wörtern äußert, handelt er. Er be- unterlegen (z. B. Bierwisch 1983).
zieht sich auf Dinge mit Sprache und schreibt den In den folgenden Kapiteln wird vorausgesetzt,
Dingen Eigenschaften zu, was ebenfalls als Hand- dass ein handlungsbezogener (pragmatischer) Be-
lungen angesehen werden kann. Zuweilen kann er deutungsbegriff und ein mentaler oder dingbezo-
durch Sprache Tatsachen schaffen, indem er z. B. gener (semantischer) Bedeutungsbegriff zusam-
Dingen einen Namen gibt oder einen neuen Besit- menspielen, um das ganze Bedeutungsspektrum
zer zuweist. Durch Sprache kann man seine Ge- der Alltagssprache abzudecken. Die Darlegung der
sprächspartner beeinflussen (indem man eine Auf- Facetten des Bedeutungsspektrums verzichtet hier
forderung ausspricht oder ein Versprechen gibt). weitgehend auf formale Präzisierungen und Vor-
Für sprachliche Handlungen wie Befehle, Tau- aussagen und beschränkt sich auf die Darstellung
fen oder Schenkungen ist der Ansatz sehr plausi- und Diskussion der Phänomene.

3.3 | Bedeutungsebenen
Bedeutung ist ein vielschichtiges Phänomen, und Definition
in der heutigen Forschung gibt es eine Reihe von
Vorschlägen, wie viele Bedeutungsebenen anzu- N Die   Ausdrucksbedeutung ist die
setzen sind, wie diese verschiedenen Ebenen zu Bedeutung, die ein Ausdruck unabhängig
konkretisieren sind und in welchem Zusammen- von der Äußerungssituation hat.
hang sie stehen. Im deutschen und englischen N Die   Äußerungsbedeutung ist die
Sprachraum ist eine Dreiteilung üblich. Bedeutung, die ein Ausdruck auf der
Diese drei Begriffe (s. Definition) gehen auf Ar- Basis der Ausdrucksbedeutung abhängig
beiten von Bierwisch (1979, 1983) zurück. Eine von der Äußerungssituation hat.
Dreiteilung in diesem Sinne ist auch schon bei Karl N Der   kommunikative Sinn einer Äuße-
Bühler (1934) zu finden, der die Ausdrucksfunk- rung ist die in der Äußerungssituation
tion, Darstellungsfunktion und Appellfunktion der vom Sprecher intendierte Bedeutung
Sprache unterscheidet. (auch Sprecherbedeutung).
Unter dem Einfluss der anglo-amerikanischen
Sprachphilosophie (insbes. Stalnaker 1978; Austin

86
3.3
Semantik und Pragmatik
Ausdrucksbedeutung

1962; Searle 1969; Grice 1957, 1969) haben diese Enzyklopädisches Wissen ist im Fall von natürli-
Begriffe aber in neuerer Zeit leichte Bedeutungs- chen Arten (z. B. Arten von Lebewesen oder che-
verschiebungen erfahren, die wir übernehmen mische Substanzen) Wissen über wesentliche Ei-
wollen, weil sie sich durchzusetzen scheinen (vgl. genschaften, welche die Dinge charakterisieren,
z. B. Wunderlich 1991; Löbner 2003). die man mit einem Ausdruck bezeichnet. So sollte
Die drei Hauptebenen können am Beispiel eines man etwa wissen, dass Vögel Tiere sind, um den
typischen Deklarativsatzes wie in (2) illustriert Ausdruck Vogel richtig zu verwenden. Man nennt
werden. dieses Wissen auch ontologisches Wissen.
Aber auch nicht-wesentliche Eigenschaften ge-
(2) Dein Hund hat mich gebissen. hören zum enzyklopädischen Wissen wie, dass
Vögel fliegen können. Das schließt aber nicht aus,
dass es Vögel gibt, die nicht fliegen können, z. B.
Pinguine. Dieses Wissen betrifft nur typische Ex-
3.3.1 | Ausdrucksbedeutung emplare von Dingen, die mit einem Ausdruck be-
zeichnet werden können. Man spricht hier auch
Die Ausdrucksbedeutung verstehen wir, ganz un- von stereotypischem Wissen (Putnam 1975; Blut-
abhängig davon, ob ein Ausdruck in der Kommu- ner 1994).
nikation verwendet wird oder nicht. Jemand, der Statt von sprachlichen Konventionen bzw.
Deutsch kann, weiß, was der Satz Dein Hund hat sprachlichem Wissen, das mit einem Ausdruck
mich gebissen bedeutet, ohne dass ihn jemand verbunden ist, spricht man auch vom deskripti-
sagt. Die Ausdrucksbedeutung dieses Satzes kann ven Gehalt (= beschreibender Gehalt) eines Aus-
man wie in (3) paraphrasieren: drucks. Dieser reicht in der Regel nicht aus, um
dem Ausdruck wirklich die richtigen Dinge zuzu-
(3) »Ein bestimmter Hund, der dem Hörer des Satzes gehört, ordnen. Das Wissen, das wir über die Dinge ha- Wortbedeutung
hat den Sprecher des Satzes zu einem Zeitpunkt vor der ben, die wir bezeichnen möchten, ist oft zu gering.
Äußerungszeit gebissen.« Zusätzlich wäre Expertenwissen nötig. Aber in
der Kommunikation beabsichtigt man, sich mit ei-
Wir kennen die Bedeutung der Ausdrücke, weil nem Ausdruck auf bestimmte Dinge zu beziehen
wir über sprachliches Wissen über die einzelnen und man verlässt sich darauf, dass das Experten-
Wörter verfügen, wir kennen die Konventionen wissen dieser Absicht nicht entgegenläuft.
für ihren Gebrauch. Zusätzlich verfügen wir über Symbole und Ikone: Die Konventionen müssen
ein System von Regeln, das uns erlaubt, zu den natürlich erlernt werden. Insofern ist dieses Be-
Bedeutungen der Wortfolgen eine Gesamtbedeu- deutungswissen kein systematisches Wissen
tung zu konstruieren. (s. Kap. II.1). Die Beziehung zwischen dem Aus-
druck (oder Lautbild) und dem Ding (oder der
Vorstellung), auf das sich der Ausdruck beziehen
3.3.1.1 | Wortbedeutung
kann, ist willkürlich (man sagt mit Saussure auch
Eine Sprachgemeinschaft ist sich meist einig über arbiträr, s. Kap. III.5.2.3) in dem Sinn, dass es
die überlieferten Gebrauchsbedingungen von keine Naturgesetze gibt, die zwischen Ausdruck
sprachlichen Ausdrücken. Nur wenn man über die und Bedeutung vermitteln, oder irgendwelche
sprachlichen Konventionen einer Sprache Be- Ähnlichkeiten zwischen der Form des Ausdrucks
scheid weiß, kann man als jemand gelten, der die- und dem zu bezeichnenden Ding (vgl. Linke u. a.
se Sprache beherrscht. Üblicherweise gelangt man 2004). Solche Zeichen heißen Symbole (vgl.
zu dem konventionellen Wissen über Paraphrasen Peirce 1903/1983).
oder über Ostension. Was zu diesem Wissen ge- Konventionell aber nicht arbiträr sind sog. ono-
hört, ist allerdings umstritten. Man unterscheidet matopoetische Ausdrücke wie Kuckuck, Wauwau
definitorisches und enzyklopädisches Wissen. Die oder zischen, bei denen die Form des Ausdrucks
Grenzen sind aber fließend. (die produzierten Geräusche) Ähnlichkeit mit dem
Definitorisches Wissen ist Wissen, das den Ge- bezeichneten Ding hat. Solche Zeichen heißen
brauch eines Ausdruckes eindeutig festlegt. Je- Ikone (vgl. Peirce 1903/1983). Zeichen der Ge-
mand, der nicht weiß, dass Junggesellen unverhei- bärdensprache haben oft eine ikonische Basis.
ratet sind, kann den Ausdruck Junggeselle nicht Das Zeichen für Adler wird in der Deutschen Ge-
korrekt verwenden. bärdensprache mit einem gekrümmten Finger in

87
3.3
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsebenen

der Form des Adlerschnabels an der eigenen Nase 3.3.1.2 | Bedeutung der morpho-
gebärdet. Hier besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung syntaktischen Struktur
zwischen einem Teil des bezeichneten Dinges und
der Gebärde. Dass nicht nur die Einzelbestandteile ihre Bedeu-
Spezialfall: Eigennamen verdienen im Zusam- tung zur Gesamtbedeutung beitragen, sondern zu-
menhang mit sprachlichen Konventionen eine be- sätzlich auch die Art der Kombination der Einzel-
sondere Erwähnung. Personen, Tiere, Sachen, teile interpretiert werden muss, sieht man leicht
Orte, Ereignisse etc. können Namen haben. Alle an Morphemkombinationen wie Deckelglas und
diese zählen als Dinge. Üblicherweise wird die je- Glasdeckel. Bei Deckelglas handelt es sich um eine
weilige Konvention des Gebrauchs des Namens Art Glas, bei Glasdeckel um eine Art Deckel. Die
durch einen (unter Umständen unspektakulären) Morpheme sind in beiden Fällen identisch. Tat-
Akt der Namensgebung oder eine Übersetzung ei- sächlich hat auch die Reihenfolge eine Bedeutung
nes bestehenden Namens in eine andere Sprache (= die Art der Kombination). Im Fall von komple-
(Mailand – Milano) begründet. Nach dem Akt der xen Wörtern ist die Reihenfolge der Morpheme
Namensgebung oder der Übersetzung eines beste- durch die morphologische Struktur repräsentiert
henden Namens wird in der Sprachgemeinschaft (s. Kap. II.2.2). Wir sprechen allgemein von Struk-
weitergegeben, welcher Name sich worauf be- turbedeutung, diese ist im Gegensatz zum de-
zieht. Diese Tradition ist es, die den Bezug zwi- skriptiven Gehalt systematisch.
schen Namen und Namensträger, dem Referen- Nicht nur bei Bedeutungen von komplexen
ten, herstellt. Ein Sprecher weiß unter Umständen Wörtern ist die Struktur der Wortfolge bedeutungs-
nur, dass es diese Form von Tradition gibt, wenn er relevant, sondern auch bei Phrasen und Sätzen.
einen Eigennamen hört oder verwendet, ohne zu Die beiden Sätze in (4) haben unterschiedliche
wissen, wer genau den Namen trägt oder trug. Ausdrucksbedeutungen. Sie beschreiben unter-
Aber er beabsichtigt, sich auf dasselbe Ding zu be- schiedliche Sachverhalte. Der Bedeutungsunter-
ziehen, auf das in der Tradition verwiesen wird schied ist aber nicht auf unterschiedliche Wortbe-
(Kripke 1980). deutung zurückzuführen.
Dem deskriptiven Gehalt von Eigennamen ent-
spricht also nicht, was man umgangssprachlich (4) a Hund säugt Katze.
unter »Bedeutung von Eigennamen« versteht. Um- b Katze säugt Hund.
gangssprachlich ist die Frage nach der Bedeutung
eines Eigennamens eigentlich eine Frage nach der Der Unterschied liegt in der syntaktischen Struktur
Herkunft des Namens, eine Expertenfrage also, (s. Kap. II.2.3). Wir kennen also Regeln, die es uns
die in einem Teilbereich der historischen Seman- erlauben, die syntaktische Struktur der Sätze zu
tik im Rahmen der Etymologie abgehandelt wird. interpretieren. Auch in diesem Fall spielen Struk-
Das Erkenntnisinteresse ist kulturgeschichtlich turbedeutung und Wortbedeutung systematisch
und nicht kognitionswissenschaftlich oder kom- zusammen.
munikationstheoretisch motiviert. Experten für Bedeutungen von komplexen Ausdrücken, bei
Namenskunde können etwa Auskunft darüber ge- denen sich die Bedeutung des gesamten Ausdru-
ben, aus welchen Bedeutungsbestandteilen sich ckes aus der Bedeutung der Bestandteile und der
Namen ein Name ableitet und sie können sagen, dass es Art ihrer Kombination ergibt, nennt man komposi-
sich bei den Namen Theophil und Amadeus um tional. Das Wissen um die Strukturbedeutung und
denselben Namen handelt. Der Bedeutungsaspekt, um die Bedeutung lexikalischer Einheiten befähigt
der sich über die Herkunft des Namens erschließt, uns, beliebig komplexe Wörter zu produzieren
ist für das Verständnis eines Satzes, in dem ein oder zu interpretieren, denen wir noch nie vorher
Name vorkommt, aber vollkommen irrelevant. Ge- begegnet sind.
rade an diesem Verständnis sind wir aber interes- Die Systematizität der Sprache in Bezug auf die
siert, wenn es um die kommunikative Funktion Bedeutung von komplexen Ausdrücken in Abhän-
(den Bezug auf Personen, Orte, Gegenstände etc.) gigkeit von den Teilbedeutungen und der Struktur-
dieser Ausdrücke geht. bedeutung wird mit dem Kompositionalitätsprin-
zip erfasst.
Idiome: Kompositionalität ist allerdings keine
notwendige Eigenschaft der Bedeutung von zu-
sammengesetzten Ausdrücken. Wenn sich die Be-

88
3.3
Semantik und Pragmatik
Äußerungsbedeutung

Definition (5) »Bella, der Hund von Frau Müller, hat zu einem Zeitpunkt
vor dem 24.3.2003 um 16 Uhr Frederike gebissen.«
Das   Kompositionlitätsprinzip besagt,
dass die Bedeutung eines komplexen Aus- Die Äußerung drückt einen Sachverhalt aus. Die-
druckes sich aus der Bedeutung der unmit- ser Sachverhalt kann in der Äußerungssituation
telbaren Teile ergibt und der Art und Weise, tatsächlich bestehen – er muss aber nicht beste-
wie sich diese zusammensetzen. hen. Man kann auch etwas sagen, was falsch ist –
wenn man lügt zum Beispiel.

deutung eines komplexen Ausdruckes unter kei- Definition


nen Umständen aus der Bedeutung der Einzelteile
erschließen lässt, handelt es sich um sog. idioma- Die Äußerungsbedeutung eines Aussagesat-
tische Wendungen oder Phraseologismen. zes nennt man auch   Proposition. Ändern
Das komplexe Wort Augapfel bezeichnet den sich die Fakten der Äußerungssituation,
kugelförmigen Bestandteil des Auges und nicht dann ändert sich auch die ausgedrückte Pro-
eine Apfelsorte. Der Benennung liegt hier eine Me- position, also die Information, welche die
tapher zugrunde. Äußerung des Satzes in einer Äußerungs-
Die Phrase ins Gras beißen wird verwendet als situation beinhaltet.
abschätzige Ausdrucksweise für sterben, kann
aber auch wörtlich interpretiert werden. So kön-
nen Schafe im doppelten Sinn ins Gras beißen. Bei Der Begriff der Proposition: Wir können die Wort-
der wörtlichen Bedeutung ist die Strukturbedeu- stellung unseres Satzes ändern. Die ausgedrückte
tung relevant, bei der idiomatischen Verwendung Proposition ändert sich nicht. Die beiden Sätze
eines Ausdruckes nicht. Bedeutungen von idioma- Dein Hund hat mich gebissen und Mich hat dein
tischen Wendungen müssen gelernt werden wie Hund gebissen unterscheiden sich bezüglich der
Bedeutungen von einfachen Ausdrücken. Gewichtung der Information. Sie beinhalten aber Äußerungsbedeutung
dieselbe Information, vorausgesetzt die Fakten der
Äußerungssituation sind unverändert.
Propositionalen Gehalt kann man erfragen,
3.3.2 | Äußerungsbedeutung glauben etc. Auch Fragen und Befehle haben einen
propositionalen Gehalt. Propositionen sind die Ge-
Betrachten wir unseren Ausgangssatz Dein Hund genstände der sprachlichen Handlungen in der
hat mich gebissen. Wenn wir nicht wissen, wer tat- Kommunikation. Statt vom propositionalen Gehalt
sächlich der Sprecher ist, wer der Hörer ist, um eines Satzes kann man auch einfach von seinem
welchen Hund es geht und wann die Äußerung Informationsgehalt sprechen.
stattfindet, fehlen uns wesentliche Bedeutungsbe-
standteile, um zu wissen, welche Information die-
3.3.2.1 | Spezialfall: Deixis
ser Satz beinhaltet. Wir verstehen den Satz (die
Ausdrucksbedeutung), aber wir wissen nicht, was Bezeichnungen für Dinge, deren Bezug von der
mit dem Satz gesagt wird. Die Äußerungsbedeu- Äußerungssituation und damit von Situationswis-
tung ergibt sich aus der Ausdrucksbedeutung im sen abhängen, heißen deiktische oder indexika-
Zusammenspiel mit Situationswissen. lische Ausdrücke (vgl. Zimmermann 1991). Der
Nehmen wir an, der Hund, um den es in der Begriff ›Deixis‹ beschreibt das Phänomen, dass die
Unterhaltung geht, heißt Bella und er gehört Frau Referenten eines Ausdruckes mit der Verwen-
Müller. Nehmen wir weiterhin an, die Äußerung dungssituation variieren. Beispiele für solche Aus-
ist am 24.3.2003 um 16 Uhr von Frederike an drücke sind Ausdrücke für Gesprächsteilnehmer
Frau Müller gerichtet. Alle diese Annahmen kön- wie ich und du oder Ausdrücke, die auf Äuße-
nen zum Wissen über die Situation gehören, in der rungszeit oder Äußerungsort wie hier, jetzt und
unser Satz geäußert wird. Eine solche Situation gestern Bezug nehmen. Deiktische Ausdrücke sind
nennen wir Äußerungssituation. Unter unseren das Paradebeispiel für Ausdrücke, deren Bedeu-
getroffenen Annahmen können wir die Äuße- tungsbeitrag man, ohne dass sie verwendet wer-
rungsbedeutung des Satzes wie in (5) paraphra- den, nicht voll erfassen kann.
sieren.

89
3.3
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsebenen

Die konventionelle Bedeutung spielt bei diesen Identifizierung von Referenten für anaphorische
Ausdrücken eine nebengeordnete Rolle. Sie be- Ausdrücke nennt man Anaphernresolution. Der
steht in einer Beschreibung der Regel, die Dinge Begriff ›Anapher‹ wird also hier eingeschränkter
aufzufinden, auf die sich die Ausdrücke beziehen. verwendet als in der Rhetorik (s. Kap. III.1.4).
Äußerungssituation Ich bezieht sich auf eine Person: nämlich den je- Pronominale Ausdrücke erhöhen die Ökonomi-
weiligen Sprecher. Auf welchen Zeitraum sich ges- sierung unserer Ausdrucksweise. Ist das Anteze-
tern bezieht, hängt davon ab, wann der Ausdruck dens ein Eigenname (oder eine Kennzeichnung),
verwendet wird. Er bezieht sich auf den Tag vor kann das Pronomen durch sein Antezedens ersetzt
dem Tag, an dem er verwendet wird. Auch die werden, ohne dass sich an der Äußerungsbedeu-
Morpheme der verschiedenen Tempusformen tung etwas änderte (Geach 1962).
sind deiktische Ausdrücke. Mit dem Perfekt-Aus-
druck hat gebissen bezieht sich der Sprecher auf (7) Der Hund biss Frederike, weil sie [= Frederike] den Hund
einen Zeitpunkt vor der Äußerungszeit. Mit einem erschreckte.
futurischen Verb bezieht man sich auf einen Zeit-
punkt nach der Äußerungszeit. Wen oder was sol- Die anaphorische Beziehung muss nicht unbedingt
che Ausdrücke tatsächlich bezeichnen, hängt also auf Referenzidentität von Dingen beruhen. Es kön-
von einer bestimmten Äußerungssituation ab. nen auch Eigenschaften identifiziert werden (z. B.
Pronomen Auch Demonstrativpronomen, deren Verwen- Hund zu sein wie in 8), ohne dass die Dinge selbst
dung mit einer Zeigegeste auf Personen oder Orte identifiziert werden. Aber auch hier kann das Pro-
verbunden ist, gehören zu den deiktischen Aus- nomen mit seinem Antezedens ersetzt werden.
drücken. Ihr deskriptiver Gehalt abstrahiert gerade
von dem Gebrauch dieser Ausdrücke in einer Äu- (8) Ein Hundehalter, der seinen Hund dressiert, lebt ruhiger
ßerungssituation. Er unterscheidet sich nicht von als einer, der ihn [= seinen Hund] verwildern lässt.
Sprecher zu Sprecher. Der aktuelle Personenbezug
und der Zeit- bzw. der Ortsbezug ändert sich aber Der Ersetzungstest für anaphorische Beziehungen
von Äußerungssituation zu Äußerungssituation. funktioniert nicht, wenn das Antezedens eine in-
Äußerungsbedeutung und Ausdrucksbedeu- definite Nominalphrase ist (Nominalphrase mit
tung müssen sich dann nicht unterscheiden, wenn einem indefiniten Artikel ein). Indefinite Nominal-
kein Situationswissen über die Äußerungssituati- phrasen sind im Unterschied zu Eigennamen (und
on nötig ist, um zu verstehen, was mit einer Äuße- Kennzeichnungen) mit einer Neuheitsbedingung
rung gesagt wird. Man nennt Beispiele wie in (6) verknüpft. Nichtsdestoweniger sind Pronomen
auch ewige Sätze. und Antezedens koreferent. Beide stellen einen
Bezug zu demselben Referenten her.
(6) Ein Hund beißt am 27. Februar 2010 in Hiddensee einen
Mann. (9) Ein Hundehalter wurde verhaftet. Er [≠ ein (beliebiger)
Hundehalter] hatte seinen Hund gequält.
3.3.2.2 | Spezialfall: Anaphorik
Deskriptive Pronomen: Unter Umständen muss
Anaphorische Pronomen: Anaphorik (griech. Wie- das Referenzobjekt konstruiert werden. Prono-
deraufnahme) beschreibt das Phänomen, dass ein men, die eine solche Konstruktion erfordern, hei-
Pronomen einen Ausdruck aus dem Text- oder Dis- ßen deskriptive Pronomen. In Beispiel (10) ist die
kurszusammenhang wieder aufnimmt. Pronomi- Menge aller hingeworfenen Hundekuchen als Re-
nale Ausdrücke (z. B. er, sie, es) werden in der Re- ferent für das Pronomen im zweiten Satz zu rekon-
gel wie Eigennamen und deiktische Ausdrücke struieren. Eine Ersetzung durch das Antezedens ist
dazu verwendet, einen Bezug zu einem Referenten nicht bedeutungserhaltend.
herzustellen. Um welchen Referenten es dabei
geht, ist bei nicht-deiktischen Pronomen (wie (10) Frederike hat dem Hund ein paar Hundekuchen hingewor-
manchmal bei Kennzeichnungen, s. 3.2.3) aus fen. Sie [≠ ein paar Hundekuchen] blieben unberührt.
dem gesprochenen oder geschriebenen Kontext
(manchmal auch Kotext genannt) zu erschließen. Gebundene Pronomen sind Pronomen, die im Ge-
Ein vorhergehender Ausdruck, das Antezedens, gensatz zu anaphorischen und deskriptiven Pro-
hat dann denselben Referenten wie das Pronomen. nomen nicht-referentiell verwendet werden. Auch
Antezedens und Pronomen sind koreferent. Die die Interpretation dieser Pronomen hängt von ei-

90
3.3
Semantik und Pragmatik
Äußerungsbedeutung

nem vorhergehenden Ausdruck ab. Die Ersetzung der USA bezieht sich in der Regel auf die jeweilige
des Pronomens durch diesen Ausdruck ist nicht Person, die zum Äußerungszeitpunkt die Präsi-
möglich. Das Pronomen er in (11) bezieht sich in denten-Funktion in den USA innehat. Wir müssen
der naheliegenden Interpretation nicht auf eine be- aber nicht unbedingt wissen, dass 2011 Barack Oba-
stimmte Person. Vielmehr variiert der Bezug mit ma der Präsident der USA ist. Aber wenn wir die-
Bankern, die befürchten, entlassen zu werden. sen Ausdruck der Präsident der USA 2011 verwen-
den, dann können wir nicht anders als uns auf den
(11) Jeder Banker befürchtet, dass er [≠ jeder Banker] entlassen Präsidenten der USA, also Obama zu beziehen.
wird. Auf wen wir uns tatsächlich beziehen und was wir
über den möglichen Sachbezug wissen, kann also
Bei gebundenen Pronomen ist im Gegensatz zu divergieren.
anaphorischen und deskriptiven Pronomen kein Wie bei Pronomina kann auch der jeweilige ge-
Rückbezug über Hauptsatzgrenzen hinweg mög- sprochene oder geschriebene Kontext einen Refe-
lich. Die Satzfolge in (12) kann nicht ausdrücken, renten zur Verfügung stellen. Dieses Phänomen
dass alle Banker entlassen werden (das Zeichen # illustriert das Beispiel in (13).
zeigt Unangemessenheit an).
(13) Bertha hat ein Meerschweinchen und eine Katze. Das
(12) #Jeder Banker hat Angst. Er wird entlassen. Meerschweinchen ist ein Männchen.

Der Ausdruck das Meerschweinchen bezieht sich Kennzeichnungen


3.3.2.3 | Spezialfall: Kennzeichnungen
auf dasselbe Tier, das durch das Antezedens einge-
Komplexe Ausdrücke, die aus einem definiten Ar- führt wird. Hier findet ein Rückbezug auf bereits
tikel (oder einem Possessivpronomen) und einem erwähntes sprachliches Material statt. Ein Prono-
Nomen (im Singular und eventuell weiteren Attri- men ist für die Wiederaufnahme des Antezedens
buten) bestehen, nennt man Kennzeichnungen, nicht möglich.
z. B. dein Hund. Man könnte es mit der Hund von Unter Umständen müssen die Dinge, auf die
dir paraphrasieren. Eine Kennzeichnung mit Pos- sich eine Kennzeichnung bezieht, aus dem Kon-
sessivum kann man so immer als Kennzeichnung text rekonstruiert werden. Für die Rekonstruktion
mit definitem Artikel und einer geeigneten Charak- hilft Welt- oder Hintergrundwissen. In dem Bei-
terisierung auffassen, das den Besitzer bezeichnet. spiel (14) ist natürlich das Bier gemeint, das es auf
Typisch für eine Kennzeichnung ist, dass sie sich der Party gab, von der die Rede ist.
auf ein bestimmtes Ding bezieht. Das können Per-
sonen, Tiere, aber auch Orte, Zeitintervalle etc. (14) Die Party war nicht so gut. Das Bier war nach einer halben
sein. Und in vielen Fällen ist in der Äußerungssitu- Stunde aus.
ation klar, welche Dinge bezeichnet werden. Mit
dein Hund bezieht man sich auf den Hund des In allen Fällen von Sätzen mit deiktischen Ausdrü-
Adressaten der Äußerung. Die Eigenschaften des cken, anaphorischen Ausdrücken und Kennzeich-
Referenten werden durch das Nomen beschrieben. nungen spielen die Ausdrucksbedeutung und ver-
Bedingungen für die Verwendung von Kenn- schiedene Arten von Wissen zusammen, um die
zeichnungen sind die Existenz und die Einzigkeit Äußerungsbedeutung bereit zu stellen.
des Referenten. Der Satz dein Hund hat mich ge-
bissen könnte in einer Situation geäußert werden,
3.3.2.4 | Präsuppositionsauslöser
in welcher der Adressat der Äußerung keinen
Hund oder mehr als einen Hund besitzt. In einem Die Voraussetzungen für die reibungslose Verwen-
solchen Fall ist nicht klar, auf welchen Hund sich dung von Kennzeichnungen werden in der Prä-
die Phrase dein Hund bezieht. Ein Urteil über den suppositionstheorie abgehandelt. Dass bestimmte
Wahrheitsgehalt der Äußerung ist in der Äuße- Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Äuße-
rungssituation unter Umständen nicht möglich. rungen überhaupt als einer Situation oder dem
Die Existenz- bzw. Einzigkeitsbedingung ist dann sprachlichen Kontext angemessen betrachtet wer-
nicht erfüllt. den können, ist ein ganz allgemeines Phänomen.
Manchmal gehört es einfach zur Allgemeinbil- Den Fachbegriff der Präsupposition kann man auf
dung zu wissen, wer gerade der Referent einer die englische Übersetzung von Voraussetzung in
Kennzeichnung ist. Der Ausdruck der Präsident Schriften von Frege (1898) zurückführen.

91
3.3
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsebenen

Definition bedeutung von Flügel in einer Lesart von (18a)


auf (18b) schließen. Die Folgerung ermöglicht die
  Präsuppositionen sind als Vorbedingungen für das Zustandekom- Bedeutungsbeziehung zwischen Flügel und Mu-
men von Äußerungsbedeutungen zu sehen. Die Bedingungen sind sikinstrument und ist Teil der Äußerungsbedeu-
erfüllt, wenn die Gesprächsteilnehmer über die Information, welche tung. Außerdem hat der Satz (18a) die Präsuppo-
die Präsupposition beinhaltet, verfügen. Präsuppositionen gehören sition in (18c).
zum Situationswissen oder zum Welt- oder Hintergrundwissen. Sind
die Bedingungen nicht erfüllt, kommt auch keine Äußerungsbedeu- (18) a Fritz hat den Flügel zersägt.
tung zustande, die zur Kommunikation verwendet werden könnte. b Folgerung: Fritz hat ein Musikinstrument zersägt.
Präsuppositionen sind in dieser Auffassung Propositionen. c Präsupposition: Es gibt genau einen Flügel (in der Äuße-
rungssituation).

Die Präsuppositionen werden im Deutschen übli- Für den Test verwendet man jeweils negierte Sätze.
cherweise von bestimmten Ausdrücken ausgelöst. Der Test zeigt, dass Folgerungen unter Negation
Solche Ausdrücke heißen dementsprechend Prä- nicht erhalten bleiben. Präsuppositionen hingegen
suppositionsauslöser. Neben Kennzeichnungen sind konstant unter Negation. Wenn wir den Satz
(s. 3.3.2.3) gelten faktive Verben wie bedauern, in (18a) negieren wie in (19a), dann ist der Schluss
implikative Verben wie vergessen (in einer Varian- von (19a) auf (19b) aufgrund der Äußerungsbedeu-
te) und Phasenübergangs-Verben wie aufhören als tung von Flügel hinfällig. Würde der präsupponierte
Präsuppositionsauslöser. Bedeutungsbestandteil denselben Status haben wie
die Äußerungsbedeutung, dann würden wir erwar-
(15) a Bertha bedauert, dass es schneit. ten, dass auch der präsupponierte Bedeutungsbe-
Präsupposition: es schneit. standteil (19c) im negierten Satz (19a) ebenfalls
b Bertha vergaß zu husten. nicht erschließbar ist. Das ist aber gerade nicht so.
Präsupposition: Bertha hätte husten sollen. (18c/19c) ist also bei der negierten und der nicht-
c Bertha hörte auf zu rauchen. negierten Variante des Satzes erschließbar, was sei-
Präsupposition: Bertha hat geraucht. nen Status als Präsupposition bestätigt.

Außerdem sind die Partikeln wieder und auch als (19) a Es ist nicht der Fall, dass Fritz den Flügel zersägt hat.
Präsuppositionsauslöser einzustufen. b Keine Folgerung: Fritz hat ein Instrument zersägt.
c Präsupposition (=(18c)): Es gibt genau einen Flügel (in
(16) a Bertha hustet wieder. der Äußerungssituation).
Präsupposition: Bertha hat schon mal gehustet.
b Bertha möchte auch Trompete spielen lernen. Neben dem Negationstest werden auch der Frage-
Präsupposition: Jemand anderes außer Bertha möchte test und der Modalitätstest verwendet. Diese zei-
Trompete spielen lernen. gen, dass Präsuppositionen auch unter Änderung
des Satzmodus oder bei Einbettung des Auslösers
Präsuppositionen können aber auch konstrukti- unter einer Modalpartikel wie vielleicht konstant
onstypisch sein. Spaltsatzkonstruktionen gelten bleiben (Levinson 1983/2000).
als Präsuppositionsauslöser. Akkomodation: Präsuppositionen können als
Vorbedingungen für das Zustandekommen von
(17) Es ist Bertha, die uns heute Abend besucht. Äußerungsbedeutungen gesehen werden. Als an-
Präsupposition: Heute Abend besucht uns jemand. gemessen gelten Äußerungen mit Präsuppositions-
auslösern, wenn die Gesprächsteilnehmer über die
Präsuppositionstest: Präsuppositionen haben ei- Information verfügen, welche die Präsuppositio-
nen anderen Status als die Äußerungsbedeutun- nen beinhalten. Sind die Präsuppositionen neue
gen oder Folgerungen von Äußerungsbedeutun- Information für den Hörer einer Äußerung, dann
gen. Das zeigen Tests, wie z. B. der Negationstest: ist die Kommunikation entweder unangemessen
Ausgangspunkt der Argumentation ist der nicht- oder aber der Hörer nimmt die Information der
negierte Satz in (18a). Zur Äußerungsbedeutung Präsupposition (stillschweigend) in sein Hinter-
von Flügel gehört (in einer Lesart), dass es sich grundwissen auf. Bei diesem Prozess der Anpas-
bei dem bezeichneten Ding um ein Musikinstru- sung des Hintergrundwissens spricht man von Ak-
ment handelt. Wir können mittels der Äußerungs- komodation (Lewis 1979).

92
3.3
Semantik und Pragmatik
Äußerungsbedeutung

3.3.2.5 | Spezialfall: Fokus Auch auf die Frage Was tut Peter? hätte man nicht
mit Peter kommt antworten müssen. Andere, al-
Eine unterschiedliche Akzentuierung im Satz ternative Antworten wären ebenso kongruent ge-
beeinflusst im Deutschen in vielen Fällen das, wesen, solange wir nur die Prädikatsbedeutung
was ein Ausdruck bedeutet (zum Satzakzent variieren. Die Akzentuierung zeigt an, welcher
s. Kap. II.2.1.3.4). Der Effekt der Akzentuierung Bedeutungsbestandteil eines Satzes zur Diskussi-
kann sich auf die Angemessenheit einer Äuße- on steht. Der Informationsgehalt dieser Varianten
rung im sprachlichen Kontext beziehen (wie bei des Satzes Peter kommt mit unterschiedlicher Ak-
Präsuppositionsauslösern), oder aber die Äuße- zentuierung ist identisch. Die Akzentverschie-
rungsbedeutung selbst ist betroffen. Der gemein- bung ändert also die Äußerungsbedeutung des
same Nenner dieser Effekte ist, dass in allen die- Satzes nicht.
sen Fällen alternative Äußerungsbedeutungen im Zweck der Akzentuierung ist hier die Ökonomi- Informationsstruktur
Spiel sind. Der Begriff ›Fokus‹ stammt von Ray Ja- sierung der Informationsübermittlung. Hervorge-
ckendoff, die Verallgemeinerung der Interpretation hoben wird im Prinzip neue Information. Die Ak-
von Fokus mittels Alternativen stammt von Rooth zentuierung ermöglicht eine Gliederung des
(1992). Informationsgehaltes in schon bekannte Informati-
on (Gegebenes) und neue Information. Der Effekt
Defintion der Gliederung ist die Strukturierung der Infor-
mation. Man spricht deswegen auch von Informa-
  Fokus ist eine grammatische Eigenschaft, tionsstruktur (vgl. Musan 2010). Auch Wortstel-
die im Deutschen mittels Akzentuierung lungsänderungen haben einen Effekt auf die
realisiert wird. Der Fokus zeigt an, dass Informationsstruktur.
Alternativen für die Interpretation von Fokusprojektion: Die Akzentuierung zeigt an,
sprachlichen Ausdrücken relevant sind (vgl. bezüglich welcher Konstituente Alternativen be-
Krifka 2006). trachtet werden müssen. Das kann das Wort sein,
das den Akzent trägt, wie in den betrachteten Bei-
spielen. Es kann aber auch eine komplexe Kon-
Angemessenheit: Unterschiede in der Angemes- stituente sein oder ein Wortbestandteil, die den
senheit in Abhängigkeit von der Akzentuierung Akzent tragen. Welche Alternativen eine Rolle
sind typisch für Fälle von Frage-Antwort-Kongru- spielen, ist durch die Akzentuierung also nicht
enz im Zusammenhang mit W-Fragen. Auf eine eindeutig bestimmt. Die verschiedenen Fragen in
Frage nach dem Subjekt wie in (20a) muss bei der (22)–(25) legen nahe, welche alternativen Antwor-
Antwort auch das Subjekt akzentuiert werden ten hätten gegeben werden können. Die Akzentu-
(20b). Die akzentuierte Silbe ist hier mit Groß- ierung variiert in diesen Fällen aber nicht!
buchstaben markiert. Eine Akzentuierung des Prä-
dikats wie in (20c) ist nicht angemessen (Unange- (22) a Was hast du gesehen?
messenheit wird mit dem Zeichen # angezeigt). b Ich habe [heute einen LIPpenbären im Zoo]F gesehen.
(23) a Was hast du heute gesehen?
(20) a Wer kommt? b Ich habe heute [einen LIPpenbären im Zoo]F gesehen.
b PEter kommt. (24) a Was hast du heute im Zoo gesehen?
c #Peter KOMMT. b Ich habe heute [einen LIPpenbären]F im Zoo gesehen.
(25) a Was für einen Bären hast du heute im Zoo gesehen?
Man hätte allerdings nicht mit Peter kommt ant- b Ich habe heute einen [LIPpen]Fbären im Zoo gesehen.
worten müssen. Alternative Antworten wären
ebenso kongruent gewesen, solange nur die Sub- Als Begriff für die Konstituente, die für die Alter-
jektsbedeutung variiert. Wird dagegen das Prädikat nativenbildung eine Rolle spielt, hat sich der Be-
erfragt, wie in (21), muss auch das Prädikat in der griff ›Fokus‹ eingebürgert. Die fokussierte Konsti-
Antwort akzentuiert werden. Die Akzentuierung tuente wird mit einem kleinen »F« für Fokus
des Subjekts ist in diesem Fall nicht angemessen. indiziert. Das Phänomen, dass eine syntaktische
Struktur mit ein und derselben Akzentuierung die
(21) a Was tut Peter? Basis für mehr als eine Fokussierung sein kann,
b Peter KOMMT. nennt man Fokusprojektion. Statt von Informa-
c #PEter kommt.

93
3.3
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsebenen

tionsstruktur spricht man auch von Fokus-Hinter- Zur Verwendung einer Äußerungsbedeutung
grund-Gliederung. gehört natürlich ein Sprecher und, insofern Kom-
Bedeutungsunterschiede: In bestimmten sprach- munikation gemeinsames sprachliches Handeln
lichen Umgebungen hat eine Verschiebung des Ak- mit einem Gesprächspartner ist, auch ein Hörer.
zentes einen Effekt auf den Informationsgehalt. Zum kommunikativen Sinn zählt, mit welcher
Das illustriert für eine Konstruktion mit der Parti- Sprecher-Absicht eine Äußerung geschieht. Und
kel nur das Beispiel in (26). Zwischen (26a) und zum kommunikativen Sinn zählen die nicht-zufäl-
(26b) besteht ein Bedeutungsunterschied. ligen Effekte einer Äußerung beim Hörer. Grund-
lage für die Untersuchung ist, dass sprachliche
(26) a Sandra Bullock kann nur DEUTSCH sprechen. Handlungen nur ein Spezialfall von Handlungen
b Sandra Bullock kann nur Deutsch SPRECHen. generell sind.
Die Verwendungsarten einer Äußerungsbedeu-
Sandra Bullock kann als bekannte amerikanische tung kann mit der Satzart korrelieren. Mit Frage-
Schauspielerin natürlich Englisch. Damit ist (26a) sätzen kann man Fragen stellen, mit Aufforde-
tatsächlich falsch. (26b) hingegen kann unter den rungssätzen Aufforderungen aussprechen, mit
tatsächlichen Umständen, dass Sandra Bullock Aussagesätzen kann man Mitteilungen machen.
mindestens zweisprachig ist, wahr sein. Auch bei Für jede dieser Verwendungsarten ist ein kommu-
Bedeutungseffekten, die den Informationsgehalt nikativer Sinn typisch. Um mit Sprache zu kom-
eines Satzes betreffen, sind Alternativen, hier ver- munizieren, müssen Sprecher und Hörer also über
schiedene Sprachen bzw. verschiedene Tätigkei- Regeln verfügen, die es ihnen erlauben, den kom-
ten, relevant. munikativen Sinn zu erschließen. Weil Äußerun-
Fokuspartikel Dass die Effekte bezüglich der Äußerungsbe- gen Spezialfälle von Handlungen (Akten) sind,
deutung auftreten, ist abhängig vom sprachlichen spricht man statt von Verwendungsarten von Äu-
Material in den Sätzen. Man beobachtet diese Ef- ßerungsbedeutungen kurz nur von Sprechakt
fekte bei Fokuspartikeln wie nur, aber auch bei oder Sprechhandlung.
dem Zeitadverb immer, in Kausalsätzen, bei Impe- Der kommunikative Sinn der Äußerung des
rativen etc., wie die folgenden Beispiele zeigen. Aussagesatzes Dein Hund hat mich gebissen ist in
erster Linie, die Hörerin darüber zu informieren,
(27) a Maria meint, dass Peter immer nach BerLIN fliegt. wie die Sachlage ist. Den Prozess der Kommunika-
b Maria meint, dass Peter immer nach Berlin FLIEGT. tion kann man sich schrittweise vor Augen führen.
(28) a Maria beerbt ihren Onkel, weil sie ihren FREUND geheira- Die Sprecherin hat einen Gedanken, den sie der
tet hat. Hörerin mitteilen möchte (Ausgangslage). Spre-
b Maria beerbt ihren Onkel, weil sie ihren Freund geHEIratet cherin, Hörerin und Hund sind selbst Mitspiele-
hat. rinnen in diesem Gedanken. Die Äußerung wird
(29) a Bitte LEIse reden! (Aufforderung leise zu reden, wenn produziert, um den Gedanken auszudrücken
schon geredet wird) (1. Schritt). Der ausgedrückte Gedanke ist eine
b Bitte leise REden! (Aufforderung zu reden und zwar leise) Mitteilung über einen Sachverhalt. Welche Dinge
zueinander in Bezug gesetzt werden, kann von
Tatsachen der Äußerungssituation abhängen, also
z. B., wer die Sprecherin des Satzes ist und wer die
3.3.3 | Kommunikativer Sinn Hörerin. Auf der Hörer-Seite werden die sprachli-
chen Ausdrücke empfangen und der ausgedrückte
Die dritte Bedeutungsebene, der kommunikative Gedanke (die Mitteilung) wird verstanden (2.
Sinn einer Äußerung, basiert auf der Äußerungs- Schritt). Durch die Äußerung eines sprachlichen
bedeutung, insofern als er bei der Verwendung Ausdrucks in Form eines Aussagesatzes wird In-
der Äußerungsbedeutung in der Kommunikation formation, über welche die Sprecherin verfügt, auf
entsteht. Der kommunikative Sinn kann nur für die Hörerin übertragen. Die Hörerin erlebt durch
selbständige, satzwertige Äußerungen bestimmt die Mitteilung einer Sprecherin im Idealfall einen
werden. Äußerungsbestandteile haben keinen kom- Wissenszuwachs oder Erkenntnisgewinn.
munikativen Sinn. Nur Propositionen (oder Aus- Der Begriff des kommunikativen Sinns wurde
drücke, die äquivalent sind zu Propositionen) fin- hier informell am Beispiel einer Feststellung (auch
den in der Kommunikation Verwendung. Behauptung) vorgeführt. Weitere Sprechakttypen

94
3.3
Semantik und Pragmatik
Expressive und
soziale Bedeutung

und die Bedingungen für eine reibungslose Kom- aber eine Beziehung zwischen sich und einem
munikation werden in 3.6.2 behandelt. Ding, das er bezeichnet. Diese Bedeutungsart wird
Mitgemeintes: Unter Umständen geht das, was üblicherweise expressive Bedeutung genannt. Die
der Hörer versteht, über das hinaus, was die Spre- Art der Einstellung heißt auch Konnotation. Kon-
cherin sprachlich ausdrückt, nämlich dann, wenn notationen können positiv oder negativ sein (oder
er sich fragt, in welchem Sinn die Mitteilung rele- auch neutral). Sprechereinstellungen werden nicht
vant sein könnte. Dieser Effekt ist von der Spre- nur durch bestimmte Nomen ausgedrückt. Auch
cherin beabsichtigt. Oft meinen wir sehr viel mehr Wortbestandteile können expressive Bedeutung
als das, was wir tatsächlich sagen, wenn wir eine haben. Scheißhund drückt aus, dass ich den be-
Mitteilung machen. Leicht lässt sich eine Äuße- zeichneten Hund nicht mag. Scheißköter macht
rung wie dein Hund hat mich gebissen als Vorwurf die Sache noch schlimmer. Attributive Adjektive
interpretieren und damit unter Umständen als Auf- können Sprechereinstellungen wiedergeben. Ver-
forderung, irgendetwas zu tun. Man spricht hier dammt in das verdammte Ding wollte nicht aufge-
von indirekten Verwendungsarten von Äußerun- hen ist ein Beispiel für die expressive Verwendung
gen (indirekter Sprechakt). Solche zusätzlich er- eines Adjektivs. Mit Satzadverbien wie leider,
schlossenen Interpretationen des Gesagten nennt glücklicherweise etc. kann man seine Einstellung
man Implikaturen. Auch metaphorische Inter- zu Tatsachen angegeben. Solche Ausdrücke haben
pretationen von Gesagtem oder ironische Bemer- nur expressive Bedeutung und keine deskriptive
kungen fallen in diese Kategorie. Mitgemeintes Bedeutung.
bei metaphorischen Ausdrücken und ironische Be- Ähnlich kann man auch bestimmte Wortfolgen Expressive
merkungen ersetzen allerdings üblicherweise das in der Funktion von Appositionen einordnen. Die Bedeutung
tatsächlich Gesagte. Dafür, dass diese zusätzlichen expressive Bedeutung muss dabei nicht negativ
Bedeutungsarten erschlossen werden können, ist sein. Engel in einem Ausdruck wie meine Frau,
Weltwissen oder zumindest Wissen über die Äu- dieser Engel hat positive Konnotation. Klugscheißer
ßerungssituation nötig. in einem Ausdruck wie meine Frau, dieser Klug-
Die Mechanismen des Erschließens der Inter- scheißer hat negative Konnotation.
pretationen unterliegen interessanterweise ganz Definiert man expressive Bedeutung als kon-
ähnlichen Ökonomieprinzipien wie Handlungen ventionelle Bedeutung, die über den deskriptiven
allgemein. Man nimmt mit Paul Grice (1975) an, Gehalt hinausgeht – ganz unabhängig davon, ob
dass es soziale und nicht sprachliche Konventio- damit eine positive oder negative Bewertung von
nen sind, denen diese Handlungen folgen. Auch Dingen oder Tatsachen ausgedrückt wird –, kön-
Implikaturen sind Bestandteil des kommunikati- nen auch nicht-restriktive (appositive) Relativsät-
ven Sinns einer Äußerung (s. 3.6.1). ze als Bestandteile der expressiven Bedeutung ge-
wertet werden.
Darüber hinaus haben bestimmte Satzarten ex-
pressive Bedeutung. Paradebeispiel hierfür sind
3.3.4 | Expressive und soziale Bedeutung die sog. Exklamativsätze wie in (30). Solche Sätze
drücken unter anderem aus, dass der Sprecher
Unter ›expressiver Bedeutung‹ kann man diejeni- über das Ausmaß einer Qualität eines Dinges (hier
gen Bedeutungsaspekte eines Wortes verstehen, einer Person) überrascht ist.
die über den deskriptiven Gehalt hinausgehen. Es
ist aber schwierig, diese einer der bisher bespro- (30) Wie schön meine Frau ist!
chenen Bedeutungsebenen zuzuordnen. Typisch
ist, dass Sprecher einer Äußerung ihre subjektiven Die Höflichkeitsform für die Anrede eines Adres-
Einstellungen gegenüber Dingen oder Sachverhal- saten mit Sie im Deutschen ist ein indexikali-
ten mit diesen Ausdrücken angeben. Die Konven- scher Ausdruck genau wie du. Beide haben die-
tionen sagen etwas darüber aus, in welcher Bezie- selbe Ausdrucksbedeutung. In beiden Fällen ist
hung zu den bezeichneten Dingen derjenige steht, der Adressat der Äußerung der Angesprochene.
der die sprachlichen Ausdrücke verwendet. Aus- Mit der Wahl des einen oder andern Ausdruckes
drücke wie Hund und Köter unterscheiden sich legt der Sprecher außerdem dar, ob er in einer
nicht bezüglich ihres deskriptiven Gehaltes. Die bestimmten Beziehung der Vertrautheit zum
beschriebenen Dinge sind dieselben, egal ob man Adressaten steht oder nicht. Es ist umstritten, ob
Hund oder Köter sagt. Der Sprecher charakterisiert dieser Form von Bedeutung, die über den de-

95
3.4
Semantik und Pragmatik
Bedeutungs-
verschiebungen und
Mehrdeutigkeiten

skriptiven Gehalt hinausgeht, der expressiven abgehandelt wird. Die Ökonomieprinzipien des
Bedeutung oder einer eigenen Bedeutungskate- sprachlichen Handelns werden im Rahmen der Im-
gorie zuzuordnen ist. Ansätze, die den Be- plikaturentheorie untersucht. Die Pragmatik ist
deutungsbeitrag von Höflichkeitsformen von ex- also in diesem Sinn als Teilgebiet einer Handlungs-
pressiver Bedeutung abgrenzen, sprechen von theorie zu sehen.
sozialer Bedeutung (vgl. Lyons 1980, S. 106; Die Verzahnung von Pragmatik und Semantik
Löbner 2003, Kap. 2.3 und 2.4). wird bei der Beschreibung der Äußerungsbedeu-
Dieser Rubrik von Ausdrücken kann man auch tung offensichtlich. Die Äußerungsbedeutung ist
diejenigen Ausdrücke zuordnen, die in der Baby- eine semantische Kategorie, deren Erschließung
sprache, der Sprache, die Erwachsene gegenüber aber auf Situationswissen und Welt- und Hinter-
Kleinkindern oft verwenden (s. Kap. II.5), üblich grundwissen fußt.
sind. Typisch für Babysprache ist die Verwendung Das Wissen über die Äußerungssituation –
von onomatopoetischen Ausdrücken wie Wau- dass wir z. B. wissen, wer spricht, wer zuhört,
wau (s. 3.3.1.1) oder die bedeutungslose Verwen- wann und wo die Äußerung gemacht wird und um
dung von Verkleinerungsformen für Dinge von wen es tatsächlich bei einer Äußerung im Textzu-
gewöhnlicher Größe (z. B. Entchen). sammenhang geht – erschließt sich uns unter Um-
ständen erst mit der Verwendung des Satzes. Die
Erforschung von Bedeutungsbestandteilen, für die
dieses Faktenwissen nötig ist, wird üblicherweise
3.3.5 | Semantik-Pragmatik-Schnittstelle der Pragmatik zugeordnet (Beschreibung des Phä-
nomens der Deixis, der Anaphorik, der Präsup-
Schnittstelle Will man eine Trennlinie zwischen Pragmatik und positionen und des Fokus). Dieser Bedeutungs-
Semantik ziehen, dann gehört die Erforschung von aspekt der Äußerungsbedeutung kann, obwohl
Ausdrucksbedeutung in die Semantik und die Er- verwendungsabhängig, von Überlegungen zum
forschung des kommunikativen Sinns einer Äuße- kommunikativen Zweck einer Äußerung abge-
rung in die Pragmatik, wobei die Erforschung der koppelt werden. In diesem Sinn ist Pragmatik kein
Sprechakttypen im Rahmen der Sprechakttheorie Teilgebiet einer Handlungstheorie.

3.4 | Bedeutungsverschiebungen und Mehrdeutigkeiten


Eine sprachliche Form kann mehr als eine Bedeu- davon ab, wie man die Auslöser für die Verschie-
tung haben. Mehrdeutigkeiten kann man auf der bung klassifiziert.
Morphemebene, der Wortebene und auf der Satz- Nimmt man an, dass der Verschiebung der Be-
ebene untersuchen. Als Ausdrucksformen zählen deutung sprachliches Wissen zugrunde liegt,
die Lautgestalt und bei Wörtern die Schreibweise. muss man diese als Phänomen der Äußerungsbe-
Auch Handzeichen der Gebärdensprache können deutung ansehen. Ist Wissen über die Äuße-
mehrdeutig sein. rungssituation oder allgemeines Weltwissen im
Der Begriff ›wörtliche Bedeutung‹ wird häu- Spiel und sind soziale Konventionen verletzt, ist
fig gleichbedeutend mit dem Begriff ›Äußerungs- es ein Phänomen der Entstehung von kommuni-
bedeutung‹ verwendet (vgl. Wunderlich 1991). kativem Sinn.
Einige Linguisten unterscheiden aber zwischen Auslöser für die Verschiebungen ist der Aktu-
wörtlicher Bedeutung in Abhängigkeit von der alisiertungskontext, die unmittelbare sprachliche
Äußerungssituation, die Sprecher, Gesprächsteil- Umgebung eines Ausdruckes, in welcher der Aus-
nehmer, Äußerungszeit und Äußerungsort fest- druck verwendet wird, oder das Weltwissen, im
legt, und nicht-wörtlicher Bedeutung, die sich Rahmen dessen die Äußerung gemacht wird. Zu
durch Bedeutungsverschiebungen aufgrund von unterscheiden sind metonymische Bedeutungs-
allgemeinem sprachlichen Wissen oder Wissen verschiebungen und metaphorische Bedeutungs-
über die Welt ergeben, in der wir leben. Ob das verschiebungen (vgl. Bierwisch 1979; Dölling
Resultat dieser Bedeutungsverschiebungen der 2000).
Äußerungsbedeutung zugerechnet wird oder dem
kommunikativen Sinn, ist umstritten und hängt

96
3.4
Semantik und Pragmatik
Metapher

3.4.1 | Metonymie (35) a Die Universität hat ihre Autonomie wieder. (Institution)
b Die Universität ist eine Erfindung der Prager. (Institutions-
Typisch für metonymische Bedeutungsverschie- typ)
bungen ist, dass Bezeichnungen für Dinge einer c Die Universität hat angerufen. (Person)
Sorte systematisch für Dinge einer anderen Sorte d Die Universität hat sieben Etagen. (Gebäude)
verwendet werden. Wir können z. B. Ausdrücke e Die Universität hat gewählt. (Studierende, je nach Äuße-
für Orte verwenden, um uns auf Personen zu be- rungssituation)
ziehen, die mit diesem Ort in Zusammenhang ste- f Die Universität verkürzt die Arbeitszeit für die Dozenten
hen wie in (31). auf 38 Stunden pro Woche. (Leitung)
g Die Universität langweilt die meisten Studierenden. (Lehr-
(31) Die letzte Reihe quasselt dauernd. (»Die Studierenden in betrieb)
der letzten Reihe …«)
(32) Verschiebung: Ort oPerson(en) an dem Ort Dieselben Muster von Bedeutungsverschiebun-
gen, die bei dem Wort Universität zu beobachten
Orte können nicht quasseln; das gehört zu unse- sind, sind auch bei Museum, Gericht, Parlament,
rem sprachlichen Wissen. Dieser Konflikt löst die Theater, Versicherung, Fabrik, Kirche, Rundfunk,
Uminterpretation aus, bei der wir nach Personen Gefängnis, Hotel (Bierwisch 1983, S. 82) zu beob-
suchen, die zum genannten Ort in Beziehung ste- achten und einwandfrei in andere Sprachen über-
hen, und auf die die Eigenschaft zu quasseln zu- tragbar.
treffen kann.
Neben der sprachlichen Umgebung kann auch
ein Konflikt mit Weltwissen für die Uminterpretati-
on verantwortlich sein, wie (33) illustriert. 3.4.2 | Metapher

(33) Chomsky liegt bei uns auf dem Nachttisch. (»Werke von Von der Metonymie ist die Metapher (griech. Über-
Chomsky …«) tragung) abzugrenzen. Üblicherweise werden drei
(34) Verschiebung: Person oWerk der Person Metaphernarten unterschieden:
N Kreative/innovative Metapher
Die Bedeutungsverschiebung eines Namens von N Konventionelle/usuelle Metapher
der Person, die diesen Namen trägt, zu Werken, N Lexikalisierte/tote Metapher
die diese Person geschrieben hat, ist ein weit ver- Den drei Metaphernarten entsprechen die Stufen
breitetes Muster, das hier aktualisiert wird. des Lexikalisierungsprozess von Metaphern (s. Kap.
Zwischen den bezeichneten Gegenständen be- II.4.7.3). Oft wird gesagt, dass für die metaphori-
steht immer eine sachliche Zusammengehörig- schen Bedeutungsverschiebungen typisch ist, dass
keit. Dieses Phänomen kennt man in der Rhetorik sprachliche Bilder zur Bezeichnung von Dingen
unter dem Namen Metonymie (griech. Umbenen- verwendet werden. Der Ausdruck ›sprachliches
nung). Diese Kategorie spielt auch in der Poetik Bild‹ ist allerdings wiederum eine Metapher für
und Lyrik eine zentrale Rolle (s. Kap. III.1.4 und den metaphorisch verwendeten Ausdruck.
III.4.3.2). Löbner (2003, S. 64–74) nennt neben der Kreative Metapher: Bei kreativen Metaphern ist
Kontextbedingtheit die folgenden Kriterien für me- die Charakterisierung des Dings mittels eines Aus-
tonymische Bedeutungsverschiebungen: druckes üblicherweise falsch, reduziert man die
N Die Bedeutungsverschiebungen folgen allge- Bedeutung des Ausdrucks auf seine Äußerungsbe-
meinen Mustern. deutung. Unter der Annahme, dass Maria eine
N Die Muster der Verschiebung treten systema- Frau ist, ist (36) widersprüchlich.
tisch bei großen Gruppen von Lexemen auf.
N Dieselben Muster sind auch sprachübergreifend (36) Maria ist eine Katze.
zu beobachten.
Standardbeispiele für die Vielfalt und Systematizi- Wie bei der Bedeutungsverschiebung der Metony-
tät von metonymischen Verschiebungen sind Aus- mie beobachten wir also einen Konflikt, was man
drücke, die Institutionen bezeichnen wie Universi- als Auslöser für die metaphorische Interpretation
tät. Man geht davon aus, dass eine der Bedeutungen ansehen kann. Der kommunikative Sinn der Äu-
gelernt wird, und alle anderen Bedeutungen sich ßerung kann die Äußerungsbedeutung ersetzen.
aus dieser ableiten lassen. Die Äußerung des Satzes (36) kann also sehr wohl

97
3.4
Semantik und Pragmatik
Bedeutungs-
verschiebungen und
Mehrdeutigkeiten

sinnvoll sein. Zwischen den bezeichneten Gegen- ten, toten Metaphern (s. Kap. II.4.7.3.2). Ausdrü-
ständen und dem, wofür das sprachliche Bild cke wie Maus und surfen, die den Umgang mit
steht, gibt es keine sachliche Zusammengehörig- dem Computer und dem Internet erfassen, sind
keit wie bei der metonymischen Verschiebung. Es solche erstarrten Metaphern.
Ähnlichkeit wird vielmehr eine Beziehung der Ähnlichkeit Der Übergang von Metaphern zu Idiomen ist
behauptet. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass fließend. Diese haben oft metaphorische Wurzeln.
die kreative Metapher die Art der Ähnlichkeitsbe- Die Redeweise jmd. in den Senkel stellen in der
ziehung offen lässt. In Beispiel (36) ist nicht klar, Bedeutung von »jmd. zurechtweisen« bezog sich
ob die Ähnlichkeit in Bezug auf die Neugier von ursprünglich auf das vertikale Ausrichten von
Katzen, in Bezug auf deren Genügsamkeit, Marias Mauerwerk oder Holzwänden. Dazu wurde ein
Weiblichkeit oder in Bezug auf ihren Spaß am Tö- Senklot (Schnur mit Gewicht daran) verwendet.
ten von Vögeln etc. besteht. Der Äußerungskon- Konventionelle und tote Metaphern haben ihren
text bzw. Weltwissen kann diesen Bedeutungs- Weg ins Lexikon gefunden und sind demnach Be-
spielraum aber auf die relevanten Eigenschaften standteil der Ausdrucksbedeutung. Außerdem fin-
einschränken (Tversky 1977). Relevante Eigen- den sich Metaphern in Sprichwörtern (die man
schaften des Sprachbildes (auch Quelle genannt; als Idiome mit belehrendem Inhalt werten kann).
hier Katzen im Allgemeinen) werden übertragen In (38a) ist kurze Beine haben metaphorisch ver-
auf den zu charakterisierenden Gegenstand (das wendet, in (38b) dagegen nicht.
Ziel: hier Maria). Der Vergleich ist bei der Meta-
pher immer implizit. (38) a Lügen haben kurze Beine.
Vergleich: Die Metapher ist vom expliziten Ver- b Tom und Fritz haben kurze Beine.
gleich mit wie oder als zu unterscheiden. Mit dem
expliziten Vergleich sagt man nichts Widersprüch- Lakoff/Johnson (1980) haben es unternommen,
liches. Das Vergleichsmuster kann dabei schon die verschiedenen Arten der Bedeutungsübertra-
existieren wie in (37b) oder weiter hergeholt sein gung auf der Basis von Ähnlichkeitsbeziehungen
wie in (37a). zu systematisieren und zu Gruppen von Meta-
phern zusammenzufassen. Eine dieser Gruppen
(37) a Maria ist wie eine Katze. nennen sie die Zeit-ist-Geld-Metapher wie in
b Maria ist wie ihre Mutter. (39). Allen Beispielen dieser Gruppe ist gemein-
sam, dass Zeit wie Geld gesehen werden kann.
Konventionelle Metapher: Von konventionellen
oder usuellen Metaphern spricht man, wenn Meta- (39) a Du verschwendest meine Zeit.
phern durch häufigen Gebrauch zu stehenden b Ich habe viel Zeit investiert.
Wendungen werden. Als Beispiel für diesen Fall c Wie hat er die Zeit budgetiert?
kann man Es tut sich ein neuer Horizont auf wer- d Die Zeit kannst du sparen.
ten. Die Konstruktion eines Vergleichs auf der Ba- e Die Zeit wird abgerechnet.
sis von Weltwissen wird unnötig, ist aber rekon-
struierbar. Ziel von Lakoff und Johnson ist es, über die Syste-
Der Vergleich kann aber auch obsolet werden, matiziät von metaphorischen Bedeutungsverschie-
einfach weil sich unsere Lebensumstände ändern. bungen etwas über die Organisation der kogniti-
Das abstrakte Verb begreifen z. B. beschreibt eine ven Prozesse bei der Metaphernkonstruktion zu
geistige Tätigkeit und wird heute ohne Bezug auf erfahren.
die körperliche Tätigkeit greifen verstanden. Der
Vergleich kann sich sogar als falsch herausstellen.
Und trotzdem werden Metaphern weiterverwen-
det. Rabeneltern ist so ein Fall. Dieser Ausdruck 3.4.3 | Lexikalische Mehrdeutigkeiten
wird üblicherweise für Eltern verwendet, die ihre
Kinder scheinbar zu früh sich selbst überlassen, Von Bedeutungsverschiebungen wie Metonymie
und ist damit negativ konnotiert. Raben sollen al- und Metapher sind lexikalische Mehrdeutigkeiten
lerdings sehr fürsorgliche Eltern sein. abzugrenzen.
Lexikalisierte Metapher: Ist die Korrektheit des
Vergleichs irrelevant, oder ist der ursprüngliche
Vergleich unbekannt, spricht man von lexikalisier-

98
3.4
Semantik und Pragmatik
Lexikalische
Mehrdeutigkeiten

3.4.3.1 | Homonymie, Homophonie te wurde erst 200 Jahre nach der Erfindung des
und Homographie Buchdruckes in der Schriftform von Seite unter-
schieden. Wörter, die Unterschiedliches bedeuten,
Homonymie: Von Homonymie spricht man, wenn unterschiedlich geschrieben werden, aber eine
eine Lautgestalt mit zwei Bedeutungen verknüpft identische Lautform haben, nennt man Homo-
sein kann und auch die Schreibweise diese Bedeu- phone.
tungen nicht unterscheidet. Groß- und Kleinschrei- Homographe sind Wörter mit unterschiedlicher
bung und Unterschiede in den grammatischen Ei- Bedeutung, die gleich geschrieben, aber unter-
genschaften sind irrelevant. Das Nomen Fest als schiedlich ausgesprochen werden. Die Buchsta-
Bezeichnung für die Form einer Veranstaltung ist benfolge modern kann auf unterschiedliche Weise
ein Homonym zum Adjektiv fest als Stoffeigen- ausgesprochen werden, im Sinne einer Eigenschaft
schaft im Unterschied zu flüssig und gasförmig. wie zeitgemäß mit einem kurzen ersten Vokal und
Der Unterschied in den grammatischen Eigen- dem Wortakzent auf der zweiten Silbe und im Sin-
schaften rechtfertigt die Annahme, dass es sich um ne eines Prozesses wie verfaulen mit einem langen
verschiedene Wörter mit identischer Lautung han- ersten Vokal und dem Wortakzent auf der ersten
delt. Strauß als Bezeichnung für eine Vogelart und Silbe. Hier ist nur die Lautgestalt bedeutungsdiffe-
Strauß als Ausdruck für ein Blumengebinde unter- renzierend.
scheidet sich in der Bedeutung und in der Plural- Heteronym: Sind sowohl Lautgestalt wie auch
bildung. Mark kann als Ausdruck für eine Geldsor- Schreibweise bedeutungsdifferenzierend, spricht
te oder für die weiche Substanz (üblicherweise) man manchmal von Heteronymen.
im Inneren von Knochen stehen. Die beiden Wör-
ter unterscheiden sich im grammatischen Ge- ± Bedeutungsdifferenzierung der Form Lautgestalt und
schlecht. Man sagt die Mark für das eine und das Lautgestalt Schreibweise Schreibweise
Mark für das andere.
Homonymie – –
Unterschiedliche sprachliche Bedeutungen kön-
nen außerdem bezüglich aller phonologischen und Homophonie – +
morpho-syntaktischen Eigenschaften identisch Homographie + –
sein. Ball im Sinne des kugelförmigen Gegen- Heteronymie + +
stands und Ball im Sinne der Tanzveranstaltung ist
so ein Fall. Die Lautgestalt von Ball hat mindestens
zwei Funktionen. Gibt es zwei Wörter, die jeweils
3.4.3.2 | Polysemie
eine Funktion haben und die man nur durch Zufall
gleich schreibt und gleich ausspricht? Oder haben Von der Homonymie wird traditionell die Polyse-
wir es hier mit einem Wort zu tun, das zwei Be- mie abgegrenzt. Wenn die Mehrdeutigkeit zufällig
deutungen hat? Voraussetzung für eine Entschei- ist, spricht man von Homonymie. Wenn die Mehr-
dung in diesem Fall ist die theoretische Festlegung, deutigkeit nicht zufällig ist, spricht man von Poly-
was ein Wort ist. Umfasst der Begriff ›Wort‹ nur die semie. Für die Abgrenzung gibt es verschiedene
Lautform und die grammatischen Eigenschaften Kriterien je nach Art der Beziehung:
dieser Lautform, dann kann man von einem Wort N Das Regularitätskriterium erlaubt es, Wörter zu
mit zwei Bedeutungen ausgehen. Umfasst der Be- Gruppen zusammenzufassen, die in einer sach-
griff ›Wort‹ zusätzlich zu diesen formalen, akus- lichen Beziehung stehen: Metonymische Poly-
tisch messbaren Eigenschaften auch die Funktion, semie (s. 3.4.1).
dann muss man zwei Wörter unterscheiden. N Das Metapher-Kriterium fasst gleiche Ausdrü-
Nimmt man Letzteres an, ist es üblich, die Wörter cke zusammen, bei denen eine Ähnlichkeitsbe-
in der Schreibung mit kleinen Zahlen, sog. Indizes ziehung zwischen den Ausdrücken besteht. Der
(Plural von lat. index), zu unterscheiden: Ball1 un- Ausdruck Pferd als Ausdruck für das Turngerät
terscheidet sich von Ball2 in der Bedeutung. Man oder die Schachfigur ist ursprünglich eine meta-
kennt diese Praxis aus Wörterbüchern. phorische, also bildliche Verwendung des Aus-
Homophon: In einigen Fällen hat sich im Lau- drucks für das Tier oder die Tierart: Metaphori-
fe der Zeit eine unterschiedliche Funktion gleich- sche Polysemie (s. 3.4.2).
lautender Wörter mit identischen grammatischen N Das Etymologie-Kriterium: Die Ausdrücke ha-
Eigenschaften auch orthographisch durchgesetzt. ben eine gemeinsame historische Wurzel.
Saite und Seite ist ein Beispiel für diesen Fall. Sai- Schloss für Schließvorrichtung oder Gebäudeart.

99
3.4
Semantik und Pragmatik
Bedeutungs-
verschiebungen und
Mehrdeutigkeiten

Diese Beziehungen sind den Sprechern einer Spra- Koordinationstest: Koordinierte (d. h. mit und
che aber üblicherweise nicht bewusst. Die Annah- gebildete) Aussagen können unter Umständen re-
me, dass Homonyme als zwei Wörter zu werten duziert werden, wenn ein Ausdruck in der glei-
sind, hingegen Polyseme als ein Wort mit mehre- chen Bedeutung zweimal (einmal rechts und ein-
ren Bedeutungsvarianten (wie z. B. in Bierwisch mal links von und) vorkommt. Wenn sich bei der
1983) hat keinen Erklärungswert für die Unter- reduzierten Variante eine Bedeutungsänderung
scheidung. Sie ist aber unter Umständen in einem ergibt, dann ist die Wortform ambig.
theoretischen Konzept relevant. Die Kriterien kön- In (40a) können wir treffen einmal im Sinne
nen in der Lexikographie wichtig sein, wenn ent- von begegnen und einmal im Sinne von verletzen
schieden werden muss, ob einem Ausdruck ein beziehen. (40b) kann man unmöglich so verste-
Wörterbucheintrag zugeordnet werden muss, oder hen, dass Maria das Reh mit einem Geschoß ver-
ob die Bedeutungsvarianten unter einem Eintrag letzt und Fritz einem Freund begegnet.
abgehandelt werden können.
Ambiguität Können einer Lautstruktur mehrere Bedeutun- (40) a Fritz traf einen Freund und Maria traf ein Reh.
gen zugeordnet werden, spricht man allgemein b Fritz und Maria trafen einen Freund und ein Reh.
statt von Homonymie oder von Polysemie von le-
xikalischer Ambiguität (von lat. ambiguitas: Treffen ist also ambig. Rot hingegen ist nicht am-
Zweideutigkeit). Es ist aber üblich, den linguisti- big. Obwohl sich mit Haaren und Autos vollkom-
schen Fachbegriff ›Ambiguität‹ weiter zu fassen als men unterschiedliche Farbvorstellungen verbin-
den lateinischen Begriff, nämlich im Sinne von den, kann man den Farbausdruck rot in einer
»Mehrdeutigkeit«. Koordination reduzieren und sich auch in der re-
duzierten Form auf die verschiedenen Farben be-
Lexikalische Ambiguität
ziehen. Farbausdrücke wie rot nennt man vage.
Der Ausdruck rot deckt verschiedene Farbschattie-
rungen ab.
Homonymie Polysemie
(41) a Fritzens Haare sind rot und Marias Auto ist rot.
b Fritzens Haare und Marias Auto sind rot.

3.4.3.3 | Ambiguitätstests 3.4.3.4 | Das Phänomen der Vagheit


Unter Umständen können intuitiv Zweifel beste- Vage Ausdrücke erfüllen üblicherweise drei Krite-
hen, ob ein Wort mehrdeutig ist oder nicht. rien (vgl. z. B. Keefe 2000):
Die linguistische Forschung hat empirische N Grenzfälle der Anwendung: Für vage Ausdrücke
Tests entwickelt, die den Nachweis der Ambiguität ist typisch, dass sie für die Bezeichnung von eini-
oder Nicht-Ambiguität von zwei Ausdrücken er- gen Dingen definitiv dienen können, dass sie für
laubt. Diese Methoden gehen auf Jerry Sadock und andere Dinge definitiv nicht verwendet werden
Arnold Zwicky (1975) zurück. Wir betrachten hier können und dass es Grenzfälle der Anwendung
nur den sog. Zähltest und den Koordinationstest. gibt. Ob eine Blume rot ist oder nicht, kann man
Zähltest: Dinge kann man zählen. Werden un- unter Umständen (z. B. wenn die rote Farbe ins
terschiedliche Dinge mit einem lexikalisch ambi- Bläuliche tendiert) einfach nicht entscheiden. Und
gen Wort bezeichnet, dürfen die jeweiligen Anzah- darüber sind sich Gesprächsteilnehmer einig. Ob
len nicht zusammengezählt werden. Zum Beispiel ein bestimmter Ausschnitt aus dem Balken unter
kann man nicht von fünf Pferden sprechen, wenn (42) noch orange ist, oder schon nicht mehr, ist
man sich auf zwei Turngeräte und drei Pferde aus unter Umständen ein Grenzfall.
Fleisch und Blut beziehen möchte. Pferd im Sinne N Keine scharfen Grenzen des Übergangs: Wir
von Turngerät und Pferd als Bezeichnung für ein können uns nicht vorstellen, dass uns irgendein
Exemplar einer biologischen Art sind demnach physikalischer Messprozess die Entscheidung ab-
ambig. Man kann sich aber sehr wohl auf fünf Tie- nimmt, wo genau orange in einem schattierten
re beziehen, wenn man sich auf zwei Affen und Balken wie in (42) beginnt und wo genau es auf-
auf drei Zebras bezieht. Der Ausdruck Tier ist also hört. Wir wissen nicht, wo genau die Grenzfälle
bezüglich Tierarten nicht ambig. Der Test eignet zu finden sind. Farbe ist ein Kontinuum. Für vage
sich nur für Wörter, die sich auf Dinge beziehen. Ausdrücke ist dies allgemein typisch.

100
3.4
Semantik und Pragmatik
Lexikalische
Mehrdeutigkeiten

N Kleinste Unterschiede in der Qualität oder in mal ab). Trotzdem kann die Frage aufkommen,
der Quantität einer Eigenschaft sind bei vagen ob ein bestimmter Vogel (z. B. Pinguin) ein typi-
Ausdrücken üblicherweise nicht wahrnehmbar. scher Vogel ist oder nicht.
Wenn wir etwas Oranges vor uns haben, dessen
Farbe bezüglich Farbton, Sättigung und Hellwert
3.4.3.5 | Das Phänomen
minimal (das heißt für unser Auge nicht wahr-
der Kontextabhängigkeit
nehmbar) verändert wird, dann werden wir auch
das veränderte Ding als orange bezeichnen. Die Interpretation von vagen Ausdrücken ist darü-
Kleinste Unterschiede spielen für die korrekte Be- ber hinaus oft kontextabhängig. Das heißt, dass
zeichnung keine Rolle. der Äußerungskontext oder das Hintergrundwis-
sen die Bedeutung eines vagen Ausdruckes beein-
(42) flussen. Für vage Ausdrücke ist typisch, dass sie
in Bezug zu empirischen Ordnungsrelationen ste-
hen. Wir können Stäbe nach der Länge sortieren.
Einige Stäbe werden als lang und einige als nicht
Ausdrücke für natürliche Arten und Substanzen lang gelten. Und wir werden höchstwahrschein-
sind dann vage, wenn es Grenzfälle der Einordnung lich mit Grenzfällen für die Ausdrücke lang und
gibt. Was als Gold im chemischen Sinn zählt, ist nicht lang konfrontiert werden. Wo wir diese
nicht vage. Die Substanz ist strukturidentisch mit Grenzfälle auf einer Skala finden, hängt zusätz-
dem chemischen Element »Au« (Haas-Spohn 1995). lich von der Situation ab, in welcher der vage Aus-
Im umgangssprachlichen Sinn kann es aber schon druck verwendet wird. Ob ein Stückchen Holz Kontextabhängigkeit
zu Diskussionen kommen, ob es sich bei einem groß ist oder nicht, kann davon abhängen, ob es
Schmuckstück um ein Stück aus Gold handelt oder sich um ein Holzscheit auf einem Anhänger oder
nicht (Grenzfälle). Goldschmuck wird aus Legie- einen Splitter im Auge handelt. Ob man etwas für
rungen hergestellt. Es gibt zwar (von Land zu Land teuer hält oder nicht, hängt üblicherweise davon
verschiedene) gesetzliche Bestimmungen, was als ab, was man verdient oder als Vermögen hat.
Gold zählt (Grenze). Diese Grenzziehungen sind Auch hier spielen die Fakten der Äußerungssitua-
aber willkürlich und von wirtschaftlichen Faktoren tion eine Rolle.
bestimmt. Man kann sich leicht überlegen, dass Dass wir uns mit dem Ausdruck rot auf Autos
auch mit solchen Bestimmungen Grenzfälle nicht und auf Haare beziehen können und trotzdem spe-
vermieden werden können. zifische unterschiedliche Farben meinen, hängt
Ausdrücke für Artefakte wie »Stuhl« sind vage. damit zusammen, dass wir mit den Nomen Auto
Oft ist nicht klar, ob es sich bei einem Kunstobjekt und Haare Vergleichsstandards für Farben assozi-
noch um einen Stuhl handelt oder nicht mehr. Vag- ieren. Einer assoziiert als Vergleichsgröße in Bezug
heit ist außerdem typisch für Maßangaben. Die auf rote Haare die Haarfarbe seines semmelblon-
Größenangabe in einem Pass z. B. gibt zwar einen den Vetters, andere die Haarfarbe der Punkerin aus
Wert in Zentimetern ziemlich genau wieder. Grenz- dem Fernsehen, und in Bezug auf Autos die typi-
fälle sind aber auch hier denkbar. Als Überbegriff sche Lackfarbe der Marke Ferrari oder das matte
für Vagheit und lexikalische Ambiguität verwendet Rot eines alten Mitsubishi. Welche Farbschattie-
man den Begriff ›Unbestimmtheit‹ (Pinkal 1985). rung relevant ist, ist eine Frage der Organisation
Man beachte außerdem, dass Vagheit und Ty- und Leistung des Gedächtnisses und Gegenstand
pikalität unabhängig sind (s. 3.5.1.3). Ausdrücke von psychologischen Untersuchungen. Die Aus-
für natürliche Arten sind nicht vage (Beispiel Vo- drucksbedeutung von kontextabhängigen Ausdrü-
gel, sehen wir von akzidentiellen Mutationen ein- cken ist demnach invariant. Die scheinbare Mehr-
deutigkeit der Äußerungsbedeutung ist für die
Kommunikation irrelevant, solange keine Unei-
Unbestimmtheit
nigkeit über die Normsetzung entsteht. Bei sub-
jektiven Geschmacksurteilen kann es zu Diskus-
Vagheit lexikalische sionen über die Normsetzung kommen. Aber
Ambiguität
entscheidbar sind diese Diskussionen üblicherwei-
se nicht, weil der Normsetzung subjektive Erfah-
Homonymie Polysemie rungen zugrunde liegen, die den Gesprächspart-
nern wechselseitig unzugänglich sind.

101
3.4
Semantik und Pragmatik
Bedeutungs-
verschiebungen und
Mehrdeutigkeiten

3.4.4 | Strukturelle Mehrdeutigkeiten Es geht hier nur um die Frage der Kundin, die
mehr als eine syntaktische Analyse erlaubt, je
Dass der mitgeteilte Inhalt eines Satzes nicht nur nachdem, ob die Präpositionalphrase im Schau-
von den Bedeutungen seiner Bestandteile abhängt, fenster das Kleid in der syntaktischen Funktion ei-
wurde bereits in 3.3.1.2 angesprochen. Hat ein nes Attributes näher beschreibt oder ob sie den
Wort, eine Phrase oder ein Satz mehr als eine mor- Prozess des Kleiderprobierens in der syntaktischen
phosyntaktisch regelkonforme Struktur, dann ist Funktion eines Adverbiales lokalisiert. Jeder der
mit Mehrdeutigkeiten zu rechnen. In Abgrenzung beiden syntaktischen Analysen entspricht eine
von lexikalischen Ambiguitäten spricht man von Lesart der Frage. Unser Weltwissen sagt uns, dass
strukturellen Ambiguitäten. Diese werden im die zweite Lesart, auf die der Verkäufer antwortet,
Rahmen der Satzsemantik erforscht. Sie motivie- die unwahrscheinlichere ist. Zur Desambiguierung
ren die hierarchische Strukturanalyse. Eine struk- der verschiedenen Lesarten dienen wiederum Pa-
turelle Mehrdeutigkeit zeigt ein beliebter Witz. raphrasen. Als empirischer Test bietet sich in vie-
len Fällen der sog. Rangiertest an (s. Kap. II. 2.3.1).
(43) Kommt eine Kundin in einen Laden und fragt den Verkäu- Strukturell bedingte Mehrdeutigkeit ist natür-
fer: »Kann ich das Kleid im Schaufenster anprobieren?« lich auch auf der Wortebene zu beobachten. Ein
Sagt der Verkäufer: »Das ist nicht nötig, verehrte Dame. beliebtes Beispiel ist der Ausdruck Rotweinglaskis-
Wir haben Umkleidekabinen.« te. Etwas, das so bezeichnet wird, kann eine Kiste
für Rotweingläser sein oder eine Glaskiste für
Zur Vertiefung

Quantoren
Mehrdeutigkeiten, die sich weder mit den traditionellen Mitteln syntaktisch, also mit Hilfe von Unterschieden in
grammatischer Kategorie oder Funktion der Ausdrücke, beschreiben lassen, noch lexikalischen Mehrdeutigkei-
ten geschuldet sind, nennen wir hier Skopusmehrdeutigkeiten. Diese treten typischerweise im Zusammen-
hang mit Quantoren auf. Quantoren sind semantisch gesehen eine eigene Klasse von Nominalphrasen im Un-
terschied zu Eigennamen, Kennzeichnungen und Pronomen (s. Kap. II.3.3). Traditionell spricht man auch von
Indefinitpronomen. Sie haben die folgenden Charakteristiken:
N Quantoren werden mit einer besonderen Klasse von Determinierern gebildet. Die Standardquantoren sind der
Allquantor jedes N und der Existenzquantor (mindestens) ein N und die negativen Varianten davon: kein N
und nicht alle N. Dabei steht N für ein beliebiges Nomen.
N Quantoren werden (im Gegensatz zu Eigennamen, Kennzeichnungen und Pronomen) nicht referentiell inter-
pretiert. Quantifizierte Sätze kann man als eine Anweisung verstehen, Dinge einer bestimmten Art auf ihre
Eigenschaften zu überprüfen. Die Art der Anweisung variiert mit der Bedeutung des Quantors. Der Erfolg der
Überprüfung ist durch die Äußerung garantiert.
Sätze mit mehr als einem Quantor zeigen semantische Mehrdeutigkeiten, wie (i) illustriert. Dieser Satz kann
bedeuten, dass es für jeden Politiker ein möglicherweise anderes Problem gibt, das er angesprochen hat, z. B.
Obama den Krieg in Afghanistan, Merkel nur die Finanzkrise und Medwedew den Alkoholismus in Russland.
Und der Satz kann bedeuten, dass alle Politiker dasselbe Problem angesprochen haben, z. B. den Klimawandel.

(i) Ein Problem hat jeder Politiker angesprochen.

Auch Konstruktionen mit einem Quantor und einer Negation zeigen Mehrdeutigkeiten. Wir betrachten hier den
Quantor genau drei Kreise in (ii).

(ii) Genau drei Kreise sind nicht orange.

Tendenziell verstehen wir den Satz so, dass von einer bestimmten Anzahl Kreise alle außer dreien orange sind.
Tatsächlich ist der Satz aber auch in einer Kreiskonstellation verwendbar, in der es gerade nicht so ist, dass ge-
nau drei Kreise orange sind:

102
3.4
Semantik und Pragmatik
Strukturelle
Mehrdeutigkeiten

In der Generativen Grammatik werden diese Lesartenunterschiede als Fälle von strukturellen Mehrdeutig-
keiten analysiert. Man nimmt an, dass den Interpretationen unterschiedliche syntaktische Repräsentationen
zugrunde liegen. Die Interpretationsunterschiede motivieren also die Einführung einer zusätzlichen Repräsen-
tationsebene neben der Tiefenstruktur und der Oberflächenstruktur (s. Kap. II. 2.3.3.3). Diese zusätzliche
Repräsentationsebene wird Logische Form (LF) genannt und durch syntaktische Bewegungen aus der Ober-
flächenstruktur abgeleitet.
Im Falle von Konstruktionen mit Negation und Quantor wie (ii) kann die Oberflächenstruktur direkt als Basis für
die Interpretation gelten (iiia) oder man kann als syntaktische Bewegung eine Rekonstruktion des Quantors an
die Stelle seiner Spur annehmen (iiib). Im letzteren Fall bezieht sich die Negation auf den Quantor, im ersteren
nicht. Die unterschiedliche Position von Quantor und Negation macht die Mehrdeutigkeit aus.

(iii) a LF1: [CP [NP genau drei Kreise]1 [sind2 [nicht t1 orange t2]]] b LF2: [CP [sind2 [nicht [NP genau drei Kreise] orange t2]]]

Die Idee, semantische Mehrdeutigkeiten als strukturelle Mehrdeutigkeiten zu analysieren, kann man auf Sätze
mit mehr als einem Quantor wie in (i) übertragen. Die logische Form dieser Konstruktionen kommt dadurch
zustande, dass alle Quantoren an die linke Satzperipherie bewegt werden. Man nennt diese syntaktische Bewe-
gung Quantorenanhebung. Wieder ist es der unterschiedliche Bezugsbereich der Quantoren, der die Mehrdeu-
tigkeit des Satzes ausmacht. In (iva) bezieht sich die NP ein Problem auf den ganzen Restsatz, in (ivb) ist es die
NP jeder Politiker, die sich auf den ganzen Restsatz bezieht. Statt von Bezugsbereich spricht man auch von
Skopus (engl. scope). Statt von semantischen Mehrdeutigkeiten spricht man deshalb auch von Skopusmehr-
deutigkeiten. Die Reihenfolge der Spuren ist irrelevant.

(iv) a LF1: [CP [NP ein Problem]2 [NP jeder Politiker]1 hat [t1 t2 angespr.]]]
b LF2: [CP [NP jeder Politiker]1 [NP mind. ein Problem]2 hat [t1 t2 angespr.]]]

Es ist üblich, Quantoren mit verschiedenen Paraphrasemustern wie in (v) wiederzugeben.

(v) Allquantor: jedes N: »für jedes N gilt: …« Existenzquantor: ein N: »es gibt ein N, für das gilt: …«

Das Paraphrasemuster für den jeweiligen Quantor bezieht sich auf satzwertige Ausdrücke (das, was anstelle der
Punkte » …« einzusetzen ist). Diesem satzwertigen Ausdruck entspricht der semantische Bereich oder Skopus
des jeweiligen Quantors. Die Konstellation der logischen Form beeinflusst die Abfolge der Quantoren in den bei-
den Paraphrasemustern. Die Paraphrasen für die desambiguierten Sätze werden in (vi) aufgeführt.

(vi) a »Es gibt ein Problem, für das gilt: jeder Politiker hat etwas zu ihm zu sagen.«
b »Für jeden Politiker gilt: es gibt ein Problem, zu dem er etwas zu sagen hat.«

Im ersten Fall steht der Allquantor im Skopus des Existenzquantors im zweiten Fall steht der Existenzquantor im
Skopus des Allquantors.
Skopusmehrdeutigkeiten sind allgegenwärtig. Es gibt sie bei Modalwörtern in Kombination mit Quantoren und
bei Konjunktionen in Verbindung mit der Negation, etc.

(vii) a Maria möchte ein Pony haben. b Fritz ist nicht nach Hamburg gezogen, weil Maria dort wohnt.

In (viia) kann es sich um ein bestimmtes Pony handeln, das Maria haben möchte, oder aber es ist egal, wel-
ches, Hauptsache irgendein Pony. In (viib) wird entweder eine Handlung aus dem genannten Grund unterlas-
sen, oder aber durchgeführt, aber aus einem anderen, als dem genannten Grund.
Die Erforschung der Standardquantoren nimmt wissenschaftsgeschichtlich ihren Anfang in den aristotelischen
Schriften. Die Beobachtung von Mehrdeutigkeiten führt Ende des 19. Jh. zur Entwicklung der Prädikatenlogik
als dessen Erfinder Gottlob Frege gilt. Die Prädikatenlogik ist eine Kunstsprache, die gerade frei von zum Bei-
spiel Quantoren geschuldeten Mehrdeutigkeiten ist. Sie wurde zuerst für die Untersuchung von mathematischen
Grundlagen verwendet: Für Definitionen ist eine Sprache ohne Mehrdeutigkeiten unabdingbar. Erst in den
1970er Jahren wurden die Einsichten über die Prädikatenlogik für die semantische Analyse von quantifizierten
natürlichsprachlichen Sätzen fruchtbar gemacht und weiterentwickelt. Montague (1974) legte den Grundstein
für die Disziplin der formalen Semantik. May (1977) integrierte diese Resultate der Beschreibung von Mehr-
deutigkeiten in die Generative Grammatik; Heim/Kratzer (1998) geben eine Einführung in diese Thematik.

103
3.5
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsbeziehungen

Rotwein (s. Kap. II.2.2.4). Die morphologischen (Morpheme) und die Reihenfolge der beiden Be-
Strukturen unterscheiden sich. Aber die Bausteine deutungen sind identisch.

3.5 | Bedeutungsbeziehungen
Für Bedeutungsbeziehungen unterscheidet man kommen des Ausdruckes ich als synonym bezeich-
Begriffe, die Bedeutungsbeziehungen auf der Wort- nen, wenn diese beiden Vorkommen von derselben
ebene beschreiben, und Begriffe, die Bedeutungs- Person verwendet werden. In Abhängigkeit von
beziehungen auf der Satzebene beschreiben. der Äußerungssituation wird von beiden Vorkom-
men die jeweilige Sprecherin bezeichnet und die
soll ja gerade nicht variieren. Dann müsste man
3.5.1 | Bedeutungsbeziehungen allerdings auch sagen, dass gestern und heute das-
selbe bedeutet, wenn gestern an dem Tag geäußert
zwischen Wörtern
wird, der auf den Tag folgt, an dem heute geäußert
wurde. Diese Verwendung des Begriffes ›Synony-
3.5.1.1 | Typen von Beziehungen
mie‹ für deiktische Ausdrücke entspricht aber
Synonymie liegt vor, wenn zwei Wortformen ein nicht der allgemeinen Praxis.
und dieselbe Bedeutung haben. Was unter ›Synony- Hyponymie und Hyperonymie sind Begriffe für
mie‹ zu verstehen ist, ist also abhängig davon, was hierarchische Beziehungen zwischen Wortbedeu-
man unter Bedeutung versteht. Beschränkt man die tungen. Der Ausdruck Schirm z. B. kann für Son-
Bedeutung auf die Ausdrucksbedeutung, also den nenschirme, Regenschirme, Radarschirme, Bild-
deskriptiven Gehalt eines Wortes, dann sind zwei schirme etc. verwendet werden. Intuitiv hat Schirm
Ausdrücke synonym, wenn sie dieselben Dinge eine allgemeinere Verwendung als Regenschirm und
charakterisieren (unabhängig von der Äußerungs- Regenschirm hat eine speziellere Verwendung als
situation). Synonyme kann man oft im Satzzusam- Schirm. Allgemein gilt, dass jedes Ding, das durch
menhang gegeneinander austauschen, ohne dass den einen Ausdruck bezeichnet werden kann, auch
es zu einer Veränderung in der Ausdrucksbedeu- durch den anderen Ausdruck bezeichnet werden
tung kommt, z. B. Möhre und Karotte oder Zündholz kann. Der eine Ausdruck ist Unterbegriff des ande-
und Streichholz. Bei diesen Ausdrücken handelt es ren. Diese Beziehung heißt Hyponymie. Regen-
sich um dialektale Varianten. Die Varianten können schirm ist ein Hyponym zu Schirm.
aber auch eine Frage der Sprechereinstellung (Hund Von Hyperonymie spricht man, wenn die um-
vs. Köter), eine Frage der verwendeten Stilebene gekehrte Beziehung besteht. Schirm ist ein Ober-
(Gesäß vs. Hintern vs. Popo), des Soziolektes, also begriff oder Hyperonym zu Regenschirm. Hypony-
einer Gruppensprache (pennen vs. schlafen) oder me zu einem Hyperonym heißen Kohyponyme.
eine Frage der Fachsprache (Bindehautentzündung Die Ausdrücke für die verschiedenen Schirmarten
vs. Konjunktivitis) sein. Alle diese Ausdrücke unter- sind damit Kohyponyme zu Schirm. Kohyponyme
scheiden sich nicht bezüglich ihres deskriptiven können nicht gleichzeitig für den Bezug auf ein
Gehaltes und sind demnach synonym (was die Aus- und dasselbe Ding verwendet werden.
drucksbedeutung anbelangt). Unter Umständen kann man ein Kurzwort wie
Verstehen wir als Basis für unseren Synonymie- Schirm statt dem Hyponym Regenschirm oder Son-
begriff unter ›Bedeutung‹ die Summe von Aus- nenschirm verwenden. Je nach Äußerungssituati-
drucksbedeutung und expressiver Bedeutung, on kann die Frage Bringst Du einen Schirm mit?
dann sind die Ausdrücke Hund und Köter oder anders verstanden werden. Dass der Hörer die Fra-
pennen und schlafen natürlich nicht synonym. Un- ge richtig interpretiert, ist entweder Bestandteil
terscheiden sich zwei lexikalische Ausdrücke nicht des kommunikativen Sinns der Frage (s. 3.6.1)
bezüglich Ausdrucksbedeutung und expressiver oder eine Folge der elliptischen Verwendung von
Bedeutung, spricht man auch von vollständiger Ausdrücken, also durch Auslassung von sprachli-
Synonymie im Gegensatz zu deskriptiver Syno- chem Material.
nymie (so z. B. Lyons 1980, S. 253). Gegensätze: Viele Ausdrücke stehen in einer
Gibt es Synonymie auf der Ebene der Äuße- Beziehung der Gegensätzlichkeit. Wir unterschei-
rungsbedeutung? Vielleicht könnte man zwei Vor- den drei Beziehungen: konträre Gegensätze, kom-

104
3.5
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsbeziehungen
zwischen Wörtern

plementäre Gegensätze und generell die sog. In- sein und umgekehrt. Ist jemand tot, kann er nicht
kompatibilität (vgl. Horn 1989). lebendig sein.
Konträre Gegensätze: Zwei Ausdrücke sind Die Beziehungen der Komplementarität und der
Antonyme, wenn sie konträre Gegensätze ausdrü- Kontrarietät ist nicht auf Adjektive beschränkt.
cken. Typischerweise liegt der Verwendung dieser Kontrarietät findet man auch bei Nomen wie Liebe
Ausdrücke eine Ordnungsrelation zwischen Din- und Hass oder Angst und Mut und bei Verben wie
gen zugrunde. Wir können zum Beispiel eine be- steigen und fallen. Man findet sie bei nominalen
stimmte Anzahl Stäbe der Größe nach ordnen und Quantoren alles und nichts sowie bei quantifikati-
diese Ordnung mittels einer Skala repräsentieren. onellen Adverbien wie immer vs. nie.
Stäbe, die am unteren Ende der Skala eingeordnet Die Konversheit ist des weiteren von der Kon-
werden, zählen sicher als kurz. Stäbe am oberen trarietät und der Komplementarität zu unterschei-
Ende der Skala zählen sicher als lang, und der Rest den. Konverse Ausdrücke stehen immer für Bezie-
ist in einem Zwischenbereich angeordnet. Es gibt hungen zwischen Dingen. Die beiden Ausdrücke
also Stäbe, die weder als kurz noch als lang zäh- kann man bei Vertauschung der Rollen der Dinge
len. Ausdruckspaare wie kurz und lang haben gegeneinander ersetzen. Typischerweise sind kon-
demnach eine Dreiteilung der Größenskala zur verse Ausdrücke bei Verwandschaftsbeziehungen
Folge. Zieht man zusätzlich die Vagheit der Aus- wie Vater und Sohn zu beobachten. Komparativ-
drücke in Betracht, kommt man auf zusätzliche formen von Antonymen wie kleiner/größer stehen
Zonen am Übergang von definitiv kurz zu definitiv in der Beziehung der Konversheit und ebenso Ak-
weder kurz noch lang und am Übergang von defi- tiv- und Passivformen von transitiven Verben wie
nitiv weder kurz noch lang zu definitiv lang kaufte/wurde gekauft.
(s. 3.4.3.4). Ganz analog kann man in Bezug auf
das Paar scharf – unscharf von Schärfeskalen für
3.5.1.2 | Semantische Felder
Messer und andere Schneidinstrumente sprechen
oder für schön – hässlich von Schönheitsskalen, Die Untersuchung von Bedeutungsbeziehungen
und für heiß – kalt von Temperaturskalen etc. dient der Erforschung der Organisation des (menta-
Diese Ausdrücke repräsentieren konträre Ge- len) Lexikons bzw. der Bestimmung der Unter-
gensätze: Immer wenn der eine Ausdruck eines schiede eines Zeichens zu anderen Zeichen im
Ausdruckspaares ein Ding aus einer bestimmten Sprachsystem (zu Saussures Differentialität des
Ordnung korrekt beschreibt, trifft der andere Aus- Zeichens s. Kap. III.5.2.3). Im deutschen Sprach-
druck nicht zu. Außerdem ist es möglich, dass ein raum haben die Arbeiten von Jost Trier und Walter
Ding derselben Ordnung weder durch den einen Porzig in den 1930er Jahren diese Forschungen ein-
noch den anderen Ausdruck korrekt beschrieben geleitet. Die Idee ist, dass unser Wortschatz syste-
ist. Das Ausdruckspaar lang bzw. kurz steht damit matisch organisiert ist und dass er systematischen
in der Beziehung der Kontrarietät. Die Ausdrücke Veränderungen unterliegt. Auf der Basis der Hypo- Wortfelder
können üblicherweise für graduelle Vergleiche ver- nymie und der verschiedenen Formen von Gegen-
wendet werden. sätzen z. B. lassen sich Gruppen von Ausdrücken
Von Inkompatibilität spricht man, wenn kein hierarchisch ordnen. Statt von Gruppen von Aus-
gradueller Vergleich von Eigenschaften möglich drücken spricht man auch von Wortfeldern, se-
ist. Die Bedeutungen zweier Ausdrücke sind in- mantischen Feldern oder in der Folge von der
kompatibel, wenn es nicht möglich ist, dass die Erforschung Künstlicher Intelligenz von semanti-
beiden Ausdrücke ein Ding gleichzeitig bezeich- schen Netzen. Paare von Gegenteilen wie kurz und
nen, aber nicht beide Ausdrücke zutreffen müs- lang bilden ein kleines Wortfeld. Die Beziehung ist
sen. Etwas, was ein Pferd ist, kann kein Schwan die Kontrarietät. Ein klassisches Beispiel sind Be-
sein. Es gibt aber auch Dinge, die weder Pferd zeichnungen für Zyklen wie die Wochentage: Mon-
noch Schwan sind, Seegurken z. B. Die Ausdrücke tag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Sams-
Pferd und Schwan sind also inkompatibel. tag und Sonntag bilden zusammen mit dem
Von komplementären Gegensätzen spricht Hyperonym Wochentag ein Wortfeld. Die Bezeich-
man, wenn notwendigerweise der eine Ausdruck nungen für die Wochentage sind Kohyponyme. Je-
ein Ding korrekt beschreibt und der andere nicht der der Ausdrücke drückt einen komplementären
(und umgekehrt), z. B. in Bezug auf Zahlen das Gegensatz zu allen anderen aus.
Ausdruckspaar gerade und ungerade. Ist eine na- Im Bereich der Personen und Tierbezeichnun-
türliche Zahl gerade, dann kann sie nicht ungerade gen sind wiederkehrende Muster zu entdecken.

105
3.5
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsbeziehungen

Zum Beispiel sind Sau und Eber Hyponyme zu rakter hat, ist offensichtlich zweitrangig. Römer
Schwein. Sau und Eber sind allerdings nicht kom- z. B. ist (unter anderem) eine Bezeichnung für ein
plementär zueinander. Für kastrierte Schweine Glas mit einer bestimmten Form und teilt sich mit
männlichen Geschlechts gibt es im Deutschen ein Glas denselben Bedeutungsbestandteil wie Rot-
Wort: Borch (franz. porc, engl. pork) und eine gan- weinglas.
ze Reihe von dialektalen Varianten dazu. Sau, Eber Nicht nur Komposita können in Bedeutungsbe-
und Borch sind Hyponyme zu Schwein und bilden standteile zerlegt werden, sondern auch Simplizia
ein semantisches Feld. Diese Dreiteilung ist abhän- (monomorphematische Wörter; s. Kap. II.2.2.2.2).
gig von den Kriterien Fruchtbarkeit (angezeigt mit In Anlehnung an die Merkmalsanalyse, die in der
der gestrichelten Linien) und Geschlecht (ange- Phonologie der Prager Schule zur Charakterisie-
zeigt mit der durchgezogenen Linie) und sie ist rung von einzelnen Phonemen (s. Kap. II.2.1.2.1)
systematisch. Anwendung findet, hat es sich in der struktura-
listischen Semantik eingebürgert, distinktive
(44) Schwein Merkmale für die Umschreibung der Wortbedeu-
tungen zu verwenden. Das Inventar an Merkma-
len, das nötig ist, um den Wortschatz zu beschrei-
Sau Eber Borch ben, ist dabei möglichst klein und universal zu
halten. Die Beschreibung von Ausdrucksbedeu-
Lexikalische Lücken liegen vor, wenn die Organisa- tungen erfolgt wie in der Phonologie mit Merk-
tion eines semantischen Feldes nicht vollständig malsmatrizen, d. h. Tabellen, die festlegen, ob ein
dem Muster ähnlicher Wortfelder folgt. Für Tierbe- Wort ein bestimmtes Merkmal hat oder nicht. Die
zeichnungen aus dem Wortfeld für Ente erwartet Bedeutung eines Ausdrucks ist durch die Merkma-
man einen Einwort-Ausdruck für kastrierte Erpel. le und die Werte der Merkmale festgelegt. Die
Einen solchen gibt es aber nicht. Merkmalsverteilung bestimmt damit die Position
eines Ausdrucks im System des Lexikons.
(45) Ente Gebräuchlich ist, diese Merkmale mit Groß-
buchstaben wiederzugeben, um sie von den ent-
sprechenden Ausdrücken einer Sprache zu unter-
Ente Erpel ????? scheiden. Die Bedeutung von Mann setzt sich
mindestens aus den Komponenten MÄNNLICH
Wortsemantik Konventionen für die Benennung von Handlungen und ERWACHSEN zusammen. Ausdrücke, die mit-
und deren Resultate (wie die Kastration) gehen tels derselben Merkmale erfasst werden können,
nur dann in den allgemeinen Sprachgebrauch bilden semantische Felder, was die Tabelle illus-
über, wenn diese kulturell in irgendeiner Form in- triert.
stitutionalisiert sind. Dass wir kein Wort für kas- Die Ausdrücke eines semantischen Feldes un-
trierte Erpel haben, heißt natürlich nicht, dass wir terscheiden sich bezüglich der Werte, die die
diese nicht bezeichnen können. Merkmale erhalten (Lyons 1977). Dabei kann es
auch vorkommen, dass ein Merkmal nicht bewer-
tet ist. Man spricht in diesem Fall von Unterspezi-
3.5.1.3 | Lexikalische Zerlegung
fikation.
Die Beziehungen zwischen Wortbedeutungen kön-
nen die Zerlegung oder Dekomposition von Wort- MÄNNLICH ERWACHSEN
bedeutungen rechtfertigen. Bei Komposita ist eine Mann + +
Zerlegung der Bedeutung in die Bestandteile (oder
Frau – +
Komponenten) unmittelbar nachvollziehbar. Rot-
weinglas setzt sich aus den Bedeutungen der Junge + –
Morpheme rot, Wein und Glas zusammen (s. Kap. Mädchen – –
II.2.2.4.2). Einzelne Gläsersorten stehen in einer Kind –
Hyponymie-Beziehung zu Glas im Sinne von
Mensch
Trinkbehälter. Und für die Hyponymiebeziehung
scheint es wesentlich zu sein, dass sich die Be-
deutungen einen Bedeutungsbestandteil teilen. Interessant ist, dass Typikalitätseffekte zu beob-
Dass dieser Bedeutungsbestandteil Morphemcha- achten sind, die die Merkmalssemantik in einem

106
3.5
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsbeziehungen
zwischen Sätzen

Zur Vertiefung

Merkmalssemantiken
Frühe Vertreter der Komponentenanalyse sind Roman Jacobson (russ. Literatur- und Sprachwissenschaftler)
und Louis Hjelmslev (dän. Sprachwissenschaftler). Später wurde die Idee im englischen Sprachraum zum Bei-
spiel durch Katz/Postal (1964) aufgenommen, deren Arbeiten u. a. die sog. generative Semantik begründet ha-
ben. In der Auffassung von Postal und Katz sind die Merkmale, die die Bedeutungen von Ausdrücken konstitu-
ieren, hierarchisch geordnet. Diese Strukturen heißen semantische Marker.
Die Thesen der strukturalistischen wie auch der generativen Semantik sind mit vielen Problemen konfrontiert
(vgl. z. B. Fanselow/Staudacher 1991). Kritisiert wurde die Methode durch den Philosophen David Lewis (1970),
weil sie nicht zum Ziel hat zu erklären, was Bedeutungen sind. Strenggenommen sind die Komponenten nur
Übersetzungen (Paraphrasen) der natürlich-sprachlichen Ausdrücke. Komponenten haben ihrerseits wieder Be-
deutung. Für die Zerlegungen gilt also dieselbe Problematik wie für Paraphrasen (Vertiefung zu Paraphrasen,
s. S. 82). Die Methode erlaubt aber, Ausdrücke zu inhaltlichen Gruppen zusammenzustellen. Unklar ist, was
die Menge der Merkmale, die als Inventar für Bedeutungsstrukturen gelten, beschränkt. Wierzbicka hat ein
System von insgesamt 55 Merkmalen vorgestellt (1996, S. 37 f., 73 f.). Das System heißt Natural Semantic Meta-
language. Diese Merkmale sind nicht weiter zerlegbar, sie sind in jeder Sprache lexikalisiert, und jede natür-
liche Sprache soll in diese Sprache übersetzbar sein. In Löbner (2003, S. 222 f.) findet sich eine kritische Darstel-
lung dieses Systems.
Jackendoff (1983) hat im Rahmen der konzeptuellen Semantik Bedingungen für Wohlgeformtheit von hierar-
chischen Zerlegungen von Simplizia-Bedeutungen vorgeschlagen.

System von distinktiven Merkmalen nicht erfas- legung eines Wortes nahelegt. Paradebeispiel ist (46)
sen kann. So gelten nicht alle Dinge, die wir als die Zerlegung von kein in eine Negation und den
Tassen bezeichnen würden, als typische Vertreter Determinierer ein. Wie der Satz in (47a) illustriert,
der Kategorie Tasse (Labov 1973). Gemäß empiri- setzt die Bedeutung die Zerlegung voraus (vgl.
schen Untersuchungen sind typische Tassen in Penka/Stechow 2001).
unserem Kulturkreis Kaffeetassen. Die Erfor-
schung dieses graduellen Aspektes von Kategori- (47) a Die Firma braucht keinen Angestellten zu entlassen.
enzugehörigkeit stand im Zentrum des Interesses b »Es ist nicht so, dass es notwendig ist, dass die Firma
der Prototypen-Semantik (z. B. Rosch/Mervis einen Angestellten entlässt.«
1975). Prototypen einer Kategorie sind in der Ex-
perimentalpsychologie z. B. Objekte, die diejeni-
gen Merkmale haben, die die meisten Exemplare
der Kategorie haben. Zur Illustration betrachte 3.5.2 | Bedeutungsbeziehungen
man die schematisierten Gesichter aus Smith/Me- zwischen Sätzen
din (1981) in (46).
Das Wissen um diese Merkmale erlaubt uns, Um die Beziehungen zwischen Bedeutungen von
weitere Kategorienzuordnungen vorzunehmen auf Sätzen zu charakterisieren, haben sich in der Fol-
der Basis von Ähnlichkeitsbeziehungen zum ge von logischen Untersuchungen die Begriffe
Prototypen. Handelt es sich bei dem Wissen, das Äquivalenz, Implikation (Folgerung) und Kon-
eine Kategorisierung erlaubt, um dieselbe Art Wis- tradiktion (Widerspruch) etabliert. Diese Begrif-
sen, die die Gebrauchsbedingungen der Ausdrücke fe beziehen sich auf die Äußerungsbedeutung
bestimmt, liegt es nahe, Typikalitätseffekte, die im von Sätzen.
Sprachsystem zu beobachten sind, auf ähnliche Äquivalenz: Wenn zwei Sätze immer denselben
Weise zu beschreiben. Die Sichtweise, dass lexika- Sachverhalt beschreiben, spricht man von einer
lisches Wissen und psychologische Repräsentatio- Äquivalenz. Für äquivalente Sätze ist charakteris-
nen von Kategorien (zumindest fast) identisch tisch, dass man sich keinen Sachverhalt vorstellen
sind, beeinflusste maßgeblich die kognitive Se- kann, den der eine Satz korrekt beschreibt, aber
mantik (Croft/Cruse 2004). der andere nicht. Die Ersetzung synonymer Aus-
Aber auch die formale Semantik befasst sich drücke in einem Satz führt zu einer Äquivalenz
mit Fragen der lexikalischen Zerlegung, nämlich zwischen dem Ausgangssatz und dem Resultat der
dann, wenn die Interpretation eines Satzes die Zer- Ersetzung wie in (48).

107
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

(48) a Fritz hat Streichhölzer gekauft. 3.5.3 | Kollokationen


b Fritz hat Zündhölzer gekauft.
Semantische Beziehungen zwischen Ausdrücken
Implikation: Hierarchische Beziehungen zwischen organisieren nicht nur das mentale Lexikon, es
Äußerungsbedeutungen von Sätzen (sog. Implika- sind auch Sinnrelationen zwischen Ausdrücken im
tionsbeziehungen) bedingen, dass jede Tatsache, Satz auszumachen.
die durch einen ersten Satz korrekt beschrieben Die Kombination von Ausdrücken kann Konven-
wird, auch durch den zweiten Satz korrekt be- tionalisierungen unterliegen. Wenn eine Wortfolge
schrieben wird. Der implizierte Satz ist weniger konventionalisiert ist, nennt man sie eine Kollo-
informativ als der implizierende Satz. Implikati- kation, aber nur wenn die Bedeutung der Wortfolge
onsbeziehungen können auf einer Ersetzung eines sich aus den Bestandteilen kompositional ergibt
Ausdrucks durch ein Hyperonym basieren. Satz (z. B. kräftige Farbe), also nicht idiomatisch ist. Als
(49b) ist allgemeiner, weniger informativ als (49a). Test kann man versuchen, einen Bestandteil der
Wortfolge durch einen in anderen Umgebungen sy-
(49) a Fritz hat eine Stute gekauft. nonymen Ausdruck zu ersetzen (im Beispiel kräftig
b Fritz hat ein Pferd gekauft. durch stark; vgl. synonymes kräftiger Mann/star-
ker Mann). Wenn diese Ersetzung nicht ohne Ein-
Kontradiktion liegt vor, wenn zwei Sätze gegen- schränkung möglich ist, dann handelt es sich um
sätzlichen Inhalt haben. Widersprüchliche Sätze eine Kollokation (z. B. *starke Farbe). Die be-
können nicht gleichzeitig ein und dieselbe Tatsa- schränkte Verteilung von Wörtern in bestimmten
che korrekt beschreiben. In (50) drückt die Nega- Sequenzen könnte allerdings auch darauf hinwei-
tion nicht dabei den Gegensatz aus. sen, dass wir es mit lexikalischen Mehrdeutigkei-
ten (Polysemien) zu tun haben. Kräftig kann in
(50) a Es donnert. Zusammenhang mit Farbe etwas anderes bedeuten
b Es donnert nicht. als in Zusammenhang mit Mann. Die Identifizie-
rung von Kollokationen kann also einerseits dazu
dienen, konventionalisierte Wortfolgen zu erken-
nen und aufzulisten, andererseits auch zur Desam-
biguierung von Mehrdeutigkeiten.

3.6 | Regeln der Sprachverwendung


Wenn die Verwendung von Sprache reibungslos akttypen gruppiert und die Bedingungen formu-
verläuft, wird nicht hinterfragt, was die Vorausset- liert, die erfüllt sein müssen, damit die verschiede-
zungen und Effekte für eine ideale Kommunikati- nen Handlungstypen erfolgreich realisiert werden
on sind. Aber wie entstehen Missverständnisse? können. Wegbereiter der Sprechakttheorie ist John
Wie kann es passieren, dass ein Hörer mehr ver- Austin (1962).
steht als vom Sprecher tatsächlich gesagt wird? Implikaturen: Voraussetzung dafür, dass keine
Was macht es aus, dass ein Versprechen nicht zu- Missverständnisse entstehen, ist die Annahme,
stande kommt oder eine Aufforderung ihr Ziel ver- dass Gesprächsteilnehmer kooperativ und ver-
fehlt? Wir betrachten hier die bestuntersuchten nünftig handeln, wenn sie sprachliche Äußerun-
Phänomene der Pragmatik, nämlich Sprechakte gen machen. Unter dieser Annahme erschließt der
und Implikaturen. Hörer unter Umständen zusätzliche Informatio-
Kommunikation Sprechakte: Sprachliche Handlungen sind die nen. Der Sprecher weiß das und verhindert nicht,
Grundeinheiten der Kommunikation. dass der Hörer diese Informationen erschließt. Die
Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen zusätzlichen Informationen sind mit Regeln für
die Gesprächsteilnehmer die Regeln kennen, die das rationale Handeln erschließbar. Es ist also
es ihnen erlauben, sprachliche Handlungen über- nicht primär sprachliches Wissen, das die Schlüs-
haupt zu tätigen. Sie müssen wissen, was die Vor- se erlaubt, sondern soziales Wissen. Der britische
aussetzungen und die Effekte einer Äußerung Philosoph Paul Grice (1975) hat für diesen Bedeu-
sind. John Searle (1969) hat Sprechakte zu Sprech- tungsaspekt von Sprache – das Mitgemeinte – den

108
3.6
Semantik und Pragmatik
Implikaturen

Begriff ›Implikatur‹ geprägt, mehrere Arten von Generalisierte Implikaturen sind unabhängig von
Mitgemeintem unterschieden und versucht, Re- Faktoren der Äußerungssituation. Jemand, der
geln zu formulieren, mit Hilfe derer man das Mit- (52a) sagt, meint üblicherweise auch (52b). Der
gemeinte herleiten kann (Meibauer 2001, S. 24–43; Bedeutungsbestandteil in (52b) ist aber nicht Teil
Geurts 2010). der Äußerungsbedeutung von (52a). (52b) ist auf-
hebbar/annullierbar und abtrennbar.

(52) a Einige von den Kühen sind verkauft worden. (=Äuße-


3.6.1 | Implikaturen rungsbedeutung)
b Nicht alle von den Kühen sind verkauft worden. (=Impli-
Eine Definition des Begriffs ›Implikatur‹ ist schwie- katur)
rig. Welche Kriterien Implikaturen erfüllen müs-
sen, ist nach wie vor umstritten. Üblicherweise Bei (52b) handelt es sich nicht um eine Folgerung
werden mindestens drei Kriterien genannt, die Im- (Implikation) von (52a). Wenn es sich zwischen
plikaturen von anderen Arten von Information wie den Sätzen um eine Folgerungsbeziehung handeln
Folgerungen (Implikationen) oder Präsuppositio- würde, dann müsste jeder Sachverhalt, der mit
nen unterscheiden (Gazdar 1979). dem einen Satz korrekt beschrieben ist, auch mit
dem anderen korrekt beschrieben werden (s. 3.5.2).
Definition Wir können mit (52a) allerdings einen Umstand
beschreiben, in dem alle relevanten Kühe verkauft
Unter einer   Implikatur versteht man eine worden sind. Wir würden nichts Falsches sagen.
Proposition, die mit der Äußerung eines Sat- Wir wären nur zu wenig informativ. Mit (52b) kön-
zes in einer Situation durch den Sprecher nen wir denselben Umstand, dass alle Kühe ver-
(mit-)gemeint ist. kauft worden sind, aber nicht beschreiben. Damit
N Die Implikatur ist aufhebbar oder annul- ist gezeigt, dass (52b) keine Folgerung von (52a)
lierbar. ist. Es handelt sich um eine Implikatur.
N Die Implikatur ist nicht-abtrennbar. Aufhebbarkeit und Annullierbarkeit: Eine An- Eigenschaften
N Die Implikatur ist berechenbar (rekon- nullierung liegt vor, wenn der Sprecher mitteilt, von Implikaturen
struierbar): Die Proposition kann vom dass er über die Falschheit der Implikatur infor-
jeweiligen Hörer der Äußerung erschlos- miert ist. Der Sprecher ist kompetent (vgl. Horn
sen werden, und der Sprecher verhindert 1972).
nicht, dass diese Proposition durch den
Hörer erschlossen wird. (53) Einige von den Kühen sind verkauft worden, ja sogar alle.

Eine Aufhebung liegt vor, wenn der Sprecher mit-


Partikularisierte Implikaturen treten auf, weil Fak- teilt, dass er sich nicht sicher ist, ob die Implikatur
toren der Äußerungssituation und Hintergrund- Gültigkeit hat oder nicht. In diesem Fall gesteht
wissen das Erschließen der Implikatur begünsti- der Sprecher seine Inkompetenz ein.
gen. Blendet man diese Faktoren aus, entsteht
auch keine Implikatur. Diese Kontext-Unterschiede (54) Einige von den Kühen sind verkauft, wenn nicht sogar alle.
nützen gerade Witze häufig aus. In (51) meint der
Vater seinen Satz metaphorisch. Die wörtliche In- Nicht-Abtrennbarkeit: Ob eine Implikatur entsteht
terpretation ist falsch. Die metaphorische Interpre- oder nicht, hängt unter Umständen nicht davon
tation ist die Implikatur, die Klein-Fritzchen aber ab, was der Wortlaut der Äußerung ist. Implikatu-
nicht erschließen kann, weil ihm Hintergrundwis- ren sind von der Äußerungsbedeutung nicht-ab-
sen fehlt. Klein-Fritzchen versteht nur die Äuße- trennbar. Unter der Annahme, dass die Quantoren
rungsbedeutung des Satzes. einige von den Kühen und mindestens zwei von
den Kühen synonym sind, beobachtet Geurts
(51) Fragt der Lehrer: »Wo kommt der Strom her?« Sagt Klein- (2010), dass Äußerungen, die sich nur bezüglich
Fritzchen: »Aus dem Urwald«. »Warum?« fragt der Lehrer. dieses Quantors unterscheiden, dieselbe Implika-
Sagt Klein-Fritzchen: »Mein Vater hat heute morgen gesagt: tur haben. Auf die Form des Ausdrucks kommt es
Die Affen haben den Strom wieder abgestellt!« bei der Implikatur also offensichtlich nicht an, nur
auf den Informationsgehalt des Satzes.

109
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

Definition
(55) a Einige von den Kühen sind verkauft.
b Mindestens zwei von den Kühen sind verkauft. Das   Kooperationsprinzip besagt: Gestalte
c Nicht alle von den Kühen sind verkauft. (=Implikatur von deinen Konversationsbeitrag so, wie es der
a und b) akzeptierte Zweck oder die akzeptierte Rich-
tung des Gesprächs gerade erfordert.
Es gibt Implikaturtypen, bei denen die Art und
Weise der Äußerung, also die Form des Ausdru-
ckes, entscheidend ist dafür, dass zusätzliche Be- besteht (vgl. Grice 1975). Der genaue Wortlaut der
deutung entsteht. Statt (56a) hätte man auch (56b) Maximen ist umstritten. Ein Kritikpunkt ist z. B.,
sagen können, die Paraphrase, die das DUDEN- dass die Grice’schen Maximen sich nicht gegensei-
Universalwörterbuch für den Ausdruck spielen lie- tig ausschließen.
fert. Dass (56b) nicht dasselbe bedeutet wie (56a),
ist der Implikatur geschuldet, die durch die Wahl Maxime der Quantität
des komplizierten Ausdrucks entsteht. N Gestalte deinen Redebeitrag so informativ wie
nötig.
(56) a Die Kinder spielen. N Gestalte deinen Redebeitrag nicht informativer
b Die Kinder betätigen sich zum Vergnügen, Zeitvertreib und als nötig.
allein aus Freude an der Sache selbst auf irgendeine Weise. Maxime der Qualität: Versuche nur Wahres zu sa-
gen.
Berechenbarkeit (Rekonstruierbarkeit): Nach dem N Sage nichts, was du für falsch hältst.
Kriterium der Berechenbarkeit müsste es für alle N Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe
Fälle von Implikaturen Muster und Regeln geben, fehlen.
Regeln die es erlauben, diese Implikaturen eindeutig her- Maxime der Relevanz (Relation): Sei relevant.
zuleiten. Die Idee ist, dass die Implikaturen immer Maxime der Modalität: Drücke dich verständlich
dann entstehen, wenn die Regeln einfach befolgt aus.
werden oder nur scheinbar oder offensichtlich ver- N Vermeide unklare Ausdrücke.
letzt sind. Die Implikaturen sind dann als Erklä- N Vermeide Mehrdeutigkeiten.
rungen für die Regelverletzungen zu verstehen. N Drücke dich kurz aus.
Dass man sich als Sprecher auf die grundsätzliche N Bringe deine Ausdrücke in der richtigen Reihen-
Berechenbarkeit der Implikaturen in vielen Fällen folge vor.
verlassen kann, geht sogar so weit, dass tatsächli- Auf der Basis von Kooperationsprinzip und Kon-
che Regelverletzungen nicht nur hingenommen versationsmaximen kann man den Implikaturen-
werden, sondern ausgenutzt werden. Das hat eine begriff präzisieren: Eine Implikatur ist eine Propo-
Ökonomisierung der Sprachverwendung zur sition, die in einer Äußerungssituation aufgrund
Folge. Man kann weniger sagen, als das, was man von Kooperationsprinzip und Konversationsmaxi-
meint. Man kann höflich bleiben und darauf zäh- men erschlossen werden kann.
len, dass das, was man meint, erschließbar ist. Die Die Konventionen, die das Kooperationsprinzip
Regeln für die Berechenbarkeit der Implikaturen und die Maximen festlegen, sind sozialer Natur.
ist Thema des nächsten Abschnittes. Man kann diese Normen befolgen, muss aber nicht.
In allen Fällen, in denen Implikaturen entstehen,
wird angenommen, dass das Kooperationsprinzip
3.6.1.1 | Kooperationsprinzip
gilt. Ist dieses grundlegende Prinzip verletzt, kommt
und Konversationsmaximen
es nicht zum Gespräch. Typische Fälle sind etwa
Paul Grice (1969) hat als erster versucht, Regeln zu Kommentare wie »No Comment« auf heikle Fragen
formulieren, mit deren Hilfe sich Implikaturen er- von Journalisten (expliziter Ausstieg aus dem Ge-
schließen lassen. Dass Implikaturen entstehen, ist spräch) oder Gespräche, bei denen der Gesprächs-
eine Folge davon, dass die Gesprächsteilnehmer teilnehmer nur scheinbar kooperiert. Eine solche
die Regeln befolgen, die die Konversation steuern. geheuchelte Kooperation ist eine Quelle für gestör-
Grundlegendes Prinzip als Teil dieser Regeln ist, te Kommunikation und kann auch absichtlich ein-
dass Sprecher und Hörer überhaupt kooperieren gesetzt werden, um Gesprächspartner irrezuführen,
wollen (Kooperationsprinzip). z. B. im Fall der Lüge. Eine Lüge ist nicht nur ein
Vier Konversationsmaximen erläutern, worin Verstoß gegen die Maxime der Qualität »Sag nichts
die Verhältnismäßigkeit der sprachlichen Mittel Falsches«. Sie ist auch ein Verstoß gegen das Koope-

110
3.6
Semantik und Pragmatik
Implikaturen

rationsprinzip. Die Lüge funktioniert, weil die Ge- Qualitätsimplikaturen: Die Maxime der Qualität
sprächspartner üblicherweise annehmen, dass sie erlaubt dem Hörer zu erschließen, dass der Sprecher
wechselseitig kooperativ sind. überzeugt von dem ist, was er sagt, oder zumindest,
dass er angemessene Gründe hat, es zu sagen. Aus
(59a) und der Qualitätsmaxime 1 folgt (59b).
3.6.1.2 | Typen von Implikaturen
Implikaturen können entstehen, weil die koopera- (59) a Zu Guttenberg ist zurückgetreten. (=Äußerungsbedeu- Qualität
tiven Gesprächsteilnehmer entweder tung)
N Maximenverletzungen grundsätzlich vermei- b Der Sprecher ist überzeugt davon, dass zu Guttenberg zu-
den wollen oder rückgetreten ist. (=Implikatur)
N verschiedene Maximenverletzungen gegenein-
ander abwägen oder Eine absichtliche Verletzung der Qualitätsmaxime
N Maximenverletzungen ausbeuten. hat unter Umständen eine ironische Interpretation
Nach den Maximen, deren Verletzung vermieden zur Folge. Wenn jemand etwas offensichtlich Fal-
oder ausgebeutet wurde, spricht man von Quanti- sches sagt, aber alle Gesprächsteilnehmer davon
tätsimplikaturen (mit der Unterart skalarer Impli- ausgehen, dass er ein kooperativer Gesprächsteil-
katuren), Qualitätsimplikaturen, Relevanzimplika- nehmer ist, dann verletzt er die Maxime der Qua-
turen und Modalitätsimplikaturen. lität und die Gesprächsteilnehmer suchen nach
Modalitätsimplikaturen: Weil sich kooperative Erklärungen dafür, was er gemeint hat. Mit dem
Gesprächsteilnehmer auf die Einhaltung der Maxi- entsprechenden Gesichtsausdruck kann (60) dazu
me der Modalität verlassen (»Bringe deine Aus- dienen, jemandem zu sagen, dass er eine hässliche
drücke in der richtigen Reihenfolge vor«), erschlie- neue Mütze hat.
ßen sie in (57a), dass das Sich-aufs-Bett-Setzen
dem Schuhe-Ausziehen folgt und nicht umgekehrt (60) Hübsche neue Mütze hast du.
(Levinson 1983/2000). Ziel der Äußerung kann
sein, Hans’ Handlungen zu schildern. Die Reihen- Hier sind wieder Faktoren der Äußerungssituation
folge der Beschreibung der Ereignisse ist ikonisch unerlässlich, damit die Implikatur zustande
zur Reihenfolge der Ereignisse (s. 3.3.1.1). Bei der kommt. Erkennt ein Hörer diese Faktoren nicht, er-
erschlossenen Zusatzinformation in Form der Im- schließt er die Implikatur nicht, und es kommt zum
plikatur in (57b) handelt es sich um eine sog. Mo- Missverständnis. Zu Fällen, in denen die Maxime
dalitätsimplikatur. der Qualität verletzt ist, kann man die Figuren Me-
tapher (impliziter Vergleich), Metonymie (systema-
(57) a Hans zog die Schuhe aus und setzte sich aufs Bett. tische Bedeutungsverschiebung), Hyperbel (Über-
(=Äußerungsbedeutung) treibung) und Litotes (Untertreibung) zählen.
b Hans zog erst die Schuhe aus und setzte sich dann aufs Relevanzimplikaturen treten in Gesprächssitua-
Bett. (= Implikatur) tionen häufig auf. Bei vielen Äußerungen muss
man sich als Hörer erst einmal Gedanken machen,
Eine andere Reihenfolge der Ereignisse wäre eine inwiefern sie relevant sein könnten. Die Berech-
Verletzung der Maxime der Modalität. Dass die nungsmuster für Relevanzimplikaturen sind viel-
zeitliche Ordnung der Ereignisse nicht generell zu fältig und schwierig zu erfassen. Der Erklärung der
der Ausdrucksbedeutung von und gehört, macht Relevanz entspricht die jeweilige Implikatur. Auch
Beispiel (58) klar. Hier ist kein Gesprächsziel aus- Witze wie (61a) bedienen sich des Effekts der Re-
zumachen, das die Abfolge der Rechnungen als levanzimplikatur. Wenn (61b) nicht erschlossen
relevant erscheinen ließe. wird, dann ist die Maxime der Relevanz verletzt –
und der Witz nicht lustig.
(58) 2 mal 2 ist 4, und die Wurzel von 4 ist 2.
(61) a Warum spielen Banker und Politiker so gerne Golf? Weil es Relevanz
Eine Verletzung der Modalitätsmaxime (»Drücke der einzige Sport ist, den man auch mit Handschellen aus-
dich kurz aus«) stellt das Beispiel in (56b) oben üben kann.
dar. Wenn die Kinder normal spielen würden, hät- b Politiker und Banker sind Verbrecher. (= Implikatur)
te man das mit einem Ausdruck allein gesagt. Der
komplizierte Ausdruck kann auf ein außergewöhn- Skalare Implikaturen sind Quantitätsimplikaturen,
liches Spielen verweisen. die ohne absichtliche Verletzung von Maximen

111
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

entstehen. Für sie ist typisch, dass eine weniger sind, wäre es eine Anmaßung zu behaupten, dass
informative Aussage anstelle einer informativeren alle Politiker korrupt sind. Man könnte aber getrost
ausgedrückt wird. Die Implikatur besteht üblicher- behaupten, es seien einige Politiker korrupt, wenn
weise darin, dass man mit der weniger informati- man weiß, dass die meisten Politiker korrupt sind.
ven Äußerung mitmeint, dass das Gegenteil der Man würde jedenfalls nichts Falsches behaupten.
informativeren Äußerung der Fall ist. Mit der Äu- Die Maxime der Quantität verpflichtet aller-
ßerung von (62a) ist (62b) mitgemeint. dings dazu, so informativ wie möglich zu sein.
Wenn tatsächlich die meisten Politiker korrupt
Quantität (62) a Die meisten Politiker sind korrupt. (=Äußerungsbedeu- sind, wäre es weniger informativ zu behaupten,
tung) dass einige Politiker korrupt sind, als zu behaup-
b Nicht alle Politiker sind korrupt. (= Implikatur) ten, dass die meisten Politiker korrupt sind. Die
informativste Äußerung, die nicht falsch oder un-
Bei skalaren Implikaturen ist ein Zusammenspiel begründet ist, ist dann diejenige, zu sagen, dass
von Maximen bei der Herleitung von Implikaturen die meisten Politiker korrupt sind. Eine kooperati-
zu beobachten. Die Maxime der Qualität verpflich- ve Sprecherin befolgt die Maximen und der Hörer
tet, nichts Falsches zu behaupten. Wenn man weiß, kann schließen, dass der Sprecher die informativs-
dass nicht alle Politiker korrupt sind, wäre es eine te Äußerung macht und dass alle informativeren
Lüge zu behaupten, dass alle Politiker korrupt sind. Äußerungen falsch sind (der Sprecher lügt nicht)
Wenn man nicht weiß, ob alle Politiker korrupt oder dass der Sprecher zumindest keine guten

Zur Vertiefung

Hornskalen
Die grundlegende Annahme bei skalaren Implikaturen ist, dass es eine festgelegte Menge von Ausdrucksalter-
nativen zur verwendeten Äußerungsbedeutung gibt. Diese Ausdrucksalternativen müssen geordnet werden
können, und die Bedeutung der tatsächlichen Äußerung kann auf diese Ordnung bezogen werden. Für unser
Beispiel sind die Sätze in (i) alternative Äußerungen. (ia-b) sind weniger informativ als (ic), von dem wir an-
nehmen, dass es geäußert wurde, und (id) wäre informativer, aber unter den gegeben Umständen falsch. Die
Beziehung zwischen den Satzbedeutungen auf der Basis dieser Ausdrücke ist eine Implikationsbeziehung.

(i) a Einige Politiker sind korrupt.


b Viele Politiker sind korrupt.
c Die meisten Politiker sind korrupt. (tatsächliche Äußerung)
d Alle Politiker sind korrupt.

Horn (1972) hat vorgeschlagen, den Begriff der alternativen Äußerung auf Skalen von Ausdrücken wie in (ii) zu-
rückzuführen, heute sog. Hornskalen. Die Beispiele in (i) unterscheiden sich nur bezüglich des Determinierers.

(ii) <einige, viele, die meisten, alle>

Eine Skalierung ist natürlich nicht nur für quantifizierende Determinier möglich, sondern auch für viele andere
Ausdrucksarten, wie Zahlwörter (a), Konjunktionen (b), Modalverben (c), Adjektive (d) etc. (vgl. Levinson
1983/2000).

(iii) a <eins, zwei, drei, ….>


b <oder, und>
c <können, müssen>
d <kühl, kalt>

Meistens erfolgt die Skalierung der Äußerungen bezüglich der Informativität der Äußerungen. Aber es kommen
auch andere Ordnungskriterien (wie Teil-Ganzes-Beziehungen, z. B. Rangordnungen im Militär) in Frage. Für
eine Diskussion der Berechnung von skalaren Implikaturen ist heute Geurts (2010) einschlägig.

112
3.6
Semantik und Pragmatik
Sprechakte

Gründe hat, diese informativeren Äußerungen zu c Ich wette, dass er einen Lastwagen auf vier Biergläser stel-
behaupten. Dass eine skalare Implikatur entsteht, len kann, ohne diese zu zerbrechen.
ist nicht in allen sprachlichen Umgebungen der d Da hast du mein Taschenmesser.
Fall. Wenn Sie ein Schild mit der Aufschrift in (63)
auf einem Jahrmarkt sehen, gehen Sie nicht davon
3.6.2.1 | Ausdrucksmittel für Sprechakte
aus, dass Sie keinen Preis bekommen, wenn Sie
alle Büchsen treffen. Performative Verben: Typisch für die Sätze in
(66a-c) ist, dass die vollzogene Handlung durch
(63) Wenn Sie die meisten Büchsen treffen, bekommen Sie ei- das verwendete Verb beschrieben wird. (66d) be-
nen Preis. zeichnet nur das Resultat des Besitzerwechsels,
nicht eine Schenkung. Aber auch mit dieser Äuße-
Implikatur und Präsupposition: Implikaturen un- rung wird eine Handlung vollzogen, nämlich eine
terscheiden sich von Präsuppositionen z. B. be- Schenkung. Äußerungen, mit denen Handlungen
züglich der Annullierbarkeit. Der Versuch der vollzogen werden, heißen allgemein performative
Annullierung löst bei Präsuppositionen einen Wi- Äußerungen (»vollziehende Äußerungen«). Ver-
derspruch aus. ben, die die Handlung bezeichnen, die man mit
ihnen vollzieht, nennt man performative Verben.
(64) Es hat aufgehört zu regnen. #Es hat nicht geregnet. Hiermit-Test: Ob ein Verb performativ verwen- Indikatoren
det wird, also als Mittel, um die Verwendungsart
Außerdem können Implikaturen bekräftigt wer- der Äußerung zu signalisieren, kann man mit dem
den. Die Bekräftigung erweckt bei Implikaturen »Hiermit«-Test überprüfen. Dieser Test besteht da-
nicht den Eindruck der Redundanz. Bei Präsuppo- rin, dass man den Matrixsatz mit dem Wort »hier-
sitionen ist eine Bekräftigung zwar möglich. Aber mit« ergänzt. In Satz (66a) und (66c) ist diese Er-
eine Textfolge von Satz und Präsupposition er- gänzung möglich. (66b) enthält die Partikel schon.
scheint redundant. In (66d) ist die Ergänzung durch hiermit nicht
möglich. Das zeigt, dass in (66a-c) performative
(65) a Einige Politiker sind korrupt, aber nicht alle. Verben zum Ausdruck der Sprechhandlung ver-
b Es hat aufgehört zu regnen. #Es hat geregnet. wendet werden, in (66d) aber nicht.
Typisch für ein performativ verwendetes Verb
ist, dass es im Indikativ Präsens steht und übli-
cherweise in der 1. Person. Ändert man Person
3.6.2 | Sprechakte oder Tempus eines performativ verwendeten Verbs
wie in (67ab) oder den Aspekt von perfektiv auf
Dass sprachliche Äußerungen Handlungen sind, imperfektiv wie in (67c) durch Einfügen von gera-
wird besonders klar an Beispielen wie (66). Durch de, ändert sich auch die Art der vollzogenen Hand-
die Äußerung von (66a) in einer geeigneten Situa- lung. Äußerungen der Sätze in (67) sind keine
tion findet ein Akt der Namensgebung statt. Nur Taufen oder Ernennungen, sondern einfach Fest-
durch diese Äußerung wird der Akt der Namens- stellungen. Feststellungen sind natürlich ihrerseits
gebung vollzogen. Hat das Stofftier schon einen sprachliche Handlungen, aber in den Feststellun-
Namen oder ist der Sprecher von (66a) nicht auto- gen in (67) drückt das Verb eben keine Feststel-
risiert, dem Tier einen Namen zu geben, dann lung aus. Die Verben in (67) sind nicht performativ
misslingt die sprachliche Handlung. Mit (66b) verwendet, weil sie nicht verwendet werden, um
wird dem Hörer eine Funktion zugewiesen. Mit den Sprechakt auszuführen, der bezeichnet wird.
(66c) geht der Sprecher eine Verpflichtung ein. Mit Für eine performative Äußerung ist es keine not-
(66d) ändern sich unter Umständen Besitzverhält- wendige Bedingung, dass sie explizit ein perfor-
nisse. Im weitesten Sinn kann jede Handlung, die matives Verb enthält.
in einer sprachlichen Äußerung besteht, einen
Sprechakt darstellen. Sprechakte sind die Grund- (67) a Torsten tauft dieses Stofftier auf den Namen »Schwein«.
einheiten der Kommunikation. b Ich ernannte den Institutsdirektor zum Vorsitzenden der
Kommission.
(66) a Ich taufe dieses Stofftier auf den Namen »Schwein«. c Ich ernenne Sie gerade zum Vorsitzenden der Kommission.
b Hiermit ernenne ich Sie zum Vorsitzenden der Kommission.

113
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

Satzmodus ist ein Überbegriff für Formmerkmale, Es gibt eine ganze Reihe von Verben, mit denen
die eine Satzart markieren können. Man unter- man Sprechakte bezeichnen kann. Aber nur mit
scheidet die Hauptsatzmodi: deklarativ (Aussage- einem Teil dieser Verben (in der richtigen Form)
satz), interrogativ (Fragesatz) und imperativ (Auf- kann man durch die Äußerung auch den Sprech-
forderungssatz). Welche Kombinationen von akt vollziehen, den das Verb bezeichnet.
Formmerkmalen für welchen Satzmodus typisch
sind, hat Altmann (1993) für das Deutsche umfas- Performativ verwendbar
send herausgearbeitet. Auch der Satzmodus kann äußern, sagen, feststellen, behaupten, schließen,
als Ausdrucksmittel für die Art der Verwendung fragen, befehlen, auffordern, bitten, raten, erklären,
einer Äußerung gewertet werden. taufen, ernennen, gratulieren, wetten, versprechen,
vermachen
Explizit und implizit performative Äußerungen:
Man nennt eine Äußerung explizit performativ, Nicht performativ verwendbar
wenn sie ein performatives Verb enthält, und sonst drohen, beleidigen, trösten
implizit performativ. (67) und (66d) sind implizit
performativ. Alle anderen bisher betrachteten Bei- Liste von Sprechakt bezeichnenden Verben
spiele sind explizit performativ.
Üblicherweise wird angenommen, dass sich im-
plizit performative Äußerungen mit Hilfe von ex- 3.6.2.2 | IIlokution und Proposition
plizit performativen Äußerungen paraphrasieren
lassen. Dass man mit einer Äußerung einen be- Performative Verben und Satzmodi drücken einen
stimmten Sprechakttyp vollzieht, kann man tat- bestimmten Aspekt von Bedeutung aus. Man
sächlich in vielen Fällen explizit wörtlich ausdrü- nennt diesen Bedeutungsaspekt illokutionäre
cken. Explizit performative Varianten von (67) Kraft, illokutionäre Rolle oder kurz nur Illokution
sind die folgenden. (von lat. loqui: sprechen und der Präposition in:
indem) und unterscheidet davon den Bedeutungs-
(68) a Ich stelle fest, dass Torsten dieses Stofftier auf den Namen aspekt der Proposition. Der Begriff der illokutio-
»Schwein« tauft. nären Kraft stammt von John Austin und leitet
b Ich stelle fest, dass ich den Institutsdirektor zum Vorsit- sich aus den Arbeiten von Gottlob Frege ab.
zenden der Kommission ernannte. Sätzen wie in (69), die sich nur im Satzmodus
c Ich stelle fest, dass ich Sie gerade zum Vorsitzenden der unterscheiden, ist ein Bedeutungsaspekt gemein-
Kommission ernenne. sam. Alle können in einer Äußerungssituation auf
denselben Sachverhalt Bezug nehmen, nämlich
Zur Vertiefung dass oder ob die Hörergruppe die Eigenschaft hat
oder haben wird, einen bestimmten Flügel zu zer-
Performativhypothese sägen.
Searle (1969, S. 19 f.) suggeriert, dass die Paraphrasierung einer implizit perfor-
mativen Äußerung mit einer expliziten immer möglich ist, und nennt diese Gene- (69) a Sie zersägen den Flügel.
ralisierung Prinzip der Ausdrückbarkeit. Dieses Prinzip motiviert die sog. Per- b Zersägen Sie den Flügel!
formativhypothese (vgl. Ross 1970). Die Performativhypothese beinhaltet, dass c Zersägen Sie den Flügel?
das Signal für den jeweiligen Sprechakttyp Teil der syntaktischen Struktur (und
damit eigentlich auch der Äußerungsbedeutung) ist, aber nicht unbedingt phone- Auf Sachverhalte nimmt man mittels Propositio-
tisch realisiert werden muss. Problematisch für diese Auffassung sind z. B. Dro- nen Bezug. Die Sätze unterscheiden sich also nicht
hungen wie in (i). Mit (ia) kann man drohen, aber nicht mit (ib). in ihrem propositionalen Gehalt (s. 3.3.2). Igno-
riert man den propositionalen Gehalt der Gesamt-
(i) a Ich werde Ihnen den Führerschein entziehen. bedeutung von Sprechakten, kann man für jeden
b Ich drohe Ihnen hiermit, dass ich Ihnen den Führerschein entziehen werde. Satz einen Bedeutungsbestandteil isolieren, näm-
lich denjenigen, der die Art der Verwendung der
Eine Drohung ist nur implizit möglich, obwohl es ein Verb gibt, das eine Dro- Sätze, also den Sprechakttyp, bestimmt. Diesen
hung bezeichnen kann. Es fehlt also in diesem Fall unabhängige Evidenz (durch Bedeutungsbestandteil nennt man ›Illokution‹.
Paraphrasierung) für das Vorhandensein des performativen Verbs (vgl. Grewen- Die Illokution, die z. B. durch den Satzmodus
dorf 1972). In diesen Fällen ist das Prinzip der Ausdrückbarkeit also falsch und ›imperativ‹ ausgedrückt wird, ergibt zusammen
die Performativhypothese nicht aufrechtzuerhalten. mit einem propositionalen Gehalt den Sprechakt
einer Aufforderung (vgl. 69b). Jemand, der

114
3.6
Semantik und Pragmatik
Sprechakte

Deutsch spricht, weiß dabei, dass man Aufforde- Definition


rungssätze nicht dazu verwenden kann, etwas zu
erzählen. Das zeigt, dass Wissen darüber, wie die Ein   Sprechakt ist eine Handlung, die durch Sprache vollzogen wird,
verschiedenen Sätze zu verwenden sind, konventi- und umfasst alle vier Aspekte einer Sprachhandlung: Lokution (dass
onalisiert ist. Umstritten ist bis heute, ob hier Sprache verwendet wird), Proposition (dass etwas ausgedrückt wird),
sprachliche Konventionen eine Rolle spielen (wie Illokution (dass etwas mit der Äußerung beabsichtigt ist) und Perloku-
bei der Ausdrucksbedeutung und der Äußerungs- tion (Effekt der Äußerung). In einigen Ansätzen wird der Terminus aber
bedeutung) oder soziale Konventionen (wie bei in eingeschränkter Bedeutung gleichbedeutend mit dem Begriff ›illo-
den Implikaturen). kutionärer Akt‹ verwendet und umfasst dann nur den illokutionären
Aspekt.
3.6.2.3 | Teilaspekte von Sprechakten
Mit Searle (1969) unterscheidet man üblicherwei-
se vier Aspekte jeder Sprechhandlung. Eine Drei- ständen sprachliche oder nicht-sprachliche Hand-
teilung, wie Austin sie noch vorgeschlagen hat, ist lungen, die vom Sprecher beabsichtigt oder Ne-
heute obsolet. Searle sagt in Anlehnung an Austin beneffekte der Äußerung sind.
(1962) statt ›Aspekt‹ allerdings ›Akt‹. Nach Searle
sind Bedeutungen mit Handlungen zu identifizie-
3.6.2.4 | Erfolgsbedingungen
ren (s. 3.2.4).
N Lokutionärer Aspekt: Jede Sprechhandlung Die Illokution kann mit Erfolgsbedingungen gleich-
besteht in der Produktion von Lauten, Buchstaben gesetzt werden, die für die intendierte Sprach-
oder Handzeichen. In der Regel handelt es sich um handlung typisch sind. Für Feststellungen z. B.
Sätze. Die Zeichen sind nach den Regeln des jewei- wird vorausgesetzt, dass der Sprecher über die In-
ligen Sprachsystems organisiert. Sie haben phono- formation verfügt, von der er behauptet, dass sie
logische, morphologische und syntaktische Eigen- zutrifft. Für erfolgreiches Fragen hingegen sollte
schaften und eine Realisierung in einem Medium. der Sprecher über die erfragte Information gerade
N Propositionaler Aspekt: Mit den meisten Äu- nicht verfügen, und für Befehle ist unabdingbar,
ßerungen bezieht man sich auf Sachverhalte oder dass der Hörer in der Position ist, den Befehl auch
charakterisiert Dinge. Man setzt Dinge in der Welt ausführen zu können. Im Einzelnen sind die Be-
in Beziehung zueinander. Für diesen Aspekt ist die dingungen schwierig zu formulieren.
Äußerungsbedeutung grundlegend. Grußformeln Beispiel Versprechen: Mit der Äußerung von
wie Hallo, Guten Tag oder Grüezi sind Beispiele für (70) kann man ein Versprechen abgeben.
Äußerungen ohne propositionalen Gehalt. Aber es
ist leicht, einen propositionalen Gehalt für diese (70) Ich putze dein Auto.
Äußerungen zu konstruieren.
N Illokutionärer Aspekt: Die Äußerungsbedeu- Typisch für Versprechen ist, dass der Satztyp die
tungen werden zu einem bestimmten Zweck ver- Formmerkmale von Aussagesätzen aufweisen
wendet. Indem wir sprechen, wird die Absicht kann. Formmerkmale müssen also einen Sprech-
klar, mit der wir sprechen. Wir nennen die Ver- akttyp nicht eindeutig markieren. Trotzdem kann
wendung einer Äußerungsbedeutung durch den ein Versprechen zustande kommen, wenn mindes-
Sprecher für eine Feststellung, eine Frage, einen tens vier Typen von Bedingungen für Sprecher
Befehl etc. den illokutionären Aspekt, der durch (S) und Hörer (H) erfüllt sind (vgl. Searle 1969,
ein performatives Verb oder den Satzmodus des S. 57 f./1971, S. 88 f.; bzw. Levinson 1983, S. 238).
geäußerten Satzes bestimmt werden kann. Man Diese Bedingungen charakterisieren den illoku-
nennt diese sprachlichen Mittel der Kodierung des tionären Aspekt (s. Kasten S. 116). Wissen Spre-
illokutionären Aspektes illokutionäre Indikato- cher und Hörer, dass diese Bedingungen gelten,
ren (s. 3.6.2.1). sind sie selbst vernünftig und kooperativ und han-
N Perlokutionärer Aspekt: Handlungen haben deln unter normalen Umständen (also z. B. nicht
Resultate. Diese Resultate können durch den Spre- in einem Theaterstück), dann kommt der Effekt Sprechakteffekte
cher intendiert sein oder nicht. Einerseits erkennt zustande, dass der Sprecher die Verpflichtung
der Hörer die Absicht des Sprechers, weil er die übernimmt, das Versprechen auch einzulösen. Da-
Äußerung und ihren illokutionären Aspekt ver- mit verlässt sich der Hörer darauf, dass die Vorher-
steht. Andererseits vollzieht der Hörer unter Um- sage eintrifft, dass der Sprecher das Versprechen

115
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

tes kann dann gewertet werden, dass der Hörer die


Versprechen Erfolgsbedingungen für Versprechen Information glaubt, die er vom Sprecher bekommt,
1. Inhaltsbedingung: S beschreibt mit der Äu- aufgrund dessen, was gesagt wurde.
ßerung ein Ereignis zu einem Zeitpunkt in der Lüge und Anmaßung: Eine Feststellung ist eine
Zukunft. Dieses zukünftige Ereignis beinhaltet Lüge oder Anmaßung, wenn die Aufrichtigkeitsbe-
eine Handlung, die S selbst vollzieht. dingung nicht erfüllt ist. Eine Lüge ist es dann,
2. Vorbereitende Bedingungen wenn der Sprecher überzeugt ist, dass die Proposi-
N S glaubt, dass er in der Lage dazu ist, die tion in der Äußerungssituation falsch ist, und eine
Handlung auszuführen. Anmaßung, wenn der Sprecher keine Ahnung hat,
N H zieht die Handlung durch S der Unterlas- ob die Proposition die Äußerungssituation richtig
sung der Handlung durch S vor, und S glaubt beschreibt oder nicht.
das. Redundanz und Widerspruch: Ist der Hörer über
N Die Ausführung der Handlung durch S steht den Sachverhalt informiert, den die Proposition
für S und H nicht so oder so (ohne das Ver- ausdrückt, dann ist die Feststellung redundant. Ist
sprechen) fest. der Hörer darüber informiert, dass die Proposition
3. Aufrichtigkeitsbedingung: S beabsichtigt, in der Äußerungssituation falsch ist, kommt es
die Handlung in der Zukunft tatsächlich auszu- zum Widerspruch. In beiden Fällen ist die vorbe-
führen. reitende Bedingung nicht erfüllt.
4. Wesentliche Bedingung: S beabsichtigt mit Missverständnisse können entstehen, weil der
der Äußerung, sich zu der Handlung zu ver- lokutionäre Aspekt der Sprechhandlung nicht rich-
pflichten. tig verstanden wurde. Dabei kann ein Irrtum be-
züglich des produzierten Lautstroms oder der mor-
phosyntaktischen Analyse des Gehörten seitens
einhält. Löst der Sprecher sein Versprechen ein, des Hörers vorliegen.
dann ist der Sprechakt des Versprechens geglückt.
Die Effekte des Sprechaktes werden unter dem Be-
3.6.2.5 | Klassifikation von Illokutionen
griff des perlokutionären Aspektes erfasst.
Beispiel Feststellung: Mit dem Satz Ich putze dein Die Idee, dass es möglich ist, eine Typologie von
Auto kann man aber auch einfach eine Feststel- Illokutionen aufgrund von notwendigen und hin-
lung machen. In einer Situation, in welcher der reichenden Erfolgsbedingungen zu formulieren,
Satz am Telefon als Antwort auf die Frage, Was geht auf John Searle (1969) zurück. Searle unter-
machst du gerade?, geäußert wird, ist der Satz na- scheidet fünf Typen von Illokutionen mittels dreier
türlich. Kriterien:
Wieder gilt, dass Hörer und Sprecher wissen, N Zweck des Sprechaktes (illokutionärer Witz)
dass diese Bedingungen gelten, und dass sie sich N Verhältnis von Ausdruck und Welt (Ausrich-
nicht irrational verhalten. Als Effekt des Sprechak- tung)
N Zum Ausdruck gebrachte, innere Haltung des
Sprechers (psychischer Zustand)
Feststellung Erfolgsbedingungen für Feststellungen
1. Inhaltsbedingung: keine (S beschreibt et- Typen von Sprechakten:
was) N Assertive Sprechakte: (a) Der Sprecher infor-
2. Vorbereitende Bedingungen: H weiß noch miert über Sachverhalte in der Welt. Sein Ausdruck
nicht, dass die Proposition, die der Satz aus- richtet sich (b) nach der Welt und er verbürgt sich
drückt, in der Äußerungssituation wahr ist. (c) für die Wahrheit der Proposition in der Äuße-
3. Aufrichtigkeitsbedingung: S ist überzeugt, rungssituation. Er ist bereit, seine Position zu be-
dass die Proposition, die der Satz ausdrückt, in gründen und Evidenz für deren Wahrheit beizu-
der Äußerungssituation wahr ist. bringen. Er glaubt an die Information (Standardfälle:
4. Wesentliche Bedingung: S verbürgt sich für behaupten, schließen etc.).
die Wahrheit der Proposition in der Äußerungs- N Direktive Sprechakte: Der Sprecher versucht,
situation. Er ist bereit seine Position zu begrün- (a) den Hörer auf die Ausführung einer zukünfti-
den und Evidenz für die Wahrheit seiner Aus- gen Handlung zu verpflichten. Der Hörer sollte
sage beizubringen. sich (b) nach den Worten des Sprechers richten.
Dass der Hörer die Handlung ausführt, entspricht

116
3.6
Semantik und Pragmatik
Sprechakte

(c) einem Wunsch des Sprechers (Standardfälle: tun soll, nämlich seinen Fuß von meinem Fuß he-
befehlen, bitten, fragen etc.). runternehmen.
N Kommissive Sprechakte: Der Sprecher ver- Dass man ich putze dein Auto als Versprechen
pflichtet sich (a) auf die Ausführung einer zukünf- deuten kann oder du stehst auf meinem Fuß als
tigen Handlung. Er richtet sich nach seinen Wor- Aufforderung, muss durch den Hörer erschlossen
ten (b) und er bekundet die Absicht, die Handlung werden. Muss die tatsächliche Verwendungsart ei-
auszuführen (Standardfälle: versprechen, drohen ner Äußerung erschlossen werden, dann liegt ein
etc.). indirekter Sprechakt vor.
N Expressive Sprechakte: Der Sprecher drückt Wie kann es sein, dass man zu einem ausge-
(a) ein Gefühl aus und verwendet dabei soziale drückten Sprechakt zusätzlich einen indirekten
Verhaltensregeln. Das Verhältnis von Welt und Sprechakt vollzieht? Searles wesentliche Einsicht
Ausdruck ist dabei (b) nicht gerichtet. Der Aus- ist, dass indirekte Sprechakte aus demselben Grund
druck besteht (c) nur darin, den Gefühlszustand zustande kommen wie Implikaturen allgemein. Es
mitzuteilen (Standardfälle: danken, entschuldigen, sind Bedeutungsbestandteile, die erschlossen wer-
grüßen etc.). den, um den Redebeitrag des Sprechers relevant
N Deklarative Sprechakte: Der Sprecher bewirkt erscheinen zu lassen unter der Voraussetzung, dass
(a) unmittelbar durch seine Äußerung eine Ände- die Gesprächsteilnehmer kooperativ sind.
rung innerhalb einer Institution. Die Äußerungssi- Searle demonstriert seinen Lösungsvorschlag
tuation (Welt) ändert sich durch die Äußerung. am Beispiel von indirekten Direktiven. Bei direk-
Aber erst die institutionellen Gegebenheiten er- ten Direktiven charakterisieren die folgenden Er-
möglichen diese Änderungen. Damit ist eine Aus- folgsbedingungen die Illokution:
richtung (b) in beide Richtungen von der Welt
zum Ausdruck und umgekehrt festzustellen. Die
Sprachhandlung ist durch die Verantwortung des Erfolgsbedingungen für Direktive
Sprechers motiviert (Standardfälle: taufen, kündi- 1. Inhaltsbedingung: S beschreibt mit der Äu-
gen, den Krieg erklären etc.). ßerung ein Ereignis zu einem Zeitpunkt in der
Zukunft. Dieses zukünftige Ereignis beinhaltet
eine Handlung, die H vollzieht.
3.6.2.6 | Indirekte Sprechakte
2. Vorbereitende Bedingungen: S glaubt, dass
Das, was ein Sprecher sagt (Äußerungsbedeutung) H in der Lage dazu ist, die Handlung auszufüh-
und was er damit meint (kommunikativer Sinn), ren.
kann unter Umständen auseinandergeraten. Mit 3. Aufrichtigkeitsbedingung: S möchte, dass
der Äußerung von Ich putze dein Auto kann man, H die Handlung ausführt.
wie wir gesehen haben, ein Versprechen geben, 4. Wesentliche Bedingung: Die Äußerung ist
obwohl der Deklarativmodus einen Aussagesatz, ein Versuch von S, H dazuzubringen, die Hand-
also eine Assertion, signalisiert. Wir könnten das lung durchzuführen.
Versprechen auch mit einem explizit performativen
Verb ausdrücken: Ich verspreche dir, dein Auto zu
putzen. Allerdings ist auch diese Variante im Dekla- Bei indirekten Direktiven wird häufig eine dieser Erfolgsbedingungen
rativmodus, der eine Feststellung signalisiert. Mit Erfolgsbedingungen thematisiert. In (71a) wird
Äußerungen eines bestimmten Sprechakttyps kann eine vorbereitende Bedingung des Direktivs er-
man also zusätzlich zum ausgedrückten Sprechakt fragt. In (71b) wird die Aufrichtigkeitsbedingung
einen formal nicht ausgedrückten Sprechakt voll- festgestellt und in (71c) wird die Inhaltsbedin-
ziehen. Die tatsächlich vollzogene Illokution und gung behauptet.
die durch Sprache ausgedrückte Illokution können
differieren. Nicht nur die tatsächlich vollzogene (71) a Kannst du mein Auto putzen?
Illokution kann mit der Äußerungssituation variie- b Ich möchte, dass du das Auto putzt.
ren. Es kann auch sein, dass der Sprecher inten- c Du putzt jetzt mein Auto.
diert, einen anderen propositionalen Gehalt zu
kommunizieren als den, den er ausdrückt. Wenn Die Herleitung des indirekten Sprechaktes auf der
ich jemandem mitteile, dass er auf meinem Fuß Basis einer Sprechhandlung, die eine vorbereiten-
steht, dann beschreibe ich nicht nur die Situation, de Bedingung thematisiert, folgt Plausibilitäts-
sondern ich fordere ihn auch auf, dass er etwas überlegungen (vgl. Searle 1975, S. 73–74). Diese

117
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

setzen wie üblich bei Implikaturen das Koopera- eine scheinbare Verletzung einer Konversations-
tionsprinzip voraus und die Erklärungen für die maxime), und man braucht ein Muster für
scheinbare Nicht-Kooperation liefert die Maxime Sprechakte, das einem erlaubt zu erschließen,
der Relevanz. Allerdings sind die Schlussmecha- welcher indirekte Sprechakt gemeint ist.
nismen schwieriger zu fassen als im Fall der skala- Die Erscheinungsformen von indirekten Sprech-
ren Implikaturen. Das ist so, weil wir es nicht, wie akten sind allerdings außerordentlich vielfältig,
in der Implikaturentheorie üblich, mit Propositio- und nicht immer ist erkennbar, wo die Anspielung
nen, sondern mit Sprechakten zu tun haben. des direkten Sprechaktes im Rahmen der Sprech-
Für (71a) ist Ausgangspunkt, dass der Sprecher akttheorie zu lokalisieren ist. Searle nennt selber
die Ja-Nein-Frage Kannst du mein Auto putzen? ge- Ausnahmen. Zum Beispiel werden oft Gründe für
äußert hat. Deren Beantwortung mit Ja ist üblicher- die Handlung genannt. In der geeigneten Äuße-
weise trivial. Die beste Erklärung dafür, dass der rungssituation wird auch in den Beispielen in (72)
Sprecher eine Frage stellt, über deren Antwort kein der Sprechakt abgeleitet, dass das Auto durch den
Zweifel besteht, ist, dass er nicht die Frage stellen, Hörer zu putzen ist.
sondern einen anderen Sprechakt vollziehen woll-
te. Die Sprechakttheorie erkennt die Ja-Antwort als (72) a Das Auto ist dreckig.
eine vorbereitende Bedingung für einen direktiven b Ich bin durch den Wald gefahren.
Sprechakt. Damit wird für den Hörer klar, dass die
Frage beinhaltet, ob eine vorbereitende Bedingung Theoretisch gibt es unendlich viele Varianten, je-
für einen direktiven Sprechakt gegeben ist. Der manden um etwas zu bitten. Erklärungen, warum
Sprecher hat auf die Direktive angespielt und legt die intendierten Sprechakte zustande kommen,
die Auslegung der Frage als Bitte nahe. können von der Implikaturentheorie abgedeckt
Um einen indirekten Sprechakt herzuleiten, werden. Aber wie genau die Herleitung vor sich
braucht es also einen Auslöser für die Ansicht, dass geht, ist weiter Gegenstand der Forschung.
der direkte Sprechakt nicht der gemeinte ist (also

Literatur
Altmann, Hans (1993): »Satzmodus«. In: Handbuch der Dölling, Johannes (2000): »Formale Analyse von
Syntax. Hg. von Joachim Jacobs, Arnim von Stechow, Metonymie und Metapher«. In: Regine Eckardt/Klaus
Wolfgang Sternefeld und Theo Vennemann. Berlin, von Heusinger (Hg.): Meaning Change – Meaning
S. 1006–1029. Variation. Arbeitspapiere des Fachbereichs Sprachwis-
Austin, John Langshaw (1962): How to Do Things With senschaft 106, Universität Konstanz, S. 31–54.
Words. Cambridge, Mass. 1962, 22005 (dt. Zur Theorie Duden (2007): Deutsches Universalwörterbuch. 6., überarb.
der Sprechakte. Stuttgart 1972). und erw. Aufl. Mannheim/Leipzig u. a.
Barsalou, Lawrence W. (1993): »Flexibility, Structure and Elbourne, Paul (2011): Meaning: A Slim Guide to Semantics.
Linguistic Vagary in Concepts. Manifestations of a Oxford.
Compositional System of Perceptual Symbols«. In: Alan Fanselow, Gisbert/Staudacher, Peter (1991): »Wortseman-
F. Collins u. a. (Hg.): Theories of Memory. Hillsdale, tik«. In: Wunderlich/Stechow 1991, S. 53–70.
S. 29–101. Frege, Gottlob (1898/2007): »Über Sinn und Bedeutung«
– (2010): »Grounded Cognition: Past, Present, and Future«. (Nachdruck). In: Ders.: Funktion – Begriff – Bedeutung.
In: Topics in Cognitive Science 2, S. 716–724. Hg. von Mark Textor. Göttingen.
Bierwisch, Manfred (1979): »Wörtliche Bedeutung – eine Gazdar, Gerald (1979): Pragmatics: Implicature, Presupposi-
pragmatische Gretchenfrage«. In: Günther Grewendorf tion and Logical Form. New York.
(Hg.): Sprechakttheorie und Semantik. Frankfurt a. M. Geach, Peter T. (1962): Reference and Generality. Ithaka, NY.
– (1983): »Semantische und konzeptuelle Repräsentation Geurts, Bart (2010): Quantity Implicature. Cambridge.
lexikalischer Einheiten«. In: Untersuchungen zur Grewendorf, Günther (1972): »Sprache ohne Kontext. Zur
Semantik. Hg. von Rudolf Růžićka und Wolfgang Kritik der performativen Analyse«. In: Dieter Wunderlich
Motsch. Berlin, S. 61–99. (Hg.): Linguistische Pragmatik. Frankfurt a. M., S. 144–181.
Blutner, Reinhard (1994): »Prototypen und Kognitive Grice, H. Paul (1957/1993): »Meaning«. In: The Philosophi-
Semantik«. In: Gisela Harras (Hg.): Die Ordnung der cal Review 66, S. 377–388 (dt. »Intendieren, Meinen,
Wörter – Jahrbuch des IDS 1993. Berlin, S. 227–270. Bedeuten«. In: Meggle 1993, S. 2–15).
Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion – (1969/1993): »Utterer’s Meaning and Intention«. In: The
der Sprache. Jena. Philosophical Review 78, S. 147–177 (dt. »Sprecher-
Carnap, Rudolf (1947): Meaning and Necessity: A Study in Bedeutung und Intention«. In: Meggle 1993, S. 16–51).
Semantics and Modal Logic. Chicago. – (1975/1993): »Logic and Conversation«. In: Peter Cole/
Croft, William/Cruse, D. Allan (2004): Cognitive Linguistics. Jerry L. Morgan (Hg.): Speech Acts (=Syntax and
Cambridge. Semantics 3). New York 1975, S. 41–58 (dt. »Logik und
Konversation«. In: Meggle 1993, S. 243–265).

118
3.6
Semantik und Pragmatik
Literatur

Haas-Spohn, Ulrike (1995): Versteckte Indexikalität und Formal Philosophy: Selected Papers of Richard
subjektive Bedeutung. Berlin. Montague. New Haven, S. 247–270.
Heim, Irene/Kratzer, Angelika (1998): Semantics in Morris, Charles (1938): Foundations of the Theory of Signs.
Generative Grammar. Malden, Mass. Chicago.
Horn, Lawrence R. (1972): On the Semantic Properties of Musan, Renate (2010): Informationsstruktur. Heidelberg.
Logical Operators in English. Ph.D-Diss. UCLA. Peirce, Charles Sanders (1903/1983): Phänomen und Logik
– (1989): A Natural History of Negation. Chicago. der Zeichen. Frankfurt a. M.
Jackendoff, Ray (1983): Semantics and Cognition. Harvard. Penka, Doris/Stechow, Arnim von (2001): »Negative
Jacobs, Joachim (1988): Fokus und Skalen. Tübingen. Indefinita unter Modalverben«. In: Reimar Müller/
Kamp, Hans/Reyle, Uwe (1989): From Discourse to Logic. Marga Reis (Hg.): Modalität und Modalverben im
Dordrecht. Deutschen. Hamburg, S. 263–286.
Katz, Jerrold J. (1972) Semantic Theory. New York. Pinkal, Manfred (1985): Logik und Lexikon. Semantik des
– /Postal, Paul M. (1964): An Integrated Theory of Linguistic Unbestimmten. Berlin.
Descriptions. Cambridge, Mass. Putnam, Hilary (1975): Mind, Language and Reality
Keefe, Rosanna (2000): Theories of Vagueness. Cambridge. (Philosophical Papers, Bd. 2). Cambridge.
Krifka, Manfred (2006): »Basic Notations of Information Rooth, Mats (1992): »A Theory of Focus Interpretation«. In:
Structure«. In: Caroline Féry/Gisbert Fanselow/Ders.: Natural Language Semantics 1/1, S. 75–116.
The Notions of Information Structure. Interdisciplinary Rosch, Eleanor/Mervis, Carolyn. B. (1975): »Family
Studies on Information Structure (ISIS) 6. Potsdam, Resemblances: Studies in the Internal Structure of
S. 13 –56. Categories«. In: Cognitive Psychology 7, S. 573–605.
– (2011): »Varieties of Semantic Evidence«. In: Claudia Ross, John R. (1970): »On Declarative Sentences«. In:
Maienborn/Klaus von Heusinger/Paul Portner (Hg.): Readings in English Transformational Grammar. Hg. von
Semantics (=HSK 33/1). Berlin, S. 242 –268. Roderick A. Jacobs und Peter S. Rosenbaum. Waltham,
Kripke, Saul (1980): Naming und Necessity. Cambridge (dt. Mass., S. 222–272.
Name und Notwendigkeit. Frankfurt a. M. 1993). Sadock, Jerrold M./Zwicky, Arnold M. (1975): »Ambiguity
Labov, William (1973): »The Boundaries of Words and their Tests and How to Fail Them«. In: John P. Kimball (Hg.):
Meanings«. In: Charles-James N. Bailey/Roger W. Shuy Syntax and Semantics. Bd. 4. New York, S. 1–36.
(Hg.): New Ways of Analysing Variation in English. Saussure, Ferdinand de (32001): Grundfragen der
Washington. allgemeinen Sprachwissenschaft [1931]. Berlin/New York
Lakoff, George/Johnson, Mark (1980): Metaphors We Live (franz. Cours de linguistique générale. Redigé par
By. Chicago (dt. Leben in Metaphern. Konstruktion und Charles Bally et Albert Séchehaye. Paris/Lausanne 1916;
Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 42004). 2
1922).
Langacker, Ronald W. (1987): Foundations of Cognitive Searle, John (1969): Speech Acts. Cambridge (dt. Sprech-
Grammar. Bd. 1. Theoretical Prerequisites. Stanford. akte. Frankfurt a. M. 1971).
Levinson, Stephen C. (1983): Pragmatics. Cambridge (dt. – (1975): »Indirect Speech Acts«. In: Peter Cole/Jerry L.
Pragmatik. Tübingen 2000). Morgan (Hg.): Speech Acts (=Syntax and Semantics 3).
Lewis, David (1970): »General Semantics«. In: Synthese 22, New York, S. 59–82 (auch in: Pragmatics: A Reader. Hg.
S. 18–67. von Steven Davis. Oxford 1991, S. 265–277).
– (1979): »Scorekeeping in a Language Game«. In: Journal Smith, Edward E./Medin, Douglas L. (1981): Categories and
of Philosophical Logic 8/1, S. 339–359. Concepts. Cambridge, Mass.
Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann, Paul R. Stalnaker, Robert C. (1978): »Assertion«. In: Peter Cole
(52004): Studienbuch Linguistik. Tübingen. (Hg.): Syntax and Semantics 9: Pragmatics. New York,
Löbner, Sebastian (2003): Semantik. Eine Einführung. S. 315–32.
Berlin u. a. Tversky, Amos (1977): »Features of Similarity«. In: Psycholo-
Lohnstein, Horst (22011): Formale Semantik und natürliche gical Review 84/4, S. 327–352.
Sprache. Berlin/New York. Wierzbicka, Anna (1996): Semantics. Primes and Universals.
Lyons, John (1980): Semantik. Band I und II. München. Oxford/New York.
May, Robert (1977): The Grammar of Quantification. Wunderlich, Dieter (1991): »Bedeutung und Gebrauch«. In:
Ph.D-Diss. MIT. Ders./Stechow 1991, S. 32–52.
Meggle Georg (Hg.) (1993): Handlung, Kommunikation, – /Stechow, Arnim von (1991): Semantik. Ein Internationa-
Bedeutung. Frankfurt a. M. les Handbuch der zeitgenössischen Forschung (= HSK 6).
Meibauer, Jörg (22001): Pragmatik. Eine Einführung. Berlin/New York,
Tübingen. Zimmermann, Thomas E. (1991): »Kontextabhängigkeit«.
– u. a. (22007): Einführung in die germanistische Linguistik. In: Wunderlich/Stechow 1991, S. 125–229.
Stuttgart/Weimar.
Montague, Richard (1974): »On the Proper Treatment of
Quantification«. In: Richmond H. Thomason (Hg.):
Cécile Meier

119
4.1
Sprachgeschichte

4 Sprachgeschichte
4.1 Einleitung
4.2 Sprachwandel und seine Ursachen
4.3 Herkunft und Periodisierung des Deutschen
4.4 Phonologischer Wandel
4.5 Morphologischer und lexikalischer Wandel
4.6 Syntaktischer Wandel
4.7 Semantischer Wandel

4.1 | Einleitung
Sprachgeschichte ist der Gegenstand der histori- istique générale den linguistischen Strukturalismus
schen Sprachwissenschaft. Die zentrale Aufgabe begründete und damit das Primat der histori-
der historischen Sprachwissenschaft besteht darin schen Sprachwissenschaft beendete). Die histori-
zu klären, wie und warum sich Sprachen ändern. sche Sprachwissenschaft kann sich mit einer be-
Die Aufgabe besteht somit aus: stimmten Sprachstufe einer Sprache beschäftigen
N einem empirisch-deskriptiven Teil (die Ant- oder aber verschiedene aufeinanderfolgende mit-
wort auf die Frage nach dem wie) einander vergleichen. Im ersten Fall untersucht
N einem explanativen Teil (die Antwort auf die man den synchronen Zustand eines sprachlichen
Frage nach dem warum) Systems zu einem beliebigen Zeitpunkt, der (auch)
Die erste Teilaufgabe sollte sich nicht nur auf Be- in der Vergangenheit liegen kann (synchrone
schreibungen beschränken, denn zur Rekonstruk- Sprachwissenschaft befasst sich also nicht not-
tion von Entwicklungsverläufen gehören auch wendigerweise mit der heutigen Sprache). Häufig
Systematisierungen und Generalisierungen. Ge- geht die historische Sprachwissenschaft aber dia-
neralisierungen sind aber noch keine Erklärungen, chron vor, d. h. sie vergleicht zeitlich unterschied-
auch wenn sie interessante Aufschlüsse über die liche Systemzustände miteinander, um festzustel-
manchmal erstaunliche Gleichartigkeit von Ent- len, was sich in einer Sprache verändert hat und
wicklungsverläufen in unterschiedlichen gramma- was unverändert geblieben ist.
tischen Teilsystemen beisteuern. Damit wird fest- Bereits ab dem Anfang des 19. Jh.s versuchten
gestellt, dass es so ist – nicht aber erklärt, warum Linguisten wie Franz Bopp, Jacob Grimm oder
es so ist. Antworten auf die warum-Frage sind wie Rasmus Rask, die Geschichte und die verwandt-
in allen Wissenschaften theorieabhängig und in schaftlichen Beziehungen der indogermanischen
manchen Theorien sehr abstrakt (s. 4.2.1). Sprachen zu rekonstruieren (s. 4.3) und entwickel-
Synchronie vs. Diachronie: Diese wichtige ter- ten dabei erstmals systematisch theoretische und
minologische und methodologische Unterschei- methodische Standards, die eine wissenschaftliche
dung wurde von Ferdinand de Saussure eingeführt Beschäftigung mit dem Phänomen Sprache erlaub-
(dessen posthum publiziertes Werk Cours de lingu- ten. Die historisch-vergleichende Sprachwissen-

Zur Vertiefung

Kontinuität und Wandel


Interessante Aspekte der historischen Linguistik ergeben sich aus generelleren Fragen nach Kontinuität und
Wandel in der Sprache. Betrachtet man die (in einem engeren Sinne) sprachlichen Ebenen, so stellt man fest,
dass sie unterschiedlich anfällig für Wandel sind: Auf der Lautebene findet mehr Wandel statt als in der Mor-
phologie, die sich wiederum häufiger als die Syntax verändert – was Longobardi (2001) veranlasst hat, für die
Syntax ein Trägheitsprinzip (principle of inertness) zu postulieren. Semantischer Wandel beschränkt sich wohl
weitgehend auf Wortbedeutungen (bzw. die Bedeutung von Redewendungen), spielt aber bei Grammatikalisie-
rung in Form semantischer Ausbleichung eine wichtige Rolle.

121
4.2
Sprachgeschichte
Sprachwandel
und seine Ursachen

schaft war fast im gesamten 19. Jh. die fortschritt- deren gebildet wurde. Nach ihrer Vorstellung gab
lichste linguistische Disziplin. Einen Höhepunkt es nur zwei Arten von regelmäßigem Sprachwan-
ihrer Entwicklung stellt die Schule der Junggram- del, nämlich lautgesetzlichen und analogischen
matiker dar, die von Forschern wie Karl Brug- (s. 4.4.1.2 und 4.5.3).
mann, Hermann Osthoff, Hermann Paul und an-

4.2 | Sprachwandel und seine Ursachen


4.2.1 | Wer ändert Sprachen: Erwachsene, Grammatik erwirbt (Lightfoot 2006; Kroch 2001;
Jugendliche, Kinder? Roberts 2007 u. v. a.).
Die beiden Annahmen widersprechen sich
Es ist eine grundlegende Eigenschaft natürlicher nicht grundsätzlich, insbesondere setzt die zwei-
Sprachen, dass sie sich ständig ändern. Solange sie te eigentlich voraus, dass Änderungen auch in
leben, d. h. solange sie im natürlichen Erstsprach- der Erwachsenensprache auftreten, die dann be-
erwerb erworben und in der alltäglichen Kommu- wirken, dass Kinder eine (minimal) andere Gram-
nikation benutzt werden, verändern sie sich. Nur matik erwerben als ihre Eltern. Allerdings sind
tote Sprachen (wie die klassische Schulsprache dabei zwei wichtige Differenzierungen zu ma-
Latein) verändern sich nicht mehr. chen zwischen:
Auslöser für Sprachwandel: In der historischen N Sprach- und Grammatikwandel
Linguistik gibt es, vereinfacht gesagt, zwei unter- N Entstehung und Ausbreitung von Varianten
schiedliche Auffassungen darüber, wer Sprach- Sprachwandel in einem weiteren Sinne erfasst
Wer ändert wandel auslöst: Erwachsene oder Kinder. Einer- Veränderungen auf allen sprachlichen Ebenen,
Sprache? seits wird angenommen, dass Sprachwandel in d. h. auch phonologischen und lexikalischen Wan-
der Erwachsenensprache auftritt, hervorgerufen del. Rein quantitativ bilden diese beiden das Gros
durch mehr oder minder bewusste sprachliche In- an Variation und damit an möglichen Veränderun-
novationen oder unbewusst durch Unsichtbare- gen. Es bestreitet niemand, dass beispielsweise
Hand-Prozesse (vgl. Keller 1990). Die Grundüber- Wortschatzwandel hauptsächlich in der Erwach-
zeugung geht auf den Soziolinguisten William senensprache vorkommt. Die Aufnahme und
Labov zurück: Sprache ist kein homogenes Gebil- Verbreitung von Fremdwörtern hat nichts mit
de, sondern gekennzeichnet durch die Existenz Spracherwerb zu tun, sondern ist eine Sache er-
von Variation, die unter anderem sozial bedingt wachsener Sprecher (wozu selbstverständlich
ist, d. h. soziale Schichten unterscheiden sich auch auch Jugendliche gehören). Es sind Veränderun-
sprachlich. Sprachwandel entsteht dadurch, dass gen dieser Art, die am augenfälligsten sind und
sich einige Varianten z. B. aus Prestigegründen daher meistens ins Bewusstsein der Sprecher drin-
durchsetzen und zur allgemeinen Norm werden, gen. Einer öffentlichen Wahrnehmung weniger
während andere verschwinden. zugänglich sind bereits Ausspracheveränderun-
Auf der anderen Seite findet sich die Auffas- gen sowie vor allem der Grammatikwandel, also
sung, dass v. a. Grammatikwandel im Wesentli- Veränderungen im Bereich von Flexionsformen
chen Resultat kindlichen Spracherwerbs sei. Der und syntaktischen Regeln.
Zusammenhang von Spracherwerb und Sprach- Grammatikwandel ist den Sprechern in der
wandel wurde zum ersten Male explizit von Her- Regel nicht bewusst: Die Herausbildung der bei-
mann Paul formuliert: »Es liegt auf der Hand, dass den charakteristischsten Eigenschaften der deut-
die Vorgänge bei der Spracherlernung von aller- schen Syntax, der Verbzweitstellung und der
höchster Wichtigkeit für die Erklärung der Verän- asymmetrischen Verbstellung im Althochdeut-
derung des Sprachusus sind, dass sie die wichtigs- schen (s. 4.6.1.1), ist sicher nicht Resultat einer
te Ursache für diese Veränderungen abgeben« mehr oder minder bewusst vorgenommenen Aus-
(Paul 1909, S. 34). In neuerer Zeit gehört diese Vor- wahl aus einer Menge von Varianten – ebenso we-
stellung zu den Grundannahmen der generativen nig wie darin eine Entwicklung hin zu größerer
Linguistik: Sprachwandel wird dadurch initiiert, Verarbeitungsökonomie gesehen werden kann.
dass jede neue Generation von Sprachlernern eine
von der Elterngeneration minimal abweichende

122
4.2
Sprachgeschichte
Externe Ursachen

4.2.2 | Interne Ursachen gularform (z. B. durch Hinzufügung eines Mor-


phems) gebildet wird – und nicht umgekehrt.
Sprachwandel wird häufig durch interne Ursachen Gibt es nun in einer Sprache mit dem Dual (Zwei- Abbau von
ausgelöst, die im Sprachsystem selbst begründet zahl) noch einen dritten Wert für Numerus, wäre Markiertheit
sind. Veränderungen in einem Teilbereich des dieser im Vergleich zum Plural der markierte Wert
Sprachsystems sind bedingt durch Veränderungen und der Plural der unmarkierte – dieser bliebe
in einem anderen Teilbereich des Sprachsystems: aber im Vergleich zum Singular weiterhin mar-
So können Veränderungen der Morphologie (z. B. kiert. Sprachwandel führt nun häufig zu einem
der Flexion) durch phonologische Veränderungen Abbau von Markiertheit: So war im Althochdeut-
ausgelöst werden. schen bei den Personalpronomen der 3. Pers.
mask. die Dativform im Singular mit imo/u zwei-
silbig, im Plural mit im (bzw. in) dagegen nur
Beispiel: Abschwächung althochdeutscher
einsilbig. Diese der natürlichen Markiertheit wi-
Vokale zu //
dersprechenden Verhältnisse haben sich im Laufe
Im Neuhochdeutschen (Nhd.) kann die Plural-
des Mittelhochdeutschen umgekehrt, und heute
form Tage für Nominativ, Akkusativ und Geni-
lauten die Formen ihm und ihnen, womit die Plu-
tiv stehen, während im Althochdeutschen mit
ralform morphologisch aufwendiger ist als die
taga für Nominativ/Akkusativ und tago für
Singularform.
Genitiv noch zwei unterschiedliche Kasusfor-
Die Verringerung von Markiertheit in einem
men existierten. Die Abschwächung von /a/
Bereich ist nicht selten verbunden mit einer Er-
und /o/ zu // war rein phonologisch bedingt
höhung in einem anderen Bereich: So erhöhen
(s. 4.4.3.2), doch hatte diese Entwicklung inso-
phonologische Veränderungen häufig die mor-
fern Auswirkungen auf die Morphologie, als
phologische Irregularität und machen Flexions-
sich die Anzahl der morphologisch distinkten
paradigmen dadurch weniger transparent. Der
Kasusflexionen reduzierte – ob damit eine Ver-
sog. grammatische Wechsel, der aufgrund des
änderung im System der Kasus einherging, ist
Verner’schen Gesetzes (s. 4.4.1.2) entstand und
jedoch eine andere Frage (s. 4.5.1.1).
sich in unterschiedlichen Stammformen einiger
Verben bis heute gehalten hat (z. B. schneid vs.
Sprachwandel muss allerdings nicht immer durch schnitt, zieh vs. zog), ist ein Beispiel dafür. Solche
Veränderungen auf einer anderen sprachlichen Irregularitäten können jedoch durch analogischen
Ebene ausgelöst werden. So scheinen die erste Ausgleich wieder abgebaut werden (s. 4.5.3.1).
und zweite Lautverschiebung (s. 4.4.1.2, 4.4.3.1)
durch keine vorangehende Veränderung motiviert
worden zu sein. Für solche quasi-naturgesetzli-
chen Lautveränderungen wurde daher der Begriff 4.2.3 | Externe Ursachen
Lautgesetz eingeführt (s. Vertiefungskasten in
4.4.1.2). Sprachkontakt ist ein häufiger Auslöser von
Markiertheit: Häufig kann Wandel v. a. auf der Sprachwandel. Damit eine Sprache A Einfluss auf
phonologischen und morphologischen Ebene eine Sprache B nehmen kann, muss in einer Spre-
auch als eine Veränderung in Richtung geringerer chergemeinschaft irgendeine Form von Zweispra-
Markiertheit hin beschrieben werden, wie dies in chigkeit vorherrschen, d. h. der Kontakt zweier
der sog. Markiertheitstheorie (bzw. Natürlich- Sprachen muss in den Köpfen der Sprecher statt-
keitstheorie) als genereller Auslöser postuliert finden. In früherer Zeit entstanden solche Konstel-
wird. Der Begriff ›markiert‹ meint, dass bei gram- lationen häufig durch Eroberungen, so dass zwei
matischen Merkmalen wie Person, Numerus, Ka- Sprachgemeinschaften in eine räumliche Koexis-
sus, Tempus usw. immer ein Wert unmarkiert ist, tenz gerieten. Die Sprache der politisch dominan-
d. h. ›normal‹/unauffällig, häufiger vorkommend ten Schicht wird als Superstrat bezeichnet, die der
usw., (der) andere Wert(e) dagegen markiert, dominierten als Substrat. Je nach Beeinflussungs-
d. h. ›speziell‹/auffällig, seltener, aufwendiger, richtung spricht man dann von Substrat- oder Su-
usw. Bei Numerus z. B. gilt der Singular als un- perstrateinfluss.
markiert und der Plural als markiert. In den Spra- Bilingualismus (die Beherrschung zweier Spra-
chen findet dies dadurch seinen Ausdruck, dass chen) ist die Voraussetzung dafür, dass sich Spra-
die Pluralform in der Regel auf der Basis der Sin- chen gegenseitig beeinflussen können bzw. eine

123
4.3
Sprachgeschichte
Herkunft und
Periodisierung des
Deutschen

Zur Vertiefung

Das Eisbergprinzip
Die menschliche Sprache ist ein komplexes, hoch strukturiertes Gebilde, und die für die Sprachwissenschaft re-
levanten Aspekte sind meistens abstrakter Natur, d. h. Strukturen und Merkmale. Wie wir bereits kennengelernt
haben, lassen sich komplexe sprachliche Ausdrücke formal als Phrasenstrukturen darstellen und sprachliche
Basiseinheiten wie Phoneme oder Morpheme über ihre Merkmale definieren. Sprache ähnelt in gewisser Weise
einem Eisberg, bei dem sich nur ein Achtel über Wasser, sieben Achtel dagegen unter Wasser befinden: Auch
die Sprache verfügt über einen subaquatischen Bestandteil und es ist dieser, der für die Linguistik, auch die his-
torische, die größte Relevanz besitzt. Diese Einsicht folgt einer Grundüberzeugung, die im Bereich der Syntax
vor allem der generativen Tradition geschuldet ist (exemplarisch vgl. Chomsky 1995; Uriagereka 2002), sie bil-
det aber in der modernen Phonologie bereits seit Trubetzkoy die Basis für die Definition des Phonems als Bün-
del distinktiver Merkmale (s. Kap. II.2.1.3.1).
Das Eisbergprinzip sollte insbesondere aus zwei Gründen auch in der historischen Linguistik beachtet werden:
Es erlaubt angemessenere Beschreibungen und Erklärungen von Sprachwandel und die Bestimmung dessen,
was interessante Phänomene sind. Im Kontrast dazu ist in Deutschland immer noch weit die Ansicht verbreitet,
dass Sprachgeschichte »nur im Zusammenhang mit außersprachlichen Phänomenen« (Schmidt 2007, S. 1) be-
schrieben und erfasst werden könne (etwa kultur- und sozialgeschichtliche Entwicklungen). Daneben existieren
auch noch rein verwendungsbasierte (usage based) Erklärungsansätze, sie erfreuen sich zurzeit großer Beliebt-
heit (Nübling u. a. 2006).

Mehrsprachigkeit Sprache die andere. Das Ausmaß der sprachlichen Diglossie ist eine etwas abgeschwächte Form
und Sprachwandel Kompetenz ist normalerweise unterschiedlich für von Bilingualismus. Diglossie liegt vor, wenn
beide Sprachen: Eine Sprache ist gewöhnlich die zwei Varietäten derselben Sprache funktional und
Muttersprache und die andere eine später und medial unterschiedliche Nischen besetzen. So
vielleicht nur unvollkommen erlernte Zweitspra- war es früher üblich (und ist es heute in der
che, wobei diese dann für die folgende Kinderge- Deutschschweiz noch so), dass für die mündlich-
neration auch zur ersterworbenen Muttersprache informelle Alltagskommunikation Dialekte be-
werden kann. Damit ist eine ideale Voraussetzung nutzt wurden, während in formellen Kommunika-
für Sprachwandel gegeben, denn der sprachliche tionssituationen die (meist auch nur geschriebene)
Input für die Lernergeneration ist eine von der El- Standardsprache Verwendung fand. Auch hier
terngeneration nur unvollkommen beherrschte kommt es zu gegenseitigen Beeinflussungen, in-
Zweitsprache. In solch intensiven Sprachkontakt- dem z. B. dialektale Konstruktionen wie der pos-
konstellationen können selbst zentrale Bereiche sessive Dativ (dem Vater sein Haus) Eingang in
der Grammatik beeinflusst werden. Man vermutet den (gesprochenen) Standard finden können,
z. B., dass sich das Englische unter skandinavi- während der Einfluss des Standards bewirkt, dass
schem Einfluss von einer Sprache mit der Abfolge im Dialekt bestimmte Merkmale abgebaut wer-
Objekt > Verb zu einer mit der umgekehrten Ab- den, z. B. die Mehrfachnegation.
folge Verb > Objekt entwickelt hat (Trips 2001).

4.3 | Herkunft und Periodisierung des Deutschen


4.3.1 | Herkunft und Verwandtschaft Dialektverband als eine einheitliche Sprache war).
Die geographische Verteilung reichte ursprünglich
Indogermanisch: Das Deutsche gehört als germa- von Indien bis Europa. Als Bezeichnungen, die auf
nische Sprache zur indogermanischen Sprachfami- diese regionale Verbreitung Bezug nehmen, sind
lie. Darunter versteht man eine sehr große Gruppe Indogermanisch und heute vor allem Indoeuropä-
miteinander verwandter Sprachen, die alle auf isch üblich. Die folgende Übersicht zeigt die ein-
eine gemeinsame Vorläufersprache zurückgehen, zelnen Zweige dieser Sprachfamilie:
das Ur- oder Protoindogermanische (was eher ein

124
4.3
Sprachgeschichte
Herkunft und
Verwandtschaft

Keltisch
Italisch/Romanisch Burgundisch
Hethitisch Ostgermanisch Gotisch
Illyrisch Wandalisch Neuisländ.
Griechisch Altisländisch Färöisch
Germanisch Nordgermanisch Altnordisch Altnorwegisch Norwegisch
Lykisch Altschwedisch Schwedisch
Urindogermanisch Lydisch Altdänisch Dänisch
(Protoindoeuropäisch) Phrygisch Altfriesisch Neufriesisch
Tocharisch Altenglisch Mittelenglisch Neuenglisch
Baltisch Westgermanisch Altsächsisch Mittelniederdt. Neuniederdt.
Slawisch Flämisch
Albanisch Altniederfränkisch Mittelniederländ. Niederländisch
Thrakisch Afrikaans
Pelasgisch Althochdeutsch Mittelhochdeutsch Neuhochdt.
Armenisch
Iranisch
Indisch Abbildung 1:
Indoeuropäische
Sprachfamilie

Im Lexikon zeigen sich signifikante Gemeinsam- usw., die auf einen gemeinsamen Ursprung schlie-
keiten z. B. bei Bezeichnungen für Haustiere, Stoff- ßen lassen (s. Beispiel unten).
und Verwandtschaftsbezeichnungen, Zahlwörter Phonologie: Eine Besonderheit des Indogerma-
nischen sind die sog. Laryngale, eine Klasse von
Zur Vertiefung später geschwundenen Konsonanten, deren Exis-
tenz erstmals von Saussure 1879 postuliert wurde,
Anfänge der Indogermanistik was 1917 durch die Entzifferung des Hethitischen
Die Verwandtschaft so verschiedener Sprachen nachträglich empirisch gestützt werden konnte.
wie Sanskrit (die klassische Sprache der altindi- Lautschriftlich werden sie als h1, h2, h3 notiert. Die
schen Kultur), Latein, Griechisch und anderer ist Laryngale, bei denen es sich phonetisch wohl um
seit dem Ende des 18. und dann vor allem seit dorsale Reibelaute handelt (Speyer 2007, S. 35),
dem 19. Jh. Gegenstand der sich entwickelnden sind geschwunden, bevor die schriftliche Überlie-
historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. ferung einsetzte. Da sie in der Regel aber ihre laut-
Sanskrit geriet im 18. Jh. in den Fokus des Inter- liche Umgebung beeinflusst haben, kann man re-
esses europäischer Gelehrter wie William Jones, konstruieren, wo welcher Laryngal vorgekommen
der als erster auf die Verwandtschaft mit den sein muss. Beispielsweise haben Laryngale, die
klassischen Sprachen Griechisch und Latein auf- postvokalisch standen, häufig eine Längung des
merksam machte. Das 19. Jh. war dann das Jahr- vorausgehenden Vokals bewirkt.
hundert der historisch-vergleichenden Sprachwis-
senschaft, die sich zunächst als Indogermanistik
entwickelte. Franz Bopp veröffentlichte 1816 Beispiel: Zahlwort ›3‹
seine bahnbrechende Untersuchung Über das Indogermanische Sprachen:
Konjugationssystem der Sanskritsprache in Ver- Deutsch: drei – Englisch: three – Gotisch: þreis –
gleichung mit jenem der griechischen, lateini- Lateinisch: trƝs – Griechisch: treƭs – Russisch:
schen, persischen und germanischen Sprache, mit tri – Litauisch: trýs – Altindisch: tráyas
der erstmals wissenschaftlich exakt die grundle- Nicht-Indogermanische Sprachen:
genden Übereinstimmungen im Bereich der ver- Baskisch: hiru – Ungarisch: három – Finnisch:
balen Flexion nachgewiesen wurden. kolme – Türkisch: üç – Georgisch: sami-i

125
4.3
Sprachgeschichte
Herkunft und
Periodisierung des
Deutschen

Morphologie: Neben dem Ablaut ist die dreitei- schläge. Eine weitverbreitete Einteilung unter-
lige Struktur komplexer Wörter charakteristisch: scheidet für die Zeit der Spätantike drei Gruppen:
Komplexe Wörter bestehen aus einer Wurzel, die 1. Ostgermanisch: Gotisch, Burgundisch und
zusammen mit einem Stammbildungssuffix den Wandalisch bildeten den heute ausgestorbenen
Stamm bildet, an den dann das Flexionselement Zweig. Während Burgundisch und Wandalisch
antritt (s. 4.5.3.2). Flexivisch war das Indogerma- schon in der Spätantike untergingen, hat Gotisch
nische wesentlich reichhaltiger als viele der mo- in der Form des Krimgotischen wohl bis in die frü-
dernen Abkömmlinge. So verfügte es über acht he Neuzeit (17./18. Jh.) überlebt. Gotisch ist dieje-
Kasus: Neben Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusa- nige ostgerm. Sprache, für die größere Textzeug-
tiv und Vokativ gab es noch Lokativ (für Ortsanga- nisse überliefert sind. Die Bibelübersetzung des
ben), Ablativ (für Herkunftsangaben) und Instru- westgotischen Bischofs Wulfila aus dem 4. Jh. ist
mental (für die Angabe des Grundes bzw. des der früheste germanische Text (außerhalb der
Instruments, mit dem eine Handlung ausgeführt Runenüberlieferung). Aufgrund dieser Überliefe-
wird) (vgl. Speyer 2007, S. 68). rungslage war Gotisch für die Rekonstruktion des
Die germanischen Sprachen bilden einen Zweig Protogermanischen äußerst wichtig.
des Indogermanischen, der sich lautlich durch die 2. Nordgermanisch: Altnordisch war die Vor-
Das Germanische erste oder germanische Lautverschiebung heraus läufersprache der heutigen skandinavischen Spra-
löste (s. 4.4.1.2). Unmittelbar vor der Zeitenwende chen, sie wurde ursprünglich in Dänemark, Süd-
siedelten die Germanen in den Tiefebenengebieten schweden und Südnorwegen gesprochen. Aus ihr
im heutigen Norddeutschland und Polen sowie in haben sich einerseits die inselskandinavischen
Südskandinavien, von wo aus sie sich während Sprachen Isländisch und Färöisch sowie die fest-
der Völkerwanderung nach Südosten, Süden und landskandinavischen Sprachen Norwegisch, Schwe-
Westen ausbreiteten. Die ältesten Textzeugnisse disch und Dänisch entwickelt. Die festlandskandi-
für das Germanische sind durch Runeninschriften navischen Sprachen sind auf dialektaler Ebene
überliefert. Die früheste Runenschrift (das ältere gegenseitig in einem solchen Ausmaß verständlich,
Futhark) entstand im 1. Jh. unserer Zeitrechnung, dass sie ein gemeinsames Dialektkontinuum bil-
die ältesten erhaltenen Denkmäler stammen aus den. Syntaktisch und morphologisch haben sie
der Zeit um 200 n. Chr. Welche Sprache sie wieder- sich (zusammen mit Englisch und Afrikaans) am
geben, ist nicht ganz einfach zu bestimmen. Ver- weitesten vom Protogermanischen entfernt. So ha-
mutlich handelt es sich um ein noch nicht in Ein- ben die Verben jede Personen- und Numerusmar-
zelsprachen ausdifferenziertes Germanisch, auch kierung verloren. Eine syntaktische Besonderheit
wenn es das Proto- oder Gemeingermanische des Festlandskandinavischen ist der definite Arti-
selbst nicht mehr repräsentiert. Heute wird die kel, der wie ein Suffix an das Nomen angehängt
Sprache der meisten ältesten Inschriften als Nord- wird (z. B. hus-et ›das Haus‹). Das Isländische da-
westgermanisch bezeichnet (Düwel 2008). gegen ist die konservativste germanische Sprache,
Abbildung 2: Für die Einteilung der germanischen Einzel- zumindest was die Morphologie betrifft.
Älteres Futhark sprachen gibt es in der Forschung mehrere Vor- 3. Westgermanisch: Die dritte Gruppe germani-
scher Sprachen umfasst heute im Wesentlichen die
Sprachen Englisch, Niederländisch, Friesisch,
Deutsch und Afrikaans. Die kontinentalwestgerm.
Sprachen Niederländisch, Friesisch und Deutsch
(wobei bei Deutsch weiter zwischen Hoch- und
Niederdeutsch zu unterscheiden ist) bilden ein
Dialektkontinuum, das sich syntaktisch unter an-
derem durch die generelle V2-Beschränkung
(s. 4.6.1.1) vom Englischen unterscheidet. Eine
morphosyntaktische Besonderheit sind flektierte
Konjunktionen: In manchen Dialekten kongruiert
also nicht nur das finite Verb mit dem Subjekt, son-
dern auch die Konjunktion. Dieses Phänomen tritt
besonders häufig in der 2. Sg. auf (wennste meinst),
aber nicht nur dort (Weiß 2005b). Afrikaans ist ein
Abkömmling des Niederländischen, das sich in

126
4.3
Sprachgeschichte
Periodisierung
und Binnengliederung

Südafrika bei den dort seit dem 17. Jh. siedelnden wird, hat es nicht immer gegeben. Am Anfang, zur
Buren entwickelt hat. Eine syntaktische Besonder- Zeit des Althochdeutschen, standen verschiedene
heit des Afrikaans zeigt sich in der Negation (Bibe- Stammesdialekte, die über die politische Einheit
rauer 2009), weil es die Negationspartikel nie erst allmählich zu einer Sprachgemeinschaft wur-
doppelt setzt (vgl. 1a) – was sich innerhalb der Ger- den. Zwar gab es bereits in ahd. Zeit den lat. Be-
mania sonst nur noch im Mocheno, einem in Nord- griff theodiscus ›deutsch‹ sowie um 1000 davon Althochdeutsch
italien gesprochenen bairischen Sprachinseldialekt, herkommend ahd. diutisk, doch war damit zu-
nachweisen lässt (Weiß 1998), vgl. (1b): nächst nur die Bedeutung ›volkssprachlich, nicht-
lateinisch‹ verbunden, erst später entwickelte sich
(1) a Jan eet nie kaas nie die heutige Bedeutung. Die Stammesdialekte, die
Jan isst nicht Käse nicht auf dem Sprachgebiet des heutigen Deutschen zu
›Jan isst keinen Käse‹ ahd. Zeit gesprochen wurden, lassen sich je nach-
b i han de lang neamar (net) tsehen net dem, wie stark sie von der zweiten Lautverschie-
›Ich habe dich lang nimmer (nicht) gesehen nicht‹ bung (s. 4.4.3.1) betroffen waren, in ober-, mittel-
und niederdeutsche einteilen. Nicht betroffen von
Gemeinsamkeiten: Die drei Gruppen germani- der Lautverschiebung waren Altsächsisch und
scher Sprachen weisen auch untereinander unter- Niederfränkisch.
schiedliche Gemeinsamkeiten auf. Die Gemein- Aus dem Altsächsischen haben sich die meisten
samkeiten zwischen Nord- und Ostgermanisch der heutigen niederdt. Dialekte (z. B. West-, Ost-
erklärt man damit, dass beide Gruppen nach Ab- fälisch, Niedersächsisch, Brandenburgisch) ent-
spaltung des Westgermanischen noch eine Einheit wickelt, ein kleinerer Teil geht auf das Nieder-
bildeten, während die Übereinstimmungen des fränkische zurück. Mit dem Begriff Altsächsisch
Westgermanischen mit Nord- oder Ostgermanisch bezeichnet man die Periode bis zum Anfang des
auf späteren Sprachkontakt zurückgeführt werden. 12. Jh.s, danach spricht man von Mittelnieder-
Eine gotonordische Gemeinsamkeit ist der Erhalt deutsch. An größeren as. Denkmälern sind v. a.
der ursprünglichen Flexionsendung der 2. Pers. Sg. der Heliand sowie die as. Genesis überliefert, letz-
Prät. -t der starken Verben: vgl. anord., got. namt tere allerdings nur sehr bruchstückhaft.
›du nahmst‹ im Unterschied zu ahd. nami, deren Das Fränkische weist schon zu ahd. Zeit eine
i-Endung eine westgerm. Neuerung darstellt. Diese beträchtliche Diversifikation auf und hat an allen
i-Endung ist ein wichtiges Argument dafür, dass drei Dialektgruppen Anteil. Niederfränkisch war
das Westgermanische tatsächlich einmal eine ein- nicht von der Lautverschiebung betroffen, es be-
heitliche Sprachgruppe bildete. Ebenso exklusiv ginnt nördlich der sog. Ürdinger Linie (s. 4.4.3.1)
westgermanisch ist die Konsonantengemination und bildet in der Hauptsache die Grundlage der
vor j (as. settan, ahd. sezzen vs. got. satjan, anord. Entwicklung des Niederländischen (weswegen
setja). Mit dem Altnordischen teilt das Westgerma- Altniederfränkisch und Altniederländisch manch-
nische z. B. die Entwicklung von germ. ē >ā mal synonym verwendet werden). Das Mittelfrän-
(anord. láta, as. lâtan, ahd. lâzzan vs. got. lêtan). kische, das sich ab dem Mittelhochdeutschen in
Übereinstimmungen mit dem Gotischen betreffen Ripuarisch und Moselfränkisch gliedert, hat die
dagegen nur Teile des Westgermanischen: So ist Lautverschiebung nur teilweise mitgemacht (s. die
etwa im Gotischen und im Hochdeutschen das n Ausführungen zum Rheinischen Fächer in 4.4.3.1).
vor stimmlosen Frikativen wie /s/ erhalten geblie- Das Rheinfränkische gehört ebenfalls zu den mit-
ben, so dass die entsprechende Form des Prono- teldt. Dialekten, das Süd- sowie das Ostfränkische
mens der 1. Pers. Pl. im Dat./Akk. got.-ahd. uns dagegen zu den oberdt. Ostmitteldt. Dialekte sind
lautet, aengl.-as. jedoch ûs. zu ahd. Zeit übrigens noch nicht greifbar, da sie
entweder wie das Thüringische nicht überliefert
oder wie auch die ostniederdt. Dialekte das Ergeb-
nis der später einsetzenden Ostkolonisation sind.
4.3.2 | Periodisierung und Binnen- Alemannisch und Bairisch sind weitere ober-
gliederung deutsche Dialekte, die bereits im Ahd. existierten,
auch wenn sie sich noch nicht so deutlich unter-
1. Althochdeutsch (Ahd.) (ca. 600–1050 n. Chr.): schieden, wie das heute der Fall ist. In beiden Dia-
Ein einheitliches Deutsch, wie es heute weitge- lekten ist die ahd. Lautverschiebung am stärksten
hend in Hamburg wie in München gesprochen durchgeführt. Charakteristisch ist insbesondere

127
4.3
Sprachgeschichte
Herkunft und
Periodisierung des
Deutschen

die Affrikate kch, die heute z. B. noch im Schwei- zungsphase um 1250, vermutlich aus dem Nieder-
zerdeutschen vorkommt: Dort wird Zucker als ländischen, überliefert v. a. im zwischen 1455–75
[QP3HU’] ausgesprochen. entstandenen Heidelberger Codex Palatinus ger-
Überlieferung: Das ahd. Textkorpus ist insge- manicus 147 (= P), der aus drei Teilen besteht,
samt nicht sehr umfangreich, die meisten Texte wovon nur der erste Teil (P I) auf die erste Überset-
sind Übersetzungen aus dem Lateinischen und re- zungsphase zurückgeht; P II und III sind deutlich
ligiöse Texte – was nicht verwundert, da sie über- jünger). Auch Sachtexte wie Konrads von Megen-
wiegend aus Klöstern stammen. Die wichtigsten berg Buch der Natur (um 1350), Predigten (z. B.
davon sind Fulda, Lorsch, Murbach, Reichenau, Bertolds von Regensburg Predigten aus dem
St. Gallen, Regensburg und Wessobrunn. Der ältes- 13. Jh.) oder philosophisch-theologische Literatur
te umfangreiche Text ist der sog. ahd. Isidor: Dabei (Meister Eckhart, Heinrich Seuse) liegen vor.
handelt es um die Übersetzung des Traktates De Das Mhd. unterscheidet sich vom Ahd. am au-
fide catholica ex veteri et novo testamento contra genfälligsten zunächst durch seine phonologische
Iudeos des Isidor von Sevilla, die um 800 entstan- Gestalt: Durch die Nebensilbenabschwächung
den ist. Aus dem 9. Jh. liegen zwei größere Texte (s. 4.4.3.2) entwickelten sich alle Vokale in unbe-
vor: Der ahd. Tatian, eine vor 850 in Fulda entstan- tonten Silben zu Schwa oder verschwanden ganz
dene Übersetzung der Evangelienharmonie des Sy- (z. B. ahd. uueraldi – mhd. werlte ›(der) Welt‹).
rers Tatian, sowie Otfrid von Weißenburgs Evan- Dies wirkte sich auch morphologisch aus, da im
gelienharmonie (863–871), die erste größere Ahd. noch unterschiedliche Flexionsmarker zu-
selbständige Dichtung in der Volkssprache. Otfrid sammen fielen (z. B. ahd. 2. Sg. Präs. Ind. suochist
ist der erste namentlich bekannte Autor der deut- vs. Konj. suochēst > mhd. Ind./Konj. suochest).
schen Literatur, der bedeutendste ahd. Autor ist 3. Frühneuhochdeutsch (Fnhd.) (1350–1650):
aber Notker von St. Gallen († 1022), der in Die Tendenz zur Textsortendiversifikation verstärkt
spätahd. Zeit mehrere umfangreiche und kom- sich weiter, und die Textsorten, nicht zuletzt beför-
mentierte Übersetzungen vorgelegt hat, u. a. von dert durch Erfindung des Buchdrucks, nehmen be-
Boethius’ De consolatione Philosophiae oder eine trächtlich zu (z. B. Flugschriften, Sachtexte, Briefe,
Psalterübersetzung. Einziger Vertreter einer germa- Reisebeschreibungen). Im Frühneuhochdeutschen
nischen Heldendichtung ist das Hildebrandslied, setzt die Entwicklung der nhd. Schriftsprache ein,
ansonsten haben wir nur einige Zauber- und Se- aus der das Hochdeutsche, wie es heute gespro-
genssprüche als Zeugnisse einer volksliterarischen chen wird, hervorging, die aber keine unmittelbare
Tradition. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des ahd. Fortsetzung der mhd. Literatursprache ist. Nach
Wortschatzes ist in Glossen überliefert, also in Weiß (2005a) vollzieht sich die Herausbildung der
Übersetzungshilfen zu lat. Texten (zu den Perioden dt. Standardsprache in vier Stadien:
und Textzeugnissen vgl. Schmid 2009, S. 3–56; N sekundär gelernte, nur schriftlich existierende
s. Kap. III.3). und ausschließlich zum Schreibgebrauch ge-
2. Mittelhochdeutsch (Mhd.) (1050–1350): Die schaffene Sprache
Textüberlieferung ist wesentlich größer, vielfältiger N Sprache, die sich (unter dem Postulat der Ver-
und selbständiger als noch im Ahd. Neben höfi- ständlichkeit) an der Mündlichkeit orientiert
scher Dichtung in Form umfangreicher Epen (Ni- N in mündlicher (Alltags-)Kommunikation ver-
belungenlied, Werke von Wolfram von Eschen- wendete Sprache
bach, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg N als ›echte‹ Muttersprache ersterworbene Sprache
u. a.) und Lyrik (Der von Kürenberg, Heinrich von 4. Neuhochdeutsch (seit 1650) repräsentiert das
Morungen, Reinmar, Walther von der Vogelweide, dritte und vierte Stadium dieses Prozesses. Seit
usw.) setzt Prosaliteratur in einem erkennbaren etwa Mitte des 20. Jh.s wird vermehrt nicht mehr
Umfang ein. Der erste Prosaroman der deutschen ein Dialekt als Erstsprache erworben, sondern eine
Literatur ist der sog. Prosa-Lancelot (erste Überset- regionale Varietät des Hochdeutschen.

128
4.4
Sprachgeschichte
Arten von Lautwandel

4.4 | Phonologischer Wandel


4.4.1 | Arten von Lautwandel Fall spricht man von Kontaktassimilation. Dage- Angleichung von
gen sind bei der Fernassimilation die beiden Laut- Lautsegmenten
4.4.1.1 | Konditionierter Wandel segmente nicht unmittelbar benachbart. Ein Bei-
spiel aus der deutschen Sprachgeschichte ist der
In Kapitel II.2.1.3.2 wurden bereits einige phono- i-Umlaut: Die velaren, d. h. hinteren und zentra-
logische Prozesse beschrieben, die auch für Laut- len Vokale und Diphthonge wurden umgelautet,
wandel verantwortlich sind. Bei den meisten die- wenn in der folgenden Silbe [i], [i:] (oder [j]) vor-
ser Prozesse wird die Veränderung durch den kamen. Die Assimilation besteht dabei in der An-
jeweiligen Lautkontext ausgelöst, weswegen man gleichung an das Merkmal [vorn] des auslösenden
auch von konditioniertem Lautwandel spricht. Be- Vokals [i/i:] (oder des Halbvokals [j]) – daher wird
sonders gut verdeutlichen lässt sich dies an der der Vorgang in der Literatur auch als fronting oder
Assimilation. Palatalisierung bezeichnet.

Definition
Beispiel: i-Umlaut
  Assimilation ist die Angleichung eines Davon war zunächst nur [a] betroffen, das ab
Lautsegments an ein anderes hinsichtlich dem 8. Jh. regelmäßig umgelautet wurde, was
bestimmter distinktiver Merkmale. auch in der Schreibung Berücksichtigung fand.
Dieser sog. Primärumlaut [a] > [e] (der vor
den Konsonanten -ht-, -hs- zunächst noch un-
Assimilation tritt in verschiedenen Formen auf. terblieb) findet sich z. B. in den Flexionspara-
Erstens kann man je nach Grad der Angleichung digmen von Substantiven und Verben, wenn
zwischen partieller und totaler Assimilation unter- das Flexionselement ursprünglich ein [i]
scheiden. Beispiele für partielle Assimilation sind enthielt: vgl. gast – gesti, grabu ›(ich) grabe‹–
mhd. enbore, anebôz, wintbrâ > nhd. empor, Am- grebis ›(du) gräbst‹. Der Sekundärumlaut er-
boss, Wimper: Der alveolare Nasal [n] in den mhd. fasste dann den Rest der velaren Vokale (inklu-
Lexemen verändert sich zu einem bilabialen [m] sive der noch nicht betroffenen a-Laute) und
und gleicht sich damit im Artikulationsort an den Diphthonge, Beispiele sind u. a. folgende:
folgenden bilabialen Plosiv an, während die Diffe- a > ä (ahd. mahtig > mhd. mähtec)
renz in der Artikulationsart (Nasal vs. Plosiv) be- o > ö (ahd. holzir > mhd. hölzer)
stehen bleibt. In der Entwicklung von mhd. tump, u > ü (ahd. ubir > mhd. über)
zimber, lamp > nhd. dumm, Zimmer, Lamm liegt â > æ (ahd. tâti > mhd. tæte)
dagegen eine totale Assimilation vor, da die Plosi- ô > œ (ahd. skôni > mhd. schœne ›Schön-
ve [b] bzw. [p] an den vorangehenden Nasal assi- heit‹)
miliert wurden – hier wurde also auch die Artiku- û > iu (ahd. hûsir > mhd. hiuser)
lationsart angeglichen. Die beiden Beispielreihen ou > öu (ahd. troumen > mhd. tröumen)
illustrieren zugleich eine zweite Unterscheidung: uo > üe (ahd. fuori > mhd. füere ›führe‹)
Je nach Wirkungsrichtung lässt sich zwischen re-
gressiver und progressiver Assimilation differen-
zieren. In den ersten Beispielen wirkt die Assimila- Von Allophonen zu neuen Phonemen: Durch den
tion rückwärts, da das auslösende Segment dem Umlaut entstanden palatalisierte Allophone zu
betroffenen nachfolgt, während in der zweiten den velaren Vokalen und Diphthongen. Nicht ganz
Beispielreihe der Auslöser dem betroffenen Seg- klar ist, wann diese phonemisiert wurden, d. h.
ment vorangeht, d. h. die Assimilation wirkt vor- als neue Phoneme galten. Denn in der Schrift wur-
wärts. de der Sekundärumlaut zwar erst im Mhd. berück-
Alle Beispiele haben gemeinsam, dass auslö- sichtigt, er war aber in der gesprochenen Sprache
sendes und betroffenes Lautsegment unmittelbar vermutlich schon wesentlich länger existent. Man
benachbart sind (was auch für anebôz und wint- kann das deshalb vermuten, weil der phonologi-
brâ gilt, wenn man davon ausgeht, dass bei ane- sche Auslöser zum Zeitpunkt der Verschriftlichung
bôz der Laut [e] zuerst getilgt wurde (s. u.), und bereits entweder wie das [i/i:] zu Schwa abge-
bei wintbrâ auch [t] assimiliert wurde). In diesem schwächt oder wie der Halbvokal [j] ganz ge-

129
4.4
Sprachgeschichte
Phonologischer Wandel

schwunden war. Primär- und Sekundärumlaut rarchie (s. Kap. II.2.1.3.3) auf und ist in vielen Dia-
könnten daher Produkt eines chronologisch ein- lekten des Deutschen als Abschwächung stimmlo-
heitlichen Prozesses gewesen sein, die nur zu un- ser Plosive eingetreten. Diese Laute, auch Fortes
terschiedlichen Zeiten graphisch erfasst wurden. bzw. Tenues genannt, wurden zu stimmhaften Plo-
Die durch Umlaut entstandenen Allophone wur- siven (Lenes, Medien) abgeschwächt. Es handelt
den graphisch erst dann als neue Phoneme mit sich dabei um ein Charakteristikum zahlreicher,
eigener Graphie wiedergegeben, als die umlaut- v. a. mittel- und oberdeutscher Dialekte, die als bin-
auslösenden Faktoren nicht mehr existierten. An- nendeutsche Konsonantenschwächung bekannt
sonsten wären einige Graphien mehrdeutig gewe- ist (Schirmunski 1962). Da bei Lenisierung die Posi-
sen: Bei Nichtbezeichnung des Umlautes hätten tion im Wort bzw. in der Silbe (initial, medial oder
ahd. skōni ›Schönheit‹ und skōno ›schon‹ beide final) eine Rolle spielt, ist anzunehmen, dass silben-
mhd. schône entsprochen. Den Primärumlaut, phonologische Faktoren relevant sind.
d. h. die Schreibung des umgelauteten /a/ als Elision: Abschwächungsprozesse können zur
<e>, erklärt man damit, dass hier das Umlaut- Tilgung von Lauten führen. Bei Vokalen unterschei-
produkt dem vorhandenen Phonem /e/ so ähnlich det man nach Tilgung in In- und Auslaut zwischen
war, dass es als Allophon zu diesem aufgefasst Synkope und Apokope. Im Deutschen war davon
wurde. in erster Linie das Schwa betroffen. So wurde unbe-
tontes Schwa zwischen haupt- und schwachbeton-
Definition ten Silben in Genitivformen synkopiert, was später
auch auf Nominativformen übertragen wurde (ab-
  Dissimilation nennt man die Differenzie- bet, abbtes > Abt, Abbtes). Regelmäßig apokopiert
rung von Lautsegmenten mit gleichen oder wurde Schwa bei zweisilbigen Substantiven in süd-
ähnlichen Merkmalen innerhalb eines deutschen Dialekten, die das auslautende Schwa
Lexems. sowohl im Singular wie auch im Plural verloren
haben. Im Bairischen heißt es daher z. B. Aff ›Affe‹,
Hos ›Hase‹ oder Oam ›Arm(e)‹.
Dissimilation ist meistens ein sporadischer Pro- Schwa-Tilgung ist wie die Nebensilbenab-
zess, der einzelne Lexeme betrifft. Ein Beispiel ist schwächung Teil eines silbenphonologischen Wan-
span. alma ›Seele‹, das sich aus dem lat. Lexem dels des Deutschen (s. 4.4.3.2), der in manchen
anima herleitet. Hier ist der erste Nasal zum Late- Dialekten zu einer drastischen Veränderung von
ral /l/ dissimiliert worden. Beispiele aus dem Deut- Wortformen geführt hat. So haben sich im Bairi-
schen sind mhd. mûrbere > mulbere ›Maulbeere‹ schen dreisilbige Partizipien in einigen Fällen zu
oder das Wort ›Kartoffel‹, das auf mhd. tartuffel einsilbigen entwickelt, wenn es nach der Schwa-
zurückgeht. Dissimilation kann aber auch wie die Synkope noch zu zusätzlichen Assimilationen kam:
Assimilation systematisch auftreten. Ein Beispiel Bei einer Form wie drong ›getragen‹ hat sich einer-
dafür ist das sog. Graßmann’sche Gesetz, das im seits /g/ an den Dental assimiliert (/gd/ > /dd/)
Sanskrit und im Altgriechischen produktiv war sowie andererseits /gn/ zu /ƾ/ entwickelt. Bei Kon-
(Bußmann 2002): Waren in einem Wort zwei oder sonanten kam Tilgung im Deutschen seltener vor
mehr aspirierte Plosive vorhanden, wurden alle bis und systematisch wohl nur in vereinzelten Dialek-
auf den letzten deaspiriert. Das wirkte sich z. B. bei ten. Als Beispiel kann wiederum das Bairische die-
reduplizierenden Verben aus, wenn die Wurzel mit nen, in dem bei einsilbigen Substantiven auslauten-
einem aspirierten Plosiv begann (griech. títhēmi de Obstruenten im Singular geschwunden sind
›ich setze, stelle‹ < idg. *dhídhēmi). (Weiß 2005c): Wai ›Weib‹, We ›Weg‹ oder Bo ›Bach‹.
Lenisierung oder Schwächung (engl. weakening) Auch diese Tilgung scheint silbenphonologisch mo-
ist ein weiterer Lautwandelprozess, der über einzel- tiviert zu sein, da Silben mit langem Vokal oder
ne Lautsegmente operiert, wovon Vokale wie Kon- Diphthong präferiert offene Silben sind und die
sonanten betroffen sein können. Im Deutschen Obstruenten in den zweisilbigen Pluralformen wie-
wurden Vokale in unbetonten Nebensilben im der auftauchen, wie z. B. Waiba ›Weiber‹ zeigt.
Übergang vom Ahd. zum Mhd. zu Schwa /‫ۑ‬/abge- Epenthese ist die Hinzufügung von Lautseg-
schwächt – was eine der auffallendsten phonologi- menten. So wurde im Westgermanischen vor den
schen Veränderungen darstellt (s. 4.4.3.2). Konso- Sonoranten /l, r, m, n/, die im Germanischen noch
nantenschwächung betrifft die Obstruenten, sie tritt silbisch waren, ein sog. Sprossvokal eingefügt, als
in verschiedenen Formen entlang der Sonoritätshie- diese ihre Silbischkeit verloren. Beispiele sind:

130
4.4
Sprachgeschichte
Arten von Lautwandel

ahd. fogal < *fugl, got. fugls, altn. fugl Erste Lautverschiebung
ahd. ackar vs. got. akrs
ahd. zeihhan vs. got. taikns Indogermanisch Germanisch
ahd. bodam < *budm Stl. Plosive: p – t – k f – Þ – x/h
Sth. Plosive: b – d – g p – t – k
Bei Konsonanten ist im Deutschen epenthetisch Asp. Plosive: bh – dh – gh b – d – g
das sog. »unorganische d/t«, z. B. im Auslaut von
jemand oder Saft (vgl. Meibauer u. a. 2007, S. 301). Beispiele für die Verschiebung stl. Plosive:
Auch im Inlaut kann Epenthese eintreten: So wird Griech. Lat. Ahd. Aengl.
im Bairischen bei Diminutivformen zwischen Na- p patếr pater fater fæder
sal und Liquid regelmäßig ein Dental eingescho- t treïs tres thriu Þrī
ben: Deandl ›Mädchen‹, Kandl ›Kännchen‹, Hendl k déka decem zëhan tēon
›Hähnchen‹, Mandl ›Männchen‹ (Weiß 2005c). (weitere Beispiele vgl. Schmidt 2007, S. 52)
Wie aus den Beispielen deutlich wurde, sind
Tilgung und Epenthese häufig silbenphonologisch
motiviert, d. h. sie machen aus einer markierten Beide Ausnahmen sind nun selbst wieder regulär
Silbenstruktur eine unmarkierte. Im Kontext der und widersprechen daher nur scheinbar der Aus-
Nebensilbenabschwächung (s. 4.4.3.2) kommen nahmslosigkeit von Lautgesetzen. Die erste Aus-
wir auf diesen Aspekt nochmals ausführlicher zu nahme erklärt sich dadurch, dass nach Obstruen-
sprechen. ten (wozu auch /s/ zählt) generell keine Verschie-
bung stl. Plosive stattfand. Mit anderen Worten:
Die Verschiebung trat nur ein, wenn kein Obstru-
4.4.1.2 | Unkonditionierter Wandel
ent vorausging. Mit einer phonologischen Regel
(Erste Lautverschiebung)
(s. Kap. II.2.1.3.2) könnte man das folgenderma-
Von den bisher besprochenen Lautveränderungen ßen formulieren:
waren einige beschränkt auf einzelne Lexeme,
während andere wie der i-Umlaut systematisch
[+plos, -sth] > [+frik] / [-obstr] __
auftraten. Solche systematischen Prozesse können
lies: ein stl. Plosiv wird zu einem (stl.)
auch eintreten, ohne durch die Lautumgebung
Frikativ, wenn der vorausgehende Laut
ausgelöst zu werden. Beispiele für unkonditionier-
kein Obstruent ist.
ten Lautwandel sind die beiden Lautverschiebun-
gen, die als Paradebeispiele für lautgesetzlichen
Wandel gelten (s. Vertiefungskasten zum Lautge-
setz, S. 132). Verner’sches Gesetz: Auch die zweite Ausnahme
Die erste oder germanische Lautverschiebung ist regulär, denn sie ist das Resultat eines weiteren
wird auf die Zeit zwischen 1200/1000–500/300 Lautgesetzes, das nach dem dänischen Linguisten
v. Chr. datiert und davon waren die idg. Obstruen- Karl Verner benannt ist. Es besagt, dass im Germa-
ten betroffen. Die stimmlosen (stl.), stimmhaften nischen stl. Frikative sth. wurden, wenn sie in sth.
(sth.) und aspirierten (asp.) Plosive wurden ver- Umgebung (z. B. zwischen oder nach Vokalen)
schoben zu stl. Frikativen, stl. Plosiven bzw. sth. vorkamen und die vorhergehende Silbe nicht be-
Plosiven/Frikativen. tont war. Betroffen waren davon die durch die
Die drei Reihen idg. Obstruenten wurden regel- Lautverschiebung entstandenen stl. Frikative (d. h.
mäßig und systematisch verschoben. Es gibt je- /f, Þ, x/h/) sowie das aus dem Indogermanischen
doch zwei Ausnahmen: Erstens unterblieb die Ver- ererbte *s. Damit erklärt sich auch, warum griech.
schiebung stl. Plosive nach /s/ (vgl. lat. piscis – ahd. pat͇r im Gotischen fadar (= /faðar/) entspricht:
fisk, lat. spuo – ahd. spƯwan, lat. sto – dt. stehen) Zunächst wurde idg. /t/ regulär zu /Þ/ verscho-
sowie von /t/ nach /p/ und /k/(lat. captus – dt. ben; da es in sth. Umgebung vorkam und der Ak-
Haft, lat. octo – dt. acht) und zweitens wurden stl. zent auf der nachfolgenden Silbe lag, wurde es
Plosive manchmal anscheinend zu sth. Plosiven stimmhaft, d. h. zu /ð/.
verschoben statt zu stl. Frikativen. Ein illustratives Regelanordnung: Am Zusammenspiel von ers-
Beispiel ist griech. pat͇r – got. fadar, wo anlauten- ter Lautverschiebung und Verner’schem Gesetz ist
des /p/ regulär zu /f/ verschoben ist, inlautendes erkennbar, dass die Anordnung phonologischer
/t/ anscheinend aber nicht zu /Þ/, sondern zu /d/. Regeln ein wichtiger Aspekt ist. Im konkreten Fall

131
4.4
Sprachgeschichte
Phonologischer Wandel

Zum Begriff Den umgekehrten Fall, wenn eine Regel A den In-
put einer nachfolgenden Regel B verkleinert, be-
Das Verner’sche Gesetz ist auch für den sog.   grammatischen Wechsel zeichnet man als bleeding order.
zwischen /d/ und /t/ im Flexionsparadigma von ahd. wërdan verant-
wortlich (wobei man noch wissen muss, dass zum Ahd. hin aus germ.
/ð/ wieder /t/ wurde, während germ. /Þ/ sich zu /d/ weiter entwi-
ckelte):
Sanskrit Ahd. 4.4.2 | Überblick: Lautentwicklungen
1. Sg. Präs. vártē wirdu zum und im Deutschen
1./3. Sg. Prät. vavárta ward
3. Pl. Prät. vāvrtúh wurtun In diesem Kapitel werden die wichtigsten lautli-
Partizip vavrtāná giwortan chen Entwicklungen vom Indoeuropäischen bis
Bei werden ist der grammatische Wechsel heute nicht mehr vorhanden, zum Fnhd. lediglich aufgelistet. Einige wie der i-
bei Verben wie schneiden (vs. schnitt) aber schon noch. Er hat seine Umlaut oder die erste Lautverschiebung wurden
Ursache im freien Akzent des Indoeuropäischen und seiner Rolle für das bereits erläutert, auf andere wird noch ausführli-
Verner’sche Gesetz (warum er manchmal verschwunden ist, wird in cher eingegangen (s. 4.4.3.1–3).
4.5.3.1 erklärt).
Protoindoeuropäisch (PIE)
N Erste Lautverschiebung (»Grimm’s Law«)
handelt es sich um eine sog. feeding order, die N Verner’sches Gesetz
vorliegt, wenn eine Regel A den Input einer nach- Germanisch (germ.)
folgenden Regel B vergrößert: Durch die erste N Westgerm. Gemination vor j, r, l, w (got. satjan
Lautverschiebung sind die Frikative /f, Þ, x/h/ erst > as. settian, ahd. setzen)
entstanden, ansonsten hätte das Verner’sche Ge- N Rhotazismus (z > r: got. is > ahd. er)
setz nur für den ererbten Frikativ /s/ gegolten. Althochdeutsch (ahd.)
Zur Vertiefung N Zweite Lautverschiebung
N Primärumlaut
Lautgesetz N a-Umlaut/Brechung (i/u/eu > e/o/eo vor a/e/o
Der Begriff des Lautgesetzes wurde von den Junggrammatikern, der dominanten in der Folgesilbe: z. B. lat. vir – ahd. wer ›Mann‹,
Richtung der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft im letzten Drittel des germ. *wulfaz > ahd. wolf)
19. Jh.s, entwickelt, um regulären Lautwandel zu erklären. Als lautgesetzlich gel- N Ahd. Monophthongierung (ai > e: vor h, r, w,
ten Änderungen in der Aussprache, die nicht durch außer-phonetische Faktoren im Auslaut; got. mais > mƝr)
bedingt sind, die ohne Ausnahmen zu einer bestimmten Zeit und in einer be- N Auslautverhärtung
stimmten Sprachgemeinschaft, mit möglichen Umgebungsbeschränkungen, ein- N sc > sch (scrƯban > schrîben, scǀni > schœne)
treten. Lautgesetze sind also nicht mit Naturgesetzen vergleichbar, was Jung- N Sekundärumlaut
grammatikern wie Hermann Paul immer bewusst war: »Das Lautgesetz sagt nicht N Schwächung in Nebensilben (Vokal > /‫ۑ‬/)
aus, was unter gewissen allgemeinen Bedingungen immer wieder eintreten Mittelhochdeutsch (mhd.)
muss, sondern es konstatiert nur die Gleichmässigkeit innerhalb einer Gruppe N Gemination (mhd. biten, blat, site > nhd. bit-
bestimmter historischer Erscheinungen« (Paul 1909, S. 69). ten, Blatt, Sitte)
Wichtig sind die drei genannten Einschränkungen für lautgesetzlichen Laut- N s > sch (im Anlaut vor l, m, n, w, p, t) (mhd.
wandel: swƯn > nhd. Schwein)
N Er ist nicht durch außer-phonethische Faktoren (z. B. morphologisch) bedingt, N Nhd. Diphthongierung (î/û/iu > ei/eu/au)
d. h. er geschieht mechanisch. N Nhd. Monophthongierung (ie/uo/üe > i:/u:/ü:)
N Er geschieht zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Sprachgemein- N Dehnung in offener Silbe
schaft: So ist nur im Englischen anlautendes /k/ vor /n/ verlorengegangen, N Kürzung in geschlossener Silbe
aber nicht im Deutschen (k > ‡ / #__n [# = Wortgrenze]: aengl. cnafa N Entrundung (mhd. gümpel, güpfel > nhd. Gim-
[knava], cnight [knixt] : neuengl. knave [ne:v], knight [nayt]). pel, Gipfel)
N Er tritt mit möglichen Umgebungsbeschränkungen auf (die genannte k-Tilgung N Rundung (mhd. helle, wirde > nhd. Hölle,
trat nur vor [n] ein, ansonsten nicht, vgl. aengl. cyning : neuengl. king). Würde)
Lautgesetzlicher Wandel ist nicht beschränkt auf unkonditionierten Lautwandel N Senkung u > o vor nn/mm (mhd. sunne, ge-
wie die beiden Lautverschiebungen, darunter fallen auch konditionierte wie der swummen > nhd. Sonne, geschwommen)
i-Umlaut. N Schwa-Schwund
Frühneuhochdeutsch (fnhd.)

132
4.4
Sprachgeschichte
Ausgewählte Lautwandel-
phänomene

4.4.3 | Ausgewählte Lautwandel- Medienverschiebung


phänomene
Die stimmhaften Plosive b/d/g (auch Mediae
4.4.3.1 | Zweite oder Hochdeutsche Laut- genannt) werden einfach und als Gemina-
verschiebung ten zu stimmlosen Plosiven verschoben.

Bei der zweiten Lautverschiebung (LV II), mit der


sich ein Teil der westgermanischen Dialekte, näm- Zuge der LV II zu /t/ verschoben wurde. Die Medi-
lich die althochdeutschen, von den übrigen weg enverschiebung war räumlich begrenzt und wurde
entwickelt haben, waren wiederum die Plosive be- teilweise in vor-mhd. Zeit wieder rückgängig ge-
troffen. Dennoch handelt es sich nicht um eine macht, so dass heute nur noch wenige Überbleib-
Wiederholung der LV I zu einem späteren Zeit- sel im Deutschen vorhanden sind. In bair. Quellen
punkt auf einem begrenzten Gebiet der Germania, aus ahd. Zeit finden sich zwar Schreibungen wie
da die Verschiebungen teilweise anders verliefen. <kepan> oder <sipun> für geben bzw. sieben,
So ist zwar aus /p/ auch wie in der LV I /f/ gewor- aber erhalten blieben im Wesentlichen nur Ver-
den, manchmal aber auch die Affrikate /pf/. Das schiebungen von /d/ zu /t/ wie in Tag oder Toch-
Resultat der Verschiebung der stl. Plosive (auch ter, die mit engl. day bzw. daughter kontrastieren,
Tenues genannt) – Frikativ oder Affrikate – war welche den westgerm. Lautstand repräsentieren.
abhängig von der Position und der Lautumgebung: Die dialektale Gliederung des deutschen
Sprachraums in drei Dialektgruppen ist ein Resul-
Tenuesverschiebung tat der zweiten Lautverschiebung, da die einzel-
nen Tenuesverschiebungen innerhalb des ahd.
Die einfachen stimmlosen Plosive p/t/k wer- Sprachraums eine unterschiedliche Reichweite
den nach Vokal zu den geminierten Frikati- hatten: In den niederdt. Dialekten wurde sie nicht
ven ff/zz/hh verschoben; nach langen Voka- durchgeführt, in den mitteldt. teilweise und in den
len und im Auslaut werden diese zu f/z/h oberdt. (fast) vollständig. Die unterschiedliche
vereinfacht: Durchführung im (West-)Mitteldeutschen ergibt
den sog. Rheinischen Fächer: Er besteht aus ver-
germ. *drepan > ahd. treffan – *hropan > schiedenen Isoglossen, worunter man generell Abbildung 3:
roufan – *skipa > skif Grenzlinien versteht, die verschiedene Ausprägun- Rheinischer Fächer
germ. *etan > ahd. ezzan – *lētan > lāz(z)an – gen sprachlicher Merkmale trennen. (aus Ernst 2005, S. 95)
*fōt(u) > fouz
germ. *makōn > ahd. mahhōn – *ek > ich

Die stimmlosen Plosive p/t/k werden als


Geminaten (pp/tt/kk), anlautend oder inlau-
tend nach Nasalen (m, n) und Liquiden (l, r)
zu den Affrikaten pf/(t)z/kch verschoben:

westgerm. *skeppjan > ahd. skepfen – lat.


piper > pfeffar – lat. campus > kampf
westgerm. *sattjan > ahd. sezzen –*tehun >
zehan –*hertōn > herza
westgerm. *wekkjan > ahd. wecchan –*korna
> chorn –*werka > werch

Die sth. Plosive gehen auf die entsprechenden sth.


Frikative im Germanischen zurück und haben sich
in den einzelnen ahd. Dialekten unterschiedlich
entwickelt. So wurde germ. /9/ bereits im West-
germ. zu /d/, das im Rhein- und Mittelfrk. be-
wahrt blieb, während es im Oberdt. und Ostfrk. im

133
4.4
Sprachgeschichte
Phonologischer Wandel

Abbildung 4:
Tenuesverschiebung und geringste Sonorität höchste Sonorität
Sonoritätshierarchie
Plosive Affrikaten Frikative Nasale Liquide hohe Vokale sonstige Vokale
Kontrast

Kontrast

Die wichtigsten Isoglossen sind von Norden nach 4.4.3.2 | Nebensilbenabschwächung


Süden:
N die Ürdinger oder ik-ich-Linie Phonologisch unterscheidet sich das Ahd. ganz
N die Benrather oder maken-machen-Linie, die markant von den späteren Perioden des Deut-
von Düsseldorf über Kassel und Wittenberg schen. Der augenfälligste Unterschied besteht dar-
nach Frankfurt an der Oder verläuft in, dass in den unbetonten Nebensilben das volle
N die dorp-dorf-Linie Spektrum an Vokalen vorkommt, selbst Langvoka-
N die Bacheracher oder dat-das-Linie le sind dort möglich. Im Folgenden sind Beispiele
N die Speyerer oder appel-apfel-Linie aus der Verbalflexion angeführt, wo nur /Ɨ/ und
Während die Ürdinger und Benrather Linie allge- /nj/ nicht vorkommen (und wofür Beispiele aus
mein das niederdt. vom hochdt. sowie die Speye- der nominalen Deklination angegeben sind):
rer Linie das mitteldt. vom oberdt. Sprachgebiet
trennen, trennt die Bacheracher Linie das Rhein- e/Ɲ suochen (suchen) / habƝn (haben)
vom Mittelfränkischen und die dorp-dorf-Linie das i/Ư nimis (nimmst) / nƗmƯs
Moselfränkische vom Ripuarischen (vgl. Ernst o/ǀ salbo/salbǀn (salbe/salben)
2005, S. 95). a/Ɨ ginoman (genommen) / gëbƗ
Zeitlich wird die LV II etwa zwischen dem 6. u/nj faru/zungnjn (Zunge)
und 8. Jh. angesetzt und die meisten Forscher ge-
hen von einer Süd-Nord-Ausbreitung aus (vgl. Die Vokale in den unbetonten Silben wurden abge-
Braune 2004, S. 92 f.). Für die Tenuesverschiebung schwächt, d. h. sie haben sich zum Zentralvokal
wird allgemein als erster Schritt eine Aspirierung Schwa entwickelt. Diese Veränderung setzte be-
angenommen. Ob sich daraus zunächst die Affri- reits in ahd. Zeit ein, so erscheinen in den Schrif-
kate und davon der Doppelfrikativ entwickelt hat, ten Notkers von St. Gallen (10. Jh.) in der verbalen
ist dagegen umstritten, aber möglich. In diesem Flexion nur noch e und i, beide allerdings auch
Fall wäre eine Verschiebungskette /p/ > /ph/ > noch als Langvokale (Braune 2004). Im Mhd. und
/pf/ > /ff/ anzusetzen (ebd., S. 90 ff.). Fnhd. setzte sich diese Entwicklung weiter fort
Die unterschiedliche Verschiebung der stl. Plo- und führte in manchen Fällen zur Elision des Vo-
sive je nach lautlicher Umgebung lässt sich durch kals: ahd. gibis(t) > mhd. gibest > fnhd. gibst.
die Sonoritätshierarchie (s. Kap. II.2.1.3.3) erklä- Die Nebensilbenabschwächung steht im Zu-
ren (s. Abb. 4). sammenhang mit der Entwicklung des Deutschen
[p], [t], [k] bilden als [-sonorante], konsonanti- von einer sog. Silben- zu einer Wortsprache (Nüb-
sche Phoneme i. d. R. den Silbenrand (Onset oder ling u. a. 2006, S. 22–26). In Silbensprachen wie
Koda). Damit der Kontrast zur vorhergehenden Sil- dem Italienischen hat jede Silbe annähernd die
be deutlich bleibt (silbenbezogener Wandel), er- ideale Form Konsonant plus Vokal, während in
folgte die stärkste Verschiebung (d. h. zu Frikati- Wortsprachen z. B. komplexe Silbenränder vor-
ven) nur nach den sonorsten Lauten, d. h. nach kommen, die von Konsonantenclustern gebildet
Vokalen. Nach weniger sonoren Lauten dagegen, werden. Die Entwicklung zur Wortsprache ist
d. h. nach Konsonanten (nach Nasalen/Liquiden, letztlich wohl ausgelöst worden durch die Akzent-
in Gemination = nach Plosiven) und am Wortan- festlegung auf die Stammsilbe.
fang (der auf Silben mit und ohne Koda folgen
kann, d. h. u. U. auch nach Konsonant steht) wur-
de weniger in Richtung stärkerer Sonorität (d. h.
nur zu Affrikaten) verschoben.

134
4.5
Sprachgeschichte
Phonologisch bedingter
morphologischer Wandel

4.4.3.3 | Dehnung in offener Silbe, Hauptsache zwei Veränderungen eingetreten: In


Kürzung in geschlossener Silbe offener Silbe wurden kurze Vokale gedehnt und in
geschlossener Silbe Langvokale gekürzt. Daher
Im Übergang vom Mhd. zum Fnhd. sind noch wei- wurde aus mhd. /lë.ben/ nhd. /le:.ben/ und aus
tere phonologische Veränderungen eingetreten, mhd. /d‫ܤ‬:x.te/ nhd. /dax.te/. Eine Erklärung für
die nicht einzelne Laute, sondern die Silbe als diese Veränderungen liefert die Annahme, dass die
Ganzes betreffen. Im Mittelhochdeutschen exis- Optimierung der Silbenstruktur ein bedeutender
tierten vier Formen betonter Silben: Faktor für den Lautwandel ist. Die Optimierung
besteht in einer Vereinheitlichung der Silbenform:
(2) a offene Silbe mit Kurzvokal Ein Kurzvokal plus obligatorischem Konsonanten
b offene Silbe mit Langvokal (Typ 2c) hat das gleiche Silbengewicht wie ein
c geschlossene Silbe mit Kurzvokal Langvokal ohne Konsonant (Typ 2b). Damit be-
d geschlossene Silbe mit Langvokal steht der Reim einer Silbe im Nhd. immer mindes-
tens aus zwei Elementen.
Nach Ramers (1999) kommen im Nhd. als Haupt-
typen nur mehr (2b) und (2c) vor. Es sind in der

4.5 | Morphologischer und lexikalischer Wandel


4.5.1 | Phonologisch bedingter morpho- lung war bereits weitgehend im Übergang zum
logischer Wandel Mhd. vollzogen (s. Beispiele).
Die Konsequenz dieser rein phonologischen
4.5.1.1 | Morphemabbau und Synkretismus Entwicklung ist auf der morphologischen Ebene
ein formaler Zusammenfall verschiedener, ur-
Phonologische Veränderungen betreffen manch- sprünglich getrennter grammatischer Formen, was
mal nicht nur die Lautebene einer Sprache, sie als Synkretismus bezeichnet wird.
können auch Auswirkungen auf die Morphologie,
die nächsthöhere Ebene im Sprachsystem, haben. Definition
Ein prominentes Beispiel aus der Geschichte des
Deutschen ist die bereits vorgestellte Nebensilben-   Synkretismus liegt vor, wenn sich zwei
abschwächung (s. 4.4.3.2), in deren Folge sich die oder mehrere Flexionsmorpheme so entwi-
Vokale in den Endsilben zu Schwa abschwächten. ckeln, dass sie formal nicht mehr unter-
Konnten im Ahd. in Flexionselementen noch alle scheidbar sind.
Vokale, selbst lange, vorkommen, so ist es im Nhd.
nur mehr der Zentralvokal Schwa. Diese Entwick-
Das ist z. B. der Fall bei dem Morphem -e in Tage,
das auf ahd. -a sowie -o zurückgeht und heute de-
Beispiel: Verbalflexion ren Kasuswerte, also Nom., Akk. sowie Gen. Pl.,
ahd. hǀrt-a/-ǀst/-a/-um/-ut/-un markiert. Aus der verbalen Flexion wäre -en ein
> Beispiel: Es geht auf -um (1. Pl.) und -un (3. Pl.)
mhd. hǀrt-e/-est/-e/-en/-et/-en zurück (sowie als Infinitivendung auf diverse Vor-
läufer wie -an/ōn/ēn/en). Synkretismus ist also
Beispiel: Nominalflexion das Ergebnis der Reduktion formal distinkter Flexi-
ahd. Nom./Akk. Pl tag-a onsmorphologie.
> Kasussynkretismus: Das Protoindoeuropäische Kasusschwund
mhd. tage hatte ursprünglich acht Kasus (Nominativ, Genitiv,
Gen. tag-o Dativ, Akkusativ, Ablativ, Lokativ, Instrumental,
tage Vokativ), die auch morphologisch unterschieden
Dat. tag-um, -om wurden. In den meisten neueren indoeuropäi-
tagen schen Sprachen sind viele dieser Kasus heute nicht
mehr erhalten, wobei deren Funktionen von ande-

135
4.5
Sprachgeschichte
Morphologischer und
lexikalischer Wandel

ren übernommen wurden. Im Deutschen hat der ist. Diese Vorkommensbeschränkung bewirkte mit
Dativ (eventuell plus Präposition) die Funktionen der Zeit, dass der Umlaut mit dem Merkmal Plural
von Lokativ (an der Wand), Instrumental (mit der assoziiert wurde und heute auch in Pluralformen
Hand), Ablativ (lat. hieme – dt. im Winter) [sowie vorkommt, in denen er nicht phonologisch regulär
dialektal/umgangssprachlich des possessiven Ge- erzeugt worden sein kann. Das trifft unter ande-
nitivs: dem Vater sein Haus] übernommen. rem auf Formen wie Väter oder Gräben zu, bei de-
Genitiv Hier sind nicht nur die Formen, sondern die Ka- nen einzig der Umlaut den Unterschied zur Singu-
sus als solche verschwunden – was die Folge von larform (Vater, Graben) markiert. Der Umlaut
Kasussynkretismus sein kann, aber nicht sein zählt daher nunmehr zu den Allomorphen des
muss. Einerseits muss nämlich nicht jeder Kasus- abstrakten Pluralmorphems.
schwund auf Kasussynkretismus zurückgehen, Ein weiteres Beispiel für die Morphologisierung
wie das Beispiel des Gen. im Deutschen zeigt. Der phonologischer Erscheinungen ist der Ablaut,
Gen. war morphologisch immer schon ein sehr eine Veränderung des Stammvokals, die bei star-
stark markierter Kasus (und ist es im Standard- ken Verben zur Differenzierung des Präterital-
deutschen, wo er noch existiert, immer noch), der stamms vom Präsensstamm dient (z. B. nahm vs.
im Vergleich mit dem Akk. deutlich weniger Syn- nehm-).
kretismus mit anderen Kasus aufweist. Trotzdem
ist er als syntaktischer Kasus für die Markierung
direkter Objekte (vgl. jdn. eines Mordes bezichti-
gen) quasi in Gänze und auch als adnominaler Ka- 4.5.2 | Syntaktisch bedingter morpholo-
sus dialektal und umgangssprachlich überwiegend gischer Wandel
verschwunden. Der Akk., der bereits im Ahd. for-
mal häufig nicht mehr vom Nom. unterscheidbar Syntagmen, d. h. syntaktisch erzeugte Einheiten,
war, existiert dagegen heute noch, wie man an können ebenfalls morphologisiert werden. Damit
Formen der Personalpronomen (z. B. ihn) sehen ist gemeint, dass syntaktische Phrasen als Wort-
kann. Die entsprechenden Genitivformen wie in einheit interpretiert, also univerbiert werden, oder
erbarme dich unser existieren dagegen selbst im freie Morpheme zu gebundenen und damit zu Trä-
Standard nur mehr in sehr formellen oder archai- gern einer grammatischen Funktion werden.
schen Registern. Der Schwund des Genitivs, der in
den Dialekten übrigens bereits vor mehr als
4.5.2.1 | Univerbierung
500 Jahren eingetreten ist, kann also nicht durch
Synkretismus bewirkt worden sein. Andererseits Aus der Kombination zweier syntaktischer Einhei-
zeigt das Beispiel des Akkusativs, der seit dem ten kann sich ein komplexes Wort entwickeln.
Ahd. häufig formengleich mit dem Nominativ ist, Dies war z. B. bei den sog. uneigentlichen oder Ka-
dass Synkretismus nicht automatisch zu Kasusver- suskomposita der Fall: Aus der ursprünglichen
lust führt. Fügung zweier Nominalphrasen (NP), wobei die
erste Konstituente das Kasusmorphem (meistens
Genitiv) trägt, das es in der entsprechenden syn-
4.5.1.2 | Morphologisierung
taktischen Fügung hatte, wurde ein normales
Phonologischer Wandel führt allerdings nicht Kompositum mit der Konsequenz, dass das Geni-
zwangsläufig zur Reduktion der Morphologie wie tivflexiv zu einem Fugenelement umgedeutet wur-
im Fall des Synkretismus. Es können z. B. dadurch de. Deutlich wird das im Bsp. Sonne-n-aufgang
auch Stammvarianten entstehen, die später mor- (der Sonnen Aufgang), da das Nomen Sonne in-
phologisch genutzt werden, wenn mit ihnen eine zwischen die Deklinationsklasse gewechselt hat
grammatische Funktion verbunden wird. Man und die Genitivform heute (der Aufgang der) Son-
spricht in diesem Fall von Morphologisierung. ne lautet (also kein –n mehr enthält).
Umlaut: Wir haben in 4.4.1.1 mit dem Umlaut Voraussetzung dafür, dass eine Nominalphrase
einen phonologischen Prozess kennengelernt, der als komplexes Wort interpretiert werden kann,
Wortstämme verändert hat, wenn das an den waren syntaktische Veränderungen, die die Struk-
Stamm antretende Flexionselement ein /i, i:/ tur der NP betroffen haben. So konnte früher ein
enthielt. Dadurch stehen sich bei Nomen Stamm- Genitivattribut pränominal selbst dann auftreten,
allomorphe wie Gast- und Gäst- gegenüber, wobei wenn das Kopfnomen einen Artikel bei sich hatte.
die umgelautete Form auf den Plural beschränkt So begegnen in dem spätahd. Text Himmel und

136
4.5
Sprachgeschichte
Syntaktisch bedingter
morphologischer Wandel

Hölle Fügungen wie der gotes skimo ›der Glanz In bestimmten syntaktischen Fügungen können
Gottes‹, bei denen der Artikel der vom Kopfnomen neue Flexionsmorpheme entstehen, wenn bestehen-
skimo durch den pränominalen Genitiv gotes ge- de Grenzen zwischen Morphemen wegfallen oder
trennt ist. Heute müsste das Genitivattribut ent- verschoben werden (s. Beispiel zur 2. Pers. Sg.).
weder postnominal realisiert werden oder es Solche Falschsegmentierungen haben gelegent-
wäre, falls doch pränominal, kein mit dem Kopf- lich auch noch in anderen Fällen zu neuen Flexi-
nomen kongruierender Artikel möglich (der Glanz onsendungen geführt. Im Bairischen ist in der 2.
Gottes bzw. Gottes Glanz). Im Laufe des Mhd. Pers. Pl. das Klitikum s, dessen Vollform ös auf
wurde die NP-Struktur dahingehend modifiziert, eine alte Dualform (›ihr zwei‹) zurückgeht, eben-
dass Genitivattribute nicht mehr zwischen dem falls in die Flexion eingedrungen, so dass es dort
Determinierer und dem NP-Kopf intervenieren ös gehds ›ihr geht‹ lautet. In manchen Dialekten
konnten, woraufhin Genitivattribute, sofern wei- führten solche Falschsegmentierungen auch zu
terhin pränominal (und artikellos), als Komposi- pronominalen Formen wie dir (< d + ihr) oder
tionsglied reanalysiert wurden. dös (< d + ös), was offenbar auch mehrfach pas-
sieren konnte, wie Pronominalformen wie das
nordbair. deeds (d + e + d + (e)s) vermuten las-
4.5.2.2 | Grammatikalisierung sen (König/Renn 2006).
Grammatikalisierung verläuft dabei entlang des
Definition folgenden Verlaufsschemas:

Als   Grammatikalisierung bezeichnet man


den Prozess, in dessen Verlauf eine auto- Lexikalisches Wort > Funktionswort
nome lexikalische Einheit allmählich die > Partikel > Klitikum > Affix
Funktion einer abhängigen grammatischen (Flexion > Derivation) > Null
Kategorie erwirbt (Bußmann 2002, S. 260;
Glück 2010, S. 248–249).
  Reanalyse ist ein Prozess, bei dem einem Natürlich muss dabei nicht immer die gesamte
sprachlichen Ausdruck ein neuer kategoriel- Skala abgearbeitet werden. In unserem Fall bildete
ler Status oder eine neue Struktur zugewie- ein Funktionswort, das Pronomen der 2. Pers. Sg.,
sen wird. Reanalyse ist also bei morphologi- den Ausgangspunkt, es entwickelte sich über ein
schem und syntaktischem Wandel involviert klitisches Stadium zu einem Affix, das in einigen
(weitere Beispiele für reanalysierte syntakti- Dialekten (wie dem Alemannischen) inzwischen
sche Strukturen in 4.6.2.1). auch wieder verschwunden ist (ohne übrigens in
die Derivation einzudringen).

Entstehung der Flexionsendung der 2. Pers. Sg. tion, sind sie unbetont und reduziert, d. h. kli- Beispiel
Ein prominentes Beispiel für das Deutsche ist die tisch: In dem bair. Satz Gesdan han-a-da-n geem
verbale Flexionsendung der 2. Pers. Sg.: Im Ahd. (›gestern habe ich dir ihn gegeben‹) bilden die
endeten Verben in der 2. Pers. Sg. (außer im Prä- Pronomen ein Cluster, in dem gegebenenfalls
teritum starker Verben sowie bei den sog. Präter- auch phonologische Prozesse wie Assimilation,
itopräsentia) zunächst noch allein auf -s (z. B. Reduktion, aber auch Epenthese auftreten kön-
wirfis), erst im Lauf des 9. Jh.s trat ein auf das nen. Im konkreten Beispiel ist z. B. eine Art Vo-
Pronomen thu zurückgehendes t hinzu, wodurch kalharmonie zu beobachten, da die klitische
die heute noch gebräuchliche Endung -st ent- Form von ich eigentlich e lautet (vgl. gesdan han-
stand. Die Reanalyse des Pronomens als Teil der e-s bmocht, ›gestern habe ich es gemacht‹) und
verbalen Flexion ist einer syntaktischen Beson- die Form /‫ܣ‬/ als Angleichung an den Vokal des
derheit des Deutschen geschuldet: In Deklarativ- folgenden Pronomens erklärbar ist. Es ist also
sätzen stehen pronominale Subjekte und Objekte durchaus denkbar, dass in einer solchen Wacker-
in der Regel in der sog. Wackernagel-Position, die nagel-Konstellation ein Syntagma wie ahd. wirfis
unmittelbar auf das finite Verb in Zweitposition thu als wirfist thu reinterpretiert wurde.
folgt. Stehen Pronomen in der Wackernagel-Posi-

137
4.5
Sprachgeschichte
Morphologischer und
lexikalischer Wandel

In der Grammatikalisierungsforschung gibt es (dnj > du > d). Für den Verlust der Selbständig-
verschiedene Ansätze, die z. T. (manchmal auch keit scheint lautliche Abschwächung aber keine
nur begrifflich) voneinander abweichende Ent- notwendige Voraussetzung zu sein: Das Derivati-
wicklungsstadien postulieren. Im Allgemeinen onssuffix -werk ist gegenüber seinem freien Pen-
werden die folgenden Eigenschaften bei Gramma- dant, dem Nomen Werk, nicht wirklich reduziert.
tikalisierungsprozessen angenommen: Coalescence (Verschmelzung, Fusion): Auf der
Universalität/Unidirektionalität/Irreversibili- morphologischen Ebene hat der Verlust an Inhalt
tät: Grammatikalisierungsprozesse vollziehen sich und Gestalt die Konsequenz, dass die Selbständig-
in der vom obigen Verlaufsschema angegebenen keit des betroffenen Lexems/Morphems allmäh-
Richtung und sind nicht umkehrbar. Diese Ansicht lich verlorengeht, aus einem freien also ein gebun-
ist aber nicht unumstritten, und es wird in der For- denes Morphem wird. Der Übergang von Pronomen
schung auch der umgekehrte Prozess (Degramma- in die Flexion oder von freien Lexemen zu Deriva-
tikalisierung) diskutiert, ein mögliches Beispiel tionsaffixen sind Beispiele für den Vorgang, den
dafür ist der sächsische Genitiv im Englischen, wir bereits kennengelernt haben. Ein anderes sind
weil sich hier ein Affix (Genitiv-s) zu einem Kliti- sog. grammatikalisierte Präpositionen: Eine Form
kum rückentwickelt hat, das an komplexe NPs an- wie am besteht zwar aus der Präposition an und
treten kann (vgl. The woman I met yesterday’s sis- dem definiten Artikel dem, ist aber in bestimmten
ter). Trotzdem ist festzuhalten, dass die weit syntaktischen Kontexten nicht mehr zerlegbar in
überwiegende Anzahl von Beispielen dem obigen die Grundbestandteile. Dies ist der Fall, wenn es
Verlaufsschema folgt. mit Superlativen konstruiert wird (am schönsten
Grammatikali- Desemantisierung (bleaching): Der Zuwachs an vs. *an dem schönsten), während in anderen Kon-
sierungsschritte grammatischer Funktion geht mit semantischer texten der Verschmelzungsgrad geringer ist und
Reduktion einher, d. h. mit einer Abnahme oder eine Ersetzung durch die volle Form nicht unter-
einem Verlust an lexikalischer Bedeutung. Dies bindet (am Haus vs. an dem Haus).
gilt uneingeschränkt, wenn ein lexikalisches Wort
grammatikalisiert wird. Wird dagegen ein Funkti-
onswort wie du wie im obigen Beispiel weiter
grammatikalisiert, kann natürlich keine Deseman- 4.5.3 | Morphologie-intern bedingter
tisierung eintreten. Ein Beispiel für eine mit einer morphologischer Wandel
Desemantisierung verbundene Grammatikalisie-
rung ist das Auxiliarverb haben, dessen ursprüng- 4.5.3.1 | Analogischer Ausgleich
liche lexikalische Bedeutung ›besitzen‹ verloren-
gegangen ist. Im Fall von haben ist das entspre- Dass phonologischer Wandel Auswirkungen auf
chende Vollverb mit der ursprünglichen Bedeutung die Morphologie haben kann, haben wir am Bei-
immer noch vorhanden, häufig verschwindet aber spiel des Synkretismus schon kennengelernt
das freie Lexem nach einer potentiellen Phase der (s. 4.5.1.1). Dort führte phonologischer Wandel zu
Koexistenz mit der Neuerung. So gehen Derivati- einer morphologisch nicht immer vorteilhaften
onssuffixe wie -tum oder -lich auf freie Lexeme Einheitlichkeit von Flexionsparadigmen. Er kann
(toum ›Urteil, Macht‹ bzw. lƯh ›Körper‹, das nur aber auch das Gegenteil bewirken und Flexionspa-
mehr als Leiche in anderer Bedeutung als ›toter radigmen uneinheitlich machen, indem er wie im
Körper‹ vorkommt) zurück, die heute nicht mehr Fall des Umlauts Allomorphie erzeugt. In manchen
existieren. Fällen wird die so entstandene Allomorphie durch
Abschwächung (Attrition): Bei Grammatikali- analogischen Ausgleich wieder abgebaut.
sierung kann auch eine phonologische Abschwä-
chung eintreten, d. h. ein Verlust an lautlicher Definition
Substanz. Insbesondere der Übergang vom Funk-
tionswort zum Klitikum und anschließend zum   Analogischer Ausgleich ist die Reduktion
Affix geht meistens mit lautlicher Reduktion ein- von Allomorphie innerhalb eines Paradig-
her. So liegt der oben geschilderten Entwicklung mas, wobei die Irregularitäten Produkt von
des Pronomens als (Teil der) Verbalflexion eine regulärem Lautwandel (Lautgesetze) sein
phonologische Reduktion zugrunde: Der Langvo- können, aber nicht sein müssen.
kal der ahd. Vollform dnj wird in klitischer Stel-
lung gekürzt oder kann sogar ganz getilgt werden

138
4.5
Sprachgeschichte
Morphologie-intern
bedingter morphologischer
Wandel

Grammatischer Wechsel schen Gesetzes (s. 4.4.1.2) zeigt sich im Ahd. bei Beispiel
Ein Beispiel aus der Verbalflexion ist der sog. bestimmten Verben eine Alternation des wurzel-
grammatische Wechsel. Als Folge des Verner- schließenden Konsonanten:

Infinitiv 1. Sg. Präs. 1. Sg. Prät. 1. Pl. Prät. Partizip


h–g slahan slahu sloug slougun gislagan
d–t lîdan lîdu leid lîtun gilîtan
s–r kiosan kiusu kôs kurun gikoran
f–b heffen heffu huob houbon gihaban

Bei einigen Verben ist der grammatische Wechsel nologische Veränderungen verlor sie jedoch zu-
durch analogischen Ausgleich beseitigt worden. So nehmend die ursprüngliche Transparenz, so dass
hat sich bei nhd. schlagen die auf /g/ auslautende sie heute als unregelmäßige Konjugation bezeich-
Stammform, die ursprünglich nur im Präteritum net wird. Im Gegensatz dazu besitzen die schwa-
vorkam, auch auf das Präsens ausgebreitet. Auch chen Verben eine einfache und regelhafte Syste-
bei heben und küren kann man beobachten, dass matik: Der Präteritalstamm wird durch Anfügung
sich der Präteritalstamm zugunsten des Präsens- eines Dentalsuffixes an den Verbstamm gebildet
stamms durchgesetzt hat (bei küren war die sieg- (z. B. such + t).
reiche Stammform zunächst sogar nur auf den Ablautreduktion: Seit dem Althochdeutschen
Plural und das Partizip beschränkt). ist es zu einigen Vereinfachungen der Bildungs-
Starke und schwache Verben: Auch in anderen weise starker Verben durch analogischen Aus-
Bereichen der verbalen Flexion sind Veränderun- gleich gekommen.
gen eingetreten, die sich als analogischer Aus- Die ursprünglich vier Ablautstufen wurden auf
gleich verstehen lassen. Im Deutschen gibt es bei drei reduziert, da der unterschiedliche Ablaut in-
Verben bekanntlich zwei Flexionsklassen: starke nerhalb des Präteritums zugunsten einer einheitli-
und schwache Verben. Die starken Verben, die ihr chen Form aufgegeben wurde. Bei werfen lauteten
Präteritum mit Ablaut bilden, sind die ursprüngli- die Präteritalformen warf (1. Pers. Sg.) bzw. wur-
chen Verben, während die schwachen Verben fum (1. Pers. Pl.), hier wurde der Plural dem Singu-
überwiegend sekundäre sind, die von Nomen lar angeglichen, während bei werden die Singular-
oder anderen Verben abgeleitet wurden. Je nach form ward den Stammvokal der Pluralform wurtum
Ableitungssuffix (-j-/-ǀ-/-Ɲ-) unterteilten sie sich übernommen hat und zu wurde wurde. Solche Ver-
in drei Klassen. Die starke Flexion war also die einfachungen dienten nicht nur der Reduktion von
primäre, die Bildungsweise war völlig systema- Allomorphie, sondern erfüllten häufig noch eine
tisch und durchsichtig. Durch verschiedene pho- andere Funktion. Mit dem Ausgleich innerhalb des

Ablaut fünf Klassen starker Verben zeigt, die auch als Beispiel
Bei Ablaut (Apophonie) unterscheidet man germ. e-Gruppe bezeichnet werden, vgl. Sonder-
N die Abstufung (die Quantitätsunterschiede er- egger 2003, S. 319 ff.) ist, dass im Präsens die
gibt) mit Voll-, Dehn- und Schwundstufe, und Grundstufe e vorliegt, im Singular des Präteri-
N die Abtönung (diese ergibt Qualitätsunter- tums die abgetönte Grundstufe a und im Plural
schiede) mit Grundstufe (oder Hochton) und des Präteritums sowie beim Partizip Perfekt die
abgetönter Grundstufe (oder Tiefton). Schwundstufe. Für ein Verb der Klasse III wie
Abstufung und Abtönung waren (bis heute in rinnan ›laufen, rinnen‹ ergeben sich im Ahd.
nicht ganz geklärter Weise) das Resultat spezifi- danach folgende Formen: rinnu ›(ich) laufe‹ –
scher Akzentverhältnisse (Nübling u. a. 2006). ran ›(ich/er) lief‹ – runnum ›(wir) liefen‹ – gi-
Im Germanischen wurde der Ablaut dann für runnan ›gelaufen‹ (wobei das u nicht die
die Konjugation systematisiert: Das Grundsys- Schwundstufe darstellt, sondern wohl eine Art
tem (das sich in dieser Form nur bei den ersten Sprossvokal ist).

139
4.5
Sprachgeschichte
Morphologischer und
lexikalischer Wandel

Präteritums wird auf die Numerusunterscheidung Person, Numerus oder Tempus kann eine Motiva-
zugunsten einer deutlicheren Differenzierung der tion sein, wie wir gesehen haben. Auch Frequenz
beiden Tempusstämme verzichtet. Man spricht scheint eine gewisse Rolle zu spielen, insofern als
hier auch von Numerusnivellierung und Tem- häufig gebrauchte Lexeme mehr Unregelmäßigkeit
pusprofilierung (Nübling u. a. 2006, S. 63 ff.). in ihrer Flexion tolerieren als seltene. Im deutschen
Aber es gab auch Veränderungen, die dem Um- Verbalsystem gehören die starken Verben zu den
stand geschuldet sind, dass die schwachen Verben Lexemen mit hoher Gebrauchsfrequenz – und ihre
regulär und die starken zunehmend irregulärer Flexion ist im Vergleich zu den schwachen Verben
gebildet werden. Einzelne ursprünglich starke synchron gesehen irregulär. Trotz aller Vereinfa-
Verben sind nämlich entweder vollständig oder chungen und gelegentlicher Klassenübertritte (s. o.)
partiell in die Klasse der schwachen Verben über- besteht aber keine Gefahr, dass sie als Konjugati-
getreten, wobei manchmal starke und schwache onsklasse insgesamt verschwinden. Da sie sehr
Formen nebeneinander bestehen können: häufig gebraucht werden, werden die einzelnen
Formen im mentalen Lexikon abgespeichert. Dass
der Klassenübertritt in jedem Einzelfall mit dem
Beispiele: Klassenübertritt vom starken Rückgang der Gebrauchsfrequenz zusammen-
zum schwachen Verb hängt, kann aber bezweifelt werden (gerade bei
Vollständig: den oben genannten Beispielen bellen und hinken
ahd. bellan, bal, bullun, gibullan ist so etwas nicht anzunehmen). Auch ist eine hohe
> nhd. bellen, bellte(n), gebellt Gebrauchsfrequenz umgekehrt nicht immer ein
ahd. hinkan, hank, hunkun, gihunkan Faktor, der die Regularisierung innerhalb eines Pa-
> nhd. hinken, hinkte(n), gehinkt radigmas unterbindet.
andere Verben: kreischen, melken
Partiell:
backen, backte, gebacken Beispiel: Auxiliar sein
Konkurrenz: nebeneinander von st/swV Das Auxiliar sein ist ein sehr frequentes Lexem,
gären – gor/gegoren vs. gärte/gegärt dessen Flexionsparadigma nicht nur unregel-
glimmen – glomm/geglommen mäßig, sondern sogar suppletiv ist, d. h. sich
vs. glimmte/geglimmt aus Stammformen ursprünglich unterschiedli-
cher Verben zusammensetzt (bin/bist – ist –
sind/seid). In einzelnen Dialekten wie dem
Vorhersagbarkeit Analogischer Ausgleich ist kein ausnahmsloser Zentralhessischen fand trotzdem ein partieller
oder systematischer Prozess, d. h. es ist nicht vor- Ausgleich statt, insofern als die Stammform des
hersagbar, ob er überhaupt eintritt, in welche Plurals auch in die 1. Pers. Sg. eingedrungen ist
Richtung hin der Ausgleich stattfindet und wie (ich sei statt ich bin).
weit er reicht. Das Verb leiden zeigt zwar Ablautre-
duktion (Angleichung der präteritalen Singular-
form an die Pluralform: leid > litt), der grammati-
4.5.3.2 | Proportionale Analogie
sche Wechsel zwischen Präsens und Präteritum
wurde jedoch nicht aufgehoben. Auch existieren Analogie kommt auch noch in einer anderen Form
interdialektale Unterschiede, die zeigen, dass ana- vor, die als proportionale Analogie oder als analo-
logischer Ausgleich nicht zwangsläufig eintreten gische Ausdehnung bekannt ist.
muss: So wurde zwar bei Verben wie verlieren
(ahd. firliosan) oder frieren (ahd. friosan) im Neu- Definition
hochdeutschen der grammatische Wechsel analo-
gisch beseitigt, in manchen deutschen Dialekten   Proportionale Analogie bedeutet die
aber nicht. Im Bairischen lauten die beiden Verben Generalisierung oder Ausdehnung einer
voloisn und froisn, d. h. die Stammformen sind im- morphologischen Regel auf neue Lexeme.
mer noch wie im Althochdeutschen.
Faktoren: Was tatsächlich das Eintreten oder
Unterbleiben von analogischem Ausgleich im Ein- Der bereits erwähnte Übertritt starker Verben in
zelfall steuert, ist schwer zu sagen. Die Nivellierung die Klasse der schwachen Verben ist eher als ana-
oder Profilierung grammatischer Merkmale wie logische Ausdehnung denn als Ausgleich zu ver-

140
4.5
Sprachgeschichte
Lexikalischer Wandel

Beispiel: iz/az-Stämme

Nom. Gen. Dat. Akk.


Frühahd. Sg. lamb lembires lembire lamb
Ahd. Sg. lamb lambes lambe – lamb
Pl. lembir lembiro lembirum lembir

stehen, da hier ein Flexionsmuster auf Verben 4.5.4 | Lexikalischer Wandel


übertragen wurde, die bisher nach einem anderen
flektiert wurden.
4.5.4.1 | Erb- vs. Lehnwortschatz
er-Plural: Im Indogermanischen bestand ein
flektiertes Wort aus drei Bestandteilen: der Wur- Der Wortschatz einer Sprache ist externen Einflüs-
zel, die zusammen mit einem Stammbildungsele- sen in einem wesentlich größeren Ausmaß ausge-
ment den Stamm bildete, sowie dem Flexionsele- setzt als andere sprachliche Ebenen. So nimmt es
ment. In Ansätzen war das System auch noch im nicht wunder, dass der Wortschatz einer Sprache
Althochdeutschen erkennbar: Je nach Stammbil- normalerweise neben dem sog. Erbwortschatz
dungselement wird in der nominalen Flexion z. B. auch einen Anteil aus Lehn- und Fremdwörtern
nach a-, ō-, i- oder u-Deklination unterschieden. aufweist. Das quantitative Verhältnis von Erb- und
Während aber im Gotischen dieses System noch Lehnwortschatz ist von Sprache zu Sprache sehr
sehr transparent ist (z. B. Akk. Pl. dag-a-ns), ist es verschieden – und es ist v. a. das Produkt histori-
im Ahd. vielfach bereits undurchsichtig, da das ur- scher Zufälle, denn Entlehnungen resultieren aus
sprüngliche Flexiv häufig verschwunden ist und Sprachkontaktsituationen, die selbst natürlich his-
das Stammbildungselement als Flexionselement torisch kontingent sind. Die beliebte Rede vom
reanalysiert wurde: dag-a = Stamm+Flexion. Das Deutschen als »entlehnungsfreudiger Sprache« ist
Pluralmorphem -er geht auf ein solches Stammbil- also prinzipiell falsch: Ob entlehnt wird, entschei-
dungselement zurück, das in den sog. iz/az-Stäm- den ja auch die Sprecher, nicht die Sprachen. Im
men in der ahd. Form -ir- vorkam (s. oben). Vergleich zum Englischen verfügt das Deutsche
Im Lauf des Ahd. ist das Stammbildungsele- übrigens über einen wesentlich homogeneren Deutsch:
ment im Singular geschwunden, was sich als Wortschatz, als vielfach angenommen wird. Das eine entlehnungs-
analogischer Ausgleich erklären lässt, d. h. als Englische erlebte im Übergang vom Alt- zum Mit- freudige Sprache?
Angleichung an die flexionslose Stammform im telenglischen eine wirklich dramatische Aufnahme
Nom./Akk. Sg. In einem zweiten Schritt wurde romanischen Wortschatzes, so dass man tatsäch-
das im Plural erhaltene Stammbildungselement lich von einem gemischten Lexikon sprechen
-ir als Pluralmorphem reanalysiert, d. h. die Form kann. Die Grammatik des Englischen wurde aber
lemb-ir wurde als Stamm + Flexion gedeutet, nicht vom Französischen extern am meisten beein-
wodurch das Morphem -ir mit dem Merkmal Plu- flusst, sondern vom Skandinavischen, obwohl des-
ral assoziiert wurde. Die proportionale Analogie sen lexikalischer Einfluss wesentlich geringer war
kam in einem dritten Schritt ins Spiel, als der er- (van Gelderen 2006).
Plural seit dem Spätmhd. auch auf andere Wör- Sprachkontaktsituationen gab es in der Ge-
ter übertragen wurde, die ursprünglich keine iz/ schichte des Deutschen mehrfach:
az-Stämme waren (Kinder, Kleider, Länder, N Lateinisch (6. Jh., 8.–10. Jh., 15.–16. Jh.)
Schwerter, Wörter). N Französisch (Hochmittelalter, 16.–18. Jh.)
Proportionale Analogie folgt also einem gene- N Englisch (8. Jh., ab Mitte des 20. Jh.s)
rellen vierteiligen Schema. Sie wird daher in der Von allen diesen Sprachen wurden Wörter ent-
angelsächsischen Literatur auch als four-part ana- lehnt und mehr oder weniger in den Wortschatz
logy bezeichnet (Hock 1991, S. 171 ff.). integriert. Bei weitgehender Integration werden
dann aus Fremdwörtern Lehnwörter, die oft nicht
mehr als nicht-natives Wortgut erkennbar sind
(s. u.). Der Transfer von sprachlichem Material ge-
schieht in der Regel aus einer sozial dominieren-
den Sprache, doch dies ist keine notwendige Vor-

141
4.5
Sprachgeschichte
Morphologischer und
lexikalischer Wandel

aussetzung, wie die zahlreichen Beispiele von neuen zusätzlichen Bedeutung ›Herr(gott)‹ verse-
Entlehnungen z. B. aus dem Jiddischen ins Deut- hen wurde. Ein aktuelleres Beispiel ist nhd. reali-
sche zeigen. Dass es manchmal auch ohne direk- sieren, das zunächst nur ›verwirklichen‹ bedeutete
ten Sprachkontakt zu Entlehnungen kommt, ver- und das nach dem engl. realize auch die Bedeu-
steht sich von selbst. tung ›bemerken‹ angenommen hat. Das Beispiel
zeigt, dass Lehnbedeutungen selbst bei Lehnwör-
tern auftreten können.
4.5.4.2 | Formen von Entlehnungen
Entlehnt werden können Lexeme samt ihren Be-
4.5.4.3 | Entlehnungen grammatischer
deutungen oder auch nur Bedeutungen. Je nach
Morpheme
ausdrucks- und inhaltsseitiger Entlehnung diffe-
renziert man nach Lehnwörtern und Lehnprä- Entlehnungen betreffen in erster Linie periphere
gungen. Bereiche einer Sprache wie eben das Lexikon, wo-
Pfeffer Lehnwörter sind direkte Wortentlehnungen, bei hier auch wieder wesentlich häufiger Inhalts-
und Pilger die je nach Zeit der Entlehnung unterschiedlich wörter und eher selten Funktionswörter oder
stark in die Zielsprache integriert sein können – grammatische Morpheme entlehnt werden. Die
was wiederum als Indiz für die Zeit der Entleh- Entlehnung syntaktischer Muster kommt noch sel-
nung genutzt werden kann: So müssen z. B. lat. tener vor.
tegula > Ziegel, piper > Pfeffer vor der zweiten Im Deutschen gibt es relativ viele nicht-native
Lautverschiebung entlehnt worden sein, da /t/ > Wortbildungsmorpheme (vgl. Meibauer u. a. 2007,
/ts/ und /p/ > /pf/ bzw. postvokalisch zu /ff/ S. 55 ff.). Die meisten von ihnen kommen aber nur
verschoben wurde, während dagegen lat. pe- zusammen mit nicht-nativen Basen oder Konfixen
legrinus > piligrîm > Pilger, tabula > Tafel auf- vor, so dass sie nicht als vollständig integriert be-
grund der unverschobenen /p/ bzw. /t/ danach zeichnet werden können. Mit nativen Basen kom-
übernommen worden sein müssen. Nach dem binierbar sind dagegen:
Ausmaß der Integration kann unterschieden wer-
den zwischen
N Fremdwörtern: Laptop, Tabernakel etc. Beispiele: Entlehnung von Derivationssuffixen
N assimilierten Lehnwörtern: Mauer, Fenster, Franz. Naff -ie: zunächst Übernahme entspre-
Keller etc. chender Bildungen als Lehnwörter (z. B. mhd.
Lehnprägungen kommen in verschiedenen For- profêzîe ›Prophezeiung‹, vilânîe ›bäurisches Be-
men vor. Von Lehnbildungen spricht man allge- nehmen‹), später Derivation weiterer Nomen
mein bei Wortbildungen mit eigensprachlichem auf Grundlage eigensprachlicher Wurzeln mit
Material nach dem Vorbild fremdsprachiger Wör- -ie (z. B. jegerîe ›Jägerei‹, wüestenîe ›Wüstenei‹),
ter, wie z. B. bei dem nach lat. superfluitas gebilde- -ie durch fnhd. Diphthongierung > Fnhd./Nhd.
ten ahd. Lexem ubarfleozzida (›Überfluss‹). Ein -ei.
anderes Beispiel ist ahd. forakisehan (›vorausse- Franz. Vaff -ier: entlehnt als -irn/-ieren, nach
hen‹) nach dem lateinischen Vorbild providere. Je Entlehnung französischer Verben -ieren auch
nach Enge der Übersetzung werden dabei unter- mit eigensprachlichen Wurzeln verbunden z. B.
schieden: buchstabieren, stolzieren, hausieren.
N Lehnübersetzungen: genaue Glied-für-Glied- Lat. Naff -arius: zur Ableitung von Nomina agen-
Übersetzung (Wochenende für weekend) tis bzw. instrumenti, ahd. -âri z. B. betalâri
N Lehnübertragungen: freiere Übersetzung (Wol- ›Bettler‹, heilâri ›Heiland‹, hat sich zum nhd. -er
kenkratzer für skyscraper) entwickelt.
N Lehnschöpfungen: formal unabhängige Neu-
bildung (Umwelt für milieu)
Von Lehnbedeutungen spricht man, wenn ein na-
tives Lexem seine Bedeutung in Analogie zu einem
entsprechenden fremdsprachigen Ausdruck ver-
ändert: Z. B. diente das lat. dominus ›Herr‹, das
im christlichen Zusammenhang die Bedeutung
›Herr(gott)‹ hatte, als Muster dafür, dass ahd.
truhtin ›Gefolgsherr‹ im selben Kontext mit der

142
4.6
Sprachgeschichte
Wortstellungswandel

4.6 | Syntaktischer Wandel


Syntaktischer Wandel betrifft Veränderungen der b ek hlewegastir holtijar horna tawido
Regularitäten des Satzbaues. Die Anordnung und (Horn von Gallehus, Dänemark, um 400)
hierarchische Beziehung der Satzglieder unterein- ›ich, H. von Holt, Horn machte‹
ander können sich aufgrund externer und interner c ik in watin izwis daupja
Einflüsse (s. 4.2) verändern. Im folgenden Kapitel (Wulfila, Math 3,11; Gotisch)
werden zunächst einige signifikante Veränderun- ›ich in Wasser euch taufe‹
gen der deutschen Syntax vorgestellt (für einen
umfassenderen Überblick vgl. Fleischer/Schallert Im Protogermanischen und in den frühesten Bele- Entstehung
2011 sowie immer noch grundlegend Ebert 1978, gen aus germanischen Einzelsprachen finden sich von V2
2
1999). vereinzelt auch schon Belege für V2 in bestimmten
Kontexten:

(4) a hariuha hait-ika


4.6.1 | Wortstellungswandel
(Brakteat 2 von Sjaelland; Runisch)
›H. heiße-ich‹
4.6.1.1 | Verbstellung
b hva skuli Þata barn wairÞan
Das Prädikat ist zentral für den Satz, denn es legt (Lukas 1,66; Gotisch)
fest, wie viele Argumente vorkommen können ›was soll dieses Kind werden‹
und welcher Art sie sein müssen. Das Prädikat ent-
hält immer ein finites Verb und für das Deutsche Im Althochdeutschen ist im Grunde schon (fast)
(und manche andere Sprache) wird über dessen der nhd. Zustand erreicht, was die Verbstellung
Stellung auch die Satzart festgelegt, d. h. ob es sich betrifft. Vor allem die Verbstellungsasymmetrie
um einen eingebetteten Satz oder einen Hauptsatz zwischen Haupt- und Nebensatz ist schon sehr
handelt und bei letzterem um einen Deklarativ- deutlich ausgeprägt, wie die Eingangsverse des
oder Fragesatz (s. Kap. II.2.3.3). Insbesondere die Hildebrandsliedes (vgl. 5a, b) zeigen. Im Matrix-
asymmetrische Verbstellung in Haupt- und Ne- satz steht das finite Verb gihôrta in Zweitposition,
bensätzen gehört zu den Grundeigenschaften des während das Verb muotin des Nebensatzes die
deutschen Satzbaues – wie auch die sog. Verb- Endstellung einnimmt. Der Matrixsatz enthält au-
Zweit-Eigenschaft, d. h. dass das Verb im Deklara- ßerdem einen vom Wahrnehmungsverb hören se-
tivsatz an zweiter Stelle steht, unabhängig davon legierten Infinitiv (seggen), der sich in der rechten
ob die Erstposition durch ein Subjekt oder ein an- Satzklammer befindet. Das entspricht also exakt
deres Satzglied eingenommen wird. Eine weitere den nhd. Gegebenheiten.
Besonderheit ist die Satzklammer mit dem fini-
ten Verb oder der Konjunktion in der linken Satz- (5) a ik gihôrta dat seggen
klammer – bzw. im Phrasenstrukturmodell in C – ›Ich hörte das sagen‹
und dem (Rest des) Prädikat(s) in der rechten b dat sih urhettun aenon muotin
Satzklammer (s. Kap. II.2.3.3). Die historisch inter- ›dass sich Herausforderer einzeln trafen/bedrängten‹
essante Frage ist nun, wann sich diese Eigenschaf-
ten der deutschen Syntax herausgebildet haben Auch andere Eigenschaften der nhd. Syntax sind
(vgl. dazu Axel 2007; Speyer 2007). seit Anfang des Ahd. belegt: So findet man die V2-
Indogermanisch: In der Forschung geht man Eigenschaft schon im ahd. Isidor (I), vgl. (6a) mit
davon aus, dass im Indogermanischen trotz einer einem Objekt vor dem finiten Verb, und im Tatian
sehr großen Wortstellungsfreiheit als Basiswort- (T) ist V1 bei Entscheidungsfragen (6b) und Impe-
stellung SOV (Subjekt – Objekt – Verb) angenom- rativen (6c), sowie V2 bei selbständigen w-Fragen
men werden kann (3a), was im Wesentlichen auch (6d) bereits fest ausgeprägt. Allerdings sind in den
noch für das Protogermanische galt, wie Runenin- ältesten Texten auch noch Verbend-Deklarativ-
schriften (3b) oder das Gotische (3c) nahelegen: sätze belegt (6e).

(3) a rátham kó nír avart ayat (6) a dhinera uuomba uuaxsmin setzu ih ubar miin hohsetli
(Rig Veda 10.135.5) (I 611)
›Streitwagen wer rollte‹ ›deines Bauches Frucht setze ich über meinen Thron‹

143
4.6
Sprachgeschichte
Syntaktischer Wandel

b quidis zi uns thesa parabola oda zi allen (8) a daz thû maht forasago sîn
(T 529,2) (Christus und die Samariterin 28)
›sagst zu uns diese Gleichnisse oder zu allen‹ ›dass du magst Prophet sein‹
c tout riuua b daz unsih niulazze den tiuual so uram kaechoron
(T 103,1) (Freisinger Paternoster B)
›tut Reue‹ ›dass [er] uns nicht überlasse den Teufel soweit
d uuvo gisahi thu abrahaman versuchen‹
(T 451,7) c dhazs fona dhemu almahtigin fater durah inan ist al
›wo sahst du Abraham‹ uuordan, dhazs chiscaffanes ist
e ir den christanun namun intfangan eigut (I 99 f.)
(Exhortatio 9,5) ›dass von dem allmächtigen Vater durch ihn ist alles
›ihr den christlichen Namen empfangen habt‹ geworden was geschaffen ist‹

Abfolge im Im Nebensatz stehen alle Prädikatsteile in der Man kann davon ausgehen, dass sich bei der Ab-
Verbcluster rechten Satzklammer und bilden ein sog. Verb- folge im Verbcluster seit dem Ahd. im Detail zahl-
cluster. In Verbclustern gilt eine bestimmte Rei- reiche Veränderungen in den einzelnen Dialekten
henfolge: Das untergeordnete Verb geht dem über- ergeben haben: Verbanhebung ist z. B. beim Auxi-
geordneten voran (s. Kap. II.2.3.3.1). Diese strikte liar sein deutlich besser als bei haben und in man-
Abfolge gilt v. a. für zweiteilige Verbcluster beste- chen Dialekten scheint sie bei Modalverben obli-
hend aus Auxiliar (V1) und infinitem Hauptverb gatorisch geworden zu sein, d. h. dort sind nur
(V2), während bei dreiteiligen das Finitum auch Abfolgen wie in (7a, c) möglich. Dass in bestimm-
die Erst- oder Mittelstellung einnehmen kann. Die ten Registern die absolute Endstellung des Fini-
V2>V1-Regel wird vor allem im geschriebenen tums gefordert wird, ist jedoch nicht eigentlich
Standard befolgt, während in den Dialekten auch Produkt von Sprachwandel in einem engeren Sin-
heute noch größere Variation zu beobachten ist, ne, sondern von Normierung.
d. h. je nach Art des V1 (ob Auxiliar oder Modal-
verb und welches dann jeweils) sind auch V1>V2-
4.6.1.2 | Vorfeldbesetzung
Abfolgen zulässig.
Daher ist es nicht erstaunlich, dass auch im Die Grundzüge der nhd. Syntax sind im Wesentli-
Ahd. dieselbe Variation belegt ist. Nicht-Endstel- chen bereits im Ahd. ausgebildet. In den frühesten
lung des Finitums kommt bei zwei- (7a, b) wie Zeugnissen wie dem ahd. Isidor (7. Jh.) finden sich
auch bei den äußerst selten belegten dreigliedrigen noch einige signifikante Unterschiede, die den pro-
Verbclustern (7c) vor: togerm. Zustand repräsentieren. Einer dieser Un-
terschiede betrifft die Vorfeldbesetzung: Während
(7) a dáz ih daz godes lóp niuuolda giloson im heutigen Deutschen höchstens ein Satzglied im
(Reichenauer Beichte 15 f.) Vorfeld stehen kann, konnte das Vorfeld im frühen
›dass ich das Gottes Lob nicht wollte hören‹ Ahd. auch zwei Satzglieder enthalten. Diese Fälle
b dhazs ir man uuard uuordan werden in der Literatur manchmal auch als V3-
(Is 393) Stellung bezeichnet, was allerdings eine irreführen-
›dass er Mensch wurde geworden‹ de Bezeichnung ist. Man kann davon ausgehen,
c dhazs ir in sines edhiles fleische quhoman scolda dass das Verb an der gleichen Stelle wie im V2-Satz
uuerdan steht und lediglich das Vorfeld komplexer ist – z. B.
(I 560 f.) weil die CP (s. Kap. II.2.3.3.3) vielleicht noch mehr
›dass er in seines edlen Fleische kommen sollte werden‹ als eine Spezifikatorposition aufgewiesen hat.
In den meisten Fällen befindet sich bei diesen
Solche Fälle werden in der generativen Syntax als sog. V3-Sätzen zusätzlich eine leichte Konstituente
Verbanhebung (verb raising) bezeichnet. Wird wie ein Pronomen (9a) oder ein Adverb (9b) im
dagegen das Verb noch weiter angehoben, so Vorfeld, es konnten aber auch zwei schwere Kon-
dass eine nicht-verbale Konstituente (in der Regel stituenten wie eine NP und eine PP (9c) sein:
ein Objekt) das Finitum vom Rest des Verbclus-
ters trennt, spricht man von VP-Anhebung oder (9) a erino portun ih firchnissu
VP raising. Auch solche Fälle sind bereits im Ahd. (I 157)
belegt: ›eiserne Portale ich zerschmettere‹

144
4.6
Sprachgeschichte
Wortstellungswandel

b In dhemu eristin deile chuningo buohho sus ist chiuuisso des Objekts handelt und nicht um eine SVO-Wort- Extraposition
chiscriban stellung im Nebensatz, wie sie z. B. im Englischen
(I 263 f.) vorkommt, erkennt man an der V2>V1-Abfolge der
›In dem ersten Teil der Bücher der Könige so ist gewiss Verben, die in einer konsistenten SVO-Sprache wie
geschrieben‹ eben dem Englischen ausgeschlossen ist.
c dher selbo forasago auh in anderu stedu chundida,
dhazs … (11) a daz danne nah ist sumere
(I 348) (M, Matthäus XXIV,32)
›derselbe Prophet auch an anderer Stelle verkündete, ›dass dann nah ist Sommer‹
dass …‹ b daz er kitarnan megi tâto dehheina
(Muspilli 95)
Ein weiterer auffälliger Unterschied in der Vorfeld- ›dass er verbergen könnte Tat irgendeine‹
besetzung ist, dass das Vorfeld in Deklarativsätzen c daz der man harêt ze gote
(v. a. bei Bewegungsverben, Veränderungsverben (Muspilli 27)
und passivischen Konstruktionen) unbesetzt sein ›dass der Mann ruft zu Gott‹
konnte:
Im Lauf des Fnhd. bildete sich die heutige Regel
(10) a uuvrbun thô thie hirta heimuuartes heraus, dass das Nachfeld nur in wenigen Sonder-
(T 89,2) fällen besetzt ist, z. B. durch eine PP oder einen
›kehrten da die Hirten heimwärts‹ eingebetteten Nebensatz. Dies wird z. T. in einigen
b arstarp ouh ther otago Darstellungen auch als Herausbildung der Satz-
(T 363,11) klammer bezeichnet – de facto gab es aber die
›starb auch der Reiche‹ Satzklammer bereits im Ahd., nur war das Nach-
c uuard thô giheilit ther kneht in thero ziti feld noch häufiger besetzt.
(T 183,7)
›war da geheilt der Diener in dieser Zeit‹
4.6.1.4 | Negation
Heute wird das Vorfeld in solchen Sätzen mit ei- Eine zumindest auf den ersten Blick sehr auffälli-
nem pleonastischen Element, dem sog. Vorfeld-es ge Veränderung ist bei der Negation eingetreten.
oder in manchen Dialekten dem Expletivum da ge- Die Beispiele in (12) zeigen die Entwicklung auf:
füllt. In (10a, c) kommt mit dem Adverb thô zwar Im Ahd. wurde die Satznegation durch die Partikel
schon der ahd. Vorläufer des expletiven da vor, al- ni ausgedrückt, die sich klitisch an das finite Verb
lerdings eben nicht in der Vorfeldposition. Daraus anlehnte (unabhängig davon, ob das Verb in der
kann man schließen, dass sich der Status dieser linken oder rechten Satzklammer stand); diese kli-
Position seit dem Ahd. verändert hat. In erzählen- tische Partikel schwächte sich zum Mittelhoch-
den Texten der fnhd. Zeit, z. B. den Denkwürdigkei- deutschen hin zu ne/en ab und wurde durch die
ten der Helene Kottanerin (Wien 1445–1452), ist Partikel niht (< ahd. niowiht ›nichts‹/›in nichts‹)
die Vorfeldposition dann fast ausschließlich mit verstärkt; nach dem endgültigen Verschwinden
dem Expletivum da besetzt (wie das auch heute der klitischen Negation blieb nicht als alleiniger
noch v. a. in süddt. Dialekten üblich ist). Negationsausdruck zurück. Als Satznegation ist
die Partikel nicht weitgehend stellungsfest – es
handelt sich damit also auch um einen Wortstel-
4.6.1.3 | Nachfeldbesetzung
lungswandel.
Im Ahd. und auch noch im Mhd. konnten verschie-
dene Satzglieder, z. B. auch Subjekte oder Objekte, (12) a sí ni mohta inbéran sin
im Nachfeld stehen. Die Möglichkeit der Extraposi- (Otfrid I.8,3)
tion (Nachfeldbesetzung) war im Deutschen zu- ›sie NEG konnte entbehren seiner‹
nächst also wesentlich weniger eingeschränkt: In b Ich enwil es niht erwinden
(11a, b, c) sind es ein Dativ- und ein Akkusativ- (Nibelungenlied C III 117.1)
Objekt sowie eine Präpositionalphrase. Besonders ›Ich NEG-will es NEG lassen‹
interessant ist dabei (11b), weil hier eine indefinite c da er wust das er nit dot was
NP extraponiert wurde, was heute völlig ausge- (Prosalanzelot, S. 16)
schlossen ist. Dass es sich in (11b) um Extraposition ›da er wusste dass er NEG tot war‹

145
4.6
Sprachgeschichte
Syntaktischer Wandel

Diese Entwicklung ist auch als Jespersens Zyklus ned) als Kopf der Negationsphrase reanalysiert
bekannt und fand in anderen Sprachen ebenso wurde (vgl. Weiß 2002), d. h. dass man nun von
statt. Jespersens Zyklus ist eine Generalisierung einer Struktur wie (14) ausgehen kann.
über den äußeren Entwicklungsgang, er sagt aber
nichts darüber aus, wie die Entwicklung auf der (14) NegP
strukturellen Ebene abgelaufen ist. Wenn man,
Spez Neg'
wie in der generativen Syntax üblich, zwischen
Oberflächen- und Tiefenstruktur unterscheidet
VP Neg
(s. Kap. II.2.3.3.3), dann muss prinzipiell keine
Isomorphie zwischen beiden Ebenen vorliegen – ned
und bei der Negation ist das tatsächlich der Fall
(vgl. Jäger 2008). Sollte dies der Fall sein, hätte Jespersens Zyklus
Negationsphrase Es ist üblich, für die Negation auf der struktu- im Bairischen bereits die nächste Stufe erreicht.
rellen Ebene eine Negationsphrase wie in (13) an- In der syntaktischen Grammatikalisierungsfor-
zusetzen, so dass es zwei Positionen gibt, in de- schung wird die Entwicklung von Spezifikatoren
nen negative Ausdrücke stehen können, nämlich zu Phrasenköpfen, wie er im Bairischen vorliegt,
einmal den Phrasenkopf Neg sowie eine weitere als ein weitverbreiteter Grammatikalisierungs-
Position, die als Spezifikator bezeichnet wird. Das pfad angesehen (van Gelderen 2004). Mit der
Negationsklitikum wird in Neg basisgeneriert, das strukturellen Rekonstruktion (Spezifikatoren >
verstärkende Element nicht dagegen im Spezifika- Phrasenköpfe) hat man auch eine Erklärung da-
tor. für, warum Jespersens Zyklus gerade so verläuft
wie er verläuft.
(13) NegP

Spez Neg'
4.6.2 | Verlauf und Ursachen syntak-
nicht VP Neg
tischen Wandels
ni/ne/ø
Wie die Beispiele zeigen, ist auch Syntaxwandel
Diese Struktur unterliegt seit dem Ahd. der Nega- nicht chaotisch. Vielmehr gibt es bestimmte regel-
tionssyntax des Deutschen und sie blieb unverän- mäßige Prozesse (Reanalyse, s. 4.6.2.1) und Ten-
dert. Was sich geändert hat, ist die morphologi- denzen (synthetisch vs. analytisch, s. 4.6.2.2),
sche Füllung des Phrasenkopfes, insofern als das die den Verlauf steuern. Syntaxwandel tritt vor al-
Negationsklitikum untergegangen ist. lem beim Spracherwerb als Parameterwechsel
Mehrfachnegation In manchen Dialekten wie dem Bairischen ist (s. Vertiefungskasten) auf, kann aber auch durch
vermutlich eine zusätzliche Entwicklung eingetre- Sprachkontakt (4.6.2.3) ausgelöst werden.
ten. Im Ahd. gab es eine weitere Besonderheit der
Negationssyntax, nämlich dass das Negationskliti-
4.6.2.1 | Reanalyse
kum auch dann notwendig war, wenn bereits ne-
gierte Indefinitpronomen wie nioman ›niemand‹ Reanalyse ist uns schon als eine Art morphologi-
vorhanden waren. Diese Eigenschaft wird als Ne- schen Wandels begegnet (s. 4.5.2.2). Bei der Ne-
gationskongruenz oder -harmonie (engl. negati- gationssyntax haben wir auch ein Beispiel für
ve concord) bezeichnet und ist im Deutschen zu- syntaktische Reanalyse kennengelernt: die Gram-
mindest auf dialektaler Ebene von ahd. Zeit bis matikalisierung des ursprünglich nur verstärken-
heute belegt. Mit einer Struktur wie (13), in der den Elements nicht zur Negationspartikel. Hier ist
das negierte Indefinitpronomen im Spezifikator zu beachten, dass eigentlich nur dann von syntak-
platziert werden kann, ist die syntaktische Ablei- tischer Reanalyse gesprochen werden kann, wenn
tung kein prinzipielles Problem, da alles, was sich sie mit der Entwicklung vom Spezifikator zum
innerhalb dieser Negationsphrase befindet, se- Phrasenkopf einhergeht, wie das im Bairischen der
mantisch sozusagen als Einfachnegation berech- Fall ist. Nach einigen Analysen ist im Standard-
net wird. In Dialekten wie dem Bairischen, in dem deutschen die Negation nicht weiterhin ein Spe-
diese Mehrfachnegation immer noch möglich ist, zifikator (vgl. Jäger 2008), so dass hier nur die
kann man annehmen, dass die Partikel nicht (bair. morphologische Reanalyse eines Adverbs als Ne-

146
4.6
Sprachgeschichte
Verlauf und Ursachen
syntaktischen Wandels

weil kierte Form des Artikels oftmals ein klitisches d'), Beispiel
Die Konjunktion weil hat sich aus dem Nomen durch Schwa-Tilgung am Nomen (s. 4.4.1.1) so-
Weile entwickelt. Ausgangspunkt der Grammati- wie durch Weglassung der Konjunktion dass an
kalisierung war eine Konstruktion wie mhd. (al) phonologischer Substanz verloren hat. Die so
die wı̄le daz ›die ganze Zeit, in der‹, bei der es abgeschwächte Form, bei der der Artikel vermut-
sich um eine NP handelt, die einen durch die lich durch Assimilation irgendwann gänzlich ver-
Konjunktion dass eingeleiteten Relativsatz ent- schwunden ist, konnte den Eindruck erwecken,
hält. Den Weg zur Konjunktion weil kann man also ob sie den ursprünglichen Relativsatz einlei-
sich so vorstellen, dass dieser komplexe Aus- ten würde – der damit kein Relativsatz mehr war,
druck durch Klitisierung des Artikels an das No- sondern ein temporaler Adverbialsatz.
men (auch in heutigen Dialekten ist die unmar-

gationspartikel vorliegt. Zwischen morphologi- Eine von Axel (2009) vorgeschlagene alternative Er-
scher und syntaktischer Reanalyse ist aber nicht klärung geht davon aus, dass die Konjunktion dass
immer strikt zu trennen (und in der Grammatika- zunächst als Relativsatzpartikel (d.i. Relativsatzkon- dass: vom Relativ-
lisierungsforschung wird diese Unterscheidung junktion) grammatikalisiert wurde – durch Reanaly- pronomen
auch nicht immer gemacht), so dass wir der Ein- se des Relativpronomens das. Im Ahd. ist diese Ver- zur Konjunktion
fachheit halber von morphosyntaktischer Reanaly- wendung hauptsächlich bei Otfrid belegt, temporale
se sprechen werden, wenn wir uns nun zwei wei- dass-Relativsätze finden sich aber vom Mhd. bis
tere Beispiele aus dem Deutschen anschauen. zum Nhd. (s. oben die Ausführungen zur Entste-
Durch morphosyntaktische Reanalyse sind vie- hung von weil oder nhd. Sätze wie das letzte Mal,
le der heutigen Konjunktionen entstanden. Sie ge- dass ich ihn sah). In einem zweiten Grammatika-
hen auf Inhaltswörter oder andere Funktionswör- lisierungsschritt wird die Relativsatzpartikel als
ter zurück (s. Beispiel oben). Komplementierer generalisiert in syntaktischen Um-
Die Reanalyse des Nomens als Konjunktion gebungen, in denen das als Bezugsnomen zum Re-
hatte strukturelle Konsequenzen bzw. ging mit ei- lativsatz fungierende Pronomen im Matrixsatz weg-
ner Veränderung der zugrundeliegenden Struktur gelassen wurde. Der Vorteil dieser Erklärung liegt
einher: Die NP, die eine CP (den Relativsatz) ein- auf der Hand: Die genannten problematischen An-
bettet, wird selbst als CP reanalysiert, weil näm- nahmen der Übertrittstheorie werden vermieden, da
lich der NP-Kopf als C-Element reanalysiert wird, das Lexem, aus dem sich die Konjunktion entwi-
vgl. (15): ckelt hat, schon Bestandteil des relevanten Satzes
ist, der zudem bereits ein Nebensatz ist, so dass
(15) [NP die [N wîle] [CP [C daz] …]] Ÿ [CP[C weil] …] man auch kein Verbstellungsproblem hat. Die
beiden postulierten Entwicklungsschritte (1. Re-
Aus der Bedeutung des Nomens entwickelte sich lativpronomen o Relativpartikel, 2. Relativparti-
zunächst eine temporale Konjunktion, die in ihren kel o Komplementierer) sind wesentlich unpro-
temporalen Bedeutungen ›solange (als)‹ und ›wäh- blematischer und auch in anderen Sprachen
rend‹ noch bis ins 18. Jh. in Gebrauch war. Die nachweisbar.
kausale Bedeutung, die bereits seit dem 14. und
15. Jh. nachweisbar ist, ist vermutlich durch eine
4.6.2.2 | Synthetisch vs. Analytisch
konversationelle Implikatur (s. Kap. II.3.6.1) ent-
standen: Die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse Dass Syntax und Morphologie eng zusammen ge-
wurde als Ursache-Wirkung-Relation gedeutet. hören, haben wir schon öfters feststellen kön-
Die Konjunktion dass, mit der Komplementsätze nen. So ist morphologischer Wandel häufig an
eingeleitet werden, ist aus einem Funktionswort ent- bestimmte syntaktische Strukturen gebunden
standen. Traditionellerweise erklärt man die Entste- (s. 4.5.2) oder die Syntax gleicht Defizite der
hung dadurch, dass das Pronomen das, ursprüng- Morphologie aus. Ein bekanntes Beispiel ist das
lich Teil des Matrixsatzes und kataphorisch auf Englische, dessen einst vorhandene Kasusmor-
einen asyndetisch angeschlossenen zweiten Haupt- phologie bis auf Reste im pronominalen Bereich
satz verweisend, in diesen zweiten Satz übergetre- verschwunden ist. Die Funktion der Kasus Nomi-
ten sei, als es als Konjunktion reanalysiert wurde. nativ und Akkusativ ist die Markierung der syn-

147
4.6
Sprachgeschichte
Syntaktischer Wandel

taktischen Funktionen Subjekt und (direktes) vor dem Verb immer das Subjekt ist und die post-
Objekt. Wenn eine Sprache wie das Englische die verbale das Objekt.
entsprechende Kasusmorphologie nicht mehr be-
sitzt, kann sie das über eine rigide Wortstellung (16) a John saw Henry
kompensieren. Im Falle der SVO-Sprache Eng- b Henry saw John
lisch (s. Kap. II.2.3.3.2) heißt das, dass die NP

Zur Vertiefung

Spracherwerb, Reanalyse und Parameterwechsel


Sprachwandel im Bereich der Morphosyntax bedeutet, dass Kinder eine minimal andere Grammatik als die ihrer
Eltern erwerben, weil sie im Verlauf ihres Erstspracherwerbs den sprachlichen Output ihrer Umgebung, der den
Input für ihren Spracherwerb darstellt, teilweise reanalysieren.
Syntaktische Reanalyse heißt, dass einer linearen Abfolge von Morphemen/Lexemen eine neue syntaktische
Struktur zugeordnet wird. Das kann zu einem sog. Parameterwechsel führen. Die dahinter stehende Annahme
ist, dass die Universalgrammatik (UG), die zu den angeborenen kognitiven Fähigkeiten der Spezies Homo sapi-
ens sapiens gehört, aus Prinzipien (d.i. Wohlgeformtheitsbedingungen) besteht, die einzelsprachlich unter-
schiedlich ausgeprägt bzw. festgelegt, d. h. parametrisiert sein können. Eine einzelsprachliche Parametrisierung
kann sich infolge von Reanalysen ändern.
In 4.6.1.1 haben wir gesehen, dass die germ. Sprachen ursprünglich SOV-Sprachen waren, was für das Deutsche
in Nebensätzen immer noch gilt. In anderen germ. Sprachen hat sich die Abfolge von Objekt und Verb umge-
kehrt, und so ist z. B. das Englische heute eine VO-Sprache. Vereinfacht kann man davon ausgehen, dass ein
UG-Prinzip besagt, dass eine VP (mindestens) aus einem Verb (= Kopf) und einem Objekt (= Komplement)
besteht und dass die UG selbst aber keine Angaben zur Linearisierung der beiden VP-Konstituenten macht. Dies
ist dann einzelsprachlich geregelt:
Beispiel: OV > VO (z. B. Englisch und (partiell) Jiddisch)
UG-Prinzip: VP o V NPObjekt
Parameter: V steht links/rechts von NPObjekt
Wie kann es zu so einem Parameterwechsel kommen? Eine denkbare Möglichkeit ist, dass Kinder eine ambige
Evidenz vorfinden, d. h. dass sie sowohl Äußerungen mit OV- wie auch VO-Abfolgen begegnen. Ein Beispiel da-
für ist das Jiddische (Santorini 1993), eigentlich eine OV-Sprache, wie man in (1a) an der Abfolge V2>V1 in der
rechten Satzklammer sehen kann, was ja nur bei Verbend-Sprachen möglich ist. Da aber auch VP-Anhebung
(s. 4.6.1.1) oder Extraposition (s. 4.6.1.3) vorkamen, trafen Jiddisch lernende Kinder in früherer Zeit sowohl auf
OV- als auch auf VO-Abfolgen (1a vs. b). Für die VO-Abfolge gibt es im Prinzip zwei strukturelle Ableitungen:
Man kann sie wie in (1c) über Extraposition aus einer OV-Basis ableiten oder wie in (1d) gleich auf eine VO-
Struktur zurückführen.

(1) a ven der vatr nur doyts leyan kan


b ven er nit veys eyn guti veyd
c ven er nit ti veys [eyn guti veyd]i OV
d ven er nit veys [eyn guti veyd] VO

Die Kinder können also allein aufgrund der Evidenz in (1b) nicht entscheiden, ob die zu erlernende Sprache
eine OV- oder eine VO-Sprache ist. Auch die Vorkommenshäufigkeiten geben keinen eindeutigen Aufschluss da-
rüber: Es kann ja durchaus sein, dass OV- und VO-Abfolgen etwa gleich häufig vorkommen. Tritt nun die ein-
deutige Evidenz für OV – wie etwa die V2>V1-Abfolge im Verbcluster in (1a) – weniger häufig auf, kann das
dazu führen, dass die Kinder Sätze wie (1b) strukturell wie in (1d) reanalysieren.
Damit ist aus einer OV- eine VO-Sprache geworden. Die weiterführende Konsequenz ist dann, dass die neue
Grammatik den Kindern die Produktion von Sätzen wie (1a) nicht mehr ermöglicht. Im Englischen ist dies tat-
sächlich der Fall: Dort sind solche Strukturen ungrammatisch. Im Jiddischen dagegen scheint die Entwicklung
zur VO-Sprache nur zur Hälfte eingetreten zu sein: Nach Santorini (1993) ist das moderne Jiddische eine »ge-
mischte OV/VO-Sprache«.

148
4.7
Sprachgeschichte
Quantitativer
semantischer Wandel

Eine etwas andere Art der Aufgabenverlagerung 4.6.2.3 | Sprachkontakt und syntaktischer
von der Morphologie in die Syntax liegt vor, wenn Wandel
synthetische durch analytische Formen ersetzt
werden. Wenn grammatische Merkmale durch Der Wandel von einer OV- zu einer VO-Sprache,
entsprechende Flexion am Wort selbst ausge- der im Englischen vollständig eingetreten ist, mag
drückt werden, spricht man von synthetischer mit einem weiteren Faktor zusammenhängen,
Bildung. Das Gegenteil davon sind analytische dem Sprachkontakt. In 4.2.3 haben wir bereits er-
Bildungen, die vorliegen, wenn ein Merkmal wähnt, dass dabei wohl skandinavischer Einfluss
durch Umschreibung auf mehrere Morpheme ver- vorlag. Ob ein Wandel extern durch Sprachkontakt
teilt wird. Im Deutschen ist diese Unterscheidung oder intern durch vorangehende phonologische
beispielsweise bei den Tempusformen relevant, oder morphologische Veränderungen bewirkt wur-
wo man neben synthetischen (Präsens, Präteri- de, spielt für den Ablauf als solchen eigentlich kei-
tum) auch analytisch gebildete Formen (Perfekt, ne Rolle, wenn in beiden Fällen der Sprachwandel
Plusquamperfekt, Futur) hat. In der Diachronie beim Spracherwerb entsteht.
kann man häufig beobachten, dass synthetische Bei Sprachkontakt kann es aber auch zu Entleh- Syntaktische Entlehnung
durch analytische Formen ersetzt werden: Kannte nungen kommen, d. h. zur Übernahme fremd-
das Indogermanische z. B. noch ein synthetisches sprachlicher syntaktischer Muster (Lehnsyntax)
Passiv (vgl. das Lateinische), so bildet das Deut- oder zu (qualitativer und quantitativer) Ausbrei-
sche das Passiv analytisch mithilfe des Auxiliars tung eigensprachlicher syntaktischer Muster, die
werden und des Partizips II. Die umgekehrte Ent- mit fremdsprachlichen syntaktischen Mustern
wicklung ist natürlich auch möglich, kam aber übereinstimmen oder diesen ähneln (Konver-
zumindest im Deutschen seltener vor: Ein Bei- genz). So begegnen z. B. syntaktische Latinismen
spiel (allerdings bereits aus germ. Zeit) ist das im Humanistendeutsch: nachgestellte erweiterte
Präteritum schwacher Verben, das mittels des Präsenzpartizipien (ain huswirt gest zu tisch laden-
Dentalsuffixes -t- (germ. -ta) gebildet wird (z. B. de) oder pränominale Genitive zwischen Adjektiv-
leg-t-e). Es ist nicht unplausibel anzunehmen, attribut und Nomen ((bei) dem alten irer vater
dass dieses Dentalsuffix auf das Verb tun zurück- glauben). Die Entlehnung syntaktischer Muster
geht, so dass ursprünglich eine analytische Bil- ist also generell möglich und kann prinzipiell auch
dung vorlag (vgl. Speyer 2007, S. 80 f.). Die Aus- zu einem tiefgreifenden syntaktischen Wandel
gangskonstruktion hatte daher wohl einige (etwa im Englischen) führen, für die Entwicklung
Ähnlichkeit mit den heute dialektal noch sehr der deutschen Syntax spielte die Lehnsyntax aber
verbreiteten tun-Umschreibungen z. B. bei Kon- keine bedeutende Rolle, auch wenn das früher an-
junktiv (ich tät das machen) oder Verlaufsform ders gesehen wurde. Syntaktische Entlehnungen
(er tut gerade essen). ins Deutsche waren immer auf bestimmter Textsor-
ten oder Stilregister beschränkt und verschwanden
nach relativ kurzer Zeit wieder.

4.7 | Semantischer Wandel


4.7.1 | Quantitativer semantischer skriptiven Gehalt eines Zeichens aus, d. h. seine
Wandel Ausdrucksbedeutung. Über die Ausdrucksbedeu-
tung eines Zeichens bestimmt sich seine Referen-
Im Kapitel II.3.2.4 wurden verschiedene Bedeu- tenmenge, d. h. worauf damit Bezug genommen
tungsbegriffe vorgestellt, die in der Semantik ver- bzw. referiert werden kann (im Falle von ›Katze‹
wendet werden. Dort wurde unter anderem ausge- also auf eine oder mehrere Katzen).
führt, dass die Bedeutung eines sprachlichen Im Lauf der Zeit kann sich sowohl die Aus-
Zeichens aus zwei Teilen besteht. Die Bedeutung drucksbedeutung als auch die Menge der Referen-
des sprachlichen Zeichens ›Katze‹ beinhaltet Infor- ten eines Wortes ändern, mit der Konsequenz,
mationen wie, dass es sich um Haustiere handelt, dass die Bedeutung sich erweitert oder verengt.
die vier Beine haben, miauen usw. Diese Informa- Bedeutungserweiterung: Im Ahd. hatte das No-
tionen machen den begrifflichen Inhalt oder de- men tior ›Tier‹ die Bedeutung ›wildes, vierbeiniges

149
4.7
Sprachgeschichte
Semantischer Wandel

Tier‹. Anders als im Nhd. fielen Vögel nicht unter Entwicklung eingeschlagen, da im heutigen Engli-
diesen Begriff: Im sog. Jüngeren Physiologus wird schen das Wort deer nur mehr ›Hirsch‹ bedeutet.
gesagt, dass darin »uon tîeren unde uon fogilen« Die Menge der Referenten von neuengl. deer bildet
berichtet werde (Meibauer u. a. 2007, S. 325). Die also eine Untermenge der Referenten von altengl.
heutige Bedeutung ›nicht-menschliches, nicht- deor, wobei diese Einschränkung Resultat einer
pflanzliches Lebewesen‹ ist Resultat einer Bedeu- Hinzufügung von Merkmalen zur Ausdrucksbe-
tungserweiterung, da Vögel inzwischen auch mit deutung ist (im konkreten Fall etwa Geweihträger,
dem Ausdruck Tier bezeichnet werden können. jagdbar usw.). Bei Bedeutungsverengung erweitert
Bedeutungserweiterungen kommen dadurch zu- sich in gewissem Sinne die Ausdrucksbedeutung
stande, dass ein oder mehrere spezifische Merk- eines Ausdrucks, wodurch seine Anwendbarkeit
male – im konkreten Fall etwa das Merkmal der eingeschränkt wird. Die gegensätzliche Entwick-
Vierbeinigkeit – aus der Ausdrucksbedeutung ge- lung im Deutschen und Englischen zeigt, dass Be-
strichen werden, so dass der Ausdruck auf eine deutungswandel nicht prognostizierbar ist.
größere Referentenmenge anwendbar ist. Etwas
vereinfacht ausgedrückt, kann man sagen, dass
eine Verkleinerung der Ausdrucksbedeutung
(Streichung von Merkmalen) eine Vergrößerung 4.7.2 | Qualitativer semantischer Wandel
der Referentenmenge zur Folge hat.
Vetter und Oheim Ähnlich, aber etwas komplexer ist die Bedeu- Bedeutung im Sinne von Ausdrucksbedeutung
tungsentwicklung von ahd. fetiro ›Bruder des Va- wird auch als deskriptiver Gehalt eines Ausdrucks
ters‹, das im Fnhd. die Bedeutung ›entfernter bezeichnet (s. Kap. II.3.3.1.1). Für den angemes-
männlicher Verwandter‹ angenommen hat. Ur- senen Gebrauch eines sprachlichen Ausdrucks
sprünglich wurden der Bruder des Vaters und der spielen aber darüber hinausgehende Bedeutungs-
Bruder der Mutter unterschiedlich bezeichnet, aspekte eine wichtige Rolle, die herkömmlicher-
nämlich mit Vetter und Oheim. Nachdem diese weise unter dem Begriff der Konnotation (im Ge-
Differenzierung aufgegeben wurde und sich das gensatz zur Denotation) zusammengefasst werden
aus dem Franz. entlehnte Onkel für beide etablier- (zu expressiver und sozialer Bedeutung s. Kap.
te, nahm Vetter eine neue Bedeutung an, die nicht II.3.3.4). Über die Konnotation eines Ausdrucks
nur eine Erweiterung gegenüber der alten Bedeu- wird die Einstellung eines Sprechers/einer Spre-
tung darstellt, sondern zugleich eine Bedeutungs- cherin zu dem vom Ausdruck bezeichneten Ding
verschiebung (s. 4.7.3.2) innerhalb des semanti- transportiert. Solche Einstellungen können positiv,
schen Feldes der Verwandtschaftsbezeichnungen. negativ oder auch neutral sein – und sie können
Bedeutungsverengung: Wie gesehen, hat das sich im Laufe der Zeit ändern.
ahd. Wort tior eine Bedeutungserweiterung erfah- Bedeutungsverbesserung (Meliorisierung) ist
ren. Das damit verwandte und ursprünglich be- bei Ausdrücken zu beobachten, deren Denotat
deutungsgleiche altengl. deor hat eine gegenteilige eine soziale Aufwertung erfahren hat. Ein be-
kanntes Beispiel ist der Marschall. Im Ahd. be-
zeichnete das Wort marahscalc einen ›Pferde-
Beispiele für Bedeutungsveränderung: knecht‹ (marah ›Pferd‹, scalc ›Diener‹), also den
fahren und Fass Diener, der die Pferde besorgt. Daraus wurde
Das ahd. Verb faran (mhd. varn) bezeichnete dann zunächst ein Hofbeamter, der die Pferde
jede Art von Fortbewegung, konnte also auch und das Gesinde beaufsichtigt sowie für die Gäste
für ›gehen‹ oder ›reiten‹ verwendet werden. Im und ihr Gefolge sorgt. Später ging der Bezug zur
Nhd. ist die Bedeutung von ›fahren‹ dagegen Pferdeaufsicht verloren und der Ausdruck be-
eingeschränkt auf die Fortbewegung mithilfe ei- zeichnete städtische Beamte oder einen hohen
nes Fahrzeugs (›etwas fahren‹ – transitiv, ›mit Beamtenposten innerhalb des Deutschen Ordens.
etwas fahren‹ – intransitiv). Greifbar ist die ur- Heute steht die Bezeichnung ›Marschall‹ für ei-
sprünglich weitere Bedeutung noch in dem Prä- nen hohen militärischen Rang.
fixverb entfahren (ahd. intfaran) im Sinne von Doch nicht nur Konkreta können eine Meliorisie-
›entweichen‹. Das ahd. vaz war ein Gefäß jeg- rung erfahren, sondern auch Abstrakta. Im Ahd.
licher Art, während heute Fässer große zylin- hatte das Nomen arabeit noch die Bedeutung ›Müh-
drische Behälter für Wein/Bier/usw. sind. sal, Arbeit‹, im Nhd. ist es dagegen die Bezeichnung
unter anderem für die berufliche Tätigkeit. Der Aus-

150
4.7
Sprachgeschichte
Ursachen semantischen
Wandels

druck ist von seiner Konnotation her neutral, auch 4.7.3 | Ursachen semantischen Wandels
wenn manche ungern in die Arbeit gehen.
Bedeutungsverschlechterung (Pejorisierung) Wie die Beispiele insbesondere für Meliorisierung
kommt offenbar häufiger vor als das Gegenteil, die und Pejorisierung gezeigt haben, ändern sich
Bedeutungsverbesserung (Nübling u. a. 2006, Wortbedeutungen häufig mit der außersprachli-
S. 115). Auch hier geht die Bedeutungsentwicklung chen Welt (z. B. Veränderung oder Nicht-mehr-
häufig mit einer Änderung des sozialen Status ein- Existieren bestimmter Gegenstände und Prakti-
her. Die Bezeichnungen aus dem Wortfeld ›Frau‹ ken). Daneben sind kognitive Verfahren wie
geben davon einen guten Eindruck. Man kann hier Metapher/Metonymie sowie der kommunikative
sogar so etwas wie Kettenreaktionen erkennen, wo Gebrauch und seine informativen/rationalen, sozi-
eine Veränderung eine weitere entweder durch alen, ästhetischen Aspekte (Pragmatik: Konversa-
eine Sog- oder durch eine Schubwirkung (drag/ tionsmaximen, Implikaturen etc.) dafür verant-
push chain) veranlasst. Im Mhd. war vrouwe die wortlich, dass sich Wortbedeutungen verändern.
sozial hochstehende Herrin oder Dame, die neu- Die wichtigsten Formen sollen kurz vorgestellt
trale Bezeichnung für alle Frauen war wîp. Ein werden.
Lied Walthers von der Vogelweide beginnt mit der Metapher (Bedeutungsübertragung): Bei ei-
Zeile: Min frowe ist ein ungenædic wîp ›Meine Her- ner Bedeutungsübertragung liegt eine metaphori-
rin ist eine erbarmungslose Frau‹. Heute wird Frau sche Sprachverwendung vor. Eine Metapher ba-
als neutrale Bezeichnung verwendet, während siert auf der Ähnlichkeit zwischen zwei Gegen-
Weib eher abfällig klingt (in Dialekten aber immer ständen oder Begriffen (tertium comparationis),
noch in mhd. Bedeutung verwendet wird). Beide beinhaltet also immer einen Vergleich. Ob die
Bezeichnungen haben sich also verschlechtert, Ähnlichkeit tatsächlich existiert oder durch die
was auch für Frau gilt, obwohl es keine negative Metapher erst postuliert wird, ist dabei ohne Be- Metapher und Metonymie
Konnotation angenommen hat. Bei Frau liegt zu- lang. Je nach Lexikalisierungsgrad kann zwi-
dem eine Bedeutungserweiterung vor. Wenn man schen kreativen, konventionalisierten und lexi-
annimmt, dass diese Ausweitung zuerst eintrat, kalisierten Metaphern differenziert werden (aus-
dann liegt hier eine Schubkette vor. führlicher dazu s. Kap. II.3.4.2).
Ähnlich ist die Bedeutungsentwicklung von Ein illustratives Beispiel ist das Wort Flügel, das
mhd. maget und dierne verlaufen, die zunächst ursprünglich ›Vogelschwinge‹ bedeutete und das
eine ›unverheiratete, junge Frau‹ bzw. ›Dienerin‹ später auf Dinge übertragen wurde, die eine Ähn-
bezeichneten. Das nhd. Wort Magd hat inzwi- lichkeit damit aufweisen. Zunächst war das eine
schen die Bedeutung ›Dienerin‹ und nhd. Dirne Harfe mit entsprechender Form und erst später das
meint ›Prostituierte‹. Je nachdem, welche Ent- heute noch damit bezeichnete Tasteninstrument.
wicklung eher eintrat, lag eine Sog- (Dirne > Inzwischen werden damit auch Dinge wie der Teil
Magd) oder Schubkette (Magd > Dirne) vor. einer politischen Bewegung bezeichnet, wo die
Die Entwicklung von aengl. cwên ›Ehefrau‹ zu Ähnlichkeit mit der Vogelschwinge eher abstrakter
neuengl. queen ›Königin‹ über die Zwischenstufe Natur ist.
›Ehefrau des Königs‹ zeigt übrigens, dass im Be- Metonymie (Bedeutungsverschiebung) basiert
reich des Wortfeldes Frau auch Meliorisierungen auf sachlich-begrifflichen (räumlichen, zeitlichen,
eingetreten sind. Außerdem gibt es auch Beispiele kausalen usw.) Zusammenhängen zweier Gegen-
für qualitativen Wandel, die nicht mit einer Ände- stände/Begriffe, was auch als semantische Konti-
rung des Sozialstatus einhergehen. So hatte ahd. guität bezeichnet wird. Metonymische Prägungen
stinkan ›riechen‹ bzw. stank ›Geruch‹ eine neutrale sind Guillotine (Person o Produkt), Gouda (Ort o
Bedeutung und konnte sogar im Sinne von ›duften‹ Produkt), Brille (Material: berille ›Halbedelstein
bzw. ›Duft, Wohlgeruch‹ verwendet werden. In ei- Beryll‹ o Produkt) oder Ärmel (Körperteil: ›klei-
nem frühmhd. Text (Himmel und Hölle) wird »der ner Arm‹ o Kleidungsstück).
wundertiuro bimenstank aller gotes wolon« (›der
wunderköstliche Würzduft aller Gottesgaben‹) ge-
4.7.3.1 | Pragmatische Ursachen
priesen. Heute ist der Geruch, der mit stinken/Ge-
stank gemeint ist, kein wohlriechender mehr. Neben den beiden grundlegenden kognitiven Ver-
fahren der Metapher und Metonymie sind eine
Reihe pragmatischer Effekte für Bedeutungswan-

151
4.7
Sprachgeschichte
Semantischer Wandel

del verantwortlich, wenn diese nämlich Teil der Diese Kontextbedeutung ist bei während inzwi-
lexikalischen Bedeutung werden. schen Teil der lexikalischen Bedeutung, so dass es
Von ›schwach‹ Euphemismus: Unangenehmes kann durch eine heute temporal oder adversativ gebraucht werden
zu ›krank‹ verschleiernde Ausdrucksweise umschrieben und kann. Analog ist die Entwicklung der Konjunktion
etwas Alltägliches durch eine beschönigende Re- weil zu rekonstruieren: Sie verlief von temporal
deweise hervorgehoben werden. Das führte bei- (18a) zu kausal (18c), wobei ambige Sätze wie
spielweise dazu, dass mhd. kranc, das zunächst (18b) eine Zwischenstufe bildeten. Bei weil ist die
einfach nur ›schwach‹ bedeutete, seine heutige temporale Bedeutung inzwischen untergegangen.
Bedeutung im Sinne von ›nicht gesund‹ erhielt,
weil das Wort beschönigend/verschleiernd be- (18) a weil [›während/solange‹] der hund bellt, so frist der wolff
nutzt wurde, um Kranke damit zu bezeichnen. das schaaf
Ähnlich ist die Bedeutungsverschlechterung von b weil [›während/weil‹] die gemahlin sehr betrübt war,
mhd. dierne zu nhd. Dirne zu erklären – und wohl schickte er seinen tantzmeister
auch von vrouwe zu Frau. Die schmeichelnde An- c weil [›weil‹] es viel regnete, kam es zu einer Überschwem-
rede jedes wîbes als vrouwe hatte diese Verallge- mung
meinerung der Bezeichnung zur Folge. Hier liegt
ein Fall vor, bei dem eine euphemistische Aus-
4.7.3.2 | Lexikalische Beziehungen
drucksweise zur Aufwertung des Bezeichneten
dienen sollte und zur Abwertung der Bezeichnung Wörter und Bedeutungen haben untereinander
führte. vielfältige Beziehungen. In unserem Zusammen-
Kopf Ironie/Sarkasmus: Uneigentliches Sprechen hang sind vor allem Polysemie und Homonymie
liegt auch bei Ironie und Sarkasmus vor, allerdings relevant (s. Kap. II.3.4.3).
steht dabei die vom Sprecher intendierte Bedeu- N Von Polysemie spricht man, wenn ein Lexem
tung im Kontrast zur lexikalischen Bedeutung. Ein mehrere Bedeutungen hat: Man erinnere sich
drastisches Beispiel ist die Bedeutungsentwick- an das Beispiel Flügel, das ja unter anderem ei-
lung des Wortes Kopf: bedeutete es wie das ent- nen Körperteil eines Vogel bezeichnet, aber
sprechende engl. Wort cup im Mhd. noch ›Becher‹, auch ein Musikinstrument. Da die zweite Be-
kam die heutige Bedeutung als Kriegssarkasmus in deutung durch Bedeutungsübertragung aus der
Gebrauch, was offenbar von der Sitte herrührte, ersten entstanden ist, geht man davon aus, dass
dass man menschliche Schädel als Trinkgefäß be- es sich um ein Lexem handelt.
nutzte. In der heutigen Bedeutung verdrängte es N Homonymie liegt dagegen vor, wenn eine Laut-
ab dem 16. Jh. das Wort Haupt. gestalt mit zwei Bedeutungen verbunden, die in
Implikaturen: Bedeutungsaspekte, die zwar keinem erkennbaren Verhältnis zueinander ste-
nicht Teil der lexikalischen Bedeutung sind, aber hen.
mitgemeint werden, werden als Implikaturen be- Homonyme sind häufig etymologisch nicht ver-
zeichnet (s. Kap. II.3.6.1). Diese sind beispielswei- wandte Lexeme, die sich auch in grammatischen
se für die Bedeutungsentwicklung einiger adverbi- Merkmalen unterscheiden können (der/die Kie-
eller Konjunktionen im Deutschen verantwortlich. fer). In diesen Fällen ist die identische Lautgestalt
Konjunktionen Die Konjunktion während hat aufgrund ihres Her- meist ein Zufallsprodukt phonologischen Wandels:
kommens vom Verb währen primär eine temporale Der Kiefer geht auf mhd. kiver zurück, während
Bedeutung: Es drückt die Gleichzeitigkeit zweier die Kiefer aus ahd. kienforaha ›Kien-Föhre‹ über
Ereignisse aus. Handelt es sich dabei um gleich- fnhd. kienfer entstanden ist. Homonyme können
wertige Ereignisse wie in (17a) ist nur die tempo- aber auch das Produkt einer Wortspaltung sein,
rale Lesart möglich. In (17b) bilden die beiden Er- wenn sich die unterschiedlichen Bedeutungen ei-
eignisse aber einen Gegensatz (arbeiten vs. nes polysemen Lexems verselbständigen. Das er-
faulenzen), so dass bei der Äußerung von (17b) kennt man dann beispielsweise an unterschiedli-
ein Vorwurf an den Angesprochenen mitschwingt. chen Pluralformen: Band – Plural Bänder
›Textilstreifen‹ vs. Plural Bande ›(freundschaftli-
(17) a während ich die Fenster putze, kannst du schon mal anfan- che/verwandtschaftliche) Verbindungen‹.
gen zu kochen Homonymenflucht ist die Tendenz, Homony-
b während ich die Fenster putze, machst du ein Nickerchen mie im Lexikon abzubauen. Darunter versteht
man die Einschränkung oder das Aussterben einer
Bedeutung oder Verwendungsweise, die von ei-

152
4.7
Sprachgeschichte
Ursachen semantischen
Wandels

nem lautlich verschiedenen Lexem übernommen spiel dafür ist die Bedeutungsentwicklung von
wird. Ein Beispiel hierfür ist Strauß, was noch im Ross, das heute als Bezeichnung für ein stattliches,
Mhd. auch ›Kampf‹ bedeuten konnte. Diese Bedeu- prächtiges Pferd verwendet wird. Ursprünglich
tung ist noch in Redewendungen wie einen Strauß war es die generelle Bezeichnung für Pferd, aus
ausfechten greifbar, ansonsten aber mit dem Le- dieser Bedeutung wurde es aber durch sein Syno-
xem nicht mehr systematisch verknüpft. nym Pferd verdrängt, einem Lehnwort mittellat.-
Synonymenflucht ist die Bedeutungsdifferen- kelt. Ursprungs, womit zunächst nur Kurier- und
zierung zur Vermeidung von Synonymen. Ein Bei- Postpferde gemeint waren.

Literatur
Axel, Katrin (2007): Studies in Old High German Syntax. Longobardi, Giuseppe (2001): »Formal Syntax, Diachronic
Left Sentence Periphery, Verb Placement and Verb Minimalism, and Etymology: the History of French
Second. Amsterdam/Philadelphia. chez«. In: Linguistic Inquiry 32, S. 275–302.
— (2009): »Die Entstehung des dass-Satzes – ein neues Meibauer, Jörg u. a. (2007): Einführung in die germanisti-
Szenario«. In: Koordination und Subordination im sche Linguistik. 2., aktual. Aufl. Stuttgart/Weimar.
Deutschen. Hg. von Veronika Ehrich, Christian Nübling, Damaris u. a. (2006): Historische Sprachwissen-
Fortmann, Ingo Reich, Marga Reis. Hamburg, S. 21–41. schaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien
Biberauer, Theresa (2009): »Doubling vs. Omission: des Sprachwandels. Tübingen.
Insights from Afrikaans Negation«. In: Sjef Barbiers Paul, Hermann (41909): Prinzipien der Sprachgeschichte.
u. a. (Hg.): Microvariation in Syntactic Doubling. Halle.
Emerald, S. 104–140. Ramers, Karl Heinz (1999): Historische Veränderungen
Braune, W. (2004): Althochdeutsche Grammatik I. Laut- prosodischer Strukturen: Analyse im Licht der nichtlinea-
und Formenlehre. 15. Aufl. bearb. von Ingo Reiffenstein. ren Phonologie. Tübingen.
Tübingen. Roberts, Ian (2007): Diachronic Syntax. Oxford.
Bußmann, Hadumod (Hg.) (2002): Lexikon der Sprachwis- Santorini, Beatrice (1993): »Jiddisch als gemischte OV/
senschaft. 3. aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart. VO-Sprache«. In: Werner Abraham/Josef Bayer (Hg.):
Chomsky, Noam (1995): The Minimalist Program. Dialektsyntax (Linguistische Berichte, Sonderheft
Cambridge, Mass. 5/1993). Opladen, S. 230–245.
Dudenredaktion (Hg.) (82009): Duden. Die Grammatik Saussure, Ferdinand de (32001): Grundfragen der
(= Duden 4). Mannheim. allgemeinen Sprachwissenschaft [1931]. Berlin/New York
Düwel, Klaus (2008): Runenkunde. 4., überarb. und akt. (franz. Cours de linguistique générale. Redigé par
Aufl. Stuttgart/Weimar. Charles Bally et Albert Séchehaye. Paris/Lausanne 1916;
2
Ebert, Robert Peter (1978): Historische Syntax des 1922).
Deutschen. Stuttgart. Schirmunski, Viktor M. (1962): Deutsche Mundartkunde.
— (21999): Historische Syntax des Deutschen II. 1300–1750. Vergleichende Laut- und Formenlehre der deutschen
Berlin. Mundarten. Berlin.
Ernst, Peter (2005): Deutsche Sprachgeschichte. Wien. Schmid, Hans Ulrich (2009): Einführung in die deutsche
Fleischer, Jürg/Schallert, Oliver (2011): Historische Syntax Sprachgeschichte. Stuttgart/Weimar.
des Deutschen. Eine Einführung. Tübingen. Schmidt, Wilhelm (102007): Geschichte der deutschen
Glück, Helmut (Hg.) (42010): Metzler Lexikon Sprache. Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium.
Stuttgart/Weimar. Stuttgart.
Hale, Mark (2007): Historical Linguistics. Theory and Schrodt, Richard (2004): Althochdeutsche Grammatik II.
Method. Malden, Mass./Oxford/Victoria. Syntax. Tübingen.
Hock, Hans Henrich (1991): Principles of Historical Sonderegger, Stefan (2003): Althochdeutsche Sprache und
Linguistics. 2. bearb. u. aktual. Aufl. Berlin/New York/ Literatur. 3., durchgesehene u. wesentl. erweit. Aufl.
Amsterdam. Berlin.
Hopper, Paul J./Traugott, Elizabeth Closs (22004): Speyer, Augustin (2007): Germanische Sprachen. Ein
Grammaticalization. Cambridge. vergleichender Überblick. Göttingen.
Jäger, Agnes (2008): History of German Negation. — (2010): Deutsche Sprachgeschichte. Göttingen.
Amsterdam/Philadelphia. Trips, Carola (2001): The OV/VO Word Order Change in
Jespersen, Otto (1917): Negation in English and Other Early Middle English. Evidence for Scandinavian
Languages (Historisk-filologiske meddelelser 1,5). Influence on the English Language. Univ. Stuttgart, Diss.
Kopenhagen. Trubetzkoy, Nikolaj S. (1939): Grundzüge der Phonologie
Keller, Rudi (1990): Sprachwandel. Von der unsichtbaren (Travaux du Cercle Linguistique de Prague, 7). Prag.
Hand in der Sprache. Tübingen. Uriagereka, Juan (2002): Derivations. Exploring the
König, Werner/Renn, Manfred (2005): Kleiner Bayerischer Dynamics of Syntax. London/New York.
Sprachatlas. München. van Gelderen, Elly (2004): Grammaticalization as
Kroch, Anthony (2001): »Syntactic Change«. In: Mark Economy. Amsterdam/Philadelphia.
Baltin/Chris Collins (Hg.): The Handbook of Contem- — (2006): A History of the English Language. Amsterdam/
porary Syntactic Theory. Malden, Mass., S. 699–729. Philadelphia.
Lightfoot, David (2006): How New Languages Emerge. Weiß, Helmut (1998): Syntax des Bairischen. Studien zur
Cambridge. Grammatik einer natürlichen Sprache. Tübingen.

153
4.7
Sprachgeschichte
Literatur

— (2002): »A Quantifier Approach to Negation in Natural — (2005b): »Inflected Complementizers in Continental


Languages, Or Why Negative Concord is Necessary«. In: West Germanic Dialects«. In: Zeitschrift für Dialektolo-
Nordic Journal of Linguistics 25, S. 125–153. gie und Linguistik 72, S. 148–166.
— (2005a): »Von den vier Lebensaltern einer Standard- — (2005c): »Zu einer möglichen silbenstrukturellen
sprache. Zur Rolle von Spracherwerb und Medialität«. Erklärung unechter Diminutivbildungen im Bairi-
In: Deutsche Sprache 33, S. 289–307. schen«. In: Sprachwissenschaft 25/2, S. 217–245
Helmut Weiß

154
5.1
Spracherwerb

5 Spracherwerb
5.1 Einleitung
5.2 Erstspracherwerb
5.3 Früher Zweitspracherwerb
5.4 Sprachentwicklungsstörungen

5.1 | Einleitung
Die Spracherwerbsforschung als Teilgebiet der Psy- 5.1.1 | Einfluss von Anlage und Umwelt
cholinguistik untersucht, wie Sprecher eine oder
mehrere Sprache(n) erwerben, welche Erwerbspro- Wie lernen Kinder sprechen? – ›Indem sie zuhö-
zesse diesen Weg bestimmen und ob die Erwerbs- ren, was die Erwachsenen sagen, und das dann
wege für verschiedene Lerner und für unterschied- nachmachen.‹ Dieser Erklärung, die von einem ge-
liche Sprachen ähnlich verlaufen. Außerdem inter- rade mal sechsjährigen Kind stammt, würden ver-
essiert sich die Spracherwerbsforschung dafür, mit mutlich auch viele Erwachsene zustimmen. Sie
welchen Voraussetzungen Sprachlerner für die Be- entspricht im Wesentlichen der Lerntheorie des
wältigung der Erwerbsaufgabe ausgestattet sind, Behaviorismus, die davon ausgeht, dass Kinder
welche Zusammenhänge zwischen Sprache und Sprache lernen, indem sie gehörte Äußerungen
anderen kognitiven Fähigkeiten wie Intelligenz be- imitieren und positiv verstärkt werden, wenn das
stehen, welche Faktoren den Spracherwerb beein- Gesagte korrekt und angemessen ist (Skinner
flussen und wie Störungen des Spracherwerbs ent- 1957). Die logische Konsequenz wäre, dass Kinder
stehen. Fragen wie diese dienen dazu, spezifische nur genau das sagen könnten, was sie zuvor ge-
Hypothesen – zum Sprachsystem, zur Lernbarkeit hört haben. Dies widerspricht jedoch eindeutig der
oder zur Entwicklung – zu überprüfen bzw. zur Erwerbsrealität, wie die folgenden Beispiele zei-
Entwicklung neuer Hypothesen und Theorien bei- gen (das Alter des Kindes wird jeweils angegeben
zutragen. Neben der Linguistik zählen daher Psy- als Jahre;Monate).
chologie, Pädagogik, Soziologie sowie Mathematik
und Informatik zu den Bezugswissenschaften der (1) A (1;06 Jahre) möchte eine Banane haben.
Spracherwerbsforschung. A: nane.
Eine Sprache kann man in jedem Alter und unter (2) Mutter und B. (3;11 Jahre) basteln mit Stoff.
ganz verschiedenen Umständen erwerben, z. B. auch Mutter: Was machst du da mit dem ganzen Stoff?
als Erwachsener im Fremdsprachunterricht. In die- B: stoffen.
sem Kapitel beschränken wir uns auf den ungesteu- Mutter: Was ist das?
erten Spracherwerb von Kindern, der ohne explizi- B: Na, Stoff aufkleben.
te Unterrichtung in der natürlichen Sprachumgebung (3) C (2;01 Jahre) möchte, dass die Mutter die Babypuppe in den
stattfindet und in dessen Verlauf die Kinder die Spra- Wagen legt.
che so meistern, dass ihre sprachlichen Fähigkeiten C: Baby rein.
denen der Erwachsenen entsprechen. (4) D (4;07 Jahre) und Mutter betrachten die Knospe einer Blume.
Sprachliche Fähigkeiten umfassen das implizite D: Oh, die Blume muss ja noch aufwachsen.
Wissen über die in der Muttersprache zulässigen Mutter: Was muss die?
Strukturen und deren Interpretation. Diese sprach- D: Na, die ist noch nicht aufgewachst.
lichen Fähigkeiten sind dem Sprecher in der Regel (5) E (4;03 Jahre) und Mutter im Gespräch.
selbst nicht bewusst. Ausdrücke wie ›meistern‹, Mutter: Und weigerst du dich manchmal ins Bett zu gehen?
›kennen‹ oder ›analysieren‹, die seitens des Sprach- E: Ja. Ich gehe gern ins Bett, weil ich so müde bin.
lerners Explizität und Intentionalität nahelegen,
sind daher nicht wörtlich zu verstehen. Kinder reduzieren Silben in Wörtern (1) und erfin-
den neue Wörter wie stoffen (2). Sie verwenden
nicht zielsprachliche syntaktische Strukturen ohne
Subjekt und Verbstamm (3) und existierende Wör-

155
5.1
Spracherwerb
Einleitung

ter wie aufwachsen mit abweichender Bedeutung N Der Sprachlerner benötigt relevanten sprachli-
und mit abweichender Flexion (4), und schließlich chen Input.
interpretieren sie komplexe Strukturen wie sich Die Ansätze unterscheiden sich in den Annahmen
weigern zu anders als Erwachsene (5). Der kind- darüber, welche genetische Ausstattung das Kind
liche Umgang mit Sprache ist kreativ – und zwar für die Aufgabe des Spracherwerbs mitbringt und
offenbar in regelgeleiteter Weise. Daher gilt der Be- welche Rolle die Interaktion mit der Umwelt, ins-
haviorismus als Erklärungsansatz für den Spra- besondere der sprachliche Input, spielt.
cherwerb als überholt. Nativismus: Noam Chomskys (1959) Replik auf
Beginn der Spracherwerbsforschung: Bereits Skinner sowie die Chomsky-Piaget-Debatte 1975
vor dem eigentlichen Beginn der Kindersprachfor- markieren den Beginn der generativen Spracher-
schung Ende des 19. Jh.s wurden Untersuchungen werbsforschung. Dem Nativismus zufolge besitzt
durchgeführt, die aus heutiger Sicht grausamen der Sprachlerner eine sprachspezifische Prädis-
Isolationsexperimente. Um die Frage der Urspra- position, die es ihm ermöglicht, trotz fehlender
che zu erforschen, wurden Säuglinge ohne Kon- systematischer Korrekturen durch die Umwelt
takt zur menschlichen Sprache aufgezogen. Auf und trotz prinzipiell unzureichenden Inputs (po-
diese Weise hoffte man herauszufinden, ob Hebrä- verty of the stimulus)in relativ kurzer Zeit und
isch, Griechisch, Latein, Arabisch oder Phrygisch scheinbar mühelos eine oder mehrere Erstsprachen
die älteste Sprache dieser Erde sei. So hat der zu erwerben (vgl. Pinker 1984; Tracy 2000). Der
ägyptische Pharao Psammeticus bereits im Input ist zwangsläufig unzureichend, da er immer
7. Jh. v. Chr. zwei Kinder von einem Schafhirten nur einen Ausschnitt aller möglichen Sätze einer
aufziehen lassen, dem es verboten war, mit ihnen Sprache darstellt. Die Universalgrammatik, d. h.
zu sprechen. Den Beginn der modernen Spracher- das angeborene spezifisch menschliche Sprachwis-
werbsforschung markieren Tagebuchstudien wie sen, bildet den universellen Bauplan. Durch die
die des Ehepaars Stern (1907/1987). Sie wurden Verarbeitung des Inputs der Sprachumgebung wer-
im Zuge des Behaviorismus durch die Hinwen- den dann bestimmte einzelsprachliche Parameter
dung zur gezielten Untersuchung direkt beob- wie z. B. für die Abfolge von Objekt und Verb
achtbaren Verhaltens abgelöst. Im Kontrast zum (O,V) in der Verbalphrase gesetzt (z. B. OV für das
Behaviorismus, der den menschlichen Geist als Deutsche, VO für das Englische; für die histori-
›black box‹ betrachtet, betont der von Jean Piaget sche Entwicklung s. Kap. II.4.6.2.3). Krosslingu-
etablierte Kognitivismus die menschliche Eigen- istische Ähnlichkeiten, d. h. Ähnlichkeiten über
aktivität (Piaget 1923/1972). In kognitiven Ansät- verschiedene Einzelsprachen hinweg, gelten als
zen wird Sprache als Teilaspekt der Kognition auf- Beleg für die Existenz der Universalgrammatik
gefasst. Spracherwerb beruht demzufolge auf und werden daher erwartet. Anders als im Kogni-
allgemeinen kognitiven Lernstrategien und der tivismus ist das Konzept der Modularität in zwei-
generellen Symbolisierungsfähigkeit des Kindes. erlei Hinsicht zentral. Erstens wird das Sprachsys-
Spracherwerbs- Aktuelle Erklärungsansätze: Neben dem Kogni- tem als ein von anderen kognitiven Fähigkeiten
theorien tivismus zählen die von Noam Chomsky entwi- unabhängiges Modul betrachtet. Es wird daher
ckelte Theorie des Nativismus und der von Je- erwartet, dass der Spracherwerb weitgehend un-
rome Bruner und Catherine Snow begründete abhängig von der non-verbalen kognitiven Ent-
Interaktionismus zu den prominentesten Sprach- wicklung verläuft. Zweitens wird angenommen,
erwerbstheorien (vgl. Klann-Delius 2008). Weitere dass das Sprachmodul selbst modular aufgebaut
neuere Erklärungsansätze sind innerhalb der Opti- ist; die einzelnen Teilsysteme der Grammatik bil-
malitätstheorie, der Theorie des Statistischen Ler- den die Submodule. Daher können z. B. der Auf-
nens, des Konnektionismus und der dynamischen bau des Lexikons und der Syntax unterschied-
Systemtheorie angesiedelt. Die aktuellen Erklä- lichen Erwerbsstrategien folgen.
rungsansätze teilen im Wesentlichen folgende An- Interaktionismus: Ausgangspunkt ist u. a. Bru-
nahmen: ners (1975) Entdeckung, dass Eltern in der frühen
Annahmen aktueller N Der Sprachlerner ist nicht nur passiv, sondern Eltern-Kind-Interaktion ihre Sprache gezielt an die
Erklärungsansätze eigenaktiv. Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes anpassen.
N Der Spracherwerb gelingt unter vielen verschie- Statt eine sprachspezifische Prädisposition für
denen Umweltbedingungen. den Spracherwerb anzunehmen, geht man in in-
N Es findet keine explizite Unterweisung durch teraktionistischen Erklärungsansätzen (usage-
die Bezugspersonen statt. based, emergentist) davon aus, dass Grammatik

156
5.2
Spracherwerb
Spracherwerbsforschung
und Linguistik

aus sozialen Verhaltensweisen entsteht. Es wird sich Relativsätze und W-Fragen zwar auf der Ober-
angenommen, dass Sprache eine Form sozialen fläche (s. Kap. II.2.3.4.1); beiden Strukturen liegt je-
Verhaltens ist und dass das Kind die genetische doch die gleiche Art von Konstituentenbewegung
Prädisposition zur sozialen Interaktion besitzt. zugrunde, die sogenannte W-Bewegung. Zweitens
Der Input spielt folglich eine entscheidende Rolle dienen Ergebnisse aus dem Erst- und Zweitsprach-
für den Spracherwerb. Zum einen erleichtert die erwerb dazu, konkurrierende linguistische Erklä-
an das Kind gerichtete Sprache (motherese), die rungsansätze zu überprüfen. Unerwartete Ergeb-
sich an den sprachlichen Fähigkeiten des Kindes nisse ermöglichen es, neue Forschungsfragen und
orientiert, den Spracherwerb. Zum anderen wird Herausforderungen für die linguistische Theoriebil-
argumentiert, dass Eigenschaften des Inputs wie dung zu identifizieren bzw. selbst zur Hypothesen-
Frequenz und Salienz die Erwerbsreihenfolge be- bildung in der linguistischen Theorie beizutragen
einflussen. Es wird also angenommen, dass häufi- (vgl. Roeper 2007; Tracy 2000). Darüber hinaus wis-
ge und leicht wahrnehmbare Wörter schneller er- sen wir aufgrund einer Fülle von Studien inzwi-
worben werden. Das Konzept der Modularität schen, dass bestimmte Spracherwerbsphasen sowie
spielt keine Rolle. Ähnlich wie im Kognitivismus Schwierigkeiten mit spezifischen Phänomenen (z. B.
wird davon ausgegangen, dass der Spracherwerb mit der W-Bewegung) sprachübergreifend gleich
aufgrund allgemeiner Lernmechanismen erfolgt, sind, während andere (z. B. mit der Verbflexion)
die es dem Kind ermöglichen, auf der Basis des sprachspezifischen Einflüssen unterliegen. In diesen
Inputs aus einzelnen gebrauchsbasierten Kon- Fällen erlauben Daten der sprachvergleichenden
struktionen abstrakte grammatische Strukturen Erwerbsforschung Hinweise auf universelle so-
abzuleiten (vgl. Tomasello 2003). wie sprachspezifische Eigenschaften von Gram-
matiken. Untersuchungen zum Zweitspracherwerb
(s. 5.3) und zu spezifischen Spracherwerbsstörun-
gen (s. 5.4) erlauben außerdem, den Einfluss rein
5.1.2 | Spracherwerbsforschung sprachlicher Mechanismen und Eigenschaften von
und Linguistik anderen Faktoren zu unterscheiden, die nicht das
Sprachvermögen im engeren Sinne bestimmen. Im
Zwischen Spracherwerbsforschung und Linguistik Zweitspracherwerb wird z. B. der Einfluss des Al-
bestehen vielfältige Beziehungen. Erstens eröffnen ters auf den Erwerbsverlauf erforscht. Daten zum
die Generalisierungen und Hypothesen innerhalb gestörten Erstspracherwerb können Aufschluss
der Phonologie, Syntax, Semantik oder Pragmatik darüber geben, ob nicht-sprachliche Faktoren
überhaupt erst die Möglichkeit, theoriegeleitete wie Informationsverarbeitung, Arbeitsgedächtnis
Vorhersagen für den Erwerb abzuleiten. Zwischen oder nonverbale Intelligenz sprachliche Leistun-
deskriptiv verschiedenen Phänomenen lassen sich gen beeinflussen. Damit leisten diese Untersu-
nur aufgrund linguistisch begründeter Strukturähn- chungen auch einen wichtigen Beitrag zur Beant-
lichkeiten phänomenübergreifende Erwerbshypo- wortung der Frage nach der Modularität des
thesen aufstellen und überprüfen. So unterscheiden Sprachsystems.

5.2 | Erstspracherwerb
Der Erstspracherwerb ist der am intensivsten Definition
untersuchte Spracherwerbstyp. Aufgrund einer
Vielzahl von Untersuchungen mithilfe unter- Der Prozess, den Kinder durchlaufen, wenn sie ab Geburt ihre erste
schiedlicher empirischer Methoden wie Spontan- Sprache erwerben, nennt man   Erstspracherwerb. Sprechen die Eltern
sprachanalysen und experimenteller Verfahren bzw. die Hauptbezugspersonen die gleiche Sprache, wächst das Kind
(s. Kasten S. 158) lässt sich inzwischen für viele einsprachig, also monolingual auf. Verwenden Vater und Mutter
Phänomene und Strukturen beschreiben, wie Kin- gegenüber dem Kind ab Geburt unterschiedliche Sprachen, spricht man
der ihre Erstsprache erwerben und wann sie die von doppeltem Erstspracherwerb oder simultanem Bilingualismus. In
zielsprachliche Form, Bedeutung und Verwendung der Erstspracherwerbsforschung untersucht man also monolinguale
meistern (vgl. Rothweiler 2007; Schulz 2007a; und simultan bilinguale (oder auch trilinguale) Kinder.
Szagun 2010).

157
5.2
Spracherwerb
Erstspracherwerb

Der Erstspracherwerb beginnt bereits im letzten auf den verschiedenen Ebenen des Sprachsystems,
Drittel der Schwangerschaft mit der Wahrneh- auch abhängig von der untersuchten Sprache, un-
mung von Schallwellen im Uterus. Wann der terschiedlich entwickeln und verändern. Für das
Spracherwerb abgeschlossen ist, ist nicht eindeu- Deutsche nimmt man an, dass Kinder das phono-
tig zu bestimmen, da sich sprachliche Fähigkeiten logische und grammatische System in der Regel

Zur Vertiefung

Experimentelle Methoden in der Spracherwerbsforschung


In der experimentellen Psycholinguistik unterscheidet man zwischen off-line- und on-line-Methoden (McDa-
niel/McKee/Cairns 1996; Sekerina/Fernández/Clahsen 2008). Off-line-Verfahren untersuchen, wie die Lerner
nach dem Ende des Verarbeitungs- und Interpretationsprozesses reagieren. Ausgewertet werden Antwortmuster,
speziell die auftretenden Fehler, sowie Reaktionszeiten. Off-line-Verfahren lassen sich weiterhin danach unter-
scheiden, ob sie das Sprachverständnis oder die Sprachproduktion untersuchen. Gängige off-line-Verfahren zur
Erforschung der Sprachrezeption und des Sprachverständnisses sind Kopfbewegungs-Präferenz-Verfahren,
Wahrheitswert-Aufgaben und Bildwahl-Aufgaben. Bei den Kopfbewegungs-Präferenz-Verfahren wird gemes-
sen, wie lange ein Kind sich bestimmten Sprachreizen zuwendet, die jeweils seitlich vom Kopf abgespielt wer-
den. Das Verfahren ist für Kinder unter zwei Jahren geeignet und wird v. a. eingesetzt, um die Differenzierung
phonetischer Kontraste sowie die frühe morphologische und syntaktische Verarbeitung zu untersuchen. In
Wahrheitswert-Aufgaben sollen die Kinder entscheiden, ob ein vorgegebener Satz zu einer vorgegebenen Be-
deutung, dargestellt durch ein Bild, eine vorgespielte Szene oder einen Film, passt. Bei der Bildwahl-Aufgabe
soll das Kind aus einer Auswahl von zwei bis vier Bildern das zu einem Satz passende Bild auswählen. Diese
beiden Verfahren eignen sich für Kinder ab zwei bzw. drei Jahren und werden vor allem im Bereich des Syntax-
und Semantikerwerbs sowie beim Lexikonerwerb eingesetzt. Die gängigsten off-line-Methoden zur experimen-
tellen Untersuchung der Sprachproduktion sind Elizitierte Produktion, Bildbenennung und Elizitierte Imitation.
In der Elizitierten Produktion werden Kinder mittels standardisierter Vorgaben dazu animiert, bestimmte Wör-
ter, flektierte Formen oder Sätze zu äußern. Diese Methode eignet sich für Kinder ab zwei Jahren. Die Methode
der Bildbenennung wird vorrangig angewendet, um die phonologisch-lexikalische Entwicklung zu untersu-
chen. Bei der Elizitierten Imitation wird das Kind aufgefordert, Wörter oder Sätze nachzusprechen. Damit
kann die phonologische, aber auch die syntaktische Entwicklung untersucht werden.
Mithilfe von on-line-Verfahren kann man den Verarbeitungsprozess direkter erfassen. In der Spracherwerbsfor-
schung mit Kindern werden v. a. Blickbewegungsmessungen und das elektrophysiologische Verfahren der Ereig-
niskorrelierten Potentiale (EKP) verwendet, seltener bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetreso-
nanztomographie (fMRT). Untersuchungen der Blickbewegung können mit Kindern ab einem Alter von sechs
Monaten durchgeführt werden. Analog zur Bildwahl-Aufgabe wird die Fixierungsdauer einer Auswahl von Bil-
dern gemessen, von denen eines zu einem zuvor präsentierten Stimulus passt. In EKP-Messungen werden be-
stimmte Verarbeitungsschritte im Zeitverlauf erfasst. Die Sprachreize werden den Probanden auditiv oder visu-
ell präsentiert, während mit Hilfe von Elektroden EKPs abgeleitet werden. Dieses Verfahren kann bereits mit
Neugeborenen durchgeführt werden. Es eignet sich, um syntaktische und semantische Verarbeitungsschritte zu
entdecken und zeitlich zu lokalisieren. In fMRT-Untersuchungen lassen sich die durch die Verarbeitung akti-
vierten Areale des Gehirns räumlich abbilden. Diese Methode wird aktuell v. a. für Studien zum Schriftspracher-
werb bei Kindern ab sieben Jahren eingesetzt.
Die Wahl der Methode hängt u. a. von der Fragestellung, von Alter und Anzahl der Probanden sowie von den
zeitlichen und personellen Ressourcen ab. Off-line-Verfahren sind kostengünstiger und einfacher durchführbar.
Die gewonnenen Messdaten sind zwangsläufig ungenau, da sie post hoc erhoben werden und deshalb neben
der sprachlichen Verarbeitung weitere Faktoren wie Gedächtnis eine Rolle spielen. Bisher wurden vor allem off-
line-Verfahren angewendet und haben dank geschickter Planung der Stimuli zu umfassenden Erkenntnissen
über die den Reaktionen zugrundeliegenden linguistischen Repräsentationen beigetragen. On-line-Verfahren
sind zeit- und kostenaufwändiger in der Vorbereitung und Auswertung. Sie liefern Daten mit einer hohen zeitli-
chen oder räumlichen Auflösung, die jedoch durch Störfaktoren (z. B. Eigenbewegungen) beeinträchtigt werden,
so dass viele Testreihen notwendig sind. Die Spracherwerbsforschung verspricht sich von der Kombination von
off- und on-line-Verfahren daher den größten Gewinn.

158
5.2
Spracherwerb
Phonologieerwerb

bereits am Ende des vierten Lebensjahres erwor- etwa fünf Monaten können Säuglinge Artikulati- Diskriminierungs-
ben haben, während z. B. der Wortschatzerwerb, onsorte wie bei [g]-[b] diskriminieren. Vokalpaare fähigkeiten
gleich für welche Sprache, nie abgeschlossen ist. wie [a]-[i] werden ab dem ersten Monat differen-
Aussagen über Dauer und Verlauf des Spracher- ziert. Die Unterscheidung von Kontrasten auf-
werbs zu treffen, ist auch deswegen schwierig, grund phonetischer Unterschiede wie stimmhaft/
weil es individuelle Unterschiede zwischen Ler- stimmlos (s. Kap. II.2.1.2.2) gelingt in diesem Alter
nern gibt und weil sich Verständnis und Produk- auch dann, wenn dieser Kontrast in der Zielspra-
tion nicht parallel, sondern asynchron entwickeln che phonologisch nicht relevant ist, wie z. B. die
(Grimm u. a. 2011). Häufig geht das Verständnis Distinktion zwischen [A] und [x] im Hindi. Ab
der Produktion voraus, in manchen Bereichen pro- vier Monaten erkennen Kinder ihren Namen im
duzieren Kinder jedoch auch Strukturen, bevor sie Redefluss, und ab sechs Monaten auch die Wörter
sie zielsprachlich interpretieren können (s. 5.2.3). Mama und Papa; damit setzt auch der passive
Wortschatzerwerb ein. Mit ca. acht bis neun Mo-
naten identifizieren Kinder Phrasengrenzen in-
nerhalb eines Satzes (Weissenborn 2000) und prä-
5.2.1 | Phonologieerwerb ferieren zielsprachliche Phrasierungen wie Die
Schwester verspricht Kathrin zu schwimmen # und
»Jaguckmalwoisdennderballjawoiserdenn« [G>D3H die Insel zu erkunden (# steht für eine Pause) ge-
J>ISL'PA#KAB’?>IG>SL'P’A#K?] – Mit der ent- genüber nicht zielsprachlichen Phrasierungen wie
sprechenden Intonation klingt so etwa eine Äuße- Die Schwester verspricht Kathrin zu # schwimmen
rung, die Eltern im Umgang mit Säuglingen produ- und die Insel zu erkunden. Ab dem neunten Monat
zieren. Dass häufig Pausen fehlen, die Satzgrenzen erkennen Kinder häufige Lautkombinationen ihrer
anzeigen, dass Wörter phonologisch reduziert Muttersprache. Gegen Ende des ersten Lebensjah-
werden wie is statt ist; all das sind generelle Merk- res nimmt die generelle Fähigkeit zur Wahrneh-
male gesprochener Sprache. Um diesen Lautstrom mung phonetischer Kontraste ab. So reagieren ein-
entschlüsseln zu können, muss das Kind unter- jährige englischsprachige Kinder nicht mehr auf
schiedliche Aufgaben bewältigen. den im Hindi, aber nicht im Englischen bedeu-
Erwerbsaufgaben: Das Kind muss zunächst tungsunterscheidenden Kontrast zwischen [A] und
einmal feststellen, ob die lautlichen Äußerungen [x]. Diese Einengung der Diskriminierungsfähig-
absichtsvoll und bedeutungsvoll sind, also anders keit auf die in der Erstsprache relevanten Kontraste
als ein Hatschi oder Gähnen Form und Bedeutung geht damit einher, dass erste stabile Beziehungen
besitzen (s. Kap. II.3.2.4). Das Kind muss außer- zwischen Lautform und Bedeutung bzw. syntakti-
dem erkennen, ob der Lautstrom einen Ausschnitt scher Funktion etabliert werden.
des Deutschen darstellt und nicht etwa des Hollän- Frühe Lautproduktion: Der Lauterwerb beginnt
dischen, das die Nachbarin spricht. Eine weitere mit der sogenannten Schreiphase, in der bereits
Herausforderung zu Beginn des Spracherwerbs be- allererste Vorläufer von Silben und Wortbeto-
steht darin, den Lautstrom in sprachlich relevante nungsmustern zu erkennen sind. So unterscheiden
Einheiten (Phoneme, Silben, Wörter) zu segmen- sich die Schreimuster von Säuglingen, die deutsch-
tieren. Dank moderner Untersuchungsmethoden, sprachig aufwachsen, von denen mit französischer
die Parameter wie Herzschlagrate, Saugrate, Kopf- Umgebungssprache. Mit ca. drei Monaten ist der
bewegung und Fixationsdauer messen, wissen wir Kehlkopf so weit entwickelt, dass erste Gurrlaute
inzwischen, dass bereits Säuglinge über eindrucks- produziert werden. Ab ungefähr sechs Monaten
volle Sprachwahrnehmungsfähigkeiten verfügen setzt die kanonische Lallphase ein, d. h. es wer-
(Jusczyk 1997; Höhle 2002). den Silbenketten aus Konsonant-Vokal-Abfolgen
Frühe Sprachwahrnehmung: Bereits in den ers- (CV) produziert. Zunächst werden einfache CV-
ten Tagen nach der Geburt können Kinder die Silben wiederholt wie bababa oder dadada. Dieses
Stimme ihrer Mutter erkennen. Sie haben zudem reduplizierende Lallen wird mit ungefähr neun
bereits eine Präferenz für die menschliche Sprache Monaten abgelöst durch das bunte Lallen, das
im Vergleich mit anderen Geräuschen. Ab dem ers- sich durch Variation im Artikulationsort auszeich-
ten Monat können sie Unterschiede in der Stimm- net wie bei daba oder adega. Diese Lalläußerun-
haftigkeit bei Verschlusslauten wie [t]-[d] wahr- gen folgen bereits dem rhythmischen Muster der
nehmen, zwischen dem zweiten und dritten Zielsprache (s. Kap. II.2.1.3.4). Das Vokal- und
Monat dann auch bei Sonoranten wie [r]-[l]. Mit Konsonanteninventar wird bis zum Alter von fünf

159
5.2
Spracherwerb
Erstspracherwerb

Jahren sukzessive aufgebaut, wobei generell vor- der durch eine rapide Erweiterung des Wortschat-
dere vor hinteren Lauten auftreten (Fox/Dodd zes gekennzeichnet ist. Mit zwei Jahren verfügen
1999). Bis zum Alter von vier Jahren werden die Kinder dann über einen aktiven Wortschatz von
Einzellaute (mit Ausnahme von /1/ und /!/) er- 200 bis 300 Wörtern. Im Alter von sechs Jahren
worben, Lautverbindungen wie /br/, /1p/ beherr- umfasst der aktive Wortschatz sprachunauffälliger
schen Kinder im Alter von fünf, komplexere Laut- Kinder 3000 bis 5000 Wörter. In der Vorschulzeit
verbindungen wie /1pr/, /1tr/ im Alter von sechs werden also täglich ca. fünf bis zehn Wörter er-
Jahren. worben (Menyuk 2000).
Bis dahin unterliegt die Wortproduktion ver- Lexikalische Erwerbsprinzipien: Die Erweite-
schiedenen phonologischen Prozessen, d. h. pro- rung des Wortschatzes erfolgt innerhalb kurzer
sodisch und segmental bedingten Vereinfachun- Zeit. Das ist deshalb erstaunlich, weil das Kind die
gen. So wird aus ›Banane‹ nane und aus ›br‹ in konventionelle Beziehung zwischen Wort und Re-
›Brot‹ Bot (s. Beispiel (1)). Die ersten Wörter, die ferent nicht zweifelsfrei erschließen kann, selbst
um den ersten Geburtstag herum auftauchen, fol- wenn der Referent präsent ist. Wie der Philosoph
gen wenigen, festen Mustern. Sie sind oft Einsilber Quine eindrucksvoll argumentiert, existieren prin-
(CV oder CVC) oder trochäische Zweisilber der zipiell unendlich viele Hypothesen über den kor-
Form CVCV. Silbenauslassungen in längeren Wör- rekten Bezug zwischen Wort und Referent. So
tern wie z. B. Banane, Lokomotive oder Kassetten- könnte sich z. B. das Wort Banane nicht auf das
rekorder gehen während des dritten Lebensjahres Objekt, sondern auf den Stummel am Ende, auf
zurück (Grimm 2010). die Farbe oder auf eine damit verbundene Hand-
lung beziehen. Als Ausweg aus diesem Dilemma
werden verschiedene Erwerbsstrategien angenom-
men, die den Hypothesenraum des Kindes v. a. zu
5.2.2 | Wortschatzerwerb Beginn des Spracherwerbs beschränken. So besagt
die novel name – nameless category, dass sich ein
Der Wortschatz wird aufgebaut und erweitert, in- unbekanntes Wort auf eine bisher nicht benannte
dem neue Wörter erkannt und im mentalen Lexi- Kategorie bezieht. Sieht das Kind ein Objekt, des-
kon (s. Kap. II.2.2.2.1) gespeichert werden. Dieser sen Bezeichnung ihm bekannt ist, z. B. eine Bana-
Speicher verbindet mentale Repräsentationen mit ne, und eine ihm bislang unbekannte Furcht, wird
Wörtern bzw. Morphemen. Zu jeder lexikalischen es auf die Bitte Gib mir mal die Litchi automatisch
Einheit sind zudem Informationen zu semanti- zu diesem unbenannten Objekt greifen (vgl. Roth-
schen, syntaktischen und morphologischen Eigen- weiler 2001).
schaften sowie zur phonetisch-phonologischen Komposition des Lexikons: Inhaltswörter wer-
Form gespeichert. Die Organisation des mentalen den generell eher erworben als funktionale Kate-
Lexikons ergibt sich u. a. durch die Bedeutungsbe- gorien wie z. B. Artikel, Präpositionen und Kon-
ziehung zwischen Wörtern (s. Kap. II.3.5.1) und junktionen. Das frühe Lexikon beinhaltet einen
durch Vorkommenshäufigkeiten. Wörter zu ken- hohen Anteil an sozial-pragmatischen Ausdrücken
nen, bedeutet, sie zu verstehen (passiver Wort- wie hallo und nein sowie das referentiell gebrauch-
schatz) oder sie auch selbst zu verwenden (akti- te da. Nomen wie Baby, Verben wie suchen oder
ver Wortschatz). Adjektive wie heiß machen zu Beginn einen gerin-
Der Erwerb des passiven Wortschatzes setzt be- geren Anteil aus (Kauschke 2000). Verbvorläufer
reits mit ca. sechs Monaten ein, wenn erste Wörter wie auf für aufmachen und Verben wie malen wer-
wie Mama und Papa erkannt werden. Mit 12 bis 18 den bereits im zweiten Lebensjahr produziert,
Monaten versteht das Kind bereits zwischen 50 und ebenso wie die Fokuspartikeln auch und nicht.
200 Wörter. Der Umfang des rezeptiven Wortschat- Zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr
zes nimmt im weiteren Verlauf rasch zu, so dass mit werden dann auch Artikel, Präpositionen wie auf
ca. sechs Jahren zwischen 9000 und 14 000 Wörter und mit, Auxiliare (haben, sein) und erste Kon-
passiv beherrscht werden (Menyuk 2000). junktionen wie weil und dass produziert.
Der aktive Wortschatzerwerb setzt zwischen 10 Bedeutungserwerb: Bestimmte Bedeutungsas-
und 18 Monaten ein, am häufigsten mit den Wör- pekte von Wörtern werden bereits sehr früh erwor-
tern Mama, Papa, Auto, Ball, da und nein. In der ben, so die Kernbedeutung von Nomen wie Stuhl
zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres durch- (vgl. Menyuk 2000). Auch der Unterschied zwi-
laufen die meisten Kinder einen Wortschatzspurt, schen Verben, die einen Endzustand ausdrücken,

160
5.2
Spracherwerb
Erwerb der Syntax
und Morphologie

wie aufmachen und zumachen und Verben, die sind Äußerungen wie Ich bau ein Mast oder Ich
einen Prozess ausdrücken, wie malen oder essen habe nein gesagt. Auch W-Fragen werden ziel-
wird früh erworben (Penner/Schulz/Wymann sprachlich produziert. In dieser Phase werden
2003). Dahinter steckt das Konzept der Telizität, auch durchgängig Subjekte realisiert.
d. h. die grundlegende Eigenschaft von Verben, Er- Meilenstein IV beinhaltet den Erwerb von Ne-
eignisse mit oder ohne inhärentes Resultat zu bensätzen mit Verbletzt-Strukturen, der ab ca. 30
bezeichnen. Der vollständige Erwerb der ziel- Monaten beginnt. Dabei fehlt häufig zunächst die
sprachlichen Bedeutung (d. h. der konventionellen Konjunktion, z. B. ob in Ich weiß nicht __ der Affe
Bedeutung, s. Kap. II.3.2.4) erfolgt jedoch schritt- blau is oder grün. Das Verb wird von Beginn an
weise. Über- und Untergeneralisierungen sind überwiegend zielsprachlich am Satzende realisiert.
Ausdruck dieses Erwerbsprozesses. Übergenera- Kurze Zeit später treten dann Konjunktionen wie
lisierung liegt vor, wenn ein Wort eine zu weite weil, wenn, dass und ob auf. Auch Relativsätze
Bedeutung erhält (z. B. Mama = weibliche Per- werden bereits gegen Ende des dritten Lebensjah-
son; lügen = etwas Unwahres sagen); von Unterge- res produziert. Infinitivkonstruktionen wie Die hat
neralisierung spricht man, wenn einem Wort eine vergessen Wasser reinzulassen werden später er-
zu enge Bedeutung zugewiesen wird (z. B. Ball worben als finite Nebensätze. Passivstrukturen wie
= nur der eigene rote Ball). Die Differenzierung Du musst noch angezieht werden schließlich wer-
und Erweiterung der Bedeutung bereits verwende- den im Alter von drei bis vier Jahren produktiv.
ter Wörter dauert vor allem für komplexe abstrakte Flexionsmorphologie: Die Verbalflexion wird
Ausdrücke wie Geld und Mut bis ins Jugend- und schrittweise erworben. So tritt die Flexionsen-
Erwachsenenalter an. Auch der Erwerb von Idio- dung -st später als die anderen Flexionsendun-
men wie Sie gab ihm einen Korb oder Sie hatte die gen, v. a. als -t, auf (Clahsen 1986). Kongruenz-
Nase voll erfolgt, indem die wörtliche Bedeutung fehler von Numerus und Person zwischen Verb
mit zunehmendem Alter durch die übertragene Be- und Subjekt treten im ungestörten Erstspracher-
deutung ergänzt wird (Menyuk 2000). werb trotzdem sehr selten auf. Übergeneralisie-
rungen regulärer Formen sind bei Partizipien
(aufgewachst, Beispiel (4)), Imperfekt- (gehte)
und Präsensformen (fallt) noch bis zum Alter
5.2.3 | Erwerb der Syntax von sechs Jahren zu beobachten.
und Morphologie Im Bereich der Nominalflexion konzentriert
sich die Erwerbsaufgabe vor allem auf das Kasus-
Syntaktische Meilensteine: Der schrittweise Er- und das Pluralsystem; das Genussystem bereitet
werb der syntaktischen Grundstrukturen und der im Erstspracherwerb keine wesentlichen Schwie-
verbalen Flexionsmorphologie sind im Deutschen rigkeiten. Für die Kasusformen des Artikels wur-
eng miteinander verbunden. Er lässt sich mit de festgestellt, dass der Nominativ als unmarkier-
Hilfe des topologischen Feldermodells (s. Kap. ter Kasus als erstes erworben wird, gefolgt von
II.2.3.3.1) vier Meilensteinen zuordnen, die das Akkusativ und Dativ, der bis ins Schulalter hinein
Kind bis zum Alter von 2;06 bis 3;06 Jahren er- gelegentlich inkorrekt gebildet wird (Tracy 1986).
reicht hat (Tracy 2008; Tracy 2011). Der Erwerb der Pluralformen erstreckt sich über
Meilenstein I umfasst die Produktion einzelner das fünfte Lebensjahr hinaus. Nichtzielsprachliche
Verben und Verbpartikel wie haben, rein oder auf. Formen wie Hünde statt Hunde werden noch im
Mit Meilenstein II beginnt mit der Kombinati- Alter von sieben Jahren beobachtet.
on von Wörtern der eigentliche Syntaxerwerb. Ne- Wortbildung: Kinder erweitern ihren Wort-
ben verblosen Strukturen wie Mama Tasse und schatz nicht nur durch die Aufnahme existierender
Conny auch tauchen zwischen 18 und 24 Monaten Wörter ins mentale Lexikon, sondern auch durch
vermehrt Strukturen wie Schiff bauen, neu ma- die kreative Bildung neuer Wörter. Dabei folgen
chen oder Baby rein (s. Beispiel (3)) auf, in denen die Wortneuschöpfungen den Wortbildungsmus-
das unflektierte Verb bzw. die Verbpartikel in der tern des Deutschen (s. Kap. II.2.2.4). So sind stof-
Verbletzt-Position realisiert sind. fen (Beispiel (2)) und schlitten (=Schlitten fahren)
Meilenstein III, der mit ungefähr zwei bis Beispiele für Konversion, Briefmann (=Briefträ-
zweieinhalb Jahren erreicht wird, zeichnet sich ger) für Komposition und Kocher (=Koch) und
durch Entdeckung der Verbzweit-Position aus, in auseinanderbar (=auseinandernehmbar) Beispie-
der nur finite Verben positioniert werden. Typisch le für Derivation.

161
5.2
Spracherwerb
Erstspracherwerb

Interpretation syntaktischer Strukturen: Die Pronomen treten bereits ab dem Alter von zwei
vermeintlich zielsprachliche Produktion einer Jahren auf. Die Unterschiede zwischen Reflexiv-
Struktur ist nicht gleichbedeutend mit deren kor- und Personalpronomen werden jedoch zunächst
rekter Interpretation, die manchmal erst später er- nicht erkannt. Personalpronomen werden häufig
worben wird. Die (syntaktische) Interpretation als gleichbedeutend mit dem Reflexivpronomen
von einfachen W-Fragen, Infinitivkomplementen, interpretiert, d. h. ein Satz wie Er wäscht ihn wird
Passivsätzen, Relativsätzen und Pronominalstruk- verstanden als Er wäscht sich. Im Alter von vier bis
turen stellen besondere Herausforderungen an fünf Jahren wird dann die zielsprachliche Interpre-
Lerner (Guasti 2002; Schulz 2007a). tation von Personalpronomen erworben.
W-Fragen wie Wen sucht der Prinz? produzie-
ren Kinder bereits im dritten Lebensjahr. Um sie
zielsprachlich zu interpretieren, muss das Kind er-
kennen, dass – anders als in Entscheidungsfra- 5.2.4 | Erwerb der Semantik
gen – nach einem im Satz nicht realisierten Satz- und Pragmatik
glied gefragt wird. Außerdem muss entschlüsselt
werden, um welches Satzglied es sich handelt. Mit In diesem Abschnitt geht es um den Erwerb der
ca. vier Jahren beherrschen Kinder die Interpreta- Semantik von Phrasen und Sätzen und deren Ver-
tion von W-Fragen und antworten z. B. auf die obi- wendung (für den Bedeutungserwerb einzelner
ge Frage mit den Frosch. Subjekt-W-Fragen (Wer Wörter s. 5.2.2). Beim Erwerb der Satzsemantik
hilft dem Prinzen?) werden früher korrekt interpre- interessiert, welche Interpretationen Kinder se-
tiert als Objekt-W-Fragen (Wen sucht der Prinz?) mantisch komplexen Strukturen zuweisen. Zu den
und Adjunkt-W-Fragen (Wo versteckt sich der untersuchten Phänomenen gehören exhaustive W-
Frosch?). Fragen, quantifizierte Sätze und faktive Verben.
Infinitivkomplemente werden mit ca. drei bis Exhaustive W-Fragen: Manche W-Fragen ver-
vier Jahren produziert. Das korrekte Verständnis langen eine vollständige Auflistung aller Individu-
bereitet jedoch noch bis zum Schulbeginn Schwie- en, auf die die erfragte Eigenschaft zutrifft. Fragt
rigkeiten. Infinitivsätze werden danach unter- man in einer Gruppe z. B. Wer hat Hunger? ist die
schieden, auf was sich das nicht ausgedrückte Antwort eine exhaustive, d. h. vollständige Liste
Subjekt des Infinitivkomplements bezieht. So ist all derjenigen, die Hunger haben. Gepaarte W-Fra-
das Nebensatzsubjekt (PRO) in Maria verspricht gen wie Wer möchte wo sitzen? verlangen analog
Hans [PRO zu kochen] und Maria bittet Hans [PRO eine exhaustive gepaarte Liste {<Person1, Sitz-
zu kochen] im ersten Fall das Subjekt, im zweiten ort1>, …,<Personn, Sitzortn>}. Dreifache W-Fra-
Fall jedoch das Objekt des Matrixsatzes. Jüngere gen wie Wer schenkt wem was? erfordern ebenfalls
Kinder interpretieren Verben wie versprechen, die eine exhaustive Liste {<Schenker1, Beschenkter1,
sogenannten Subjektkontrollverben, zunächst wie Geschenk1, …,. <Schenkern, Beschenktern, Ge-
den Verbtyp bitten, d. h. wie Objektkontrollverben. schenkn>}. Die Semantik einfacher exhaustiver
Die zielsprachliche Interpretation dieser Infinitiv- W-Fragen beherrschen Kinder im Alter von ca.
komplemente wird erst zwischen fünf und sieben fünf Jahren; gepaarte W-Fragen werden ebenso
Jahren erworben. wie dreifache W-Fragen mit ca. sechs Jahren be-
Passivstrukturen treten im Alter zwischen drei herrscht.
und vier Jahren auf; die zielsprachliche Interpreta- Quantoren: Bereits im Alter von ca. vier Jahren
tion wird erst ein bis zwei Jahre später zugänglich. können Kinder zwischen Referenzausdrücken und
So bereiten Passivsätze, in denen das Agens als Mengenausdrücken wie jeder unterscheiden
Präpositionalphrase realisiert ist (Die Katze wurde (s. Kap. II.3.4.4). Subtile Unterschiede zwischen
von dem Hund gesehen), noch fünfjährigen Kin- ähnlichen Mengenausdrücken wie alle und jeder
dern Probleme. erweisen sich für Kinder jedoch noch mit sieben
Relativsätze werden bereits mit drei Jahren Jahren als Problem. Ungefähr mit fünf Jahren ent-
produziert. Die zielsprachliche Interpretation ge- wickeln sie ein partielles Verständnis quantifizier-
lingt jedoch erst ca. zwei Jahre später, zunächst ter Sätze wie Jedes Kind reitet auf einem Pferd. Sie
bei Subjekt-Relativsätzen wie Der Opa, der den bevorzugen eine sogenannte symmetrische Inter-
Jungen umarmt und dann mit sechs bis sieben pretation der Quantoren. So wird der obige Satz in
Jahren bei Objekt-Relativsätzen wie Der Opa, den einer Wahrheitswertaufgabe nur akzeptiert, wenn
der Junge umarmt. jedes Kind auf einem Pferd reitet und jedes Pferd

162
5.2
Spracherwerb
Erwerb der Semantik
und Pragmatik

von einem Kind geritten wird. Kommt ein Extra- ca. fünf Jahren jedoch noch nicht gemeistert (Ose/
Objekt (z. B. ein Pferd ohne Reiter) dazu, akzep- Schulz 2010). In ihren eigenen Gesprächsbeiträgen
tieren erst Neunjährige korrekterweise den Satz. verwenden Kinder lange Zeit keine angemessenen
Die Einsicht, dass ein Extra-Agens (z. B. ein weite- Ausdrücke für die Referenteneinführung. Typisch
res Kind ohne Pferd) den Satz immer falsch macht, sind daher ›out of the blue‹-Äußerungen wie Die
wird im Alter zwischen sechs und acht Jahren er- Frau hat mir die große gegeben, die ohne den spe-
worben. zifischen Kontext nur schwer zu interpretieren
Faktive Verben und Präsuppositionen: Bis zum sind. Eine angemessene Einführung neuer Refe-
Alter von ca. vier Jahren gehen Kinder davon aus, renten durch indefinite Nominalphrasen gelingt
dass Propositionen grundsätzlich wahr sind, egal Kindern erst im Alter von neun Jahren sicher.
ob als Hauptsatz oder Nebensatz ausgedrückt Fokuspartikeln: Generell markieren Fokuspar-
(s. Kap. II.3.3.2.4). Für faktive Sätze wie Sie bedau- tikeln die Beziehung der fokussierten Konstitu-
ert, dass Hans da ist führt das zu der vermeintlich ente zu einer Alternativmenge wie in Anna hat
korrekten Interpretation der Präsupposition. Die nur einen Ball oder Anna hat auch einen Ball
Satzkomplemente nicht-faktiver Verben wie den- (s. Kap. II.3.3.2.5). Aufgrund des lexikalischen Ge-
ken werden jedoch fälschlicherweise ebenfalls als halts ist diese Beziehung z. B. bei nur exklusiv und
wahr interpretiert. Aus Sie denkt, dass Hans da ist bei auch additiv. Während auch und nur bereits ab
wird daher gefolgert ›Hans ist da‹. Mit dem Erwerb dem zweiten Lebensjahr produziert werden, wird
der Theory of Mind, d. h. der kognitiven Einsicht, die korrekte Interpretation erst allmählich bis zum
dass andere Personen ein anderes Wissen und an- Alter von sechs bis sieben Jahren erschlossen. Da-
dere Ansichten über die Wirklichkeit haben kön- bei fallen den Kindern Strukturen mit Subjekt-Fo-
nen als man selbst, können Kinder dann – mit ca. kus wie Nur Anna hat einen Ball schwerer als
vier Jahren – zwischen faktiven und nicht-faktiven Strukturen mit Objekt-Fokus wie Anna hat nur
Verben unterscheiden (Schulz 2003). Die Interpre- einen Ball (vgl. Müller/Schulz/Höhle 2011).
tation von faktiven Sätzen, die unzutreffende Prä- Implikaturen: Um quantifizierte Sätze wie Eini-
supposition enthalten wie Sie denkt, dass Hans da ge Äpfel sind rot oder Die meisten Äpfel sind rot
ist in einer Situation, in der Hans nicht anwesend adäquat zu interpretieren, muss der Hörer die ska-
ist, fällt Kindern noch im Alter von sechs Jahren laren Implikaturen berechnen (s. Kap. II.3.6.1.2).
schwer. Statt solche Sätze zurückzuweisen, akzep- Die skalare Implikatur von einige ist zum Beispiel,
tieren die Kinder sie oder interpretieren sie um. dass der stärkere Ausdruck alle nicht zutrifft. Mit
Der Erwerb pragmatischer Fähigkeiten voll- der Berechnung skalarer Implikaturen haben Kin-
zieht sich während einer großen zeitlichen Span- der noch im Alter von fünf Jahren Probleme. Sie
ne. Einige grundlegende Einsichten in die Sprach- präferieren die logische Interpretation, der zufolge
verwendung werden bereits sehr früh erworben eine Äußerung wie Einige Äpfel sind rot auch dann
(Hickmann 2000; Schulz 2007a). So sind Kinder wahr ist, wenn alle Äpfel rot sind. Skalare Implika-
bereits im zweiten Lebensjahr in der Lage, an an- turen, die das Weltwissen betreffen wie Einige Gi-
dere Gesprächsbeiträge anzuknüpfen und dadurch raffen haben lange Hälse, werden sogar bis zum
einen Dialog aufrechtzuerhalten. Die Fähigkeit Alter von 10 Jahren zurückgewiesen.
verschiedene Sprechakte wie ›Aufforderung‹ Textstruktur: Die Fähigkeit zum Erzählen und
(Komm her!), ›Zustimmung‹ (ja) und ›Bitte‹ (Bitte Verstehen von Geschichten, die ein wichtiger As-
Kekse) einzusetzen, bildet sich ebenfalls sehr früh pekt der Pragmatik ist, bildet sich in einem all-
heraus. Andere Aspekte der Pragmatik bzw. der mählichen Erwerbsprozess heraus, da der Aufbau
Semantik-Pragmatik-Schnittstelle (s. Kap. II.3.3.5), einer Geschichte und die Integration der Einzeler-
die die Verknüpfung komplexerer sprachlicher, so- eignisse in die Erzählstruktur hohe sprachliche
zialer und kognitiver Fähigkeiten erfordern, wer- und konzeptuelle Anforderungen stellen. So wird
den erst im Grundschulalter erworben. Dazu zäh- Ironie als typisches Element von Erzählungen, die
len anaphorische Elemente, Fokuspartikeln, durch die Differenz zwischen wörtlicher Bedeu-
Implikaturen und Textstruktur. tung und Sprecherabsicht entsteht, erst im Laufe
Anaphorik: Dass sich definite und indefinite der Grundschulzeit erworben. Auch die Funktion
Ausdrücke in ihrer referentiellen Funktion unter- bestimmter satzverknüpfender Konjunktionen wie
scheiden, verstehen Kinder bereits mit ca. drei bis aber wird erst im Laufe der Grundschulzeit, die
vier Jahren. Die spezifischen Verwendungskontex- von sondern sogar erst gegen Ende der Grund-
te für indefinite und definite Artikel haben sie mit schulzeit erworben.

163
5.3
Spracherwerb
Früher Zweitspracherwerb

5.3 | Früher Zweitspracherwerb


Der Zweitspracherwerb des Deutschen wird seit erwarten, dass die Spracherwerbsmechanismen
den 1980er Jahren intensiv erforscht (vgl. den des Erstspracherwerbs noch wirksam sind.
Überblick in Rothweiler 2007a). Nach Untersu- Determinanten des frühen Zweitspracherwerbs,
chungen zum ungesteuerten Zweitspracherwerb in Abgrenzung zum Erstspracherwerb, sind die fol-
von Erwachsenen und von Kindern im Grund- genden weiteren Faktoren:
schulalter folgten Anfang der 2000er Jahre erste N Vor Erwerbsbeginn, d. h. in den ersten zwei bis
Studien zum Zweitspracherwerb jüngerer Kinder vier Lebensjahren, kein systematischer Kontakt
(vgl. Ahrenholz 2006). Dabei interessiert die mit der Zweitsprache
Spracherwerbsforschung sowohl der Vergleich N Umfassende sprachliche Fähigkeiten in der
zum Erwerb einer zweiten Sprache im Erwachse- Erstsprache
nenalter als auch zum Erstspracherwerb. N Altersentsprechend entwickelte kognitive Fä-
Der frühe Zweitspracherwerb eignet sich be- higkeiten
sonders, um den Einfluss des Alters auf den Ver- N Altersangemessen ausgeprägtes Weltwissen
lauf und den Erfolg des Spracherwerbs zu untersu- Dieses Ungleichgewicht der Fähigkeiten hat in der
chen. Anders als im Erstspracherwerb ist das Alter Forschung die Frage aufgeworfen, welche kogniti-
des Lerners nicht identisch mit der Kontaktdauer ven Ressourcen im frühen Zweitspracherwerb ge-
(length of exposure), d. h. der Länge des systemati- nutzt werden. Insbesondere wird untersucht, ob
schen Kontakts mit der Zielsprache. Daher ist das und in welcher Weise beim frühen Zweitsprach-
Alter bei Erwerbsbeginn (age of onset) in allen erwerb ein Transfer aus der Erstsprache erfolgt,
Studien ein zentraler Faktor. Kinder erwerben eine d. h. dass sprachliche Strukturen und Regeln aus
zweite Sprache im Regelfall leichter und sicherer der Erstsprache in die Zweitsprache übertragen
als Erwachsene. Dieser Befund gilt v. a. in der ge- und verwendet werden. Auch die Frage, ob und
nerativen Spracherwerbsforschung als Evidenz da- wie auf die im Nativismus angenommene Univer-
für, dass die menschliche Fähigkeit zum erfolgrei- salgrammatik zurückgegriffen werden kann, wird
chen Spracherwerb an ein bestimmtes Zeitfenster kontrovers diskutiert.
gebunden ist; dieses wird als sensible oder kriti- Generelle Aussagen zum frühen Zweitsprach-
sche Phase bezeichnet. Neuere Studien, die sich erwerb sind schwieriger zu treffen als im Erst-
mit dem frühen Zweitspracherwerb auseinander- spracherwerb, da viele Erwerbsfaktoren von Ler-
setzen, legen das Ende der kritischen Periode ins ner zu Lerner unterschiedlich sind (vgl. Rothweiler
Vorschulalter (Meisel 2009). Ob sich dieses Zeit- 2007a). Die wichtigsten variablen Faktoren im
fenster, das auf Untersuchungen zur morpho-syn- frühen Zweitspracherwerb sind:
taktischen Entwicklung beruht, auf die anderen N Zeitpunkt des zeitversetzten Erwerbsbeginns
Sprachebenen Phonologie, Semantik und Pragma- N Qualität des Inputs
tik übertragen lässt, ist Gegenstand aktueller For- N Quantität des Inputs
schung. N Lebensweltliche Relevanz und Wertigkeit der
Nimmt man an, dass der frühe Zweitspracher- Sprache
werb mit einem Erwerbsbeginn zwischen zwei
und vier Jahren in die kritische Periode fällt, ist zu

Definition 5.3.1 | Phonologieerwerb

Der Erwerb einer zweiten Sprache zeitversetzt nach dem Erwerb der Retrospektive Studien mit erwachsenen Zweit-
Erstsprache wird als   Zweitspracherwerb bezeichnet. Die Zweitspra- sprachlern belegen den Einfluss des Alters bei Er-
che wird, ebenso wie die Erstsprache, in der Sprachumgebung des Ler- werbsbeginn auf den Phonologieerwerb. Erwachse-
ners gesprochen und ungesteuert erworben. Die Erwerbsverläufe sind ne, die im Alter von sieben Jahren die Zweitsprache
je nach Alter bei Erwerbsbeginn unterschiedlich. Setzt der Erwerb der zu lernen begannen, sind dabei gegenüber Lernern
zweiten Sprache im Alter von zwei bis drei Jahren ein, spricht man vom mit einem höheren age of onset im Vorteil. Sie wei-
frühen Zweitspracherwerb. Bei einem Erwerbsbeginn mit sechs Jahren sen seltener eine für die Zweitsprache untypische
oder später spricht man vom späten kindlichen Zweitspracherwerb. Die Prosodie (foreign accent) auf, zeigen eine adäquate
genauen Altersgrenzen sind Gegenstand aktueller Forschung. Sprechgeschwindigkeit und unterscheiden auch
Konsonanten und Vokale besser. Dass sich die pho-

164
5.3
Spracherwerb
Wortschatzerwerb

nologischen Leistungen jedoch trotzdem von denen zes aus, später steigt ihr Anteil auf 30 % (Nomen)
der Muttersprachler unterscheiden, deutet darauf bzw. 20 % (Verben). Wie im Erstspracherwerb
hin, dass für eine vollständige phonologische Kom- nimmt der Anteil sozial-pragmatischer Ausdrücke
petenz ein früherer Erwerbsbeginn als mit sieben im Entwicklungsverlauf ab (Jeuk 2003). Ein eher
Jahren notwendig ist. kontinuierlicher Wortschatzzuwachs scheint die
Lautwahrnehmung: Wenn Kinder zwischen Regel; dagegen tritt ein Wortschatzspurt, wie er im
zwei und vier Jahren mit dem Zweitspracherwerb Erstspracherwerb häufig beobachtet wird, selten
beginnen, haben sie die phonetischen Kategorien auf. Wie im Erstspracherwerb ist der Erwerb von
ihrer Erstsprache sowie fundamentale Beziehun- Verben eng mit Fortschritten in der Syntax verbun-
gen zwischen Form und Bedeutung bereits ge- den (Tracy 2008).
meistert. Die phonologische Erwerbsaufgabe im Bedeutungserwerb: Bereits nach kurzer Kon-
frühen Zweitspracherwerb besteht folglich darin, taktdauer beginnen frühe Zweitsprachlerner, sich
das phonologische System der Zweitsprache zu- Bedeutungsaspekte von Verben zu erschließen.
sätzlich zu dem bereits bestehenden System auf- Das Konzept der Telizität – die Eigenschaft von
zubauen. Ein häufiger Gebrauch der Erstsprache Verben, Ereignisse mit oder ohne Endzustand aus-
scheint sich dabei negativ auf die rezeptiven Fä- zudrücken – wird im Alter von ca. fünf Jahren,
higkeiten in der Zweitsprache auszuwirken. nach einer Kontaktdauer von etwa 20 Monaten,
Lautproduktion: Phonologische Prozesse wie erworben. Die Fähigkeit, den Endzustand bei teli-
z. B. Vorverlagerung in tiste statt ›Kiste‹, die den schen Verben wie aufmachen als obligatorisch zu
frühen Erstspracherwerb kennzeichnen, treten im erkennen, wird mit ca. sieben Jahren gemeistert
frühen Zweitspracherwerb nicht systematisch auf. (Schulz/Ose 2007).
Belegt sind jedoch Silbenstrukturprozesse, die erst Lexikalische Strategien im frühen Zweitsprach-
später überwunden werden, wie Reduktion von erwerb: Lexikalische Lücken, die naturgemäß be-
Konsonantenclustern (bot oder berot statt ›Brot‹) sonders bei Erwerbsbeginn ins Gewicht fallen,
und die Auslassung unbetonter Silben wie nane werden verbal und nonverbal kompensiert. Zu den
statt ›Banane‹. Der frühe Zweitspracherwerb der verbalen Ersatzstrategien gehören Wiederholun-
Phonologie folgt also nicht in seinem gesamten Er- gen, Nachfragen und semantische Ersetzungen.
werbsverlauf dem Erstspracherwerb. Die Kinder Um eine aktivische Handlung zu markieren, ver-
nutzen ihr phonologisches Wissen aus der Erst- wenden frühe Zweitsprachlerner komplexe Verb-
sprache, um rasch das phonologische System der gefüge aus dem Verb machen und einem weiteren
Zweitsprache aufzubauen. Vollverb wie Die da zu schenken gemacht ich (Jeuk
2003). Zu den nonverbalen Strategien zählen der
Einsatz von beschreibender Gestik und gestischer
Deixis wie Zeigegesten. Auch Sprachmischungen
5.3.2 | Wortschatzerwerb aus Erst- und Zweitsprache werden zur Kompen-
sation lexikalischer Lücken eingesetzt. Dabei
Die bislang vorliegenden Untersuchungen zum wechseln Kinder häufiger zwischen den Sprachen,
Wortschatzerwerb bei frühen Zweitsprachlernern wenn der Gesprächspartner auch in beiden Spra-
deuten darauf hin, dass wie im Erstspracherwerb chen kompetent ist. Die Kinder können also die
der passive Wortschatzerwerb dem aktiven voran- Sprachkompetenz ihres Gesprächspartners sehr
geht und dass sich der Erwerb komplexer Bedeu- genau einschätzen; das ist auch für den doppelten
tungsaspekte noch bis in das Grundschulalter er- Erstspracherwerb gut dokumentiert.
streckt.
Komposition des Wortschatzes: Der Wortschatz- (6) A (5;0 Jahre, ca. 30 Kontaktmonate, Erstsprache Türkisch)
erwerb der Zweitsprachlerner ähnelt dem der Erst- spielt mit dem gleichaltrigen Kind B mit gleicher Erstsprache
sprachlerner. Sozial-pragmatische Ausdrücke wie und kommentiert einen Fleck, den sie gemacht hat.
ja, nein, danke, deiktisch verwendete Artikel (der, A: onu ben yapt’m. (= das da habe ich gemacht) Aber das
die) und Pronomen wie ich dominieren zu Beginn nicht so schlimm hier.
des Zweitspracherwerbs den aktiven Wortschatz. Nehm [meint die Farbe]. Ich möchte nich so schreien.
Nomen, insbesondere Konkreta wie Auto, und Ver- B: Schrei doch nich.
ben wie bauen tauchen bereits nach kurzer Kon- (Beispiel aus Rothweiler 2007a)
taktdauer auf. Nomen machen anfangs etwa einen
Anteil von 20 %, Verben von 15 % des Wortschat-

165
5.3
Spracherwerb
Früher Zweitspracherwerb

(7) C (4;2 Jahre, Erstsprachen Deutsch und Englisch) im Gespräch Erwerbsbeginn von sechs Jahren belegt (z. B. Der
mit ihrer Mutter Willie zuhören in der Papa, Ich habe gesehen die
C: I want to hear a Schallplatte. Batterie; vgl. Dimroth 2007; Haberzettel 2005).
Mutter: What? Flexionsmorphologie: Die Verbalflexion wird
C: I want to hear one of those round things that’s in a wie im Erstspracherwerb schrittweise erworben;
square thing. Übergeneralisierungen regelmäßiger Formen wie
(Beispiel aus Tracy 2008) halt statt ›hält‹ und genehmt statt ›genommen‹
sind typisch. Im Bereich der Nominalflexion
Sprachmischungen spielen auch eine zentrale Rol- umfasst die Erwerbsaufgabe das Kasus- und Nu-
le, wenn es keine lexikalischen Lücken zu füllen merussystem ebenso wie das Genussystem, das
gilt. In mehrsprachigen Kontexten nutzen auch häufig von dem der Erstsprache abweicht. Defi-
kompetente Mehrsprachige häufig Mischungen nite Artikel, die für die Markierung von Kasus,
und Sprachwechsel als Stilmittel und zur Markie- Numerus und Genus im Deutschen besonders
rung von Diskursfunktionen. relevant sind, werden nach 15 bis 20 Kontakt-
monaten fast durchgängig verwendet. Der indefi-
nite Artikel wird früher als der definite erwor-
ben; vorübergehend werden auch Pluralnomen
5.3.3 | Erwerb der Morphologie inkorrekterweise mit dem indefiniten Artikel
und Syntax markiert. Eine Differenzierung des Genussys-
tems in zwei Genera (maskulin und feminin) er-
Der Erwerb der Morphosyntax bildet einen folgt in etwa nach dem 12. Kontaktmonat und
Schwerpunkt der frühen Zweitspracherwerbsfor- offenbar unabhängig von dem Genussystem der
schung (Rothweiler 2007a; Tracy/Lemke 2012). Erstsprache. Die Differenzierung in drei Genera
Anhand von verschiedenen Fallstudien wurde v. a. wird etwas später vollzogen. In der Kasusflexion
der Erwerb der Satzstruktur untersucht; wie in der erscheint zuerst der Akkusativ nach etwa 12 Mo-
Erstspracherwerbsforschung bildet das topologi- naten; die Ausdifferenzierung des Kasussystems
sche Feldermodell die Grundlage (s. 5.2.3). erstreckt sich mit dem Dativerwerb bis nach dem
Syntaktische Meilensteine: Zu Beginn des siebten Geburtstag und erfolgt ebenfalls unab-
Zweitspracherwerbs erscheinen sehr schnell Mehr- hängig von der Erstsprache (Tracy/Lemke 2012)
Gemeinsamkeiten wortäußerungen mit unflektierten Verben in der Der Forschungsstand für die Interpretation syn-
zum Erstspracherwerb rechten Satzklammer wie da auch winken oder taktischer Strukturen ist weniger umfassend als im
eine Haus gemach, die typisch für Meilenstein II Erstspracherwerb. Ein zielsprachliches Verständ-
sind. Nach sechs bis zwölf Kontaktmonaten er- nis von W-Fragen zeigen frühe Zweitsprachlerner
scheinen mit Auftreten von Meilenstein III erste im Alter von etwa sechs Jahren bzw. nach 26 Kon-
flektierte Verben in der Verbzweit-Position wie Der taktmonaten (Schulz/Tracy 2011). Dabei werden
winkt auch oder Dann muss man des anmaln oder wie im Erstspracherwerb Subjektfragen wie Wer
W-Fragen wie Warum hast du des? Sobald im hilft dem Hund? schneller erworben als Objekt-
Hauptsatz flektierte Verben in der Verbzweit-Posi- und Adjunktfragen (s. 5.2.3).
tion produziert werden, wird auch die Subjekt-
Verb-Kongruenz realisiert; Abweichungen betref-
fen v. a. verbspezifische Formen wie der fehlende
Umlaut in Die halt fest statt Die hält (das) fest. 5.3.4 | Erwerb der Semantik
Meilenstein IV wird während der ersten 12 bis 18 und Pragmatik
Kontaktmonate erreicht, wenn Nebensätze mit
korrekter Verbendstellung produziert werden wie Im frühen Zweitspracherwerb wurden exhaustive
weil der da eingesperrt ist oder wenn ich bei Dok- W-Fragen und Quantoren (Satzsemantik) sowie
tor geh oder bis der Mama fertig is. Wie im Erst- Anaphorik (Pragmatik) untersucht (s. 5.2.4). Die
spracherwerb treten nicht flektierte Verben in der Semantik einfacher exhaustiver W-Fragen wie
Verbzweit-Position und Verbklammern ohne Beset- Wer hat einen Hut auf? wird von frühen Zweit-
zung der rechten Satzklammer nur sehr selten auf. sprachlernern mit ca. sechs Jahren erworben. In
Diese Strukturformate, die an den Zweitsprach- ihrer jeweiligen Erstsprache beherrschen die glei-
erwerb Erwachsener erinnern, sind im späten chen Kinder diesen Fragetyp – wie die Erstsprach-
kindlichen Zweitspracherwerb mit einem Alter bei lerner – bereits im Alter von fünf Jahren; dies

166
5.4
Spracherwerb
Phonologische Störungen

deutet auf sprachübergreifende Parallelen im Ex- einsprachigen Kindern. Die Verwendung anapho-
haustivitätserwerb hin. Die Interpretation gepaar- rischer Ausdrücke wie definiter und indefiniter
ter W-Fragen und dreifacher W-Fragen wird da- Artikel beherrschen frühe Zweitsprachlerner im
gegen in der Zweitsprache mit fünf Jahren noch Alter von fünf Jahren noch nicht sicher. Sie produ-
nicht beherrscht. Die zielsprachliche Interpretati- zieren zwar beide Artikel; insbesondere die spezi-
on quantifizierter Sätze wie Jedes Kind trägt eine fischen Verwendungskontexte für definite Artikel
Kiste in Extra-Objekt-Kontexten gelingt frühen haben sie jedoch noch nicht gemeistert. Anders als
Zweitsprachlernern bereits mit sieben Jahren (bei gleichaltrige Erstsprachlerner ersetzen sie definite
etwa 48 bis 60 Kontaktmonaten) in ca. 70 % der Artikel häufig durch indefinite Artikel (Ose/Schulz
Fälle und damit besser als zwei Jahre jüngeren 2010).

5.4 | Sprachentwicklungsstörungen
Nicht alle Kinder erwerben ihre Erstsprache ohne Definition
Probleme. Beeinträchtigungen im Spracherwerb
zeigen sich bei Kindern mit sensorischen oder Eine   Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) ist eine gravie-
kognitiven Defiziten, z. B. aufgrund einer hochgra- rende Störung des Spracherwerbs, die nicht durch eine Primärbeein-
digen Hörschädigung oder aufgrund des Down- trächtigung anderer Organe oder Funktionen verursacht wurde.
Syndroms. Fallen Kinder ohne solche Beeinträchti- Sinnesorgane und nicht-sprachliche Intelligenz sind altersgemäß ent-
gungen durch gravierende Defizite im Spracherwerb wickelt. Die psychisch-emotionale Entwicklung ist unauffällig, und
auf, liegt vermutlich eine Spezifische Sprachent- Defizite im Input oder den Umweltbedingungen liegen nicht vor. Die
wicklungsstörung (SSES) vor. Diese Störung zählt Störung des Spracherwerbs drückt sich in einem späten Sprechbeginn,
mit einer Auftretenshäufigkeit von 6 bis 8 % zu den gefolgt von Verzögerungen und quantitativen und qualitativen Defizi-
häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindesalter ten im Spracherwerb aus. Eine SSES äußert sich in allen Sprachen, die
(Grimm 2000b; Leonard 1998). das Kind erwirbt.
Frühindikatoren: Eine SSES wird in Deutsch-
land in der Regel nach dem dritten Geburtstag, oft
auch deutlich später, diagnostiziert. Frühe Indika- aus, dass die Störung prinzipiell alle Bereiche des
toren für eine mögliche SSES finden sich bereits in Sprachsystems betreffen kann. Schwierigkeiten tre-
der vorsprachlichen Entwicklung. So unterschei- ten sowohl in den – intensiv erforschten – Ebenen
den sich Kinder mit einer späteren SSES von Syntax, Phonologie und Lexikon auf als auch in
sprachlich unauffälligen Kindern u. a. in der Kom- den – in jüngerer Zeit vermehrt untersuchten – Be-
plexität der Säuglingsschreie, in der Qualität und reichen der Pragmatik und Semantik (Leonard
Quantität des Lallens sowie in der Differenzierung 1998; Schulz 2010). Der Eindruck der Heterogenität
von Lautkontrasten und Betonungsmustern. Zu wird dadurch verstärkt, dass es Subtypen von SSES
den frühen sprachlichen Indikatoren zählen ein gibt, d. h. dass Teilbereiche jeweils selektiv gestört
verspäteter Beginn des Wortschatzerwerbs und sein können. So sind manche Kinder von einer
der Mehrwortphase. Produziert ein Kind im Alter SSES selektiv im Bereich der Syntax betroffen
von 24 Monaten weniger als 50 Wörter bzw. noch (Friedmann/Novogrodsky 2008). Welche Subtypen
keine Wortkombinationen, gilt es als später es gibt, ist Gegenstand aktueller Forschung.
Sprechbeginner (Late Talker). Ungefähr 50 bis
65 % dieser Kinder holen im weiteren Spracher-
werb nicht mehr auf und entwickeln eine SSES
(Schulz 2007b). Die anderen Kinder schließen 5.4.1 | Phonologische Störungen
zum normalen Spracherwerb auf; sie werden als
Late Bloomer bezeichnet. Phonologische Störungen treten systematisch im
Störungsvielfalt und Subtypen: Eine SSES kann Bereich des phonologischen Merkmalssystems
sich auf der rezeptiven und/oder produktiven bzw. der Wort- und Satzprosodie auf und sind von
Ebene manifestieren, wobei expressive Störungen rein artikulatorischen Störungen (z. B. /s/-Fehlbil-
ohne rezeptive Beeinträchtigungen eher selten sind. dungen) abzugrenzen. Eine phonologische Stö-
Das heterogene Störungsbild ergibt sich auch dar- rung liegt dann vor, wenn typische Zwischenpha-

167
5.4
Spracherwerb
Sprachentwicklungs-
störungen

sen nicht überwunden werden oder wenn sich griffe (Tier oder Tiger für ›Löwe‹) und gelegentlich
individuelle phonologische Prozesse verfestigen. auch die Verwechslung von phonologisch ähnli-
Neben der Vereinfachung von Wörtern und Silben chen Wörtern (Dose für ›Hose‹).
ist häufig auch das phonologische Merkmalssys- Telizitätserwerb: Während sprachunauffällige
tem nicht vollständig ausdifferenziert, so dass nur Kinder im Alter von etwa drei Jahren den Unter-
ein eingeschränktes Lautinventar für die Produk- schied zwischen telischen Verben wie aufmachen
tion zur Verfügung steht, wie bei Des tenn i dlaub und nicht telischen Verben wie malen kennen, zei-
von mein alten Tindi (›das kenne ich glaube ich gen Kinder mit SSES noch im Alter von sechs bis
von meinem alten Kindi‹ = Kindergarten), geäu- acht Jahren gravierende Schwierigkeiten mit dem
ßert von einem sechsjährigen Kind. Auch die Laut- Konzept der Telizität (Penner/Schulz/Wymann
wahrnehmung kann beeinträchtigt sein: So unter- 2003; Schulz/Tracy 2011).
scheiden Kinder mit SSES im Alter von fünf bis
zehn Jahren Silbenkontraste wie [da]-[ba] nicht
sicher. Störungen auf der prosodischen Ebene
sind selten: Hier werden reduzierte Wortformen 5.4.3 | Syntaktische und morphologische
wie nane statt Banane über das Alter von vier Störungen
Jahren hinaus beibehalten; längere Wörter werden
teilweise mit Gleichbetonung realisiert, z. B. Defizite auf der syntaktischen und morphologi-
/Papagei/ als [Papa][gei]. schen Ebene, wie Finitheit, Subjekt-Verb-Kongru-
enz und Wortstellung im Haupt- und Nebensatz
wurden am intensivsten untersucht. Kinder mit
SSES haben häufig anhaltende Probleme mit dem
5.4.2 | Lexikalische Störungen Erwerb der Satzstruktur und produzieren noch bis
zum Alter von fünf und sechs Jahren abweichende
Der passive und aktive Wortschatz ist bei Kindern Strukturen (Clahsen 1988; Lindner 2002):
mit SSES häufig geringer als bei sprachunauffälli-
gen Kindern. Wortschatzdefizite werden u. a. dar- (8) Hoffentlich heute meine Hexe was Schönes träumen
auf zurückgeführt, dass Kinder mit SSES man- (9) Mama heute schönes Wetter is
gelnde Fähigkeiten haben, neue Wörter adäquat (10) un Eier noch nich ich hatten
im mentalen Lexikon zu speichern. Sie erstellen (11) dauben (=glauben) du mir nich
eine phonologisch oder semantisch defizitäre Re- (12) ich machen das auch
präsentation des Zielworts oder haben Probleme,
die Repräsentation dauerhaft im Lexikon zu ver- Meilenstein III, der den Erwerb der Verbzweit-
ankern. Die lexikalischen Erwerbsprinzipien an Stellung im Hauptsatz markiert, wird sehr verzö-
sich sind jedoch offenbar wirksam. In der Produk- gert erreicht. Unflektierte Verben (8) sowie flek-
tion äußern sich diese Defizite in einem geringe- tierte Verben (9, 10) treten in der Verbletzt-Position
ren Wortschatzumfang oder in schwächeren auf. Zudem wird die Subjekt-Verb-Kongruenz ver-
Leistungen im Wortabruf. Der Verbwortschatz ist letzt, da flektiertes Verb und Subjekt nicht kongru-
offenbar stärker betroffen als der Nomenwort- ieren (10) oder das Verb in der Infinitivform ver-
schatz, wie bei der Umschreibung Weißt, ich muss wendet wird. Dass nicht flektierte Verben auch in
Benzin für das fehlende Verb tanken. Zudem ist Verberst- und Verbzweit-Position auftreten (11,
der Erwerb von Funktionswörtern wie Auxiliaren, 12), ist im Erstsprach- und frühen Zweitspracher-
Artikeln, Konjunktionen und Präpositionen ver- werb nur sehr selten belegt. Meilenstein IV, der
zögert. den Erwerb von Konjunktionen und der Verbletzt-
Kompensationsstrategien: Kinder mit lexikali- Stellung im Nebensatz markiert, wird ebenfalls
schen Störungen wenden verschiedene Strategien deutlich später als im ungestörten Erstspracher-
an, um ihre Wortschatzlücken zu kompensieren werb erreicht. Nebensätze werden zudem seltener
(Rothweiler 2001). Diese Strategien halten bis ins produziert als im unauffälligen Erwerb. Konjunkti-
Schulalter an, wie die folgenden Beispiele von Kin- onen wie weil, dass, ob werden verzögert erwor-
dern im Alter von sechs Jahren zeigen: Ausweich- ben und seltener verwendet.
verhalten (weiß ich nich), Umschreibungen (Seil Flexionsmorphologie: Viele Kinder mit SSES
wie ne Brezel für ›Knoten‹, rausmachen für ›abpflü- haben im Bereich der Verbalflexion Probleme
cken‹), die Verwendung bedeutungsähnlicher Be- mit der Person- und Numerusmarkierung. Über-

168
5.4
Spracherwerb
Mögliche Ursachen
von SSES

generalisierungen regulärer Verbformen wie ge- deutschsprachige Kinder mit SSES diese Schwierig-
seht statt gesehen sind auffällig lange zu beobach- keiten zeigen.
ten. Im Bereich der Nominalflexion finden sich
Abweichungen im Kasussystem und in der Plu-
ralbildung. Akkusativ und Dativ treten verzögert
auf; Plural wird entweder nicht markiert oder 5.4.5 | Mögliche Ursachen von SSES
eine Flexionsendung wie -en wird übergenera-
lisiert. In der Spracherwerbsforschung geht man inzwi-
Interpretation syntaktischer Strukturen: Kinder schen davon aus, dass es einen genetischen An-
mit SSES haben noch weit über das fünfte Lebens- teil an der Ausprägung einer SSES gibt (Grimm
jahr hinaus Schwierigkeiten mit der Interpretation 2000b; Leonard 1998). Dafür spricht u. a. die Tat-
einfacher W-Fragen (Schulz/Tracy 2011). So be- sache, dass bei eineiigen Zwillingen eine SSES viel
antworten sie z. B. die Objekt-Frage Wen trifft Lise häufiger bei beiden Kindern auftritt als bei zweiei-
im Park? mit Lise, dem Subjekt des Satzes, und die igen Zwillingspaaren. Auch die Tatsache, dass Jun-
Adjunkt-Frage Womit sägt der Bauarbeiter die Äste gen deutlich häufiger betroffen sind als Mädchen
ab? mit Baum. und dass eine SSES überzufällig häufig innerhalb
Untersuchungen aus dem Englischen und He- von Familien auftritt, spricht für eine genetische
bräischen belegen, dass Kinder mit SSES in der Komponente. Neurologische Anomalien in der
Interpretation von Relativsätzen, Passivstrukturen Gehirnentwicklung des Fötus werden ebenfalls als
und Pronomen noch im Alter von 10 Jahren er- Ursache diskutiert. Die Frage, wie sich genetische
hebliche Schwierigkeiten haben. Aufgrund der und neurologische Faktoren im Spracherwerb nie-
sprachvergleichenden Parallelen im ungestörten derschlagen, ist Gegenstand aktueller Forschung.
Spracherwerb ist anzunehmen, dass auch deutsch- Diese Frage ist auch deswegen interessant, weil –
sprachige Kinder mit SSES hier Schwierigkeiten wie eingangs erwähnt – noch offen ist, welche Stö-
haben. Dies betrifft die Interpretation von Objekt- rungsmerkmale grundsätzlich gemeinsam auftre-
relativsätzen wie Dies ist der Junge, den die Groß- ten und welche, als Subtypen einer SSES, auch
mutter küsst, das Verständnis von Passivsätzen selektiv auftreten können.
wie Der Fisch wurde von dem Mann gegessen und Erklärungsansätze: Prinzipiell lassen sich vier
von Sätzen mit Personalpronomen wie Anna theoretische Ansätze unterscheiden. Abweichen-
wäscht sie. des Sprachlernverhalten wird primär auf Defizite
der Basisfunktionen im Bereich der Informations-
verarbeitung zurückgeführt, da es Kindern mit
SSES häufig schwerfällt, schnell aufeinanderfol-
5.4.4 | Semantische und pragmatische gende Informationen wie Töne und Phoneme zu
Störungen verarbeiten. Von einigen Forschern wird angenom-
men, dass spezifisch sprachliche Erwerbsmecha-
Störungen im Bereich der Satzsemantik sind ein nismen, die für die raschen Erwerbsfortschritte im
junges Untersuchungsfeld (Schulz 2010). Kinder Erstspracherwerb verantwortlich sind, bei Kin-
mit SSES weisen anhaltende Schwierigkeiten mit dern mit SSES nicht greifen (z. B. Penner/Schulz/
der korrekten Interpretation exhaustiver W-Fra- Wymann 2003; Rothweiler 2001). Diese Defizite
gen auf. Gepaarte W-Fragen (Wer sitzt wo?) und führen dazu, dass die dauerhafte Wortspeicherung
dreifache W-Fragen (Wer gibt wem was?) bereiten im mentalen Lexikon oder die Unterscheidung te-
ihnen noch bis zum Alter von knapp acht Jahren lischer und nicht-telischer Verben nicht gelingt.
Probleme. Persistierende Defizite werden auch auf Probleme
Untersuchungen aus dem Englischen zur Inter- in der Verarbeitung von phonologischen Merk-
pretation quantifizierter Sätze (Jeder Junge reitet malen, insbesondere von Prosodie und Rhyth-
auf einem Elefanten) und anaphorischer Ausdrü- mus, zurückgeführt (Joanisse/Seidenberg 1998).
cke (Ein Hund bellt; der Hund rennt weg) sowie zur Schließlich wird argumentiert, dass SSES v. a. auf
Erzählfähigkeit weisen darauf hin, dass Kinder mit Defizite in der grammatischen Repräsentation
SSES in diesen Bereichen noch im Alter von 10 Jah- zurückgeführt werden kann. Einige Forscher ge-
ren schlechtere Leistungen zeigen als sprachun- hen davon aus, dass die Störung morpho-syntak-
auffällige Kinder. Aufgrund der sprachvergleichen- tische Aspekte betrifft, z. B. Finitheit, Subjekt-
den Parallelen ist daher wahrscheinlich, dass auch Verb-Kongruenz (vgl. Clahsen 1988) oder die Ne-

169
5.4
Spracherwerb
Sprachentwicklungs-
störungen

bensatzstruktur (Hamann/Penner/Lindner 1998). ten frühen Zweitspracherwerb prinzipiell mit de-


Andere Forscher nehmen an, dass der Aufbau nen monolingualer Kinder mit SSES vergleichbar
komplexer Strukturen, wie er bei W-Fragen oder sind (Rothweiler 2007b). So haben frühe Zweit-
Relativsätzen erforderlich ist, defizitär ist (Fried- sprachlerner mit SSES anhaltende Probleme mit
mann/Novogrodsky 2011). der Subjekt-Verb-Kongruenz, der Verbzweit-Struk-
tur und der Finitheit sowie mit Genus- und Kasus-
markierung. Die folgenden Beispiele illustrieren
typische Defizite im Bereich von Subjekt-Verb-
5.4.6 | Spezifische Sprachentwicklungs- Kongruenz und Finitheit bei einem 4;7 Jahre alten
störung im frühen Zweitspracherwerb Mädchen mit 22 Monaten Kontaktdauer zum
Deutschen und Aramäisch als Erstsprache.
Die Untersuchung von Sprachentwicklungsstörun-
gen bei Kindern, die Deutsch nicht als Erstsprache (13) Die Hund weint, wenn die, die böse sein und zugucken
sondern als frühe Zweitsprache erwerben, ist ein (14) Wenn du wegrennen nicht
neues Forschungsgebiet (vgl. Rothweiler 2007b). (15) Lise die Hund so kragen (=tragen)
Wie bei simultan bilingual aufwachsenden Kindern
wird davon ausgegangen, dass sich die SSES in allen Beispiel (15) verdeutlicht außerdem, dass das Ge-
Sprachen zeigt, die das Kind erwirbt. Die Störung nussystem im Deutschen noch nicht ausdifferen-
macht sich jedoch, abhängig vom Sprachtyp, un- ziert ist; es wird konsequent der feminine Artikel
terschiedlich bemerkbar. So schlägt sich eine gram- verwendet. Beispiele hierfür finden sich auch eini-
matische Störung in einer flexionsarmen Sprache ge Monate später noch bei einfachen maskulinen
wie dem Englischen stärker in der Satzstruktur nie- Nomen wie die Baum und die Hund.
der, während in einer flexionsreichen Sprache wie Diese Äußerungen einer frühen Zweitsprach-
dem Türkischen eher die Suffixbildung beeinträch- lernerin mit einer SSES belegen ebenso wie die an-
tigt ist. Als erwiesen gilt, dass Mehrsprachigkeit deren in diesem Kapitel beschriebenen Äußerungen
eine SSES nicht verstärkt. Einige Forscher nehmen und Interpretationen von Kindern, wie wichtig es
sogar an, dass Mehrsprachigkeit einen positiven ist, unterschiedliche Erwerbstypen zu unter-
Effekt haben kann, so dass eine SSES bei mehr- scheiden: den Erst- vom frühen Zweitspracher-
sprachigen Lernern weniger stark ausgeprägt ist werb und den unauffälligen Spracherwerb von
(vgl. Roeper 2012). der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung. Wie
Im frühen Zweitspracherwerb ist, wie im Erst- Kinder Sprache(n) erwerben, welche Erwerbspro-
spracherwerb, davon auszugehen, dass 5 bis 8 % zesse diesen Weg bestimmen und ob die Erwerbs-
aller Kinder von einer SSES betroffen sind. Wie wege für verschiedene Lerner und verschiedene
sich der Spracherwerb dieser Kinder von dem un- Sprachen ähnlich sind – auf diese Fragen hat die-
auffälligen frühen Zweitspracherwerb unterschei- ses Kapitel viele Antworten geliefert. Gleichzeitig
det, ist Gegenstand der aktuellen Forschung. Im ist deutlich geworden, dass viele Antworten noch
Bereich der Morphologie und Syntax belegen Ein- ausstehen. Diese Lücken zu schließen, ist Gegen-
zelfallanalysen, dass die Fehlermuster im gestör- stand der aktuellen Spracherwerbsforschung.

Literatur
Ahrenholz, Bernt (Hg.) (2006): Kinder mit Migrationshin- Dimroth, Christine (2007): »Zweitspracherwerb bei
tergrund. Spracherwerb und Fördermöglichkeiten. Kindern und Jugendlichen. Gemeinsamkeiten und
Freiburg. Unterschiede«. In: Tanja Anstatt (Hg.): Mehrsprachig-
Bruner, Jerome (1975): »From Communication to keit bei Kindern und Erwachsenen. Tübingen, S. 115–137.
Language: A Psychological Perspective«. In: Cognition 3, Fox, Annette/Dodd, Barbara (1999): »Der Erwerb des
S. 255–287. phonologischen Systems in der deutschen Sprache«.
Chomsky, Noam (1959): »Review of B. F. Skinner’s Verbal In: Sprache-Stimme-Gehör 23, S. 183–191.
Behavior«. In: Language 35/1, S. 26–58. Friedmann, Naama/Novogrodsky, Rama (2008):
Clahsen, Harald (1986): »Verb Inflections in German Child »Subtypes of SLI: SySLI, PhoSLI, LeSLI, and PraSLI«. In:
Language. Acquisition of Agreement Markings and the Anna Gavarró/Maria João Freitas (Hg.): Language
Functions they Encode«. In: Linguistics 24, S. 79−121. Acquisition and Development. Cambridge, S. 205–217.
– (1988): Normale und gestörte Kindersprache. Linguistische Friedmann, Naama/Novogrodsky, Rama (2011): »Which
Untersuchungen zum Erwerb von Syntax und Morpholo- Questions are Most Difficult to Understand? The
gie. Amsterdam. Comprehension of Wh Questions in Three Subtypes of
SLI«. In: Lingua 121, S. 367–382.

170
5.4
Spracherwerb
Literatur

Grimm, Angela (2010): The Development of Early Prosodic Penner, Zvi/Schulz, Petra/Wymann, Karin (2003):
Word Structure in Child German: Simplex Words and »Learning the Meaning of Verbs: What Distinguishes
Compounds. Dissertation, Universitätsverlag Potsdam. Language Impaired from Normally Developing
– /Müller, Anja/Hamann, Cornelia/Ruigendijk, Esther Children?«. In: Linguistics 41/2, S. 289–319.
(Hg.) (2011): Comprehension-Production-Asymmetries in Piaget, Jean (1972): Sprechen und Denken des Kindes [1923].
Child Language. Berlin/New York. Düsseldorf.
Grimm, Hannelore (Hg.) (2000a): Sprachentwicklung. Pinker, Steven (1984): Language Learnability and Language
Enzyklopädie der Psychologie, CIII. Bd. 3. Göttingen. Development. Cambridge, Mass.
– (2000b): »Entwicklungsdysphasie: Kinder mit spezifi- Roeper, Tom (2007): The Prism of Grammar. Cambridge.
scher Sprachstörung«. In: Dies. 2000a, S. 603–640. – (2012): »Minimalism and Bilingualism: How and Why
Guasti, Maria Teresa (2002): Language Acquisition. The Bilingualism Could Benefit Children with SLI«. In:
Growth of Grammar. Cambridge, Mass. Bilingualism: Language and Cognition 15/1, S. 88–101.
Haberzettel, Stefanie (2005): Der Erwerb der Verbstellungs- Rothweiler, Monika (2001): Wortschatz und Störungen des
regeln in der Zweitsprache Deutsch durch Kinder mit lexikalischen Erwerbs bei spezifisch sprachentwicklungs-
russischer und türkischer Muttersprache. Tübingen. gestörten Kindern. Heidelberg.
Hamann, Cornelia/Penner, Zvi/Lindner, Katrin (1998): – (22007): »Spracherwerb«. In: Jörg Meibauer u. a.:
»German Impaired Grammar: The Clause Structure Einführung in die germanistische Linguistik. Stuttgart/
Revisited«. In: Language Acquisition 7, S. 193−246. Weimar, S. 251–293.
Hickmann, Maya (2000): »Pragmatische Entwicklung«. In: – (2007a): »Bilingualer Spracherwerb und Zweitspracher-
Grimm 2000a, S. 171–192. werb«. In: Markus Steinbach u. a. (Hg.): Schnittstellen
Höhle, Barbara (2002): Der Einstieg in die Grammatik. Die der Germanistischen Linguistik. Stuttgart/Weimar.
Rolle der Syntax-Phonologie-Schnittstelle für Sprachver- – (2007b): »Spezifische Sprachentwicklungsstörung und
arbeitung und Spracherwerb. Unveröffentlichte Mehrsprachigkeit«. In: Hermann Schöler/Alfons
Habilitationsschrift, Freie Universität Berlin. Welling (Hg.): Sonderpädagogik der Sprache (= Hb
Jeuk, Stefan (2003): Erste Schritte in der Zweitsprache Sonderpädagogik, Bd. 1). Göttingen, S. 254–258.
Deutsch. Eine empirische Untersuchung zum Zweit- Schulz, Petra (2003): Factivity: Its Nature and Acquisition.
spracherwerb türkischer Migrantenkinder in Kinder- Tübingen.
tageseinrichtungen. Freiburg (22011). – (2007a): »Erstspracherwerb Deutsch: Sprachliche
Joanisse, Marc F./Seidenberg, Mark S. (1998): »Specific Fähigkeiten von Eins bis Zehn«. In: Ulrike Graf/
Language Impairment: a Deficit in Grammar or Elisabeth Moser Opitz (Hg.): Diagnostik am Schulan-
Processing?«. In: Trends in Cognitive Sciences 2, fang (= Entwicklungslinien der Grundschulpädagogik.
S. 240–247. Bd. 3). Baltmannsweiler, S. 67–86.
Jusczyk, Peter W. (1997): The Discovery of Spoken – (2007b): »Verzögerte Sprachentwicklung: Zum
Language. Cambridge, Mass. Zusammenhang zwischen Late Talker, Late Bloomer
Kauschke, Christina (2000): Der Erwerb des frühkindlichen und Spezifischer Sprachentwicklungsstörung«. In:
Lexikons. Tübingen. Hermann Schöler/Alfons Welling (Hg.): Sonderpädago-
Klann-Delius, Gisela (22008): Spracherwerb. Stuttgart/ gik der Sprache (= Hb Sonderpädagogik, Bd. 1).
Weimar. Göttingen, S. 178–190.
Leonard, Laurence B. (1998). Children with Specific – (2010): »Some Notes on Semantics and SLI«. In: Ana
Language Impairment. Cambridge, Mass. Castro/Joao Costa/Maria Lobo/Fernanda Pratas (Hg.):
Lindner, Katrin (2002): »Finiteness and Children with Language Acquisition and Development. Proceedings of
Specific Language Impairment«. In: Linguistics 40/4, GALA 2009. Cambridge, S. 391–406.
S. 797–847. – /Ose, Julia (2007): »What Early Successive Learners of
McDaniel, Dena/McKee, Cecile/Cairns, Helen (Hg.) (1996): German Know About Telicity«. Vortrag bei Generative
Methods for Assessing Children’s Syntax. Cambridge, Approaches to Language Acquisition (GALA), Barcelona.
Mass. – /Tracy, Rosemarie (2011): Linguistische Sprachstandserhe-
Meisel, Jürgen (2009): »Second Language Acquisition in bung – Deutsch als Zweitsprache (LiSe-DaZ). Göttingen.
Early Childhood«. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft Sekerina, Irina/Fernández, Eva M./Clahsen, Harald (Hg.)
28, S. 5–34. (2008): Developmental Psycholinguistics: On-line
Menyuk, Paula (2000): »Wichtige Aspekte der lexikali- Methods in Children’s Language Processing. Amsterdam.
schen und semantischen Entwicklung«. In: Grimm Skinner, Burrhus F. (1957): Verbal Behavior. New York.
2000a, S. 171–192. Stern, Clara/Stern, Wilhelm (1987): Die Kindersprache. Eine
Müller, Anja/Schulz, Petra/Höhle. Barbara (2011): »How psychologische und sprachtheoretische Untersuchung
the Understanding of Focus Particles Develops: [1907]. Darmstadt.
Evidence from Child German«. In: Michalea Pirvulesc/ Szagun, Gisela (32010): Sprachentwicklung beim Kind: ein
María Cristina Cuervo u. a. (Hg.): Selected Proceedings Lehrbuch. Weinheim.
of the 4th Conference on Generative Approaches to Tomasello, Michael (2003): Constructing a Language: A
Language Acquisition North America (GALANA 2010). Usage-based Theory of Language Acquisition. Cam-
Somerville, Mass., S. 163–171. bridge/London.
Ose, Julia/Schulz, Petra (2010): »Was fehlt Jonas – Ein Tracy, Rosemarie (1986): »The Acquisition of Case
Taschentuch oder das Taschentuch? Eine Pilotstudie Morphology in German«. In: Linguistics 24, S. 47–78.
zum Artikelerwerb bei Kindern mit Deutsch als – (2000): »Sprache und Sprachentwicklung: Was wird
Zweitsprache«. In: Martina Rost-Roth (Hg.): DaZ – erworben?«. In: Grimm 2000a, S. 3–39.
Spracherwerb und Sprachförderung Deutsch als – (22008): Wie Kinder Sprachen lernen: Und wie wir sie
Zweitsprache. Beiträge aus dem 5. Workshop Kinder mit dabei unterstützen können. Tübingen.
Migrationshintergrund. Freiburg i. Br., S. 79–97.

171
5.4
Spracherwerb
Literatur

– (2011): »Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruk- Sandra Benazzo/Maya Hickmann (Hg.): Comparative
tion: Minimalistische und (trotzdem) konstruktivisti- Perspectives on Language Acquisition – a Tribute to Clive
sche Überlegungen zum Spracherwerb«. In: Stefan Perdue. Bristol u. a., S. 303–323.
Engelberg/Anke Holler/Kristel Proost (Hg.): Sprachli- Weissenborn, Jürgen (2000): »Der Erwerb von Morpholo-
ches Wissen zwischen Lexikon und Grammatik. Jahrbuch gie und Syntax«. In: Grimm 2000a, S. 141–169.
des Instituts für Deutsche Sprache 2010. Berlin/New
York, S. 397–428.
– /Lemke, Vytautas (2012): »Young L2 and L1 Learners:
More Alike than Different«. In: Marzena Watorek/ Petra Schulz und Angela Grimm

172
III. Literaturwissenschaft
1.1
Literaturtheoretische Grundbegriffe

1 Literaturtheoretische Grundbegriffe
1.1 Text und Textverstehen
1.2 Literatur/Literarizität und Fiktionalität
1.3 Intertextualität
1.4 Rhetorik und Poetik

1.1 | Text und Textverstehen


1.1.1 | Text Lesefähigkeit: Auch wenn Gutenbergs Erfin-
dung des Buchdrucks eine mediale Revolution
Der Begriff ›Text‹: Textus bzw. textum (von lat. te- ausgelöst hat (s. Kap. III.2.2.2), hinkt dieser die
xere: weben) bedeuten in der antiken Tradition im Rate der Alphabetisierung in Deutschland hinter-
wörtlichen Sinn ›Gewebe‹ oder ›Geflecht‹ aber her: Um 1500 kommen auf etwa 13 Millionen
auch schon im übertragenen Sinn ›Zusammen- Deutsche etwa 75 000 aktive Leser, um 1600 gibt
hang‹ oder ›Struktur‹. Durch Kohärenz oder Ver- es bei 20 Millionen Deutschen etwa 50 000 akade-
flechtung wird aus einzelnen Zeichen ein Text. In misch Gebildete und etwa 500 000 Gelegenheitsle-
der antiken Rhetorik wird unter textus auch ›Stil‹ ser. Die Schulpflicht wird in Preußen 1717 einge-
oder ›Machart der Rede‹ verstanden (vgl. Ehlich führt, andere Länder folgen z. T. erheblich später.
2005). Allgemein impliziert der Begriff ›Text‹ die Ende des 18. Jh.s können weiterhin nur etwa 15 %
Verschriftlichung, d. h. die materielle Vergegen- der Bevölkerung lesen und schreiben, erst um
ständlichung einer Rede. Dieser Materialität des 1900 sind es dann 90 % der erwachsenen Bevöl-
Textes wird in der Hermeneutik, der Lehre des kerung.
Verstehens, ein als geistig apostrophierter Sinn Ende der Gutenberg-Galaxis? Die kulturelle
gegenübergestellt (s. u. 1.1.2). Dominanz des Buchs sieht der Medienwissen-
Schriftlichkeit: Die frühesten Formen schriftli- schaftler Marshall McLuhan mit dem Siegeszug
cher Aufzeichnung stammen aus Mesopotamien der elektronischen Medien bzw. der elektroni-
(dem heutigen Irak) und datieren aus dem 9. Jahr- schen Vernetzung zu einem Ende gekommen und
tausend v. Chr. Dabei handelt es sich um Zahlsym- spricht plakativ von einem »Ende der Gutenberg-
bole, mit denen man vermutlich Waren bezeichnet Galaxis« (McLuhan 1962/1995). Über diese These
hat. Kulturhistorischer Hintergrund dafür ist das lässt sich streiten. Einerseits ist es nicht zuletzt
Sesshaft-Werden eines zuvor nomadischen Volks eine Vielzahl von Leseakten, die das Internet von
von Jägern, das sich nun dem Ackerbau widmet. seinen Nutzer/innen verlangt; die Zahl der ge-
(vgl. Schmandt-Besserat 1992). Die ägyptischen druckten Bücher nimmt auch nicht ab, sondern
Hieroglyphen (3200–3000 v. Chr.) sind zunächst zu, und ihnen ist mit dem E-Book ein elektroni-
eine reine Bilderschrift, in der die Bildzeichen für sches Lesemedium an die Seite gestellt worden.
reale Gegenstände stehen. Sie entwickeln sich Andererseits wird eingewandt, dass das Internet
nach und nach zu einer teilphonetischen Notation, eine konzentrierte Lektüre erschwere und dass E-
in der erste Laut- oder Sinnzeichen entstehen. Die Books in ihrer Ästhetik und Aufmachung sowie
erste vollständig phonographische Schrift ist die mit Blick auf ihren Lesekomfort nicht an das klas-
griechische (ab 9. Jh. v. Chr.) – das Vorbild auch für sische Buch heranreichen: »Elektronische Bücher
unsere eigene dem lateinischen Alphabet entstam- kann man [zwar] nicht in den Mülleimer schmei-
mende Notation. Ihr Prinzip besteht darin, stimm- ßen, doch verwirklichen sie nun das höchste Ideal
liche Lautwerte in kleinste bedeutungstragende der Wegwerfbewegung: den künstlerischen und
Einheiten zu zerlegen (Phoneme; s. Kap. II.2.1) menschlichen Wert der Objekte, mit denen wir
und diese schriftlich zu kodifizieren (Grapheme). umgehen, auf null zu reduzieren« (Gelernter 2010;
Eine solche Schrift funktioniert analytisch, d. h., sie vgl. auch Baker 2009).
ordnet die Schriftzeichen nicht ganzen Wörtern,
sondern einzelnen Lauten zu.

175
1.1
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Text und Textverstehen

1.1.2 | Textverstehen gen der Bibel so schwer verständlich bzw. mehr-


deutig sind:
»Rede erleidet beim Übergang zur Schrift nicht nur eine
Verwandlung ihres Ausdrucksmaterials; die Texte werden »Es gibt […] in den heiligen Schriften zahlreiche, ver-
auch auf eine nie ganz kontrollierbare Weise sowohl von schiedene Dunkelheiten und zweideutige Ausdrücke,
ihren Bedeutungen wie von dem Mitteilungskontext und durch die sich vorwitzige Leser täuschen lassen. […]
den Intentionen des Autors entkoppelt« (Frank 1979, Diese Vorkehrung wurde ohne Zweifel deshalb von Gott
S. 60). getroffen, um den Hochmut durch mühselige Arbeiten zu
zähmen und den Geist, dem ohne Mühe Erforschtes häu-
fig wertlos wird, von Ekel zu bewahren« (De doctrina
Antike Grundlegung: Der Aspekt, den der Philo- christiana II, 6).
soph Manfred Frank in Bezug auf die Textualität
hervorhebt, steht bereits in Platons Dialog Phai-
dros, und zwar im Zentrum einer berühmt gewor- Die Auslegungsbedürftigkeit der Heiligen Schrift
denen Reflexion über das Schriftmedium. Der Sage wird hier auf zweifache Weise positiv gewendet:
nach, weiß Sokrates dort zu berichten, habe ein erstens als Einübung in christliche Demut – man
ägyptischer Gott namens Theuth die Buchstaben soll mit seinem irdischen Verstand nicht meinen,
erfunden und gegenüber dem ägyptischen König alles gleich zu durchschauen; und zweitens als pä-
Thamus behauptet, dass deren »Kenntnis […] die dagogisches Mittel zur nachdrücklicheren Veran-
Ägypter weiser und ihr Gedächtnis besser ma- kerung des Gelesenen bzw. als philologische oder
chen« werde. Der König jedoch erwidert: ästhetische Erfahrung: Die Auslegung von schwer
Verständlichem eröffnet differenziertere und nach-
»Diese Erfindung wird die Lernenden in der Seele vergess- haltigere Sichtweisen auf Sachverhalte oder macht
lich machen, weil sie dann das Gedächtnis nicht mehr
üben; denn im Vertrauen auf die Schrift suchen sie sich
auch schlicht mehr Spaß als das allzu Eindeutige
durch fremde Zeichen außerhalb, und nicht durch eigene oder Evidente, das schneller langweilig wird.
Kraft in ihrem Innern zu erinnern« (Phaidros 274c). Textverstehen im Mittelalter: Die Lehre vom
Verstehen eines Textes, die Hermeneutik, bleibt
Entfremdung von Schrift bringt demnach immer auch eine Entfrem- auch im Mittelalter an das christliche Weltbild ge-
der Innerlichkeit dung von der Innerlichkeit mit sich. Sobald man bunden (vgl. Brinkmann 1980; Wehrli 1986; Kraß
etwas verschriftlicht, entäußert man sich an ein 2006). Theologen des 12. Jh.s unterscheiden – an-
Medium und begibt sich auf einen zeichenhaften knüpfend an spätantike und frühmittelalterliche
Umweg zum Rezipienten. Dabei droht stets die Ge- Kirchenlehrer – zwei Bücher der göttlichen Selbst-
fahr, dass das eigentlich Gemeinte auf diesem offenbarung. Das erste Buch ist die Heilige Schrift.
Übermittlungsweg Schaden an seiner Eigentlich- Hugo von St. Viktor († 1141), Lehrer an einer theo-
keit nimmt oder sogar verlorengeht. Jede Schrift logischen Schule in Paris, schreibt: »Die heilige
ist ihrer Logik nach von ihrem Ursprung ge- Schrift hat eine Eigentümlichkeit, durch die sie
trennt, da sie etwas nicht Vorhandenes, eine ab- sich von andern Büchern unterscheidet. In ihr
wesende Rede repräsentiert. Deshalb fordert jeder wird zunächst durch artikulierte Wörter über be-
Text einen Kommentar bzw. eine Auslegung: stimmte Dinge gehandelt; diese Dinge stehen dann
ihrerseits wie Wörter zu Bezeichnung anderer Din-
»Denn dieses Missliche hat eben die Schrift und ist darin ge.« Demnach verfügen die biblischen Texte über
in Wahrheit der Malerei [und man könnte ergänzen: jeder
Form der materiellen Aufzeichnung, HD] ähnlich. Auch
einen wörtlichen und einen mehrstufigen geistli-
deren Erzeugnisse stehen ja da wie lebendige Wesen; chen Sinn, den es durch Auslegung (Exegese) zu
wenn du sie aber etwas fragst, dann schweigen sie sehr ermitteln gilt. Diesem Zweck dient die Lehre vom
erhaben still« (Phaidros 276a). vierfachen Schriftsinn, die in einem mittelalter-
lichen Merkvers so zusammengefasst wird: »Der
Eine solche Situation ist in besonderer Weise klä- Buchstabe lehrt die Geschichte, / was du glauben
rungsbedürftig für eine auf schriftlicher Offenba- sollst, der allegorische Sinn, / der moralische Sinn,
rung basierenden Buchreligion wie das Christen- was du tun sollst, / wohin du streben sollst, der
tum. So ist es der Kirchenvater Augustinus, der anagogische [d. h. ›höhere‹] Sinn.« Wenn in der Bi-
mit seiner Schrift De doctrina christiana (Über die bel zum Beispiel vom Einzug Jesu in Jerusalem
christliche Bildung, 397/426 n. Chr.) eine christli- (Lukas 19,28-40) die Rede ist, so wird dem Wort
che Zeichenlehre entwirft und dabei auch auf die ›Jerusalem‹ folgendes Bedeutungsspektrum zuge-
Frage zu sprechen kommt, warum einige Passa- schrieben:

176
1.1
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Textverstehen

wörtlicher Sinn sensus litteralis Stadt Jerusalem ›Jerusalem‹ – Deutung


nach dem vierfachen
geistlicher Sinn sensus allegoricus Auslegung auf den Glauben Bild der Kirche
Schriftsinn
sensus moralis Auslegung auf die Liebe Bild der Seele
sensus anagogicus Auslegung auf die Hoffnung Bild des Himmels

Beispiel: Allegorie und Allegorese Geistliche Naturdeutung


in der Dichtung des Mittelalters am Beispiel des Löwen
Ein literarisches Beispiel für die geistliche Bibel- Auf diesem Prinzip beruht der Physiologus, ein
deutung bietet das althochdeutsche Evangeli- naturkundliches Buch, das in der Spätantike
enbuch Otfrids von Weißenburg (s. Kap. III. entstand und im Mittelalter weit verbreitet war
3.2.1.4). Otfrid lässt auf die erzählenden Teile (s. Kap. III.3.2.2.3). Der Millstätter Physiolo-
seiner Dichtung exegetische Kapitel folgen, in gus, eine gereimte deutsche Fassung des
denen er die biblischen Ereignisse einer geist- 12. Jh.s, schreibt dem Löwen drei Eigenschaften
lich-allegorischen Deutung unterzieht. Dieses und, im Rückgriff auf die Bibel, entsprechend
Verfahren wurde im Rahmen der höfischen drei geistliche Bedeutungen zu. Der Löwe, so
Dichtung des Hochmittelalters aufgegriffen. So heißt es, verwische seine Spur, schlafe mit offe-
weisen die legendenhaften Novellen Hart- nen Augen und brülle seine totgeborenen Wel-
manns von Aue zahlreiche allegorische Motive pen nach drei Tagen ins Leben. Dies verweise
auf, die in der Tradition der Bibelexegese ste- darauf, dass Christus die Menschen von der
hen. Gottfried von Straßburg verweltlicht in Sünde erlöste, nur scheinbar starb und am drit-
seinem Tristan das Prinzip der christlichen ten Tag auferweckt wurde. Das Beispiel macht
Schriftauslegung, wenn er die Minnegrotte, in deutlich, dass die mittelalterliche Naturkunde
die sich Tristan und Isolde vorübergehend zu- nicht auf Empirie, sondern auf textgebundener
rückziehen, mit der poetischen Figur der Alle- Hermeneutik beruhte.
gorie und dem hermeneutischen Verfahren der
Allegorese in Szene setzt. Gottfried deutet die
Architektur der Grotte als Sinnbild der höfi- Mittelalterlicher Autor- und Textbegriff: Der mit-
schen Liebe, die er somit in den Rang einer telalterliche Autor versteht sich nicht als Original-
weltlichen Religion erhebt (Verse 16923 ff.). genie, dessen Dichtung ein genuiner Schöpfungs-
akt ist, sondern als Bearbeiter, der überlieferte
Stoffe neu gestaltet und deutet (vgl. Worstbrock
Das zweite Buch der göttlichen Selbstoffenbarung 1999). Daher vergleichen sich mittelalterliche
ist die Schöpfung. Über sie sagt Hugo von St. Vik- Dichter oftmals mit Handwerkern (vgl. Obermaier
tor: 1995). Wenn die Leistung des mittelalterlichen
Dichters nicht in der Erfindung, sondern in der Er-
»Die gesamte den Sinnen wahrnehmbare Welt ist gewis- neuerung liegt, so folgt daraus ein offener Text-
sermaßen ein von Gottes Finger geschriebenes Buch, d. h.
sie ist geschaffen durch göttliche Kraft, und die einzelnen
begriff. Der mittelalterliche Überlieferungsprozess
Geschöpfe sind gewissermaßen Schriftzeichen, nicht nach lebt von der Lizenz zur Anpassung des weiterge-
menschlichem Belieben erfundene, sondern durch göttli- gebenen Textes an den intendierten Gebrauchs-
chen Entscheid festgelegte, um die Weisheit Gottes im Be- zusammenhang. Im mittelalterlichen Verständnis
reich der unsichtbaren Dinge zu offenbaren.«
wird die ›Wahrheit‹ des Textes nicht durch den ur-
sprünglichen Wortlaut, sondern durch den Sinn
Die Bedeutung der göttlichen Zeichen ist dem- des Textes garantiert, den es je neu zu deuten gilt.
nach nicht arbiträr, sondern absolut. Die Zahl Entsprechend sind die Dichtungen der höfischen
der möglichen Bedeutungen eines geschaffenen Klassik oftmals in sogenannten ›Parallelversio-
Dings richtet sich nach der Zahl seiner Wesens- nen‹, d. h. in verschiedenen redaktionellen Bear-
merkmale. So lehrt Hugos Schüler Richard von beitungen mit je eigenen stilistischen und inhalt-
St. Viktor: »Wörter haben nicht mehr als zwei lichen Tendenzen überliefert.
oder drei Bedeutungen. Dinge aber können so vie- Allegorie und Symbol: Das Verstehensmodell
le Bedeutungen haben, wie sie Wesenseigentüm- der Allegorese gerät in der zweiten Hälfte des
lichkeiten haben.« 18. Jh.s mehr und mehr in die Kritik. So bezeichnet

177
1.1
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Text und Textverstehen

Beispiel Parallelversionen nach der Eheschließung ins Kloster eintreten,


So ist das Nibelungenlied in zwei Hauptfassun- statt ihr Leben gemeinsam am Hof zu verbrin-
gen überliefert, die man, dem jeweiligen Wort- gen. In der Überlieferung des Falkenlieds des Kü-
laut des letzten Vers entsprechend, als ›Not-Fas- renbergers konkurrieren zwei Fassungen, die mit
sung‹ (Handschriften A und B: daz ist der gegenläufigen Bitten an Gott enden: dass ge-
Nibelunge nôt) bzw. als ›Lied-Fassung‹ (Hand- trennte Liebende zusammenfinden (Große Hei-
schrift C: daz ist der Nibelunge liet) bezeichnet. delberger Liederhandschrift: got sende sî zesa-
Letztere zeichnet sich durch stilistische Glättun- mene, die gelieb wellen gerne sîn) bzw. dass
gen des Textes und christliche Wertungen der er- vereinte Liebende nie getrennt werden (Budapes-
zählten Handlung aus. In der Überlieferung von ter Fragmente: got sol sî nimmer gescheiden, die
Hartmanns von Aue Novelle Der arme Heinrich lieb reht einander sîn).
gibt es eine Fassung, in der die Hauptfiguren

Goethe die Allegorie, da sie – produktionsästhe- Schleiermacher, »ist in seinem Denken durch die
tisch gesehen – zu einem gegebenen, d. h. sicher (gemeinsame) Sprache bedingt und kann nur die
verbürgten »Allgemeinen« bloß das passende »Be- Gedanken denken, die in seiner Sprache schon
sondere« suche, als »conventionell«. Hegel hält sie ihre Bedeutung haben« (Schleiermacher 1977,
aus demselben Grund für »frostig«. »Mechanisch, S. 79). Dabei unterscheidet Schleiermacher eine
starr, leblos« sind weitere auf die Allegorie ge- eher auf die Alltagsverständigung bezogene laxere
münzte Epitheta (vgl. Kurz 2004, S. 53). Dagegen von einer philologisch strengeren Praxis des
stilisiert Goethe das Symbol als komplementäre Textverstehens:
Darstellungstechnik, da es ein Besonderes ausspre-
che, »ohne ans Allgemeine zu denken, oder darauf »Die laxere Praxis [...] geht davon aus, daß sich das Verste-
hen von selbst ergibt und drückt das Ziel negativ aus: Miß-
hinzuweisen« (s. Kap. III.3.4.3). Das Symbol solle verstand soll vermieden werden. – Die strengere Praxis
man daher weniger auslegen, denn »lebendig« auf- geht davon aus, daß sich das Mißverstehen von selbst er-
fassen. Hier deutet sich ein Rezeptionsmodus der gibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und
Einfühlung an, der die weniger glamourösen Mü- gesucht werden« (ebd., S. 92).
hen der Auslegungsarbeit zu vermeiden sucht. In-
dessen geraten Schrift und Schriftlichkeit und mit In letzterer Variante kann man also – wie bei Au-
ihnen auch die Allegorie in der Frühromantik wie- gustinus – die These von der Schwierigkeit und
der in den Fokus ästhetischen Denkens. »Das Umwegigkeit der Schrift erkennen, deren Ausle-
Höchste kann man, eben weil es unaussprechlich gung jedoch gegenüber der optimistischeren und
ist, nur allegorisch sagen«, ist in Friedrich Schle- deshalb laxeren Praxis einen Gewinn an Differen-
gels »Gespräch über die Poesie« (1800) zu lesen, ziertheit verspricht.
d. h., es ist – wie in Augustinus’ Modell der allego- N Die psychologische Interpretation richtet sich
rischen Rede – eben weil es göttlich ist, vom irdi- auf das Denken des Einzelnen. Jede Rede gilt dabei
schen aus nur in Form zeichenhafter Umschrei- als »Lebensmoment des Redenden in der Bedingt-
bungen zu verhandeln (vgl. Drügh 2000). heit aller seiner Lebensmomente« (ebd., S. 79). Der
Schleiermachers Hermeneutik: Die erste syste- Interpret wird also laut Schleiermacher mit einer
matische Reflexion der Hermeneutik, welche die doppelten Unendlichkeit konfrontiert: der Un-
Probleme des Verstehens einer Schrift ausdrück- endlichkeit der Sprache und der Unendlichkeit
lich auch auf weltliche Texte ausweitet, stammt individuellen Lebens: »Die Sprache ist ein Unend-
von dem Theologen und Philosophen Friedrich liches, weil jedes Element auf eine besondere
Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1814). Er un- Weise bestimmbar ist durch die übrigen. Ebenso
terscheidet zwei Arten der Interpretation: aber auch die psychologische Seite. Denn jede An-
N Bei der grammatischen Interpretation geht es schauung eines Individuellen ist unendlich« (ebd.,
um eine Methodenlehre der Texterschließung und S. 80). Das Geschäft der Hermeneutik besteht infol-
-bearbeitung, wenn man so will, um eine Vorform gedessen nicht in der schlichten Rekonstruktion
strukturalistischer Analyse. Im Fokus steht dabei einer Autorintention (dafür sind sowohl die Spra-
nicht die Autorinstanz oder ihre Intention, son- che als auch die Psyche des Autors in ihrer jeweili-
dern der Text selbst: »Der Einzelne«, schreibt gen Unendlichkeit zu unkontrollierbar). Auslegung

178
1.1
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Textverstehen

ist vielmehr mit größtmöglicher Geschmeidigkeit kanten, deren Sinn sich nicht fixieren lässt, müss-
des Denkens und Feinfühligkeit für die Textur zu te man dafür doch die potentiell unendlichen Ver-
betreiben, was dazu führt, dass man im Idealfall weismöglichkeiten stillstellen. Roland Barthes
»die Rede erst ebensogut und dann besser […] charakterisiert den poststrukturalistischen Text-
versteh[t] als ihr Urheber« (ebd., S. 94). begriff anschaulich:
Hermeneutischer Zirkel: Als kognitiver Modus
kommt im Prozess des Verstehens zum Zuge, was »Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bis-
her immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufge-
Schleiermacher ›Divination‹ nennt, ein Modus des faßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen,
Ahnens, des tastenden Vorgehens, des Gefühls für der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem
den Text. Nicht ohne Pathos beansprucht Schleier- Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein
macher deshalb für die Auslegung, dass sie dem ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in
diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das
eigentlich Schöpferischen der Künste in puncto Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstrukti-
Kreativität so gut wie ebenbürtig ist: »Das volle ven Sekretionen ihres Netzes aufginge« (Barthes 1979,
Geschäft der Hermeneutik«, schreibt er, »ist als S. 94).
Kunstwerk zu betrachten« (ebd., S. 81). Sein Ge-
spür für die Bedeutung muss der Interpret aber Kultur als Text: In den Kulturwissenschaften des
stets aufs Neue am konkreten textuellen Detail 20. Jh.s ist der Textbegriff auf Prozesse der Kultur
überprüfen und bewähren. Dieses Hin und Her überhaupt ausgeweitet worden (s. Kap. III.5.3).
zwischen Hypothesenbildung (Gespür) und Das Schlagwort ›Kultur als Text‹ begreift tendenzi-
Überprüfung am Text nennt man den Hermeneu- ell nicht mehr nur geschriebene Texte, sondern die
tischen Zirkel. – Im 20. Jh. hat der Philosoph Hans- Kultur überhaupt als Zeichensystem, in dem der
Georg Gadamer dieses Modell aufgegriffen. Im Mensch sich sinnverstehend und interpretierend
Zentrum steht dabei die Verhandlung zwischen zurechtzufinden hat. So betont der amerikanische
einem subjektiven, nicht selten auch emotional Ethnologe Clifford Geertz,
gefärbten »Vorverständnis« bzw. einem eher ratio-
naler geprägten »Erwartungshorizont« und der Er- »daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene
Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als die-
weiterung, Vertiefung bzw. Korrektur derselben ses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine
durch philologische Arbeit am Text und den durch experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht,
ihn aktualisierten Traditionsbestand (vgl. Gada- sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen
mer 1986). sucht« (Geertz 1983, S. 9).
Generativer Textbegriff: Im Poststrukturalis-
mus, z. B. bei Jacques Derrida, wird die Schrift Demgegenüber fordert der Literaturwissenschaftler
(écriture) als unendliche, differentielle Zeichen- Moritz Baßler, dass man für die Verwendung des
produktion verstanden (s. Kap. III.5.2.3). Auf je- Begriffs ›Text‹ am Kriterium der materiellen Spei-
des Zeichen der Schriftkette folgt nicht nur eine cherung und der daraus folgenden Möglichkeit
potentielle Unzahl anderer Zeichen syntagma- wiederholter Lektüre festhalten sollte. Es ist also
tisch nach und modifiziert es dadurch in seiner
Bedeutung. Auch paradigmatisch ist die Verwei- »keineswegs alles Text […]. Eine mentale Repräsentation
sung der Zeichen unendlich, ein Aspekt, den die ist kein Text, ein Gespräch ist kein Text, eine Banane ist
kein Text – es sei denn, jemand würde die mentale Reprä-
Intertextualitätstheorie verfolgt (s. Kap. III.1.3). sentation öffentlich machen, das Gespräch aufzeichnen
Die poststrukturalistische écriture steht folglich oder die Banane zum Ausgangspunkt kultursemiotischer
für eine unabschließbare Kette gleitender, sich Lektüren machen, anstatt die zu essen« (Baßler 2005,
fortwährend dynamisch verschiebender Signifi- S. 112).

Literatur
Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das
anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-
Berlin 2004. Theorie. Tübingen 2005.
Baker, Nicholson: »A New Page. Can the Kindle Really Brinkmann, Hennig: Mittelalterliche Hermeneutik.
Improve on the Book?«. In: The New Yorker, August Darmstadt 1980.
2009. Drügh, Heinz: Anders-Rede. Zur Struktur und historischen
Barthes, Roland: Die Lust am Text. Aus dem Franz. von Systematik des Allegorischen. Freiburg 2000.
Traugott König. Frankfurt a. M. 1979.

179
1.2
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Literatur/Literarizität
und Fiktionalität

Ehlich, Konrad: »Text und sprachliches Handeln. Die Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen
6
Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach 2004.
Überlieferung«. In: Stephan Kammer/Roger Lüdeke McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des
(Hg.): Texte zur Theorie des Textes. Stuttgart 2005, Buchzeitalters [1968]. Bonn 1995 (engl. 1962).
S. 228–245. Obermaier, Sabine: Von Nachtigallen und Handwerkern.
Frank, Manfred: »Was heißt ›einen Text verstehen‹?« In: ›Dichtung über Dichtung‹ in Minnesang und Sang-
Ulrich Nassen (Hg.): Texthermeneutik. Aktualität, spruchdichtung. Tübingen 1995.
Geschichte, Kritik. Paderborn 1979, S. 58–77. Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Mit
Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einem Anhang sprachphilosophischer Texte. Hg. und
einer philosophischen Hermeneutik (Gesammelte eingel. von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1977.
Werke, Bd. I). Tübingen 51986. Schmandt-Besserat, Denise: Before Writing, 2 Bde. Austin
Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung: Beiträge zum 1992.
Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983. Wehrli, Max: Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poeto-
Gelernter, David: »Was das E-Book nicht kann. Für ein logische Einführung. Stuttgart 1986, S. 236–270.
neues Lesen im Internet-Zeitalter«. In: Frankfurter Worstbrock, Franz Josef: »Wiederzählen und Übersetzen«.
Allgemeine Zeitung, 16.4.2010. In: Walther Haug (Hg.): Mittelalter und frühe Neuzeit.
Hörisch, Jochen: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Tübingen 1999,
Medien. Frankfurt a. M. 2001. S. 128–142.
Kraß, Andreas: »Die Seele des Textes. Ein poetologischer
Versuch«. In: Katharina Philipowski/Anne Prior (Hg.): Heinz Drügh und Andreas Kraß
anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen
von ›Seele‹ im Mittelalter. Berlin 2006, S. 195–217.

1.2 | Literatur/Literarizität und Fiktionalität


1.2.1 | Was ist Literatur? oder zukünftigen Generationen unserer Gesell-
schaft. Deshalb bleibt uns das Geheimnis der
Suchen wir nach dem Gegenstand der Literatur- Literatur als solcher verschlossen. Oder anders
wissenschaft in der Welt der Texte und fragen gesagt:
»Was ist Literatur?«, so müssen wir uns mit der Die Grenze zwischen literarischen und nicht-
zunächst unbefriedigenden Feststellung begnü- literarischen Texten ist eine künstliche, deren Ver-
gen, dass sie keine klar eingrenzbare Textgruppe lauf sich immer wieder ändern kann, da sie von
darstellt: Die Literatur als solche gibt es nicht. einem jeweils kulturell und historisch geprägten
Dennoch behandeln wir sie aber als eine ver- Literaturbegriff abhängt. Die Literatur hat keine
meintlich feste Größe, in Literaturgeschichten, als spezifischen, unveränderbaren, substantiellen Ei-
Gattung, als Werk einer Autorin/eines Autors, im genschaften, die nur sie gegenüber allen anderen
Lektürekanon des Deutschunterrichts, in Dichter- Texten als Exklusivmerkmal beanspruchen kann.
lesungen, in Buchhandlungen, im Theater, im Auch hinsichtlich der medialen Formen der
Feuilleton. Die Literatur hat ihre institutionellen Überlieferung – mündlich, handschriftlich, ge-
Orte, an denen sie uns als Literatur, d. h. als ein druckt oder digital – kann die Literatur keinen
ganz bestimmtes Textcorpus mit einer besonde- Sonderstatus behaupten. Die Frage »Was ist Litera-
ren Identität in der Welt der Texte vorgestellt tur?« können wir also nicht mit einer universell
wird. Dass ihre Identität aber das Produkt einer gültigen Definition beantworten. Versuchen wir
Zuschreibung, einer ordnenden Klassifikation nämlich, ein allen literarischen Texten Gemeinsa-
und Kanonisierung ist, wird uns zumeist nicht mes zu finden, das sie grundsätzlich von nicht-li-
bewusst. terarischen Texten unterscheidet, kommen wir
Diese Zuschreibung gehorcht nämlich einem sehr schnell in Begründungsnöte. Probleme be-
bestimmten Literaturbegriff und sagt mehr darü- kommen wir bereits dann, wenn wir z. B. ein da-
ber, was wir für Literatur halten, als über ver- daistisches Gedicht wie das sogenannte »i-Ge-
meintlich objektive, ewig gültige substantielle dicht« (1922) von Kurt Schwitters (1887–1948)
Eigenschaften der Literatur schlechthin. Was wir anschauen.
heute in der Regel als qualitative Eigenschaft der Tradierungen und Traditionsbrüche: Allein die
Literatur wahrnehmen, wäre Leser/innen der Vielfalt dessen, was wir in den letzten zweihun-
Goethezeit beispielsweise ebenso fremd und un- dert Jahren zur Literatur zählen, lässt die Beschrei-
verständlich wie einer außereuropäischen Kultur bung eines überzeitlichen, unveränderlichen We-

180
1.2
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Was ist Literatur?

Kurt Schritters: »Das i-Gedicht« »i-Gedicht« ist reduziert auf einen einzigen Buch- Beispiel
Das »i-Gedicht« scheint geradezu alle konventio- staben in Sütterlinhandschrift, d. h. auf die pure
nellen Erwartungen an ein lyrisches Gedicht zu Materialität eines typografischen Zeichens, eines
provozieren, dass nämlich ein Gedicht etwas zu Schriftbildes, das augenscheinlich nur noch für
sagen hat, dass es vom Klang des Vortrags lebt, sich steht, nicht für etwas, das es bezeichnet.
darüber hinaus viel grundsätzlicher die Vorstel- Das bestätigt auch die als Zitat in Klammern bei-
lung, Literatur sei allein Arbeit mit Worten. Hier gefügte, kommentierende Leseanweisung. Ana-
liegt vielmehr eine Verschränkung zwischen Lite- log zur modernen abstrakten Malerei und deren
ratur und Bildender Kunst, genauer gesagt zwi- Absage an eine naturalistische Wirklichkeitsab- 
 
 
schen Poesie und Grafik vor – ein Beispiel inter- bildung hat das isolierte, kontextlose Schriftzei- 
  
medialer, typographisch-visueller Poesie. Das chen keine sprachliche Repräsentationsfunktion.

sens der Literatur angesichts der Heterogenität herausfinden wollen, ob und inwiefern die Litera-
ihrer Erscheinungsweisen zur unlösbaren Aufgabe tur eine besondere Rolle im Universum der Texte
werden. Blicken wir auf die Geschichte der Litera- spielt.
tur, so sind wir mit einem sich beständig wandeln- Kontext: Welche Faktoren spielen eine Rolle,
den Textcorpus konfrontiert, sowohl mit Tradie- wenn wir in unserer Kultur über Literatur spre-
rungen bestimmter Schreibweisen und Themen chen, wenn wir Texte als literarische wahrneh-
wie mit Traditionsbrüchen, welche die Grenzen men? Denn ob ein Text als Literatur gewertet wird,
und Möglichkeiten des als Literatur kulturell Über- hängt nicht entscheidend von seinen objektiven
lieferten immer wieder neu vermessen und verän- qualitativen Eigenschaften ab, sondern auch von
dern. Wenn wir nun davon ausgehen müssen, situativen Kontexten, also von der Frage, inwie-
dass es die eine, in sich homogene Literatur nicht fern ein literarischer Text anders gelesen wird als
gibt und nie gegeben hat, gilt ebenso für ihre Gren- ein nicht-literarischer. Dennoch gibt es offenbar
zen zum Nicht-Literarischen bzw. zu anderen Me-
dien und Künsten, dass sie beständig verschoben Zur Vertiefung
oder überschritten werden. So sind auch ursprüng-
lich nicht-literarische Formen (wie Brief, Tage- Literaturbegriff
buch, Manifest, Essay) in den literarischen Kanon In der Literaturwissenschaft hat sich gegenüber ei-
aufgenommen worden. nem engen Literaturbegriff, der sich einem ästhe-
Zwischen den Künsten und Medien: Nicht erst tischen Werturteil verdankt (die Eingrenzung auf
die moderne Literatur hat mit intermedialen Dar- die sogenannte ›schöne‹ Literatur), inzwischen ein
stellungsformen (z. B. visuelle und akustische weiter, pragmatisch bestimmter Begriff durchge-
Poesie) zu tun, das betrifft etwa auch schon die setzt. Das bedeutet, dass man Abstand davon
frühneuzeitliche Emblematik und die Flugblattli- nimmt, Literatur aufgrund bestimmter qualitativer
teratur. Eigenschaften zu definieren, die universelle Gül-
Nicht nur die Grenzen zwischen den Künsten tigkeit beanspruchen, und sie stattdessen als eine
sind fließend geworden. Ebenso haben technische historisch veränderbare kulturelle Konstruktion
Medien wie Fotografie, Film, Hörfunk, Fernsehen untersucht, d. h. als eine variable Größe, die im-
oder Internet das Feld der Literatur seit dem Ende mer wieder neu ausgehandelt wird. Der Literatur-
des 19. Jh.s noch einmal vergrößert und dadurch begriff ist insofern ein funktionaler Begriff, als er
verändert (s. Kap. III.4.1). im Bezug auf bestimmte Funktionen, Kontexte
Im Zuge der Entwicklung einer Populär- und und gesellschaftliche Praktiken erörtert wird, in
Unterhaltungskultur ist weiterhin seit dem 19. Jh. die literarische Texte eingebunden sind. Entspre-
das, was als Literatur wahrgenommen wird, nicht chend hat die Literaturwissenschaft ihre Untersu-
mehr auf ein Phänomen sogenannter Hochkultur chungsperspektive um kultur-, medien- und kom-
beschränkt. Aus diesen Beobachtungen können munikationswissenschaftliche Horizonte erweitert.
wir auf eine ständige Veränderung bzw. Erweite- Als Untersuchungsobjekt kommt im Prinzip jedes
rung des Literaturbegriffs schließen. schriftliche oder mündliche sprachliche Zeugnis in
Unter diesen Bedingungen muss die Frage »Was Betracht.
ist Literatur?« ganz neu gestellt werden, wenn wir

181
1.2
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Literatur/Literarizität
und Fiktionalität

auch bestimmte ästhetische Signale, welche die begrenzten Kosmos – wie jedes andere Kunstwerk
Wahrnehmung eines Textes als eines literarischen übrigens auch. Es sind nicht die Dinge selbst, die
provozieren. Ganz analog können wir das auf den uns in einem literarischen Text (oder Kunstwerk)
Status von Kunstwerken generell beziehen, wenn begegnen, sondern immer nur Zeichen. Obgleich
wir der Frage nachgehen, was die Kunst eigentlich das für jeden Text gilt, lenken literarische Texte auf
zur Kunst macht. Die seit Beginn des 20. Jh.s besondere Weise unsere Aufmerksamkeit auf die
immer häufiger erschütterte Vorstellung, dass ein sprachliche Verfasstheit ihrer dargestellten Welt.
literarischer Text ein besonderes sprachliches Die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes ist der Re-
Kunstwerk sei, und die Tatsache, dass wir auch zeption eines literarischen Textes auch dann noch
Texte, die wir entschieden nicht der Literatur zu- unangemessen, wenn er noch so realistisch detail-
rechnen, als Sprachkunstwerke wahrnehmen getreu ein historisches Geschehen wiedergibt. Wir
können (z. B. Werbetexte oder politische Parolen), müssen die literarische Welt also immer in ihrer
erfordern nun noch einmal eine genaue Prüfung spezifischen Modellhaftigkeit wahrnehmen. Die
der Kriterien, die in der Literaturwissenschaft eine Referenz auf unsere empirische Welt, mithin die
zentrale Rolle spielen, wenn es um die Beschrei- Frage, wovon ein fiktionaler Text handelt, ist nie
bung der spezifischen Qualitäten und Funktionen abschießend und eindeutig zu beantworten.
des Literarischen geht. Es sind dies vor allem Fik- Eine Frage der Interpretation: Die Antwort be-
tionalität und Literarizität. darf immer der Entscheidung für eine mögliche
Eigentlich müsste man noch einen dritten, häu- Deutung und hat grundsätzlich mehr Spielräume
fig ins Spiel gebrachten Begriff zur Charakterisie- als in nicht-fiktionalen Texten. Prinzipiell kann
rung der spezifischen Qualität eines literarischen alles von Bedeutung sein. Es ist nicht entschei-
Textes nennen: Mehrdeutigkeit. Diese Zuschrei- dend, ob ein literarischer Text von authentischen,
bung wird jedoch mit dem Kriterium der Fiktio- nachprüfbar lebensweltlichen Ereignissen erzählt
nalität und dem der Literarizität immer auch be- oder von Fantastischem. In jedem Fall ist das Ge-
rührt. schehen Teil einer literarischen Fiktion, Teil eines
modellierten Kosmos, und in jedem Fall hat es zu-
gleich etwas mit dieser Künstlichkeit der gestalte-
ten Welt wie zugleich auch irgendetwas mit den
1.2.2 | Fiktionalität faktischen Gegebenheiten unserer Lebenswelt zu
tun. Davon kann sich selbst das fantastische Ge-
Der fiktionale Status literarischer Texte ist das schehen des Märchens nicht ganz lösen: Immer
wohl am meisten berücksichtigte Kriterium zur erkennen wir auch hier noch einen Bezug zu un-
Abgrenzung von nicht-literarischen Texten. serer faktischen Welt (z. B. Emotionen der Figu-
Ein literarischer Text hat also prinzipiell die Li- ren oder elementare körperliche Bedürfnisse wie
zenz zum Lügen, da er als fiktionaler Text der Essen und Trinken), sonst könnten wir nämlich
Überprüfung seines Realitätsbezugs (Referenz) gar nichts verstehen: Die Welt des Märchens wäre
enthoben ist: Das, was er behauptet, entzieht sich schlichtweg nicht erzählbar.
einer Alternative von wahr oder falsch. Die litera- Fiktionalität und Faktizität sind also immer
rische Welt bietet uns immer ein sprachlich kon- unauflösbar miteinander verschränkt. Bleibt ein
struiertes Wirklichkeitsmodell, d. h. einen eigenen, noch so fantastisches Geschehen letztlich auf das
Definition empirisch Faktische verwiesen, so gilt das ebenso
für die umgekehrte Blickrichtung, wenn wir an
  Fiktionalität (von lat. fictio: Bildung, Gestaltung) steht für eine Dar- realistische bzw. naturalistische Verfahrenswei-
stellungsweise von Ereignissen oder Sachverhalten, die keinen eindeu- sen denken, die einen Wiedererkennungseffekt
tigen, empirisch nachprüfbaren Realitätsbezug einfordert. Damit ist die bezüglich realer Schauplätze und Vorgänge pro-
dargestellte literarische Welt erst einmal von den Gesetzen unserer duzieren. Diese sind jedoch Text gewordene
Lebenswelt gelöst und muss in ihrer Eigengesetzlichkeit ernstgenom- Schauplätze und Vorgänge, sie sind Teil der litera-
men werden. Diese fiktive Welt kann unserer empirischen Lebenswelt rischen Fiktion und ihren Gesetzen unterworfen.
in einem hohen Maße ähnlich sein, es darf aber auch ebenso vorge- Damit stoßen wir auf einen Aspekt, der ebenso
täuscht (fingiert), erfunden oder erlogen werden, was in unserer für nicht-literarische Texte gilt, denn auch sie
Lebenswelt sowohl wahrscheinlich und möglich als auch unglaubwür- können eines nicht leisten: die vermeintlich un-
dig oder ganz und gar unmöglich wäre. verstellte, unmittelbare Wiedergabe der Wirklich-
keit, des Faktischen.

182
1.2
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Literarizität

Ist der fiktionale Status eines Textes am Text durch seinen Kontext schon nahe, wie er zu ver- Beispiel
selbst überprüfbar? stehen ist. Was geschieht jedoch, wenn ein und
derselbe Text aus seiner ursprünglichen Umge-
»Der Fahrschein für Erwachsene kostet 20 Pfennig, der Schü- bung genommen und in einen Roman übertragen
lerfahrschein 10 Pfennig. Fahrpreisermäßigung erhalten Kinder wird? Im Kontext des Romans dient er nicht mehr
bis zum vollendeten 14. Lebensjahr, Lehrlinge und Schüler, unmittelbar praktischen Zwecken und wird als
unbemittelte Studenten, Kriegsbeschädigte, im Gehen schwer Teil einer literarischen Fiktion mit einer anderen
behinderte Personen auf Ausweis der Bezirkswohlfahrtsämter. Einstellung gelesen, obgleich er seine materialen
Unterrichte dich über das Liniennetz« (Döblin: Berlin Alexan- Eigenschaften nicht geändert hat. Es ist nun un-
derplatz, 1929). erheblich, ob das dort Ausgesagte faktisch
stimmt. Sein Realitätsbezug ist zu einem mehr-
Diese Information der Berliner Verkehrsbetriebe deutigen, bedeutungsoffenen geworden. In der
konnte man in den 1920er Jahren an zahlreichen Lektüre von Literatur lassen wir uns auf diese Art
Haltestellen und in Straßenbahnen auf Schriftta- Pakt ein, in dem die Authentizität des Behaup-
feln lesen. Döblin hat den Text – wie unzählige teten keine Rolle spielt. Das heißt aber auch, dass
andere Dokumente übrigens auch – unverändert wir es dem Text anhand textinterner Signale
übernommen und in den Roman eingefügt. Ob- ohne entsprechendes Kontextwissen in der Regel
gleich der Text derselbe geblieben ist, wird er je- nicht ansehen können, ob er ein fiktionaler oder
doch in Abhängigkeit von seiner jeweiligen Um- ein nicht-fiktionaler Text ist. Der entsprechende
gebung unterschiedlich wahrgenommen. Als situative Kontext leitet unsere Wahrnehmung:
Hinweis an einer Haltestelle dient er einer prag- etwa das Medium, in dem der entsprechende
matischen Lektüre, d. h. dem Bedürfnis der Text als literarischer erscheint (z. B. ein Gedicht-
Fahrgäste, sachgerecht informiert zu werden. band), sogenannte Paratexte (z. B. Autorname,
Wir erwarten einen eindeutigen, empirisch nach- Untertitel; s. Kap. III.1.3) sowie der institutionelle
prüfbaren Bezug zu unserer Lebenswelt wie bei Rahmen (z. B. Autorenlesung, Besprechung im
einer Bedienungsanleitung oder einem Kochre- Feuilleton einer Zeitung, Gegenstand eines litera-
zept. Ein nicht-fiktionaler Text legt uns zumeist turwissenschaftlichen Seminars).

›Wirklichkeit‹ im Text und die Gesetze der Sprache: scheidet eher der Kommunikationskontext darü-
Für literarische und nicht-literarische Texte gilt ber, ob wir einen Text als literarischen lesen,
gleichermaßen, dass wir das Dargestellte in jedem weniger sein Inhalt oder seine sprachlichen Eigen-
Fall als zeichenvermittelt, als eine den Gesetzen schaften. Das soll jetzt an einem weiteren, häufig
der Sprache gehorchende Welt zu betrachten ha- herangezogenen Kriterium zur Definition von Lite-
ben, denn die Sprache ist kein transparentes, neu- ratur überprüft werden.
trales Medium. Auch wenn wir eine Geschichts-
darstellung oder eine Autobiographie lesen, haben
wir es mit einem sprachlichen Konstrukt, mit ei-
nem durch eine erzählerische Ordnung geprägten 1.2.3 | Literarizität
Geschehen zu tun, nicht mit unmittelbarer Wirk-
lichkeitserfahrung. Diese können wir nur im Medi- Texte, die wir als literarische identifizieren, lesen
um der Sprache für uns kommunizierbar machen. wir mit einer anderen Einstellung: Wir nehmen sie
Dennoch lesen wir natürlich ein Geschichtsbuch als einen ästhetischen Gegenstand wahr.
in einem anderen Kontext, sozusagen unter ande- Die Sprache eines literarischen Textes ist inso-
ren Vertragsbedingungen als einen historischen fern selbstreferentiell. Als wichtigstes Kennzei-
Roman, denn wir erwarten im ersten Fall die empi- chen für Literarizität, für die Unterscheidung der
rische Nachprüfbarkeit. Haben wir denn nun mit Literatur von Nicht-Literatur, werden entspre-
der Fiktionalität ein hinreichendes Kriterium ge- chend oft von der Alltagssprache abweichende be-
funden, um das Spezifische der Literatur zu be- sondere sprachliche Merkmale (Poetizität) ange-
stimmen? (siehe das Beispiel oben). sehen. Poetizität ist dann gleichbedeutend mit
Fiktionalität ist also kein hinreichendes Kriteri- Literarizität und wird zumeist als Synonym ver-
um zur Bestimmung der Literatur. Offenbar ent- wendet, manchmal aber auch als Unterbegriff für

183
1.2
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Literatur/Literarizität
und Fiktionalität

Definition tergrund tritt, weil der Text besondere Aufmerk-


samkeit als sprachliches Konstrukt fordert. Die
  Literarizität ist jene Qualität, die wir literarischen Texten zuschrei- »Spürbarkeit der Zeichen« sorgt auch dafür, dass
ben, wenn wir sie als sprachliche Äußerungen nicht in einer unmittel- der Gegenstandsbezug als ein auf Interpretation
baren Verwertungsfunktion sehen, nicht als einfache Mitteilung, einen angewiesener und somit als mehrdeutiger er-
Appell oder ein Versprechen, sondern auf ihre besondere sprachliche scheint. Wenn auch die poetische Funktion die
Gestaltung, ihre Strukturierung und das Zusammenwirken von Form Struktur eines literarischen Textes wesentlich be-
und Inhalt achten. Wir konzentrieren uns somit nicht nur auf das, stimmt, so ist sie aber weder seine einzige sprach-
was gesagt wird, sondern vielmehr auf das besondere sprachliche liche Funktion noch generell als Exklusivmerkmal
Gemachtsein des Ausgesagten, also darauf, dass die Sprache eines lite- auf die Literatur zu beschränken. Wir finden sie
rarischen Textes sich selbst in den Vordergrund rückt, auf sich selbst im Prinzip in jeder sprachlichen Äußerung.
verweist. Literarizität gründet Jakobson zufolge auf lin-
guistisch nachweisbaren formalen Eigenschaften
und soll als ein Verfahren des Umgangs mit
Poesie im engeren Sinne: Lyrische Gedichte in ge- sprachlichem Material beschreibbar sein. Das, was
hobener Sprache, mit Reim und prägnantem Literarizität ausmacht, ist also nicht deckungs-
Rhythmus beweisen uns vielleicht am offensicht- gleich mit der Literatur schlechthin. Aber die Lite-
lichsten ihre Poetizität. Ein exklusives Kriterium ratur besitzt prinzipiell die Lizenz zu einer von
für Literatur ist ein abweichender, die Alltagsspra- alltagssprachlichen Konventionen oder gar gram-
che verfremdender Sprachgebrauch aber dennoch matischen Regeln abweichenden, verfremdenden
nicht. So können ein Werbetext oder ein politi- sprachlichen Gestaltung. Wenn wir einen Text
scher Slogan sich viel auffälliger als Sprachkunst- aufgrund bestimmter Kontextsignale als einen lite-
werk inszenieren als so mancher literarische Text. rarischen (eben als einen ästhetischen Gegen-
Zudem stellt die Alltagssprache in ihrer Vielfalt stand) wahrnehmen, lenken wir unsere Aufmerk-
auch kein objektives, unveränderbares Richtmaß samkeit auf seine spezifische Sprachgestaltung.
für die Bestimmung von Abweichung dar. »Was Ready-made: In der modernen Literatur und
macht eine verbale Botschaft zu einem Kunst- Kunst finden wir eine ganze Reihe ähnlicher Bei-
werk?« – fragt der Linguist Roman Jakobson spiele: Frieds Gedicht (s. S. 185) gehört zu den so-
(1896–1982) im Kontext seiner Untersuchung un- genannten Ready-mades, die uns die Illusion neh-
terschiedlicher sprachlicher Funktionen in verba- men, ein Kunstwerk (oder poetischer Text) sei
len Äußerungen (1979, S. 84). Im Bezug darauf ist aufgrund seiner substantiellen Qualitäten, der be-
vor allem seine Unterscheidung von sonderen ästhetischen Gestaltung, nicht mit einem
zwei Funktionen wichtig: beliebigen Alltagsgegenstand zu verwechseln. Die
Die referentielle Funktion bezieht Ready-made-Kunst beruht darauf, dass vorgefun-
sich auf das Mitgeteilte und steht so- dene, ihrem Gebrauchskontext entzogene Alltags-
mit im Gegensatz zur poetischen objekte in unveränderter Form als Kunstwerk
Funktion, die ihre Aufmerksamkeit kommuniziert werden, wie es etwa ihr Begründer
auf die Botschaft selbst in ihrer Marcel Duchamp (1887–1968) in den 1910er Jah-
sprachlichen Gestaltung konzen- ren mit industriell hergestellten Produkten prakti-
triert, auf den Modus des Mittei- zierte. Sein wohl berühmtestes Beispiel ist die
lens, das heißt auf das ›Wie‹. künstlerische Karriere eines gewöhnlichen Urinals,
Die poetische Funktion ist inso- das als Exponat mit dem Namen »Fountain« 1917
fern selbstreferentiell. Sie ist in ei- in einer großen Kunstausstellung in New York zu
nem literarischen Text dominant und sehen war. Ihre Funktion beziehen die Ready-
erinnert uns vor allem nachdrücklich mades aus einem Kontextwechsel.
daran, dass wir es mit Worten und Was ist nun Literatur? Auf provozierende Weise
nicht mit den Gegenständen selbst konfrontieren uns die Ready-mades nicht etwa mit
zu tun haben, da sie »das Augen- dem Verfall oder Ende der Kunst bzw. der Litera-
merk auf die Spürbarkeit der Zeichen tur, sondern mit dem Abschied von einem Kunst-
Marcel Duchamp: richtet« (ebd., S. 92 f.), also eine ästhetische Wahr- und Literaturverständnis, das auf klare Grenzen
»Fountain« (1917) nehmung befördert. Diese Vorrangstellung der po- sowie auf vermeintlich objektiv definierbare, uni-
etischen Funktion vor der referentiellen bewirkt versell gültige Eigenschaften der Kunst bzw. der
nicht nur, dass der Gegenstandsbezug in den Hin- Literatur schlechthin setzt und sie nicht als kultu-

184
1.2
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Literarizität

Lässt sich letztlich jeder Text Lesen wir ihn nun als einen poetischen Text, so Beispiel
als ein poetischer lesen? liegt es nahe, neben der Botschaft – Kaufgesuch
Der Polizeipräsident
Der Text (auf dem rechten Rand) war nicht immer eines Polizeihundes – auch noch andere Deu-
in Berlin sucht:
ein Gedicht. Man konnte ihn am 28. Februar und tungsmöglichkeiten zu erschließen, etwa die
Schäferhundrüden.
am 7. März 1970 als Anzeige des Berliner Polizei- latente Präsenz staatlicher Gewalt im militaris-
präsidiums im Westberliner Tagesspiegel lesen. tischen Sprachduktus und die Erinnerung men- Alter ein bis vier Jahre,
Fried übernahm den Anzeigentext wortwörtlich, schenverachtender nationalsozialistischer Sprach- mit und ohne
brachte das Zitat jedoch in eine spezielle grafi- politik in der Verbindung von »Ahnentafel«, Ahnentafel.
sche Anordnung (Verse), die allein dadurch nahe- »rücksichtslose Schärfe« und dem Neologismus
Voraussetzungen:
legt, den Text als ein Gedicht wahrzunehmen. »schußgleichgültig«.
einwandfreies Wesen
Seine Übertragung in einen Gedichtband gibt uns Selbstreferenzialität und Mehrdeutigkeit sind ent-
rücksichtslose Schärfe
ein weiteres Kontextsignal. Damit ist einerseits scheidende Eigenschaften, die der ursprüngliche
ausgeprägter Verfolgungstrieb
anschaulich demonstriert, dass auch ein Ge- Anzeigentext gewinnt, wenn er als ein literari-
brauchstext wie eine Zeitungsannonce Literatur scher gelesen wird. Seine Literarizität verdankt Schußgleichgültig
und Literatur bloßes Zitat eines Gebrauchstextes sich also nicht einer besonderen formalen Quali- und
sein kann. Die minimale Manipulation seiner Ei- tät (abgesehen von der Versform), die ihn von gesund
genschaften – die Verfremdung alltagssprachli- nicht-literarischen Texten unterscheidet, sondern
Überprüfung
cher Mitteilung durch Zerlegung in Verse (ein Si- wird ihm durch einen neuen Kontext zugeschrie-
am ungeschützten Scheintäter
gnal für Poetizität) – lässt dem Anzeigentext ben. Obgleich der Text augenscheinlich im We-
Hund mit Beißkorb
einen veränderten Deutungshorizont zukommen. sentlichen unverändert geblieben ist, wird er
Die Unterbrechung des Textflusses sowie die Iso- dennoch durch das literarische Lesen zu einem Gezahlt werden
lierung und rhythmische Akzentuierung einzel- anderen, einem ästhetischen Objekt mit neuen bis zu 750,- DM
ner Worte zwingen uns dazu, ihn buchstäblich Bedeutungsdimensionen. […]
beim Wort zu nehmen und seiner Sprache eine (Erich Fried: »Tiermarkt/
besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Ankauf«)

rell und historisch geprägte Zuschreibungen aner- werden. Sie sind aber keine exklusiven Eigen-
kennt. Was Literatur ist, wo sie aufhört, wie ein schaften der Literatur. Weil wir literarischen Tex-
Text beschaffen sein muss, um ein literarischer zu ten diese Zuschreibungen gewähren, die sie auch
sein, können wir nie abschließend beantworten. aus unmittelbarer Zweckgebundenheit entlassen,
Literarizität, Fiktionalität und Mehrdeutigkeit erhalten sie potentiell einen Sonderstatus in der
bzw. Verweigerung eines fixierbaren Sinns sind Welt der Texte, der ihnen u. a. die Funktion kultu-
wichtige Kriterien für die Lektüre von Texten, die reller Selbstreflexion überträgt.
als literarische aufgenommen bzw. kommuniziert

Literatur
Culler, Jonathan: »Was ist Literatur und ist sie wichtig?« Rühling, Lutz: »Fiktionalität und Poetizität«. In: Heinz
In: Ders.: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der
Stuttgart 2002, S. 31–63. Literaturwissenschaft. München 1996, S. 25–51.
Eagleton, Terry: »Was ist Literatur«. In: Ders.: Einführung Schneider, Jost: »Literatur und Text«. In: Thomas Anz (Hg.):
in die Literaturtheorie. Stuttgart 42012, S. 1–18 (engl. Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1. Gegenstände
1983). und Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2007, S. 1–24.
Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik«. In: Ders.: Wegmann, Nikolaus: »Vor der Literatur. Über Text(e),
Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Entscheidungen und starke Lektüren«. In: Jürgen
Holenstein/Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979, Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Literaturwissenschaft.
S. 83–121. München 1995, S. 77–101.
Susanne Komfort-Hein

185
1.3
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Intertextualität

1.3 | Intertextualität
Definition
spurlos verschwindet. Jeder einzelne Text hat
Der Begriff   Intertextualität beschreibt die Bezugnahme von Texten demzufolge die bereits existierende Literatur als
auf Texte. Er impliziert im weitesten Sinne die Annahme, dass kein Text Voraussetzung seiner Möglichkeiten. Er ist – wie
voraussetzungslos existiert und dass der Bezug zu anderen Texten – in auch immer – inspiriert durch das kulturell ge-
welcher Form auch immer – die Eigenschaft eines jeden Textes ist. prägte Literaturwissen und verleiht ihm seiner-
Jedes kulturelle Textzeugnis hat einen Kontext, in dem es entsteht. seits Konturen, so dass es sich immer wieder neu
Jeder Text trägt die Spuren anderer Texte in sich – oder wie bei formiert. Neben der externen Referenz auf eine
Umberto Eco zu lesen ist: »Alle Bücher sprechen immer von anderen außertextliche Realität und der Selbstreferenz ist
Büchern« (Eco 1986, S. 28). für die literaturwissenschaftliche Lektüre literari-
scher Texte also auch die Frage nach intertextuel-
len Referenzen bedeutsam.
Da der Dialog der Bücher, von dem Eco spricht, Autor, Text und Leser: Wenn wir einen Text le-
nicht allein literarische Texte betrifft, erweist sich sen, lesen wir im Grunde genommen nicht nur
die vermeintliche Grenze zwischen Literatur und diesen einen Text, sondern zugleich auch andere
Nicht-Literatur (s. Kap. III.1.2) auch in dieser Hin- mit, oder wir werden an einen oder mehrere ande-
sicht als porös und offen. So sind das Zitieren, re Texte erinnert. Wir müssen damit Abschied
Kommentieren und Übersetzen beispielsweise drei nehmen von der Vorstellung, ein Text sei ein klar
mögliche intertextuelle Phänomene von vielen, die begrenztes, in sich geschlossenes, autonomes Ge-
für jedes kulturelle Textzeugnis gelten. Und so hat bilde. Mit einem solchen Textverständnis können
die Literatur ebenfalls schon immer einen – meta- wir nicht davon ausgehen, dass ein Text als origi-
phorisch ausgedrückt – regen Grenzverkehr mit nales Produkt bzw. uneingeschränktes Eigentum
anderen Texten unseres kulturellen Wissens betrie- eines Autorsubjekts angesehen werden kann, das
ben, da sie eben auch Teil dieses Wissens ist, von über ihn verfügt und seinen Sinn kontrolliert. Vor
kulturellen Praktiken und Normen geprägt wird allem tastet das die Vorstellung schöpferischer Ge-
und somit eine wichtige Funktion als ein Medium nialität an, die in der Genie-Poetik um 1800 ihre
kultureller Selbstreflexion und Erinnerung hat. radikalste Ausprägung erfahren hat. Sie bekommt
Insofern vollzieht jeder Text eine »Gedächtnis- gewissermaßen Konkurrenz durch die Überlegung,
handlung und Neuinterpretation der (Buch)Kultur dass das Verfertigen von Literatur viel eher etwas
ineins« (Lachmann 1990, S. 36). Die Frage von mit dem Schöpfen aus vorhandenem Material zu
Text-Kontext-Relationen hat mit der kulturwissen- tun hat und dass das vermeintlich Neue, Innovati-
schaftlichen Öffnung der Literaturwissenschaft ve nie voraussetzungslos zu haben ist, weil es im-
und mit einem Verständnis von Kultur als Text mer schon das Alte, Überlieferte aufgenommen
(vgl. Bachmann-Medick 2004) auch dem Intertex- hat. Jedem Schreiben geht somit immer schon ein
tualitätsbegriff als Beschreibungsinstrument eine Lesen voraus. Auch die Grenze zwischen Autor
wichtige Funktion zugewiesen, so etwa in der kul- und Leser steht zur Disposition, wenn das Lesen
turellen Gedächtnisforschung. Im Zuge dessen eine entscheidende Funktion für die Bedeutungs-
hat auch die Intermedialitätsforschung für die konstitution erhält.
Literaturwissenschaft Bedeutung erlangt, etwa Be- Intertextualität und Literaturverständnis: Mit
züge zwischen Text und Bild, Text und Musik etc. einem sich wandelnden Literaturbegriff verändern
betreffend. sich ebenfalls auch die intertextuellen Praktiken
Die Intertextualitätsforschung richtet ihr be- der Literatur. Eine Form affirmierender, normativ
sonderes Augenmerk zumeist auf literarische Tex- geregelter Intertextualität ist in der antiken, mittel-
te. Damit ist sie einerseits ein Instrumentarium, alterlichen und frühneuzeitlichen Poetik mit dem
mit dem literarische Texte in ihren historischen Konzept der imitatio gegeben. Es impliziert die
und kulturellen Kontexten erforscht werden kön- Nachahmung der im antiken Musterkanon eta-
nen. Andererseits macht sie die Literaturgeschich- blierten Vorbilder oder sogar deren Überbietung
te selbst als einen kulturellen Gedächtnisraum (aemulatio). Mit der Genie-Poetik um 1800 liegt
lesbar, anstatt sie als eine lineare Achse lediglich z. B. ein eher paradoxes Intertextualitätskonzept
aufeinanderfolgender Texte zu beschreiben, auf vor, und zwar insofern, als die Behauptung von
der das Alte jeweils dem Neuen Platz macht und Originalität sowie eines radikalen Bruchs mit tra-

186
1.3
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Texttheoretischer Ansatz

dierten Vorbildern ex negativo einen erinnernden Zur Vertiefung


Bezug zur verworfenen Tradition herstellt. Goe-
thes Werther veranschaulicht etwa diesen Wider- Vor und jenseits der Intertextualitätstheorie
spruch. So wird Werthers Wunsch nach Originali- Intertextualität ist eine genuine Eigenschaft der Literatur und ist es auch schon
tät und Authentizität immer wieder von bereits immer gewesen. Der theoretische Begriff existiert allerdings erst seit den 1960er
Gelesenem unterminiert. Jahren. Zuvor haben seit der Antike Poetik und Rhetorik (s. Kap. III.1.4) Textbe-
In der Literatur der Moderne und erst recht in ziehungen untersucht und klassifiziert. Die traditionelle philologische Einfluss-
postmodernen Texten wird Intertextualität zu ei- forschung konzentriert sich auf die Bedeutung vorausgehender Texte in der Text-
nem programmatisch sichtbar gemachten Verfah- genese, also auf die Fragen, was ein Text mit seinen Vorläufern gemeinsam hat,
ren – bis hin zum spielerisch subversiven Um- was er übernimmt, auf welche Art und Weise das geschieht: etwa als Bestäti-
gang mit Vorläufertexten. So ist z. B. Döblins gung, Verwerfung, Ironisierung, Verfremdung etc. Schon lange etablierte Begriffe
Großstadtroman Berlin Alexanderplatz (1929) für die unterschiedlichen Phänomene sind Imitation, Parodie, Travestie, Cento,
ein dichtes intertextuelles Netzwerk, ein viel- Anspielung, Zitat, Adaption und Kontrafaktur. Montage bzw. Collage gesellen
stimmiger Text der Stadt, u. a. montiert aus Bi- sich als moderne Termini hinzu. Auch stoff- und motivgeschichtliche Untersu-
belzitaten, literarischen Anspielungen, Zitaten chungen sowie Gattungstheorie (s. Kap. III.4.1) befassen sich mit intertextuellen
aus Schlagern, Volksliedern, amtlichen Bekannt- Beziehungen.
machungen, Zeitungsmeldungen, Werbetexten.
Die Quantität der intertextuellen Bezüge erreicht
hier bereits ein Ausmaß, das der postmodernen begriff voraus. Jeder einzelne Text ist nur Teil ei-
Literatur eignet, für die Intertextualität als ein nes dynamischen Netzwerks anderer Texte. Damit
konstitutives Merkmal gelten kann, wie etwa in werden Abgeschlossenheit und Autonomie eines
Patrick Süskinds Das Parfum. Die Geschichte ei- einzelnen Textes ebenso problematisiert wie der
nes Mörders (1985) oder Thomas Meineckes Gedanke seines fixierbaren Sinns und die traditio-
Tomboy (1998), der sich als ein gut gefülltes Ar- nellen Vorstellungen vom Autor und Leser.
chiv des zeitgenössischen wissenschaftlichen Ein textdeskriptiver Ansatz, der sich auf die
Geschlechterdiskurses der 1990er Jahre gibt. Die systematische Beschreibbarkeit und Analyse
Vorstellungen von Originalität und Geschlossen- nachweisbarer, spezifischer Textbeziehungen in
heit des literarischen Textes sind hier am radi- der Literatur konzentriert, um sie für die Textin-
kalsten zugunsten der Einsicht verabschiedet, terpretation zu verwerten. Das setzt wiederum
dass Texte sich immer nur aus anderen Texten einen im Vergleich zur generalisierenden Per-
generieren. Die scheinbaren Freiheiten, die lite- spektive eingeschränkten Textbegriff voraus so-
rarische Texte in dieser Hinsicht z. B. gegenüber wie die Eingrenzung von Intertextualität auf das
wissenschaftlichen Texten genießen, die das Zi- isolierte Umfeld von Vorgängern des einen litera-
tierte kenntlich zu machen haben, sind im Falle rischen Textes und seiner Identität. Die Verviel-
des Plagiatsvorwurfs gegenüber Helene Hege- fältigung von Sinn durch Text-Text-Beziehungen
manns Roman Axolotl Roadkill (2010) jedoch An- stellt generell ein zu lösendes Problem für den
lass einer heftigen Debatte geworden. hermeneutischen Deutungsanspruch dieses An-
Intertextualitätstheorien stellen mittlerweile satzes dar.
ein fast unüberschaubares Spektrum konkurrie-
render Ansätze und Terminologien dar. Vor allem
unterscheiden sie sich durch den jeweils vorausge-
setzten Textbegriff (s. Kap. III.1.1). Sie lassen sich 1.3.1 | Texttheoretischer Ansatz
grob zwei Richtungen zuordnen:
Ein texttheoretischer Ansatz, der Intertextuali- Wesentliche Impulse zur Intertextualitätstheorie
tät als eine universale, wesensmäßige Eigenschaft und der Begriff selbst sind auf Beiträge der bul-
aller Texte, nicht nur der literarischen, fasst. Dieser garisch-französischen Literaturtheoretikerin und
zum Poststrukturalismus (s. Kap. III.5.2.3) gehö- Psychoanalytikerin Julia Kristeva am Ende der
rende Ansatz hat eine literaturtheoretische und 1960er Jahre zurückzuführen. Ihre Überlegungen
eine kulturpolitische Perspektive. Die Grenzen schließen wiederum an die schon in den 1920er
zwischen Literatur und anderen Wissensformen, Jahren konzipierte, wesentlich aber erst in den
zwischen Text und Gesellschaft werden als höchst 1960er Jahren verbreitete Theorie der Dialogi-
durchlässig gedacht. Das setzt einen entgrenzten, zität des russischen Sprach- und Literaturtheoreti-
jedes kulturelle Zeichensystem umfassenden Text- kers Michail Bachtin an.

187
1.3
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Intertextualität

Dialogizität: Michail Bachtins (1895–1975) Kon- Auffassung zufolge Zeichen immer nur auf andere
zept liegt die Vorstellung vom lebendigen, dialogi- Zeichen verweisen. In der Vorstellung eines sich
schen Wort, von der sozialen Ereignishaftigkeit der selbst generierenden Textes haben weder ein ver-
Sprache zugrunde. Jede sprachliche Äußerung antwortlich zeichnendes, individuelles Autorsub-
Soziale Ereignishaftigkeit wird insofern als Dialog und Zitat gedacht, als sie jekt, dessen Intention und Kontrolle über den Text,
der Sprache Bachtin zufolge immer auf vorhergehendes und noch das Konzept eines autonomen, abgeschlosse-
nachfolgendes Sprechen bezogen ist und mit den nen Werkes Platz. Damit ist auch die Annahme ei-
Intentionen anderer Sprecher in einer Wechselbe- nes im Text fixierbaren Sinns obsolet geworden.
ziehung steht. Das Wort ist per se mehrstimmig, Wenn das je einzelne Wort und der je einzelne Text
mehrdeutig, es wird zu einem gesellschaftlichen als vielstimmige Begegnungsstätte von Wörtern und
Gedächtnisort, zur dynamischen Begegnungsstätte Texten gedacht sind, muss vielmehr von einer unab-
einer Stimmenvielfalt und Stimmenkonkurrenz. schließbaren, nicht-intentionalen und unkontrol-
N Dialogizität steht für antihierarchische, demo- lierbaren Sinnproduktion ausgegangen werden.
kratische und dynamische Offenheit der in einem Die Produktivität, die in diesem Verständnis
Text aufeinandertreffenden Weltanschauungen. von Intertextualität dem Text selbst zugeschrieben
Die dialogische Form, die Überlagerung mehrerer wird, lässt auch die Differenz von Autor und Le-
Stimmen, deren Dissonanz und Ambivalenz, deu- ser hinfällig werden. Beide sind nicht mehr au-
tet Bachtin als Möglichkeit, traditionelle Bedeu- ßerhalb des Textes verortet, sondern nur als Teil
tungen aufzubrechen und zu unterwandern sowie kultureller Sinnsysteme und Codes und dement-
durch Ironie, Parodie, Polemik gesellschaftliche sprechend als Teil des intertextuellen Prozesses zu
Ordnungen in Frage zu stellen. Das lässt auch die fassen, in dem Schreiben und Lesen nicht mehr zu
Bedeutung des Autors nicht unangetastet, insofern trennen sind.
die Autorstimme jetzt nur noch eine im Ensemble »Tod des Autors«: Roland Barthes (1915–1980)
der Stimmen ist. Als paradigmatische literarische argumentiert ähnlich, indem er den Autor als
Gattung der Dialogizität gilt ihm der Roman. Quelle und Ursprung der Textproduktion ebenfalls
N Monologizität bedeutet dementsprechend au- radikal verabschiedet und an dessen Stelle den
toritär eingeebnete Mehrstimmigkeit zugunsten kulturellen Text als ein »Gewebe von Zitaten«
einer dominanten Stimme. (Barthes 2000, S. 190) rückt. Der Autor ist durch
Dialog der Texte: Julia Kristeva knüpft an den kompilatorisch tätigen scripteur (Schreiber)
Bachtins Überlegungen zur Dialogizität an, aller- des sprachlich Vorgefundenen ersetzt, der sich al-
dings mit einer entscheidenden Verschiebung: Den lein mit dem Text konstituiert, mithin keine Exis-
Dialog der Stimmen innerhalb eines Textes erwei- tenz außerhalb dessen hat. »Der Tod des Autors«
tert sie zu einer Theorie der Intertextualität, die ist der Preis für die »Geburt des Lesers« (ebd.,
vom Dialog der Texte ausgeht. In jedem Text sieht S. 193), der sich ebenfalls nicht außerhalb eines
Textuelles Netzwerk sie bereits Zitate und die Transformation (Umfor- abgeschlossenen Textes als dessen Deutungsin-
der Kultur mung) anderer Texte: »das Wort (der Text) ist eine stanz betätigt, sondern selbst aktiv in dieses viel-
Überschneidung von Wörtern (von Texten), in der stimmige Gewebe eingebunden ist. Die Rede vom
sich zumindest ein anderes Wort (ein anderer Text) »Tod des Autors«, die in der Rezeption dieses Tex-
lesen läßt. […] jeder Text baut sich als ein Mosaik tes übrigens vielfach missverstanden wurde, be-
von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und sagt letztlich, dass der Text seine Bedeutung allein
Transformation eines anderen Textes« (Kristeva als ein kulturelles und sprachliches Produkt er-
1972, S. 347 f.). Die Annahme eines dialogischen fährt. In diesem Sinne arbeitet auch die Diskurs-
Bezugs zwischen allen Texten kennt keine Text- analyse mit dem weiten Begriff von Intertextuali-
grenzen, da alle Teil eines textuellen Netzwerkes tät (s. Kap. III.5.3.2).
der Kultur sind, das sich beständig fortschreibt.
Der je einzelne Text existiert eigentlich nur in
Form von prinzipiell unendlichen Beziehungen zu
anderen Texten und ist deshalb immer schon Stätte 1.3.2 | Textdeskriptive Ansätze
des Dialogs, d. h. offen und prozesshaft dynamisch,
indem das vorhandene kulturelle Zeichenmaterial Aus einer Fülle von Forschungsbeiträgen können
jeweils aufgenommen und neu geordnet wird. Das nur einige Beispiele herausgegriffen werden, die
ist vor dem Hintergrund poststrukturalistischer auch in diesem Feld für unterschiedliche Ansätze
Zeichentheorie zu sehen (s. Kap. III.5.2.3), deren stehen:

188
1.3
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Textdeskriptive Ansätze

Beschreibung und Klassifizierung: Gérard Ge- Intertextualität und hermeneutische Textinter-


nette schlägt das wohl detaillierteste Modell von pretation: Ulrich Broich und Manfred Pfister ver-
Kategorien zur systematischen Beschreibung un- suchen, den Intertextualitätsbegriff für die Textin-
terschiedlicher Formen und Funktionen von Inter- terpretation operationalisierbar zu machen. Eine
textualität vor. Der Begriff der ›Transtextualität‹ gelingende literarische Kommunikation setzt dem-
dient ihm als Oberbegriff für alle expliziten (mar- nach voraus, dass der intertextuelle Bezug nicht
kierten) und impliziten Formen der Überschrei- allein markiert ist, sondern auch auf das entspre-
tung von Textgrenzen und Bezugnahme auf ande- chende Wissen der Leser/innen trifft. Systematisch
re Texte. Er unterscheidet fünf untergeordnete unterscheiden sie zwischen einer Bezugnahme
Kategorien, die einen zunehmend abstrakteren auf einen einzelnen Vorläufertext (Einzeltextrefe-
und allgemeineren Sachverhalt für Textbeziehun- renz) und einer Systemreferenz, womit z. B. der
gen bezeichnen: Bezug zu Gattungskonventionen oder zu Mythen
N Intertextualität ist hier in einem engeren Sinne gemeint sein kann (vgl. Broich/Pfister 1985, ins-
gebraucht und steht für die »effektive Präsenz ei- bes. S. 1–30, 48–58). Pfister unterscheidet zudem
nes Textes in einem anderen Text« (Genette 1993, verschiedene Intensitätsgrade der Intertextuali-
S. 10). Das gilt zunächst für das markierte Zitat, tät nach qualitativen und quantitativen Kriterien.
dessen genaue Quellenangabe durchaus fehlen Das betrifft z. B. die Ausdrücklichkeit des Bezugs
kann. Es betrifft ebenso das Plagiat, das als wört- auf einen früheren Text, Häufigkeit und Prägnanz
liche Übernahme eben nicht deklariert wird. Aber der intertextuellen Verweise, Anzahl der Bezugs-
auch die Anspielung als eine uneindeutige, eben- texte, den Grad der semantischen oder ideologi-
falls nicht markierte Bezugnahme gehört dazu. schen Spannung zwischen dem aktuellen Text und
N Paratextualität meint die Beziehung eines Tex- seinem Bezugstext. Obgleich damit durchaus hilf-
tes zu der ihn rahmenden textlichen Umgebung. reiche Aspekte zur qualitativen Analyse von Text-
Dazu gehören z. B. Klappentext, Titel, Untertitel, beziehungen benannt sind, stellt sich jedoch mit
Zwischentitel, Vor- und Nachwort, Anmerkungen, der spekulativen Orientierung an einer vermeintli-
Fußnoten, Motti, Illustrationen etc. chen Autorintention und der Ausklammerung
N Metatextualität bezieht sich auf eine den Be- nicht markierter Intertextualität ein Problem ein:
zugstext nicht unbedingt nennende, kommentie- Die Vernachlässigung eines Deutungshorizontes,
rende Auseinandersetzung eines Textes mit ei- der den Text eben auch jenseits des von seinem
nem anderen. Autor Gewussten in seinem Kontext kulturellen
N Hypertextualität impliziert die Grundannahme, Wissens lesbar macht.
dass die Beziehung eines Textes zu vorausgehen- Literatur als kulturelle Gedächtnishandlung:
den Texten immer schon mit dem Moment der Renate Lachmann nimmt hingegen einen dynami-
Umformung verbunden ist. Konkret meint sie die schen kulturellen Gedächtnisraum der Texte an,
kommentarlose Überlagerung eines Textes (Hy- »in dem die Texte Fixpunkte des Gedächtnisses,
potext) durch einen anderen (Hypertext), so dass der erinnerbaren Kultur sind« (Schahadat 1995,
der spätere Text als Text »zweiten Grades« lesbar S. 371). Die intertextuellen Beziehungen versetzen
wird, der »von einem anderen, früheren Text abge- diese Fixpunkte in Bewegung, und zwar als ein
leitet ist« (Genette 1993, S. 15). Der frühere ist je- beständiges »Weiter-, Wider- und Umschreiben«
weils im späteren Text noch sichtbar, entweder (Lachmann 1990, S. 67). Lachmanns Interesse
durch seine Transformation, etwa in Form einer richtet sich auf die Frage der Sinnpluralisierung
Parodie oder Travestie, oder seine Imitation, etwa in intertextuellen Verbindungen. Von einem Dialog
als Persiflage oder Pastiche. – Als Beispiel einer di- der Texte ist insofern die Rede, als es nicht um den
rekten Transformation nennt Genette den Bezug linearen Einfluss eines früheren Textes auf einen
des Romans Ulysses von James Joyce zum homeri- späteren Text geht. Durch intertextuelle Verknüp-
schen Epos Odyssee. Die indirektere Form der Imi- fungen komme es vielmehr zu einer »semanti-
tation stellt im Blick auf die Odyssee Vergils Aeneis schen Explosion« (ebd., S. 57), also zu einer Ver-
dar, die eine ganz andere Geschichte im Stil des vielfältigung von Sinn, die sowohl den aktuellen
homerischen Epos erzählt. (manifesten) Text als auch seinen Vorläufer (Refe-
N Architextualität umfasst als abstrakteste Kate- renztext) erfasse, denn auch dieser werde durch
gorie die Gattungsbezüge zwischen literarischen den Kontakt mit dem manifesten Text einer neuen
Texten. Umgebung und damit einem neuen Blick ausge-
setzt. Die das Gedächtnis eines Textes bildenden

189
1.4
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Rhetorik und Poetik

intertextuellen Beziehungen werden hinsichtlich Insofern Lachmann nicht einen intentional gepräg-
der jeweiligen Beziehung zu seinem kulturellen ten Verweis von Texten auf andere Texte annimmt,
Erbe unterschieden: bestätigt ihr Ansatz die Nähe zum globalen Inter-
N Partizipation als Weiterschreiben einer kultu- textualitätsbegriff, den etwa Kristeva vertritt. Neu-
rellen Tradition ere Ansätze der literaturwissenschaftlichen Inter-
N Transformation als ein Umschreiben des Tra- textualitätsforschung bemühen sich ebenfalls um
dierten eine pragmatische Vermittlung des weiten mit
N Tropik als »Widerschreiben«, Verwerfung und einem engen Intertextualitätsbegriff für die kon-
Abwendung vom kulturellen Erbe (vgl. Lach- krete Textanalyse.
mann/Schahadat 2000)

Literatur
Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Tübingen/ Herwig, Henriette: »Literaturwissenschaftliche Intertextu-
Basel 22004. alitätsforschung im Spannungsfeld konkurrierender
Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Intertextualitätsbegriffe«. In: Zeitschrift für Semiotik
Grübel. Frankfurt a. M. 1993. 24, Heft 2–3 (2002), S. 163–176.
Barthes, Roland: »Der Tod des Autors« [1968]. In: Fotis Kristeva, Julia: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der
Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Roman«. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und
Stuttgart 2000, S. 185–193. Linguistik III. Frankfurt a. M. 1972, S. 345–375.
Baßler, Moritz: »Texte und Kontexte«. In: Thomas Anz Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextuali-
(Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1. Gegen- tät in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990.
stände und Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2007, – /Schahadat, Shamma: »Intertextualität«. In: Helmuth
S. 355–369. Brackert/Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft.
Broich, Ulrich/Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 679–684.
Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen Schahadat, Shamma: »Lektüre – Text – Intertext«. In:
1985. Miltos Pechlivanos u. a. (Hg.): Einführung in die
Eco, Umberto: Nachschrift zum ›Namen der Rose‹ [1983]. Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 1995,
München 1986. S. 366–377.
Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?« [1969]. In: Ders.: Scheiding, Oliver: »Intertextualität«. In: Astrid Erll/Ansgar
Schriften zur Literatur. Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270. Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissen-
Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter schaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsper-
Stufe [1982]. Frankfurt a. M. 1993. spektiven. Berlin/New York 2005, S. 53–72.
Susanne Komfort-Hein

1.4 | Rhetorik und Poetik


Akademische Abgrenzungen: Von der Antike bis formal bestimmt: ›Poetische‹ Werke waren solche,
ins 18. Jh. waren die beiden Disziplinen Rhetorik die in ›gebundener Rede‹, also in Versen, abgefasst
und Poetik eng miteinander verbunden, und zwar waren. Natürlich wurden aus dem Bestand dieser
sowohl in ihren theoretischen Fundamenten wie Texte – Versepen, Dramen, Gedichte – Kategorien
auch im Hinblick auf die Praxis des Schreibens, abgeleitet, die man mit dem Begriff des ›Poeti-
Lesens/Zuhörens und Analysierens literarisch ge- schen‹ verband und daher in speziellen poetologi-
formter Texte. schen Stellungnahmen abhandelte. Dazu zählten
Unter ›Rhetorik‹ verstanden die antiken Theo- Fragen der dichterischen Inspiration, des Authenti-
retiker wie Aristoteles, Cicero oder Quintilian die zitätsanspruches oder der spezifischen Wirkung
Kunst der ›überzeugenden‹ Textgestaltung, im poetischer Werke.
Unterschied zur Grammatik, die sich um sprach- Da die Poetik lange Zeit als Teildisziplin der
liche Korrektheit, und zur Logik oder Dialektik, Rhetorik gesehen wurde – Professoren an Univer-
die sich um widerspruchsfreie Argumentation sitäten unterrichteten oft beide Fächer –, erscheint
kümmerte. es sinnvoll, zunächst das System der Rhetorik his-
Der Zuständigkeitsbereich der Poetik umfasste torisch herzuleiten und zu beschreiben, bevor die
nicht, wie man aus heutiger Sicht vermuten könn- Poetik als spezifisch ›literarische‹ Disziplin in den
te, in erster Linie fiktionale im Unterschied zu fak- Blick genommen wird.
tualen Texten, sondern die Differenz war vorrangig

190
1.4
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Rhetorik

1.4.1 | Rhetorik anderen Komponenten ausgeglichen werden, die


Absolutsetzung des ›Genies‹ ist demgegenüber
Funktionsgeschichtlicher Hintergrund: Um die erst eine Tendenz des Sturm und Drang im 18. Jh.
zentrale Bedeutung der Rhetorik von der Antike Wirkungsziele und Überzeugungsmittel des
über das Mittelalter bis zum Ende der Frühen Redners: Anders als in bestimmten Strömungen
Neuzeit richtig erfassen zu können, muss man neuzeitlicher Literatur, in denen literarisches
sich klar machen, dass höhere Bildung – ob pri- Schreiben in erster Linie als selbstbezügliche Arti-
vat, schulisch oder universitär – und jedes darauf kulation spontaner Eindrücke und subjektiver Ge-
aufbauende Wissen in allen diesen Epochen ganz fühle aufgefasst wurde bzw. wird, galt Textpro-
überwiegend sprachlich, also ›textbezogen‹ orga- duktion von der Antike bis weit in die Neuzeit als
nisiert war. Die stärkere Abhängigkeit von münd- selbstverständlich adressaten- und damit wir- Adressatenorientierung
lichen Kommunikationsformen, eine generelle kungsorientiert. Dabei wurde nicht zwischen fak-
Orientierung an der Tradition mit ihren anerkann- tualen und fiktionalen, also ›nur‹ rhetorisch struk-
ten Autoritäten, die Hochschätzung sprachlicher turierten und im engeren Sinne poetischen Texten
Überzeugungskraft gegenüber einer experimen- unterschieden. Seit der Antike wurden drei gleich-
tell-innovativen, in Disziplinen aufgefächerten gewichtige Wirkungsziele formuliert, so nannte
Forschung und einige weitere, historisch zu be- etwa Cicero denjenigen redegewandt, der zu un-
gründende Faktoren waren dafür verantwortlich, terrichten bzw. überzeugen (docere, probare), zu
dass die Produktion und Analyse überzeugender unterhalten (delectare) und zu rühren bzw. be-
Texte als fundamentale, jede Spezialkompetenz wegen (movere, flectere) verstehe: »Erit igitur elo-
überragende Kulturtechnik gesehen wurde. quens is, qui […] ita dicet, ut probet, ut delectet,
Arten der Rede: In der Antike wurden gemäß ut flectat« (Orator, Kap. 69). Den Wirkungszielen
den wichtigsten öffentlichen Verwendungszusam- korrespondieren die Mittel der Überzeugungen:
menhängen drei Grundtypen der Rede unterschie- Durch den Appell an die rationale Berücksichti-
den: gung der Sache selbst (logos), durch die Kraft der
N Beratende (politische) Rede (genus deliberati- eigenen Persönlichkeit (ethos) wie auch durch
vum) die Erregung von Affekten (pathos) kann der
N Gerichtsrede (genus iudiciale) Sprecher seine Zuhörer, der Autor seine Leser be-
N Gelegenheitsrede (genus demonstrativum) einflussen.
Sie wurden in der ›Rhetorenschule‹, der obersten Arbeitsstadien des Redners: Auch der Prozess
Bildungsinstitution der Antike, eingeübt. Ihre der Textherstellung unterlag bestimmten Regeln,
Grundmuster finden sich auch in literarischen Tex- man setzte fünf Produktionsstadien (officia ora-
ten wieder, am auffälligsten im Drama mit seinen toris) an: Zunächst galt es die Hauptgesichts-
›Rededuellen‹, doch sind beispielsweise auch viele punkte des zu behandelnden Gegenstandes zu
Gedichte aus Antike, Mittelalter und Früher Neu- bestimmen. (Die Antike ging davon aus, dass
zeit ausgesprochen kommunikationsorientiert, ha- diese Gesichtspunkte in der Sache selbst bereits
ben also eine dominant appellative Funktion. enthalten waren und der Autor sie ›auffinden‹
Voraussetzungen des guten Redners: In den musste, daher: inventio.) Sodann musste der
Systemen der antiken Rhetorik, die bis ins 18. Jh. Stoff sinnvoll und überzeugend gegliedert (dis-
hinein Geltung besaßen und in vielerlei Hinsicht positio) und schließlich in eine anspruchsvolle,
noch in der Gegenwart wirksam sind, wurde zu- wiederum ganz den Wirkungszielen angemesse-
nächst bestimmt, welche die Voraussetzungen ei- ne Form gebracht werden (elocutio). Diese drei
nes guten Redners waren – ›Redner‹ verstanden Produktionsstadien lassen sich auf jede Art ge-
als Produzent von Texten, die auf Wirkung ausge- formter Texte übertragen. In der Praxis der anti-
richtet waren, und unabhängig davon, ob ein im ken Rede, an der die Systematik entwickelt wur-
modernen Sinne ›literarischer‹ Anspruch damit de, kamen noch das Auswendiglernen für den
verbunden war. Demnach galten natürliche Be- Vortrag (memoria) sowie die Präsentation selbst
gabung (natura, ingenium), verbunden mit einer (actio) hinzu.
guten Urteilsfähigkeit in allen die Textproduktion Bestimmung der Hauptgesichtspunkte (inven-
betreffenden Fragen (iudicium), sowie eine solide tio): Das Produktionsstadium der inventio ist, je
Ausbildung (doctrina, ars) und Erfahrung (exer- nach Textsorte und Anspruch des Autors, mehr
citatio, usus) als unerlässlich. Ein Mangel an Ta- oder minder kompliziert. Die Antike entwickelte
lent konnte bis zu einem gewissen Grad durch die ein System von möglichen Gesichtspunkten, das

191
1.4
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Rhetorik und Poetik

man sich wie ein räumlich geordnetes Raster ventio, wenngleich hier Kategorien angewandt
vorstellte (daher Topik, nach griech. topos: Ort; werden, die sich eher aus der kritischen Sichtung
die ›Fundorte‹ selbst werden dagegen lateinisch von Zeit und Geschichte als aus tradierten Fragen-
als loci bezeichnet). In einfachen Fällen konnte katalogen ableiten. Berühmt ist etwa die als Tage-
man relativ mühelos einen ›Fragenkatalog‹ abar- buchnotiz überlieferte Skizze mit den Hauptge-
beiten. Wenn es etwa darum ging, eine Person sichtspunkten des Romans Doktor Faustus, in dem
umfassend zu charakterisieren, konnte man die Thomas Mann eine Allegorie auf die Erfahrungen
loci a persona abrufen, wie es der römische His- des ›Dritten Reichs‹ konzipierte (1943):
toriker Sallust in seiner Verschwörung des Catili-
na (Coniuratio Catilinae) tat: Im fünften Kapitel Es handelt sich um das Verlangen aus dem Bürgerlichen, Mäßigen,
werden die Aspekte der Herkunft Catilinas, sei- Klassischen, Apollinischen, Nüchternen, Fleißigen u. Getreuen hin-
ner körperlichen und geistigen Eigenschaften, über ins Rauschhaft-Gelöste, Kühne, Dionysische, Geniale, Über-
der persönlichen Neigungen, der erworbenen Fä- Bürgerliche, ja Übermenschliche […]. Die Sprengung des Bürgerli-
higkeiten, der sozialen Stellung sowie der prä- chen, die auf pathologisch-infektiöse Weise vor sich geht, zugleich
genden Umstände referiert, woraus sich fast politisch. Geistig-seelischer Fascismus, Abwerfen des Humanen,
zwingend das spätere Verhalten des Verschwö- Ergreifen von Gewalt, Blutlust, Irrationalismus, Grausamkeit, dio-
rers ableitet. Schon die frühneuzeitliche inventio- nysische Verleugnung von Wahrheit u. Recht, Hingabe an die In-
Lehre war vorrangig auf formalisierte Textformen stinkte und das fessellose ›Leben‹, das eigentlich der Tod u. als
wie das Gelegenheitsgedicht bezogen, allerdings Leben nur Teufelswerk, gifterzeugt ist.
lassen sich selbst in neuerer Literatur Anklänge
an die ›Suchformeln‹ der antiken Topik finden. In Gliederung (dispositio): Aus der Praxisbindung der
Günter Eichs berühmtem Gedicht »Inventur« antiken Redelehre ergab sich für die Stoffgliede-
(1946) etwa handelt der Sprecher die ihm exis- rung eine Fünfteilung:
tenziell notwendigen Gegenstände nach dem lo- N In der Einleitung (exordium) wird der Zuhö-
cus ab instrumento systematisch ab. rer/Leser auf die folgende Darbietung einge-
Inventio und Stoffwahl: In einem weiteren Sin- stimmt, dabei kann um Aufmerksamkeit, Wohl-
ne gehören aber auch die thematischen Konzepte wollen (sog. captatio benevolentiae) oder
großer literarischer Projekte in den Bereich der in- Konzentration auf die Bedeutung des Sachver-
haltes gebeten werden.
N In der narratio (Stoffdarbietung; eigtl. ›Erzäh-
lung‹, da im Prototyp der Gerichtsrede an dieser
Paul Fleming: Gedancken / über der Zeit. Stelle der Tathergang geschildert wurde) wird
der zu behandelnde Gegenstand breit entfaltet.
IHR lebet in der Zeit / und kennt doch keine Zeit / [exordium] N Die folgende kurze divisio fasst die bisherigen
So wisst Ihr Menschen nicht von / und in was Ihr seyd. [narratio] Darlegungen präzisierend zusammen bzw. lei-
Diß wisst Ihr / daß Ihr seyd in einer Zeit gebohren. tet zum nachfolgenden Teil über.
Und daß ihr werdet auch in einer Zeit verlohren. N Dieser enthält die ›Beweisführung‹ (argumen-
Was aber war die Zeit / die euch in sich gebracht? 5 [divisio] tatio), womit generell die Deutung des Sach-
Und was wird diese seyn / die euch zu nichts mehr macht? verhaltes im Blick auf ein bestimmtes Redeziel,
Die Zeit ist was / und nichts. Der Mensch in gleichem Falle. [argumentatio] eventuell die konkrete Lösung eines Problems,
Doch was dasselbe was / und nichts sey / zweifeln alle. gemeint ist.
Die Zeit die stirbt in sich / und zeucht sich auch aus sich. N Die abschließende peroratio (etwa: ›Plädoyer‹)
Diß kömmt aus mir und dir / von dem du bist und ich. 10 zieht Folgerungen aus der vorausgegangenen
Der Mensch ist in der Zeit; sie ist in ihm ingleichen. Deutung und wirbt um Zustimmung, wobei ge-
Doch aber muß der Mensch / wenn sie noch bleibet / weichen. zielt an den Verstand oder die Affekte des Zuhö-
Die Zeit ist / was ihr seyd / und ihr seyd / was die Zeit / rers/Lesers appelliert wird.
Nur daß ihr Wenger noch / als was die Zeit ist / seyd. Die Übertragung dieses Gliederungsmodells auf li-
Ach daß doch jene Zeit / die ohne Zeit ist kähme / 15 [peroratio] terarische Texte ist umso eher möglich, je fester
Und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme. die jeweilige Textsorte traditionell an bestimmte
Und aus uns selbsten uns / daß wir gleich köndten seyn / Strukturformen gebunden ist. Das fünfaktige ›klas-
Wie der itzt / jener Zeit / die keine Zeit geht ein! sische‹ Drama weist ebenso wie die streng gefügte
Novelle des 19. Jh.s Parallelen zum Strukturmodell
der Rede auf, wobei freilich in der Analyse erheb-

192
1.4
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Poetik

liche Transferleistungen zu erbringen sind, wenn sche ›Reinigung‹ (katharsis) münden solle, wurde
etwa Beziehungen zwischen dem exordium und etwa von Lessing als Poetik des Mitleids uminter-
der Exposition im Drama oder der divisio und der pretiert und von Brecht in seinem Konzept der re-
symbolischen Verdichtung des Geschehens in ei- flektierenden Distanz des Zuschauers zum Gesche-
ner Novelle hergestellt werden. Dennoch kann es hen (›episches Theater‹) explizit verworfen.
sinnvoll sein, bei der Deutung literarischer Texte Horaz: Die vielseitige, essayistisch strukturierte Griechische und
auf die rhetorischen Grundstrukturen des Kommu- Ars poetica (nach 23 v. Chr.) des römischen Dich- römische Konzepte
nikationsvorgangs zu achten. Besonders anschau- ters Horaz formuliert nicht nur eingängig das Wir-
lich wird in manchen barocken Texten, die eine kungskonzept der Dichtung (»Aut prodesse vo-
starke Appellfunktion aufweisen, die Anlehnung lunt aut delectare poetae«, ›Nützen und unterhalten
an das Schema der klassischen Rhetorik, so z. B. in wollen die Dichter‹, Vers 333), sondern gibt auch
dem Alexandrinergedicht von Paul Fleming: »Ge- detaillierte Hinweise zur sprachlichen Darbietung
danken über die Zeit« (s. S. 192). des idealen literarischen Werkes. Generell ist für
Literarische Darbietung: Die anspruchsvolle die Poetik des Römers, der ja auf vorbildhafte Wer-
Präsentation (elocutio) eines Textes, zu der im ke der Griechen zurückblickte, die Selbstreferen-
System der klassischen Rhetorik die Berücksich- zialität von Kunst ein wichtiger Gesichtspunkt,
tigung der Stilarten und der Stilqualitäten sowie also die Auseinandersetzung des Textes mit ande-
der umfangreiche Katalog der Stilfiguren gehören, ren Texten. Was für Aristoteles die mimesis (›Nach-
wird im Abschnitt 1.4.3 zur »Literarischen Stilis- ahmung der Natur‹, also Übertragung der empiri-
tik« (s. u.) bzw. im Lyrikkapitel III.4.3. behandelt. schen Realität in Fiktion) war, war für Horaz die
imitatio (›Nachahmung der literarischen Vorbil-
der‹). Beide antike Theoretiker entwickelten Vor-
stellungen von ›dichterischer Freiheit‹ (licentia
1.4.2 | Poetik poetica), wie sie auch in den Regelpoetiken späte-
rer Zeiten begegnen.
Anfänge der Fiktionalitätstheorie bei den Grie- Martin Opitz und die deutschsprachige Kunst-
chen: Fragen nach der spezifischen Eigenart ›dich- dichtung: Die poetologischen Abhandlungen des
terischer‹, also literarischer Texte wurden bereits Mittelalters und des Humanismus setzten die an-
von den antiken Theoretikern aufgeworfen, dabei tiken Literaturtheorien fort, wie sie sich auch
war das später so einflussreiche Kriterium der vornehmlich auf Textproduktion in lateinischer
Versbindung (noch heute ist ›Poesie‹ weitgehend Sprache bezogen. Für die Dichtung
synonym mit ›Versdichtung‹, ähnlich engl. poetry in deutscher Sprache wurde Martin
und franz. poésie) nur eines von mehreren. Seit Opitz mit seinem Buch von der
Platon, der in polemischer Absicht die Dichter als Deutschen Poeterey (1624) wichtig.
staatsgefährdende ›Lügner‹ klassifizierte, wurde In einer Mischung aus kulturpatrioti-
das Problem der Fiktionalität von Literatur the- schem Manifest und regelhaftem
matisiert. Aristoteles, dessen wirkmächtige Poetik Lehrbuch reagierte er auf zwei
(nach 336 v. Chr.) nur teilweise überliefert ist, be- Grundforderungen der literarischen
nennt mit dem Konzept der mimesis (eigtl. Nach- Umbruchszeit um 1600: Es ging zum
ahmung), die er anthropologisch als künstleri- einen darum, die muttersprachliche
schen Grundtrieb der Menschen deutet, den Kunstdichtung und damit zugleich
Prozess der Fiktionalisierung lebensweltlicher Er- ihre Träger, die gelehrten Dichter
fahrungen. im Umkreis der frühabsolutistischen
Aristotelische Dramenpoetik: Ins Zentrum seiner Höfe, aufzuwerten, zum anderen
Analysen stellt Aristoteles das Drama, in den über- sollten Normen gesetzt werden, die –
lieferten Teilen seines Buches speziell die Tragödie, im Anschluss an entsprechende
für die er eine bis in die Gegenwart wirksame, seit Entwicklungen in Italien und an-
dem späten 18. Jh. allerdings vielfach modifizierte deren europäischen Ländern – eine
und kritisierte Theorie entwirft (s. Kap. III.4.4): Die ›literarische Hochkultur‹ auf dem Ni-
wirkungspoetische Forderung, dass die Darstellung veau des Lateinischen überhaupt er-
tragischer Schicksale auf der Bühne beim Zuschau- möglichten. Im Unterschied zu spä-
er starke Affekte (phobos und eleos, eigtl. ›Schau- teren Auffassungen, wonach der Martin Opitz: Buch von der
der‹ und ›Jammer‹) hervorrufen und in eine seeli- Dichter in kreativer Einsamkeit am Deutschen Poeterey (1624)

193
1.4
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Rhetorik und Poetik

Rande der Gesellschaft wirkte, galt es für Opitz als neswegs, dass es nicht weiterhin poetologische
»der grösseste lohn […] den die Poeten zue gewar- Reflexionen auf vielen Feldern gegeben hätte. Ale-
ten haben; das sie nemlich inn königlichen vnnd xander Gottlieb Baumgarten entwickelte in seiner
fürstlichen Zimmern platz finden / von grossen Aesthetica (1750) eine neue Form der Kunsttheo-
vnd verständigen Männern getragen / […] of- rie, die den Akt der Rezeption, also das ›Urteil‹
fentlich verkauffet vnd von jederman gerhümet über künstlerische Werke auf der Basis des ›Ge-
werden« (Kap. 8). schmacks‹, gegenüber den Techniken der poeti-
Frühneuzeitliche Regelpoetiken: Die Zeit zwi- schen Produktion in den Vordergrund rückte. Mit
schen Opitz und Johann Christoph Gottsched, ei- Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher entwickelte
nem prominenten Vertreter der frühen Aufklärung, sich seit dem Beginn des 19. Jh.s eine philosophi-
galt in Deutschland als Zeitalter der ›Regelpoetik‹. sche Hermeneutik, die die Textanalyse zwar an die
Während Opitz vor allem durch die Festlegung des Rekonstruktion des dichterischen Produktions-
akzentuierend-alternierenden Verssystems auf prozesses koppelte, in diesem jedoch kein fixier-
lange Zeit stilbildend wirkte – noch heute gilt der bares Regelsystem am Werke sah.
regelmäßige Wechsel von betonten und unbeton- Moderne und Postmoderne: Nachdem im 19.
ten Silben als Standard eines konventionell gebau- und frühen 20. Jh. die Überbleibsel der Regelpoe-
ten Verstextes –, erntete Gottsched zunächst Aner- tik einerseits, der kategorialen Unterscheidung
kennung, später harte Kritik für sein berühmtes zwischen (Vers-)Dichtung und (literarischer) Pro-
formalistisches Tragödienschema, das mit fol- sa andererseits verschwunden waren, galten über-
genden Worten beginnt: »Der Poet wählet sich ei- greifende Fragen dem Literaturbegriff und damit
nen moralischen Lehr-Satz, den er seinen Zu- verbundenen Problemen. Die moderne Literatur-
Gottsched: Versuch einer schauern auf eine sinnliche Art einprägen will. theorie beschäftigt sich daher auf neuen Wegen
Critischen Dichtkunst vor Dazu ersinnt er sich eine allgemeine Fabel, daraus mit Fragen der Autorschaft, der literarischen Fikti-
die Deutschen (1730) die Wahrheit seines Satzes erhellet« (Versuch einer on oder der Intertextualität. Im Zeichen der Post-
Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, 1730, moderne wird dem literarischen Autor, der mit
Kap. 10). seiner Heroisierung seit der Goethezeit eine sakro-
Modifikationen des tradierten Paradigmas: sankte Stellung im Kulturbetrieb errungen hatte,
Schon im Verlauf der Aufklärungsbewegung, stär- ein großer Teil seiner Verfügungsgewalt über den
ker noch bei den Vertretern der Empfindsamkeit eigenen Text entzogen. Wenn Roland Barthes vom
und des Sturm und Drang stießen derlei starre »Tod des Autors« (1968) spricht, wird damit die
Konzepte auf Widerspruch, so wurde etwa Gott- historische Entwicklung der Poetik gewisserma-
scheds Forderung nach ›Wahrscheinlichkeit‹ des ßen umgekehrt. Neben diesen avantgardistischen
dichterischen Gegenstandes, die er von Aristoteles Konzepten, teilweise freilich von ihnen beein-
übernommen hatte, durch die Aufwertung des flusst, gibt es heute auch wieder ›Poetik‹ im Sinne
›Wunderbaren‹ (Johann Jakob Bodmer, Johann Ja- einer lehrbaren Kunst (Creative Writing-Kurse),
kob Breitinger: die ›Schweizer‹) unterlaufen, wo- und in den an vielen Universitäten gepflegten Poe-
mit der Phantasie größere Spielräume in der Dich- tik-Vorlesungen bieten Schriftsteller/innen eine
tung eingeräumt wurden. Während Lessing im Kombination aus persönlichem Erfahrungsbericht,
Medium der Literaturkritik mit feinem Witz gegen Literaturkritik und praxisorientierten Dichtungs-
Gottsched polemisierte, griffen die Stürmer und konzepten.
Dränger zu drastischeren Formulierungen, so etwa
der junge Goethe in seiner Rede Zum Schäkespears
Tag (1771): »Und ietzo da ich sahe wieviel Unrecht
mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angethan 1.4.3 | Literarische Stilistik
haben, wie viel freye Seelen noch drinne sich
krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten wenn Stilarten: Unter den oben erläuterten rhetorischen
ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte, und Produktionsstadien (officia oratoris) nahm die an-
nicht täglich suchte ihre Türne [Türme] zusam- spruchsvolle Ausgestaltung des Textes (elocutio)
men zu schlagen.« den größten Raum in den antiken, mittelalterlichen
Poetik, Ästhetik, Hermeneutik: Wenn die regel- und frühneuzeitlichen Lehrbüchern ein, weil hier
geleitete Poetik spätestens mit dem Konzept des die eigentliche Stillehre im Detail abzuhandeln
dichterischen ›Genies‹ nach der Mitte des 18. Jh.s war. Die Theorie wandte sich zunächst den Stilar-
endgültig abgeschrieben wird, bedeutet dies kei- ten (genera elocutionis) zu; unterschieden wurde:

194
1.4
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Literarische Stilistik

N Schlichter Stil (genus humile oder subtile) Denn wie ein anderer habit einem könige / ein anderer einer pri- Stilarten und
N Mittlerer Stil (genus medium oder mixtum) uatperson gebühret / vnd ein Kriegesman so / ein Bawer anders Stilqualitäten
N Erhabener Stil (genus grande oder sublime) / ein Kauffmann wieder anders hergehen soll: so muß man auch
Gattungsstile: Traditionell waren mit den Stilarten nicht von allen dingen auff einerley weise reden; sondern zue
oder Stilebenen bestimmte Gattungen verbunden, niedrigen sachen schlechte / zue hohen ansehliche / zue mittel-
so orientierte man sich etwa im Mittelalter an der mässigen auch mässige vnd weder zue grosse noch zue ge-
rota Virgilii, dem ›Rad des Vergil‹, auf dem in an- meine worte brauchen (Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey,
schaulicher Form die drei überlieferten Werke des 6. Kap. ).
römischen Dichters Vergil mit ihren spezifischen
Stileigentümlichkeiten abgebildet waren. Dem- ›Natürlicher‹ Stil: In der Zeit der Aufklärung streb-
nach galt das Heldenepos Aeneis mit seinem hero- te man generell einen ›natürlichen‹ Stil an, der un-
ischen Personal und dem historisch-mythologi- gefähr den Vorgaben des genus medium entsprach.
schen Stoff als idealtypischer Vertreter des genus Schon 1692 forderte Christian Weise in seinen
grande, das Lehrgedicht Georgica mit den land- Curiösen Gedancken von Deutschen Versen eine
wirtschaftlichen Unternehmern, deren Tätigkeit Abkehr vom sog. ›Schwulst-Stil‹ des Spätbarock:
didaktisch-systematisch aufbereitet wird, als Re- »Was mir schön vorkommt / daß werffe ich in Ge-
präsentant des genus medium, während die Eklo- dancken so lange herum / biß es recht und unge-
gensammlung Bucolica aufgrund des niederen zwungen deutsch klinget.« Im 18. Jh. nivellierte
Standes und der vergleichsweise schlichten Taten sich mit der Zuordnung von Figurenarsenal und
und Worte der darin auftretenden Hirten für das literarischen Gattungen im Trauerspiel – bürgerli-
genus subtile geeignet erschienen. Die Konzeption che Personen wurden nun ›tragikwürdig‹ – auch
eines verbindlichen Gattungsstils wurde seit dem die Stilebene des dramatischen Sprechens. Diejeni-
18. Jh. zunehmend als obsolet empfunden. ge Textsorte, für die das ganze Jahrhundert hin-
Dreistillehre: Eine Zuordnung von Sprachstil durch und noch darüber hinaus Stilregeln formu-
und sozialem Stand der Figuren, wie sie sich hier liert wurden, ist bezeichnenderweise der Brief, der
abzeichnet, ist auch in der Dramentheorie anzu- als ›Gespräch mit Abwesenden‹ zum Spiegel der
treffen, wo traditionell die Tragödienhelden – my- allenthalben gepflegten Kultur des ›natürlichen‹
thische Heroen, hohe Standespersonen – in erha- Stils wurde.
benen Versen sprechen, während die komischen Die fünf Stilqualitäten (virtutes dicendi) umfas-
Figuren im Lustspiel – Bürger, Bauern, Diener sen recht unterschiedliche Bereiche:
usw. – sich einer schlichten Prosa befleißigen. Die N Unter Sprachrichtigkeit (puritas) ist der kor-
sog. ›Dreistillehre‹ formuliert etwa Martin Opitz rekte, an der Tradition ausgerichtete Gebrauch der
so: Sprache zu verstehen. Aus literarischer Perspek-
tive kann ein Verstoß gegen diese Norm (barbaris-
mus, soloecismus) allerdings begründet sein, so
etwa bei der gezielten Verwendung von Dialektfor-
men. Auch das grammatikalisch fehlerhafte Ab-
brechen eines Satzes (Aposiopese) wird etwa zur
Darstellung bestimmter Affekte verwendet.
N Die Deutlichkeit (perspicuitas) gilt generell
ebenfalls als Stilqualität, wenngleich bestimmte
literarische Bewegungen wie etwa das Spätbarock
(›Schwulst-Stil‹) oder die frühe Moderne (hermeti-
sche Strömungen in Jugendstil und Expressionis-
mus) die Forderung nach Klarheit und Eindeutig-
keit des Ausdrucks gezielt unterlaufen.
N Die Situationsangmessenheit des Ausdrucks
(aptum, decorum) betrifft mehrere Einzelaspekte,
die vom engeren Bereich der Rhetorik auf das ge-
samte Verhalten ausgreifen. Solange die sog. ›Stän-
deklausel‹, die Koppelung von Literaturgattung
und sozialem Stand der Figuren, Geltung besaß,
Das Rad des Vergil gab es in literarischen Texten eine klare Zuord-

195
1.4
Literaturtheoretische Grundbegriffe
Rhetorik und Poetik

nung von Stand, Charakter und Sprachstil (s. o. stimmte Formen wie etwa das Epigramm von
Dreistillehre). zwingender Relevanz ist.
N Die vierte Stilqualität ist mit ornatus (eigtl. Tropen und Figuren: Eine ›rhetorische‹ Textana-
›Schmuck‹) etwas missverständlich bezeichnet, lyse wird in der Praxis vielfach reduziert auf die
weil der Eindruck entstehen könnte, die ›Aus- Beschreibung und funktionale Deutung der jeweils
schmückung‹ des Textes sei von geringerer Bedeu- verwendeten Tropen und Figuren, die freilich, wie
tung und vielleicht sogar überflüssig. Tatsächlich gezeigt, sowohl produktions- wie rezeptionsästhe-
kann ein anspruchsvoller Text wie eine politische tisch nur einen Aspekt im System der Rhetorik
Rede, eine Predigt, ein engagierter Brief oder na- bzw. der rhetorisch verstandenen Poetik ausma-
türlich ein genuin literarisches Werk nicht ohne chen. Allerdings sind sie gewissermaßen die ›Vo-
jene Stilmittel auskommen, die man grob in Tro- kabeln‹ des rhetorischen Systems, das sich in
pen (bezogen auf Einzelwörter) und Figuren seinen kleinsten Bausteinen verhältnismäßig stark
(bezogen auf Wortverbindungen) einteilt. Verein- ausdifferenziert. Nahezu alle Lehrbücher der Rhe-
fachend benutzt man gelegentlich auch die Be- torik bieten eine Übersicht über die wichtigsten
zeichnung ›Stilfiguren‹ als Oberbegriff für alle dieser Stilfiguren mit ihren teilweise schwer einzu-
diese Stilmittel, die in unterschiedlicher Weise das prägenden Namen, so auch unsere Darstellung
›Redeziel‹ des Textes – und ein solches wurde (s. Kap. III.4.3). Es empfiehlt sich, diese Namen
lange Zeit auch dem poetischen Werk wie selbst- zusammen mit griffigen Beispielen auswendigzu-
verständlich zugeschrieben – befördern helfen. lernen. In einem zweiten Schritt übt man sich dar-
N Der Vollständigkeit halber sei noch die Stilqua- in, die bei der eigenen Textlektüre begegnenden
lität der Kürze (brevitas) genannt, die im Hinblick Stilphänomene per Analogie der korrekten Be-
auf die rhetorische Praxis der Antike von Bedeu- zeichnung zuzuordnen.
tung war, in der Literatur allerdings nur für be-

Literatur
Arend, Stefanie: Einführung in Rhetorik und Poetik. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik.
Darmstadt 2012. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde.
Dyck, Joachim: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und Stuttgart 42008.
rhetorische Tradition. Tübingen 31991. Ottmers, Clemens: Rhetorik. Stuttgart/Weimar 22007.
Fuhrmann, Manfred: Die Dichtungstheorie der Antike. Petersen, Jürgen H.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung.
Aristoteles – Horaz – ›Longin‹. Eine Einführung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München
Düsseldorf/Zürich 2003. 2000.
Göttert, Karl-Heinz: Einführung in die Rhetorik. Grundbe- Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik.
griffe – Geschichte – Rezeption. München 42009. Tübingen 1992 ff.
Jung, Werner: Poetik. Eine Einführung. Paderborn 2007. – / Steinbrink, Bernd: Grundriss der Rhetorik. Geschichte –
Knape, Joachim: Allgemeine Rhetorik. Stationen der Technik – Methode. Stuttgart/Weimar 52011.
Theoriegeschichte. Stuttgart 2000.
Robert Seidel

196
2.1
Medientheoretische Grundbegriffe

2 Medientheoretische Grundbegriffe
2.1 Literatur und auditive Medien
2.2 Literatur und Schriftmedien
2.3 Literatur und Bildmedien

2.1 | Literatur und auditive Medien


2.1.1 | Stimme und Schrift Literatur des Mittelalters sind zahlreiche Wechsel-
beziehungen zwischen Mündlichkeit und Schrift-
Oralität und Literalität im Mittelalter: Die mensch- lichkeit, Oralität und Literalität zu beobachten.
liche Stimme ist das älteste Medium, mit Hilfe des- Interferenzen zwischen Mündlichkeit und
sen deutsche Dichtung geformt und verbreitet Schriftlichkeit: Ausgehend von der ursprünglichen,
wurde. Bis ins 8. Jh. blieb die Schriftlichkeit der lateinischen Wortbedeutung von littera (Buchsta-
lateinischen Sprache vorbehalten, doch belegen be) lassen sich erst die im Medium der Schrift
die von Klerikern angefertigten Schriftzeugnisse entstandenen Texte als Literatur im eigentlichen
zugleich die Existenz und lange Tradierung volks- Sinne bezeichnen; folgende Interferenzen sind
sprachlicher Lieder. So berichtet Einhard um 830 möglich:
in seiner Biographie Karls des Großen, dass der N mündlich tradierte und vorgetragene Dichtung
Kaiser »barbara et antiquissima carmina« habe N schriftlich aufgezeichnete mündliche Dichtung
sammeln lassen, die jedoch nicht mehr erhalten N mündlich vorgetragene schriftliche Literatur
sind. Die deutsche Dichtung des frühen Mittelal- N schriftlich aufgezeichnete und gelesene Literatur
ters ist somit gekennzeichnet durch ihre Oralität; Konzeptionelle Mündlichkeit: Im Buchepos kön-
sie wurde mündlich entwickelt und vorgetragen, nen Stilmittel, die Mündlichkeit simulieren, gezielt
rezipiert und tradiert. Um die volkssprachlichen eingesetzt werden, um eine Heldensage aus der
Lieder, Zaubersprüche und Gebete aufzeichnen fernen Vergangenheit angemessen zu präsentie-
zu können, mussten sie dem Medium der Schrift ren. Mit einem solchen Redegestus beginnt bei-
angepasst werden. Diese Aufgabe stellte die ersten spielsweise die erste Strophe des Nibelungenlieds:
deutschen Schreiber vor große Schwierigkeiten, da
sie mit dem lateinischen Alphabet Laute wiederge- Uns ist in alten mæren wunders vil geseit Das Nibelungenlied,
ben mussten, die in der lateinischen Sprache nicht von helden lobebæren, von grôzer arebeit, 1. Strophe
existierten. von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
Übergänge zwischen Oralität und Literalität: von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.
Mit der Überführung in die Schriftlichkeit wurden
auch solche Formulierungen im neuen Medium Mit der Formulierung »Uns ist in alten mæren
festgehalten, die als typische Merkmale mündli- wunders vil geseit« erklärt der Erzähler, dass er an
cher Dichtung gelten. Welche Charakteristika dazu bekannte Geschichten, die bisher mündlich wei-
zählen, wurde in der oral poetry-Forschung erar- tergegeben worden sind (geseit < gesaget), an-
beitet, die sich auf eine noch lebendige Tradition knüpft. Indem er auf dieses kollektive Wissen ver-
mündlichen Erzählens von Heldendichtung stütz- weist und sich selbst in eine Rezeptionsgemeinschaft
te. Diesen Erkenntnissen zufolge helfen sprach- mit seinen Zuhörern stellt, suggeriert er, mit seiner
liche Formeln, Versmaß und Rhythmik, wieder- Narration diese mündliche Tradition fortzusetzen.
kehrende Erzählmotive und Handlungsschemata Bei solchen Textsignalen lässt sich, sofern sie Be-
sowie parataktische Satzstrukturen, den vorgege- standteil der literarischen Konzeption sind und im
benen Stoff im mündlichen Vortrag wiederzugeben Medium der Schrift entwickelt wurden, von einer
und zu gestalten. Obwohl diese festgefügten Wen- ›konzeptionellen Mündlichkeit‹ sprechen (Koch/
dungen nur in einer oralen Kultur eine Funktion Oesterreicher 1985). Die schriftlichen Entste-
als Organisationshilfe und Gedächtnisstütze besit- hungsbedingungen können sich jedoch ihrerseits
zen, sind sie auch in solchen Werken zu finden, auf die Formulierung und Organisation auswirken
die schriftlich konzipiert wurden. In der deutschen und den intendierten Eindruck der mündlichen Er-

197
2.1
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und
auditive Medien

zählweise unterlaufen. In dem zitierten Vers des Zeugnissen zu entnehmen. Für den Minnesang, der
Nibelungenlieds zeigt das Attribut alt für die be- für den Gesangsvortrag bestimmt war, fehlen bis
kannten mæren eine Distanzierung von dem über- Anfang des 14. Jh.s entzifferbare Melodien. Besser
lieferten Stoff an, der erst mit seiner Literalisierung sieht die Überlieferungssituation für den Sang-
erfolgen kann. Die Geschichten werden als histo- spruch und Meistergesang aus, deren große Lieder-
risch klassifiziert und besitzen keine unmittelbare handschriften Text wie Musiknotation enthalten.
Bedeutung mehr für die Rezipienten. Nur mit Vorsicht können ebenfalls aus den
Mündliche Rezeptionssituation: Die literarische weltlichen und geistlichen Spielen des Mittelalters
Inszenierung von Mündlichkeit ist sowohl von ih- Rückschlüsse auf ihre Aufführungspraxis gezogen
rer primären Form, der ohne das Medium der werden. Zwar bieten die Texte ein breites mediales
Schrift entstandenen Dichtung, als auch von einer Spektrum von Geräuschen, Gesängen, szenischen
sekundären Mündlichkeit zu unterscheiden. Unge- Darstellungen und Redeformen. Doch bleibt die
achtet ihrer schriftlichen Abfassung wird die Lite- historische Umsetzung solcher Vorgaben selbst bei
ratur im Mittelalter weiterhin zum überwiegenden detailliert formulierten Regieanweisungen oder bei
Teil mündlich präsentiert und rezipiert. Ein Spre- der Integration liturgischer Gesänge offen. Ausge-
cher liest den Text vor, wobei er ihn mit Rhythmus hend von den unterschiedlichen Drameninszenie-
und Betonung versieht und mit Mimik und Gestik rungen in der Moderne, wie sie digitale Aufzeich-
untermalt. Selbst solche Erzählungen, die ihre Li- nungen dokumentieren, lässt sich rückblickend
teralität herausstellen und eine schriftliche Quelle auch auf die vielfältigen Optionen, einen spätmit-
als Vorlage nennen, bleiben über das Vortragen in telalterlichen Spieltext auf die Bühne zu bringen,
einen mündlichen Kommunikationszusammen- schließen. Eine genaue Rekonstruktion einer zeit-
hang eingebunden. Das schriftliche Werk wird genössischen Aufführung oder eines Liedvortrags
durch die Stimme eines Sprechers zum Klingen ist nicht möglich.
gebracht. Die Stimme im Text: Aufgrund fehlender ande-
Aufführung und Schrift: Die Schrift ist zwar ein rer Überlieferungsträger bleibt die vormoderne Li-
geeignetes Medium, um einen Text langfristig zu teraturwissenschaft notwendigerweise an das Me-
überliefern, jedoch weniger, um die damit verbun- dium der Schrift gebunden. Dieser nicht zu lösende
dene Performanz, seine konkrete Vortragsform, zu Zusammenhang zwischen Aufführung und Text
konservieren. Auf welche Weise mittelalterliche Li- lässt sich jedoch fruchtbar machen, indem die Ka-
teratur einem zeitgenössischen Publikum dargebo- tegorie der Vokalität analysiert wird (vgl. Schaefer
ten wurde, lässt sich schwer rekonstruieren. Hin- 1992).
Aus der Jenaer weise sind meist nur textimmanenten Aussagen,
Liederhandschrift metrischen Befunden oder anderen, sekundären Definition

Mit dem Begriff der   Vokalität wird die


dem Text eingeschriebene Stimme des
Erzählers bezeichnet. Dies bedeutet, dass
ein Redestil, der einer mündlichen Vortrags-
situation entspricht, im Medium der Schrift
imitiert und inszeniert wird.

Eine solche Untersuchung der medialen Selbstprä-


sentation des Narrators ist weiterführender als die
kaum zu entscheidenden Streitfragen, ob ein höfi-
scher Roman im mündlichen Vortrag oder in priva-
ter Lektüre rezipiert worden ist und ob es sich bei
einem Spiel um ein Lesedrama oder ein Regiebuch
handelt. Vielmehr ist das besondere Potential der
Literatur hervorzuheben, die mit sprachlichen Mit-
teln eine imaginäre Aufführung erzeugt.
Auditive Medien in der Moderne: Auch im
Druck- und sogar im Internetzeitalter hat die Stim-

198
2.1
Medientheoretische Grundbegriffe
Akustische Aspekte
der Literatur

me ihre Bedeutung für die Literatur nicht verlo- ner SMS entlehnt sind. Dass sich die aktuellen
ren, was sich sowohl in der Rezeption als auch in Veränderungen im Verhältnis von Stimme und
der Produktion literarischer Werke niederschlägt. Schrift auch auf die Literatur auswirken, dokumen-
Noch immer wird bei bestimmten Veranstaltun- tieren zwei Romane Daniel Glattauers, Gut gegen
gen, etwa Autorenlesungen, Literatur mündlich Nordwind (2006) und Alle sieben Wellen (2009).
vorgetragen, wobei der Aspekt der Performanz Der Autor knüpft in ihnen an die Gattung des Brief-
eine entscheidende Rolle spielen kann, wie etwa romans an, benutzt aber statt der traditionellen
bei einem Poetry Slam (literarischen Vortragswett- Textsorte die des neuen elektronischen Mediums:
bewerb). Hinzu kommen weitere Formen auditiver Die Handlung seiner Romane entwickelt sich in ei-
Rezeption, bei denen man nicht mehr auf die per- ner E-Mail-Kommunikation.
sönliche Präsenz eines Sprechers angewiesen ist
und Vorträge beliebig reproduzierbar werden. AW: Darf ich dich etwas ›Persönliches‹ fragen, Emmi? Daniel Glattauer:
Der Auf- und Ausbau des Rundfunks zu Be- 50 Sekunden später Alle sieben Wellen.
ginn des 20. Jh.s sorgte für einen neuen mündli- RE: Na, das kann eine Frage werden! Roman, 2009, S. 37.
chen Kommunikationszusammenhang von Litera- 40 Sekunden später
tur und führte zu der Entstehung einer eigenen AW: Bist du noch mit Bernhard zusammen?
elektroakustischen Gattung, dem Hörspiel. In ihm 30 Sekunden später
sind dramatische, epische oder auch lyrische Ele- RE: Schon. Doch. Klar. Sicher. Warum fragst du?
mente enthalten und wird Sprache mit Geräuschen 40 Sekunden später
und Musik kombiniert. Seine Hochphasen erlebte AW: Ach, nur aus ›persönlichem‹ Interesse.
der literarische Hörfunk in der Zeit von 1929 bis 20 Sekunden später
1932 und in den 1950er und 1960er Jahren mit Au- RE: An mir?
toren wie Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Alfred 30 Sekunden später
Döblin, Günter Eich, Friedrich Dürrenmatt und AW: An deinen Lebensumständen.
Ilse Aichinger. Mittels Aufzeichnungen auf Ton-
band, Kassette und Compact Disc sowie durch
Podcasts können Hörspiele längst unabhängig von
einem Sendetermin rezipiert werden. Der wach- 2.1.2 | Akustische Aspekte der Literatur
sende Markt an Hörbüchern belegt, dass sich
mündlich vorgetragene Literatur ungebrochener Verbindungen zwischen Musik und Literatur: Die
Beliebtheit erfreut. Relevanz auditiver Medien in der Literatur zeigt
Elektronische Kommunikation und Literatur: sich nirgends deutlicher als in ihrem Verhältnis zur
Durch die neuen Medien intensiviert sich das litera- Musik, die zur Aufführung gebracht werden muss,
rische Wechselspiel von Stimme und Schrift, da die um ihre Wirkung entfalten zu können. Da zwi-
verschiedenen Rezeptionsformen nicht mehr als schen Musik und Literatur zahlreiche Berührungs-
sich ausschließende, sondern einander ergänzende punkte bestehen, ist eine systematische Unter-
Alternativen angeboten werden können. Literatur scheidung ihrer drei Hauptbereiche notwendig,
wird im Internet sowohl mündlich als auch schrift- wie sie das in der Forschung weitgehend etablierte
lich übermittelt, so dass Nutzer Texte auf dem Bild- Schema von Scher (1984) vornimmt.
schirm lesen, mittels Lautsprecher anhören oder N Literatur in der Musik befasst sich mit Instru-
auch beide Optionen wahrnehmen können. Wie mentalwerken, wie z. B. symphonischen Dichtun-
die digitale Kommunikation zu neuen Interferen- gen, die sich auf literarische Texte, Stoffe oder
zen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit füh- Motive beziehen, sowie alle Arten von Programm-
ren kann, lässt sich an wenigen Beispielen bele- musik, die literarische Strukturen kompositorisch
gen: So weist die schriftlich fixierte Kommunikation imitieren.
in Online-Chats und E-Mails Merkmale der Münd- N Literatur und Musik betrifft das Zusammen-
lichkeit auf, wohingegen für die Stimme eines wirken von Sprache und Musik, wie es in der Vo-
Anrufbeantworters meist eine gehobene Schrift- kalmusik, d. h. in allen Vertonungen literarischer
sprache verwendet wird. Politiker/innen halten Texte, zum Ausdruck kommt. Berühmte Beispiele
wiederum Reden, die sie von einem Teleprompter sind Goethes »Heidenröslein« in der musikalischen
ablesen, während Schüler/innen in ihrer Umgangs- Version von Franz Schubert oder Schillers »Ode an
sprache Wendungen benutzen, die den aus einzel- die Freude«, die Ludwig van Beethoven vertonte.
nen Schriftzeichen bestehenden Abkürzungen ei- Neben dem Lied stellt die Oper das zweite wich-

199
2.1
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und
auditive Medien

allem in der Lyrik angestrebt wird. Durch die


Musik Literatur Sprache, etwa die Wahl und Häufung bestimmter
Vokale und Konsonanten, werden rhythmische
       Effekte erzielt und Klangfarben erzeugt. Worte
dienen dann nicht mehr primär als bedeutungs-
tragende Begriffe, sondern als Lautkörper und
musikliterarisches Studium bilden ein eigenes Metrum. Auf diese Weise wird
die Literatur musikalisiert, werden Stimmungen
erzeugt und Assoziationen geweckt. Schon um
1200 bediente sich Walther von der Vogelweide
eines solchen Stilmittels, wenn er im vorletzten
      Vers jeder Strophe seines »Lindenlieds« die For-
mulierung »tandaradei« wählt. Statt die erzählte
Begegnung eines Liebespaares auf der Heide de-
tailliert zu beschreiben, ahmt der Sprecher mit
seiner Stimme die musikalische Begleitung nach.
 
     ! 
Auf diese Weise werden Musik- und Liebesspiel
 "
 parallelisiert und für die im Text nur angedeutete
   Vereinigung der Liebenden ein inhaltlicher Frei-
raum geschaffen, den der Rezipient imaginativ
füllen kann.
Verbindungen zwischen tige komparatistische Untersuchungsobjekt dar, Bekannt geworden und konsequent durchge-
Musik und Literatur wobei die Partitur stärker die Musikwissenschaft, führt ist das Prinzip der Wortmusik vor allem im
(nach Scher 1984, S. 14) das Libretto hingegen die Literaturwissenschaft in- 20. Jh. durch die Vertreter des Dadaismus und der
teressiert. Konkreten Poesie. In ihren Lautgedichten wird
N Musik in der Literatur ist ein genuin literatur- gesungen, geflüstert, gegurrt, geschossen und ge-
wissenschaftliches Thema, das sich mit der Imi- hopst, wobei der Text nicht eine konkrete Bot-
tation, Beschreibung und Funktion von Musik in li- schaft vermitteln, sondern wie eine Musikpartitur
terarischen Werken auseinandersetzt. Dieser Bereich eine Klangwirkung erzeugen soll. Dass eine poli-
lässt sich in mehrere Teilaspekte untergliedern: tische Stellungnahme auch bei den vermeintlich
Wortmusik: Als ›Wortmusik‹ oder ›Melopoe- sinnfreien Lautgedichten intendiert sein kann,
tik‹ bezeichnet man die dichterische Nachah- zeigen die Texte Ernst Jandls, der z. B. in seinem
mung musikalischer Ausdrucksformen, die vor Gedicht »schtzngrmm« durch den Verzicht auf
Vokale und die Reihung von Verschlusslauten,
Nasalen, Reibelauten und Liquiden das Verhalten
Ernst Jandl: »schtzngrmm« schtzngrmm grrt der Soldaten im Schützengraben lautmalerisch
(aus: Laut und Luise 1976) schtzngrmm grrrrrt inszeniert.
t-t-t-t grrrrrrrrrt Musikalische Form- und Strukturparallelen: Un-
t-t-t-t scht abhängig von der Lautgestalt orientiert sich die
grrrmmmmm scht Literatur an der Musik, wenn sie Formen von mu-
t-t-t-t t-t-t-t-t-t-t-t-t-t sikalischen Kompositionen aufgreift und Struktur-
s --------- c --------- h scht parallelen aufzubauen sucht. Diese Imitation muss
tzngrmm tzngrmm sich nicht nur auf einzelne Techniken wie die Ver-
tzngrmm tzngrmm wendung eines Leitmotivs oder eines Kontra-
tzngrmm t-t-t-t-t-t-t-t-t-t punkts, d. h. ein dem vorgegebenen Thema gegen-
grrmmmmm scht übergestelltes, selbstständig durchgeführtes Motiv,
schtzn scht beschränken. Die Überschriften einiger literari-
schtzn scht scher Werke, etwa Arthur Schnitzlers Reigen, Kurt
t-t-t-t scht Schwitters’ »Ursonate« oder Ingeborg Bachmanns
t-t-t-t scht »Requiem für Fanny Goldmann«, legen nahe, dass
schtzngrmm grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr die Texte insgesamt vor dem Hintergrund musika-
schtzngrmm t-tt lischer Gattungen gedeutet werden sollen. Inwie-
tssssssssssssss fern literarische Werke dem musikalischen Leitbild

200
2.1
Medientheoretische Grundbegriffe
Literarästhetik und Musik

tatsächlich entsprechen und eine Analyse dieser zeit auseinander. In ähnlicher Weise zeugt Tho-
Formvorgabe zu einem tieferen Verständnis führt, mas Manns Doktor Faustus von den musikalischen
ist in der Forschung umstritten. Eine Nachahmung Neuerungen des frühen 20. Jh.s, der Emanzipation
musikalischer Strukturen im engeren Sinne liegt in der Dissonanz und den Erfindungen der freien
der »Todesfuge« Paul Celans vor. Dort wird zu- Atonalität und Zwölftontechnik, anhand derer der
nächst ein Thema exponiert, dann folgen Wieder- Autor eine eigene ästhetische Programmatik ent-
holungen, Variationen und werden Kontrapunkte wickelt.
gesetzt. Obwohl es Celan gelingt, die musikali- Musikbeschreibungen in der Literatur weisen
sche Fugentechnik strukturell zu adaptieren und im Vergleich zu realen Aufführungen stets einen
einzelne Motive des Holocausts eng miteinander Mangel und zugleich einen Zusatz an Informatio-
zu verflechten, zeigt sich auch hier, dass eine voll- nen auf. ›Verbal music‹ kann niemals ein getreues
ständige Übertragbarkeit des musikalischen Kom- und vollständiges Abbild einer Musikinszenierung
positionsprinzips auf die Literatur nicht möglich liefern, sondern muss diese in Sprache überfüh-
ist. Die Simultaneität mehrerer Stimmen kann in ren, einen bestimmten Abschnitt oder Eindruck
literarischen Werken nicht erzeugt werden und auswählen und dabei notwendigerweise interpre-
muss in ein zeitliches Nacheinander überführt tieren. Aus diesem Grund können literarische Mu-
werden. sikbeschreibungen bei der Textanalyse wichtige
›Verbal music‹: Neben der formalen Anlehnung Hinweise für die Charakterisierung der vorliegen-
an die Musik findet in der Literatur auch eine in- den Situation, einer tiefergehenden Problematik
haltliche Auseinandersetzung mit ihr statt. Viele und das Verständnis der Figuren geben.
literarische Texte beschäftigen sich mit wirklicher
oder fiktiver Musik, sie beschreiben bestimmte
musikalische Werke und ihren Einfluss auf die lite-
rarischen Figuren. Für solche textinternen Musik- 2.1.3 | Literarästhetik und Musik
beschreibungen wird in der Forschung der Begriff
›verbal music‹ verwendet (Scher 1984). Während Ursprüngliche Einheit der Künste: Die enge Verbin-
die Lyrik Affinitäten zur Melopoetik aufweist, er- dung zwischen Literatur und Musik hinsichtlich
folgen Musikbeschreibungen besonders im Kon- ihrer Ästhetik ist von ihrer Genese her zu rechtfer-
text erzählender Literatur. Indem Autoren ein tigen, wie Friedrich Nietzsche herausstellt. Er ver-
musikalisches Werk in der erzählten Welt zur Auf- weist auf die rituellen und religiösen Ursprünge Ursprüngliche Einheit
führung bringen, können sie von seiner Wirkung von Literatur, die er in der griechischen Kulthand- von Poesie und Musik
profitieren, eine entsprechende Atmosphäre ver- lung lokalisiert, und macht die ästhetische Erfah-
breiten oder es zum Ausgangspunkt ästhetischer rung von der Verschränkung von Musik, Rhyth-
Überlegungen nehmen. mus und Sprache abhängig. Noch heute zeugt der
In der deutschen Literatur des Mittelalters Begriff ›Lyrik‹ davon, dass Poesie und Musik in der
(s. Kap. III.3.2) spielen literarische Musikdarstel- Antike nicht als zwei verschiedene Künste galten;
lungen im Gegensatz zu den ausgefeilten Bildbe- Dichtung wurde, begleitet von einer Lyra, vorge-
schreibungen kaum eine Rolle. Musikalische Dar- tragen. Diese ursprüngliche Einheit kann jedoch
bietungen bilden in der höfischen Dichtung eine nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen
Einheit mit Gesang und Tanz, die festliche Freude Musik und Literatur wesentliche Unterschiede be-
und höfische Geselligkeit anzeigen, ohne jedoch stehen und auch die Beurteilung ihres Verhältnis-
näher beschrieben zu werden. ses historischen Veränderungen unterworfen ist.
Die eigentliche Domäne der ›verbal music‹ ist Musik als Sprache: Da die Musik in der Vormo-
zweifellos der moderne Roman, in dem die Auto- derne meist an Tanz und vor allem Gesang gebun-
ren das Verhältnis von Sprache und Musik auch den war, konnte sie als eine besondere Art des
theoretisch reflektieren und den eigenen Standort Sprechens interpretiert werden. Die Erfindung der
poetologisch zu bestimmen suchen. So macht Notenschrift, die Guido von Arezzo (Mitte des
Eduard Mörike in seiner Novelle Mozart auf der 11. Jh.s) zugeschrieben wird, ermöglicht es zwar,
Reise nach Prag zwar eine historische Person zur Melodien dauerhaft zu tradieren. Dennoch bleiben
zentralen Figur, ist jedoch weniger an deren Bio- Wort und Ton in der Überlieferung lange aneinander Eigener Stellenwert
graphie interessiert, sondern setzt sich kritisch mit gebunden und wird dem Musikalischen erst allmäh- des Musikalischen
dem Mozartbild und der darin sich spiegelnden lich ein eigener Stellenwert eingeräumt. Im Verlauf
Kunstauffassung der Romantik und Biedermeier- dieser Entwicklung löst sich die Musik im Wettstreit

201
2.1
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und
auditive Medien

Paradigmenwechsel der Künste Ende des 16. Jh.s aus dem literarischen sich die Musik nur in der mimetischen Praxis, nie-
zur Instrumentalmusik Diskurs und findet ein Paradigmenwechsel von der mals jedoch in einer vom Vollzug unabhängigen
aus Text und Melodie bestehenden Vokalmusik zur Betrachtung erschließe. Während Sprache zu in-
begriffs- und objektlosen Instrumentalmusik statt. terpretieren bedeute, Sprache zu verstehen, heiße
Die rhythmischen und klanglichen Ausdrucksmög- Musik zu interpretieren, Musik zu machen.
lichkeiten der Musik werden seit der Frühen Neuzeit Als charakteristisch für die Musik gilt, dass sie
zunehmend zum Vorbild für die Literatur, insbeson- nicht auf eine außerhalb ihrer selbst liegende
dere für die Lyrik, erklärt. In der Romantik wird gar Wirklichkeit verweist und sich das Gesagte nicht
ein universelles Musikalitätsideal vertreten, wie es von seiner Form ablösen lässt. Die Musik bezeich-
Joseph Eichendorff in seinem Gedicht »Schläft ein ne mit Sicherheit nie etwas, bedeute aber immer
Lied in allen Dingen« formuliert. Die Vorstellungen etwas. Anders als die Sprache könne sie nicht in
von der Musik als eigentliche ›Sprache des Herzens‹ einzelne Elemente, die als Bedeutungsträger fun-
und die romantische ›Idee der absoluten Musik‹, die gieren, zerlegt werden, sondern diese Bestandteile
z. B. die Schriften Ludwig Tiecks oder E. T.A. Hoff- ergäben – so Adorno – nur in ihrer Gesamtheit,
manns kennzeichnen, entstammen jedoch weniger durch ihre Position im Syntagma, ihren Sinn. So-
der musikalischen Praxis, sondern sind literarische mit lasse sich zwar von einer musikalischen Syn-
Entwürfe. tax, nicht aber einer musikalischen Semantik spre-
Sprache als Musik: Aus diesem Grund lässt sich chen. Auch bei der Verwendung narratologischer
in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s eine Verschie- Begriffe wird der Unterschied zwischen Musik
bung im Verhältnis von Musik und Literatur beob- und Literatur deutlich markiert: In der Musik gebe
achten: Während zuvor Musik als Sprache galt, es zwar eine Erzählweise (discours), aber kein Er-
wird nun Sprache als Musik verstanden und die zähltes (histoire). Ihre Botschaft ist ihre Form, sie
Musikalische Vorgaben Literatur gemäß musikalischer Vorgaben und Idea- bezieht sich nur auf sich selbst, d. h. sie ist auto-
in der Literatur le gestaltet. Diese Ausrichtung führt dazu, dass reflexiv.
sich musikgeschichtliche Neuerungen in den lite- Diese Eigenschaft erklärt, weshalb sich viele
rarischen Werken spiegeln. Entscheidende Impul- Autoren mit ihren Werken an musikalischen Kom-
se gehen im 19. Jh. von Richard Wagner aus, der positionen orientieren. Weil die Literatur wegen
mit seiner Leitmotivtechnik die narrativen Quali- ihrer sprachlichen Zeichen den Wirklichkeitsbe-
täten der Musik zur Geltung bringt und dessen zug nicht überwinden kann, selbst wenn er ihr
Musikpoetik von zahlreichen Schriftstellern rezi- fragwürdig erscheint, bei der Musik dieser Bezug
piert wird (s. Kap. III.3.5.2.4). Mehrfach kommt es hingegen entfällt, gilt diese als überlegene Kunst
zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen und in höherem Maße als poetisch. Ihre Abstrakt-
Dichtern und Musikern, die sich produktiv auf ihr heit und Objektivität machen die Musik als Mo-
Schaffen auswirkt. dell für die literarische Moderne interessant. Sie
Verhältnis von Musik In welchem Verhältnis Musik und Literatur zu- vermag eine Totalität sichtbar zu machen, die die
und Literatur nach Adorno einander stehen, präzisiert Theodor W. Adorno in Sprache zergliedert. Die Wortmusik der Dadaisten
seinen ästhetischen Schriften. Er spricht von der dokumentiert folglich ebenso ein Streben, die
Sprachähnlichkeit der Musik und betont, dass Sprache von ihrer Zeichenhaftigkeit zu befreien,
dies keine Gleichsetzung erlaube: Wer Musik wie die Nachahmung musikalischer Strukturen in
wörtlich als Sprache nehme, den führe sie irre. Sei- der Literatur des 20. Jh.s den Versuch darstellt,
nes Erachtens besteht ein grundlegender Unter- sich einem Ganzen, Unausschöpflichen, Unendli-
schied zwischen Musik und Sprache darin, dass chen anzunähern.

Literatur
Adorno, Theodor, W.: »Fragment über Musik und Dalhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik. Kassel/
Sprache«. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 16: München 1984.
Musikalische Schriften I-III. Hg. von Rolf Tiedemann. Diehr, Achim: Literatur und Musik im Mittelalter. Eine
Frankfurt a. M. 1997, S. 251–256. Auch in: Ders.: Quasi Einführung. Berlin 2004.
una Fantasia. Musikalische Schriften II. Frankfurt a. M. Gier, Albert: »Musik in der Literatur. Einflüsse und
1969, S. 9–16. Analogien«. In: Peter V. Zima (Hg.): Literatur interme-
Bayerl, Sabine: Von der Sprache der Musik zur Musik der dial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt
Sprache. Konzepte zur Spracherweiterung bei Adorno, 1995, S. 61–92.
Kristeva und Barthes. Würzburg 2002.

202
2.2
Medientheoretische Grundbegriffe
Vom Papyrus zum Papier

– /Gruber, Gerold W. (Hg.): Musik und Literatur. Kompara- Scher, Steven Paul (Hg.): Literatur und Musik. Ein
tistische Studien zur Strukturverwandtschaft. Frankfurt Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatisti-
a. M. u. a. 21997. schen Grenzgebiets. Berlin 1984.
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf: »Sprache der Nähe – Valk, Thorsten: Literarische Musikästhetik. Eine Diskursge-
Sprache der Distanz: Mündlichkeit und Schriftlichkeit schichte von 1800 bis 1950. Frankfurt a. M. 2008.
im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachge- Vratz, Christoph: Die Partitur als Wortgefüge. Sprachliches
schichte«. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), Musizieren in literarischen Texten zwischen Romantik
S. 15–43. und Gegenwart. Würzburg 2002.
Lubkoll, Christine: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Würffel, Stefan Bodo: Das deutsche Hörspiel. Stuttgart
Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg 1995. 1978.
Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklo- Zumthor, Paul: Die Stimme und die Poesie in der mittelal-
pädie der Musik. 20 Bde. in zwei Teilen. Begründet von terlichen Gesellschaft. München 1994 (franz. 1987).
Friedrich Blume. 2., neubearb. Ausgabe. Hg. von Ludwig
Finscher. Kassel/Stuttgart 1994 ff. Regina Toepfer
Schaefer, Ursula: Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen
Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1992.

2.2 | Literatur und Schriftmedien


Literatur wurde im Laufe ihrer Geschichte auf unter- 2.2.1 | Vom Papyrus zum Papier
schiedlichen Schriftmedien fixiert. Sie hat auf Ton-
scherben, Leder, Buchenholz, Papyrus, Pergament, Da Schrift über Jahrhunderte hinweg stets per Antiker Papyrusmarkt
Papier und zuletzt im virtuellen Raum des Internet Hand aufgetragen wurde, handelt die Geschichte
Platz gefunden. Und nicht nur der mediale Träger der Schriftmedien zunächst von unterschiedlichen
hat sich verändert, sondern darüber hinaus haben materialen Trägern und Schreibstoffen. Bis die aus
verschiedenartige Schreib-Maschinen das Schreiben Papyrus gefertigten Schriftrollen zu dem Be-
per Hand (mehr und mehr) ergänzt. Wie relevant schreibstoff der Antike avancierten, beschrieben
diese Veränderungen aus Sicht der Germanistik sind, Menschen alles, was eine ausreichend große Ober-
wird deutlich, wenn man sie im Kontext der Frage fläche bot. Erste Schriftrollen, die in Ägypten be-
betrachtet, was Kultur überhaupt auszeichnet. Ver- reits seit dem Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr.
steht man Kultur »als ein Gewebe der Tätigkeiten aus dem Mark der Papyrusstaude gewonnen wur-
des Sprechens, Schreibens, Speicherns, Verwaltens, den, sind in Athen ab dem 5. Jh. v. Chr. nachzuwei-
Erinnerns, Lesens, Auswählens, Interpretierens und sen. Je zwanzig Blätter wurden zu Rollen von 1 bis
Verstehens« (Neumann 1999, S. 402), so konstituiert 2 Metern Länge zusammengeklebt und mit Tusche
sie sich aus einem fortlaufenden Prozess der Ent- oder Sepiatinte, die aus dem Tintenbeutelsekret
scheidung darüber, welche Zeichen(systeme) erin- von Tintenfischen gewonnen wurde, einseitig,
nert und welche verworfen werden. Da weder alles ohne Zeichensetzung, Wort- und Satztrennung be-
vergessen noch alles gespeichert werden darf, ver- schrieben. Auf öffentlichen Plätzen verfassten pro-
fügt jede Gesellschaft über einen kulturellen Haus- fessionelle Schreiber und Kopisten, meist (ehema-
halt, der das Erinnern und Vergessen regelt. Ob lige) Sklaven, parallel nach Diktat alle möglichen
einzelne literarische Arbeiten in das kulturelle Ge- Textsorten: amtliche Dokumente und Briefe, wis-
dächtnis eingehen oder nicht, hängt unter anderem senschaftliche und religiöse Schriften und literari-
davon ab, auf welchem Medium sie fixiert wurden. sche Texte. Um ihre Haltbarkeit zu sichern, wur-
Ist das Material haltbar, leicht und weit zu verbrei- den die Rollen meist in Tonkrügen aufbewahrt. Als
ten, lässt es sich archivieren und wieder abrufen? ältester, überlieferter griechischer Papyrustext, gilt
Kann eine Kultur über die Schriftträger verfügen Persai (Die Perser) von Timotheos von Milet, der
oder nicht? Die Eigenschaften der Schriftmedien, die aus dem 4. Jh. v. Chr. stammt. Da Papyrus feuchtig-
technischen Innovationen (wie die Erfindung des keitsanfällig ist, gibt es heute nur noch wenige
Papiers oder des Buchdrucks) sowie die Struktur von Fundorte, wie etwa die Wüsten Ägyptens.
Institutionen, die Publikation und Archivierung re- Im Mittelalter waren Handschriften ebenfalls Klosterkultur
geln, konstituieren sowohl die Entwicklung als auch die Träger literarischer Überlieferung. Allerdings
den Status quo von Kultur. Will man analysieren, verlagerten sich die Schreibstätten in dieser Zeit
was eine bestimmte Kultur auszeichnet, muss man weg von den öffentlichen Stätten in die Schreibstu-
diese Aspekte in den Blick nehmen. ben von Klöstern. In der sakralen Umgebung ent-

203
2.2
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und
Schriftmedien

Abschriften wickelte sich eine prunkvolle Schriftkultur. Ihr be- oberte ein neuer Beschreibstoff die Schreibstätten.
der Bibel vorzugter Gegenstand war die Bibel, welche die Kaufleute importierten das Papier aus China, das
Mönche kopierten und mit kunstvollen Initialen dort schon ca. 100 n. Chr. erfunden worden war.
und Malereien ausstatteten. Auch eine Reihe anti- Um 1390 gründete Ulman Stromer die erste deut-
ker Texte, die mit den christlichen Dogmen zu ver- sche Papiermühle vor den Toren Nürnbergs. Knapp
einbaren waren, wurde abgeschrieben und fand in sechzig Jahre später – um 1450 – gab es auf dem
den klösterlichen Archiven und Bibliotheken Platz. Gebiet des heutigen Deutschlands bereits zwanzig
Zwischen dem 2. und 4. Jh. n. Chr. avancierte der Papiermühlen, die jährlich acht bis zwölf Millio-
pergamentene Kodex zum wichtigsten Schriftme- nen Bogen produzierten. Der Wechsel vom Perga-
dium, während die Papyrusrolle an Bedeutung ment zum Papier ebnete den Übergang zu einer
verlor. Die Kodizes bestanden aus mehreren inein- massenhaften und zudem preiswerten Produktion,
ander gefalteten und miteinander verbundenen da der gleichzeitig expandierende Handschriften-
Blättern, die zwischen zwei mit Leder oder Metall handel im 15. Jh. von Italien aus auch die Gebiete
bezogenen Holzdeckeln befestigt wurden. Die aus jenseits der Alpen erreichte. Mit der massenhaften
Ziegen-, Schafs- und Kalbshäuten gefertigten La- Papierherstellung und dem (säkularen) Hand-
gen wiesen eine weitaus größere Haltbarkeit als schriftenhandel verlor das Buch weitgehend sei-
ihre Vorgänger auf. Das älteste erhaltene Perga- nen exklusiven und sakralen Charakter. Diebold
ment stammt aus dem 5. Jh. Berühmte Kodizes Laubers Schreibstube im elsässischen Hagenau
sind: bietet einen exemplarischen Einblick in die Pro-
Berühmte Kodizes N Codex argenteus (um 500, eine Abschrift der go- duktionsbedingungen der damaligen Zeit: Lauber
tischen Bibelübersetzung von Bischof Ulfilas) (1425–1467) stellte nach dem Prinzip der Arbeits-
N Codex aureus (870, Regensburger Kloster Sankt teilung von Schreiber und Illustrator buntbebilder-
Emmeran) te Papierhandschriften in deutscher Sprache her.
N Nibelungen-Handschriften A (München), B Seine Produktion umfasste neben religiöser auch
(Sankt Gallen) und C (Donaueschingen) sowie profane Erbauungs- sowie medizinische und juris-
die Heidelberger Liederhandschriften tische Literatur. Inzwischen wird Papier industriell
In den Schreibstuben mittelalterlicher Klöster war hergestellt. Verlage beziehen ihre Papiere auf ei-
es Usus, die teuren Pergamente abzuschaben und nem globalen Papiermarkt.
sie neu zu beschreiben. Viele antike Texte wurden
ein Opfer dieses Verfahrens. Strahlt man die Pa-
limpseste heute mit ultravioletter Strahlung an,
lassen sich die unterschiedlichen, übereinander 2.2.2 | Von der Handschrift
geschichteten Schriftebenen einzeln sichtbar ma- zum Buchdruck
chen.
Die Erfindung des Buchdrucks um 1450 durch den
Zum Begriff Mainzer Goldschmied Johannes Gutenberg folgte
kurz auf den Siegeszug des Papiers. Der Buch-
Gérard Genette greift den Begriff   Palim- druck erlaubte erstmals, Schriftstücke schnell,
psest (von griech. palímpsestos: wieder ab- kostengünstig und in hoher Anzahl zu vervielfälti-
gekratzt) in seiner Erzähltextanalyse auf und gen. Zeitschrift, aktuelle Zeitung und Buch avan-
wendet ihn methodisch. Er bezeichnet mit cierten zu den geeigneten Medien, um die ge-
dieser Kategorie einerseits die sich überla- druckten Informationen zu verbreiten (vgl. Füssel
gernden Schichten von Erzähltexten, ande- 2004). Aus Gutenbergs gebündelten technischen
rerseits deren intertextuelle Struktur. Die Erfindungen stachen zwei Innovationen hervor.
Narratologie steht vor der Aufgabe, die N Gutenberg fertigte erstmals eine Gießform an,
unterschiedlichen Schichten des Textes mit deren Hilfe er eine fast beliebige Zahl von
sichtbar zu machen und zu beschreiben identischen, aus Blei gegossenen Einzelbuch-
(s. Kap. III.4.2). staben herstellen konnte. Mit seinen bewegli-
chen Lettern, die er je nach Bedarf neu kombi-
nieren konnte, erreicht er zudem eine bislang
Frühe Neuzeit: Das Pergament blieb bis zum Ende ungekannte Gleichmäßigkeit des Setzens.
des Mittelalters das wichtigste Schreibmedium des N Die zweite Innovation betraf das Druckverfahren
Abendlandes. Erst mit dem Ende des 14. Jh.s er- selbst. Gutenberg blieb der damals bekannten

204
2.2
Medientheoretische Grundbegriffe
Die Entwicklung
des Buchmarkts

Hochdrucktechnik treu, schaute sich von den


Weinpressen ab, wie deren Kraftumsetzung funk-
tionierte und druckte jetzt Fläche gegen Fläche.
Die Gutenberg-Bibel: Ihren ersten Triumph feier-
te die Schwarze Kunst der »librorum multiplica-
tio« mit dem Buch der Bücher: Von 1452 bis 1454
entstand die 42-zeilige Gutenberg’sche Bibel, die
zu einem Viertel auf Pergament und zu drei Vier-
teln auf Papier gedruckt wurde. Sie gilt aufgrund
ihrer typographischen Vollendung sowie ihrer
zahlreichen Illustrationen bis heute als eines der
schönsten Bücher der Welt (vgl. http://www.
gutenbergdigital.de). Die Mehrheit von Guten-
bergs Zeitgenossen erkannte wohl schnell, wel-
che technologische und kulturelle Umwälzung
dessen Erfindung auslösen würde. Die Druck-
kunst breitete sich rasant über ganz Europa aus.
Bis zum Jahr 1500 wurden ca. 40 000 Titel herge-
stellt, die Zahl der frühen Drucke (Inkunabeln)
übersteigt die Millionen. Bis zum Ende des nommen werden. Erhöhte Effizienz, geringe Feh- Buchdruckerei (Holzschnitt
18. Jh.s standen in allen Druckereien Pressen, die leranfälligkeit, Wegfallen von Lagerplätzen für von Jost Amman, 1568)
Gutenbergs Prinzip folgten. Druckplatten und die Möglichkeit des printing on
Das Zeitalter des industriellen Buchdrucks wur- demand sind vier wesentliche Effekte des digitalen
de erst mit der Erfindung der Zylinderschnell- Druckens.
presse 1812 durch Friedrich König eingeleitet.
Heute hat das chemischen Verfahren des Offset- Wichtige Erfindungen im Druckwesen
drucks, bei dem die druckenden Stellen Wasser
abstoßen und Fettfarbe aufnehmen, während die 770 n. Chr. Holztafeldruck, Dharanti-Sutra
nicht druckenden Stellen Wasser aufnehmen und aus Japan
Fett abstoßen, den Hochdruck (das Druckbild liegt 1423 Ältester datierter Holzschnitt
erhaben auf dem Druckträger) sowie den Tief- ca. 1450 Erfindung des Buchdrucks mit
druck (das Druckbild liegt vertieft im Druckträger, beweglichen Lettern
die nicht druckenden Teile sind erhaben) in Ni- 1812 Friedrich König erfindet die
schen verdrängt. Zudem hat die knapp 40 Jahre Zylinderdruckpresse
zurückliegende Einführung des Fotosatzes, bei der ca. 1907 Erfindung des Offsetdrucks
belichtete Filme von den Druckplatten hergestellt ca. 1918 Entwicklung des Tiefdrucks
werden, die 500 Jahre währende Regentschaft des
Bleisetzens beendet.
Digitalisierung: In ihrer Wirkung übertroffen
werden diese Innovationen, von den Folgen der
Digitalisierung, die wir derzeit erleben. Das digita- 2.2.3 | Die Entwicklung des Buchmarkts
le Drucken hat sich unabhängig vom lateinischen
Alphabet gemacht, indem es die Zeichen jeder In- Die Geschichte der Schriftmedien und des Buch-
formation auf einen binären Code reduziert. Damit drucks ist eng mit der Entwicklung des Buch-
wird eine vollständige Darstellbarkeit der zu dru- markts verwoben: Erste Zeugnisse über einen
ckenden Information (wie zuvor durch Gutenbergs Handel mit handgeschriebenen Papyrusrollen lie-
Einzelbuchstaben) möglich. Da unterschiedliche gen aus dem Athen des 5. Jh.s v. Chr. vor (vgl.
Texte aus der Datei auf den Druckzylinder gegeben Wittmann 1991). Der Handel beschränkt sich in
werden können und die Drucktechnik Miniatur- dieser Zeit auf die großen Bibliothekszentren
größe erreicht hat, ist jetzt ein personalisiertes (Athen, Alexandria und Pergamon). Dort unter-
Drucken möglich. Auch in den Druckereien entfal- hielten Schreiber Verkaufsstände, in denen sie ein
len eine Reihe zuvor notwendiger Arbeitsschritte, begrenztes Repertoire an Papyrusrollen anfertigten
weil die Daten direkt aus der gelieferten Datei ent- und verkauften. Im Mittelalter erlosch der Buch-

205
2.2
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und
Schriftmedien

markt außerhalb der Klöster weitgehend und Moral und Anstand gefährden, entwickelte sich
sprengte die sakralen Grenzen erst wieder, als sich ein Boom an Frauen-, Kinder- und Abenteuerlite-
mit dem Ende des 13. Jh.s schrittweise ein städti- ratur. Zudem differenzierte sich das aufstrebende
sches Lesepublikum herausbildete. Diese Entwick- Bürgertum nach Bildungsniveaus und Lesevorlie-
lung beschleunigte sich durch die Papierproduk- ben aus.
tion und den Buchdruck, lag aber auch in der Der Buchmarkt reagierte auf zwei Arten darauf.
Einführung optischer Geräte begründet. Er spezialisierte sich, worauf eine Reihe von Ver-
Modernes Ein duales wirtschaftliches System, das bis heu- lagsneugründungen hinweisen – unter ihnen die
Verlagssystem te die Grundlage des Verlagssystems bildet, eta- von Cotta (1659) und Metzler (1682). Und er bau-
bliert sich in Folge des Buchdrucks im Übergang te sein Vertriebsnetz gezielt aus, etablierte Sorti-
vom 16. zum 17. Jh.: menter als Bindeglied zwischen Verlag und Buch-
N Auf der einen Seite steht die Druckerei, die das handel und ermöglichte so den überregionalen
Ziel hat, möglichst große Auflagen einzelner Verkauf der Ware ›Buch‹.
Schriftstücke zu fertigen, da aus ihrer Sicht der Moderner Buchhandel: Ideologisch bestärkt
größte Aufwand darin besteht, die Druckvorlage von der Genie-Ästhetik des Sturm und Drang
zu setzen und die -presse einzurichten. (s. Kap. III.3.3.3) stärkte zudem der Autor seine
N Auf der anderen Seite steht der Verleger, der Position, was sich unter anderem in der Schaf-
von der geistigen Produktion seiner Verfasser ab- fung eines Urheberrechts niederschlug. Wurde
hängig ist und darauf spekuliert, die einzelnen Ti- bis dahin allein der Verleger geschützt, indem der
tel möglichst häufig zu verkaufen. Der Verleger hat Nachdruck einer Erstauflage am Verlagsort verbo-
die Entscheidung zu treffen, ob der Drucksatz ein- ten war, wahrt das moderne Urheberrecht die In-
gerichtet bleibt, um ihn für Neuauflagen zu ver- teressen von Verleger und Autor, und zwar noch
wenden, oder ob der Satz für neue Druckerzeug- Jahrzehnte über den Tod des Autors hinaus. Die-
nisse eingerichtet werden soll. Es entsteht ein ser Rechtsschutz erlaubte es, als ›freier Schrift-
Verlegerprinzip, das auf Spekulation und Misch- steller‹ von den Tantiemen eines Buches zu le-
kalkulation beruht. Ein einzelner Erfolgstitel er- ben. Damit waren die Strukturen des modernen
laubt, andere, weniger verkaufsträchtige Titel zu Buchhandels geschaffen, die – unterbrochen von
publizieren. den beiden Weltkriegen und die Zeit des ›Dritten
Im 18. Jahrhundert erfuhr das Verlagswesen ei- Reiches‹ – noch heute den Markt prägen. Dieser
nen grundlegenden Strukturwandel. Während um ist allerdings bis in die Gegenwart erheblich ge-
1750 das Lesen noch eine Beschäftigung weniger wachsen: 100 000 Neuerscheinungen haben die
Geistlicher und Gelehrter war, vergrößerte sich das ca. 2000 Verlage in Deutschland im Jahr 2006 he-
Leserzuwachs Lesepublikum in den Folgejahren rapide. Der rausgebracht. Insgesamt wurden 971 Millionen
und Lesewut deutschsprachige Buchmarkt löste sich vom Markt Bücher produziert. Hinzu kommt ein in den ver-
lateinischer Gelehrtenbücher ab, Leihbibliothe- gangenen Jahren boomender Hörbuchmarkt.
ken und Lesegesellschaften wurden gegründet. Der Branchenumsatz lag 2007 bei 9,3 Mrd. Euro,
Buchhändler druckten in Selbstverlagsprojekten davon hatte die Belletristik einen Anteil von
und vertrieben ihre Produkte an einen festen, eng 32 %. Allerdings erwirtschaften knapp 100 Verla-
gebundenen Kundenkreis. In Folge des – nicht zu- ge insgesamt zwei Drittel des Gesamtumsatzes.
letzt von der Französischen Revolution befeuer- Die Verlagsbranche erfährt somit eine Konzentra-
ten – Bewusstseins des Publikums, in einer Zeit tion auf wenige Großverlage und Verlagskonzer-
des radikalen Wandels zu leben, stieg das Informa- ne. Eine solche Konzentration zeichnet auch den
tionsbedürfnis einerseits, während sich anderer- Sortimentsbuchhandel aus. Von den insgesamt
seits ein Bedürfnis nach literarischer Unterhaltung 4000 stationären Buchhandlungen in Deutsch-
ausbildete. Das wirkte sich auf die Produktion von land erwirtschafteten die Top-10-Einkaufstätten
Zeitschriften, Journalen und Zeitungen aus, aber knapp 50 % des Umsatzes. Wesentlicher Bestand-
führte auch zu einer massenhaften Verbreitung teil des deutschen Buchmarktes ist die Laden-
von Büchern. preisbindung, welche die Verlage verpflichtet,
Der beste Indikator für diesen Wandel zum mo- die Preise ihrer Bücher festzusetzen, so dass je-
dernen Buchmarkt bildet die damalige Diskussion des Buch an jedem Ort zum selben Preis zu er-
über die Lesewut und Romansucht, von der an- werben ist. Die Branche trifft sich – wie schon im
geblich vor allem Frauen befallen wurden. Trotz 16. Jh. – jährlich auf der weltweit größten Buch-
aller Befürchtungen, der Romankonsum könnte messe in Frankfurt am Main und der in Leipzig.

206
2.2
Medientheoretische Grundbegriffe
Das Zeitungswesen

Folgen der Digitalisierung: Seit einigen Jahren zu publizieren oder sich als Berichterstatter ei-
wurden die gravierenden Folgen diskutiert, denen nen Namen zu machen. In dieser Zeit erschienen
sich der Buchmarkt aufgrund der Digitalisierung im deutschen Sprachraum rund 90 Zeitungen mit
von Texten stellen muss. Die Publikation im Inter- einer durchschnittlichen Auflage von mehr als
net, die Sammlung und Bereitstellung von Texten 2000 Exemplaren, die etwa eine halbe Million
im Netz (Google-Buchsuche), das damit verbun- Leser erreichte. Die erste, überregionale deutsche
dene Unterlaufen des Urheberrechts oder die Volkszeitung entstand mit dem Wandsbecker Bo-
Folgen des neu auf den Markt gekommenen E- ten, der seit 1771 von Matthias Claudius verlegt
Books fordern den Buchmarkt heraus. wurde. Er gewann in den 1770er Jahren mit Les-
sing, Klopstock, Herder und Goethe die litera-
risch führenden Köpfe seiner Zeit als Autoren
seines Boten.
2.2.4 | Das Zeitungswesen Intelligenzblätter und Wochenschriften gehör-
ten seit dem frühen 18. Jh. außerdem zu den wich-
Die Geburtsstunde der Zeitung liegt an der Wende tigsten Verständigungsmedien des noch heteroge-
vom 16. zum 17. Jh. Das früheste bekannte Druck- nen Bürgertums. Bereits ihre einschlägigen Titel
zeugnis, das die klassischen Kriterien einer Zeitung wie Der Biedermann oder Der Weltbürger kündi-
erfüllte (Aktualität, periodische Erscheinungswei- gen an, dass sich diese Publikationen nach briti- Zeitung und
se, Universalität des Inhalts und Zugänglichkeit für schem Vorbild als Organe der Aufklärung verstan- Erziehung
jedermann), erschien im Jahr 1605 unter dem Titel den und sich um eine sittlich lehrhafte Volksbildung
Relation in Straßburg. Die Relation informierte in bemühten. Ihre Schwerpunkte waren Bildungs-
Form von aneinandergereihten, buntgemischten und Erziehungsfragen, sie enthielten belehrende
Meldungen und Berichten über die gesamte (da- Fabeln, Briefe und Satiren. In den letzten Jahr-
mals bekannte) Welt. Vorgänger hatte diese erste zehnten des Jahrhunderts ergänzten sogenannte
Zeitung in den Ablassbriefen, Kalenderblättern, »Not- und Hülfsbüchlein« sowie Kalender für spe-
Lieder- und Gebetdrucken, Flugblättern und den zifische Berufsgruppen (Bauern, Handwerker) das
sogenannten ›Aktualitäten‹, die allesamt wie die Zeitungsangebot. Sie waren sowohl vom Inhalt als
›Newen Zeytungen‹ Blätter mit Einzelnachrichten auch vom Aufbau auf die unterschiedlichen Tages-
waren. abläufe und Interessen der einzelnen Berufsgrup-
Deutschland war im Vergleich zu den anderen pen abgestimmt. Für das 18. Jh. sind mehr als
europäischen Ländern ein Vorreiter in der Ent- 4000 moralische Wochenzeitungen belegt. Von
wicklung einer Zeitungskultur. Im 17. Jh. wurden dieser Basis ausgehend, erfuhr das Zeitungswesen
in knapp 70 deutschen Städten Wochenzeitungen durch die Französische Revolution ihren entschei-
publiziert, 1650 kam in Leipzig die erste Tagezei- denden Impuls. Zu der Herausgabe von politi-
tung heraus. Die von Thimotheus Ritzsch gegrün- schen Flugblättern und Kampfschriften kam eine
dete Einkommenden Zeitungen erschien (wie fast wachsende Zahl von Zeitungsneugründungen.
alle ihre Nachfolger im 18. und beginnenden Zeitungen berichteten jetzt täglich von den Ereig-
19. Jh.) zwei- bis dreimal wöchentlich und umfass- nissen in Paris. Allerdings hielten sich nur wenige
te maximal vier Seiten. an das bereits 1784 von Karl Philipp Moritz gefor- Moritz’
Entstehung der Lokalzeitungen: Erst als der derte »Ideal der vollkommenen Zeitung«. Moritz Zeitungsideal
Umfang der Zeitungen bis zum Ende des 18. Jh.s forderte, die modernen Zeitungen sollten sich ei-
beträchtlich zunahm, entstanden Präsentations- ner sachlichen, journalistisch genau recherchier-
und Verbreitungsformen, die als Vorgänger heuti- ten Berichterstattung verpflichten, um sich auf
ger Lokalzeitungen zu betrachten sind. Diese diese Weise von dem »moralischen Geschwätz«
Zeitungen unterschieden zwischen politischen der Wochenschriften abzuheben.
und regionalen Nachrichten, schlossen sittlich- Gelehrtenanzeigen, die sich an ein akademi-
belehrende Berichte und Diskussionen an und sches Fachpublikum und literarisch Interessierte
verbreiteten nicht zuletzt Anzeigen und amtliche wendeten, ergänzten am Übergang vom 17. zum
Bekanntmachungen. Einige druckten Fortset- 18. Jh. die tagespolitisch aktuellen Zeitungen. Be-
zungsgeschichten, die eine gekonnte Verbindung deutend waren unter ihnen die Frankfurter Gelehr-
von Unterhaltung und Bericht wagten. Mitte des ten Anzeigen (1772–1790), in denen Goethe eine
18. Jh.s nutzten junge Gelehrte solche tagesaktu- Reihe von Buchbesprechungen publizierte, Wie-
ellen Organe, um ihre ersten literarischen Texte lands Teutscher Merkur (1773–1810) und die in

207
2.2
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und
Schriftmedien

Jena erscheinende Allgemeine Literatur-Zeitung wurde in Augsburg die erste Rotationsmaschine


(1785–1803), die ab 1804 unter dem Namen Jenai- gebaut und knapp 10 Jahre später löste die erste
sche Allgemeine Literatur-Zeitung firmierte. Sie bo- Setzmaschine die bislang manuelle Satzherstel-
ten Platz für (gegenseitige) Rezensionen und lung ab.
führten ihre Autoren zu poetologischen, philoso- Der heutige deutsche Zeitungsmarkt ist der
phischen und politischen Diskussionen zusam- größte Westeuropas (und der fünftgrößte welt-
men. Den Schritt zur ausschließlichen Literatur- weit). Der Zeitungsmarkt erreicht eine Gesamtauf-
zeitschrift vollzogen dann Schiller (Die Horen), lage von 26 Millionen Zeitungen pro Erscheinungs-
Goethe mit den Propyläen, die Brüder August und tag. Davon fallen knapp 20, 4 Millionen auf Tages-,
Friedrich Schlegel mit dem Athenaeum und der 3,5 Millionen auf Sonntags- und 2 Millionen auf
Verleger Johann Friedrich Cotta, der das Morgen- Wochenzeitungen. Täglich erscheinen 352 Tages-
blatt für gebildete Stände herausgab. zeitungen mit 1524 lokalen Ausgaben. Knapp 47
Deutsche Zeitungslandschaft im 19. Jahrhun- Millionen Deutsche über 14 Jahren halten täglich
dert: Im Lauf des 19. Jh.s bildete sich eine Reihe eine Zeitung in der Hand. Sie beziehen die Zeitun-
von Familienunternehmen, welche die deutsche gen entweder über Abonnement (13,3 Millionen)
Zeitungslandschaft für die kommenden 150 Jahre oder erwerben sie an einer der 120 000 Verkaufs-
charakterisieren sollte und teilweise bis in die Ge- stellen (Zahlen für 2010).
genwart prägen. Versuchten bereits einzelne Zei- Ausdehnung auf das Internet: Seit 1995 haben
tungen, wie der von Joseph Görres seit 1814 ver- die Zeitungsverlage ihr Angebot schrittweise auf
legte Rheinische Merkur, den politischen Freiraum das Internet ausgedehnt. Allerdings bereitet die
in der Zeit der napoleonischen Kriege auszuloten, Publikation im Internet den etablierten Verlagen
kam es im Zuge der Revolution von 1848, mit der derzeit wohl die größten Sorgen. Der kostenfreie
die Zensur vorübergehend fiel, zu einer Vielzahl Internetzugriff auf die Informationen zieht zwar
von Neugründungen. Von dort an war die Presse die Aufmerksamkeit der Leser/innen auf sich, es
in Deutschland eine Kraft geworden, der der Staat fehlt bislang jedoch an einem Geschäftsmodell,
mit seinen Machtmitteln (Verbot, Unterdrückung) das die Anzeigenkunden an die Publikation im In-
nicht mehr begegnen konnte. Doch erst das frei- ternet bindet. Da die Zeitungsverlage zwei Drittel
heitliche Reichspressegesetz von 1874 machte ihres Umsatzes aus Anzeigen und Werbung in ih-
Die Presse als den Weg für die Presse als Massenmedium frei. ren Printausgaben erwirtschaften, während sie ein
Massenmedium Erfüllen konnte die Presse diesen Anspruch aber Drittel über den Verkauf erzielen, bedroht die In-
nur, aufgrund der technischen Entwicklung, die ternetpublikation die wirtschaftliche Basis des Zei-
sich seit den 1850er Jahren vollzog. Die dampfbe- tungswesens. Tatsächlich hat die Branche seit Jah-
triebene Schnellpresse wurde eingeführt, 1872 ren Umsatzrückgänge zu verbuchen.

Literatur
Arnold, Heinz Ludwig/Beilein, Matthias (Hg.): Literatur- Jäger, Georg/Schönert, Jörg (Hg.): Die Leihbibliothek als
betrieb in Deutschland. München 32009. Institution des literarischen Lebens im 18. und 19. Jahr-
Arnold, Werner u. a. (Hg.): Die Erforschung der Buch- und hundert. Hamburg 1980.
Bibliotheksgeschichte in Deutschland. Wiesbaden 1987. Kapp, Friedrich u. a. (Hg): Geschichte des deutschen
Bosse, Heinrich/Blana, Hubert: Autorschaft ist Werkherr- Buchhandels. Im Auftrag des Börsenvereins der
schaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Deutschen Buchhändler, 3 Bde. Leipzig 1886 ff.
Geist der Goethezeit. Paderborn u. a. 1981. Kirchhoff, Albrecht: Die Handschriftenhändler des
Fischer, Ernst (Hg.): Der Buchmarkt der Goethezeit. Eine Mittelalters, 2. Bde. 1853–1855 (Reprint Osnabrück
Dokumentation, 2. Bde. Hildesheim 1986. 1966).
Füssel, Stephan: Gutenberg und seine Wirkung. Darmstadt Martino, Albert/Marlies Stützel-Prüsener: »Publikums-
2004. schichten, Lesegesellschaften und Leihbibliotheken«.
Giesecke, Michael: »Als die alten Medien neu waren. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 5. Berlin
Medienrevolutionen in der Geschichte«. In: Rüdiger 1994, S. 45–57.
Weingarten (Hg.): Information ohne Kommunikation? Neumann, Gerhard: »Schreiben und Edieren«. In: Heinrich
Frankfurt a. M. 1990, S. 75–97. Bosse/Ursula Renner (Hg.): Literaturwissenschaft.
– : Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1991. Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg 1999, S. 401–
Göpfert, Herbert G.: »Buchhandel und Literaturwissen- 426, hier S. 402.
schaft«. In: Friedrich Uhlig (Hg.): Buchhandel und Raabe, Paul: »Die Geschichte des Buchwesens. Probleme
Wissenschaft. Gütersloh 1965, S. 118–134. einer Forschungsaufgabe«. In: Ders.: Bücherlust und
Lesefreuden. Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im
18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984, S. 1–20.

208
2.3
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und
Bildmedien

Schenda, Rolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte Widmann, Hans (Hg.): Der gegenwärtige Stand der
der populären Lesestoffe. 1770–1910. Frankfurt a. M. 1970. Gutenberg-Forschung. Stuttgart 1972.
Schulz, Gerd: Buchhandels-Ploetz. Abriß der Geschichte des Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhan-
deutschsprachigen Buchhandels. Wiesbaden 1975. dels. Ein Überblick. München 1991.
Schürmann, August: Die Entwickelung Deutschen
Buchhandels zum Stande der Gegenwart. Halle 1880. Christian Metz

2.3 | Literatur und Bildmedien


Der Begriff der Intermedialität prägt seit den Begründung kann als Fortführung der bereits von
1980er Jahren die interdisziplinären Diskussionen Aristoteles in der Poetik angestoßenen Diskussion
um die »wechselseitige Erhellung der Künste«. über den Mimesis-Begriff und als Vorwegnahme
Unter diesem Titel initiierte der Literaturwissen- der semiotischen Unterscheidung von Signifikat
schaftler Oskar Walzel bereits 1917 eine bis in die und Signifikant gelesen werden.
Gegenwart führende Auseinandersetzung über die Gotthold Ephraim Lessing differenziert in der
Vielzahl der Text-Bild-Beziehungen, die seit der kunsttheoretischen Abhandlung »Laokoon: oder
Antike das Verhältnis von Literatur und Bildmedi- über die Grenzen der Mahlerey und Poesie« (1766)
en bestimmen. zwischen den Verfahren der einzelnen Künste; sei-
ne Schrift ist sowohl als programmatisches Plädo-
Zum Begriff yer gegen Horaz’ »Ut pictura poesis« als auch ge-
gen das klassizistische Primat der Gleichheit aller
  Intermedialität bezeichnet zum einen all- Künste interpretiert worden. Lessings Unterschei- Zeitlichkeit und
gemein die Beziehung zwischen verschiede- dung zwischen der Zeitlichkeit von Dichtung und Räumlichkeit
nen Medien (Literatur, Bildende Kunst, der Räumlichkeit von Malerei forciert die Ausein-
Musik etc.), zum anderen die Transformation andersetzung in den folgenden Jahrhunderten.
und/oder Integration eines Mediums in ein Das von Novalis propagierte Ideal eines Univer-
anderes (Medienwechsel) (vgl. u. a. Eicher salkunstwerks, das Literatur, Musik und Bilden-
1994). de Kunst synästhetisch in sich vereint, ist eine der
vielen Antworten, die die Romantiker in der De-
batte um die Konkurrenz und Zusammenarbeit
In der Antike wurden der Topos von der Malerei der Künste formulieren. Die Differenz zwischen
als stummer Dichtung, der Dichtung als redender Sukzessivität und Simultaneität aufzulösen, bleibt
Malerei (dem griechischen Dichter Simonides zu- auch für Autor/innen und Künstler/innen der
geschrieben) und Horaz’ Diktum »Ut pictura poe- Moderne eine Herausforderung (vgl. Sick/Schöch
sis« (Ars poetica, 361 f.) vor allem in der Rhetorik 2007).
verwendet; Grundannahme ist die strukturelle Mit den ›neuen‹ Medien Fotografie und Film
Analogie von Text und Bild. In zahlreichen Trakta- partizipieren verschiedene gesellschaftliche Grup-
ten humanistischer Autoren wird der ›Paragone‹, pen an Techniken und Apparaten, die das »noma-
der Wettstreit der Künste, ausgetragen. Leonardo dische« Potential (Belting 2001, S. 32) der ›alten‹
da Vinci hebt im Traktat über die Malerei (Erst- Medien beschleunigen. In noch stärkerem Maße
druck 1651) im Wettstreit zwischen Malerei und trifft dies auf die digitalen, multimedialen Medien
Poesie den Vorrang des Visuellen hervor: »Heißest zu. Dass neue Medien die alten Medien nicht ent-
Du die Malerei eine stumme Dichtung, so kann werten, sondern mit ihren Materialien, Techniken
auch der Maler die Poesie eine blinde Malerei nen- und Konzepten Texte und Bilder popularisieren
nen. Nun sieh zu, wer der schadhaftere Krüppel und produktiv verändern, demonstrieren im Lauf
sei, der Blinde oder der Stumme. […] Und dient der Jahrhunderte Buchdruck, Radierung, Lithogra-
der Dichter dem Verständnis auf dem Wege des phie, Fotografie, Film und Internet. Der Streit um
Gehörs, der Maler tut es auf dem des Auges, das Formen und Wirkungen von Texten und Bildern
der höherstehende Sinn ist« (Leonardo 1989, verweist immer auch auf kulturpolitische und
S. 17). Leonardo pointiert Simonides’ Diktum und ideologische Konflikte quer durch die Jahrhunder-
formuliert seine Vorbehalte auch im Anschluss an te. Ob Bücherzensur, Bilderverbot, Karikaturen-
Platons skeptische Bewertung von Literatur: Seine streit oder Internetsperren: Diese oft mit der Sorge

209
2.3
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und Bildmedien

um das Wohl von Menschen begründeten Maß- Diese Diskussion beeinflusst bis in die Gegenwart
›Macht‹ von Texten nahmen bezeugen zugleich die ›Macht‹ von Texten die interdisziplinären Annäherungen an die Text-
und Bildern und Bildern. Jenseits aller kulturpessimistischen Bild-Beziehungen (vgl. Maar/Burda 2004). Wilhelm
Brandrufe, wie sie bereits 1962 Marshall McLuhan Voßkamp und Brigitte Weingart (2005, S. 12) zum
in der Gutenberg-Galaxis formulierte, sind Medi- Beispiel entwerfen keine »Typologie« der Text-Bild-
en-Praxis und -Kompetenz die Voraussetzungen, Relationen, sondern stellen die Beiträge des Sam-
um die historische Bedingtheit und Komplexität melbandes als »Probebohrungen« vor, die »zeigen,
von Medien sowie ihre Auswirkungen auf Wahr- wie sich die spezifischen Modalitäten des Sichtba-
nehmung und Sprache kritisch zu reflektieren: ren und Sagbaren je aufeinander beziehen«.
Wie korrespondieren Literatur und Bildmedien,
wie beeinflusst die Materialität des jeweiligen Me-
diums seine Präsenz und Repräsentation? Wie
gestalten die neuen visuellen und audiovisuellen 2.3.1 | Text-Bild-Beziehungen
Medien – Fotografie, Film und Internet – das
Wechselspiel von Text und Bild? Wie verändert der Initialen und Illustrationen: Texte und Bilder ste-
Blick auf die neuen Medien die Wahrnehmung der hen auch in der Geschichte der deutschen Litera-
alten Medien? (vgl. Belting 2001, S. 49). tur von Beginn an in enger Wechselbeziehung.
Auch die Forschungsgeschichte der Text-Bild- Bilder, z. B. Initialen am Anfang eines Textab-
Beziehungen mit ihren historischen Stationen so- schnittes oder ganzseitige Illustrationen in groß-
wie ästhetischen und medientheoretischen Implika- formatigen Handschriften, waren im Mittelalter
tionen wird im Hinblick auf neue mediale Techniken vor allem durch ihre Funktion bestimmt: Sie wer-
und Konzepte profiliert. Die Beiträge stellen keine den einerseits gedeutet als ›Schrift‹ für den nicht
einheitliche Systematik vor, sondern sind je nach lesekundigen Laien, dem die Bilder Anschauungs-
methodischer Ausrichtung heuristisch orientiert. material boten; andererseits repräsentiert die kost-
W. J.T. Mitchell wählt in seinem Beitrag »Was ist ein bare Ausschmückung den Status des Auftraggebers
Bild?« eine soziale Metapher – »Die Familie der Bil- oder den sakralen Charakter der Texte. Initialen
der« – und entwickelt eine Genealogie von Bildlich- können eine rein dekorative Funktion haben, darü-
keit: geistige, optische, grafische, plastische, ar- ber hinaus kommentieren und interpretieren kom-
chitektonische, sprachliche und perzeptuelle plexe Buchstabenbilder, die eine Geschichte ›er-
Pictorial turn Bildlichkeit (vgl. Mitchell 2008, S. 20 ff.). Vor allem zählen‹, den Text und verweisen auf andere Texte.
Mitchells Konzept des pictorial turn, das er in Ab- Die sog. Armenbibeln, die Altes und Neues Testa-
grenzung zum sog. linguistic turn formulierte (vgl. ment aufeinander beziehen, sind nicht nur in
ebd., S. 101 ff.), bestimmt seit den 1990er Jahren die Handschriften und Frühdrucken zu finden; vom
interdisziplinäre Theoriebildung. medialen Träger Pergament oder Papier kann das
Programm auch auf Kirchenfenster und -portale
übertragen werden. In repräsentativen Buchpro-
Zum Begriff jekten, z. B. Herrads von Landsberg Hortus delicia-
rum (Ende des 12. Jh.s) oder Gregor Reischs
Im Anschluss an Mitchell prägt der Kunsthis- Margarita Philosophica (1503), organisiert und vi-
toriker Gottfried Boehm den Begriff   iconic sualisiert die bildliche Darstellung der Artes libera-
turn (1994), ein für die Bildwissenschaften les die Wissenshierarchie und -systematik.
folgenreiches theoretisches Paradigma, das Die enge Verbindung von textueller und visueller
von anderen geistes- und sozialwissen- Systematik dient auch in Chroniken, Enzyklo-
schaftlichen Fächern, so auch der Literatur- pädien und Lexika dazu, abstrakte Konzepte und
wissenschaft, aufgenommen wird. Die ›iko- Ordnungsstrukturen anschaulich vorzustellen. Auf
nische Wende‹ richtet sich gegen die den Titelblättern werden mit Text und Bild An-
Vorrangstellung sprachphilosophischer und weisungen zum Gebrauch gegeben; die Illustratio-
-theoretischer Konzepte, zielt jedoch nen konkretisieren die im Text vorgestellten Dinge,
zugleich darauf, die jeweils medienspezifi- Techniken und Neuigkeiten (s. Abb. S. 211). Mittel-
schen Strukturen und Regeln sowie die viel- alterliche Weltkarten (mappae mundi) bieten eine
fältigen Beziehungen von Bild und Sprache Fülle an Text-Bild-Beziehungen: Die Komposition
zu untersuchen. der Darstellung, ob einfaches T-Schema oder kom-
plexe Kreisfigur mit einer Fülle an Details, basiert

210
2.3
Medientheoretische Grundbegriffe
Text-Bild-Beziehungen

Prozess der Deutung bzw. der Entzif-


Hendrik Goltzius ferung.
Quis evadet (Wer kann entrinnen?) In vielen barocken Gedichten
prägt die emblematische Struktur
den Textaufbau: Der Titel des Sonetts
»Abend« von Andreas Gryphius kann
als inscriptio gelesen werden, die
deskriptiven Passagen der Quartette
bilden die pictura, in den Terzetten
wird die Auslegung explizit formu-
liert. Das Gedicht ist zugleich eine
deskriptiv explikative Allegorie;
emblematische Struktur und Allego-
rese verbinden sich aufs Engste.
Figuren- und Bildgedichte: Bereits
seit der Antike sind Figuren- und Bild-
gedichte (z. B. Gitter- und Umriss-Ge-
dichte) bekannt. Einzelne Buchstaben
oder Wörter werden so angeordnet Gregor Reisch: Margarita
oder markiert, dass eine Form, ein Bild Philosophica (1503)
bzw. ein Text-Bild entsteht, in dem die Form den In-
Die frische Blume, leuchtend im Frühling halt mimetisch nachbildet (z. B. Herz, Kelch, Baum).
und duftend, Catharina Regina von Greiffenberg arrangiert die Ver-
verwelkt plötzlich und die Schönheit se des Gedichts »Über den gekreuzigten JESUS« in
vergeht schnell. Form eines Kreuzes. Die Teile werden mit vierhebi-
So vergeht auch das Leben gen Trochäen, die beim Kreuzbalken verdoppelt wer-
der eben Geborenen den, modelliert; der Sockel wird mit größerer Schrift
und entflieht gleich einer Seifenblase gestaltet, die zugleich die religiöse Botschaft formu-
aus leerem Dunst. liert. Auch Ernst Jandls Gedicht »Martyrium Petri«,
ein Beispiel für die Visuelle Poesie, steht noch in die- Catharina Regina
Emblem (Kupferstich, 1594) ser Tradition: Mit den Wörtern »fuß fuß / knie knie / von Greiffenberg:
mann / linke rechte / kinn / auge auge« evoziert er »Über den gekreuzigten
auf antiken griechischen und römischen Schriften, die Kreuzigung des Apostel Petrus, der JESUS« (ca. 1690)
die von mittelalterlichen Autoren an das christliche kopfüber hingerichtet wurde.
Weltbild angepasst wurden. Auf der Ebstorfer Karte Waren Figuren- und Bildgedichte
(um 1300, mit einem Durchmesser von dreieinhalb zunächst vor allem im religiösen und
Metern) wird die topographische Darstellung von herrschaftlichen Bereich zu finden,
der heilsgeschichtlichen Deutung überschrieben: erweitert sich mit den experimentel-
Christus umfasst die Weltenscheibe; in Bild und len Gattungen Visuelle und Kon-
Text werden historische Ereignisse, mythologische krete Poesie am Ende des 19. und
und biblische Erzählungen verknüpft. zu Beginn des 20. Jh.s das themati-
Emblematik: Die vor allem in der Frühen Neu- sche Spektrum: Dadaisten, Surrea-
zeit und im Barock bekannteste Form der Text- listen und Kubisten montieren Ma-
Bild-Beziehung ist die Emblematik. Embleme be- terialien aus Text- und Bildmedien
stehen aus inscriptio (Motto, Titel), pictura (imago: zu avantgardistischen Gesamtkunst-
Bild) und subscriptio (Deutung). »Die Bestandteile werken, die die strukturellen Analo-
Motto, Pictura und Subscriptio treten in ein varia- gien von Schrift- und Bildzeichen
bles Interaktionsgefüge von Darstellung und Deu- hervorheben oder spielerisch-kri-
tung, von Verschlüsselung und Auslegung« (Hess tisch in Frage stellen (Kurt Schwit-
2006, S. 172). Embleme dienen der moralischen ters, s. S. 212; Eugen Gomringer, Ger-
Unterweisung, übernehmen didaktische Aufgaben hard Rühm, Ernst Jandl u. a.; vgl.
und schulen die Gedächtniskunst. Auch ein fun- Adler/Ernst 1987; Ernst 2002; Linck
diertes ikonographisches Wissen unterstützt den 2007).

211
2.3
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und Bildmedien

Buchdruck: Mit dem Buchdruck lassen sich Tex- 2.3.2 | Literatur und Bildende Kunst
te und Bilder einem größeren Publikum zugänglich
machen (s. Kap. III. 2.2.2). Maximilian I. war der Doppelbegabungen: Michelangelo Buonarotti,
erste deutsche Herrscher, der die Möglichkeiten des Johann Wolfgang Goethe, Kurt Schwitters, Else
neuen Mediums mit Unterstützung der humanisti- Lasker-Schüler, Günter Grass und Friedrich Dür-
schen Gelehrten und Künstler ausgiebig für Reprä- renmatt sind prominente Kronzeugen für das
sentation und politische Propaganda nutzte: So- Phänomen der sog. Doppelbegabungen. Friedrich
wohl die allegorische Autobiographie Der Weiß Dürrenmatt variiert und präzisiert in seinen
kunig (Fragment) als auch die monumentalen Zeichnungen zentrale Figuren und Themen sei-
Holzschnitte Die Ehrenpforte (1518, 192 Druckstö- ner »Stoffe« (Labyrinth, Minotaurus, Turmbau);
cke) und Der Triumphzug (147 Einzelblätter auf die Genese der Stoffe skizziert er in einer Topo-
einer Länge von 57 Metern) sind Teile eines groß graphie des Schreibprozesses. Zugleich ruft er
angelegten gedechtnus-Projekts. In einem Entwurf mit diesen Bildern Metaphern und Symbole auf,
zum Weiß kunig wird die Zusammenarbeit von Au- die in der Geschichte der Literatur und der Küns-
toren und Künstlern begründet: dass »der leser so te von der Antike bis zur Gegenwart immer wie-
vyl leychter mit mund und augen möge verstehn der beschrieben und in künstlerischen Medien
den grund dits unsers puechs und alles miteinan- dargestellt werden.
der […] in frischer gedechtnus behalten« könne Ikonographie/Ikonologie: Die Ikonographie, die
(Müller 1982, S. 79). In den konfessionellen Ausein- wissenschaftliche Beschreibung und Interpretation
andersetzungen werden die neuen Medien Flug- von Bildelementen und -inhalten, stellt Gegenstän-
blatt, Flugschrift und die ›Newen Zeytungen‹ als de, Motive/Symbole, Farben und Kompositionsfor-
Propagandamittel von allen Parteien eingesetzt. men in diachroner und systematischer Perspektive
Darüber hinaus werden meteorologische »Wunder- vor, sie beschreibt und klassifiziert Texte und Bil-
zeichen«, politische Programme und Berichte aus der. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky charakte-
der »neuen Welt« in Text und Bild präsentiert. risiert sie als »eine begrenzte und gewissermaßen
Bildergeschichten und Comics: In Bilderge- dienende Disziplin« (Panofsky 1975, S. 41). Die
schichten und Comics wird die von Lessing beton- Ikonologie als systematische Methodik, von Aby
te Differenz von sukzessiver Erzählung und simul- Warburg zu Beginn des 20. Jh.s begründet, be-
taner Darstellung aufgehoben, treten »[g]erahmter schreibt Panofsky »als eine ins Interpretatorische
Raum« und »[g]ezeichnete Zeit« (Seeßlen 2002, gewandte Ikonographie«, die »aus der Synthese,
S. 71) in eine spannungsreiche Beziehung. Bereits nicht aus der Analyse hervorgeht« (S. 42; vgl. auch
in der Antike und im Mittelalter sind zahlreiche die Kritik von Boehm 1978). Die gemeinsam mit
Beispiele für die sequenzielle Darstellung auf ›nar- Raymond Klibansky und Fritz Saxl erstmals 1964
rativen‹ Bildern bekannt. Auf unterschiedlichen unter dem Titel Saturn und Melancholie publizier-
Kurt Schwitters: Gesetztes Bildträgern (Teppiche, Säulen, Fresken, Gemälde ten Studien zur Geschichte der Naturphilosophie
Bildgedicht (um 1922) u. a.) werden mythologische, biblische und histo- und Medizin, der Religion und der Kunst stellen –
rische Geschichten ›erzählt‹. Schon früh wird die mit Rückgriff auf eine Vielzahl antiker, mittelalter-
Mischgattung für die pädagogische Unterweisung licher und zeitgenössischer Texte – die Entwick-
genutzt (Fibeln, Kinderbücher u. a.). Die berühm- lung des Melancholie-Begriffs vor, Texte, auf deren
ten Struwwelpeter-Geschichten (1844) des Frank- Basis Albrecht Dürers Kupferstich »Melencolia I«
furters Heinrich Hoffmann korrespondieren so- von 1514 interpretiert wird. Dürers Stich hat wie-
wohl auf der Text- als auch der Bildebene mit derum viele Schriftsteller und Künstler zu neuen
rhetorischen Mustern; die »gar traurige Geschichte Reflexionen im Medium von Schrift und Bild ange-
mit dem Feuerzeug« ist ein anschauliches Beispiel regt, z. B. Gottfried Keller, Gottfried Benn und Gün-
(vgl. Groddeck 1995, S. 127–133). Der Comic, lan- ter Grass.
ge Zeit als künstlerisch wenig anspruchsvoll und Künstlerromane und -novellen: Auch in der Li-
thematisch trivial disqualifiziert, entwickelt in sei- teratur werden die traditionellen Künstler-Mythen
nen modernen Varianten ein komplexes Inventar variiert, z. B. in Ludwig Tiecks »altdeutscher Ge-
visueller und narrativer Strategien und Techniken schichte« Franz Sternbalds Wanderungen (1798)
(vgl. Hein u. a. 2002); auch die Themen belegen und Eduard Mörikes Novelle Maler Nolten (1832),
das kritische Potential der Gattung (z. B. Art Spie- oder problematisiert bzw. parodiert, z. B. in Tho-
gelman: Maus – Die Geschichte eines Überleben- mas Bernhards Roman Alte Meister (1985) und
den, 1989; engl. 1986/91). Daniel Kehlmanns Satire Ich und Kaminski (2003).

212
2.3
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und Fotografie,
Film und Fernsehen

In der fiktiven Künstlerbiographie Die Wahrheit 2.3.3 | Literatur und Fotografie,


über Arnold Hau (1966) parodieren die Text-Bild- Film und Fernsehen
Artisten der Neuen Frankfurter Schule, F. W. Bern-
stein, Robert Gernhardt und F. K. Wächter, alle Mit Fotografie, Film und Fernsehen entstehen neue
gängigen Muster und Topoi der klassischen Bio- Medien, die wie nie zuvor in der Geschichte Texte
graphik: anekdotische Episoden, der Werdegang und Bilder sowohl im Rückgriff auf die alten Medi-
des Künstlers, die Korrespondenz von Charakter en als auch mit der Entwicklung neuer audio-visu-
und Könnerschaft, Beschreibungen der abgebilde- eller Techniken vernetzen.
ten Kunstwerke. Die Fotografie provoziert auch im 21. Jh. mit
Ekphrasis: Die Beschreibung von Kunstwerken ästhetischen Konzepten, die das ambivalente
war in der Antike im Rahmen der rhetorischen Schwanken zwischen Original und Reproduktion,
Ausbildung ein propädeutisches Verfahren, die Kunst und Technik ausbuchstabieren. Walter Ben-
Kunst der Beschreibung zu erlernen; der erwei- jamin beschreibt bereits in der Kleine[n] Geschich-
terte Begriff umfasst die genuin literarische Be- te der Photographie (1931) und im Essay Das
schreibung realer und imaginärer Kunstwerke. Ho- Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-
mers Beschreibung des Schildes von Achill in der zierbarkeit (1936) die Auswirkungen der neuen
Ilias ist ein prominentes Beispiel literarischer Ek- Medien Fotografie und Film sowie die Verschie-
phrasis. Die Beschreibungen von Enites Sattel im bungen in der Rezeption als Kunstwerke. Die »Evi-
Artusroman Erec von Hartmann von Aue und der denz der PHOTOGRAPHIE«, so Roland Barthes im
Haube des rebellierenden Bauernsohns in der Essay Die helle Kammer (1985, S. 70), wird in ei-
Versnovelle Meier Helmbrecht von Wernher dem ner Vielzahl literarischer Texte reflektiert, die die Wahrnehmung und
Gartenaere sind bekannte Beispiele in der Modi der Wahrnehmung und die Lesbarkeit von Lesbarkeit von Fotografien
mittelalterlichen Literatur. Die literarische Be- Fotografien hinterfragen. Die Literaturwissen-
schreibung hat nicht nur eine ästhetische Funkti- schaft untersucht diese Texte bisher vor allem un-
on, sondern wird »zu einem zentralen Schauplatz ter motivgeschichtlichen oder rezeptionsästheti-
der impliziten Reflexion ästhetischer Darstellungs- schen Perspektiven (vgl. Koppen 1987); die Frage
praxis« (Wandhoff 2008, S. 14), steht metonymisch nach »den Einwirkungen des Mediums Photogra-
für glanzvolle Repräsentation (Erec) bzw. zu be- phie auf den Begriff von Literatur« wird in neueren
strafende Anmaßung (Meier Helmbrecht). Beiträgen fokussiert (Amelunxen 1995, S. 212).
E. T.A. Hoffmanns Erzählung Prinzessin Bram- Wie kaum ein Autor zuvor hat W. G. Sebald in
billa (1820) verweist schon mit dem Untertitel seinen Werken Abbildungen von realen und fin-
»Ein Capriccio nach Jacques Callot. Mit 8 Kupfern gierten Fotografien integriert, die den Prozess des
nach den Callotschen Originalblättern« auf die Erinnerns anstoßen, begleiten und zugleich in Fra-
bildlichen Vorlagen. Mit der Bezeichnung »Capric- ge stellen (Schwindel. Gefühle., 1990; Austerlitz,
cio« ruft Hoffmann eine multi- und intermediale 2001). In den »vier lange[n] Erzählungen« Die Aus-
Gattung auf, die musikalische Formen, künstleri- gewanderten (1992), die im dokumentarischen
sche Formate und literarische Schreibstrategien Modus Biographien vorstellen, hat Sebald Fotogra-
umfasst. Aber nicht nur thematische, strukturelle fien eingefügt, die, so sein Hinweis in einem SPIE-
und materiale Aspekte werden in Texten beschrie- GEL-Interview, »historisch und authentisch in Be-
ben; die intensive Begegnung mit Bildern wird im zug auf die dargestellten Biographien« (12.3.2001)
Medium der Schrift zum poetologischen Dialog seien. Zwischen den Polen ›Fiktion‹ und ›Fakten‹
der Künste. In Peter Handkes Erzählung Die Lehre inszeniert der Autor jedoch ein textuelles und bild-
des Sainte-Victoire (1980) verbinden sich Naturer- liches Verwirrspiel, das scheinbar stabile Identitä-
fahrung und deren ästhetische Spiegelung in den ten auflöst (vgl. Horstkotte 2009). Die Reflexion
Bildern von Paul Cezanne zu mystischer Sprachre- der medialen Konstruktion von Bildern ist der Aus-
flexion. Die Schriftstellerin Ulrike Draesner stellt gangspunkt des autobiographischen Romans Un-
in ihren Romanen Mitgift (2002) und Spiele (2005) scharfe Bilder von Ulla Hahn (2003). Erzählte ›rea-
mediale Versuchsanordnungen (Gemälde, Foto- le‹ Fotografien konkurrieren in der schwierigen
grafien und Fernsehen) vor, die zugleich die the- Rekonstruktion von privater und politischer Ge-
matischen Aspekte und die narrative Struktur re- schichte mit imaginären sprachlichen Bildern.
flektieren. Die Verfilmung bzw. Adaption von Literatur ist
auch zu Beginn des 21. Jh.s noch »eine intermedi-
ale Herausforderung« (Bohnenkamp 2005, S. 9).

213
2.3
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur und Bildmedien

War ›Werktreue‹ bzw. ›Werkadäquatheit‹ zu- verfilmungen, die zunächst für das Kino produ-
nächst das Kriterium für eine gelungene Verfil- ziert werden, erreichen mit gezielter Verspätung
mung und wurde der Transfer in das Medium die Zuschauer vor dem Bildschirm. Auch die Fern-
›Film‹ daran bemessen, wie Handlung und narrati- sehsender konkurrieren mit spektakulären Pro-
ve Struktur übersetzt, Form und Inhalt auch im duktionen um die Aufmerksamkeit der Leser und
neuen Medium reflektiert wurden, ist die ›Spra- Zuschauer. Vor allem die öffentlich-rechtlichen
che‹ des Films inzwischen als autonomes Zei- Sender, deren Steuerfinanzierung mit der Ver-
chensystem etabliert, das mit medienspezifischen pflichtung zum Bildungsauftrag begründet wird,
audiovisuellen Techniken und Strategien arbeitet: haben sich noch nicht endgültig von Literatur- und
Ausschnitte, Lichtführung, Komposition, Ton etc. Kultursendungen verabschiedet. Das klassische
Literatur-Verfilmungen gelten nicht mehr als se- Genre Literaturkritik überlebt – mit Ausnahme
kundäre Kunstwerke, die die literarischen Werke der Berichterstattung zu den großen Buchmessen
trivialisieren und entwerten. In aktuellen For- in Leipzig und Frankfurt – in den Nachtprogram-
schungsbeiträgen werden sowohl die Schnittstel- men der regionalen Fernsehprogramme und im
len zwischen literarischem und filmischem Erzäh- Radio. Die aktuellen Themen der Kultursendun-
len analysiert als auch die Differenzen des gen von ARD und ZDF, »Titel-Thesen-Tempera-
Medienwechsels systematisiert (vgl. Albersmeier mente« und »Aspekte«, belegen anschaulich die
1995, S. 236 ff.; Bohnenkamp 2005). medialen Verschiebungen, Berichte zum Beispiel
Filmische Techniken Genuin filmische Techniken setzte Alfred Döb- über die Fotografien von Abu Ghraib und die Mau-
in der Literatur lin in seinem Roman Berlin Alexanderplatz (1929) erspringer von West nach Ost. Bücher werden
ein, um die Atmosphäre des Großstadtlebens ein- nicht mehr nur von Experten vorgestellt: Der WDR
zufangen: Collage und Montage heterogener präsentierte von 2003 bis Ende 2010 die literari-
Sprach- und Bildmaterialien (Jargon, Bibel, Wer- sche Comedy »Was liest Du?« mit Jürgen von der
besprüche, Logos, mathematische Formeln) sowie Lippe; im MDR lädt die Bestseller-Autorin Susanne
ständige Szenenwechsel. Die erste Verfilmung des Fröhlich Autoren und Autorinnen ein, deren Bü-
Romans von 1931, unter der Regie von Phil Jutzi cher gerade auf einer Bestseller-Liste stehen oder
und mit Heinrich George in der Hauptrolle, stand aktuelle Themen aufgreifen.
noch im Zeichen der Demokratisierung und Neue Medien: Podcasts (Audio- und Videoda-
Pädagogisierung des neuen Mediums für breite teien) begleiten die Beiträge aller Sendungen im
Schichten. Der Westdeutsche Rundfunk beauftrag- Internet, die Dateien können zeit- und ortsunab-
te Ende der 1970er Jahre Rainer Werner Fassbin- hängig aufgerufen werden. Die Grenzen zwischen
der mit einer Verfilmung für das Medium Fernse- Hoch- und Unterhaltungskultur werden zuneh-
hen. Fassbinder präsentierte in dreizehn Folgen mend spielerisch bewältigt: Die Plattform »you-
und einem kommentierenden Epilog eine Bild-Äs- tube« präsentiert eine Fülle an Videoclips, die den
thetik, die mit ungewohnter Lichtführung, Bild- Autor Franz Kafka und seine Werke in einer er-
schnitten und Off-Texten – der Umsetzung der In- staunlichen Vielzahl neuer medialer Formen vor-
neren Monologe Franz Biberkopfs, gesprochen stellen, z. B. hyperrealistische Animationsfilme,
von Fassbinder –, heftige Kritik des Fernsehpubli- die »Rock Opera Franz Kafka« und Die Verwand-
kums hervorrief. lung als kunterbunter Zeichentrickfilm. Die Zu-
Fernsehen: »Hilft das Fernsehen der Literatur?«, schauer und Zuhörer sind nicht mehr nur passive
lautete die Preisfrage der Akademie für Deutsche Rezipienten, sondern aufgefordert, sich aktiv mit
Sprache und Dichtung 1996. Zahlreiche Literatur- eigenen Beiträgen zu beteiligen.

Zitierte und weiterführende Literatur


Adler, Jeremy/Ernst, Ulrich: Text als Figur. Visuelle Poesie phie«. In: Peter V. Zima (Hg.): Literatur intermedial:
von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 1987 Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt
(Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 1995, S. 209–231.
Nr. 56). Barthes, Roland: Die helle Kammer. Anmerkung zur
Albersmeier, Franz-Josef: »Literatur und Film. Entwurf Photographie [1980]. Frankfurt a. M. 1985.
einer praxisorientierten Textsystematik«. In: Peter V. Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine
Zima (Hg.): Literatur intermedial: Musik – Malerei – Bild-Wissenschaft. München 2001.
Photographie – Film. Darmstadt 1995, S. 235–269. Boehm, Gottfried: »Zu einer Hermeneutik des Bildes«. In:
Amelunxen, Herbert von: »Photographie und Literatur. Hans-Georg Gadamer/Gottfried Boehm (Hg.): Seminar:
Prolegomena zu einer Theoriegeschichte der Photogra-

214
2.3
Medientheoretische Grundbegriffe
Literatur

Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Frankfurt Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.): Iconic Turn. Die neue
a. M. 1978, S. 444–472. Macht der Bilder. Das neue Buch zur Vorlesungsreihe.
– (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994. Köln 2004.
Bohnenkamp, Anne (Hg.): Interpretationen: Literaturverfil- Mitchell, W. J.T.: »Was ist ein Bild?« [1984], und »Pictorial
mungen. Stuttgart 2005. turn« [1992]. In: Ders.: Bildtheorie. Hg. und mit einem
Eicher, Thomas (Hg.): Intermedialität. Vom Bild zum Text. Nachwort von Gustav Frank. Frankfurt a. M. 2008,
Bielefeld 1994. S. 15–77 und S. 101–135.
Ernst, Ulrich: Intermedialität im europäischen Kulturzu- Müller, Jan-Dirk: ›Gedechtnus‹. Literatur und Hofgesell-
sammenhang. Beiträge zur Theorie und Geschichte der schaft um Maximilian I. München 1982.
visuellen Lyrik. Berlin 2002. – : »Visualität, Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersu-
Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik chungsfeld der Mediävistik«. In: Zeitschrift für deutsche
des Lesens. Basel/Frankfurt a. M. 1995. Philologie 122 (2003), S. 119–132.
Hein, Michael/Hüners, Michael/Michaelsen, Thorsten Panofsky, Erwin: »Ikonographie und Ikonologie«. In: Ders.:
(Hg.): Ästhetik des Comic. Berlin 2002. Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln 1975,
Hess, Gilbert: »Text und Bild in der Frühen Neuzeit: Die S. 36–67.
Emblematik«. In: Torsten Hoffmann/Gabriele Rippl Seeßlen, Georg: »Gerahmter Raum – gezeichnete Zeit«. In:
(Hg.): Bilder. Ein (neues) Leitmedium? Göttingen 2006, Hein/Hüners/Michaelsen 2002, S. 71–101.
S. 170–192. Sick, Franziska/Schöch, Christoph (Hg.): Zeitlichkeit in Text
Horstkotte, Silke: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in und Bild. Heidelberg 2007.
der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln 2009. Voßkamp, Wilhelm/Weingart, Brigitte (Hg.): Sichtbares
Koppen, Edwin: Literatur und Photographie. Über und Sagbares: Text-Bild-Verhältnisse. Köln 2005.
Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung. Walzel, Oskar: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein
Stuttgart 1987. Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe.
Leonardo da Vinci: Traktat von der Malerei. Nach der Berlin 1917.
Übers. von Heinrich Ludwig [1925] neu hg. und eingel. Wandhoff, Haiko: »Zur Bildlichkeit mittelalterlicher Texte.
von Marie Herzfeld. Jena 1989. Einführung«. In: Das Mittelalter 13 (2008), S. 3–18.
Linck, Dirck (Hg.): Bildtext – Textbild. Probleme der Rede
über Text-Bild-Hybride. Freiburg 2007. Gabriele Rohowski

215
3.1
Kleine Literaturgeschichte

3 Kleine Literaturgeschichte
3.1 Einleitung
3.2 Mittelalter
3.3 Frühe Neuzeit
3.4 Klassik und Romantik
3.5 Das 19. Jahrhundert
3.6 Das 20. Jahrhundert
3.7 Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur

3.1 | Einleitung
3.1.1 | Literaturgeschichtsschreibung tion und Anordnung des verfügbaren Materials
verbunden sind (Umgang mit regionalen und poli-
Literatur-Geschichte? Dass die Notwendigkeit be- tischen Binnengrenzen der ›deutschen‹ Literatur,
steht, eine ›Geschichte der Literatur‹ zu schrei- Herausstellung einzelner Autoren oder Werkkom-
ben, erscheint nicht selbstverständlich. Denn wäh- plexe durch gesonderte Kapitel, Einbeziehung
rend historische Darstellungen politischer und oder Ausgrenzung von pragmatischen Textsorten,
militärischer Geschehnisse zu den fundamentalen Gewichtung der Gegenstände nach Wertungskrite-
Anliegen kollektiver Selbstvergewisserung gehö- rien usw.).
ren und seit der Antike geläufig sind, ist es offen- Für die Genese und Struktur literarhistorischer
bar nicht zwingend, dass eine kulturelle Gemein- Forschung entscheidend ist die Position, die der
schaft die Erinnerung an ihre literarische Tradition Literatur innerhalb eines funktional ausdifferen-
in schriftlicher Form kodifiziert. Jedenfalls kann zierten Gesellschafts- und Kulturmodells zugewie-
von einer Literaturgeschichtsschreibung, die tat- sen wird. Einer der prominentesten Vertreter der
sächlich historiographischen Ansprüchen folgt, frühen Literaturhistoriographie, Georg Gottfried
erst seit gut 200 Jahren gesprochen werden. Vor- Gervinus (1805–1871), sah die Geschichte der Li-
formen wie das berühmte zehnte Buch von Quin- teratur als Vorstufe oder Surrogat einer Nationalge-
tilians Institutio oratoria oder die Autorenkataloge schichte, die es auf der politischen Ebene noch
des Mittelalters und des Humanismus hatten un- nicht geben konnte. In jüngster Zeit haben system-
mittelbare Gebrauchsfunktion, und noch die um theoretische und diskursanalytische Ansätze die
1700 aufkommenden sogenannten ›Litterärge- Eigengesetzlichkeit der Literatur explizit hervorge-
schichten‹ glichen eher bio-bibliographischen hoben, doch scheint es, dass sich diese Theorie-
Kompendien als diskursiven Abhandlungen zur modelle nicht als Basis für umfassende historische
Entstehung und Entwicklung einzelner Wissen- Darstellungen eignen. Am ehesten dürften derzeit
schaften und Künste (darunter auch der ›belles- die sozial- und mentalitäts-, auch rezeptionsge-
lettres‹). schichtlichen Konzepte, die im letzten Drittel des
Grundkonzepte der Literaturgeschichtsschrei- 20. Jh.s entwickelt wurden, den Orientierungsbe-
bung: Keineswegs selbstverständlich ist auch, dass dürfnissen der Wissenschaft wie der interessier-
Literaturgeschichtsschreibung sich an kulturgeo- ten Öffentlichkeit Rechnung tragen, zumal das
graphisch-nationalen (›deutsche Literatur‹), text- hier vielfach gewählte Verfahren, problemorien-
pragmatischen (mehr oder minder autonome ›Lite- tierte Aufsätze zu Epochenbänden zusammenzu-
ratur‹ vs. funktionale Gebrauchstexte), medialen führen, kulturwissenschaftliche Reflexion, gegen-
(Sonderstellung des gedruckten Buches) oder qua- standsadäquate Flexibilität in der Disposition und
litativen Kriterien (kanonisierte ›Hochliteratur‹) den Einsatz narrativer oder dokumentarischer Prä-
orientiert. Ihre Realisationsformen und Ziele ent- sentationsformen kombiniert.
wickeln sich entlang der historischen Veränderun- Problematik der Epochenbezeichnungen: Die
gen des Literaturbegriffs und der gesellschaftli- disparaten Formen der Benennung literarischer
chen Funktion literarischer Texte, womit nicht Epochen zeigen deutlich, dass Literaturgeschichts-
zuletzt fundamentale Entscheidungen der Selek- schreibung gezwungen ist, Anleihen bei außerli-

217
3.1
Kleine Literaturgeschichte
Einleitung

terarischen Einteilungsschemata zu machen: Als gegenüber der Vorstellung einer organischen Ent-
Ausgangspunkte für die Wahl der Epochenbe- wicklung von ›Literatur und literarischem Leben‹
zeichnungen dienen wechselweise stärker markiert (Schönert 2007).
Benennung literatur- N die allgemeine Kultur- und Mentalitätsge- Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung:
geschichtlicher Epochen schichte (Humanismus, Aufklärung, Empfind- Zur unmittelbaren Vorgeschichte der Literaturhis-
samkeit, Romantik) toriographie gehören die sogenannte ›Querelle des
N die politische Geschichte (Vormärz, Weimarer anciens et des modernes‹ der Jahre um 1700, als
Republik, Exil, Nachkriegszeit) man um den Vorrang der antiken vor der zeitge-
N die Konfessionsgeschichte (Reformation, Ge- nössischen Dichtung stritt, und die gleichzeitige
genreformation) Ausbildung der ›Litterärgeschichte‹ (historia litte-
N die allgemeine oder von bestimmten Künsten raria), die den jeweils erreichten Stand der kultu-
her geläufige Stilgeschichte (Barock, Realis- rellen Entwicklung im Modus der Akkumulation
mus, Naturalismus, Expressionismus) von biographischen Daten, Werktiteln und knap-
N gelegentlich sogar rein formale (Früh-, Hoch-, pen Erläuterungen oder kritischen Anmerkungen
Spätmittelalter) oder zu dokumentieren suchte. Eine im neuzeitlichen
N chronologische Eingrenzungen (Jahrhundert- Sinne ›historische‹ Perspektive, die das literari-
wende, Literatur nach 1945, nach 1990 usw.) sche Geschehen kausal und funktional, womög-
Nur ausnahmsweise dienen die literarischen Be- lich auch teleologisch – als auf ein übergeordnetes
wegungen selbst, die freilich kaum den gesamten Ziel gerichtet – deutete, bildete sich unter dem
deutschsprachigen Kulturbereich repräsentieren Einfluss Johann Joachim Winckelmanns und Jo-
(Sturm und Drang, Weimarer Klassik, Wiener Mo- hann Gottfried Herders im deutschen Kulturbe-
derne usw.), als Basis einer chronologischen Ein- reich seit dem Ende des 18. Jh.s heraus.
teilung der Literaturgeschichte. Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert: In der
Paradigmenwechsel: Konstitutiv für die Reali- Folge lösten sich nationalliberale (Georg Gottfried
sation und Abfolge einzelner literarhistorischer Gervinus), positivistische (Wilhelm Scherer) und
Konzepte sind sogenannte ›Paradigmenwechsel‹, geistesgeschichtliche (Wilhelm Dilthey) Positio-
einschneidende Änderungen in der Perspektive nen ab, die erkennbar an den jeweiligen ›Leitwis-
auf den jeweils in Frage stehenden Sachverhalt. senschaften‹ ihrer Zeit – Staatswissenschaft, Na-
Fundamental ist hier zunächst die Ausdifferenzie- turwissenschaft, Philosophie – orientiert waren.
rung der Leserrolle im späten 18. Jh.: Wenn nicht Auch im 20. Jh. gab es wissenschaftliche Kon-
mehr jeder gebildete Leser als potenzieller Pro- junkturen, von denen die Literaturgeschichts-
duzent von Texten angesehen wird, gelten die schreibung nicht unbeeinflusst blieb: Auf das
tradierten Gattungen, Werke oder Autoren nicht stammesgeschichtliche Paradigma (Josef Nadler),
länger als – dementsprechend auszuwählende – das in der Zeit des ›Dritten Reiches‹ politisch ver-
Vorbilder zur literarischen Nachahmung (Weimar einnahmt wurde, folgten in der Nachkriegszeit
1989). Vielmehr können sie nach ihrer eigenstän- eine Reihe apolitisch-werkimmanenter, literaturso-
digen historischen Entwicklung, auch nach ihrer ziologischer und (nicht nur in der DDR) marxisti-
Differenz zur jeweiligen Gegenwart oder ihrer pä- scher Entwürfe, die im Methodenpluralismus der
dagogischen, ja ideologischen Verwertbarkeit ana- letzten Jahrzehnte ihre schwer überschaubare
lysiert werden. Fortsetzung fanden (Meier 1996; Rosenberg 2000).
Im 19. Jh. verstärkten ausgearbeitete geschichts- Die Präsentationsformen der neueren Literatur-
philosophische Konzepte die Vorstellung der Pro- geschichtsschreibung sind vielfältig:
zesshaftigkeit und Sinnhaftigkeit historischer Ab- N Autoren- und Werklexika (Kindlers Literatur
läufe. Seit etwa 1980 (Glaser 1980 ff.; Grimminger Lexikon, Killy Literaturlexikon) können trotz ih-
1980–2009) entwickelte sich parallel zu einer die rer universalen und zugleich historischen Aus-
literarischen ›Ereignisse‹ ordnenden und deutenden richtung nicht als ›Literaturgeschichten‹ aufge-
Literaturgeschichtsschreibung ein Modell, das – fasst werden.
freilich innerhalb eines traditionellen Epochensche- N Annalistisch oder tabellarisch angelegte Nach-
mas – Übersichten über die gesellschaftlich relevan- schlagewerke wie Frenzels (2001) Daten deut-
ten Teilaspekte des Literaturbetriebs präsentiert. scher Dichtung, Volker Meids (2006) Literatur-
Damit werden Phänomene wie die funktionale Dif- Chronik oder der dtv-Atlas Deutsche Literatur
ferenzierung der literarischen ›Handlungsrollen‹ (Schlosser 2010) vertreten durchaus den An-
(Produktion, Vermittlung, Rezeption, Verarbeitung) spruch, eine strukturierte Übersicht über die

218
3.1
Kleine Literaturgeschichte
Zur Problematik literar-
historischer Periodisierung
(Epochen)

Charakteristika und herausragenden Vertreter 3.1.2 | Zur Problematik literarhistorischer


der einzelnen Epochen zu vermitteln. Sie sind Periodisierung (Epochen)
allerdings nicht geeignet, komplexere Zusam-
menhänge wie etwa die zeitliche Überlappung Als literarische Epochen bezeichnet man entgegen
und konzeptionelle Interferenz von Klassik und dem eigentlichen Wortsinn (griech. epoché: Halte-
Romantik sichtbar zu machen. punkt, Einschnitt) den zwischen zwei mehr oder
Unter den kompakten Literaturgeschichten gibt es minder deutlich ausgeprägten Grenzmarken lie-
konventionell aufgemachte Bände aus fast allen genden Zeitraum. Sie sind wissenschaftliche Kon-
Wissenschaftsverlagen (z. B. Brenner 2004; Beutin strukte, auch wenn die Herkunft der einzelnen
2008), aber auch eigenwillige Versuche wie David Epochennamen aus unterschiedlichen Gebrauchs-
E. Wellberys (2007) ›fallgeschichtliche‹ Sammlung zusammenhängen stammt und sich etwa zwi-
von Essays zu wichtigen Literatur-Ereignissen schen Begriffen wie ›Aufklärung‹ und ›Weimarer
oder Heinz Schlaffers (2002) Kurze Geschichte der Klassik‹ eine Reihe grundlegender kategorialer Dif-
deutschen Literatur, die provozierend ganze Kern- ferenzen aufweisen ließe. Welche Teilbereiche der
bereiche des tradierten Kanons auslässt. Literaturgeschichte tatsächlich als ›Epochen‹ und
Die mehrbändigen Gesamtdarstellungen, die in welche eher als ›Strömungen‹, ›Bewegungen‹ usw.
der zweiten Hälfte des 20. Jh.s teilweise über einen zu bezeichnen sind, ist denn auch nur näherungs-
längeren Zeitraum erarbeitet wurden, lassen sich weise festzulegen. Formal gesehen, grenzen sich
grob in narrativ strukturierte Epochenmonogra- die Phänomene – also hier konkret: die Texte, aber
phien und problemorientierte Aufsatzsammlungen auch die Modalitäten des Literaturbetriebs – einer
unterteilen. Ungeachtet des jeweiligen Darstel- Epoche von denen einer anderen Epoche dadurch
lungsmodus kann für alle neueren literarhistori- ab, dass sie untereinander mehr Gemeinsamkeiten
schen Großunternehmen der Kontextbezug als haben als mit den Phänomenen der benachbarten
konstitutives Element festgehalten werden. Epochen (Titzmann 1997).
Gemeinsamkeiten und Differenzen literarhisto- Homogenität der Epoche: Die wissenschaftliche
rischer Darstellungen: Die Erkenntnisinteressen Beschreibung von (literarischen) Epochen ist dem-
moderner Literaturgeschichten, die ihren Gegen- nach bemüht, diese Homogenität herauszustellen.
stand im narrativen Modus präsentieren (etwa die Vereinfachungen wie die Rede vom barocken Stil,
Bände von De Boor/Newald in den neueren Bear- vom klassischen Ideal der Humanität oder von der
beitungen), und der seit den 1980er Jahren er- Imagination als Kennzeichen romantischer Dich-
scheinenden sozialgeschichtlich orientierten Lite- tung und Dichtungstheorie sind solange legitim,
raturgeschichten (Glaser 1900 ff.; Grimminger wie sie sich als ›heuristisch‹, also ihrer Vorläufig-
1980–2009) sind daher auch nicht fundamental keit bewusst, begreifen. Eine umfassende, histo-
verschieden. So werden beispielsweise in beiden risch exakte Epochendefinition wird niemals um-
Formaten die einzelnen Gattungen in getrennten hinkommen, auf innere Brüche, begriffliche In-
Kapiteln präsentiert, und vor der Auseinanderset- kommensurabilitäten und zeitliche, regionale oder
zung mit Autoren(gruppen) und Texten finden personale Binnendifferenzierungen hinzuweisen.
sich einleitende Passagen, die den weiteren Epo- Gut gelöst ist diese Problematik in den meisten Epo-
chenkontext (politische und gesellschaftliche Ver- chenartikeln des Reallexikons der deutschen Litera-
hältnisse, konfessionelle und philosophische Vor- turgeschichte.
aussetzungen von Literatur, Institutionen der Die Übergänge zwischen den Epochen, die soge-
Bildung und des Kulturbetriebs usw.) skizzieren. nannten ›Epochenschwellen‹, sind freilich nicht
Die Unterschiede zwischen den Konzepten sind immer klar markiert, da sich die programmati-
eher graduell: In den monographischen Literatur- schen Veränderungen (konkretisierend spricht
geschichten finden sich beispielsweise häufiger man von ›Trennereignissen‹) nicht gleichzeitig
Autorenporträts oder Kurzinterpretationen exem- bzw. analog vollzogen. Wenn man beispielsweise
plarischer Texte, während in den von mehreren als entscheidende Differenz der Aufklärung gegen-
Autoren verfassten Literaturgeschichten die tech- über dem Barock die Herausbildung eines auf
nischen und medialen Funktionsbedingungen des Klarheit und begriffliche Eindeutigkeit zielenden
Literaturbetriebs noch stärker markiert und (Ge- Literaturstils ansetzt, wird man zeitliche und kon-
brauchs-)formen jenseits der tradierten Gattungs- zeptionelle Analogien zu Reformbestrebungen im
trias ausführlicher behandelt werden. Bereich pragmatischer Schreibverfahren (Briefstel-
ler) und zum aufklärerischen Postulat der logi-

219
3.1
Kleine Literaturgeschichte
Einleitung

schen Begründbarkeit von Aussagen feststellen. Ferner fallen Epoche und Epochenbewusst-
Hingegen blieben literarische Stoffe und Gattungs- sein keineswegs immer zusammen: Die Vertreter
präferenzen noch geraume Zeit an höfischen Ge- der ›Aufklärung‹ folgten zumindest einem so be-
schmacksidealen orientiert, wie sich überhaupt zeichneten Programm intellektueller Eigenver-
die gesellschaftlichen Entstehungs- und Wirkungs- antwortung (literarhistorisch seit dem 19. Jh. ver-
bedingungen der Literatur erst allmählich auf eine wendet), während ›Vormärz‹ erst nach der
Etablierung des Bürgertums als maßgeblicher Trä- Märzrevolution von 1848 als politisch gefärbter
gerschicht des kulturellen Lebens hin entwickel- Epochenbegriff überhaupt möglich wurde. Aus
ten. Es gilt bei der Epocheneinteilung also Rele- der Mentalitätsgeschichte stammt der Begriff der
vanzkriterien festzulegen, die den empirischen longue durée, womit man die Bündelung epochen-
Befunden wie dem spezifischen Forschungsinter- übergreifender Kontinuitäten zu erfassen versucht;
esse gerecht werden. die Germanistik hat mit dem Begriff einer ›Mittle-
Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: Schon ren deutschen Literatur‹, die die Spanne von ca.
während der sogenannten ›Goethezeit‹, verstärkt 1400 bis 1750 und damit die Epochen vom Spät-
seit dem Ende des 19. Jh.s sind Teilabschnitte auf mittelalter bis zur Aufklärung umschließt, dieses
der Zeitachse der Literaturgeschichte nach dem Modell zu adaptieren versucht.
Prinzip der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen Das für diesen Band gewählte Periodisierungs-
angeordnet (Schlosser 2010). Wie die Jahre um schema orientiert sich in seiner Begrifflichkeit an
1800 mit gleichem Recht der Spätaufklärung, der den derzeit gängigen, kritisch geprüften Modellen.
Epochenaufteilung Klassik und der Romantik zugewiesen werden N So ist das Mittelalter, in Anlehnung an sprach-
in diesem Band können, gibt es verstärkt seit der frühen Moderne geschichtliche Periodisierungen, in drei nicht
parallele Entwicklungen literarischer Strömun- vorwiegend sachlich abgegrenzte Teilepochen
gen. Sinnenfällig wird dies mit Blick auf die Zeit untergliedert.
zwischen 1933 und 1945, wo nationalsozialis- N Die Aufklärung mit ihren Sprossformen wurde
tische (Propaganda-)Literatur, Literatur der Inne- komplett der Frühen Neuzeit zugeschlagen.
ren Emigration und Literatur des Exils zeitgleich N Die Bezeichnung ›Vormärz‹ für das zweite
nebeneinander entstanden. Aber schon für die Li- Viertel des 19. Jh.s erhielt den Vorzug vor ›Bie-
teratur früherer Jahrhunderte gilt, dass Epochen dermeier‹ und ›Restaurationszeit‹.
und Strömungen sich überlappen oder sogar voll- N Eine relativ scharfe Trennung zwischen der
ständig inkludieren (z. B. 1740–1780 Rokoko oder Nachkriegsliteratur und der Literatur nach
1770–1785 Sturm und Drang als Sprossformen der 1989 war schon deshalb sinnvoll, weil für die
das gesamte 18. Jh. umfassenden Aufklärung), nie Zeit von 1945 bis zur Wiedervereinigung die
aber nahtlos und eindeutig einander ablösen. Entwicklung in beiden deutschen Staaten (bzw.
Gänzlich inadäquat ist ein noch gelegentlich in in der DDR und dem übrigen deutschen Sprach-
Schulbüchern anzutreffendes kontrastives Modell, gebiet) getrennt behandelt werden musste. Wo
das eine Art Pendelbewegung zwischen ›irratio- es sinnvoll erscheint, werden in den einzelnen
nalen‹ und ›rationalen‹ Epochen behauptet. Epochenkapiteln die Einteilungskriterien er-
Die weiteren Probleme der Epochenzuschrei- läutert.
bung sind vielfältiger Art und können hier nur in Die symmetrische Anordnung der literaturge-
Ansätzen markiert werden. Vor allem sind erheb- schichtlichen Kapitel um die zentrale Achse ›Klas-
liche nationale Differenzen in der Bezeichnung, sik/Romantik‹ herum ist gleichfalls programma-
aber auch in der Abgrenzung und im sachlichen tisch: Zum einen werden so die beiden genannten
Verständnis von Epochen zu konstatieren. In Strömungen in ihrer Komplementarität und ihrer
Frankreich bezeichnet »l’âge classique« das Zeit- traditionsverpflichteten wie traditionsbildenden
alter Ludwigs XIV., das chronologisch etwa mit Scharnierfunktion sichtbar, zum anderen zeigen
der deutschen Barockliteratur zusammenfällt. Die sich die früheren Epochen der deutschen Literatur-
lexikalischen und konzeptionellen Analogien zur geschichte bei aller notwendigen Verdichtung
deutschen ›Romantik‹ sind im angelsächsischen (Mittelalter: mehr als 6 Jahrhunderte; Frühe Neu-
und französischen Sprachraum viel weiter ge- zeit: 3 Jahrhunderte) gegenüber dem Schulkanon,
fasst: Unter ›romanticism(e)‹ lassen sich dem- der die Literatur vor Lessing oft kaum berücksich-
nach auch die Werke Schillers und Goethes sub- tigt, deutlicher profiliert.
sumieren.

220
3.1
Kleine Literaturgeschichte
Zur Problematik literar-
historischer Periodisierung
(Epochen)

Zur Vertiefung

Vergleich literarhistorischer Periodisierungsschemata


Als Beispiel für divergente Periodisierungsprinzipien können die Geschichte der poetischen National-Literatur
der Deutschen (zuerst 1835–1842) von Georg Gottfried Gervinus und Hansers Sozialgeschichte der deutschen Li-
teratur (1980–2009), die von Rolf Grimminger begründet wurde, dienen. Es werden im Folgenden die Titel der-
jenigen Bände (bei Gervinus: Teilbände bzw. Kapitel, je nach Auflage) gegenübergestellt, die sich auf die Zeit
vom Ende des Mittelalters bis zur Romantik beziehen.

Gervinus: Geschichte der poetischen Hansers Sozialgeschichte


National-Literatur der Deutschen der deutschen Literatur
N Verfall der ritterlichen Dichtung und Übergang N Die Literatur im Übergang vom Mittelalter
zur Volkspoesie zur Neuzeit
N Aufnahme der volkstümlichen Dichtung N Die Literatur des 17. Jahrhunderts
N Rücktritt der Dichtung aus dem Volk unter die N Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolu-
Gelehrten tion 1680–1789
N Eintritt des Kunstcharakters der neueren Zeit N Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeital-
N Wiedergeburt der Dichtung unter den Einflüssen ter der Französischen Revolution 1789–1815
der religiösen und weltlichen Moral und
der Kritik
N Umsturz der konventionellen Dichtung durch
Verjüngung der Naturpoesie
N Übersicht der schönen Prosa (Romanliteratur)
N Schiller und Goethe
N Romantik

In Gervinus’ nationalliberalem Konzept fallen zum einen organologische Vorstellungen auf (»Verfall«, »Wieder-
geburt«, »Verjüngung«), die einen naturgegebenen Verlauf der Literaturentwicklung suggerieren, zum anderen
wird die wechselnde Rolle des »Volkes« als Träger der Dichtung reflektiert. Auch ist zu erkennen, dass »Dich-
tung« im 19. Jh. noch grundsätzlich im Sinne von (versgebundener) »Poesie« verstanden und die »Romanlitera-
tur« als »schöne Prosa« erst allmählich in den Bereich der kanonisierten Hochliteratur aufgenommen wird.
Demgegenüber orientiert sich die sozialhistorische Literaturgeschichtsschreibung vorzugsweise an politischen
Ereignissen. Bemerkenswert ist hier z. B., dass die »Aufklärung« – ein Terminus, der bei Gervinus nicht einmal
in einer Kapitelüberschrift verwendet wird – eine Zeitspanne von mehr als einem Jahrhundert abdeckt.

Literaturgeschichten
Bahr, Erhard (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. Glaser, Horst Albert (Hg.): Deutsche Literatur. Eine
Kontinuität und Veränderung. Vom Mittelalter bis zur Sozialgeschichte. Reinbek 1980 ff. [angelegt auf 10
Gegenwart, 3 Bde. Tübingen 1987/88. Bde.].
Beutin, Wolfgang u. a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von Grimminger, Rolf (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der
den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur
7
2008. Gegenwart, 12 Bde. München 1980–2009.
Brenner, Peter J.: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom Meid, Volker: Metzler Literatur-Chronik. Werke deutsch-
»Ackermann« zu Günter Grass. Tübingen 22004. sprachiger Autoren. Stuttgart/Weimar 32006.
De Boor, Helmut/Newald, Richard (Hg.): Geschichte der Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen
deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegen- Literatur. München/Wien 2002.
wart. München 1949 ff. [angelegt auf 12 Bde., teilweise Schlosser, Horst Dieter: dtv-Atlas Deutsche Literatur.
bereits in mehreren Auflagen bzw. Neubearbeitungen München 112010.
erschienen]. Wellbery, David E. (Hg.): Eine Neue Geschichte der
Frenzel, Elisabeth/Frenzel, Herbert A.: Daten deutscher deutschen Literatur. Berlin 2007 (engl. 2004).
Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen
Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur
Gegenwart, 2 Bde. München 332001.

221
3.1
Kleine Literaturgeschichte
Einleitung

Literatur
Barner, Wilfried: »Über das Negieren von Tradition. Zur – : »Literaturgeschichtsschreibung«. In: Reallexikon der
Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2. Berlin/New York
in Deutschland«. In: Herzog/Koselleck (1987), S. 3–51. 2000, S. 458–463.
Fohrmann, Jürgen: Das Projekt der deutschen Literaturge- Schönert, Jörg: »Literaturgeschichte«. In: Reallexikon der
schichte. Stuttgart 1989. deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2. Berlin/New York
Gumbrecht, Hans Ulrich/Link-Heer, Ursula (Hg.): 2000, S. 454–458.
Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs – : »Literaturgeschichtsschreibung«. In: Thomas Anz (Hg.):
der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt a. M. 1985. Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 2. Methoden und
Herzog, Reinhart/Koselleck, Reinhart (Hg.): Epochen- Theorien. Stuttgart/Weimar 2007, S. 267–284.
schwelle und Epochenbewußtsein. München 1987. Titzmann, Michael: »Epoche«. In: Reallexikon der
Meier, Albert: »Literaturgeschichtsschreibung«. In: Heinz deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. Berlin/New York
Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der 1997, S. 476–480.
Literaturwissenschaft. München 1996, S. 570–584. Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissen-
Rosenberg, Rainer: »Epochen«. In: Helmut Brackert/Jörn schaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München
Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. 1989.
Reinbek 1992, S. 269–280.
Robert Seidel

222
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Althochdeutsche Literatur

3.2 | Mittelalter
Typische Merkmale: Die Literaturgeschichte des
Teilepochen Phasen Zeitraum Produzenten/ Ort
deutschen Mittelalters reicht vom 8. bis zum Rezipienten
15. Jh. Nach Manfred Fuhrmann (1992) bildet das
Frühmittelalter Althochdeutsche 770–900 von Geistlichen Kloster
Mittelalter ein Kontinuum, das fünf typische Merk- Literatur für Geistliche
malen aufweist. Diese haben ihre Wurzeln in der
Hochmittelalter Frühmittelhochdeutsche 1050–1170 von Geistlichen Kloster
christlichen Spätantike und wirken noch bis in das Literatur für Laien
18. Jh. hinein:
Mittelhochdeutsche 1170–1220 von Laien Hof
N Christianität: Verbindlichkeit des christlich ge-
Literatur: »Staufische für Laien
prägten Weltbildes. Klassik«
N Bilinguität: Nebeneinander von lateinischer
Spätmittelalter Spätmittelhochdeutsche 1220–1450 von Laien Stadt
und volkssprachlicher Literatur. Literatur für Laien
N Heilsgeschichte: Verbindlichkeit des christli-
chen Geschichtsmodells. Demnach ist der Ver-
lauf der Geschichte von der göttlichen Vorse- der Mitte des 15. Jh.s markiert den literaturge- Epochen der deutschen
hung (Providenz) gesteuert und auf die schichtlichen Übergang vom späten Mittelalter Literatur des Mittelalters
Wiederkunft Christi ausgerichtet. zur frühen Neuzeit. im Überblick
N Allegorese: Christliche Welt- und Schriftausle- Ständeordnung: Bis in das 12. Jh. hinein gilt die
gung. strikte Trennung der Stände, Sprachen und Bil-
N Bibeldichtung und Hagiographie: Präsenz die- dungswege. Auf der einen Seite steht der gebildete
ser Gattungen religiösen Erzählens. Klerus, der sich der lateinischen Literatur- und
Epochengliederung: Die deutsche Literatur des Bildungssprache bedient. Auf der anderen Seite
Mittelalters gliedert sich in vier Phasen, die mit stehen die Laien, die sich aufgrund ihres An-
den Teilepochen des Mittelalters korrespondieren. alphabetismus ausschließlich in der Volkssprache
In das Frühmittelalter fällt die Phase der althoch- (Deutsch, Französisch etc.) verständigen und kei-
deutschen Literatur. Das Hochmittelalter umfasst nen unvermittelten Zugang zur lateinischen Litera-
die Phasen der frühmittelhochdeutschen und mit- tur haben. Die mittelalterliche Lehrdichtung unter-
telhochdeutschen Literatur. In das Spätmittelal- scheidet drei idealtypische Stände: den geistlichen
ter fällt die Phase der spätmittelhochdeutschen Stand der Kleriker (pfaffen) und die weltlichen
Literatur. Stände der Ritter (ritter) und Bauern (gebûre). Im
N Die althochdeutsche Literatur, die in der Zeit 12. Jh. vollzieht sich eine literaturgeschichtliche
von 770 bis 900 von Geistlichen für Geistliche Wende. Mit der höfisch-ritterlichen Dichtung tritt
verfasst wird und an die Institution des Klosters zum ersten Mal eine genuin weltliche Literatur her-
gebunden ist, steht am Anfang. Nach einer Un- vor, die das klerikale Literatur- und Bildungsmono-
terbrechung von 150 Jahren setzt die von 1050 pol aufbricht (für allgemeine Einführungen vgl.
bis 1450 reichende mittelhochdeutsche Litera- Klein 2006; Weddige 2008).
tur ein.
N Die frühmittelhochdeutsche Literatur (1050 bis
1170) ist weiterhin an das Kloster gebunden und 3.2.1 | Althochdeutsche Literatur
wird von Geistlichen verfasst, nun aber auch für
(770–900)
ein nichtgeistliches (laikales) Publikum.
N Die ›klassische‹ mittelhochdeutsche Litera- 3.2.1.1 | Literatur im Kloster
tur: Um 1170 beginnt die klassische, im Zeichen
(von Geistlichen für Geistliche)
der ritterlich-höfischen Dichtung stehende
Phase der mittelhochdeutschen Literatur. Sie Die Anfänge der deutschen Literatur liegen in der
reicht bis 1220 und wird am Fürstenhof von zweiten Hälfte des 8. Jh.s. Die kurze Epoche der
Laien für Laien verfasst (›Staufische Klassik‹). althochdeutschen Literatur (770–900) ist an die In-
N Die spätmittelhochdeutsche Literatur, die von stitution des Klosters geknüpft. Sie wird von
1220 bis 1450 anzusetzen ist, hat, neben Klos- Geistlichen für Geistliche verfasst. Zum größten
ter und Fürstenhof, einen dritten Ort in den sich Teil handelt es sich um Formen der volkssprachli-
formierenden Städten. Die Erfindung des Buch- chen Bearbeitung lateinischer, vor allem religiöser
drucks durch Johannes Gutenberg († 1468) in Texte, sei es auf dem Wege der Glossierung, Über-

223
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

setzung oder poetischen Gestaltung. Hinzu kom- Sprache (Karolingische Renaissance). Seit der Tei-
men christlich geprägte Preislieder auf weltliche lung des Reiches im Jahr 843 ist zwischen dem
Herrscher sowie heldenepische und magische ostfränkischen (später französischen) und west-
Dichtungen, deren mündliche Überlieferung ins fränkischen (später deutschen) Literaturraum zu
Germanische zurückreicht. unterscheiden.
Sprachgeschichtliche Voraussetzungen: Eine Das Kloster als literarische Institution: Das lite-
sprachgeschichtliche Voraussetzung der althoch- rarische Leben im Kloster ist an fünf Räume ge-
deutschen Literatur ist die zweite Lautverschie- knüpft:
bung, die zur Ausgliederung der hochdeutschen N die Klosterschule, in der die Zöglinge die latei-
Dialekte aus dem Germanischen führte (s. Kap. II. nische Sprache in Wort und Schrift erlernen
4.3). Erst seit der ältesten Sprachstufe des Hoch- N das Skriptorium (Schreibstube), in dem Bü-
deutschen, die man als Althochdeutsch bezeich- cher geschrieben und handschriftlich kopiert
net, kann von deutschsprachiger Literatur die werden
Rede sein. Neben dem Althochdeutschen steht das N die Bibliothek, in der die Bücher aufbewahrt
Altsächsische, das die zweite Lautverschiebung werden
nicht vollzogen hat; aus ihm sind die niederdeut- N die Kirche, in der aus Büchern religiöse Texte
schen Dialekte hervorgegangen. gelesen und gesungen werden
Literaturgeschichtliche Voraussetzungen: In li- N das Refektorium (Speisesaal), in dem während
teraturgeschichtlicher Hinsicht hängen die Anfän- der Mahlzeiten Tischlesungen abgehalten wer-
ge der deutschen Literatur eng mit der Herrschaft den
der Karolinger zusammen. Karl der Große verfügte Diese Räume finden sich auch auf einem idealtypi-
bei der Aachener Synode des Jahres 789, dass in schen Klosterplan des 10. Jh.s, der in St. Gallen
jedem Benediktinerkloster eine Schule einzurich- aufbewahrt wird.
ten sei. Auf diese Weise förderte er literarische Bil- Zu den hervorragenden Bildungsstätten im Os-
dung und literarische Produktion nicht nur im Me- ten des karolingischen Reichs zählen Fulda, Mainz,
dium der lateinischen, sondern auch der deutschen St. Emmeram in Regensburg, St. Peter in Salzburg,
St. Gallen und die Klosterinsel Reichenau. Es ist
Personen und Ereignisse des Frühmittelalters (8.-10. Jh.) den frühmittelalterlichen Klöstern und ihrem lite-
rarischen Betrieb zu verdanken, dass die antike
um 730–804 Alkuin (Leiter der Aachener Hofschule Karls des Großen) Kultur den Weg ins Mittelalter und somit auch in
751–911 Karolingische Herrschaft die Neuzeit findet. In den frühmittelalterlichen
747–814 Karl der Große (König der Franken seit 768) Klöstern wird nicht nur das Erbe der christlichen
772–804 Sachsenkriege, Christianisierung der Sachsen Kirchenlehrer (Ambrosius, Augustinus, Hierony-
um 780–856 Hrabanus Maurus (Schulleiter und Abt im Kloster Fulda: mus, Gregor der Große), sondern auch der vor-
822–841/42) christlichen Dichtung, Philosophie und Wissen-
789 Aachener Synode (Admonitio generalis) schaft weitergegeben, bearbeitet und kommentiert.
800 Kaiserkrönung Karls des Großen Der Respekt gegenüber der vorchristlichen Litera-
um 800–870 Otfrid von Weißenburg (Bibliothekar und Verfasser des tur verdankt sich dem Sachverhalt, dass sie in den-
Evangelienbuchs) selben Sprachen verfasst ist wie die biblischen
778–840 Kaiser Ludwig der Fromme (König seit 781, Kaiser seit 814) Schriften, nämlich in den heiligen Sprachen (lin-
ab 840–891 Plünderung der Normannen im Frankenreich guae sacrae) Lateinisch, Griechisch und Hebräisch.
843 Aufteilung des Reichs (Vertrag von Verdun) Ein illustratives Beispiel für das Lehrprogramm
795–855 Mittelreich: Kaiser Lothar I. (Kaiser seit 843) der Klosterschule bietet die legendenhafte Erzäh-
um 805–876 Ostfränkisches Reich: König Ludwig II. der Deutsche lung Gregorius des mittelhochdeutschen Dichters
(König seit 843) Hartmann von Aue. Der Titelheld wächst auf einer
823–877 Westfränkisches Reich: Kaiser Karl II. der Kahle (König Klosterinsel auf, wo er als Musterschüler glänzt.
seit 843, Kaiser seit 875); Nachfolger: König Ludwig III. Im elften Lebensjahr ist er ein vollendeter Gram-
um 900 Bildung von Stammesherzogtümern: Bayern, Sachsen, matiker (grammaticus), drei Jahre später ein ver-
Franken, Schwaben, Thüringen, Lothringen sierter Jurist (lêgiste) und Meister der Theologie
um 950–1022 Notker III. von St. Gallen (Schulleiter und Übersetzer bibli- (alsô daz im dîvînitas / gar durchliuhtet was). Die
scher und philosophischer Schriften) Grammatik gehört zum Kanon der Freien Künste
918–1024 Ottonische Herrschaft (Artes liberales), der sich in zwei Fächergruppen
gliedert:

224
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Althochdeutsche Literatur

Trivium (drei redende Künste): »Wie nun allerdings diese unkultivierte Sprache insgesamt bäu-
N Grammatik: Lehre vom richtigen Reden und risch ist und ungebildet, nicht gewöhnt, sich dem lenkenden Zügel
Schreiben der Grammatik zu fügen, so ist auch bei vielen Wörtern die Schrei-
N Rhetorik: Lehre vom guten Reden und Schrei- bung schwierig, sei es wegen der Häufung von Buchstaben, sei es
ben wegen ihrer ungewöhnlichen Lautung. Denn bisweilen fordert sie,
N Dialektik (Logik): Schulung des begrifflichen wie mir scheint, drei u – die ersten zwei meines Erachtens konso-
Denkens nantisch lautend, während das dritte u den Vokalklang beibehält
Quadrivium (vier rechnende Künste): Geometrie, [z. B. uuuntar: Wunder] –, bisweilen konnte ich weder den Vokal
Arithmetik, Astronomie, Musik a noch ein e, noch ein i und auch nicht ein u vorsehen: in solchen
Die Bücher, an denen sich der Schulunterricht Fällen schien es mir richtig, y einzusetzen.« (Otfrid von Weißen-
orientiert, stammen vielfach aus der Antike. Auf burg, Evangelienbuch, Auswahl, hg., übersetzt und kommentiert
die Ausbildung in den Freien Künsten folgte gege- von Gisela Vollmann-Profe, Stuttgart 1987, S. 21).
benenfalls das Studium der Theologie, Medizin
und Jurisprudenz. Trotz dieser linguistischen Widrigkeiten ist Otfrid
Weitere institutionelle Orte der der literari- der Meinung, dass, neben den heiligen Bibelspra-
schen Bildung neben der Klosterschule waren die chen, auch das Fränkische des Gottesworts würdig
Domschulen, die den Bischofssitzen angegliedert. sei. Im ersten Kapitel seines Evangelienbuchs, in
Aus ihnen gingen die späteren Priesterseminare dem er Rechenschaft darüber ablegt, warum »der
hervor. Universitäten entstanden im Hochmittel- Schreiber dieses Buches in deutscher Sprache
alter. Zu den frühesten Universitätsgründungen (theotisce) schrieb«, führt er aus (I,1 33–40):
zählen Salerno (10. Jh.) für die medizinische Fa-
kultät, Bologna (um 1100) für die juristische Fakul- Uuánana sculun Fráncon éinon thaz biuuánkon,
tät und Paris (Anfang 12. Jh.) für die theologische ni sie in frénkisgon bigínnen, sie gotes lób singen?
Fakultät. Hartmann von Aue erzählt in seiner le- Níst si so gisúngan, mit régulu bithuúngan:
gendenhaften Novelle Der arme Heinrich, wie der si hábet thoh thia rihti in scóneru slíhtti.
an Aussatz erkrankte Protagonist Heilung in Saler- Ili du zi nóte, theiz scóno thoh gilute,
no sucht. Im Jahr 1248 richten die Dominikaner in ioh gótes uuizod thánne tharána scono hélle;
Köln das Studium Generale ein (Albertus Magnus), Tház tharana sínge, iz scóno man ginenne;
aus der 1388 die Kölner Universität hervorging. in themo firstántnisse uuir giháltan sin giuuísse.
Als im Jahr 1348 unter Kaiser Karl IV. in Prag die
erste deutsche Universität gegründet wird, gibt es (Warum sollten die Franken das als Einzige unterlassen
und nicht in der fränkischen Sprache zum Lob Gottes sin-
in Italien bereits fünfzehn, in Frankreich acht, in gen? Zwar wurde nie so mit ihr gesungen, nie wurde sie
Spanien sechs und in England zwei Universitä- mit Regeln erzwungen. Aber sie hat doch ihre Richtigkeit
ten. – Städtische Schulen wurden erst im Spätmit- in schöner Vollkommenheit. Beeile dich nur eifrig, so wird
telalter eingerichtet. sie doch vollkommen rein erklingen und auch Gottes Ge-
setz dadurch schön in ihr erschallen; all das lass erklin-
Gattungsspektrum: Die althochdeutsche Litera- gen, man wird es schön nennen, in seinem rechten Ver-
tur lässt sich in Vers- und Prosatexte aufteilen. ständnis können wir sicher sein.)
Auch die zumeist religiös geprägte Gebrauchslite-
ratur ist zu berücksichtigen. Otfrid vertritt die Auffassung, dass die Volksspra-
che, obwohl ihr die metrische Disziplin des Grie-
3.2.1.2 | Ästhetik/Poetik: chischen und Lateinischen noch fehle, dem Got-
Otfrid von Weißenburg teswort dennoch als Medium zu dienen vermöge,
wenn sie aus reinem Herzen gesprochen werde. Er
Eines der ersten und bedeutendsten ästhetischen malt diesen Gedanken mit einer eindrucksvollen
und poetologischen Zeugnisse der althochdeut- poetologischen Metapher aus. Wer auf rechtem
schen Literatur bietet Otfrid von Weißenburg in Fuß durchs Leben geht, wird auch für die Dich-
seinem Evangelienbuch (9. Jh.), einer gereimten tung den rechten Versfuß finden, und wer sein
Bearbeitung der biblischen Evangelien. In der la- Herz gottesfürchtig ordnet, wird auch geordnete
teinischen Widmung an den Mainzer Erzbischof Verse schreiben – denn Gott selbst wird durch ihn
erörtert Otfrid die Schwierigkeiten eines Dichters, sprechen (I,1 41–48):
der sich erstmals auf die deutsche Volkssprache
einlässt: Thaz láz thir uuesan súazi: so mézent iz thie fúazi,
zít ioh thiu régula; so ist gotes selbes brédiga.

225
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

Uuil thú thes uuola dráhton, thu métar uuolles áhton,


in thína zungun uuirken dúam ioh sconu vérs uuolles
dúan:
Il io gótes uuillen állo ziti irfúllen,
so scribent gótes thegana in frénkisgon thie regula;
In gótes gibotes súazi laz gángan thine fúazi,
ni laz thir zít thes ingán: theist sconi férs sar gidán.

(Das lass dir süß sein: So messen es [das Fränkische] auch


die Versfüße, die Quantität und die metrische Regel, so
wird Gott selbst zum Sprecher. Willst du sorgfältig danach
trachten, auf die Metrik achtzugeben, und durch eine
Zunge eine Ruhmestat vollbringen und schöne Verse ma-
chen, dann bemühe dich nur, Gottes Willen zu allen Zei-
ten zu erfüllen: Dann schreiben die Diener Gottes in einem
regelgemäßen Fränkisch. In der Süße von Gottes Gebot
lass deine Füße wandeln, lass keine Zeit vergehen: und
schon ist ein schöner Vers entstanden.)

Die poetische Erziehung der Volkssprache korre-


spondiert mit der moralischen Erziehung ihrer
Sprecher. Bibeldichtung ist eine ethische und äs-
thetische Veranstaltung zugleich. Auch für den Au-
torbegriff des geistlichen Dichters sind Otfrids
Ausführungen aufschlussreich. Der Bibeldichter
versteht sich ausschließlich als Mittler, die Rolle
des Schöpfers (lat. auctor) überlässt er Gott.

3.2.1.3 | Prosa
Typen althochdeutscher Prosatexte: Die Prosatex- Abrogans: Das erste deutschsprachige Buch
te der althochdeutschen Epoche stehen im Dienst
der lateinischen geistlichen Literatur, die sie auf ben (Marginalglossen) oder über (Interlinearglos-
dem Wege der Übersetzung verständlich machen sen) dem Text, den sie erläutern. Glossen können
sollen. Hinsichtlich ihrer Verpflichtung auf die Vor- zu Glossaren (Vokabularen) zusammengestellt
lage sind verschiedene Grade zu unterscheiden: werden. Das älteste deutsche Buch, der sogenann-
N Glossen und Glossare (Wortübersetzungen ne- te Abrogans (Mitte 8. Jh.), ist ein lateinisch-alt-
ben oder über dem Text) hochdeutsches Wörterbuch, das auf spätantiken
N Interlinearversionen (flektierte Wortüberset- und frühmittelalterlichen Glossaren beruht. Es
zungen zwischen den Zeilen) wird nach dem ersten lateinischen Wort benannt,
N Übersetzung religiöser Gebrauchstexte das es anführt: abrogans (demütig); die althoch-
N Bibelübersetzung deutsche Entsprechung lautet dheomodi.
Glossen und Glossare: Glossen sind keine eigen- Interlinearversionen stehen auf halbem Wege
ständigen Texte, sondern Verständnishilfen für den zwischen Glosse und Text. Dabei handelt es sich
lateinischen Text. Es handelt sich um Zuordnun- um Glossen, die horizontal zwischen den Zeilen
gen volkssprachlicher Wörter zu den lateinischen des lateinischen Textes angebracht sind. Im Unter-
Worten der Vorlage. Glossen stehen entweder ne- schied zu den Interlinearglossen sind die althoch-
deutschen Wörter hier gemäß den lateinischen
Althochdeutsche Prosatexte Bezugsworten flektiert. Ein Beispiel sind die Mur-
bacher Hymnen (frühes 9. Jh.). Der erste Hymnus
Abrogans (Vokabular, Mitte 8. Jh.) beginnt mit den Worten Mediae noctis tempore
Murbacher Hymnen (Interlinearversionen, frühes 9. Jh.) (»Zur Zeit der Mitternacht«); diese werden wie
Vaterunser aus St. Gallen (Gebet, spätes 8. Jh.) folgt glossiert: Mittera nahti zite.
Althochdeutscher Tatian (Bibelübersetzung, um 830) Religiöse Gebrauchstexte: Um Übersetzungen
im engeren Sinn handelt es sich bei der althoch-

226
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Althochdeutsche Literatur

deutschen Wiedergabe religiöser Gebrauchstexte. Althochdeutsche Versdichtungen


Diese Texte, zum Beispiel das Vaterunser oder das
Glaubensbekenntnis, sind nach wie vor dem Ver- Merseburger Zaubersprüche (Beschwörungs-
ständnis der lateinischen Vorlage verpflichtet; ei- formeln, erste Hälfte 8. Jh.)
nen eigenständigen Rang als volkssprachliche Li- Hildebrandslied (Heldendichtung, erste
teratur beanspruchen sie nicht. Eines der ältesten Hälfte 9. Jh.)
Beispiele ist das althochdeutsche Vaterunser aus Heliand (Bibeldichtung, erste Hälfte 9. Jh.)
St. Gallen (spätes 8. Jh.). Die Wortfolge hält sich Altsächsische Genesis (Bibeldichtung, erste
noch eng an die lateinische Vorlage, ergibt aber Hälfte 9. Jh.)
bereits einen lesbaren Text: Fater unseer thu pist in Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg
himile uuihi namun dinan (»Vater unser, du bist (Bibeldichtung, zweite Hälfte 9. Jh.)
im Himmel, weihe deinen Namen«). Georgslied (Religiöses Gedicht, Ende 9. Jh.)
Bibelübersetzung: Die erste deutsche Bibel- Ludwigslied (Politisches Gedicht, Ende 9. Jh.)
übersetzung stammt aus dem Frühmittelalter. Der
um das Jahr 830 entstandene Althochdeutsche Ta-
tian bietet eine Evangelienharmonie, d. h. eine Zu- sche Begegnung zweier heldenhafter Männer (he-
sammenführung des Matthäus-, Markus-, Lukas- lidos), Als der eine Heerführer, Hildebrand, sich
und Johannesevangeliums zu einer einheitlichen als Vater des anderen, Hadubrand, zu erkennen
Erzählung. Er basiert auf einem ursprünglich grie- gibt, misstraut dieser ihm und wird im Zweikampf
chischen oder syrischen, nur in lateinischer Fas- getötet.
sung erhaltenen Text, der um das Jahr 170 von ei-
nem Theologen namens Tatian verfasst und im Ik gihorta ðat seggen, Hildebrandslied
Kloster Fulda unter dem Abt Hrabanus Maurus ðat sih urhettun ænon muotin,
(† 856) von mehreren Übersetzern ins Deutsche Hiltibrant enti Haðubrant untar heriun tuem.
übertragen wurde. Die Nähe zur lateinischen Vor- sunufatarungo iro saro rihtun.
lage lässt sich an derjenigen Passage nachvollzie- garutun se iro guðhamun, gurtun sih iro suert ana,
hen, die auf dem Prolog des Johannesevangeliums helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun.
basiert. Die lateinischen Verse In principio erat ver-
bum et verbum erat apud deum et deus erat ver- (Ich hörte das sagen, dass sich die Herausforderer einzeln
gegenübergetreten seien, Hildebrand und Hadubrand,
bum werden wie folgt wiedergegeben: In anaginne zwischen zwei Heeren. Sohn und Vater, sie richteten ihre
uuas uuort inti thaz uuort uuas mit gote inti got Rüstungen. Sie bereiteten ihre Kampfgewänder, gürteten
selbo uuas thaz uuort (»Im Anfang war das Wort sich ihre Schwerter um, die Männer, über die Panzer.
und das Wort war mit Gott und Gott selbst war das Dann ritten sie zu dem Kampf.)
Wort«).
Zaubersprüche: Dem heroischen Themenkreis
können auch die Merseburger Zaubersprüche zuge-
3.2.1.4 | Verse
rechnet werden. Sie sind germanischen Ursprungs
Typen althochdeutscher Versdichtung: Die alt- und dürften in der ersten Hälfte des 8. Jh.s entstan-
hochdeutschen Versdichtungen lassen sich in drei den sein. Wie das Hildebrandslied wurden sie im
Gruppen einteilen: Kloster Fulda aufgeschrieben. Die in Stabreimen
N Heroische Dichtungen: Heldendichtung, Zau- verfassten Beschwörungsformeln sind thematisch
bersprüche auf Krieg und Kampf bezogen. Der eine Spruch
N Religiöse Dichtungen: Bibeldichtung, Heili- dient der Befreiung von Gefangenen, der andere
genlieder der Heilung verwundeter Pferde.
N Politische Dichtungen: Fürstenpreis Bibeldichtung: Die althochdeutschen Bibeldich-
Heldendichtung: Einziges erhaltenes Zeugnis der tungen beziehen sich auf die Bücher des Alten und
althochdeutschen Heldendichtung ist das Hilde- vor allem des Neuen Testaments. Im Unterschied
brandslied. Erhalten ist eine um 830/40 im Kloster zu den Bibelübersetzungen ordnen sie sich ihrer
Fulda entstandene, 68 Stabreimverse umfassende Vorlage nicht unter, sondern verfolgen einen poeti-
Abschrift. Der fragmentarisch überlieferte Text, schen Anspruch. Hervorzuheben sind einerseits
der altsächsische und hochdeutsche Dialektfor- die Altsächsische Genesis, andererseits der altsäch-
men mischt, dürfte bereits in der zweiten Hälfte sische Heliand und das althochdeutsche Evangeli-
des 8. Jh.s entstanden sein. Thema ist die tragi- enbuch Otfrids von Weißenburg (s. 3.2.1.2 und

227
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

3.2.2.4). Die nur in Bruchstücken erhaltene Alt- Schluss erhaltene Dichtung im Umfang von fast
sächsische Genesis entstand in der ersten Hälfte 6000 Versen, die auf der Basis von Tatians Evange-
des 9. Jh.s. Sie bietet eine dichterische Gestaltung lienharmonie (s. 3.2.1.3) sowie Bibelkommentaren
der biblischen Genesis, nimmt aber auch apokry- zeitgenössischer Theologen (Beda Venerabilis, Al-
phe Quellen hinzu. Die überlieferten Stabreimver- kuin, Hrabanus Maurus) die Lebensgeschichte
se beziehen sich auf drei Episoden: den Sündenfall Jesu nacherzählt. Der Heliand wurde, wie viele
Adams und Evas, den Brudermord Kains an Abel andere Stabreimdichtungen auch, mit Singstimme
und den Untergang der Stadt Sodom. vorgetragen; die Notation ist überliefert. Otfrids
In enger Verbindung mit der Altsächsischen Ge- Evangelienbuch, Ludwig dem Deutschen gewid-
nesis wird der Heliand gesehen, eine bis auf den met, zeichnet sich durch den Wechsel narrativer

Interpretationsskizze Das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg Tho quam bóto fona góte éngil ir hímile,
Dass die Geschichte der deutschen Literatur so- bráht er therera uuórolti diuri árunti.
gleich auf höchstem poetischem Niveau einsetzt, Floug er súnnun pad, stérrono stráza,
lässt sich an Otfrids Evangelienbuch demonstrie- uuega uuólkono zi theru ítis frono;
ren. Allerdings gab es auch Bibelübersetzungen, Zi édiles fróuun, sélbun sancta Máriun,
die auf sprachliche Eleganz und Raffinesse ver- thie fórdoron bi bárne uuarun chúninga alle.
zichten. Doch lag dies nicht an der Unbeholfen-
heit der Verfasser, sondern daran, dass sie die (Da kam ein Bote Gottes, ein Engel vom Himmel, und
brachte dieser Welt herrliche Botschaft. Er flog auf dem
Übertragung in den Dienst der lateinischen Vor- Sonnenpfad, der Sternenstraße, den Wolkenwegen zur
lage stellten. Otfrid hingegen zeigt, was er als erhabenen Herrin, zur edlen Frau, zur heiligen Maria.
Dichter kann. Ein schönes Beispiel bietet die Ver- Alle ihre Vorfahren waren Könige von Geschlecht zu Ge-
kündigungsszene. Im Lukasevangelium wird die schlecht.)
Ankunft des Engels bei Maria mit wenigen Wor-
ten abgetan: »In sechsten Monat wurde der Engel Otfrid schildert, was zwischen Entsendung und
Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Ankunft geschieht, nämlich die Flugbahn des
Nazaret zu einer Jungfrau gesandt. Sie war mit Engels vom Himmel zur Erde. Zu diesem Zweck
einem Mann namens Josef verlobt, der aus dem wählt er eine dreifache Phrase, deren poetische
Haus David stammte. Der Name der Jungfrau war Gestaltung von Stabreimen, Synonymen, Paral-
Maria. Der Engel trat bei ihr ein […]« (Lukas lelismen und Metaphern lebt. Der Engel fliegt
1,26–28). Die Sprache des Evangeliums ist auf dem Sonnenpfad, der Sternenstraße, den
schlicht. Sie beschränkt sich auf Namen und Fak- Wolkenwegen. Während Pfad, Straße und Weg
ten und entbehrt rhetorischer und poetischer eine gleichbedeutende Reihe ergeben, fügen
Gesten. Der szenische Anteil besteht allein darin, sich die Motive, mit denen sie sich verbinden,
Althochdeutsche dass der von Gott gesandte Engel in das Haus Ma- zu einem kosmologischen Gesamtbild zusam-
Bibeldichtung: rias eintritt. Otfrid belässt es nicht bei dieser kar- men, das Sonne, Sterne und Wolken umfasst.
Das Evangelienbuch Otfrids gen Information, sondern gestaltet eine poetische Die Beschreibung der Himmelsbahn mündet in
von Weißenburg Miniatur, die lyrische Qualität erreicht (I,5 3–8): den Preis der Jungfrau, der wiederum drei Teile
umfasst. Sie ist die erhabene Frau (ítis frono),
die edle Herrin (édiles fróuun), die heilige Ma-
ria (sélbun sancta Máriun). Auf diese Weise
strahlt die himmlische Herkunft des Engels auf
die Person der künftigen Gottesmutter aus. Den
Vorgang der Heiligung Marias, der als erzählter
Inhalt nur implizit zur Geltung kommt, bringt
die poetische Form auf eindrucksvolle Weise
zum Ausdruck. Assonanzen steigern den lyri-
schen Ton ins Melodische, wie die erste Zeile
zeigt. Den Anvers regiert das o (bóto fona góte),
den Abvers das i (éngil ir hímile) – ein effekt-
voller Vokalsprung.

228
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Frühmittelhochdeutsche
Literatur

und exegetischer Passagen aus. Letztere beziehen che) je nach Bedeutungskontext mit zwölf ver-
sich auf theologische Bibelkommentare und folgen schiedenen Entsprechungen wiedergibt. Ein Bei-
der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn. spiel für Notkers Übersetzungstechnik bietet der
Heiligenlieder: Ein Beispiel für religiöse Gedich- erste Vers von Psalm 22 (nach Luthers Zählung
te der althochdeutschen Literaturepoche bietet das Psalm 23). Zunächst wird der lateinische Satz zi-
formal komplexe, für den Wechselgesang be- tiert; dann folgen die deutsche Übersetzung sowie
stimmte Georgslied. Der älteste deutsche Legen- bei Bedarf eine mischsprachliche Erläuterung: DO-
dentext feiert den Ritterheiligen Georg, der hier MINUS REGIT ME ET NIHIL MIHI DEERIT. Truhten
nicht als Drachentöter, sondern als Märtyrer vorge- selbo rihtet mih, chît ecclesia de Christo, unde nîeh-
stellt wird, der die Bekehrung der Gattin eines tes ne brístet mir (»Der Herr selbst leitet mich – das
heidnischen Tyrannen mit vielfachen Todesstrafen sagt die Kirche von Christus – und nichts fehlt
bezahlt. mir«).
Fürstenpreis: Das älteste bekannte Zeugnis po-
litischer Dichtung in deutscher Sprache ist das 59
Reimpaarverse umfassende Ludwigslied. Es preist 3.2.2 | Frühmittelhochdeutsche Literatur
den gottgefälligen Lebenswandel des westfränki- (1050–1170)
schen Königs Ludwig III. († 882) sowie, in heilsge-
schichtlicher Überhöhung, seinen Sieg über die 3.2.2.1 | Literatur im Kloster
heidnischen Normannen. Das Thema der Über-
(von Geistlichen für Laien)
windung der Heiden durch die Christen verbindet
das Ludwigslied mit dem Georgslied, nur dass an Nach einer Unterbrechung der deutschen Litera-
die Stelle des Heiligen der gottesfürchtige Herr- turgeschichte für die Dauer von 150 Jahren (von
scher tritt. Notker III. abgesehen, s. 3.2.1.5) setzt um 1050 die
Epoche der mittelhochdeutschen Literatur ein.
Ihre erste Phase, die frühmittelhochdeutsche Lite-
3.2.1.5 | Exkurs: Notker III. von St. Gallen:
ratur (1050–1170), steht in keiner Verbindung mit
Ein Gelehrter des 11. Jahrhunderts
der althochdeutschen Literatur, weist aber doch
In der Geschichte der althochdeutschen Literatur manche Parallelen auf. Sie ist weiterhin an die In-
nimmt Notker III. von St. Gallen († 1022) eine Son- stitution des Klosters gebunden, behandelt vor
derstellung ein. Die Schaffenszeit des Mönchs, der allem religiöse Inhalte und wird von Geistlichen
die Klosterschule von St. Gallen leitete und ein um- verfasst. Sie beschränkt sich nicht mehr auf die
fangreiches gelehrtes Übersetzungswerk verfasste, Klosterschule, sondern wendet sich zunehmend Klerikales
fällt in die Wende vom 10. zum 11. Jh. Nach dem an ein Laienpublikum, darunter Nonnen und Bildungsmonopol
Ende der Blütezeit im 9. Jh. war die Produktion alt- weltliche Fürsten. Das klerikale Bildungsmonopol
hochdeutscher Literatur fast zum Erliegen gekom- bleibt intakt. Am literarischen Leben, das nicht
men. Im 10. Jh. wurden bedeutende literarische länger im Zeichen eines zentralen Kulturpro-
Werke nur in lateinischer Sprache abgefasst. Her- gramms steht, nehmen erstmals auch Frauen teil –
vorzuheben ist Hrotsvit von Gandersheim († nach nicht nur als Rezipientinnen, sondern auch als
973), eine Verwandte des Kaiserhauses, die als Ka- Autorinnen (Frau Ava).
nonisse im niedersächsischen Stift Gandersheim Die frühmittelhochdeutsche Dichtung entstand
lateinische Verslegenden, Lesedramen und histo- im ostfränkischen Reich während der Herrschaft
rische Werke schrieb. Notker machte sich als der Salier, einer Epoche des gesellschaftlichen und
Übersetzer lateinischer Wissensliteratur um die wirtschaftlichen Aufschwungs (Dreifelderwirt-
deutsche Literatur verdient. Er übersetzte nicht schaft, Bevölkerungszuwachs, Landesausbau) und
nur den gesamten Psalter, sondern vermittelte des religiösen Aufbruchs (Klosterreformen, Grün-
auch bedeutende Werke der antiken Philosophie dung des Zisterzienserordens, Mystik). Reich (Kai-
(Seneca, Cicero, Boethius) und Enzyklopädie ser Heinrich IV.) und Kirche (Papst Gregor VII.)
(Martianus Capella) in die deutsche Volkssprache. rivalisierten im Investiturstreit um die Vormacht
Notkers eher kommentierende als wortgetreue und veranstalteten gemeinsam den ersten Kreuz-
Übersetzungen zielen in erster Linie auf Verständ- zug.
lichkeit sowie auf die Wahl des jeweils angemesse- Gattungsspektrum: Für die frühmittelhoch-
nen deutschen Ausdrucks. Man hat nachgewiesen, deutsche Literatur empfiehlt sich wiederum die
dass er das lateinische Wort causa (Grund, Ursa- Aufteilung in Prosatexte und Versdichtungen.

229
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

Personen und Ereignisse des Hochmittelalters (11./12. Jh.) Der Prolog zum St. Veit, in dem der Dichter Gott
als (himmlischen) Kaiser aller (irdischen) Könige
1024–1125 Herrschaft der Salier anruft, bietet ein eindrückliches Beispiel.
um 990–1039 Kaiser Konrad II. (König seit 1024, Kaiser seit 1027)
1017–56 Kaiser Heinrich III. (König seit 1028, Reichsregentschaft Cheiser aller chunige,
seit 1039, Kaiserkrönung 1046) ja lobet dich diu menege
um 1010–1085 Williram von Ebersberg (Abt seit 1048, Verfasser eines der engel von himele.
dt. Hoheliedkommentars) ouch fleget dich hie nidene
1054 Schisma zwischen römischer und griechischer Kirche diu irdiske diet.
1050–1106 Kaiser Heinrich IV. (König seit 1053, Kaiser seit 1084, diu nelazet daz niet,
Abdankung 1105) si nebete an dine magencraft,
um 1010–1075 Erzbischof Anno II. von Köln (Erzbischof seit 1056) wan si ist din hantkescaft
um 1060–1127 Frau Ava, erste Dichterin in deutscher Sprache die du gescuofe von der erde.
(Bibeldichtung) nu ruoche des gewerden
1066 Schlacht bei Hastings, Eroberung Englands durch daz du mich erhore:
die Normannen ich wil eine rede erboren,
1020/25–85 Papst Gregor VII. (Papst seit 1073) diu ist also lobesam,
1075 Beginn des Investiturstreits fon einem heiligem man,
1077 Canossa fon dem guoten sancte Vite.
1096–99 Erster Kreuzzug: Eroberung Jerusalems er dienet dir alle zite
1098 Gründung des Zisterzienserordens in siner chintheite.
1086–1125 Kaiser Heinrich V. (König seit 1098, Kaiser seit 1106) er was ie gereite
1090–1153 Bernhard von Clairvaux (Gründung des Klosters ze dinem dieneste.
Clairvaux: 1115) nu ferlich mir der liste
1122 Wormser Konkordat, Ende des Investiturstreits durch die sine minne,
1137–1254 Herrschaft der Staufer daz ich si fure bringe
1093–1151 König Konrad III. (König seit 1138) al nach din eren,
1147–49 Zweiter Kreuzzug zue lobe dem heiligen herren.

(Kaiser aller Könige, wahrlich, es preist dich die Menge


der Engel aus dem Himmel. Auch verehren dich hier unten
Zur Prosa zählen religiöse Gebrauchstexte wie die irdischen Menschen. Sie können nicht anders, als
Gebete und Predigten sowie anspruchsvolle alle- deine Allmacht anbeten; denn sie sind deine Geschöpfe,
gorische Deutungen der Bibel und der Schöp- die du aus Erde geschaffen hast. Dies bedenkend, mögest
fung. Auch die Versdichtungen sind geistlich ge- du mich erhören. Ich will mit einer lobenswerten Erzäh-
lung anheben von einem heiligen Mann, vom frommen
prägt. Sie umfassen genuin religiöse Textsorten Sankt Veit. Er diente dir jederzeit in seiner Jugend; er war
wie Bibeldichtung, Glaubensdichtung, Marien- stets dir zum Dienst bereit. Nun verleih mir um seiner
dichtung und Heiligenlegende, aber auch solche Liebe willen die Fähigkeit, dies zu erzählen, dir zur Ehre
Texte, die einen geistlichen Blick auf weltliche und zum Preis des Heiligen.)
Verhältnisse werfen, darunter Morallehre und
Ständekritik sowie politische und historiographi- Der Dichter behält weiterhin Gott die alleinige Au-
sche Dichtung. torschaft vor, zeigt sich aber doch vom Glauben da-
ran erfüllt, dass er bei rechter innerer Haltung zum
Medium der göttlichen Stimme werden könne.
3.2.2.2 | Ästhetik/Poetik:
Annolied: Dem steht andererseits eine Position
St. Veit und Annolied
gegenüber, die nicht ohne weiteres darauf zählt,
Aus den Prologen der frühmittelalterlichen Vers- die Präsenz des Göttlichen in der Welt lesbar zu
dichtungen lassen sich zwei gegenläufige poetolo- machen, sondern im Gegenteil die Differenz zwi-
gische Positionen ablesen. Einerseits begegnen, schen dem Göttlichen und dem Menschlichen be-
wie schon in Otfrids Evangelienbuch, zahlreiche tont und das irdische Dasein als Fremde versteht.
Inspirationsbitten, in denen die Personen der gött- In dieser Sichtweise ist jede Dichtung mündlicher
lichen Trinität oder die Gottesmutter Maria ange- oder schriftlicher Art abzulehnen, die auf die Dar-
rufen werden, damit sie dem Dichter oder der stellung der irdischen Geschichte zielt, ohne sie
Dichterin Geist und Feder führen. in die heilsgeschichtliche Perspektive zu rücken.

230
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Frühmittelhochdeutsche
Literatur

Hierfür bietet der Prolog zum Annolied ein Bei- Frühmittelhochdeutsche Prosatexte
spiel, dessen erste Verse an die Prologstrophe des
(freilich erst um 1200 entstandenen) Nibelungen- Williram von Ebersberg: Expositio in Cantica
lieds erinnern: canticorum (1069)
Älterer Physiologus (um 1070)
Wir hôrten ie dikke singen Neuerer (Wiener) Physiologus (um 1120)
von alten dingen: St. Trudperter Hohelied (um 1140)
wî snelle helide vuhten,
wî si veste burge brêchen,
wî sich liebin vuiniscefte schieden, Opus im Jahr 1069 abschloss und Kaiser Heinrich
wî rîche kunige al zegiengen. IV. widmete (Expositio in Cantica canticorum);
nû ist cît, daz wir dencken, zum anderen das in den 1140er Jahren entstan-
wî wir selve sulin enden. dene, für einen Frauenkonvent bestimmte
Crist, der vnser héro gůt, St. Trudperter Hohelied. Willirams weit verbreiteter
wî manige ceichen her vns vure důt, Kommentar legt das Hohelied im Sinne der früh-
alser ûffin Sigeberg havit gedân mittelalterlichen Theologie allegorisch auf das Ver- Verhältnis von Christus
durch den diurlîchen man, hältnis von Christus (Bräutigam) und Kirche und Kirche
den heiligen bischof Annen, (Braut) aus. Er ist, einer antiken Tradition entspre-
durch den sînin willen. chend, in drei Kolumnen angelegt. In der Mitte
dabî wir uns sulin bewarin, steht der lateinische Referenztext. Die linke Spalte
wante wir noch sulin varin bietet eine poetische Paraphrase in lateinischen
von disime ellendin lîbe hin cin êwin, Hexametern, die rechte Spalte eine deutsche Über-
dâ wir îmer sulin sîn. setzung samt einem Kommentar in lateinisch-
deutscher Mischsprache. So heißt es zu Vers 1,2:
(Wir hörten immer wieder singen von Taten aus alter Zeit: Cússer míh mit démo cússe sînes múndes. Dícco
Wie tapfere Helden kämpften, wie sie feste Plätze zerstör-
ten, wie herzliche Freundschaften zerbrachen, wie mächtige
gehîezzer mir sîne chuônft per prophetas. nu cúme
Könige zugrundegingen. Nun ist es Zeit, daran zu denken, er sélbo unte cússe mih mít déro suôze sînes euan-
wie unser Ende sein wird. Christus, unser gnädiger Herr – gelii (»Er küsse mich mit dem Kuss seines Mun-
wie viele Wunderzeichen tut er doch vor unseren Augen, des. – Oft verhieß er mir seine Ankunft durch die
wie er es auf dem Siegberg [Kloster Siegburg] durch und für
den herrlichen Mann, den heiligen Bischof Anno, getan hat.
Propheten. Nun komme er selbst und küsse mich
Darum sollen wir uns um unsere Rettung sorgen, denn wir mit der Süße seines Evangeliums«). Das St. Trud-
werden einst aus diesem Leben in der Fremde in die Ewig- perter Hohelied greift Willirams Übersetzung auf,
keit kommen, wo wir für immer bleiben werden.) modernisiert aber den Kommentar im Sinne der
Mystik des 12. Jh.s. Die Braut wird nicht mehr kol-
Die beiden Positionen verhalten sich komplemen- lektiv als Bild der Kirche, sondern subjektiv als
tär zueinander. Zwar ist die eine Weltsicht eher Bild der Gottesmutter Maria bzw. der gläubigen
optimistisch, die andere eher pessimistisch, doch Seele des Menschen gelesen. Der Kuss der Braut-
sind beide auf den heilsgeschichtlichen Horizont leute erscheint als erotische Metapher der mysti-
des christlichen Glaubens bezogen. schen Vereinigung (unio mystica) mit Gott: er was Unio mystica
der KÜSSENDE, sie minnende. si was diu GEKUS-
TE, in minnende (»Er war der Küssende, der sie
3.2.2.3 | Prosa
liebte. Sie war die Geküsste, die ihn liebte«).
Im Mittelpunkt der frühmittelhochdeutschen Pro- Geistliche Naturkunde: Die frühmittelhochdeut-
sa steht – von der umfangreichen Gebets- und Pre- sche Naturdeutung basiert auf spätantiken Traditi-
digtliteratur abgesehen – die geistlich deutende onen. Hervorzuheben ist der Physiologus (s. Kap.
Literatur. Sie befasst sich mit der Auslegung der III.1.1.2), ein ursprünglich in griechischer Sprache
Heiligen Schrift und der göttlichen Schöpfung, die verfasstes Werk, das die Erscheinungen der Natur
jeweils als Medien der Selbstoffenbarung Gottes (Pflanzen, Steine, Tiere) auf ihren heilsgeschichtli-
verstanden wurden. chen Sinn hin auslegt. Die älteste deutsche Fas-
Bibelkommentare: Aus den Werken, die sich sung, der Ältere Physiologus, entstand um das Jahr
der Erschließung der Bibel widmen, ragen zwei 1070; der Jüngere (Wiener) Physiologus, der später
hervor: zum einen der Hoheliedkommentar des in Reimpaarverse umgearbeitet wurde (Millstätter
bayerischen Abts Williram von Ebersberg, der sein Physiologus), fünfzig Jahre später (um 1120).

231
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

Frühmittelhochdeutsche Versdichtungen des 11. Jh.s ersten Buchs des Pentateuch (fünf Bücher Mose).
Die anspruchslos gereimte, plastisch erzählte Dich-
Ezzolied (um 1060) tung ist mit moralischen Einschüben angereichert;
Altdeutsche (Wiener) Genesis (um 1060/80) sie schließt mit dem Segen Jakobs, der allegorisch
Annolied (um 1080) auf die Erlösungstat Jesu bezogen wird.
Noker: Memento mori (zweite Hälfte 11. Jh.) Das Annolied wurde etwa im Jahr 1080 in Köln
oder dem nahe gelegenen Kloster Siegburg ver-
fasst. Die Originalhandschrift ist verschollen; frü-
hestes erhaltenes Zeugnis ist der kommentierende
3.2.2.4 | Verse
Erstdruck von Martin Opitz aus dem Jahr 1639.
Frühmittelhochdeutsche Versdichtungen: Aus Das Lied verbindet Heils-, Welt- und Reichsge-
frühmittelhochdeutscher Zeit sind etwa siebzig schichte mit der Biographie des Kölner Erzbischofs
Versdichtungen überliefert, oftmals nur fragmenta- Anno II. Es ist eine Propagandaschrift für den spä-
risch. Fünf entstammen dem 11., alle übrigen dem ter heiliggesprochenen Kirchenfürsten, der einen
12. Jh., vorwiegend dessen erster Hälfte. Wie Aufstand der Kölner Bürger brutal niederschlagen
schon Otfrids Evangelienbuch, mit dem sie in kei- ließ (zum Prolog des Annolieds, der sich explizit
ner direkten Verbindung stehen, sind sie aus Reim- von weltlicher Heldenepik abgrenzt, s. 3.2.2.2).
paarversen gebildet, die man auch als binnenge- Das Memento mori ist eine gereimte Bußpre-
reimte Langverse gedeutet hat. Metrum und Reim digt, die den Gläubigen an den Tod erinnert und
sind locker gehandhabt. Die Verse umfassen nicht zu wohltätigem Leben auffordert. Das Gedicht
immer vier Hebungen; statt Vollreime weisen sie stammt von einem gewissen Noker, bei dem es
oft Endsilbenreime oder Assonanzen auf. sich um den in Hirsau ausgebildeten Abt Notker
Die Versdichtungen des 11. Jh.s sind, dem von Zwiefalten handeln dürfte.
christlichen Weltbild entsprechend, heilsgeschicht- Die frühmittelhochdeutsche Versdichtung des
lich orientiert. Am Anfang steht das Ezzolied. Das 12. Jh.s widmet sich folgenden Themenkreisen:
Gedicht, eine Auftragsarbeit des Bischofs von Bibeldichtung: Hervorzuheben sind der Alt-
Bamberg, wurde um das Jahr 1060 von einem Kle- deutsche Exodus und die Dichtungen der Frau Ava.
riker namens Ezzo verfasst. Es bietet eine konzen- Der Altdeutsche Exodus, eine Fortsetzung der Alt-
trierte Heilsgeschichte, die einen Bogen von der deutschen (Wiener) Genesis, gibt das zweite Buch
Schöpfung bis zum Leben Jesu schlägt. Mose wieder. Die für ein adliges Publikum be-
Der älteste epische Text der frühmittelhochdeut- stimmte Dichtung verzichtet auf theologische Deu-
schen Epoche ist die mehr als 6000 Verse umfassen- tungen der biblischen Geschichten, die sie in deut-
de Altdeutsche (Wiener) Genesis (um 1060/80), eine schen Versen nacherzählt. Frau Ava, die erste
gereimte Nacherzählung und Kommentierung des bekannte Dichterin deutscher Sprache, stellt sich
als Mutter zweier Kinder vor. Sie dürfte mit einer
Frühmittelhochdeutsche Versdichtungen des 12. Jh.s (Auswahl) 1127 in oder bei Melk bezeugten Inkluse identisch
sein. Die Zeitgenossin Hildegards von Bingen ver-
Altdeutsche Exodus (Anfang 12. Jh.) fasste einen Zyklus von vier Gedichten zum Neu-
Frau Ava: Johannes [der Täufer], Leben Jesu, Antichrist, Jüngstes Gericht en Testament: Johannes (der Täufer), Leben Jesu,
(vor 1127) Antichrist und Jüngstes Gericht.
Armer Hartmann: Rede vom Glauben (1140/60) Glaubensdichtung: Der zweite Themenkreis ist
Heinrich: Litanei (nach 1150) katechetisch orientiert. Ihm gehören eine Reihe
Kaiserchronik (Mitte 12. Jh.) von Glaubensdichtungen an, darunter das Gedicht
Trierer Aegidius (um 1160) Anegenge, die Rede vom Glauben und eine Litanei.
Der wilde Mann: Van der girheit (um 1170) Auf der Schwelle von der Bibel- zur Glaubensdich-
Priester Wernher: Driu liet von der maget (1172) tung steht das Lehrgedicht Anegenge (›Anfang‹),
Anegenge (um 1170–1180) eine über 3000 Verse umfassende Nacherzählung
Mariensequenz aus Muri (um 1180) des Alten und Neuen Testaments mit dogmati-
»Heinrich von Melk«: Erinnerung an den Tod, Vom Priesterleben schen Erläuterungen. Die Rede vom Glauben, ein
(zweite Hälfte 12. Jh.) Lehrgedicht im Umfang von 3800 Versen, zitiert
Trierer Sylvester (zweite Hälfte 12. Jh.) das lateinische Glaubensbekenntnis und übersetzt
Priester Arnolt: Juliane (um 1150) und kommentiert es in der Rolle eines Bußpredi-
gers, der sich Armer Hartmann nennt. Von einem

232
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Frühmittelhochdeutsche
Literatur

gewissen Heinrich stammt die Litanei, eine deut- dendichtungen zum Leben der Heiligen und der
sche Bearbeitung der liturgischen Allerheiligenlita- Gottesmutter Maria. Die Legenden der Heiligen
nei samt Gebeten an die Trinität, die Heiligen und Andreas, Veit, Albanus und Alexius sind fragmen-
Christus. Ferner sind Übersetzungen lateinischer tarisch überliefert; vollständig erhalten sind der
geistlicher Lieder zu nennen. Das prominenteste Trierer Sylvester und der Trierer Aegidius sowie die
Beispiel ist die auf der lateinischen Mariensequenz Juliane des Priesters Arnolt. Eine Marienlegende
Ave praeclara maris stella basierende Mariense- bietet der Priester Wernher, Verfasser der Driu liet
quenz aus Muri. von der maget. Das im Jahr 1172 wahrscheinlich in
Legendendichtung: Der dritte Themenkreis ist Augsburg entstandene Gedicht stützt sich auf das
hagiographisch ausgerichtet. Er umfasst Legen- apokryphe Evangelium des Pseudo-Matthäus, eine

Die Mariensequenz aus Muri Der Übersetzer behält die Anrede Ave Maria und Interpretationsskizze
Im 11. Jh. schrieb der Mönch Hermann von Rei- die zentrale Metapher maris stella bei, um den
chenau († 1054) die Mariensequenz Ave prae- Bezug des deutschen Lieds zur lateinischen Vor-
clara maris stella, ein liturgisches Lied zu Ehren lage zu markieren. Das Attribut praeclara gibt er
der Gottesmutter Maria. Die erste Strophe, das wörtlich mit der Formulierung vil liehtu wieder.
sogenannte Präludium, verknüpft den biblischen Die Adverbiale in lucem gentium wandelt er ab,
Gruß des Verkündigungsengels (Lukas 1,28: Ave indem er den allgemeinen Begriff ›Volk‹ (gens)
Maria) mit der preisenden Metapher des Meer- durch die spezifische Bedeutung ›Christenheit‹
sterns: ersetzt: ein lieht der cristinheit. Den in seiner
wörtlichen und allegorischen Bedeutung schwie-
Ave, praeclara maris stella,
rigen Vers divinitus orta gibt er zugunsten einer
in lucem gentium, Maria,
neuen Metapher auf, die das Bildfeld der Leucht-
divinitus orta.
körper variiert: Maria ist die Laterne der Jung-
(Sei gegrüßt, Maria, du leuchtender Stern des Meeres, der frauen (alri magide lucerna). Wenn der Überset-
von Gott her als Licht für die Völker aufgegangen ist.)
zer für das neue Motiv ein lateinisches Lehnwort
Wie der Meerstern – gemeint ist der Planet Ve- (lucerna) benutzt, so bekräftigt er, dass der Ein-
nus – den Seefahrern Orientierung gibt, so soll griff in den lateinischen Text dessen Verbindlich-
die Himmelskönigin Maria die Christenheit er- keit nicht in Frage stellt. Die Umgestaltung des
leuchten und ihr den Weg zu Gott weisen. letzten Verses resultiert in einer veränderten
Das formal und inhaltlich höchst anspruchsvolle Komposition der gesamten Strophe, die nunmehr
Lied ist in Mittelalter und früher Neuzeit immer dem Prinzip einer dreistufigen Klimax folgt: Ma-
wieder ins Deutsche übertragen worden. Unter ria ist Stern des Meeres, Licht der Christenheit,
den Bearbeitern, die sich dieser Herausforderung Leuchte der Jungfrauen. Die Variation der Meta-
gestellt haben, finden sich so illustre Persönlich- phern (Stern, Licht, Leuchte) geht mit einer zu-
keiten wie der spätmittelalterliche »Mönch von nehmenden Fokussierung einher. Das Licht ist
Salzburg« (14. Jh.) und der Humanist Sebastian zunächst auf das Meer (Bildebene), dann auf die
Brant, den man vor allem als Verfasser des Nar- Christenheit (Sachebene) und schließlich auf den
renschiffs kennt († 1521). Stand der Jungfrauen bezogen.
Die früheste vollständige Übersetzung, die soge- So zeichnen sich in der ersten Strophe zwei Ten-
nannte Mariensequenz aus Muri (einem Kloster denzen ab, die für die frühmittelhochdeutsche
im Schweizer Kanton Aargau), entstand bereits Bearbeitung insgesamt charakteristisch sind: ei-
um 1180. Sie bietet ein schönes Beispiel für die nerseits der Anspruch, das lateinische Original
frühmittelhochdeutsche Übersetzungspraxis. Die getreu wiederzugeben, andererseits die Bereit-
erste Strophe lautet: schaft, schwer verständliche Passagen frei wie-
derzugeben und das Konzept der Vorlage umzu-
Ave, vil liehtu maris stella, gestalten. Vorlagentreue entscheidet sich für den
ein lieht der cristinheit, Maria, Übersetzer nicht am Wort, sondern am Sinn, und
alri magide lucerna. den rechten Sinn leitet er eher von den Bedürf-
(Sei gegrüßt, sehr leuchtender Meerstern, / ein Licht für nissen der volkssprachlichen Rezipienten als von
die Christenheit, Maria / eine Leuchte aller Jungfrauen.) den Absichten des lateinischen Autors her.

233
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

vor Mitte des 9. Jh.s angelegte Sammlung volks- Karl was scône,
tümlicher Erzählungen über Maria. Dieses erste Karl was genædic,
epische Mariengedicht in deutscher Sprache ent- Karl was sælic,
stand gleichzeitig mit den ältesten höfischen Dich- Karl was teumuote,
tungen. Es erzählt frühe Episoden aus dem Leben Karl was stæte,
der Gottesmutter von der Geburt Marias bis zur unt hête iedoch die guote.
Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten. Karl was lobelîch,
Morallehre und Ständekritik: Der vierte The- Karl was vorhtlîch,
menkreis ist didaktisch geprägt, er umfasst Moral- Karlen lobete man pillîche
lehre und Ständekritik. Der »Wilde Mann«, ein aus in Rômiscen rîchen
dem mittelfränkischen Sprachgebiet stammender vor allen werltkunigen:
Kleriker, schrieb in den 1170er Jahren zeitkritische er habete di aller maisten tugende.
Dichtungen, darunter eine Morallehre mit dem Ti-
tel Van der girheit, die sich vermutlich an die Bür- (Karl war ein wahrer Gotteskrieger, er bezwang die Heiden
zum Christentum. Karl war kühn, schön, gnädig, selig, de-
ger der Stadt Köln richtete. »Heinrich von Melk«, mütig, treu und gütig. Karl war lobenswert und gefürchtet,
dessen Herkunft aus dem Kloster Melk zweifelhaft man lobte ihn zu Recht im Römischen Reich vor allen Kö-
ist, verfasste in der zweiten Hälfte des 12. Jh.s nigen der Welt, dass er die allergrößte Tugend besäße.)
zwei ständekritische Dichtungen. Die Erinnerung
an den Tod enthält ein Memento mori; sie wirft Karl erscheint hier nicht nur als erster, sondern
Rittern, die mit Heldentaten und Frauengeschich- auch als größter deutscher Kaiser, der allen Nach-
ten (ir ruom ist niwan [nur] von den wîben) prah- folgern als strahlendes Vorbild vorangeht. Der stau-
len, Überheblichkeit vor. Die Strafpredigt Vom fische Kaiser Friedrich I. Barbarossa sorgte wenig
Priesterleben ist gegen Kleriker gerichtet, die sich später für die Heiligsprechung des karolingischen
der Völlerei, Unzucht, Eitelkeit und Simonie (Äm- Kaisers. Von der überragenden Bedeutung, die Karl
terkauf) schuldig machen. der Große in der Literatur des deutschen und fran-
Geschichtsdichtung: Der fünfte Themenkreis ist zösischen Mittelalters einnahm, zeugt auch die
historiographisch geprägt. Hervorzuheben ist die früh einsetzende Tradition der volkssprachlichen
Kaiserchronik; sie gilt als das bedeutendste, um- Karlsepik, eine Sparte der Heldenepik, die Karl in
fänglichste und erfolgreichste Werk der frühmittel- ähnlicher Weise zum idealen Herrscher stilisiert
hochdeutschen Literatur insgesamt (s. 3.2.2.5). wie die Artusromane König Artus und die Tristan-
romane König Marke (s. 3.2.3.4).
3.2.2.5 | Exkurs: Die Kaiserchronik
Die Kaiserchronik stammt aus der Feder eines Re- 3.2.3 | Mittelhochdeutsche Literatur
gensburger Geistlichen, der die 17 283 Verse um-
(1170–1220)
fassende Reimpaardichtung in der Mitte des
12. Jh.s fertigstellte. Die ursprüngliche Fassung des
3.2.3.1 | Literatur am Hof (von Laien für Laien)
historiographischen Werks, das die Geschichte des
Römischen Reiches von der Antike bis in die Ge- Um 1170 beginnt an den weltlichen Fürstenhöfen
genwart des Verfassers erzählt, ist in 15 Textzeu- ein eigenständiger Literaturbetrieb, der sich der
gen erhalten. Von der regen Rezeption bis in das Volkssprache bedient. Die Höfe brechen das geist-
16. Jh. hinein zeugen auch zwei jüngere Redaktio- liche Bildungsmonopol auf und stellen der klerika-
nen mit 22 Handschriften sowie diverse Prosaauf- len Literatur ein laikales Gegenstück zur Seite. Die
lösungen und Teilüberlieferungen. Den Rahmen höfische Dichtung, deren Blütezeit bis 1220 reicht,
der Kaiserchronik bietet die Abfolge von 36 römi- orientiert sich zunächst an romanischen Vorbil-
schen und 19 deutschen Kaisern. Die Reihe der dern. Die Gattungen des höfischen Romans und
deutschen Herrscher reicht von Karl dem Großen der höfischen Lyrik, aber auch der Heldenepik,
bis zu Konrad III., dem ersten staufischen König. sind ohne die schon einige Jahrzehnte früher ein-
Über Karl den Großen heißt es (v. 15.073–15.087): setzende Tradition der französischen und proven-
zalischen Hofliteratur nicht zu denken. Die höfi-
Karl was ain wârer gotes wîgant, sche Dichtung wird zunächst wesentlich vom
die haiden er ze der cristenhaite getwanc. Stand der Ministerialen getragen, d. h. von schrift-
Karl was chuone, und lateinkundigen Laien, die an Kloster- oder

234
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelhochdeutsche
Literatur

Personen und Ereignisse des Hochmittelalters (12./13. Jh.)

1120–80 Ludwig VII., König von Frankreich (König seit 1137)


nach 1122–90 Kaiser Friedrich I. Barbarossa (König seit 1152, Kaiser seit 1155)
1133–89 Heinrich II. Plantagenêt, König von England
(König seit 1154)
1165 Heiligsprechung Karls des Großen
1138–93 Saladin, Sultan von Ägypten (Regentschaft seit 1171)
1184 Mainzer Hoftag
1189–92 Dritter Kreuzzug: Tod Barbarossas (1190)
1165–97 Kaiser Heinrich VI., Sohn Barbarossas (König seit 1169, Kaiser seit 1191)
1160/61–1216 Papst Innozenz III. (Papst seit 1198)
1177–1208 König Philipp von Schwaben, Sohn Barbarossas (König seit 1198), Gegenkönig Otto
IV. (Welfe, Königswahl 1198)
1202–04 Vierter Kreuzzug: Eroberung Konstantinopels
1208 Ermordung Philipps von Schwaben
1209 Kaiserkrönung Ottos IV.
1194–1250 Kaiser Friedrich II., Sohn Heinrichs VI. (König seit 1196, erneute Königswahl 1212,
Kaiser seit 1220)

Domschulen ausgebildet wurden, dann aber in Gattungsspektrum: Die höfische Literatur ist
den Dienst der Fürstenhöfe traten. Der Adel selbst zum größten Teil Versdichtung. Lyrik und Hel-
versuchte sich an der Kunst des hohen Minne- denepik sind in Strophen verfasst, die höfischen
sangs. Die didaktische Gattung der Sangspruch- Romane und Novellen in Reimpaarversen. Zu nen-
dichtung wurde von fahrenden Sängern mit wech- nen sind ferner pragmatische Texte, insbesondere
selnden Engagements an Fürstenhöfen ausgeübt. Hoflehren, die teils in Strophen und teils in Reim-
Insgesamt ist die höfische Dichtung, die zuneh- paarversen gestaltet sind. Die Gattung des Dramas
mend in die Hände von Berufsdichtern überging, ist in der höfischen Dichtung nicht vertreten.
Auftragskunst fürstlicher Mäzene zum Zwecke ge-
sellschaftlicher Selbstrepräsentation.
›Staufische Klassik‹: Die bekanntesten Werke
der mittelhochdeutschen Literatur entstanden im
Jahrhundert der staufischen Herrschaft. Heinrich
von Veldeke vergleicht im Eneasroman die Hoch-
zeit des Protagonisten mit dem prächtigen Hoftag,
den Kaiser Friedrich I. Barbarossa 1184 in Mainz
veranstaltete. Sein Sohn, Kaiser Heinrich VI., trat
selbst als Minnesänger auf. Im Thronstreit zwi-
schen Staufern und Welfen, der nach dem Tod
Heinrichs VI. entbrannte, wechselte Walther von
der Vogelweide als politischer Lyriker je nach Auf-
tragslage die Partei. Zunächst vertrat er die Interes-
sen des Staufers Philipp von Schwaben (eines Bru-
ders Heinrichs VI.), dann des Welfen Otto von
Braunschweig, dann wieder des Staufers Friedrich
II. (eines Sohns Heinrichs VI.). Das den Untergang
der ritterlichen Welt beschwörende Nibelungenlied
entstand im Auftrag eines geistlichen Fürsten, ver-
mutlich des Bischofs von Passau. Die Kreuzzüge
spiegeln sich in der höfischen Dichtung, besonders ›Staufische Klassik‹:
eindrücklich in den Kreuzzugsliedern, die den rit- Kaiser Heinrich in der
terlichen Konflikt zwischen Minnedienst und Got- Großen Heidelberger
tesdienst thematisieren. Liederhandschrift

235
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

3.2.3.2 | Ästhetik/Poetik: Spielräume Uns ist in alten maeren wunders vil geseit
des mittelalterlichen Dichters von helden lobebaeren, von grôzer arebeit,
von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
Hartmann von Aue: Hartmann von Aue erläutert von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen.
im Prolog seiner Erzählung Der arme Heinrich den
poetologischen Ansatz, den er als höfischer Dich- (Uns wird in alten Geschichten viel Wunderbares gesagt
von lobenswerten Helden, von großen Mühen, von Freu-
ter vertritt: nû beginnet er iu diuten/ein rede, die er den und Festen, von Weinen und Klagen, von den Kämp-
geschriben vant (»nun beginnt er euch einen Text fen tapferer Helden sollt ihr nun Wunderbares sagen
zu deuten, den er geschrieben vorfand«). Hart- hören.)
manns erklärter Anspruch besteht nicht darin,
eine neue Geschichte zu erfinden, sondern einen Im ersten Vers rechnet sich der Erzähler, der in der
vorgefundenen, schriftlich überlieferten Stoff deu- ersten Person Plural (uns) spricht, der Gemein-
tend zu gestalten. schaft derjenigen zu, denen eine mündliche Über-
Nibelungenlied: Auch die Prologstrophe des Ni- lieferung zuteilwird. Im letzten Vers hingegen tritt
belungenlieds betont die Verpflichtung des Dich- er aus der Gemeinschaft heraus, indem er sie in
ters auf eine überlieferte Geschichte, die in diesem der zweiten Person Plural (ir) anspricht. Der Über-
Fall jedoch nicht schriftlicher, sondern mündlicher gang vollzieht sich unmerklich, da zwischen diese
Herkunft ist: Aussagen eine formelhafte Zusammenfassung des
Inhalts geschoben wird, die sich syntaktisch so-
Gattungen der höfischen
wohl auf den ersten wie auch auf den letzten Vers
Dichtung um 1200
beziehen kann. In beiden Fällen handelt es sich
Gattungen Beispiele Formtypen um ein präpositionales Objekt zum Prädikat ›sa-
Epik gen‹, womit zugleich die mündliche Überlieferung
thematisiert wird. Der Dichter, der den Sagenstoff
Heldenepik Chanson de geste Pfaffe Konrad: Reimpaare erstmals schriftlich bearbeitet und für die Literatur
Rolandslied
in engerem Sinne erschließt, hält seine Autorschaft
Deutsche Nibelungenlied Langzeilenstrophe dennoch dezent zurück. Anders als Hartmann von
Heldenepik
Aue verzichtet er darauf, seinen Namen zu nen-
›Spielmannsepik‹ Salman und Morolf Langzeilenstrophe nen; doch macht er durch die ostentative Häufung
König Rother Reimpaare poetischer Mittel (Apokoinu, Parallelismus, Ana-
Roman Antikenroman Heinrich von Veldeke: Reimpaare pher, Antithese, Synonym) deutlich genug, dass es
Eneasroman ihm an poetischem Gestaltungswillen nicht fehlt.
Artusroman Hartmann von Aue: Reimpaare Zwar knüpfen Hartmann von Aue und der Verfas-
Erec ser des Nibelungenlieds an verschiedene literari-
Liebesroman Gottfried von Reimpaare
sche Gattungen (höfischer Roman vs. Heldenepik)
Straßburg: Tristan und verschiedene Formen der Überlieferung
(Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit) an; doch stim-
Legendenroman Heinrich von Veldeke: Reimpaare
Servatius men sie darin überein, dass sie ihre Autorrolle
nicht mit dem Anspruch der Erfindung, sondern
Novelle Hartmann von Aue: Reimpaare
Der arme Heinrich des Weitererzählens einer Geschichte versehen.
Galfrid von Vinsauf: Dieser Befund deckt sich
Lyrik
mit dem poetologischen Konzept, das der französi-
Minnesang Früher Minnesang Der von Kürenberg: Langzeilenstrophe sche Gelehrte Galfrid von Vinsauf in seiner Poetria
(Liebeslyrik) Falkenlied
nova vertritt. Das zwischen 1208 und 1213 entstan-
Hoher Minnesang Friedrich von Hausen: Stollenstrophe dene Werk war, wie die ca. 100 erhaltenen Hand-
Ich denke underwîlen (Kanzone) schriften des 13. bis 15. Jh.s bezeugen, weit ver-
Sangspruch- Frühphase: Spervogel Langzeilenstrophe breitet. Es orientiert sich an zwei antiken Vorbildern:
dichtung Didaktische Lyrik einerseits an Horaz’ Poetik, andererseits an Ciceros
Hochphase: Walther von der Stollenstrophe Rhetorik. Cicero nennt fünf sog. Ämter des Red-
Politische Lyrik Vogelweide ners: die Auffindung (inventio), Anordnung (dis-
Religiöse Lyrik Walther von der Stollenstrophe positio) und Gestaltung (elocutio) der Argumente
Vogelweide: (Leich) sowie das Auswendiglernen (memoria) und den
Marienleich
Vortrag (pronuntiatio) der Rede. Galfrid bezieht

236
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelhochdeutsche
Literatur

diese Aufgaben auf den Dichter, überspringt aber


den Akt der inventio. Dies lässt sich als Indiz dafür
werten, dass auch Galfrid den Dichter nicht als Er-
finder, sondern als Bearbeiter versteht.
Hinsichtlich der Gliederung des Stoffs unter-
scheidet er zwischen dem ordo naturalis, d. h. der
chronologischen Anordnung, und dem ordo artifi-
cialis, d. h. der künstlichen Anordnung der erzähl-
ten Geschichte. Eine künstliche Anordnung liegt
vor, wenn der Dichter nicht mit dem Anfang, son-
dern mit der Mitte (medias in res) oder dem Ende
der Geschichte einsetzt oder auch mit einer Sen-
tenz oder einem Exempel.
Hinsichtlich der Gestaltung des Stoffs, der
Galfrid den größten Teil seiner Poetik widmet, unter-
scheidet er zwischen den Optionen der Kürzung
(abbreviatio) und Erweiterung (dilatatio oder am-
plificatio). Letzteres Verfahren bietet dem Dichter
den größten Spielraum für die deutende Bearbeitung
seiner Vorlage. Galfrid nennt acht poetische Verfah-
ren der Erweiterung, die er jeweils an praktischen
Anwendungsbeispielen illustriert: Interpretatio (Ver- kiert er den fiktionalen Status des höfischen Ro- Das Nibelungenlied:
doppelung des Ausdrucks), Periphrase (Umschrei- mans wie vor ihm schon Hartmann von Aue, der Prologstrophe in der
bung), Collatio (Vergleich), Apostrophatio (Anrede), behauptet, das kunstvoll beschriebene Pferd Eni- Donaueschinger Hand-
Prosopopoeia (redende Personifikation), Digressio tes – eine Allegorie der Dichtung selbst – stamme schrift
(Exkurs), Descriptio (Beschreibung) und Oppositio aus dem Reich der Zwerge.
(Verdoppelung durch Nennung des Gegenteils).
Am Beispiel des Erec, eines Artusromans Hart-
3.2.3.3 | Lyrik
manns von Aue, lässt sich zeigen, dass die höfi-
schen Dichter eben diese Techniken ausgiebig nut- Minnesang: Die höfische Liebeslyrik bezeichnet
zen. Die Totenklage für Richard Löwenherz und die man traditionell als Minnesang. Das Wort ›min-
Beschreibung einer höfischen Dame, die Galfrid als nen‹ kommt von ›meinen‹ im Sinne von ›jemandes
Beispiele vorführt, sind mit Enites Totenklage und liebend gedenken‹. Minnesang ist nicht Erlebnis-,
der Beschreibung ihrer glanzvollen Erscheinung sondern Rollenlyrik. Die Gattungsgeschichte des
durchaus vergleichbar. Die rhetorisch durchge- Minnesangs umfasst zwei Phasen: den frühen
formte Klage, die Enite angesichts ihres vermeint- (Donauländischen) und den hohen Minnesang.
lich toten Ehemanns hält, ist ein Musterbeispiel der Früher Minnesang, die erste Phase, setzt vor
Apostrophatio; die elaborierte Beschreibung der 1170 ein und wird aufgrund der geographischen
schönen Enite ein Musterbeispiel der Descriptio. Herkunft der meisten Repräsentanten auch Do-
Hartmann setzt diese Szenen ein, um seinem eige- nauländischer Minnesang genannt (Der von Kü-
nen Verständnis der wiederzählten Geschichte Aus- renberg, Meinloh von Sevelingen, Burggrafen von
druck zu verleihen. Die Tatsache, dass Galfrid seine Regensburg und Rietenburg, Dietmar von Eist). Er
Poetik zu einer Zeit schrieb, als viele höfische Epen zeichnet sich inhaltlich durch das Konzept einer
schon vorlagen, spricht nicht dagegen, einen Bezug Liebe aus, die auf Gegenseitigkeit und Erfüllung
herzustellen, denn Galfrid leitet die Regeln und bedacht ist, aber von der Hofgesellschaft behin-
Beispiele, die er den Dichtern an die Hand gibt, aus dert wird. Als sprechende Figuren treten gleicher-
dem ab, was in der höfischen Epik seiner Zeit oh- maßen Ritter und Dame auf. Der frühe Minnesang
nehin schon geltende Praxis war. weicht vom Konzept der französischen und pro-
Gottfried von Straßburg: Im Unterschied zu den venzalischen Liebeslyrik ab. Formale Kennzeichen
Prologen der geistlichen Dichtung (s. 3.2.2.2) ruft sind die Verwendung der volkstümlichen Lang-
Gottfried von Straßburg in seinem Tristan nicht zeilenstrophe (bestehend aus vier Langversen,
Gott, Maria oder die Heiligen an, sondern richtet die sich jeweils in An- und Abvers teilen) sowie
seine Inspirationsbitte an die Musen. Damit mar- die grundsätzliche Einstrophigkeit (die Strophen

237
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

Mittelhochdeutsche Lyrik von Horheim und Bligger von Steinach angehören.


Die Verfasser höfischer Romane betätigen sich
Früher (›Donauländischer‹) Minnesang ebenfalls als Minnesänger: Heinrich von Veldeke,
(1150–1170) Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und
Der von Kürenberg Gottfried von Straßburg. Der hohe Minnesang ori-
Meinloh von Sevelingen entiert sich, begünstigt durch die geographische
Burggrafen von Regensburg und Rietenburg Nähe seiner ersten Vertreter zu Frankreich, in for-
Dietmar von Eist maler und inhaltlicher Hinsicht an der Tradition
der romanischen Liebeslyrik. Er folgt dem Prinzip
Hoher Minnesang (1170–1220) der Kanzonenstrophe. Diese besteht aus zwei un-
Friedrich von Hausen terschiedlichen Teilen, dem Aufgesang und dem
Kaiser Heinrich (VI.) Abgesang; der Aufgesang umfasst wiederum zwei
Ulrich von Gutenburg identische Hälften, die als Stollen bezeichnet wer-
Bernger von Horheim den. Jedes der in der Regel mehrstrophigen Lieder
Bligger von Steinach weist eine eigene, unverwechselbare Ausprägung
Albrecht von Johansdorf der Kanzonenform auf (Variationsprinzip). Fast
Reinmar der Alte alle Lieder des hohen Minnesangs sind aus der
Hartmann von Aue Perspektive eines werbenden Ritters verfasst, der
Heinrich von Veldeke die unerfüllte Liebe zur unerreichbaren Dame
Heinrich von Morungen beklagt. Die Dame erscheint als abstraktes Ideal,
Wolfram von Eschenbach das die Werte der höfischen Gesellschaft verkör-
Walther von der Vogelweide pert. Der Ritter hofft vergeblich, dass die Dame ihn
für seinen beständigen Dienst mit einem Gunst-
Sangspruchdichtung erweis belohnt. Sein eigentlicher Gewinn besteht
Spervogel gemäß einer Bemerkung Albrechts von Johans-
Herger dorf in der gesellschaftlichen Aufwertung (Nobili-
Walther von der Vogelweide tierung): daz ir dest werder sint und dâbî hôhge-
muot (»dass ihr umso edler und stolzer werdet«).
Religiöse Lyrik Im weiteren Verlauf wird der hohe Minnesang
Walther von der Vogelweide, Marienleich von Berufsdichtern getragen, die ihm jeweils eine
eigene Programmatik verleihen. Reinmar der Alte
akzentuiert den ästhetischen Gewinn der unerfüll-
verbinden sich nur ausnahmsweise zu zweistrophi- ten Liebe des Minnesängers, wenn er postuliert,
gen Liedern) und Eintonigkeit (die Dichter bedie- dass niemand auf so schöne, d. h. künstlerisch
nen sich jeweils nur eines Melodie- und Strophen- formvollendete Weise leiden könne wie er. Hein-
typs). Berühmt ist das Falkenlied des Kürenbergers, rich von Morungen lotet die narzisstische Dimen-
in dem eine Dame im Bild eines entflogenen Falken sion des Minnesangs aus und nimmt motivische
den Verlust des geliebten Ritters beklagt. Bereits im Anleihen an der Marienlyrik. Walther von der Vo-
frühen Minnesang vertreten sind die Gattung des gelweide gewinnt dem hohen Minnesang eine ge-
Tagelieds, das den unfreiwilligen Abschied von sellschaftskritische Dimension ab, indem er in sei-
Ritter und Dame nach heimlicher Liebesnacht the- nen Liedern die Verwirklichung der höfischen
matisiert, und der Formtyp des Wechsels, in dem Ideale des Minnesangs einfordert.
Ritter und Dame abwechselnd übereinander, aber Sangspruchdichtung: Die Sangspruchdichtung,
nicht miteinander sprechen. Dietmar von Eist ver- eine von fahrenden Sängern praktizierte Form der
knüpft Tagelied und Wechsel in seinem zweistro- höfischen Lyrik, lässt sich ebenfalls in zwei Pha-
phigen Lied Slâfest du, vriedel ziere? (»Schläfst du sen einteilen.
noch, schöner Geliebter?«). Die frühe Phase ist moraldidaktisch ausgerich-
Hoher Minnesang: Die zweite Phase bildet der tet. Sie erörtert Fragen der höfischen Tugendlehre
um 1170 einsetzende hohe (›klassische‹) Minne- wie zum Beispiel das Ansehen der höfischen Dame
sang. Friedrich von Hausen (s. S. 239), Reichsmi- oder Verhaltensregeln für die Freundschaft (Sper-
nisteriale und Vertrauter Barbarossas, steht im vogel, Herger). In formaler Hinsicht gelten ähnli-
Mittelpunkt eines Kreises, dem auch der spätere che Regeln wie für den frühen Minnesang: Lang-
Kaiser Heinrich, Ulrich von Gutenburg, Bernger zeilen, Einstrophigkeit, Eintonigkeit.

238
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelhochdeutsche
Literatur

Früher Minnesang: bis in die Wortstellung hineinreicht (Vers 1: val- Interpretationsskizze


Das Falkenlied des Kürenbergers ken, Vers 3: gevidere, golde/guldîn). Alliteratio-
Die gegenläufigen Liebeskonzepte des frühen nen verdichten das Lied in klanglicher Hinsicht
und hohen Minnesangs lassen sich an einem Ver- (Str. 1,4: huop/hôhe; Str. 2,1 f.: valken/vliegen/vu-
gleich zwischen dem Falkenlied des Kürenber- orte/vuoze).
gers und dem Lied Ich denke underwîlen Fried-
richs von Hausen illustrieren. Das Falkenlied des Hoher Minnesang:
Kürenbergers lautet wie folgt: Ein Minnelied Friedrichs von Hausen
Das Lied Ich denke underwîlen – im Folgenden
›Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr. wird nur die erste von vier Strophen wiedergege-
dô ich in gezamete, als ich in wolte hân, ben – bildet in mancher Hinsicht das genaue Ge-
und ich im sîn gevidere mit golde wol bewant, genstück des Falkenlieds:
er huop sich ûf vil hôhe und vlouc in anderiu lant.
Ich denke underwîlen,
Sît sach ich den valken schône vliegen, ob ich ir nâher waere,
er vuorte an sînem vuoze sîdîne riemen, waz ich ir wolte sagen.
und was im sîn gevidere alrôt guldîn. daz kürzet mir die mîlen,
got sende sî zesamene, die gelieb wellen gerne sîn!‹ swenne ich mîne swaere
sô mit gedanken klage.
(›Ich erzog mir einen Falken länger als ein Jahr. Als ich Mich sehent manige tage
ihn gezähmt hatte, wie ich ihn haben wollte, und als ich
ihm sein Gefieder mit Gold schön geschmückt hatte, da
diu liute in der gebaerde,
erhob er sich in die Lüfte und flog in andere Länder. als ich niht sorgen habe,
Später sah ich den Falken in schöner Weise fliegen. Er wan ich si alsô vertrage.
trug an seinem Fuß seidene Bänder und sein Gefieder
war rotgolden. Gott möge die zusammensenden, die ein- (Ich denke, wenn ich unterwegs bin, was ich ihr sagen
ander gern liebhaben wollen!‹) wollte, wenn ich bei ihr wäre. Das verkürzt mir die Mei-
len, wenn ich auf diese Weise meinen Kummer in Ge-
danken beklage. Mich sehen die Leute tagtäglich, als
Der Sänger des zwei Strophen umfassenden Fal- wenn ich keine Sorgen hätte, weil ich sie auf diese Weise
kenlieds tritt in der Rolle einer höfischen Dame ertrage.)
auf, die im Bild des entflogenen Falken den Ver-
lust des geliebten Ritters beklagt. Dass es sich Das Lied folgt dem Typus der Kanzonenstrophe.
um ein Frauenlied handelt, macht der moderne Unreine Reime werden geduldet, um die Reim-
Herausgeber mit einfachen Anführungszeichen bänder (auf zehn Verse kommen nur drei Reim-
kenntlich. In inhaltlicher Hinsicht ist hervorzuhe- klänge, von denen sich zwei durch die gesamte
ben, dass es hier eine Dame ist, die ihren Liebes- Strophe ziehen) zu ermöglichen. Das Lied ist ein
wunsch zum Ausdruck bringt und in ihrer ab- Monolog des Ritters, der seine Trennung von der
schließenden Bitte zu Gott das Ideal gegenseitiger, geliebten Dame beklagt. Die räumliche Distanz
erfüllter Liebe vertritt. Das Bild des gezähmten entspricht der Gleichgültigkeit, die die Dame Das Falkenlied des
Falken scheint auf das Programm des hohen Min- dem Ritter entgegenbringt. Dieser lässt sich nicht Kürenbergers in der
nesangs romanischer Prägung anzuspielen, das entmutigen, übt sich in Beständigkeit und kom- Großen Heidelberger
dem unerfüllten Liebeswerben des Ritters eine pensiert die doppelte Ferne der Dame durch ima- Liederhandschrift
erzieherische Wirkung zuschreibt. Die Rollen
sind hier freilich vertauscht: Es ist die Dame, de-
ren Liebe unerfüllt bleibt, nachdem der Ritter das
Weite gesucht hat. Bezüglich der poetischen Ge-
staltung fällt die kunstvolle Ausprägung der
Langzeilenstrophe auf. Die nur scheinbar simple
Form lebt einerseits vom strikten Parallelismus
der ersten und zweiten Strophe (Vers 1: Motiv des
Falken, Vers 2: Motiv der Zähmung, Vers 3: Motiv
des Gefieders, Vers 4: Motiv der Trennung), die

239
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

ginierte Nähe. Paradox ist das Verhältnis des Minnesänger in larmoyantem Tonfall beständig
Minnesängers zu seinem Publikum. Während er von sich selbst spricht (acht Pronomina der ers-
sich als Sänger an die Öffentlichkeit des Hofes ten Person Singular in zehn Versen), erscheint
wendet (textexterne Ebene), schirmt er sich als die Dame als unerreichbares Ideal ohne Konturen
Liebender von der Gesellschaft ab (textinterne und letztlich als narzisstische Projektionsfläche
Ebene): Die liute sollen nichts von seinem Lie- des Ritters. Der Minnesänger verehrt die Minne-
besleid erfahren, das er hinter der Maske höfi- dame in dem Maße, wie er sie als Person ent-
scher Hochstimmung verbirgt. Während der rückt.

Eine neue Phase beginnt mit Wal- gibt nur drei Sagenkreise [matières] für den, der
ther von der Vogelweide. Er entwi- sich darauf versteht: Von Frankreich, von der Bre-
ckelt, inspiriert vom Formenreich- tagne und vom großen Rom; und diese drei Sa-
tum des Minnesangs, verschiedene genkreise unterscheiden sich ganz und gar. Die
Töne, deren Strophen stollig gebaut Erzählungen der Bretagne sind nichtig und bloß
sind. Die Strophen eines Tones sind unterhaltsam, die von Rom lehrreich und voller
diskursiv verknüpft, bilden aber kei- Sinn, die von Frankreich sind wahr, wie jeden Tag
ne Liedeinheit. Walther setzt als Auf- offenkundig wird.« Mit der matière de France ist
tragsdichter im Rahmen des Thron- die französische Heldenepik gemeint, mit der ma-
streits zwischen Staufern und Welfen tière de Rome der Antikenroman und mit der ma-
die Gattung der Sangspruchdichtung tière de Bretagne der – als ›nichtig‹, d. h. fiktional
für politische Zwecke ein. Im Ersten klassifizierte – Artusroman.
Philippston begründet er die Königs- Antikenroman: Ein prominentes Beispiel für
würde Philipps von Schwaben mit die Gattung des Antikenromans ist der Eneasro-
dem Hinweis, dass ihm die Krone so man (1174/84) Heinrichs von Veldeke, eine deut-
gut aufs Haupt passe. Im König sche Bearbeitung des altfranzösischen Roman
Friedrichston verteidigt er die Kö- d’Éneas (um 1160), der wiederum auf Vergils Ae-
nigswürde des jungen Friedrich II. neis (29–19 v. Chr.) basiert. Die mittelalterlichen
mit dem Argument, dass er der Kör- Antikenromane verpflanzen die Epen des klassi-
pergröße nach zwar klein sei, der Großzügigkeit schen Altertums in das ritterlich-höfische Milieu
Walther von der nach aber ein Riese, der seinen Gegenspieler, den des Hochmittelalters und setzen einen Akzent auf
Vogelweide in der Großen Welfen Otto von Braunschweig, weit überrage. das Verhältnis von Liebe und Kampf. So gestalten
Heidelberger Religiöse Lyrik: Religiöse Lyrik wurde nicht nur die mittelalterlichen Eneasromane die Geschichte
Liederhandschrift auf klerikaler, sondern auch auf laikal-höfischer nicht, wie Vergil, als Abfolge einer ›odysseischen‹
Seite verfasst. Hervorzuheben ist die Gattung des (Irrfahrten des Eneas nach dem Vorbild des Odys-
Leichs, eine vielstrophige Großform, die Walther seus in Homers Odyssee) und einer ›iliadischen‹
von der Vogelweide in seinem Marienleich (Got, Hälfte (Kämpfe um Rom nach dem Vorbild des
dîner Trinitâte), einer Preisdichtung zu Ehren der Trojanischen Kriegs in Homers Ilias), sondern als
Gottesmutter, besonders anspruchsvoll ausgestal- Abfolge zweier Liebesgeschichten, die sich um die
tete. In der Nähe geistlicher Dichtung steht die hö- karthagische Königin Dido und die italienische
fische Kreuzzugslyrik, die sich mit der Gattung Prinzessin Lavinia ranken. Weitere Antikenroma-
des Minnesangs überschneidet. Die betreffenden
Lieder thematisieren den Widerstreit zwischen
den weltlichen Ansprüchen der höfischen Liebe Sagenkreis Eigenschaften Gattung
(Frauendienst) und den geistlichen Ansprüchen Matière de »wahr, wie jeden Heldenepik
der Liebe zu Gott (Gottesdienst). France Tag offenkundig« (Chanson de geste)
Matière de »nichtig und Artusroman
Bretagne unterhaltsam«
3.2.3.4 | Epik
Matière de »lehrreich und Antikenroman
Stoffkreise: Bereits im 12. Jh. differenzierte man Rome voller Sinn«
zwischen verschiedenen Typen höfischer Epik.
Der französische Dichter Jean Bodel schrieb: »Es Sagenkreise nach Jean Bodel (12. Jh.)

240
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelhochdeutsche
Literatur

ne behandeln den Trojanischen Krieg und die Ta- Mittelhochdeutsche Epik


ten Alexanders des Großen.
Artusroman: Hartmann von Aue machte das Helden- und Spielmannsepen
deutsche Publikum erstmals mit der Gattung des König Rother (›Spielmannsepik‹, um 1160/70)
Artusromans bekannt, indem er, wohl im Auftrag Pfaffe Konrad: Rolandslied (Chanson de geste, um 1170)
des schwäbischen, mit den Staufern verwandten Salman und Morolf (›Spielmannsepik‹, zweite Hälfte 12. Jh.)
Fürstengeschlechts der Zähringer, zwei französi- Nibelungenlied (Heldenepik, um 1200)
sche Artusromane ins Deutsche übertrug. Diu Klage (Heldenepik, um 1200)
Die Entstehungsgeschichte des Artusromans Wolfram von Eschenbach: Willehalm (Chanson de geste, um 1210/20)
umfasst vier Schritte. Am Anfang stehen keltische,
mündlich überlieferte Erzählungen, die sich an die Romane und Novellen
historische Gestalt des römischen Heerführers Ar- Heinrich von Veldeke: Servatius (Legendenroman, um 1170)
thur (5. Jh.), der mit den christlichen Kelten gegen Eilhart von Oberg: Tristrant (Liebesroman, um 1170)
die sächsischen Eroberer kämpfte, anlagerten. Die Heinrich von Veldeke: Eneasroman (Antikenroman, 1174/84)
Literarisierung, Poetisierung und Fiktionalisierung Hartmann von Aue: Erec (Artusroman, um 1185)
dieser Geschichten erfolgte im 12. Jh. im Umkreis Hartmann von Aue: Gregorius (Versnovelle, um 1190)
des normannisch-englischen Königshauses. Die Hartmann von Aue: Der arme Heinrich (Versnovelle, um 1190)
Literarisierung leistete der in Oxford ausgebildete Ulrich von Zatzikhofen: Lanzelet (Artusroman, nach 1194/95)
Kleriker Geoffrey von Monmouth mit seiner latei- Hartmann von Aue: Iwein (Artusroman, um 1200)
nischen Chronik Historia regum Britanniae (Ge- Wolfram von Eschenbach: Parzival (Artusroman, um 1200/10)
schichte der Könige Britanniens, um 1138), einem Gottfried von Straßburg: Tristan (Liebesroman, um 1210)
Prosawerk, das auch die Geschichte des Königs Wirnt von Grafenberg: Wigalois (Artusroman, ca. 1210/20)
Artus enthält. Die Poetisierung vollzog der nor-
mannische Dichter Wace, der die Chronik in einen
französischen Geschichtsroman transformierte, stätigung des Artusritters. Zugleich gewinnt er,
nämlich den 15 000 Reimpaarverse umfassenden ohne dass es in seiner ursprünglichen Absicht lag,
Roman de Brut (1155), dessen Artus gewidmeter die Hand einer Dame: Erec heiratet Enite, Iwein
Teil bereits die Motive des Hoffestes und der Tafel- heiratet Laudine. Auf diesen vorläufigen Höhe-
runde, die Figuren des Idealkönigs Artus und des punkt folgt die Krise des Helden, der sich den An-
Musterritters Gauvain (Gawein/Gawan) sowie die sprüchen, die an ihn als Ehemann und Landes-
Zuordnung der Ritter und Damen zu höfischen herrn gerichtet sind, noch nicht gewachsen zeigt. Hartmann von Aue in
Liebespaaren enthält. Die Fiktionalisierung in Daher muss er ein zweites Mal ausziehen, nun zur der Großen Heidelberger
Form des Artusromans ist das Werk des französi- Wiederherstellung seines persönlichen Ansehens. Liederhandschrift
schen Dichters Chrétien de Troyes, der in seinen Der zweite Handlungskreis führt den
Romanen, die seit den 1170er Jahren entstanden, Helden durch eine Serie von Aben-
nicht mehr Artus, sondern die Ritter der Tafelrun- teuern, die ihm eben jene Qualitäten
de in den Mittelpunkt der Handlung stellte (Erec, abverlangen, die er in der Krise ver-
Cligès, Lancelot, Yvain, Perceval). Hartmann von missen ließ. Der zweite Kursus ist
Aue übertrug die Geschichten von Erec (um 1185) durch eine Zwischeneinkehr am Ar-
und Iwein (um 1200) ins Deutsche, Wolfram von tushof (im Falle Iweins am Laudine-
Eschenbach die Geschichte von Parzival (um hof) noch einmal in zwei Hälften ge-
1200/10). teilt, was dem Roman zusätzliche
Die Artusromane lassen sich in zwei Gruppen Komplexität verleiht. Am Ende steht
einteilen. Die Helden der ersten Gruppe sind von die Akklamation des Helden als per-
Anfang an vollkommene Ritter (Lanzelet, Wigalo- fekter Artusritter. Auch der Parzival,
is), die Helden der zweiten Gruppe durchlaufen der die Artus- mit der Gralsthematik
einen Prozess der Identitätsfindung (Erec, Iwein, verbindet, folgt dem Prinzip des dop-
Parzival). Dieser Prozess wird gemäß dem – zu- pelten Kursus, zusätzlich aber auch
nehmend elaborierten – Strukturprinzip des ›dop- dem Prinzip der Verdoppelung des
pelten Kursus‹ erzählt. Der erste Handlungsbogen Protagonisten, denn parallel zu Par-
umfasst die Provokation des Artushofs, den Ausritt zivals Weg werden im gleichen Um-
des Artusritters, die Wiederherstellung der Ehre im fang die Abenteuer Gawans erzählt.
Kampf, die Rückkehr an den Artushof und die Be- Die Poetik des Artusromans lebt von

241
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

den Prinzipien der Paradigmatik und der Finali- Rivalität umschlagende Freundschaft (Marke/Tris-
tät. Die Reihe der erzählten Abenteuer ist zum ei- tan).
nen durch paradigmatische Bezüge organisiert, die Legendenepik: Am Anfang der mittelhochdeut-
in einer kunstvoll komponierten Sinnstruktur re- schen Legendenepik steht der von Heinrich von
sultieren, und sie ist zum anderen logisch auf den Veldeke, dem Verfasser des Eneasromans und
Zielpunkt des Romans ausgerichtet, nämlich die zahlreicher Minnelieder, geschriebene Roman
erfolgreiche Bewältigung des spezifischen, in der über den heiligen Servatius, der in Maastricht als
Krise aufscheinenden Problems. So gesehen ver- Patron des Domstifts verehrt wurde. Der in Reim-
fügt der Artusroman über eine narrative Psycholo- paarversen gedichtete Servatius (6226 Verse) ent-
Vorform des Ent- gie und kann, trotz der Typenhaftigkeit seines Pro- stand um 1170 im gemeinsamen Auftrag einer Grä-
wicklungsromans tagonisten, durchaus als Vorform des neuzeitlichen fin (Agnes von Loon-Rieneck) und eines Klerikers
Entwicklungsromans aufgefasst werden. (Hesselt von Maastricht).
Liebesroman: Die bekanntesten Liebesromane Versnovellen: Legendenhaft sind auch die von
der höfischen Blütezeit sind die Tristanromane Hartmann von Aue verfassten Versnovellen Der
Eilharts von Oberg (um 1170) und Gottfrieds von arme Heinrich und Gregorius, die das Problem der
Straßburg (um 1210). Beide orientieren sich an geistlichen Ansprüche an das weltliche Ritterle-
französischen Vorlagen: Eilharts Tristrant an der ben thematisieren. Die entworfenen Lösungen
version commune, die auch im Tristanroman des sind gegenläufiger Art, denn während Gregorius
normannischen Dichters Béroul (um 1170/90) re- vom Ritter und Landesherrn zum heiligmäßigen
präsentiert ist, Gottfrieds Tristan hingegen an der Eremiten und schließlich zum Papst wird, vermag
version courtoise, die auf den Tristanroman Tho- Heinrich das geistliche Ideal auf dem Wege der
mas’ von Bretagne (um 1170) zurückgeht. Die hö- Heirat einer gottesfürchtigen Jungfrau in seine
fische Fassung bereinigt unwahrscheinliche Episo- weltliche Fürstenexistenz zu integrieren. Wie im
den, identifiziert sich mit den Liebenden und Servatius fehlt es auch in Hartmanns legendenhaf-
leistet eine psychologische Vertiefung des Liebes- ten Novellen nicht an Wundern. Die Helden durch-
konzepts. leiden Passionsgeschichten (Gregorius als Eremit,
Gottfrieds Roman weist ein zyklisches Hand- Heinrich als Leprakranker), die sie aber nicht in
lungsmodell auf, das sich am Prinzip der Rota For- den Tod, sondern in ein besseres Leben als weltli-
tunae (Glücksrad) orientiert. Wie mittelalterliche che bzw. geistliche Fürsten führen. In mancher
Darstellungen das Kreisen des Glücksrads am Hinsicht kann man auch die Gattung des Artusro-
Schicksal eines Herrschers illustrieren, der seine mans als weltliches Pendant zur geistlichen Legen-
Krone erlangt, besitzt und verliert, so führt Gott- denepik deuten.
fried in seinem unvollendet gebliebenen Roman ›Spielmannsepik‹: Legendenhafte Züge tragen
vor, wie Tristan und Isolde die Liebe erlangen (An- zum Teil auch jene Erzählungen, die man unter
näherung), besitzen (Minnetrank, Minnegrotte) dem veralteten, aber immer noch geläufigen Gat-
und verlieren (Trennung). Der tragische Liebestod tungsbegriff ›Spielmannsepik‹ zusammenfasst: Her-
ist bei Gottfried nicht mehr ausgeführt, kann aber zog Ernst, König Rother, Salman und Morolf, Oren-
aus der französischen Vorlage erschlossen werden. del und Oswald. Gemeinsames Merkmal dieser
Gottfrieds Roman besticht nicht nur aufgrund sei- Epen, deren Entstehung man im 12. Jh. ansetzt, ist
Poetologische ner vielschichtige Erzählweise, sondern auch we- das Erzählmuster der gefährlichen Brautwer-
Reflexion gen seiner poetologischen Reflexion über den Akt bung, das auch für Werke der Heldenepik (Nibelun-
des Dichtens, die einerseits im sogenannten Litera- genlied) und des Liebesromans (Tristan) charakte-
turexkurs, in dem er die berühmtesten höfischen ristisch ist. Der in Reimpaaren verfasste König
Dichter seiner Zeit preist und tadelt, andererseits Rother weist, wie die meisten mittelhochdeutschen
in allegorischen Szenen der Erzählung selbst zur Erzählungen, eine Doppelwegstruktur auf. Im ers-
Geltung kommt. So kann das Hündchen Petitcreiu, ten Teil entführt der weströmische König Rother die
mit dem Tristan Isolde in ihrem Trennungsschmerz Tochter des oströmischen Königs Konstantin. Nach-
zu trösten hofft, als Symbol der Fiktionalität gele- dem dieser die Prinzessin zurückgeholt hat, fährt
sen werden. Charakteristisch für die Tristanroma- Rother ein zweites Mal aus, um seine Braut endgül-
ne ist das Liebesdreieck, das Tristan, Isolde und tig für sich zu gewinnen. Aus der Verbindung geht
König Marke umfasst und auf seinen Achsen drei Pippin hervor, der Vater Karls des Großen. Das in
konkurrierende Beziehungsformen verschränkt: Langzeilenstrophen verfasste ›Spielmannsepos‹ Sal-
Ehe (Marke/Isolde), Liebe (Tristan/Isolde) und in man und Morolf ist erst seit dem 15. Jh. überliefert.

242
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelhochdeutsche
Literatur

Die Erzählung kehrt die Perspektive des Brautwer- Walther von der Vogelweide, der in seinen politi-
bungsnarrativs um. Der listige Morolf zieht in im- schen Sangsprüchen Kritik am Papst geübt hatte.
mer neuen Rollen und Maskeraden aus, um die
zweifach entführte Gattin seines Bruders Salman,
3.2.3.6 | Exkurs: Das Nibelungenlied
des Königs von Jerusalem, zurückzuholen.
Heldenepik: Der traditionellen Gattungsopposi- Das jahrhundertelang verschollene Nibelungenlied
tion von Epos und Roman entsprechend, wird die wurde 1755 in Hohenems wiederentdeckt, 1757
Heldenepik oftmals dem höfischen Roman entge- von Johann Jakob Bodmer teilweise abgedruckt
gengesetzt. Zu unterscheiden ist zwischen der alt- und 1782 von Christoph Heinrich Myller erstmals
französischen Heldenepik, deren Werke man als vollständig herausgegeben. Goethe berichtet in
Chansons de geste bezeichnet, und der deutschen den Tag- und Jahresheften von 1807, dass er sein
Heldenepik, die auf einheimischen Sagenstoffen Druckexemplar des Nibelungenlieds zunächst un-
fußt. Ein Zyklus der französischen Heldenepik be- beachtet ließ: »Ich kannte längst das Dasein des
zieht sich auf Karl den Großen, so auch das Ro- Gedichts aus Bodmers Bemühungen. Christoph
landslied des Pfaffen Konrad (um 1170), das auf Heinrich Müller sendete mir seine Ausgabe leider
der französischen Chanson de Roland beruht. Die ungeheftet, das köstliche Werk blieb roh bei mir
deutsche Bearbeitung stilisiert Roland, den im liegen, und ich, in anderem Geschäft, Neigung
Kampf gegen die Heiden gefallenen Neffen Karls und Sorge befangen, blieb so stumpf dagegen wie
des Großen, als christlichen Märtyrer. Ein anderer die übrige deutsche Welt.«
Zyklus stellt den mit den Karolingern verwandten Die drei wichtigsten Textzeugen des Nibelun-
Heerführer Guillaume (Wilhelm) in den Mittel- genlieds stammen aus dem 13. Jh.:
punkt, so auch der Willehalm Wolframs von N Handschrift A liegt heute in der Staatsbiblio-
Eschenbach (um 1210/20), der auf die französi- thek München,
sche Chanson de geste Aliscans zurückgeht. Wie N Handschrift B, die dem Original am nächsten
das Rolandslied trägt der Willehalm legendenhafte steht, in der Stiftsbibliothek St. Gallen,
Züge. Im Unterschied zum Rolandslied zeichnet er N Handschrift C in der Badischen Landesbiblio-
sich durch eine gewisse Toleranz gegenüber den thek Karlsruhe.
Heiden (d. h. dem Islam) aus. Auftraggeber des um 1200 in Passau entstandenen
Das erste deutsche heldenepische Gedicht nach Nibelungenlieds dürfte eben jener Bischof Wolfger
dem althochdeutschen Hildebrandslied (s. 3.2.1.4) von Erla gewesen sein, der, einer Urkunde des
ist das mittelhochdeutsche Nibelungenlied. In den 12. November 1203 zufolge, Walther von der Vo-
Handschriften schließt sich eine Reimpaardich- gelweide mit einem Pelzrock beschenkte. Der Ver-
tung an, die das Leid nach der tödlichen Schlacht fasser ist unbekannt; die Zuschreibungen an Wal-
am Hunnenhof schildert (Diu Klage). ther sowie an den Kürenberger, der in seinen
Minneliedern denselben Strophentyp verwendet
wie das Nibelungenlied, sind nicht zu halten.
3.2.3.5 | Lehre
Die mündlich überlieferten Sagenstoffe, die in
Hartmann von Aue schrieb ein paargereimtes das Nibelungenlied einflossen, reichen in die Völ-
Lehrgedicht über die hohe Minne in Form eines kerwanderungszeit zurück. Für die literarische Ge-
allegorischen Streitgesprächs zwischen Herz und staltung, d. h. den Schritt von der Nibelungensage
Leib (Die Klage, um 1185). Thomasin von Zerklae- zum Nibelungenlied, war der Kanon der höfischen
re, ein in deutscher Sprache dichtender Italiener, Literatur, der sich um 1200 bereits ausgeprägt hat-
verfasste 1215 im Friaul eine höfische Verhaltens- te, entscheidend. Das Nibelungenlied verarbeitet
lehre mit dem Titel Der welsche [d. h. romanische] Motive und Formen des Minnesangs und des höfi-
Gast. Die zehnteilige Reimpaardichtung beginnt schen Romans. Kriemhilds Falkentraum, eine sym-
mit einer Minne- und Anstandslehre für die adlige bolische Vorausdeutung auf die Ermordung Sieg-
Jugend, der er die moralisch lehrreiche Lektüre frieds (Aventiure 1, Strophe 13), erinnert an das
höfischer Romane empfiehlt. Die übrigen Teile be- Falkenlied des Kürenbergers (s. 3.2.3.3):
fassen sich mit höfischen Tugenden wie Beständig-
keit (staete), Maßhalten (mâze), Wohlerzogenheit In disen hôhen êren troumte Kriemhilde,
(zuht), Gerechtigkeit (reht), Klugheit (bescheiden- wie si züge eine valken, starc, scoen’ und wilde,
heit im Sinne von Unterscheidungsvermögen) und den ir zwêne arn erkrummen. daz si daz muoste sehen,
Freigebigkeit (milte). Thomasin polemisiert gegen ir enkunde in dirre werlde leider nimmer gescehen.

243
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

(In dieser ehrenvollen Zeit träumte Kriemhild, wie sie ei- genlieds beginnt erneut mit einer Brautwerbung:
nen starken, schönen und wilden Falken erzog, den ihr Rüdiger von Bechelarn hält im Namen Etzels um
zwei Adler entrissen. Dass sie das mit ansehen musste –
kein größeres Leid hätte ihr in dieser Welt je geschehen Kriemhilds Hand an (20–21). Kriemhild sagt zu,
können.) verlässt Worms und heiratet den Hunnenkönig
(22). Als Kriemhild Jahre später Etzel veranlasst,
Kriemhilds Auftritt am Wormser Hof ist jener Sze- ihre Verwandten zu einem Fest einzuladen, sagen
ne im Erec nachgebildet, in der Königin Ginover diese zu und reisen an (23–27). Während des Fests
Enite in den Artushof einführt. kommt es wiederum zur Krise, als die Feindschaft
Das Nibelungenlied setzt dem optimistischen zwischen Kriemhild und den Burgunden offen zu-
Weltbild des Artusromans das fatalistische Bild tage tritt (28–31). Es entzündet sich eine blutige
einer Rittergesellschaft entgegen, die dem Unter- Schlacht, die alle – bis auf Dietrich von Bern – in
gang zustrebt. Dies wird im Vergleich der jeweils den Tod reißt (32–39).
zugrundeliegenden Handlungsstrukturen deutlich. Die Figurenkonstellation des Nibelungenlieds
In beiden Fällen teilt sich die Erzählung in zwei besteht aus zwei Dreiecken (Siegfried/Gunther/
Handlungsbögen, in beiden Fällen gibt es Kri- Kriemhild, Siegfried/Gunther/Brünhild), die sich
senepisoden. Während die Krise im Artusroman an der gemeinsamen Achse zum Viereck verbin-
eine Übergangsphase zwischen vorläufigem und den und deren Dreh- und Angelpunkt Hagen bil-
endgültigem Glück markiert, mündet sie im Nibe- det. Siegfried bedarf bei der Werbung um Kriem-
lungenlied zunächst in die vorläufige (Siegfrieds hild der Zustimmung Gunthers, dieser wiederum
Tod), danach in die endgültige Katastrophe (Unter- ist für seine Werbung um Brünhild auf Siegfrieds
gang der Burgunden). Unterstützung angewiesen. Liebeshandlung und
Das in 39 Kapiteln (›Aventiuren‹) erzählte Nibe- politische Handlung sind verschränkt. Siegfried
lungenlied teilt sich in zwei parallel geführte muss nicht nur deshalb sterben, weil Kriemhild
Handlungskreise, die jeweils fünf Stationen um- Brünhild öffentlich als Mätresse beleidigt, sondern
fassen: zunächst Brautwerbung und Hochzeit, vor allem deswegen, weil die drohende Enthüllung
dann – nach mehrjährigem Zeitsprung – Einla- der Schwäche Gunthers, der bei Brautwerbung
dung, Fest und Katastrophe. Die Brautwerbungs- und Brautnacht auf Siegfrieds Beistand angewie-
geschichte des ersten Teils ist gedoppelt: Siegfried sen war, politische Sprengkraft in sich birgt.
wirbt um Kriemhild (1–5), Gunther um Brünhild Im Zuge der neuzeitlichen Rezeption wurde
(6–9). Nach der Doppelhochzeit bleiben Gunther das gesellschaftskritische Nibelungenlied zur deut-
und Brünhild in Worms, Siegfried kehrt mit Kriem- schen Nationaldichtung erhoben. Bereits Bodmer
hild nach Xanten zurück (10–11). Jahre später be- pries es in Anspielung auf Homer als »teutsche Ili-
wirkt Brünhild, dass Gunther Siegfried und Kriem- as«. Ein herausragendes Beispiel für die zahlrei-
hild zu einem Fest einlädt (12–13). Während des chen literarischen Bearbeitungen ist Hebbels Dra-
Fests kommt es zur Krise, als Kriemhild und Brün- ma Die Nibelungen (1850/60). Wagners Ring des
hild darum streiten, wer von ihnen den edleren Nibelungen (1874 abgeschlossen) stützt sich weni-
Mann geheiratet habe (14). Die Katastrophe nimmt ger auf das Nibelungenlied als auf die nordische
Vergleich zwischen dem ihren Gang: Hagen tötet Siegfried, der Hort wird Sagentradition. Verfehlt war die politische Verein-
Nibelungenlied und dem im Rhein versenkt, Kriemhild führt fortan ein Le- nahmung des Nibelungenlieds im nationalsozialis-
Erec Hartmanns von Aue ben in Trauer (15–19). Der zweite Teil des Nibelun- tischen Heldenkult, denn die Erzählung spiegelt
weniger ein heroisches Ideal germanischer Krie-
Heldenepik (Bsp. Nibelungenlied) Höfischer Roman (Bsp. Erec) gertreue als den kritischen Blick eines bayerischen
Anonymität des Dichters Selbstnennung des Dichters Kirchenfürsten auf die literarische Selbststilisie-
rung des höfischen Rittertums.
Strophenform Reimpaardichtung
An einem Vergleich zwischen dem Nibelungen-
einheimische Überlieferung romanische Vorlage lied und dem Erec Hartmanns von Aue lassen sich
fingierte Mündlichkeit betonte Schriftlichkeit exemplarisch charakteristische Oppositionen zwi-
Geschichte eines Kollektivs Geschichte eines Individuums schen Heldenepik und höfischem Roman demons-
trieren (siehe Tabelle links).
geographisches Raumkonzept symbolisches Raumkonzept
kausale Motivierung finale Motivierung
negative Teleologie (Zielrichtung) positive Teleologie

244
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Spätmittelhochdeutsche
Literatur

3.2.4 | Spätmittelhochdeutsche Literatur Personen und Ereignisse des Spätmittelalters (13.–15. Jh.)
(1220–1450)
1228–29 Fünfter Kreuzzug: Friedrich II. König von Jerusalem
3.2.4.1 | Literatur in der Stadt 1228–54 König Konrad IV., Sohn Friedrichs II. (König seit 1237)
(von Laien für Laien) 1256–73 Interregnum
1273–1346 Wahlkönigtum
Um 1220 vollzieht sich in der höfischen Literatur 1218–91 König Rudolf von Habsburg (König seit 1273)
ein tiefgreifender Wandel. Die Dichter suchen ihre 1281/82–1347 Kaiser Ludwig IV. der Bayer (Wittelsbacher, König seit 1314,
Vorbilder weniger in Frankreich als vielmehr in der Kaiser seit 1328)
deutschen Literatur der Blütezeit. Um 1350 endet 1337–1453 Hundertjähriger Krieg zwischen Frankreich und England
die höfische Tradition und die Stadt tritt als litera- 1346–1437 Herrschaft der Luxemburger
risches Zentrum zunehmend hervor. Der um 1450 1316–78 Kaiser Karl IV. (König seit 1346, erneute Königswahl 1349,
einsetzende Buchdruck markiert das Ende der Kaiser seit 1355)
spätmittelalterlichen Literatur. Die deutsche Lite- 1348 Gründung der ersten deutschen Universität in Prag
ratur des Spätmittelalters lässt sich somit in zwei 1348/49 Große Pest
Phasen einteilen. Die erste reicht von 1220 bis 1356 Goldene Bulle (Unabhängigkeit der Königswahl von
1350 (die sog. ›Nachklassik‹), die zweite von 1350 päpstlicher Bestätigung)
bis 1450. 1358 Gründung der Hanse
Die Epoche der Staufer endet 1254 mit dem Tod 1378–1417 Großes abendländisches Schisma
Konrads IV. Nach einem Interregnum (1256–73) 1390 Erste deutsche Papiermühle in Nürnberg (Ulman Stromer)
wird das Wahlkönigtum (1273–1346) eingeführt. 1414–18 Konzil von Konstanz: Verbrennung von Jan Hus (1415)
Die Große Pest (1348/49) rafft ein Drittel der euro- 1431–49 Konzil von Basel (Spaltung 1437)
päischen Bevölkerung dahin. Die zweite Hälfte des 1438–1806 Herrschaft der Habsburger
14. Jh.s bringt einen intellektuellen, politischen, 1448 Konkordat von Wien, Ende der Konzilsbewegung
wirtschaftlichen und technischen Aufschwung. 1452 Druck der Gutenberg-Bibel
1348 wird in Prag die erste deutsche Universität 1453 Ende des byzantinischen Reichs
ins Leben gerufen. Die Römische Kirche verliert
Einfluss auf die deutsche Königswahl (1356: Gol-
dene Bulle). 1358 wird in Lübeck die Hanse ge- Phase (1220–1350) emanzipieren sich die deut-
gründet. 1390 wird in Nürnberg die erste Papier- schen Dichter von der französischen Literatur und
mühle errichtet. orientieren sich am einheimischen Kanon der höfi-
Gattungsspektrum: Das Spätmittelalter führt schen Klassik. Konrad von Würzburg, der in der
die Tradition der höfischen Lieder, Romane, Novel- zweiten Hälfte des 13. Jh.s zunächst in Straßburg,
len und Heldenepen zunächst weiter. Um 1350 dann am Niederrhein und schließlich in Basel
vollzieht sich ein grundlegender Wandel. Die höfi- wirkte, bietet für die neue literaturgeschichtliche
schen Lieder der Klassik und Nachklassik werden Situation ein eindrucksvolles Beispiel. Der vielsei-
nicht mehr überliefert, die ererbten Liedtypen the- tige Dichter betätigte sich u. a. in den lyrischen
matisch neu gefüllt. Die Tradition des höfischen Gattungen des Minnesangs, der Sangspruchdich-
Versromans weicht der neuen Form des Prosaro- tung und des Leichs sowie in den epischen Gattun-
mans. Mit den geistlichen und weltlichen Spielen gen der Novelle, der Heiligenlegende und des hö-
des Spätmittelalters tritt das Drama in die deutsche fischen Romans. Als Romanautor bedient er drei
Literaturgeschichte ein. Für die spätmittelalterli- Gattungen: den Liebesroman (Partonopier und
che Literatur insgesamt ist ihre gattungsübergrei- Meliur), den Legendenroman (Engelhard) und den
fende Karnevalisierung charakteristisch. Antikenroman (Trojanerkrieg). Der Fragment ge-
bliebene, gleichwohl monumentale Trojanerkrieg
zieht eine Summe nicht nur der ihm zugänglichen
3.2.4.2 | Ästhetik/Poetik:
Trojadichtungen (darunter der Trojaroman Her-
Konrad von Würzburg
borts von Fritzlar), sondern auch der deutschen
Die deutschen Dichter der höfischen Klassik Dichtung der höfischen Blütezeit nach sich. Wenn
(1170–1220) hatten französische Stoffe aufgegrif- er Figurenkonzepte und Handlungsmuster klassi-
fen und Techniken der erweiternden und kürzen- scher höfischer Romane zitiert, so verhält er sich
den Gestaltung genutzt, um sich die Vorlagen deu- ihnen gegenüber nicht epigonal, sondern intertex-
tend anzueignen (s. 3.2.3.2). In der nachklassischen tuell. Wo er zitiert, interpretiert er zugleich. Kon-

245
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

rad markiert seine literaturästhetische Position in gartner Liederhandschrift B) und in Zürich (Große
einer breit angelegten Beschreibung der schönen Heidelberger Liederhandschrift C, »Codex Manes-
Helena, die als poetologische Allegorie lesbar ist. se«) entstanden, dokumentieren bereits ein rück-
Wenn er Helena mit Isolde vergleicht, so nimmt er blickend-sammelndes Interesse am Minnesang.
nicht nur auf diese Figur, sondern auch auf das Einer der herausragenden Liederdichter des
Liebeskonzept Bezug, das Gottfried von Straßburg 14. Jh.s ist der am Hof des Erzbischofs von Salz-
im Tristan entfaltet. Die Schönheitsbeschreibung, burg tätige »Mönch von Salzburg«, der mehr als
die qualitativ und quantitativ alles je Gelesene 100 weltliche und geistliche Lieder verfasste. Er
überbietet, lässt sich als Sinnbild der überbieten- gilt als zentrale Gestalt eines Zirkels von Überset-
den Dichtkunst lesen, auf die sich Konrad ver- zern, die liturgische Lieder aus dem Lateinischen
pflichtet. Der Stoff ihres Gewands sei, so betont ins Deutsche übertrugen, darunter allein sechs
Konrad, von meisterhafter Hand ausbuchstabiert Fassungen der Mariensequenz Stabat mater dolo-
worden (v. 20126–29): rosa. Ein Zeugnis für die karnevaleske Lieddich-
tung des Spätmittelalters ist sein Trinklied zu
gelîstet und gebuochstabet Ehren Sankt Martins Wolauf, lieben gesellen un-
was ez von wîsen henden verzait (»Wohl auf, liebe Freunde, unverzagt«),
an orten unde an enden das den Verzehr von Wein und Gänsebraten par-
mit hôher künste ruoche. odistisch als eucharistische Handlung darstellt.
Berühmte Liederdichter des 15. Jh.s sind der ti-
(Mit hohem Kunstwillen war es von meisterhaften Händen rolische Adelige Oswald von Wolkenstein († 1445)
an allen Ecken und Enden gesäumt und buchstabiert.)
(s. 3.2.4.7) und der Freiburger Geistliche Heinrich
Laufenberg († 1460), der als Dichter deutscher
Konrad entfaltet seine virtuose Form- und Sprach- und Übersetzer lateinischer Kirchenlieder her-
kunst, um einen ästhetischen Kosmos zu schaffen, vortrat.
der nicht nur die Liebe, sondern auch den Krieg Sangspruchdichtung: Die Liedgattung der Sang-
verklärt. Nirgends wird schöner gekämpft, gestor- spruchdichtung wurde noch bis ins frühe 15. Jh.
ben und getrauert als in Konrads Trojanerkrieg. hinein gepflegt. Zu den wichtigsten Repräsentan-
ten des 13. Jh.s gehören Reinmar von Zweter, der
Marner und der Meißner sowie Konrad von Würz-
3.2.4.3 | Lyrik
burg. Für das 14. Jh., in dessen Mitte das Prinzip
Neidhart in der Großen Minnesang: Auf der Schwelle zum nachklassischen der Einstrophigkeit zugunsten von Spruchliedern
Heidelberger Minnesang (1220–1230) steht der Liederdichter (sog. ›Baren‹) aufgegeben und gereimte Autorsi-
Liederhandschrift Neidhart, der in seinen Sommer- und Winterlie- gnaturen angehängt wurden, sind u. a. Heinrich
dern die Rolle des höfischen Ritters Frauenlob, Heinrich von Mügeln, Suchensinn und
mit der burlesken Gegenwelt der dör- Muskatblut zu nennen. Schon im 14. Jh. begann
per (d. h. der bäuerlichen Dorfbewoh- die Tradition des Meistergesangs, die in den süd-
ner) konfrontiert. deutschen Städten vorwiegend von Handwerkern,
Der nachklassische Minnesang vereinzelt aber auch von Klerikern, Lehrern und
umfasst rund 90 Minnesänger, deren Juristen gepflegt wurde, ihren Höhepunkt aber erst
Lieder sich anhand ihrer Vorbilder im 16. Jh. erreichte (s. Kap. III.3.3.1.3). Die in Ge-
tendenziell in drei Gruppen einteilen sellschaften organisierten Meistersinger übten ihre
lassen. Sie folgen erstens der Traditi-
on des klassischen Minnesangs (z. B. Spätmittelhochdeutsche Liederdichter
Otto von Botenlouben), zweitens den
Liedern Reinmars des Alten und Otto von Botenlouben (13. Jh.)
Walthers von der Vogelweide (z. B. Gottfried von Neifen (13. Jh.)
Ulrich von Liechtenstein) und drit- Neidhart (13. Jh.)
tens dem um formale Virtuosität be- Ulrich von Liechtenstein (ca. 1200–1275)
mühten ›geblümten Stil‹ (z. B. Gott- Konrad von Würzburg (ca. 1230–1287)
fried von Neifen). Die großen Lieder- »Mönch von Salzburg« (14. Jh.)
handschriften, die um 1300 im Oswald von Wolkenstein (1376/78–1445)
Elsass (Kleine Heidelberger Lieder- Heinrich Laufenberg (ca. 1390–1460)
handschrift A), in Konstanz (Wein-

246
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Spätmittelhochdeutsche
Literatur

Kunst nebenberuflich in öffentlichen Singwettbe- Spätmittelhochdeutsche Versromane


werben, den Singschulen, aus. Ihre Vorbilder wa-
ren Walther von der Vogelweide, Reinmar von Artusroman
Zweter, Konrad von Würzburg, Heinrich Frauen- Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal (um 1220)
lob und andere, deren Töne sie mit neuen Texten Heinrich von dem Türlin: Die Krone (um 1230)
versahen. Wigamur (um 1250)
Pleier: Garel von dem Blühenden Tal (um 1260/80)
Pleier: Tandareis und Flordibel (um 1260/80)
3.2.4.4 | Epik
Pleier: Meleranz (um 1260/80)
Heldenepik: Im Spätmittelalter erweitert sich das Konrad von Stoffeln: Gauriel von Muntabel (zweite Hälfte 13. Jh.)
thematische Spektrum der deutschen Heldenepik, Antikenroman
die weiterhin in Strophen abgefasst wird. Aus Göttweiger Trojanerkrieg (um 1270/1300)
dem 15. und 16. Jh. sind zahlreiche Heldenbücher Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg (1281/87)
erhalten, die spätmittelalterliche Heldenepen ge- Liebesroman
sammelt überliefern. Die um 1240 verfasste Ku- Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur (um 1220)
drun beruht auf der auch in altenglischen und Rudolf von Ems: Wilhelm von Orlens (um 1235/40)
skandinavischen Quellen bezeugten Hildensage. Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur (1277?)
Sie bietet eine forcierte Variante des Erzählmus- Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich (1314)
ters der gefährlichen Brautwerbung: Nach dem Legendenroman
Raub der Braut Hilde töten sich Schwiegervater Rudolf von Ems: Der gute Gerhard (um 1220)
und Bräutigam gegenseitig im Kampf. Im 13. Jh. Reinbot von Durne: Der heilige Georg (um 1240)
wird der heldenepische Stoffkreis der Dietrich- Konrad von Würzburg: Engelhard (zweite Hälfte 13. Jh.)
epik, dem schon das ahd. Hildebrandslied zuzu- Schwankroman
rechnen ist, in zahlreichen Dichtungen gestaltet. Der Stricker: Der Pfaffe Amis (um 1240)
Die zentrale Heldenfigur ist der bereits im Nibe- Heinrich Wittenwiler: Der Ring (ca. 1410)
lungenlied auftretende Dietrich von Bern (Vero-
na). Sie geht zurück auf den Ostgotenkönig Theo-
derich der Große († 526), der Ende des 5. Jh.s Merkmale des nachklassischen Versromans: Die
Italien eroberte. Man unterscheidet zwei Typen Tradition des höfischen Versromans wird bis zur
der Dietrichepik: Die historische Dietrichepik Mitte des 14. Jh.s weitergeführt. Während der fran-
handelt von der Vertreibung Dietrichs an den Hof zösische Roman nach 1200 zur Prosa wechselt,
des Hunnenkönigs Etzel und seinen Versuchen, halten die deutschen Romandichter weiterhin am
sein Reich zurückzugewinnen (so in den gemein- Vers fest (eine Ausnahme ist der seit 1250 nach ei-
sam überlieferten Erzählungen Dietrichs Flucht ner französischen Vorlage entstandene, mehrere
und Rabenschlacht, d. h. Schlacht bei Ravenna). Bücher umfassende Prosa-Lancelot). Sie folgen den
Die aventiurehafte Dietrichepik handelt von sei- großen Vorbildern Hartmann, Wolfram und Gott-
nen Jugendabenteuern mit Riesen und Zwergen in fried, auf deren Werke sie sich mit intertextuellen
den Bergen Südtirols (so im Eckenlied und im Si- Anspielungen beziehen. Ein weiteres Merkmal des
genot). Ein bizarrer Seitenstrang der Dietrichepik nachklassischen Romans ist die Tendenz zur Voll-
sind die beliebten Dichtungen Ortnit und Wolf- ständigkeit, die sich einerseits in der verarbeiteten
dietrich: Nach abenteuerlicher Jugend heiratet Stofffülle, andererseits in der Vervollständigung
Wolfdietrich die Witwe seines von einem Drachen und Fortsetzung von Romanen der Blütezeit er-
getöteten Freundes Ortnit. weist. Auf die umfangreiche, von hohem Kunstan-
spruch getragene Romanliteratur des 13. Jh.s fol-
Spätmittelhochdeutsche Heldenepen gen in der ersten Hälfte des 14. Jh.s nur noch
wenige Werke, danach bricht die Tradition ab.
Dietrichs Flucht und Rabenschlacht (histori- Artusroman: Als Verfasser nachklassischer Ar-
sche Dietrichepik, 13. Jh.) tusromane sind der Stricker (Daniel von dem Blü-
Eckenlied und Sigenot (aventiurehafte henden Tal, um 1220), Heinrich von dem Türlin
Dietrichepik, Mitte/Ende 13. Jh.) (Die Krone, um 1230), der Pleier (Garel von dem
Ortnit und Wolfdietrich (um 1230) Blühenden Tal, Tandareis und Flordibel, Meleranz,
Kudrun (um 1240) um 1260/80) und Konrad von Stoffeln (Gauriel
von Muntabel, zweite Hälfte 13. Jh.) zu nennen;

247
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

der parodistische Wigamur (um 1250) ist anonym Legendenroman: Auch die Gattung des Legen-
überliefert. denromans wurde weitergeführt. Reinbot von Dur-
Antikenroman: Aus den Antikenromanen des ne schrieb eine höfische Georgslegende (um 1240),
13. Jh.s ragt Konrads von Würzburg Trojanerkrieg Konrad von Würzburg drei Heiligengeschichten
(1281/87) hervor. Der gewaltige Torso wurde um (Silvester, Alexius, Pantaleon) sowie einen legen-
1300 von einem unbekannten Verfasser vervoll- denhaften Freundschaftsroman (Engelhard), der
ständigt, der sich auf eine andere Stofftradition nur in einem Druck des 16. Jh.s überliefert ist. Den
stützte und folglich zahlreiche Brüche und Wider- mittelhochdeutschen Wortlaut des Engelhard hat
sprüche produzierte. Eine weitere Trojadichtung, man aus dem frühneuhochdeutschen Text rekon-
der Göttweiger Trojanerkrieg (um 1270/1300) eines struiert. Rudolf von Ems präsentiert in seinem le-
Verfassers, der sich als Wolfram von Eschenbach gendenhaften Roman Der gute Gerhard (um 1220)
ausgibt, verschränkt die Gattungen des Antiken- erstmals einen Kaufmann als Protagonisten.
und Abenteuerromans. Schwankroman: Die Gattung des Schwankro-
Liebesroman: Bemerkenswerte Liebesromane mans tritt erst im Spätmittelalter in die deutsche
nach Gottfrieds Tristan sind Konrad Flecks Flore Literatur ein, entfaltet dann aber größte Wirkung.
und Blanscheflur (um 1220) und Konrads von Der älteste Schwankroman deutscher Sprache ist
Würzburg Partonopier und Meliur (1277?). Am Er- der in Reimpaaren verfasste Pfaffe Amis des Stri-
zählmuster des spätantiken Liebes- und Abenteu- ckers (um 1240). Als Held des Buches, das als
erromans orientieren sich der Wilhelm von Orlens gerahmte Schwanksammlung komponiert ist, fi-
Rudolfs von Ems (um 1235/40) und der Wilhelm guriert ein entlaufener Pfaffe, der mit listigen Strei-
von Österreich Johanns von Würzburg (1314). Bei- chen die Torheiten der Stände entlarvt. Einzelne
de Romane, zugleich fiktive Frühgeschichten rea- Geschichten sind in das Repertoire der frühneu-
ler Fürstenhäuser, waren bis in die frühe Neuzeit zeitlichen Schwankliteratur eingegangen. Der um
sehr beliebt. Fragen der Herrschaft dominieren 1410 entstandene Ring Heinrich Wittenwilers hält
ebenfalls im Reinfried von Braunschweig (nach am Formtyp der Reimpaardichtung fest. In seiner
1291) und im Apollonius von Tyrland Heinrichs Mischung aus narrativen und didaktischen Partien
von Neustadt (Anfang 14. Jh.). steht er zwischen Roman und Lehrdichtung.

Interpretationsskizze Literatur und Karneval Hof und Dorf, Tanz und Prügel, Blume und Kot-
Die für die spätmittelalterliche Dichtung charak- haufen.
teristische Tendenz zur Karnevalisierung betrifft Auch im letzten großen Versroman des Spätmit-
alle Gattungen: telalters, in Heinrich Wittenwilers Schwank-
N Lyrik: Neidharts Lieder, Martinslied des roman Der Ring (1410), spielt Neidhart eine zen-
»Mönchs von Salzburg«, Beichtlied Oswalds trale Rolle als höfischer Ritter, der mit der
von Wolkenstein bäuerlichen Gegenwelt konfrontiert wird. Der auf
N Heldenepik: groteske Partien der Dietrichepik einem schwankhaften Märe (Die Bauernhoch-
N Roman: Schwankromane des Strickers und zeit) basierende Roman erzählt eine Brautwer-
Heinrich Wittenwilers bungsgeschichte, deren komische Helden Bert-
N Versnovelle: Mären des Strickers schi Triefnas und Mätzli Rüerenzumpf heißen.
N Drama: Neidhart- und Fastnachtspiele Die Handlung reicht von der Werbung bis zum
Die karnevaleske Dimension beruft sich vielfach Hochzeitsfest und ist durchsetzt mit burlesken
auf Neidhart. Am Anfang steht der gleichnamige Kampf- und Fressszenen. Immer wieder durch-
Minnesänger, dessen Lieder den werbenden und brechen Moral- und Lebenslehren den Fluss der
umworbenen Ritter mit der burlesken Gegenwelt erzählten Handlung, um dem Normbruch die
der dörper konfrontieren und somit ein Zerrbild geltende Norm entgegenzusetzen, beispielsweise
der höfischen Gesellschaft entwerfen. Im Laufe dem Fressgelage die Tischzucht. Die dargestellte
des Spätmittelalters wird Neidhart in eine fiktive Welt der Bauern ist nicht als historische oder gar
Figur umgemodelt, die sowohl im Drama als sozialkritische Schilderung zu verstehen, son-
Karnevaleske Literatur: auch im Roman auftritt. Im Fastnachtspiel Der dern als Zerrspiegel der höfischen Welt und Ver-
Wittenwilers Ring in der Neidhart mit dem Veilchen verläuft die karneva- kehrung des höfischen Ideals.
Münchner Handschrift leske Spiegelachse zwischen Ritter und Bauer,

248
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Spätmittelhochdeutsche
Literatur

Spätmittelhochdeutsche Prosaromane die später oftmals kompiliert wurden, sind hervor-


zuheben. Am Anfang der Gattung steht die Welt-
Elsässisches Trojabuch (vor 1386) chronik des Vorarlberger Ministerialen – und ne-
Hans Mair: Trojabuch (1390/92) ben Konrad von Würzburg bedeutendsten Epikers
Heinrich Gutevrunt: Trojabuch (1432) des späteren 13. Jh.s – Rudolf von Ems (um 1250),
Elisabeth von Lothringen: Herpin, Sibille, Loher die in der Darstellung des fünften Weltalters ab-
und Maller, Huge Scheppel (1430er Jahre) bricht. Vorlage ist, neben der lateinischen Bibel
Johannes Hartlieb: Alexander (Mitte 15. Jh.) (Vulgata), die Historia scholastica des Petrus Co-
Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456) mestor († 1179). Zeitgleich entstand die christolo-
Fortunatus (1509) gisch zentrierte Christherre-Chronik eines unbe-
kannten Verfassers, der sein Werk ebenfalls nicht
abschloss. Dies gelang einige Jahrzehnte später
Prosaroman: Nach einigen Vorläufern im 14. Jh. dem Wiener Stadtbürger Jans Enikel, dessen Welt-
etabliert sich in der ersten Hälfte des 15. Jh.s die chronik bis Kaiser Friedrich II. und somit fast in
Gattung des deutschen Prosaromans. Wieder ste- die Gegenwart des Verfassers reicht. Diese Chroni-
hen literarische Bearbeitungen vorgefundener ken wurden von späteren Verfassern kompiliert, so
Stoffe am Anfang. Seit Ende des 14. Jh.s entsteht in einem Werk aus der ersten Hälfte des 14. Jh.s,
eine Gruppe von Antikenromanen, die sich zum dessen verschiedene Fassungen unter dem Namen
Teil auf lateinische Vorlagen beziehen, so das El- Heinrich von München überliefert sind.
sässische Trojabuch (vor 1386), das Trojabuch
Hans Mairs (1390/92), das Trojabuch Heinrich Gu- Spätmittelhochdeutsche Weltchroniken
tevrunts (1432) und der Alexander Johannes Hart-
liebs (Mitte 15. Jh.). In den 1430er Jahren über- Rudolf von Ems: Weltchronik (um 1250)
setzt Elisabeth von Lothringen, verwitwete Gräfin Christherre-Chronik (1250)
von Nassau-Saarbrücken, vier französische Roma- Jans Enikel: Weltchronik (1270/80)
ne, die einen genealogischen Zyklus bilden: Her- Heinrich von München: Weltchronik (erste
pin, Sibille, Loher und Maller und Huge Scheppel. Hälfte 14. Jh.)
Der Berner Schultheiß Thüring von Ringoltingen
schreibt nach französischer Vorlage den berühm-
ten Feenroman Melusine (1456). Er folgt dem Er- Versnovelle: Nach Vorläufern im 12. Jh. (s. 3.2.3.4)
zählmuster der ›gestörten Mahrtenehe‹ (Mahrte tritt die deutsche Versnovelle mit dem 13. Jh. in
= Fee). Die Fee Melusine heiratet den Ritter Rey- ihre eigentliche Epoche. Ihre Stoffe und Motive zir-
mund unter der Bedingung, dass er sie niemals kulieren in den europäischen Literaturen. Als Be-
samstags im Bad besuchen darf, denn dann ver- gründer der spätmittelalterlichen Tradition der
wandelt sie sich in eine Schlangenfrau.
In der zweiten Hälfte des 15. Jh.s werden zahl-
reiche höfische Versepen des hohen und späten
Mittelalters für den Buchdruck erschlossen, indem
man sie in Prosa auflöst und mit Holzschnitten
versieht. Als erster selbständiger deutscher Pro-
saroman gilt der Fortunatus eines unbekannten
Verfassers (Augsburg 1509), der unter Verwen-
dung von Märchenmotiven die wechselvolle Ge-
schichte eines Kaufmannsgeschlechts erzählt (zu
den Prosaromanen des 15. Jh.s s. Kap. III.3.3.1.5).
Weltchronik: Sehr beliebt ist seit dem 13. Jh. die
neue Gattung der gereimten Weltchroniken, die
vorwiegend in illustrierten Handschriften überlie-
fert sind. Als Basis dienen die Geschichtsbücher
des Alten Testaments, die um zentrale Ereignisse
der Profangeschichte vervollständigt und gemäß Melusine im Bad: Miniatur
der christlichen Lehre von den sechs Weltaltern in der Nürnberger
gegliedert werden. Drei Weltchroniken des 13. Jh.s, Handschrift

249
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

Spätmittelhochdeutsche Versnovellen Geistliches Spiel: Die geistlichen Spiele sind aus


der kirchlichen Liturgie hervorgegangen und be-
Mauritius von Craûn (1210/30) handeln biblische und hagiographische Stoffe.
Der Stricker: Mären (erste Hälfte 13. Jh.) Sie wurden in Kirchen und auf öffentlichen Plät-
Konrad von Würzburg: Herzmäre (1250/60) zen aufgeführt. Die weiblichen Rollen wurden von
Dietrich von der Glesse: Der Gürtel (1270/90) Männern gespielt. Ein frühes Beispiel bietet das in
Wernher der Gartenaere: Helmbrecht den Carmina Burana, einer Sammelhandschrift
(zweite Hälfte 13. Jh.) des 13. Jh.s, überlieferte lateinisch-deutsche Große
Heinrich Kaufringer: Mären (um 1400) Benediktbeurer Passionsspiel (um 1230). Neben
Hans Rosenplüt († 1460): Mären den zahlreichen Passionsspielen gibt es auch Os-
Hans Folz († 1513): Mären ter-, Weihnachts-, Himmelfahrts- und Fronleich-
namsspiele. Aus der Zeit vom 13. bis 16. Jh. sind
rund 160 Spiel- und Lesetexte überliefert; die Blü-
deutschen Versnovelle, die man auch als Märe be- tezeit lag im 15. und 16. Jh.
zeichnet (mhd. maere: Kunde, Nachricht), gilt der Weltliches Spiel: Die Überlieferung der weltli-
Stricker. Drei Typen sind zu unterscheiden: chen Spiele setzt erst in der Mitte des 14. Jh.s ein.
schwankhafte, höfische und moralische Mären. Wie die geistlichen Spiele ist auch die Gattung des
Die schwankhaften Mären des Strickers (13. Jh.) Fastnachtspiels an das liturgische Jahr gebunden,
kreisen häufig um das Thema des Ehebruchs; sie es hat seinen Ort in der Vorfastenzeit. Von der Mit-
entsprechen den französischen Fabliaux. Höfisch- te des 14. Jh.s bis um 1500 sind 144 Fastnachtspie-
galante Mären wie der Mauritius von Craûn le überliefert, davon 108 aus Nürnberg. Hervorge-
(1210/30), das Herzmäre Konrads von Würzburg gangen sind sie aus den Neidhartspielen, die
(1250/60) oder der Gürtel Dietrichs von der Glesse wiederum auf Neidhartschwänken basieren. Am
(1270/90) handeln von der Werbung eines Ritters Anfang steht das St. Pauler Neidhartspiel, das in
und der Bewährung seiner Liebe. Ein Beispiel für einer schwäbischen Handschrift von 1360/70 be-
moralische Mären bietet der Helmbrecht (zweite zeugt ist. Es dramatisiert den in Text und Bild weit
Hälfte 13. Jh.) eines Verfassers namens Wernher verbreiteten Veilchenschwank. Neidhart will der
der Gartenaere, der am Exempel eines Bauern, der Herzogin ein Veilchen präsentieren, das er gefun-
als Raubritter sein Unwesen treibt und dafür den und mit einem Hut bedeckt hat; doch zwi-
schließlich mit dem Leben bezahlt, die Einhal- schenzeitlich haben böswillige Bauern das Blüm-
tung der Ständeordnung propagiert. Die Gattung chen durch einen Kothaufen ersetzt.
wird im 14. und 15. Jh. weitergeführt. Die bedeu- Die Gattung des Fastnachtspiels wird zuneh-
tendsten Märendichter nach dem Stricker sind mend komplex, sie nimmt antike, höfische und
Heinrich Kaufringer (um 1400) aus Landsberg biblische Stoffe in sich auf. Gespielt wurde in
sowie Hans Rosenplüt (um 1400–1460) und Hans Wirtshäusern, ebenfalls nur von männlichen Dar-
Folz (1435/40–1513) aus Nürnberg. stellern. Die Nürnberger Fastnachtspiele sind seit
etwa 1430/40 nachweisbar. Viele Verfasser von
Fastnachtspielen waren zugleich Märendichter, da-
3.2.4.5 | Dramatik
runter Hans Rosenplüt in der ersten und Hans Folz
Im 13. Jh. hält die Gattung des Dramas Einzug in in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s.
die deutsche Literaturgeschichte. Zu unterscheiden
ist zwischen geistlichen und weltlichen Spielen.
3.2.4.6 | Lehre
Spätmittelhochdeutsche Dramen Die für die spätmittelalterliche Literaturgeschichte
bedeutenden Lehrdichtungen stehen auf der
Geistliches Spiel Schwelle zwischen poetischer und pragmatischer
Großes Benediktbeurer Passionsspiel (um 1230) Literatur. Einige von ihnen sind als Versdichtun-
Weltliches Spiel gen verfasst, andere in Prosa. Im Wesentlichen
St. Pauler Neidhartspiel (um 1350) lassen sich drei thematische Textgruppen unter-
Fastnachtspiele scheiden: moraldidaktische (Reimpaarrede, Streit-
Hans Rosenplüt gespräch), wissensvermittelnde (u. a. Naturkun-
Hans Folz de) und religiöse Lehrdichtungen (u. a. Mystik).
Aus den Lehrdichtungen ragt der Renner Hugos

250
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Spätmittelhochdeutsche
Literatur

Spätmittelhochdeutsche Lehrdichtungen Streitgespräch: Lehrhaften Charakter hat auch


die Gattung des Streitgesprächs, die aus der latei-
Stricker: Fabeln (erste Hälfte 13. Jh.) nischen in die volkssprachliche Literatur über-
Hugo von Trimberg: Der Renner (um 1300) nommen wurde. Schon die Klage Hartmanns von
Konrad von Megenberg: Buch der Natur Aue, ein Gespräch zwischen Herz (herze) und
(1348/50) Leib (lîp) über die höfische Liebe des Ritters zur
Ulrich Boner: Der Edelstein (Mitte 14. Jh.) Dame, ist dieser Tradition zuzurechnen. Als an-
Theologia deutsch (Der Frankfurter) spruchsvollster Prosatext des deutschen Spätmit-
(spätes 14. Jh.) telalters und den Liedern Oswalds von Wolken-
Johannes von Tepl: Der Ackermann aus stein sowie dem Ring Heinrich Wittenwilers
Böhmen (1400/01) ranggleiches Werk gilt der Ackermann aus Böh-
Ulrich von Pottenstein: Cyrillus-Fabeln men, ein Streitgespräch zwischen Bauer und Tod
(um 1406) (1400/01). Verfasser ist Johannes von Tepl, Notar
und Leiter der Lateinschule der böhmischen Stadt
Saaz. Der Text ist als Wechselrede in 32 symme-
von Trimberg heraus, eine Großdichtung, die Mo- trisch komponierten Kapiteln gestaltet. Als der
raldidaktik, Wissensvermittlung und religiöse Un- Bauer den Tod anklagt, ihm die geliebte Ehefrau
terweisung in sich vereint. geraubt zu haben, weist der Tod auf die Vergäng-
Didaktische Großdichtung: Der Renner (um lichkeit und Eitelkeit der Welt hin. In der zweiten
1300) Hugos von Trimberg, eines in Bamberg täti- Hälfte des zwischen Predigt und Drama changie-
gen Magisters und Schulrektors, war noch erfolg- renden Texts gewinnt der Bauer Oberhand, der
reicher als der Welsche Gast (s. 3.2.3.5). Das 25 000 das menschliche Leben preist. Im Schlusskapitel
Reimpaarverse umfassende Kompendium, die um- (Kap. 33) gibt Gott beiden Parteien Recht.
fangreichste Lehrdichtung des deutschen Mittelal- Naturkunde: Die spätmittelalterliche Naturkun-
ters überhaupt, bietet nicht nur eine nach den sie- de knüpft an die Tradition des Physiologus an, die
ben Todsünden geordnete Sittenlehre, sondern bereits in der deutschen Literatur des frühen Mit-
erschließt dem laikalen Publikum auch lateini- telalters rezipiert wurde (s. 3.2.2.3). In der Mitte
sches Schulwissen in deutscher Sprache. Seinen des 14. Jh.s schrieb Konrad von Megenberg das
Namen hat das Werk, weil es eilig durch die Berei- enzyklopädische Buch der Natur (1348/50). Wie
che der Sprache, Literatur, Musik, Astronomie, Na- seine lateinische Vorlage, der Liber de natura re-
turkunde und Medizin schweift. rum des Thomas von Cantimpré (erste Hälfte
Reimpaarrede: Eine lehrhafte Textsorte des 13. Jh.), stellt Konrads Prosawerk keine empirische
deutschen Spätmittelalters sind die thematisch Untersuchung, sondern eine Summe antiker Wis-
vielfältigen Reimpaarreden. Am Anfang dieser sensbestände dar, die allegorisch auf den christli-
produktiven, an spezifische Gebrauchszwecke wie chen Glauben ausgelegt werden. Das Werk behan-
Seelsorge oder Lebenslehre gebundenen Gattung delt in acht Büchern folgende Bereiche: (1)
steht wiederum der Stricker (13. Jh.). Zu unter- Mensch, (2) Himmel und Planeten, (3) Tiere, (4)
scheiden ist zwischen religiösen, moralischen, poli- Bäume, (5) Kräuter, (6) Edelsteine, (7) Metalle, (8)
tischen und wissensvermittelnden Reden; seit dem wunderbare Gewässer und Monster. Das umfang-
14. Jh. besonders umfangreich überliefert sind die reich illustrierte Werk war weit verbreitet, es wur-
auf das Thema der Liebe bezogenen Minnereden. de noch 1540 in Frankfurt gedruckt.
Verwandt sind die lehrhaften, an lateinischen Vor- Mystik: Die Mystik lässt sich der lehrhaften Li-
bildern orientierten Gattungen des moralischen Ex- teratur in dem Maße zurechnen, wie sie kateche-
empels, das man mit dem mittelhochdeutschen tisch und theologisch geprägt ist. Die Anfänge der
Wort auch als ›Bispel‹ bezeichnet. Treten darin deutschen Mystik liegen im 12. Jh. (s. 3.2.2.3:
personifizierte Tiere auf, so spricht man von ei- St. Trudperter Hohelied). Im 13. Jh. verfasste die
nem Tierbispel oder einer Fabel. Ein Fabeldichter Begine Mechthild von Magdeburg († 1282) eine
des 13. Jh.s ist der Stricker. Mitte des 14. Jh.s ver- Autobiographie mit dem Titel Das fließende Licht
fasste Ulrich Boner die erste deutsche Sammlung der Gottheit. Das sieben Bücher umfassende, Prosa
äsopischer Fabeln (Der Edelstein). Anfang des und Verse mischende Werk verarbeitet zahlreiche
15. Jh.s übersetzte Ulrich von Pottenstein eine la- Quellen und umfasst predigt- und lehrhafte Parti-
teinische Fabelsammlung ins Deutsche (Cyrillus- en. Die bekanntesten Mystiker des 14. Jh.s sind der
Fabeln). Dominikaner Meister Eckhart († 1328), ein in La-

251
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Mittelalter

tein und Volkssprache schreibender Theologe, von er zwei selbst betreute. Die Innsbrucker Hand-
dem mehr als 100 deutsche Predigten überliefert schrift beginnt mit dem berühmten Bildnis des ein-
sind, sowie seine Ordensbrüder Johannes Tauler äugigen Dichters. Oswald gilt – neben dem »Mönch
(† 1361), der über 80 Predigten verfasste, und von Salzburg« – als frühester Vertreter des mehr-
Heinrich Seuse († 1366), der in seiner autobiogra- stimmigen deutschsprachigen Lieds. Einige Melo-
phischen Vita den exemplarischen, am Ende zur dien sind überliefert.
unio mystica führenden Lebenslauf eines Mysti- Ein Lied, das das poetische Profil dieses Dich-
kers entwirft. Darunter ist die mystische Vereini- ters schön illustriert, ist das sogenannte Beicht-
gung der menschlichen Seele mit Gott zu verste- lied, in dem sich Oswald als Sünder anklagt. Das
hen, die in der letzten Strophe des mystischen sechs Strophen umfassende Lied enthält einen
Gedichts Granum sinapis (Senfkorn) als Bitte for- Katalog aller denkbaren Sünden: Übertretungen
muliert wird: der Zehn Gebote, Verstöße gegen die sieben Wer-
ke der Barmherzigkeit, Sünden mit den fünf Sin-
Ô sêle mîn nen, die sieben Todsünden, die vier schreienden
genk ûz, got în! Sünden, darunter auch die sünd von Sodoman
sink al mîn icht (Sodomie im Sinne von Homosexualität). Unmög-
in gotis nicht, lich kann ein sterblicher Mensch all diese Sünden
sink in dî grundelôze vlût! begangen haben. Dennoch klagt sich Oswald ihrer
vlî ich von dir, an – und weiß einen Nutzen daraus zu ziehen.
du kumst zu mir. Der Herrgott selbst, so sagt er, habe ihn zu diesem
vorlîs ich mich, Beichtlied inspiriert, damit er, der sündige Dich-
sô vind ich dich, ter, der Hofgesellschaft als abschreckendes Bei-
ô uberweselîches gût! spiel dienen könne:

(O meine Seele, geh hinaus, und Gott kehre ein! Mein gan- der gab mir Wolkenstainer rat,
zes Sein [mhd. i(c)ht: etwas] versinke in Gottes Nichts,
versinke in die grundlose Flut! Fliehe ich von dir, kommst
auss peichten solt ich leren
du zu mir. Verliere ich mich, so finde ich dich, o alles Sein Durch mein gesank vil hofeleut
übersteigendes Gut!) und mangen ungewissen mensch,
die sich verirren in der heut,
Ein hervorragendes Werk der deutschen Mystik ist recht als in Pehem tuent die gens.
Oswald von Wolkenstein die Theologia deutsch (Ende 14. Jh.), auch Der
in der Innsbrucker Frankfurter genannt. Der Traktat, den Martin Lu- (Der gab mir, dem Wolkensteiner, ins Herz, ich sollte in
meinem Gesang durch eine Beichte viele Hofleute beleh-
Handschrift ther im 16. Jh. als Druck herausgab, führt in kriti- ren und manchen Menschen, der unsicher ist und sich in
scher Auseinandersetzung mit der seiner Haut nicht mehr auskennt so wie die Gänse zu Böh-
sogenannten ›Häresie des freien men.)
Geistes‹ vor, wie sich eine im Sinne
der Mystik vollkommene Lebensfüh- Das Beichtlied
rung gestaltet. N enthält einen umfassenden Beichtspiegel in
Form einer Summe aller Sünden,
N weist eine komplexe Strophenform und Rheto-
3.2.4.7 | Exkurs: Das Beichtlied
rik auf,
Oswalds von Wolkenstein N hat unterhaltenden Charakter, weil eine solche
Oswald von Wolkenstein (1376/78– Sündenhäufung den Hörer überrascht,
1445), ein tirolischer Ritter, ist der N spielt mit der Biographie des Verfassers, der
berühmteste Liederdichter des Spät- sich namentlich nennt, ohne tatsächlich das
mittelalters. Über seine Biographie Geringste über sein Leben und seine Person
sind wir bestens informiert, zumal auszusagen,
sich Oswald selbst zum Thema sei- N impliziert die paradoxe Logik, dass maximale
ner Lieder macht (vgl. Dieter Kühn: Sünde im Sinne eines negativen Lehrbeispiels
Ich Wolkenstein). Seine weltlichen zu maximalem Verdienst führe,
und geistlichen Lieder, insgesamt N weist den Wolkensteiner auch in seiner Sün-
über einhundert Texte, sind in drei denfähigkeit als den unüberbietbar Größten
Handschriften überliefert, von denen und Besten aller Zeiten aus,

252
3.2
Kleine Literaturgeschichte
Spätmittelhochdeutsche
Literatur

N spielt im Bild der böhmischen Gänse, die sich in ehemaligen Rektors der Universität Prag) Jan
ihrer Haut nicht mehr wohl fühlen, ironisch auf Hus auf dem Scheiterhaufen am 6. Juli 1415
ein zeitgeschichtliches Ereignis an, nämlich die während des Konstanzer Konzils.
Hinrichtung des böhmischen Theologen (und

Literatur
Brunner, Horst: Geschichte der deutschen Literatur des Klein, Dorothea: Mittelalter. Lehrbuch Germanistik.
Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Überblick. Stuttgart/Weimar 2006.
Stuttgart 2010. Weddige, Hilkert: Einführung in die germanistische
Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft Mediävistik. München 72008.
im hohen Mittelalter. München 102002. Wehrli, Max: Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poeto-
Fuhrmann, Manfred: »Die Spätantike und ihre Folgen. logische Einführung. Stuttgart 1986.
Über ein unterschätztes Zeitalter der lateinischen
Literatur«. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 121 Internetportal: Mediaevum.de (http://www.mediaevum.de)
(1992), S. 253–274.
Haug, Walter: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. (Nachschlagewerke, (mehrbändige) Literaturgeschichten,
Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Textausgaben etc. sind in der Bibliographie im Anhang
Mit einem Vorwort von Claudia Brinker-von der Heyde. des Bandes aufgeführt).
Darmstadt 32009.
Heinzle, Joachim (Hg.): Das Mittelalter in Daten. Literatur, Andreas Kraß
Kunst, Geschichte 750–1520. Stuttgart 2002.

253
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

3.3 | Frühe Neuzeit


Die kulturhistorische Großepoche ›Frühe Neuzeit‹ ›Weltwissens‹. Sie ist stets adressatenbezogen, will
hat in der wissenschaftlichen Einschätzung seit wirken, und sie will nicht verbergen, dass sie wir-
den 1980er Jahren eine deutliche Erweiterung er- ken will. Deshalb wird die Verwendung rhetori-
fahren. Wurden in früheren Zeiten nur Humanis- scher und poetischer Anweisungsschriften durch-
mus (alternativ: Renaissance, Reformationszeital- aus propagiert. Die Nachahmung (imitatio) der
ter) und Barock mit diesem Etikett versehen, legen antiken Vorbilder und kreative Auseinanderset-
neuere Forschungsansätze es nahe, dass man auch zung mit ihnen (aemulatio) im Rahmen bestimm-
die Kultur der Aufklärung der Frühen Neuzeit zu- ter Normen (aptum, licentia poetica) sind zunächst
rechnet, die damit einen Zeitraum von über unumstrittene Grundsätze literarischen Schreibens
300 Jahren – etwa von der Erfindung des Buch- (zur rhetorischen Fundierung vgl. Dyck 1991; Bar-
drucks bis zur Französischen Revolution – um- ner 2002). Erst im Lauf des 18. Jh.s wendet sich die
spannt. Im Einzelnen weichen die Grenzziehun- gebildete Welt zunächst allmählich, mit dem
gen je nach dem gewählten Paradigma allerdings Sturm und Drang schließlich in eruptiver Aufleh-
deutlich voneinander ab: Wenn man etwa die po- nung von den antiken Traditionen ab, doch bleibt
litischen Strukturen des Absolutismus zum Maß- die Rückbindung an gelehrte Dichtungspraxis
stab nimmt, lässt sich mit dessen offenkundiger (docta poesis) selbst bei radikalen Neuerern er-
Diskreditierung anlässlich der französischen Ereig- kennbar. Die Tendenz frühneuzeitlicher Literatur
nisse von 1789 ein relativer später Endpunkt an- zur Lehrhaftigkeit (Moraldidaxe, Unterweisung in
setzen, und auch der Beginn ist dann erst auf die den ›gesellschaftlichen Tugenden‹) schließt stets,
Mitte des 16. Jh.s zu datieren, nämlich auf das auch bei den sogenannten Aufklärern, die Ausein-
Scheitern Kaiser Karls V. mit dem letzten Versuch, andersetzung mit Religion bzw. theologisch-kon-
eine universale Zentralgewalt in mittelalterlichem fessionellen Positionen ein. Anders als im Fall der
Sinne über den souveränen Territorialfürsten zu literarischen Produktion späterer Zeiten ist die
bewahren. funktionale Situierung der Texte in ihrem jeweili-
Unterschiedliche Nimmt man hingegen die Umbrüche im Bereich gen historischen Kontext mit Hilfe eines wissen-
Abgrenzungskriterien der Medienentwicklung als Kriterium, liegt man schaftlichen Instrumentariums zumeist recht zu-
mit der Erfindung des Buchdrucks um 1450 und verlässig zu erschließen.
der Durchsetzung periodischer Publikationsfor-
men wie Zeitungen und Zeitschriften gegen Ende
des 17. Jh.s jeweils relativ früh. Die Bestimmung
der Frühen Neuzeit als Epoche einer intensiven, 3.3.1 | Humanismus
gleichwohl elitären Lesekultur ist dabei nicht we-
niger plausibel als ihre Eingrenzung nach den fa- Der Übergang vom Spätmittelalter zum Humanis-
vorisierten politischen Modellen. Andere Ansätze, mus vollzog sich, wie alle Epochenübergänge, in
die die Herausbildung eines modernen Subjektbe- mehreren Schritten. Allerdings wurde durch die in
griffs, die durchgreifende Veränderung des Welt- Italien (Francesco Petrarca, 1304–1374) geprägte
bildes oder die Tendenzen der Säkularisierung Vorstellung von einer Ablösung des ›dunklen Mit-
zum Maßstab nehmen, werden die Grenzen wie- telalters‹ durch die ›Wiedergeburt‹ (Renaissance)
der anders festlegen. Hier besteht allerdings die der antiken Kultur ein fundamentaler Neubeginn
Gefahr, dass die Prozesshaftigkeit der beschriebe- emphatisch proklamiert. Tatsächlich meint ›Hu-
nen Phänomene den Blick eher auf das Trennende manismus‹ eine programmatische Rückbesinnung
als auf die Gemeinsamkeiten innerhalb der Groß- auf antike Lebenskonzepte, Denksysteme, Argu-
epoche lenkt. mentationsformen und Wissensbestände (als stu-
Literatur der Frühen Neuzeit: Für die literari- dia humanitatis bezeichneten die Zeitgenossen
sche Produktion der Großepoche gilt generell, dass die Beschäftigung mit den ›geisteswissenschaftli-
es sich in erster Linie um gelehrte Dichtung han- chen‹ Grundlagenfächern). Diese Phase setzte im
delt, die auf festen, aus der Antike tradierten Pro- deutschen Kulturbereich um die Mitte des 15. Jh.s
duktionsregeln basiert. Es geht ihr nicht um die ein, als junge Männer vermehrt zum Studium
Vermittlung spontaner Eindrücke oder subjektiver nach Italien gingen und nach ihrer Rückkehr –
Wertungen des reflektierten Geschehens, vielmehr zunächst als Wanderlehrer, später als offizielle
um die Präsentation gültiger Werte oder tradierten Dozenten an Schulen und Universitäten – huma-

254
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Humanismus

nistisches Gedankengut nördlich der Alpen ver- telalterlichen Lateins durch Rückgriff auf das ›klas-
breiteten. Humanistische Konzepte bestimmten sische‹ Latein der antiken Autoren dazu, dass die
das intellektuelle Leben der gesamten Frühen Vorbildlichkeit der römischen Literatur, die
Neuzeit, und die Bildungsbewegungen späterer auch im Mittelalter nicht grundsätzlich in Frage
Zeiten (›Neuhumanismus‹ um 1800; ›humanisti- gestellt war, zur absoluten Norm erhoben wurde;
sches Gymnasium‹) übernahmen, teilweise bis in Gelehrte orientierten sich nach Habitus, Sprach-
die Gegenwart, einzelne Aspekte wie das Paradig- form und bevorzugten Literaturgattungen immer
ma von der antiken Kultur als Wiege der abend- stärker an antiken Vorbildern, schrieben etwa fik-
ländischen Zivilisation zur Orientierung in der tive Briefe an römische Persönlichkeiten oder stili-
jeweils eigenen Umwelt. sierten ihre autobiographischen Aufzeichnungen
Ende der Epoche: Der größere Teil der lyrischen nach dem Muster antiker Vorläufer. Gleichzeitig
und dramatischen Produktion der Zeit, von der wurde das im Mittelalter kaum gepflegte Grie-
Fachprosa ganz zu schweigen, ist in lateinischer chisch durch Muttersprachler, die nach der Erobe-
Sprache verfasst. Eine exakte Grenzziehung zwi- rung Konstantinopels durch die Türken (1453)
schen Humanismus und Barock ist schwierig, nach Europa kamen, bekannt gemacht, so dass
meist wird das Erscheinen von Martin Opitzens man griechische Autoren im Original statt in latei-
Buch von der Deutschen Poeterey (1624) als Epo- nischen Übersetzungen lesen konnte.
chenpfeiler angesetzt. Generell ist die Literatur Innovation und Beharrung: Erfindungen wie
des Humanismus – im Gegensatz zum Barock – der Buchdruck und Entdeckungen (etwa Ameri-
stärker städtisch und akademisch als höfisch aus- kas durch Christoph Kolumbus 1492) förderten
gerichtet, nehmen die gelehrten Auseinanderset- das Selbstbewusstsein des Menschen als eines
zungen im Humanismus einen etwas größeren schöpferischen, sich die Welt aneig-
Raum ein als in der von elementaren Überlebens- nenden Subjektes. Schließlich kulmi-
ängsten geprägten Zeit des Dreißigjährigen Krieges nierte das Bedürfnis nach religiöser,
oder in der nachfolgenden Phase des sich konsoli- zunächst innerkirchlicher Erneue-
dierenden Absolutismus, als ›politische‹ Dichtung rung, die Suche nach einer Orientie-
Konjunktur hatte. Sprachlich, stilistisch und gat- rung am geoffenbarten Wort Gottes
tungstypologisch zeichnet sich die humanistische (sola scriptura) anstelle bloßer Fort-
Literatur durch noch stärkere Bindung an antike schreibung klerikaler Traditionen, in
Formen aus, wenngleich gerade die volkssprachli- der Bewegung der Reformation, die
chen Autoren auch auf Traditionen des Mittelalters in Martin Luthers (1483–1546) Wit-
und der europäischen Nachbarliteraturen zurück- tenberger Thesenanschlag gegen den
greifen. Der Schwierigkeit einer genauen Epochen- Ablasshandel am 31. Oktober 1517
einteilung begegnet die moderne Forschung teil- ihren Ausgangspunkt hatte. Die Per-
weise dadurch, dass sie eine Übergangsperiode son Luthers steht freilich auch exem-
›Späthumanismus‹ – etwa zwischen Reformation plarisch für die Grenzen der dem
und Dreißigjährigem Krieg – konstruiert (vgl. Bre- Menschen zugestandenen Selbstbe-
mer 2008). stimmung: Sein entschiedenes Auf-
treten zugunsten der Obrigkeit wäh-
rend des Bauernkrieges 1525, das er
3.3.1.1 | Historisch-gesellschaftliche Grund-
aus theologischer Perspektive mit
situation und literarisches Leben
der Berufung auf die Bibel und die
Antikeorientierung: Impulsgebend für die Ausbrei- altkirchliche Zweireichelehre erklär-
tung humanistischer Denk- und Artikulationsfor- te, ist symptomatisch für die Haltung
men war im Bereich von Schule und Universität der Intellektuellen jener Zeit, die, von wenigen Martin Luthers
zunächst die Ablehnung eines scholastischen, also Ausnahmen abgesehen, die gegebene ständische Bibelübersetzung von 1534
übermäßig formalisierten Bildungssystems, dem Gesellschaftsordnung für unverrückbar hielten (Titelblatt)
man durch Rekurs auf die Praxisnähe der antiken und mit ihren Schriften für die Stabilisierung des
Wissenschaften (artes liberales), besonders der politischen Systems eintraten.
Rhetorik als sprachlich-argumentativer Leitdiszi- Bildungswesen: Luthers akademischer Mitstrei-
plin, zu begegnen versuchte. Weiter führten die ter Philipp Melanchthon (1497–1560) organisierte
Entdeckung bislang unbekannter Handschriften den Aufbau eines reformatorischen Schulsys-
antiker Autoren und die Erneuerung des spätmit- tems. Die künftigen Funktionsträger in Kirche und

255
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

Personen und Ereignisse lichen Gesellschaft diente, so hatten auch die


meisten übrigen literarischen Gattungen eine ge-
1452 Druckbeginn der (lateinischen) Gutenberg-Bibel nau bestimmte Funktion im praktischen Leben. So
1453 Eroberung Konstantinopels durch die Türken, Exodus griechi- hatte etwa die geistliche Lyrik ihren sozialen Ort
scher Gelehrter nach Italien im Kontext privater oder öffentlicher Erbauung,
1492 ›Entdeckung‹ Amerikas durch Christoph Kolumbus fungierten die Aufführungen von ›Schuldramen‹
1515/17 Epistolae obscurorum virorum (Dunkelmännerbriefe) als rhetorische Vorübungen für die künftigen Eli-
1516 Thomas Morus: Utopia ten, wurden im Medium des Schwanks – einer
1517 Beginn der Reformation (Luther veröffentlicht seine 95 Thesen Frühform des erzählten Witzes – alltägliche Laster
gegen den Ablasshandel) in unterhaltsamer Weise kritisch vorgeführt. Die
1524/25 Bauernkriege aus der Antike tradierten Wirkungskategorien des
1532 Niccolò Machiavelli: Il principe (Der Fürst) Unterhaltens, Rührens und Belehrens bestimmen
1534 Abschluss von Luthers Bibelübersetzung zwar die Literatur aller Zeiten, doch war den Hu-
1534 Begründung des Jesuitenordens durch Ignatius von Loyola manisten deren Relevanz besonders bewusst und
1543 Nikolaus Kopernikus: De revolutionibus orbium coelestium wurde von ihnen auch stets theoretisch reflektiert.
(Über die Kreisbewegungen der Himmelskörper)
1555 Augsburger Religionsfriede
3.3.1.2 | Poetologie
1576 Jean Bodin: Six livres de la République (Sechs Bücher über den
Staat) Literarische Kommunikation: Dichtung in der Frü-
1618 Prager Fenstersturz: Beginn des Dreißigjährigen Krieges hen Neuzeit war in erster Linie adressaten- und
funktionsbezogen. So groß die formalen und kon-
zeptionellen Unterschiede etwa zwischen gelehr-
Schule, aber auch in den städtischen und territori- ter Poesie in lateinischer Sprache und stadtbürger-
alen Verwaltungen wurden auf den doppelten licher Handwerkerdichtung auch sein mochten, so
Wertekodex von Gelehrsamkeit und Frömmigkeit deutlich sich wenigstens punktuell ›modern‹ er-
(litterata pietas) verpflichtet. Das Bildungswesen scheinende Vorstellungen wie die vom inspirierten
war, letztlich für alle Fächer einschließlich der Dichterindividuum ausbildeten, das Verfassen poe-
Naturwissenschaften, auf die Aneignung kanoni- tischer Texte hatte doch allemal seine Verankerung
scher Texte – vorwiegend antike und biblische in einem unmittelbar kommunikativen Prozess.
Autoren – konzentriert, die uneingeschränkt als Die seit der Antike überlieferte Maxime von der
Autoritäten in sprachlicher wie in sachlicher Hin- dreigeteilten Wirkungsabsicht der Dichtung (de-
sicht galten. Literarische Übungen in metrisch ge- lectare, movere, prodesse, s. Kap. III.1.4) hatte un-
bundener wie ungebundener Sprache waren für verändert Gültigkeit, so dass an der Schwelle zwi-
alle Absolventen der städtischen Lateinschule, des schen Humanismus und Barock Martin Opitz
akademischen Gymnasiums und der Universität (1597–1639) formulieren konnte: »Dienet also die-
obligatorisch. Wie die Beherrschung eines perfek- ses alles zue vberredung vnd vnterricht auch er-
ten Prosastils etwa in der Predigt (Homiletik), in getzung der Leute; welches der Poeterey vornems-
der Korrespondenz (Epistolographie) und in allen ter zweck ist« (Buch von der Deutschen Poeterey,
Formen praktischer Beredsamkeit (Rhetorik) uner- 1624). Poetologische Reflexion vollzog sich weit-
lässlich war, musste der Gelehrte auch eine gewis- gehend in lateinischer Sprache und hatte auch die
se Kunstfertigkeit in poetischen Formen erwerben, Unterweisung im Verfassen lateinischer Texte zum
die es bei geselligen Anlässen wie Hochzeiten Ziel. Das für die Epoche maßgebende Lehrbuch
(Epithalamium) oder Trauerfällen (Epicedium) des italienischen Gelehrten Julius Caesar Scaliger
einzusetzen galt. Die Gelegenheitsdichtung wur- (1484–1558), Poetices libri septem (Sieben Bücher
de in akademischen Kreisen ebenso gepflegt wie über die Dichtkunst, 1561), vermittelte detaillierte
im Kontext städtischer oder höfischer Repräsenta- Kenntnisse der aus der Antike tradierten Gattun-
tion, die Verherrlichung fürstlicher Personen in pan- gen vom Epos über die dramatischen Formen bis
egyrischen Reden oder Gedichten war fester Be- zu Ode, Elegie oder Epigramm.
standteil feierlicher Aktivitäten. Lehrbücher und Manifeste: Im deutschen Kul-
Praxisbezug der Literatur: Wie die Gelegen- turbereich entstanden um die Wende zum 16. Jh.
heitsdichtung vor allem zur Selbstverständigung zunächst Anleitungsschriften zum Abfassen kor-
der Gelehrten und zu deren Positionierung im hie- rekter Verse (ars versificandi), außerdem forderten
rarchisch strukturierten System der frühneuzeit- führende Humanisten wie Conrad Celtis (Interpre-

256
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Humanismus

tationsskizze, S. 263–265) einen Anschluss des Poetologische Wendepunkte


noch unterentwickelten Nordens an die Renais-
sancekultur Italiens. In einschlägigen Programm- 1487 Conrad Celtis als erster Deutscher vom Kaiser zum (lateinischen)
schriften wurde die translatio artium, also die Dichter gekrönt
Übertragung der kulturellen Führungsrolle von Ita- 1534 Abschluss von Luthers Übersetzung der Bibel ins Deutsche
lien auf Deutschland, propagiert, wobei das Kon- 1561 Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem (Sieben Bücher über
zept einer ›deutschen‹ Kulturnation noch im mittel- die Dichtkunst)
alterlichen Sinne, also universalistisch (›Heiliges 1617 Martin Opitz: Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae
Römisches Reich Deutscher Nation‹), zu verstehen (Von der Verachtung der deutschen Dichtung)
ist. Die poetologischen Vorstellungen der Späthu-
manisten blieben dem aristotelischen Dichtungs-
verständnis, mit dem sich auch Scaliger produktiv Einteilung der Lyrik nach formal oder stiltypolo-
auseinandersetzte, verpflichtet, zugleich wurde gisch definierten Gattungen steht die Klassifizie-
immer wieder auch – vermittelt über den Florenti- rung bestimmter Texte als ›Gelegenheitsdichtung‹
ner Neuplatonismus eines Marsilio Ficino – die (›Kasualdichtung‹) im engeren Sinne. Hierunter
These von der ›göttlichen‹ Inspiration des Dichters versteht man jene Gedichte, die ausschließlich zu
vertreten. Die Frage, inwieweit das Dichten ein bestimmten Anlässen im Leben einzelner Perso-
durch Unterweisung (doctrina) und Übung (exerci- nen oder Gruppen verfasst waren – wie Hochzeits-
tatio) zu erlernendes Handwerk sei oder eben doch gedichte, Trauergedichte, Glückwünsche zu diver-
nur bei guter Veranlagung (natura), durch Inspira- sen Anlässen – und die aufgrund ihrer rein
tion oder gar im dichterischen Wahnsinn (furor di- zweckgebundenen Ausrichtung, ihrer massenhaf-
vinus) ermöglicht werde, bewegte Philosophen, ten Verbreitung und ihrer streng regelgeleiteten
Gelehrte und Literaten bis weit ins 18. Jh. hinein. Produktion zur späteren Missachtung frühneuzeit-
Poetologische Äußerungen in deutscher Sprache licher Lyrik generell beigetragen haben.
gab es in geringerem Umfang durchaus, etwa bei Selbstreferenzialität der Poesie: Seit der Antike
den Pionieren der frühhumanistischen Überset- (z. B. Horaz, Ovid) geläufig war überdies die litera-
zungkultur Niklas von Wyle (um 1410–1478) und rische Reflexion im Medium der Dichtung, und die
Heinrich Steinhöwel (1412–1482), die in den Vor- deutschen Humanisten nutzten die lyrischen For-
reden zu ihren Translatzion oder Tütschungen men ausgiebig als Plattform für ihre programmati-
(1478) bzw. Buch und Leben des Fabeldichters Eso- schen Positionen. Konrad Celtis (1459–1508) ver-
pi (um 1475) die konkurrierenden Prinzipien der fasste 1486 eine Ode, mit der das ›humanistische
wörtlichen (»wort usz wort«, Wyle) und der sinn- Zeitalter‹ nördlich der Alpen eingeläutet werden
gemäßen (»sin usz sin«, Steinhöwel) Übertragung sollte. Andere Texte beschäftigten sich mit Fragen
verteidigten. Der Spruchdichter und Meistersinger der dichterischen Inspiration oder der sozialen
Hans Sachs (1494–1576) schildert 1536 in einem Stellung des Poeten. Sehr geläufig, oft geradezu als
langen allegorischen Gedicht Ein Gesprech. Die Epochencharakteristikum des Humanismus gese-
neun gab Muse oder kunstgöttin betreffend seine hen, ist der poetisch artikulierte Anspruch des
Berufung zum Dichter und entwickelt dabei das Dichters auf Nachruhm (vgl. Eobanus Hessus:
Konzept einer rhetorisch fundierten Poetik, das – »Posteritati«/An die Nachwelt, 1514), den er in
von der Form der Präsentation abgesehen – exakt Analogie zu seinen antiken Vorläufern einerseits,
den antik-humanistischen Vorgaben entspricht. zu den großen Fürsten und Feldherren der eigenen
Zeit andererseits eben durch seine gelehrt-literari-
schen Leistungen zu erwerben trachtete.
3.3.1.3 | Lyrik und andere kürzere
Versdichtungen
Lyrik und kürzere Versdichtung
Formenvielfalt: Die Spannbreite der zwischen
Spätmittelalter und Frühbarock benutzten lyri- 1494 Sebastian Brant: Das Narren Schyff
schen Formen ist kaum überschaubar, zumal 1502 Conrad Celtis: Quatuor libri amorum
dann, wenn man lehrhafte oder satirische Vers- (Vier Bücher Elegien)
dichtungen geringeren Umfangs hinzuzählt und in 1524 Martin Luther: Achtliederbuch
Rechnung stellt, dass die beiden verwendeten 1563 Petrus Lotichius Secundus: Poemata
Sprachen – Latein und Deutsch – jeweils eigen- (Gedichte)
ständige Gattungsspektren ausbildeten. Quer zur

257
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

Zweisprachigkeit der Neulateinische Lyrik: Die Dichtung der Humanis- der wurde die reformatorische Kirchengemeinde
frühneuzeitlichen Literatur ten, die sogenannte ›neulateinische‹ Poesie, öffne- zum mündigen Mitgestalter des Gottesdienstes im
te sich nicht nur allen antiken Gattungen, sondern Sinne des lutherischen Konzeptes vom ›Priester-
ebenso allen nur denkbaren Themen, mit denen tum aller Gläubigen‹. Damit ist die Einführung des
die Gelehrten und ihr unmittelbares Umfeld in Be- volkssprachlichen Gemeindegesangs durch Luther
rührung kamen: Politische und militärische Ereig- von ähnlich nachhaltiger Bedeutung wie dessen
nisse, konfessionelle Streitigkeiten, Fragen des Übersetzung der Bibel ins Deutsche (ab 1521).
sozialen Zusammenlebens, insbesondere der Bil- Der Meistergesang, durch Richard Wagners
dung und Erziehung, aber auch der Familienord- Oper Die Meistersinger von Nürnberg (1868) lange
nung und der Freundschaftspflege, schließlich nach seiner Blütezeit noch einmal ins Bewusstsein
privateste Sorgen und Ängste von erotischen Ver- der Öffentlichkeit gerückt, war eine literarische Be-
wicklungen bis zu Gedanken über Krankheit und wegung des 15. bis 17. Jh.s, die von den städti-
Tod – alles kam zur Sprache, wenn auch vielfach schen Handwerkerzünften getragen wurde. Wie
in enger Anlehnung an mythische Strukturen, lite- die meisten volkssprachlichen Literaturformen ba-
rarisch überlieferte Verhaltensmuster oder stilisti- sierte auch der Meistergesang auf mittelalterlichen
sche Vorbilder. Vorstufen. Wenn heute die etwas bornierte Regel-
Die rhetorische Überformung, durch die die fixiertheit des Meistergesangs in der Literaturge-
Texte sich äußerlich stark von poetischen Produk- schichtsschreibung stark betont wird, übersieht
tionen etwa der Goethezeit unterscheiden, darf man dabei leicht den Nutzen der Bewegung: Zum
keinesfalls als Beleg für fehlende Realitätsbindung einen wurden literaturferne Bevölkerungsschich-
gesehen werden. Für die Menschen der Frühen ten an einen reflektierten Umgang mit der Sprache
Neuzeit gab es keinen Widerspruch zwischen indi- gewöhnt, zum anderen wurde in den Meisterlie-
vidueller und repräsentativer Existenz, man konn- dern eine Menge klassisches Bildungsgut – etwa in
te sich in ein bestehendes Diskursschema ein- Form von Bearbeitungen antiker Stoffe – vermit-
schreiben und dennoch ›authentisch‹ sein. Die telt, und schließlich transportierten die Texte zahl-
bedeutendsten Lyriker des deutschen Humanis- reiche ethische Maximen, die die Sozialdisziplinie-
mus, neben Celtis etwa Petrus Lotichius Secundus rung innerhalb des städtischen Gemeinwesens
(1528–1560) und Paul Schede Melissus (1539– erleichterten. Der mit Abstand berühmteste Meis-
1602), sind nach Anspruch und Qualität mit den tersinger war der Nürnberger Schuhmacher Hans
römischen Dichtern oder den deutschen Barock- Sachs (1494–1576), der beispielsweise in seinem
poeten gleichzusetzen und verdienen die volle Meisterlied »Von hasen und froschen« (1530, nach
Aufmerksamkeit der Forschung. dem griechischen Fabeldichter Äsop) in gut luthe-
Die weltliche und geistliche Lieddichtung nahm rischer Manier die Zuhörer zum geduldigen Ertra-
innerhalb der volkssprachlichen Lyrik eine beson- gen irdischer Unbilden ermahnte.
dere Rolle ein, und innerhalb der geistlichen wie- Verssatire: In der Frühen Neuzeit bildeten sich
derum das Kirchenlied. Martin Luther (1483– einige nicht-lyrische Formen kürzerer Versdich-
1546) nutzte das Medium des Gemeindegesanges tung heraus, unter denen die Verssatire eine zen-
zur Verbreitung reformatorischer Glaubensgrund- trale Rolle einnimmt. Allen diesen Formen gemein-
sätze, die Koppelung der poetischen Funktionen sam ist eine stark didaktische Ausrichtung, also
des ›Belehrens‹ und ›Rührens‹ ist hier ganz deut- das Ziel, mit den Mitteln der Unterhaltung, aber
lich. Lieder wie »Aus tieffer not schrey ich zu dyr« auch der verstörenden Provokation breite Bevölke-
(1523), »Nu frewt euch lieben Christen gmeyn« rungsschichten auf ihre Fehler hinzuweisen und
(1523) oder »Ein feste burg ist vnser Gott« (1526) sie auf religiöse, ethische oder gesellschaftliche
Paul Schede Melissus: verkünden die fundamentalen Dogmen der luthe- Normen zu verpflichten. Die wirkungsvollste sati-
Schediasmata Poetica rischen Lehre. Zu diesen gehört, dass die Recht- rische Versdichtung der Frühen Neuzeit war Das
(1586). Der humanistische fertigung des Menschen vor Gott allein aus dem Narren Schyff (1494) des Juristen und Straßburger
Poet schrieb lateinische Glauben (sola fide), allein aus der göttlichen Gna- Stadtschreibers (d. h. Verwaltungschefs) Sebasti-
Oden an die gelehrte de (sola gratia) und allein aus der vermittelnden an Brant (1457–1531). In diesem Werk wird aus
englische Königin Funktion Christi (solo Christo) erlangt werden Elementen der Zeitklage, der Ständesatire und
Elisabeth I. kann und dass diese Gewissheit allein aus der Hei- des Fastnachtsbrauchtums ein buntes Panorama
ligen Schrift (sola scriptura) abzuleiten ist. Durch menschlicher Verfehlungen entworfen. Brant führt
die Einführung sprachgewaltiger und bildhafter, in mehr als hundert relativ kurzen, zwischen 30
zugleich klar verständlicher volkssprachlicher Lie- und 150 Versen umfassenden Abschnitten teils

258
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Humanismus

alltäglich-harmlose, teils sündhafte (Sieben Tod- Kulthandlung hin, kein namentlich


sünden, Vergehen gegen die Zehn Gebote) Laster genannter Autor artikuliert ein indi-
vor, ein dreizeiliges Motto und ein passender Holz- viduell fassbares Programm. Die
schnitt mit Narrenfigur führen jeweils in die The- Stücke weisen in der Regel nicht die
matik ein. Das Narren Schyff war die erfolgreichste aus der klassischen Dramenkonzep-
deutsche Buchpublikation vor Goethes Leiden des tion geläufige Dynamik auf und sind
jungen Werthers und begründete den im 16. und oft sehr umfangreich, so dass ihre
17. Jh. einflussreichen Typus der Narrensatire in Aufführung sich auf mehrere Tage
Vers und Prosa, die auf rationale Selbsterkenntnis verteilte. Gespielt wurde auf einer
als ersten Schritt der Besserung zielt: »Dann wer Simultanbühne innerhalb oder au-
sich für ein narren acht / Der ist bald zů eym wi- ßerhalb des Kirchenraums, die ver-
sen [Weisen] gmacht« (»Ein vorred in das narren schiedenen Schauplätze waren also
schyff«). gleichzeitig nebeneinander zu sehen,
bei größeren Distanzen wanderten
die Zuschauer von einer Spielstätte
3.3.1.4 | Drama
zur nächsten. Die lineare Darbietung
Dramatische Formen: Eine scharfe Trennung der des Geschehens konnte einerseits
dramatischen Gattungen ist wegen der schwan- von derbkomischen Einlagen, ande-
kenden Zuordnungskriterien (Personal, Dramen- rerseits von Hinweisen auf die heils-
ausgang usw.) im 16. Jh. ebenso schwierig wie geschichtliche (eschatologische) Be-
eine Epochenzuweisung, so wird das Jesuitendra- deutung der Ereignisse durchbrochen
ma wegen seiner aufwändigen, multimedialen In- werden.
szenierungspraxis gewöhnlich als ›barock‹ charak- Humanistentheater: Da die Reformation zeit- Sebastian Brants
terisiert, obwohl es bereits im Zeitalter der lich mit der Durchsetzung der humanistischen Be- Narren Schyff (Titelseite)
Gegenreformation um die Mitte des 16. Jh.s auf- wegung in Deutschland zusammenfällt, weisen
kam. Mit einiger Klarheit ist die geistliche Dra- die meisten Dramen, die im Dienste der reformato-
menproduktion von anderen Formen wie dem rischen Lehre stehen, Merkmale des gelehrten Hu-
weltlichen Humanistendrama, das aus einfachen manistentheaters auf. Die Stücke sind nach dem
Schülerdialogen hervorging und sich vielfach Vorbild der römischen Dichter Plautus, Terenz und
selbstreflexiv mit Bildungs- und Kulturfragen aus- Seneca klar in Akte und Szenen eingeteilt, die
einandersetzte, wie auch vom stadtbürgerlichen Handlungsführung ist relativ stringent und zeigt
Fastnachtsspiel abzugrenzen. Alle dramatischen Strukturelemente wie Exposition oder Peripetie.
Gattungen des 16. Jh.s sind übrigens in Versen ge- Freilich bleiben die Figuren typenhaft, die Hand-
halten. Es gab relativ eigenständige Vor- oder Zwi- lung ist psychologisch nicht immer plausibel. Ne-
schenspiele, Chorpartien usw., die klassizistische ben stark konfessionspolemischen, in der Regel
Vorstellung von dramatischer Illusion darf auf das antipäpstlichen Dramen wie Thomas Naogeorgs
Theater dieser Zeit nicht übertragen werden, Stra- Pammachius (1538) stehen Stücke, die in erster Li-
tegien der Affektsteuerung kannte man freilich nie zu einer christlichen Lebensweise mit mehr
trotzdem. Sofern die Stücke dem Kontext der Gym- oder minder ausgeprägt protestantischer Ten-
nasien entstammten, wo sie zur rhetorischen denz anleiten wollen. Luther, dem es um die ein-
Schulung der jungen Leute eingesetzt wurden, wa- dringliche Verkündigung des Gotteswortes ging,
ren sie oft auf Latein verfasst. befürwortete ausdrücklich die Umsetzung der bi-
Das geistliche Spiel, dessen bekannteste Form
die des Oster- oder Passionsspiels ist, brachte Dramen
heilsgeschichtlich relevante Gegenstände, also bi-
blische Geschichten und Heiligenlegenden, zum 1497 Johannes Reuchlin: Henno
Zweck der religiösen Unterweisung und Erbauung 1535 Paul Rebhun: Susanna
auf die Bühne. Die Überlieferung der Texte setzt 1538 Georg Macropedius: Hecastus (Jedermann, Übersetzung von
bereits im 13. Jh. ein, und auch die im 16. Jh. auf- Hans Sachs 1549)
gezeichneten Spiele unterscheiden sich formal und 1585 Nicodemus Frischlin: Julius Redivivus (Der wiedergeborene Julius
inhaltlich stark vom Drama des Reformationshu- Caesar)
manismus: Die anonyme Verbreitung deutet auf 1602 Jacob Bidermann: Cenodoxus
den Charakter des Spiels als einer kollektiven

259
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

blischen Stoffe in Bühnenhandlung. Zu den be- mas. Der bekannteste Vertreter der Gattung ist der
liebtesten Gegenständen gehörte, neben dem le- Cenodoxus (1602) des Ordensgeistlichen Jacob
gendenhaften ›Jedermann‹-Stoff vom reichen Bidermann (1578–1639), in der zeitgenössischen
Prasser, der im Angesicht des Todes die Nichtig- Übersetzung von Joachim Meichel auch für nicht
keit der irdischen Güter und die Notwendigkeit Lateinkundige zugänglich. Der Titelheld ist ein be-
des Glaubens erkennt (Hans Sachs: Comedi von deutender Gelehrter, der von eitler Ruhmsucht (ce-
dem reichen sterbenden Menschen, 1549; Thomas nodoxia) beherrscht wird. Selbst seine zahlreichen
Naogeorg: Mercator, 1540), die Parabel vom Verlo- guten Werke, die aus katholischer Sicht ja für das
renen Sohn (Burkard Waldis: De Parabell vam ver- Seelenheil wichtig sind, verlieren ihren Wert, weil
lorn Szohn, 1527; Wilhelm Gnapheus: Acolastus, er sie nur aus Eitelkeit begeht und sich dadurch
1529). Außerdem waren die standhaften und mu- der Todsünde der Hoffahrt (superbia), der Überhe-
tigen alttestamentlichen Heldinnen Esther, Judith bung über Gott, schuldig macht.
und Susanna (Paul Rebhun: Susanna, 1536) häu- Das Fastnachtsspiel – eine besondere Form des
fig Gegenstand lateinischer oder deutschsprachi- weltlichen Dramas – wurde seit dem späten Mit-
ger Dramen (zum Bibeldrama vgl. Washof 2007). telalter im Kontext des städtischen Vergnügungs-
Vielfältige Formen Zeitkritische Stücke: Neben den Stücken, die betriebs zur Fastnachtszeit in Gaststätten und an
und Tendenzen des der Verbreitung der Reformation dienten, gab es anderen halböffentlichen Orten aufgeführt, seine
Humanistendramas außerdem eine ganze Reihe ›weltlicher‹ Humanis- Texte sind vielfach nicht überliefert. Träger des
tendramen wie die des schwäbischen Gelehrten Fastnachtsspiels waren die nicht-gelehrten bürger-
Nicodemus Frischlin (1547–1590), der in seinen lichen Kreise, die Stücke wurden in deutscher
Komödien auf sehr originelle Weise sowohl die Sprache und in gereimten Knittelversen abgefasst.
theologischen Streitigkeiten der Zeit (Phasma, Während der Blütezeit der Gattung im 15. und
1580) wie auch Versäumnisse im Lateinschulbe- 16. Jh. entstanden an einigen Orten klar konturier-
trieb (Priscianus vapulans, 1578) anprangerte. te, eine zentrale Botschaft wirkungsvoll transpor-
Sein erfolgreichstes Stück ist der Julius Redivivus tierende Stücke, die von bekannten Autoren ver-
(1582), in dem die Römer Caesar und Cicero auf fasst und im Druck herausgegeben wurden.
die Erde zurückkehren und dort eine blühende Bekannt sind vor allem die Nürnberger Spiele von
Humanistenkultur antreffen. Frischlin wollte bele- Hans Rosenplüt, Hans Folz und Hans Sachs.
gen, dass der Übergang der römischen Kaiserherr- Durch letzteren wird das Fastnachtsspiel, wie an-
schaft auf die Deutschen (translatio imperii) ihre dere literarische Formen auch, zum Medium der
Parallele im Bereich der Künste und Wissenschaf- ethischen Unterweisung und sozialen Disziplinie-
ten (translatio artium) hat. rung im Sinne des lutherischen Obrigkeitsver-
Jesuitendrama: Die Gründung des Jesuitenor- ständnisses transformiert, zugleich werden die
dens durch Ignatius von Loyola im Jahr 1534 war Torheiten der niederen Stände, besonders der
eine Reaktion auf den Erfolg der Reformation in Bauern – in Abgrenzung zum stadtbürgerlichen
weiten Teilen Europas. Die von den Jesuiten seit Publikum –, mit derber Komik verspottet. Man
der Mitte des 16. Jh.s verfassten Dramen waren al- unterscheidet Reihenspiele, in denen sich einfa-
lerdings nicht allesamt der gegenreformatorischen che Geschehensstrukturen kumulierend oder stei-
Propaganda verpflichtet, in ihrer spezifischen gernd wiederholen (Das narren-schneyden, 1557;
Struktur spiegeln sich vielmehr Elemente ignatia- Revue menschlicher Torheiten), und Handlungs-
nischer Frömmigkeit und pädagogische Prinzipien spiele mit komplexerem Aufbau (Das heiß Eysen,
der Jesuitengymnasien. In den sogenannten ›Exer- 1551; Intrigendrama).
zitien‹ (geistliche Übungen) hatte der Gläubige
sich nicht nur seiner Sündhaftigkeit zu vergewis-
3.3.1.5 | Erzählende Literatur
sern, er sollte auch durch Meditation seine exis-
tentielle Lage plastisch vergegenwärtigen, etwa als Die fiktionale Erzählliteratur des 16. Jh.s unter-
einen Kampf göttlicher und teuflischer Mächte um scheidet sich ebenfalls in ihrem Gattungsspektrum
seine Seele. Die drohenden Höllenqualen sollte er von den Verhältnissen späterer Jahrhunderte. Der
gleichsam körperlich durchleben, wie überhaupt Roman in Prosaform, vom 18. Jh. bis zur Gegen-
die Aktivierung aller fünf Sinne zur Glaubenspra- wart der verbreitetste Literaturtyp, entwickelte
xis der Jesuiten gehörte. Auf diesen Grundlagen sich erst allmählich als komplexe Transformation
basiert die ungeheuer vielschichtige, phantasierei- mittelalterlicher Versromane. Ein Novellenkon-
che und effektgeladene Handlung des Jesuitendra- zept, wie es seit dem 19. Jh. voll ausgeprägt ist,

260
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Humanismus

kannte die Zeit ebenfalls noch nicht, vielmehr do- wie in Veit Warbecks (vor 1490–1534) Histori vonn
minierten unter den epischen Kleinformen der der schönen Magelona (1535) und der 1456 abge-
Schwank und andere satirische oder lehrhafte schlossenen Melusine des Thüring von Ringoltin-
Textsorten wie etwa die Fabel. Als ›modern‹ gilt gen (um 1415–1483; Erstdruck 1474), der einen
die Autobiographie, da ihr Aufkommen mit der französischen Versroman übersetzt und sehr ei-
Entdeckung von Individualität und subjektiver genständig in deutscher Prosa bearbeitet hat. Neu-
Weltsicht im Zeitalter der Renaissance in Zusam- zeitliche Elemente zeigen diese Texte vor allem in
menhang gebracht wird. Andere epochentypische der Schilderung des Verhältnisses zwischen den
Phänomene sind das lateinische Versepos, diverse Ehepartnern, das deutlich emotional geprägt ist.
Formen der Bibeldichtung, fiktionale utopische Li- Einen Sonderfall des frühneuzeitlichen Prosaro- Das Thema des
teratur oder experimentelle Sonderformen wie Jo- mans bildet die Historia von D. Johann Fausten ›faustischen‹ Menschen
hann Fischarts Geschichtklitterung (1575). (1587), in der erstmals das ›deutsche‹ Thema des
›faustischen‹ Menschen gestaltet wird, den der un-
Erzählende Literatur gezügelte Drang nach Wissen und Erkenntnis in
den Pakt mit dem Teufel und zu allerlei schwarz-
1474 Thüring von Ringoltingen: Melusine magischen Praktiken treibt.
1509 Fortunatus Der Schwank ist eine kurze, komische Erzäh-
1515 Ein kurtzweilig lesen von Dyl Vlenspiegel lung in Prosa, seltener in Versen. Das einfachste
1575 Johann Fischart: Geschichtklitterung Schema ist dreistufig und entspricht dem des Wit-
1587 Historia von D. Johann Fausten zes: In einem kurzen Eingangsteil wird eine Situa-
tion gezeichnet, aus der heraus die eine Person
eine Äußerung tut, auf die ihr Gegenpart mit einer
Prosaroman: Die frühen Formen des Romans wur- überraschenden Replik antwortet (Pointe). Diese
den früher aus einem Missverständnis heraus als Schlusswendung kann meist als moralische, ge-
›Volksbücher‹ bezeichnet. Tatsächlich handelt es sellschaftliche oder lebenspraktische Lehre ver-
sich in den meisten Fällen erzählender Großdich- standen werden, wobei aufgrund der ironischen
tung im 15. und 16. Jh. um Bearbeitungen mittelal- Formulierung zuweilen eine Transferleistung des
terlicher Erzähltexte, die im ritterlichen oder höfi- Zuhörers bzw. Lesers zu erbringen ist. Das Ziel des
schen Milieu angesiedelt sind und für ein adliges, Schwanks kann in der Stabilisierung, aber auch in
zunehmend auch großbürgerliches, in jedem Fall der subversiven Infragestellung tradierter Normen
aber gebildetes Lesepublikum geschrieben waren. bestehen. Schwänke wurden häufig in Form von
Die konsequente Verwendung der deutschen Spra- Schwanksammlungen publiziert, unter denen –
che und die vorherrschenden Themen machten nach mittelalterlichen Vorläufern – Heinrich Be-
das Genre auch für Frauen interessant, eine Ten- bels Libri facetiarum (1514), Johannes Paulis
denz, die im 18. Jh. zur Etablierung des Romans Schimpf und Ernst (1522), Jörg Wickrams Rollwa-
als ›weiblicher‹ Literaturform par excellence führ- genbüchlin (1555) und Jakob Freys Gartengesell-
te. Der Wechsel von der mittelalterlichen Versform schaft (1557) eine besonders weite Verbreitung
zur neuzeitlichen Prosa, der rezeptionshistorisch fanden. Auf der Grenze zwischen Schwanksamm-
wohl den Übergang vom geselligen Vortrag zum lung und ›Volksbuch‹ (Prosaroman) stehen die an-
individuellen Leseerlebnis markiert, geht zuweilen onym erschienenen Werke Ein kurtzweilig lesen
mit dem Eindringen bürgerlicher Maximen in die von Dyl Vlenspiegel (1515, Till Eulenspiegel) und
Figurenhandlung einher, doch nur in einigen spä- Das Lalebuch (1597, Bearbeitung unter dem Titel
teren Fällen wie in Der jungen Knaben Spiegel Die Schiltbürger, 1598), die in personeller und
(1554) oder Der Goldfaden (1557) von Jörg Wick- struktureller Hinsicht zusammengehörige Schwän-
ram (um 1505 – um 1562) oder im anonym er- ke zu einem episodisch lockeren Handlungsgefüge
schienenen Fortunatus (1509) spielen das ökono- zusammenfügen.
mische Denken und das spezifische Ethos des Die Autobiographie gilt in ihrem postulierten
städtischen und/oder gelehrten Bürgertums eine Anspruch auf Subjektivität der Darstellung und
entscheidende Rolle. Individualität des Gegenstandes vielfach als dieje-
Thematische Vielfalt der längeren Erzählfor- nige Gattung, in der sich das neuzeitliche Moment
men: Entsprechendes gilt für reformatorische Ide- des 16. Jh.s am deutlichsten manifestieren müsse.
en. Sonst dominiert vielfach eine aristokratisch- Zugleich wird allerdings gesehen, dass das Be-
ritterliche Verhaltens- und Geschehensstruktur kenntnis der persönlichen Fehlbarkeit und die

261
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

Rechtfertigung des eigenen Denkens und Han- le eine Schuhmacherlehre in seiner Vaterstadt
delns Vorläufer in spätantiken (Augustinus: Con- Nürnberg, wo er auch die Kunst des Meisterge-
fessiones) und mittelalterlichen Texten haben und sangs erlernte. Lotichius absolvierte ausgedehnte
auch der Gestus der Lebensbeichte keinesfalls die Bildungsreisen nach Frankreich und Italien, nahm
Übernahme tradierter Darstellungstechniken und in Paris noch ein Medizinstudium auf, wurde in
vorgeprägter Argumente ausschließt, sie vielmehr Bologna promoviert und schließlich von Kurfürst
geradezu provoziert. Als literarische Form ist au- Ottheinrich von der Pfalz als Professor nach Hei-
tobiographisches Schreiben immer ›Dichtung‹ und delberg berufen – eine typische Humanistenkarri-
›Wahrheit‹ zugleich (so der Titel von Goethes Au- ere. Sachs hingegen kehrte nach Wanderjahren,
tobiographie aus dem frühen 19. Jh.). Gewiss fin- die den jungen Handwerksgesellen ausschließlich
den sich in den Aufzeichnungen der Humanis- in deutschsprachige Gebiete führten, in seine Hei-
ten – gleich ob in deutscher oder lateinischer matstadt zurück, wo er das Meisterrecht erwarb
Sprache verfasst – bestimmte zeittypische Schwer- und viele Jahre lang, bevor ihn seine erfolgreiche
punktsetzungen wie etwa die Bedrängnis in kon- literarische Wirksamkeit finanziell unabhängig
fessionell bedingten Entscheidungssituationen, machte, als Schuhmacher praktizierte. Den Le-
die Sorge um den gesellschaftlichen Aufstieg der bensraum des ersteren bildete die akademische
Familie oder das Bemühen um Nachruhm, der Welt, letzterer bewegte sich in den Kreisen des
u. a. gerade durch das Abfassen einer überzeugen- zünftischen Stadtbürgertums.
den, das eigene Leben ins rechte Licht rückenden Unterschiedliches Werkprofil: Nicht weniger
Autobiographie gesichert werden konnte. Ansätze unterschiedlich als ihr äußerer Lebensgang war
zu individualistischer Lebensbeschreibung treten ihre literarische Produktion: Lotichius schrieb aus-
allerdings in der Regel zurück gegenüber Formen schließlich in lateinischer Sprache und bediente
der Selbststilisierung, wobei tradierte Gattungs- sich antiker Versmaße und Gattungen (Elegie, Ode,
muster oder spezifische ›Diskurse‹ als Vorlage die- Ekloge), Sachs verfasste Spruchdichtungen, Meis-
nen. Eine der eindrucksvollsten Autobiographien terlieder, Fastnachtsspiele – sämtlich auf Deutsch
in deutscher Sprache ist die Lebensbeschreibung und in Knittelversen. Der humanistische poeta
des Schweizer Autodidakten und Schulmeisters doctus schrieb für ein internationales Gelehrtenpu-
Thomas Platter (1499–1582), in der die epochen- blikum, der Handwerkerdichter für eine ungelehr-
typische Dialektik von Leistungsethos und Gna- te, aber lesefreudige und kaufkräftige städtische
denbewusstsein, von Aufstiegswillen und ordo- Bürgerschaft. Stellte der erstere antik-humanisti-
Denken (Verharren im gottgegebenen Stand) sche Werte wie Liebe (Erotik), Freundschaft und
kontinuierlich aufscheint. Nachruhm in den Mittelpunkt seiner Texte, ging es
dem letzteren um die Darstellung von Tugenden
und Lastern, um gesellschaftliche Disziplinierung
3.3.1.6 | Exkurs: Poeta doctus
des ›gemeinen Mannes‹ und die Verbreitung der
und Meistersinger: Zwei deutsche
lutherischen Dogmatik und Sozialethik. Poetisches
Humanisten im Doppelporträt
Programm des einen war also die literarische Ver-
Petrus Lotichius Secundus Differierende Lebenswege: Um die Mitte des gegenwärtigung und Reflexion existenzieller Le-
und Hans Sachs 16. Jh.s, als die humanistische Bewegung in benssituationen, der andere zielte auf moralische
Deutschland sich zu weiten Teilen in den Dienst Unterweisung seines Publikums.
der Reformation stellte, prägten zwei völlig un- Parallelen in der Literaturauffassung: Die Dif-
terschiedliche Persönlichkeiten das literarische ferenzen im literarischen Profil dieser beiden
Leben in Deutschland: der gelehrte Poet Petrus Zeitgenossen sind unübersehbar, doch gibt es
Lotichius Secundus (1528–1560) und der Meis- eine Reihe von Berührungspunkten, die ihre Zu-
tersinger Hans Sachs (1494–1576). Nach Ausbil- gehörigkeit zu derselben zentraleuropäischen Bil-
dung, Karriereverlauf und poetischer Produktion dungsbewegung, eben dem Humanismus, bele-
stellten sie extreme Gegensätze dar. Während gen. Beiden Autoren gemeinsam war das klare
Lotichius (latinisiert aus Peter Lotze) an den Uni- Bekenntnis zu literarischen Vorbildern und zum
versitäten Marburg, Erfurt und Wittenberg bei an- Prinzip der Lehrbarkeit von Dichtung: Bei Loti-
erkannten Koryphäen (u. a. Philipp Melanchthon) chius wird dies durch die intertextuellen Bezüge
die artes (geisteswissenschaftliche Grundlagenfä- deutlich, die seine Gedichte im einzelnen (Wort-
cher) studierte, machte Sachs nach dem mit wahl, Stil, Motive) und in der Komposition
15 Jahren abgebrochenen Besuch der Lateinschu- (Oden- und Elegien-›Bücher‹) mit römischen Au-

262
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Humanismus

toren wie Horaz oder Tibull verbinden. Hans Luther selbst in der Muttersprache, nutzte mit der
Sachs und die Meistersinger entwickelten für Pro- Form des Streitgesprächs (Disputation zwischen
duktion und Aufführung ihrer Lieder vers- und einem Chorherrn und einem Schuhmacher und drei
vortragstechnische Normen, die so streng waren, weitere Dialoge, 1524) und des allegorischen Tier-
dass sich die Gelehrten über die Pedanterie der gedichts (Die wittembergisch Nachtigall, 1523) al-
wackeren Handwerksmeister lustig machten, tat- lerdings wiederum bei den Humanisten verbreitete
sächlich verpflichteten diese aber zu einem re- literarische Formen. Das Engagement für die lu-
flektierten Umgang mit der vielfach für unsyste- therische Bewegung teilte er mit den meisten
matisch und regellos gehaltenen Muttersprache. lateinisch schreibenden Humanisten, die sich al-
Überdies sind Sachsens Werke durchaus ›gelehr- lerdings nur zum Teil im konfessionellen Streit pu-
te Dichtung‹ im humanistischen Sinne, und zwar blizistisch engagierten. Der eher irenisch gesonne-
sowohl in der Gegenstandswahl (neben bibli- ne, also auf konfessionellen Ausgleich bedachte
schen und volkstümlichen Stoffen werden antike Lotichius beispielsweise ließ sich zwar für das
Mythen und Historien verarbeitet) als auch hin- Heer des (protestantischen) Schmalkaldischen
sichtlich des Gattungsspektrums (außer Fast- Bundes anwerben, schlägt aber im den Kriegs-
nachtsspielen verfasste er tragedien und comedi- ereignissen gewidmeten ersten Elegienbuch pazi-
en in Anlehnung an klassische Muster) und der fistische Töne an. Die Begegnung mit einem feind-
Motivik (Musenanrufungen usw.). Dass Sachs lichen Kämpfer, der sich als Verwandter eines
sich selbst als einen »ungelehrten mann, / Der italienischen Dichters entpuppt und zur Versöh-
weder latein noch griechisch kan« bezeichnet, nung der Gegner im Zeichen der Musen aufruft,
steht im Widerspruch zu Passagen in seinen Wer- gibt die Haltung der europäisch-überkonfessionell
ken, die eine Vertrautheit mit lateinischen Origi- geprägten Gelehrten wieder, die sich freilich auch
nalschriften voraussetzen, übrigens auch mit sol- in der international vernetzten Handelsstadt Nürn-
chen seiner Zeitgenossen, mit denen er also in berg findet. Schließlich folgen Lotichius und Sachs
regem literarischem Austausch stand. auch darin der Hauptlinie der deutschen Humanis-
Konfessionelle und gesellschaftliche Positio- ten, dass sie sich bei aller Sensibilität für die Un-
nen: Wie er die antike Literatur durch Übersetzun- vollkommenheiten der bestehenden Gesellschafts-
gen und Bearbeitungen an seine weniger gelehrten strukturen nicht den radikalen, auf Veränderung
Landsleute vermittelte, so engagierte Sachs sich des sozialen Gefüges ausgerichteten Strömungen
für die Belange der Reformation nicht anders als anschlossen.

Celtis’ Ode 4,5: Plectra mouentem. Interpretationsskizze


Ein humanistisches Programm in Versen Tu celer vastum poteras per aequor
Laetus a Graecis Latium videre,
Ad Apollinem repertorem poetices ut ab Italis Inuehens musas, voluisti gratas
ad Germanos veniat Pandere et artes. 20
Phoebe qui blandae citharae repertor, Sic velis nostras rogitamus oras
Linque delectos Helicona, Pindum et, Italas ceu quondam aditare terras,
Ac veni in nostras vocitatus oras Barbarus sermo fugiatque, vt atrum
Carmine grato. Subruat omne.
Cernis vt laetae properent camaenae, 5
Et canant dulces gelido sub axe. An Apollo, den Erfinder der Dichtkunst, daß er aus Italien
Tu veni incultam fidibus canoris nach Deutschland kommen möge
Visere terram. Phoebus, der erfunden die holde Lyra,
Barbarus quem olim genuit, vel acer, Laß dein teures Heim, Helicon und Pindus,
Vel parens hirtus, Latij leporis 10 Komm, von Dichtung, wie du sie liebst, gerufen,
Nescius, nunc sic duce te docendus In unsre Lande.
Dicere carmen. Sieh, wie unsre Musen zu dir mit Freuden 5
Orpheus qualis cecinit Pelasgis, Eilen, singend süß unter kaltem Himmel.
Quem ferae atroces, agilesque cerui, Unser Land, das roh noch – mit Harfenklängen
Arboresque altae, nemorum secutae 15 Komm und besuch es.

263
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

Der Barbar, abstammend von rauhen Kriegern kündet in poetischer Diktion das Programm einer
Oder Bauernvolk, der des Römers Künste 10 ganzen Generation deutscher Intellektueller, es
Noch nicht kennt, er lern’ unter deiner Führung geht um nichts weniger als die Etablierung der
Nunmehr die Dichtkunst, modernen europäischen Kultur in Deutsch-
So wie einstmals vor den Pelasgern Orpheus land: Phoebus (V. 1), also der Musengott Apol-
Sang, da wilde Tiere und flinke Hirsche, lon, steht metonymisch für die im Italien der Re-
Ja sogar am Berghang die hohen Bäume 15 naissance blühende humanistische Bildung, in
Tanzten zum Liede. einem spezielleren Sinne für die zeitgenössische
Hast du doch geruht, übers Meer zu fahren, lateinische Dichtung, die den antiken Mustern
Freudig kamst du nach Latium aus Hellas, folgt. Die Begeisterung für jene Kunstrichtung,
Deine Musen mit dir, und gnädig lehrtest personifiziert als »unsre Musen« (V. 5), ist schon
Du deine Künste. 20 »unter kaltem Himmel« (V. 6), d. h. nördlich der
Komm, so beten wir, drum zu unsern Küsten, Alpen, vorhanden, aber das Land ist noch »in-
Wie Italiens Lande du einst besuchtest; culta« (»roh«, V. 7), die deutschen Barbaren (V.
Mag Barbarensprache dann fliehn, und alles 9) müssen unter Apollons Führung noch die
Dunkel verschwinden. schönen Künste erlernen.
(Conrad Celtis, Ode 4,5; Übers. von Harry C. Schnur) Kulturpatriotismus: Die letzten beiden Strophen
entfalten ein eindrückliches Bild, das zugleich im
Der ›Erzhumanist‹: Conrad Celtis (1459–1508), Kern das kulturpatriotische Credo der deutschen
der prominenteste deutsche Frühhumanist und Humanisten enthält: Der historisch verbürgte,
erste kaiserlich gekrönte Dichter deutscher Her- auf das 2. Jh. v. Chr. zu datierende antike Kultur-
kunft, veröffentlichte seine »Apollon-Ode« 1486 transfer, allegorisch als Reise Apollons »übers
zusammen mit der Ars versificandi et carminum, Meer« (V. 17) von Griechenland nach Italien ge-
einem poetologischen Lehrbuch. Der Text ver- fasst (V. 18), soll sich in der Gegenwart des Spre-
chers durch die Verbreitung des italienischen Hu-
manismus in Deutschland wiederholen (die
lateinische Formulierung »sic … ceu« / »so …
wie« in V. 21 f. verdeutlicht die Analogie). Die
Folge wird sein, dass der »barbarus sermo«
(V. 23) entweicht; gemeint ist mit dieser zu über-
windenden Sprachstufe das korrumpierte Latein
des späten Mittelalters, möglicherweise aber
auch eine Vorstellung von Poesie in der für litera-
risch unbrauchbar gehaltenen Muttersprache.
Das »Dunkel« (V. 24), das zugleich mit der barba-
rischen Sprache verschwindet, ist aus deutscher
Sicht wohl nicht das ›dunkle‹ Mittelalter, son-
dern, noch radikaler gedacht, ein kulturell düste-
rer Urzustand, den der Zukunftsoptimismus die-
ser im Aufbruch befindlichen Generation hinter
sich zu lassen bestrebt ist.
›Deutscher Horaz‹: Das Gedicht hat darüber hin-
aus noch eine Pointe: Es führt performativ vor,
dass die Bitte des Sprechers an Apoll in dem Mo-
Die Philosophia als ment, als sie ausgesprochen wird, schon in Erfül-
Leitdisziplin ruht auf dem lung gegangen ist. Garant für den Erfolg des hu-
Fundament von Rhetorik manistischen Transferprogramms ist kein anderer
und Poetik. Albrecht Dürer: als Conrad Celtis selbst, der mit seiner hand-
Holzschnitt zu Conrad werklich perfekten Übernahme der klassischen
Celtis’ Gedichtsammlung Odenform – konkret der von Horaz häufig ver-
Amores (1502). wendeten ›sapphischen‹ Strophe – seine kultur-

264
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Barock

patriotische Führungsrolle in Deutschland ein- spruch, die klassische römische Kunstdichtung


drucksvoll reklamiert. Als Imitator des römischen in der lateinisch-deutschen Literatur seiner Zeit
Dichters Horaz, der die anspruchsvollen lyri- eingebürgert zu haben. Den Ehrentitel ›deutscher
schen Systeme der Griechen einst in Rom hei- Horaz‹ trägt Celtis bis heute.
misch gemacht hatte, nimmt er für sich in An-

Textsammlungen
Heger, Hedwig (Hg.): Spätmittelalter, Humanismus, Müller, Jan-Dirk (Hg.): Romane des 15. und 16. Jahrhun-
Reformation. Texte und Zeugnisse, 2 Bde. München derts. Frankfurt a. M. 1990.
1975–1978. Schmidt, Josef (Hg.): Renaissance, Humanismus, Reforma-
Kühlmann, Wilhelm/Seidel, Robert/Wiegand, Hermann tion. Stuttgart 1983.
(Hg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Thomke, Hellmut (Hg.): Deutsche Spiele und Dramen des
Lateinisch und deutsch. Frankfurt a. M. 1997. 15. und 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1996.

Weiterführende Literatur
Bennewitz, Ingrid/Müller, Ulrich (Hg.): Von der Handschrift Klueting, Harm: Das konfessionelle Zeitalter 1525–1648.
zum Buchdruck: Spätmittelalter, Reformation, Stuttgart 1989.
Humanismus 1320–1572. Reinbek 1991. Müller, Jan-Dirk/Robert, Jörg (Hg.): Maske und Mosaik.
Bremer, Kai: Literatur der Frühen Neuzeit: Reformation, Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert Berlin 2007.
Späthumanismus, Barock. Paderborn 2008. Röcke, Werner/Münkler, Marina (Hg.): Die Literatur im
Füssel, Stephan: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München/Wien
(1450–1600). Ihr Leben und Werk. Berlin 1993. 2004.
Keller, Andreas: Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter. Washof, Wolfgang: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfigu-
Berlin 2008. ren und protestantische Theologie im lateinischen und
Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, deutschen Bibeldrama der Reformationszeit. Münster
Bd. 1: Epochen und Gattungsprobleme. Reformations- 2007.
zeit. Tübingen 1987; Bd. 2: Konfessionalismus. Tübingen
1987.

3.3.2 | Barock lungen unhaltbar, besonders die zeitweilige Her-


ausstellung irrationalistischer Tendenzen – man
Der Barockbegriff gehört zu den problematischsten deutete hier Epochenphänomene wie die Mystik
Konstrukten der deutschen Literaturgeschichts- unhistorisch aus – liefert ein völlig verfehltes Bild
schreibung, was auch damit zusammenhängt, der Epoche. Die moderne Forschung betont denn
dass er eigentlich aus der Kunstgeschichte stammt auch zu Recht den engen Zusammenhang von Hu-
und erst im späten 19. Jh. als literaturwissen- manismus und Barock, was den Literarhistoriker
schaftlicher Terminus etabliert wurde. Schon die Herbert Jaumann sogar dazu veranlasste, das
Etymologie des Wortes (möglicherweise von por- 17. Jh. als Zeitalter von Späthumanismus, Kon-
tugiesisch barroco: schiefrunde Perle) ist unklar fessionalismus und höfischer Kultur zu klassifi-
und wenig erhellend. Das organologische Epo- zieren und den Barockbegriff für irreführend zu
chenmodell früherer Zeiten konstruierte die sche- erklären.
matische Ablösung einer ›klassischen‹, ›romani- ›Ordo‹-Denken: Unter der Prämisse, dass man
schen‹ Renaissancekultur durch ein ›romantisches‹, die Kontinuität zur vorausgegangenen Epoche ins-
›deutsches‹ Barock. Vielfach versuchte man auch, besondere hinsichtlich des gelehrten Fundaments
die Spannungen innerhalb der Epoche selbst, die und der rhetorischen Struktur der gesamten litera-
man auf das prägende Ereignis des Dreißigjährigen rischen Produktion anerkennt, lassen sich freilich
Krieges (1618–1648) zurückführte, als dialekti- gemeinsame ›barocke‹ Merkmale des Literaturbe-
sches Verhältnis von Vergänglichkeitsdenken (me- triebs und der poetischen Zeugnisse aus der Zeit
mento mori) und Sinnenfreude (carpe diem) zu zwischen Martin Opitzens Dichtungsreform (Buch
psychologisieren. Tatsächlich sind solche Vorstel- von der Deutschen Poeterey, 1624) und einer früh-

265
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

aufklärerischen Übergangsphase er- man – ein großformatiges Abbild der funktio-


kennen, die durch die Figur des Phi- nierenden bzw. der gestörten Ordnung der Welt
losophen und Journalisten Christian vorführen. Auch auf der syntaktisch-rhetorischen
Thomasius (1655–1728) markiert Mikroebene lässt sich das Prinzip orten: Die unter-
wird. Am prägnantesten bündeln schiedlichen Stilrichtungen der Zeit, vom ›vor-
sich barocke Vorstellungen im soge- barocken Klassizismus‹ bis zum spätbarocken
nannten ordo-Denken, also der Aus- ›Schwulst‹, zeichnen sich durch eine Tendenz zur
richtung aller Lebensvollzüge am Überdeterminiertheit aus, die in der Praxis eine
Postulat einer gottgegebenen gesell- Analyse auf mehreren Textebenen erforderlich
schaftlichen, staatlichen und kirch- macht, in der Regel dann aber zu einem integralen
lichen Ordnung, die ihrerseits nach Verständnis führt (eine gute Einführung in die
einer angemessenen Repräsentation Epoche bietet Niefanger 2012).
in den Künsten verlangt. Die Archi-
tektur und Ausstattung barocker Kir-
3.3.2.1 | Historisch-gesellschaftliche Grund-
chen verweist auf diesen Grundge-
situation und literarisches Leben
danken ebenso wie die Malerei mit
ihren Fürstenporträts und Stillleben Dreißigjähriger Krieg: Der historische Befund,
oder die Musik mit der hierarchi- dass die ersten Jahrzehnte des sogenannten Ba-
schen Kompositionsstruktur von rockzeitalters vom Dreißigjährigen Krieg – einer
Opern und Oratorien. Auseinandersetzung europäischer Staaten auf
Literarische Reflexe barocken Den- deutschem Boden mit konfessionellem Hinter-
kens: Literarisch zeigt sich das ordo- grund und dynastisch-machtpolitischen Interes-
Prinzip zum Beispiel in der Vorliebe sen – geprägt waren, verführt dazu, im kulturellen
Die allegorische Figur der für die Text-Bild-Komposition des Leben dieser Zeit nach einschneidenden Verände-
›Gelegenheit‹ (occasio) ist Emblems, wo durch ein knappes Motto (inscrip- rungen zu suchen, die allein durch die Kriegsereig-
am Hinterkopf kahl, tio), eine allegorische Abbildung (pictura) und nisse motiviert sind. Gewiss blieben die Zerstö-
deshalb muss man sie einige erläuternde Verse (subscriptio) eine be- rungen, die der Krieg an Besitz, Körper und Seele
›beim Schopf packen‹. stimmte Maxime veranschaulicht wird (vgl. das der Menschen anrichtete, nicht ohne Folgen für
Andrea Alciati: Emblema- illustrierte Handbuch von Henkel/Schöne 1996). Thematik und Form der in seinem Umfeld entste-
tum liber (1531) Außerdem begegnet es in der Problematisierung henden literarischen Werke. Und die metaphysi-
und Sanktionierung staatlicher und universaler schen Verunsicherungen, die schon durch die
Ordnungskonzepte in den Dramen eines Andreas Erschütterung des geozentrischen Weltbildes seit
Gryphius oder Daniel Casper von Lohenstein oder den Entdeckungen des Nikolaus Kopernikus ange-
im Roman, wo die beiden wichtigsten Realisati- stoßen worden waren, konnten sich im Angesicht
onsformen – höfischer Roman und Schelmenro- apokalyptischer Gräuel zu existenzieller Desorien-
tierung steigern. Die Vorstellung der Welt als eines
Personen und Ereignisse großen Theaters (theatrum mundi), auf dem ein
undurchschaubarer Gott die Menschen wie Mario-
1605/15 Miguel de Cervantes: Don Quijote netten agieren lässt, ist nur eine der Allegorien, in
1617 Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft denen sich diese epochalen Befindlichkeiten Aus-
1618 Prager Fenstersturz (Beginn des Dreißigjährigen Krieges) druck verschafften.
1624 Amtsantritt Richelieus als Erster Minister in Frankreich Litertursoziologische Aspekte: Jenseits funda-
1643–1715 Regierungszeit Ludwigs XIV. in Frankreich mentaler Sorgen um zeitliches und ewiges Heil
1647 Baltasar Gracián: Oráculo manuál (Handorakel) sahen sich die Gelehrten als Trägerschicht der
1648 Westfälischer Friede (Ende des Dreißigjährigen Krieges) Literatur allerdings auch einer veränderten Situa-
1649 Hinrichtung von König Karl I. von England tion ausgesetzt, in der sie sich zu behaupten hat-
1651 Thomas Hobbes: Leviathan ten. Die gesamteuropäische, vor allem von Frank-
1675 Philipp Jacob Spener: Pia desideria: oder Hertzliches Verlangen reich auf die deutschen Territorien ausgreifende
Nach Gottgefälliger Besserung Tendenz zu absolutistischen Regierungsformen mit
1687 Erste deutschsprachige Vorlesungsankündigung an einer effektiven Verwaltungsstrukturen, einem durchor-
Universität (Christian Thomasius) ganisierten System von Universität, Schule und Kir-
1694 Gründung der Reformuniversität Halle che sowie dem Bedürfnis nach aufwändiger Reprä-
sentation an den Höfen schuf für die Schicht der

266
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Barock

bürgerlichen Akademiker ein weites Betätigungs- aufgestellt (und von seinen Nachfolgern bis zu
feld. Zugleich hatten sie sich in einer Zeit, als Gottsched variiert und ergänzt). Fundamental ist –
auch die Adligen ihre Bildungsfeindlichkeit aufga- neben detaillierten Regeln für die einzelnen Gat-
ben und an speziellen ›Ritterakademien‹ eine an tungen – die sogenannte ›Opitzsche Versreform‹,
den Bedürfnissen der Gegenwart ausgerichtete die das akzentuierend-alternierende Prinzip ein-
Erziehung erhielten, einer harten Konkurrenz führte, das, allen Modernisierungsschüben der
zu stellen, konnten sich mithin nicht länger auf letzten Jahrhunderte zum Trotz, die konventionel-
eine weltabgewandte, als ›pedantisch‹ verspotte- le Vorstellung von ›Dichtung‹ in deutscher Spra-
te Gelehrtenexistenz zurückziehen. Wer in höfi- che – ganz anders als etwa im Französischen – bis
schen Kreisen reüssieren wollte, musste sich heute beeinflusst: Wenn man in einem Gedicht die
fortan statt auf Latein in den modernen Fremd- Wörter korrekt skandiert, sollte sich, so Opitz, im-
sprachen – vor allem Französisch – ausdrücken mer ein regelmäßiger Wechsel von betonten und
können, hatte ›galante‹ Verhaltensmuster anzu- unbetonten Silben ergeben.
nehmen und ›politisch‹, also situationsangemes- Zwischen Norm und Lizenz: In der Folgezeit wur-
sen und nötigenfalls auch mit trickreicher Ver- den die poetologischen Konzepte Opitzens eher in
stellung, zu agieren. der Praxis als in der Theorie modifiziert, erst gegen
Rezipientenorientierung: Als Literat musste Ende des 17. Jh.s ist eine stärkere Dynamisierung
man vor allem eine adlige, zunehmend auch groß- der poetologischen Debatte festzustellen, die sich
bürgerliche und weibliche Leserschicht gewinnen, etwa durch folgende Tendenzen auszeichnet: Die
also in einem anspruchsvollen Deutsch schreiben strenge Normativität der Dichtungsregeln sah sich
und sich modernen Gattungen wie der Oper oder konfrontiert mit Bestrebungen, innerhalb dieses Re-
dem höfischen Roman öffnen. Die Grundlagen für gelsystems bestimmte Abweichungen zuzulassen
die notwendige literarische Reform schufen Martin (licentia poetica), und reagierte damit letztlich auf
Opitz und seine Mitstreiter schon in den 1620er das immer schon virulente Paradigma von der
Jahren; zur selben Zeit entstanden in verschiede- ›dichterischen Begeisterung‹, die die Fesseln der Re-
nen deutschen Städten und Territorien sogenannte gelpoetik eigentlich nicht akzeptieren kann. Zu-
Sprachgesellschaften, die sich – aus unterschiedli- gleich lehnte man die spätbarocken Auswüchse des
chen Beweggründen – um die Ausbildung einer erhabenen Sprachstils, wie sie etwa in der ›Zweiten
Kunstsprache von europäischem Niveau bemüh- Schlesischen Schule‹ (Hoffmannswaldau, Lohen-
ten (s. 3.3.2.6). stein) entwickelt worden waren, allmählich als
›Schwulst‹ ab. Stattdessen kehrte man zum opitizia-
nischen Modell zurück, das durch seine Klarheit in
3.3.2.2 | Poetologie
Wortgebrauch und Wortfügung den frühaufkläreri-
Barocke Regelpoetik: Die Poetik des Barock fußt schen Bestrebungen entgegenkam und zunehmend
auf Martin Opitzens Buch von der Deutschen von den Idealen des französischen ›classicisme‹
Poeterey (1624), das ein großes kulturpolitisches eines Nicolas Boileau beeinflusst wurde. So dekre-
Manifest, zugleich aber auch das erste in der lan- tierte Christian Weise in seinen Curiösen Gedancken
gen Reihe normativer Poetiklehrbücher für eine Von Deutschen Versen (1692): »Welche Construc-
Dichtung in deutscher Sprache ist. Es ging Opitz tion in prosa nicht gelitten wird / die sol man auch
zunächst um den Nachweis der Rolle von Dich- in Versen darvon lassen.«
tung als einer Universalkunst, die gleichsam über Geschmacksdebatte: Das Aufkommen der ers-
allen Wissenschaften steht. Daraus erwächst für ten Zeitschriften, die auch literaturkritische Stel-
ihn das Selbstbewusstsein des Poeten, der sich be- lungnahmen enthielten, ging einher mit der Frage
rechtigt glaubt, in einer Allianz mit den Fürsten
die Elite des Gemeinwesens zu bilden. Um zu er- Poetologische Wendepunkte
reichen, dass Mitglieder der Gesellschaft, die tradi-
tionell kein Latein lernten, anspruchsvolle Litera- 1624 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey
tur auch konsumieren konnten, musste neben der 1674 Nicolas Boileau-Despréaux: L’ art poétique (Die Dichtkunst)
lateinischen Literatur auch die Dichtung in der 1677 Christian Weise: Der Politische Redner
Volkssprache europäischen Standards genügen, 1695–1727 Benjamin Neukirch (Hg.): Herrn von Hoffmannswaldau
und dazu wiederum bedurfte es, nach Ansicht der und anderer Deutschen außerlesene und bissher unge-
Zeit, präziser Produktionsnormen. Für die deut- druckte Gedichte, 7 Teile
sche Literatur wurden solche erstmals von Opitz

267
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

nach dem guten ›Geschmack‹, einer ästhetischen um Klarheit in Wortfügung und Periodenbau geht
Kategorie, die über die tradierten rhetorisch-poe- (vgl. den konzisen Überblick von Meid 2008, au-
tologischen Muster der Urteilsbildung (iudicium, ßerdem Kemper 1988 ff.).
Orientierung am aptum; s. Kap. III.1.4) hinauswies
und eine wichtige Rolle in der Erkenntnistheorie Lyrik des Barock
der Aufklärung spielen sollte. Zunehmend verla-
gerten sich die poetologischen Überlegungen näm- 1637 Andreas Gryphius: Lissaer Sonette
lich vom produktionsorientierten Aspekt der Dich- 1642 Paul Fleming: Teutsche Poemata
tung (›Mit welchen Mitteln erzielt der Autor die 1643 Jacob Balde: Lyricorum libri IV. Epodon
beabsichtigten Wirkungen?‹) zum Rezeptionsas- liber I. Silvae (Oden. Epoden. Ver-
pekt (›Auf welche Weise funktioniert die Wahrneh- mischte Gedichte)
mung eines Textes beim Leser?‹). Zugleich wurde 1649 Friedrich Spee: Trutz Nachtigall
die bereits von Opitz aufgeworfene Frage, wer ei- 1666/67 Paul Gerhardt: Geistliche An-
gentlich zum Dichter bestimmt sei, entschiedener dachten
gestellt und gegen die Masse der talentlosen Verse- 1674 Angelus Silesius: Cherubinischer
schmiede zu Felde gezogen – ein früher Schritt hin Wandersmann
zu einem Dichtungskonzept, das nur dem ›Genie‹ 1679 Christian Hoffmann von Hoffmanns-
die Kompetenz zu poetischer Produktion zuschrei- waldau: Helden-Briefe
ben sollte.

Sonett: Als barocke Lyrikgattung par excellence


3.3.2.3 | Lyrik und andere kürzere
gilt das Sonett, das, aus den europäischen Nach-
Versdichtungen
barliteraturen (vgl. Francesco Petrarca: Canzonie-
Problematischer Begriff ›Barocklyrik‹: Mit barocker re; Mitte 14. Jh., Erstdruck 1470) übernommen,
Lyrik verbinden sich gewöhnlich vier Vorstellun- seit dem späten 16. Jh. in der deutschen Literatur
Vier verbreitete Annahmen gen: Sie sei gelehrte Poesie, sie sei Gelegenheits- nachweisbar ist und – wie die meisten anderen
über Barocklyrik dichtung, sie verarbeite Ereignisse und Stimmun- Gattungen – durch die Übersetzungen und eigenen
gen des Dreißigjährigen Krieges, und sie sei durch Arbeiten Martin Opitzens seit den 1620er Jahren
einen rhetorisch überladenen, ja ›schwülstigen‹ intensive Verbreitung fand. Die meisten bedeuten-
Stil gekennzeichnet. Tatsächlich trifft von diesen deren Barocklyriker verfassten Sonette, die auf-
vier Zuschreibungen nur die erste auf den weitaus grund ihrer streng festgelegten Komposition
größten Teil der Barocklyrik zu, die – durch die (s. Kap. III.4.3.3) der Tendenz der Zeit entgegenka-
Vermittlerrolle von Martin Opitz an die poetologi- men, klar strukturiert und auf eine Pointe zielend
schen Konzepte des Späthumanismus angebun- eine womöglich provozierende, jedenfalls aber
den – in der souveränen Beherrschung aller Stilre- Verbindlichkeit beanspruchende Position zu arti-
gister der deutschen Hochsprache, im Rückbezug kulieren.
auf Vorstellungen und Figuren der antiken Mytho- Prominente Sonettdichter: Paul Fleming
logie und Geschichte, schließlich auch im An- (1609–1640), Zeitgenosse von Opitz, vertritt in sei-
spruch auf die Vermittlung oder zumindest die nen Sonetten teilweise eine eher späthumanisti-
Verwertung von Bildungswissen als Dichtung von sche als eigentlich ›barocke‹ Position: Besonders in
Intellektuellen für Intellektuelle begriffen wer- »An sich« und der im Vorgriff auf den eigenen Tod
den kann. Die übrigen Prädikationen betreffen je- verfassten »Grabschrifft« präsentiert er sich als
weils nur einen Teilbereich der lyrischen Produkti- selbstbewusste, sich der eigenen Leistung und des
on: So können etwa die kanonisch gewordenen verdienten Nachruhms bewusste Persönlichkeit.
großen Sonettzyklen eines Paul Fleming, Andreas Bei aller biographischen Eigenständigkeit stellt
Gryphius oder Christian Hoffmann von Hoff- freilich auch Fleming im Selbstporträt eine ›reprä-
mannswaldau nicht als anlassgebundene Gelegen- sentative‹ Figur, eben den situationsmächtigen,
heitsdichtung verstanden werden, sind zumindest affektfreien Intellektuellen stoischer Prägung, vor.
die Texte der zweiten Jahrhunderthälfte – aber Im Gegensatz hierzu vertritt Andreas Gryphius
nicht nur diese – unabhängig von den Gräueler- (1616–1664) in vielen seiner Sonette eine streng
fahrungen des großen Konfessionskrieges zu lesen lutherische Haltung, die den sündigen Menschen
und gibt es als Pendant zum ›Schwulststil‹ ausge- an die Nichtigkeit (vanitas) der eigenen Existenz
sprochen klassizistische Strömungen, denen es und die Sorge um das Seelenheil mahnt (memento

268
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Barock

mori); vgl. Gedichttitel wie »Es ist alles Eitel«, »Das Echogedicht: In den weiteren Umkreis der Figu-
Letzte Gerichte«, »Ewige Freude der Außerwehl- rengedichte sind auch andere Formen graphischer
ten«. Mit Christian Hoffmann von Hoffmanns- Textgestaltung einzubeziehen wie etwa das Echo-
waldau (1616–1679) begegnet ein Repräsentant gedicht, in dem jeder Vers mit einem Binnenreim
der spätbarocken Dichtung, für den Spitzfindigkeit endet, der – in einer dialogischen Textsituation –
(argutezza) und Pointe (concetto) vielfach die ei- die Stimme des Echos wiedergibt. Durch den
gentliche ›Botschaft‹ ersetzen oder sie zumindest scheinbar spielerischen Umgang mit der sprachli-
ambivalent erscheinen lassen. chen Form wollte man den generellen Verweis-
Epigramm: Als Bestandteil der Text-Bild-Kom- charakter von Sprache deutlich machen: Dinge
position des Emblems wie auch als Strukturele- (res) und Worte (verba) stehen nach frühneuzeitli-
ment vieler Sonette ist das Epigramm in der ba- chem Danken in einer natürlichen Korrespondenz.
rocken Literatur weit verbreitet. Wie in der Geistliche Lyrik: Unter den zahlreichen religiö-
griechischen und römischen (Martial) Antike han- sen Gedichtformen der Barockzeit ragen einerseits
delt es sich beim Epigramm, was eigentlich ›In- die protestantischen Kirchenlieder Paul Ger-
schrift‹ bedeutet, um eine gedanklich verkürzte, hardts (1607–1676) heraus, der die Lehre Martin
also das kombinatorische Geschick des Rezipien- Luthers in ebenso gelehrter wie bildhaft-einpräg-
ten herausfordernde, scharfsinnige und in eine samer Weise poetisch umsetzt (z. B. »Geh’ aus
Pointe mündende Abfolge einer geringen Zahl von mein Herz, und suche Freud’«). Auf katholischer
Versen. Im Deutschen herrscht dabei der Alexan- Seite nehmen die sogenannten ›Geistlichen Braut-
driner vor, weil er durch seine symmetrische lieder‹, die heute zuweilen befremdlich erschei-
Struktur für die Formulierung von Antithesen, Syl- nen mögen, eine bedeutende Stellung ein. Ange-
logismen und Sentenzen besonders geeignet ist; trieben von mystischen Vorstellungen, die auf eine
die kürzeste Ausprägung der Gattung bildet dem- meditative Einswerdung (unio mystica) des Men-
nach ein gereimtes Alexandrinerpaar. Vielfach schen mit dem Numinosen zielen, und inspiriert
werden Epigramme als Zyklen publiziert, die oft durch das Hohelied des Alten Testaments, das ja
eine zeitkritisch-satirische Zielrichtung verfolgen, ursprünglich eine Sequenz weltlicher Liebeslieder
z. B. Friedrich von Logau: Deutscher Sinn-Getichte war, imaginieren die Autoren die Sprecherfigur ei-
Drey Tausend (1654), Christian Wernicke: Uber- ner – weiblich gedachten – menschlichen Seele
schriffte Oder Epigrammata (1697). Aufgrund ihrer (Psyche), die nach der Vereinigung mit ihrem
Eindringlichkeit und Einprägsamkeit eignen sie Bräutigam Christus trachtet. Einige der Texte etwa
sich auch für geistliche Zwecke, sowohl im protes- aus Friedrich Spees (1591–1635) Trutz Nachtigall
tantischen (Daniel Czepko) wie auch im katholi- (1649) oder Angelus Silesius’ (1624–1677) Heilige
schen Bereich (Angelus Silesius: Cherubinischer
Wandersmann, 1674).
Figurengedicht: Die aus Sonett und Emblem ab-
zuleitende Neigung der barocken Literatur, ge-
dankliche Ordnung durch äußerliche Strukturprin-
zipien auch graphisch abzubilden, zeigt sich
verstärkt im sogenannten Figurengedicht (über-
setzt aus carmen figuratum). Hier wird ein bereits
für sich bestehender, vollständiger Text – darin
liegt der Unterschied zur Konkreten Poesie der
Moderne – drucktechnisch so angeordnet, dass die
zentrale Aussage in verdichteter Form auch op-
tisch dargestellt wird. Ein bekanntes Beispiel ist
Johann Helwigs Gedicht »Eine Sanduhr« (1650),
das aus Versen unterschiedlicher Länge geformt
ist, deren Anordnung den Umriss eines Stunden-
glases ergibt. Dieser Gegenstand symbolisiert den
Gehalt des Textes, der als memento mori zu lesen Beispiel für ein barockes
ist und mit der Sentenz endet: »Drum / Mensch / Figurengedicht:
bedenk’ es wol / bleib wachsam und gerüst: | klug Johann Helwig:
seyn / und nicht viel Jahr die Ehr des Alters ist.« »Eine Sanduhr« (1650)

269
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

Seelen-Lust Oder Geistliche Hirten-Lieder der in ih- Dramen


ren Jesum verliebten Psyche (1657) geben sich
scheinbar unverhohlen erotisch oder sogar maka- 1658 Gryphius: Absurda Comica Oder Herr
ber – wenn etwa die Seele danach lechzt, das Blut Peter Squentz
aus Christi Wunden zu saugen. Tatsächlich muss 1659 Gryphius: Papinianus
vorausgesetzt werden, dass die Leser den ›Code‹ 1661 Daniel Casper von Lohenstein:
der Gedichte verstanden, dass also die Parallelen Cleopatra
zum – von jeher als geistliche Allegorie gedeute- 1682 Christian Weise: Masaniello
ten – Hohenlied und anderen geistlichen Prätexten 1695 Christian Reuter: Schlampampe
erkannt wurden.

den Stücken ein klassizistisches Gepräge, das im


3.3.2.4 | Drama
18. Jh. durch Gottsched im Sinne der Aufklärung
Funktionale Vielfalt: Wie im 16. Jh. wurden auch modifiziert, aber zunächst nicht aufgegeben wird.
in der Barockzeit Dramen vor allem auf dem ›Politische‹ Dramen: Die beiden wichtigsten
Schultheater aufgeführt und dienten der rheto- Barockdramatiker Andreas Gryphius und Daniel
risch-moralischen Unterweisung der Schüler. Casper von Lohenstein (1635–1683) bekleideten
Gryphius und Auf katholischer Seite blieb das Ordensdrama, ins- in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg als
Lohenstein besondere das an den Jesuitenkollegien gepflegte, Protestanten im Schlesien der Gegenreformation
in seiner Struktur weitgehend unverändert, vor hohe Ämter in der Verwaltung, wussten also, was
allem wurde das Latein als Publikations- und Auf- es bedeutete, sich mit dem Druck fürstenstaatli-
führungssprache beibehalten. Die Jesuiten ver- cher Obrigkeiten auseinanderzusetzen. Ihre Trau-
fassten nicht nur geistliche Dramen, sondern bear- erspiele, die bei Lohenstein fast ausschließlich im
beiteten auch historische Stoffe und stellten ihre Altertum, bei Gryphius in verschiedenen Epochen
Stücke vielfach in den Dienst der politischen Pro- zwischen Antike und Gegenwart spielen, sind in-
paganda für das Haus Habsburg, worin ihren frei- sofern ›politische‹ Dramen, als es in ihnen um die
lich auch Protestanten folgten, sofern sie das stabi- Wechselbeziehung von Machtstreben, Rechts-
lisierende Potential einer zentralistischen Politik empfinden und Affekten (oft erotischer Art) geht.
anerkannten. Das Drama der protestantischen ge- Unabhängig von der historischen Einkleidung ste-
lehrten Dichter erfuhr unter dem Einfluss von hen dabei immer die Funktionsmechanismen und
Martin Opitz erhebliche formale und auch konzep- die Legitimation der absolutistischen Staatsgebil-
tionelle Änderungen gegenüber den auf biblische de des 17. Jh.s zur Diskussion. Wenngleich beide
Stoffe und konfessionelle Auseinandersetzungen Autoren an der Rechtmäßigkeit dieser Staatsform
konzentrierten Vorgängern im Reformationsjahr- nicht zweifeln und mit ihren Stücken bewusst zu
hundert. deren Stabilisierung beitragen, stufen sie doch das
Barocker Klassizismus: Opitz hatte 1625 die Tro- Konfliktpotential zentraler Entscheidungssituatio-
janerinnen des römischen Autors Seneca in deut- nen unterschiedlich ein. Die Forschung hat diese
sche Alexandriner übersetzt und damit sein Pro- Differenz unter den frühneuzeitlichen Wertbegrif-
gramm, eine deutschsprachige Kunstdichtung in fen constantia (Standhaftigkeit; nach der neostoi-
der Tradition der Antike und der zeitgenössischen zistischen Lehre von Justus Lipsius: De constan-
Nachbarliteraturen zu etablieren, auch im Be- tia, 1584) und prudentia (politische Klugheit)
reich der Tragödie realisiert. Stücke in der Nach- subsumiert.
folge Opitzens hatten in der Regel fünf Akte, die Constantia und prudentia: Gryphius’ Trauer-
durch kommentierende Chorpartien (sogenannte spiele führen die ›Eitelkeit‹ (vanitas) innerweltli-
›Reyen‹) voneinander getrennt waren. Der Aufbau chen Strebens am Beispiel des Sturzes von Fürsten
der Stücke ist stringent, die Handlungen sind psy- vor (Leo Armenius, 1647; Carolus Stuardus, 1650),
chologisch motiviert, wobei die rhetorische Kom- fordern aber auch von den Helden die Bereitschaft
ponente der Figurenrede sehr stark hervortritt. Die zum Martyrium als Konsequenz einer inneren
Orientierung an den aristotelischen Einheiten, Freiheit, die sich auf keine Kompromisse mit un-
die Zugehörigkeit der Hauptfiguren zu den obers- gerechtfertigten Zumutungen einlässt (Catharina
ten Ständen und die anspruchsvolle sprachliche von Georgien, 1650). Am eindrucksvollsten zeigt
Gestaltung (erhabener Stil, aufwändiger Figuren- sich Gryphius’ Position im Schicksal des römi-
gebrauch, paargereimter Alexandrinervers) geben schen Juristen Papinianus (1659), der sich zwar

270
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Barock

weigert, einen von seinem Kaiser begangenen L’honnête femme oder Die ehrliche Frau zu Plißine,
Mord zu rechtfertigen, und deswegen sogar den 1695, bekannter unter dem Titel Schlampampe).
Tod in Kauf nimmt, allerdings nie die Legitimität Die grundsätzliche Botschaft, wonach der Mensch
und Notwendigkeit der absoluten Fürstenherr- auf dem ›Schauplatz des Lebens‹ die ihm zuge-
schaft in Frage stellt. Während Gryphius seine dachte (soziale) Rolle zu spielen hat, ist freilich
Helden also in derartigen Konfliktsituationen zu- konstitutiv für die gesamte Epoche, wenngleich
gunsten der persönlichen Gewissensfreiheit ent- der sozialdisziplinierende Impetus in den Lust-
scheiden lässt, plädiert Lohenstein für den Primat spielen nicht zu verkennen ist.
der Staatsklugheit (prudentia). Als deren Antipo-
de firmiert allerdings nicht das persönliche Gewis-
3.3.2.5 | Erzählende Literatur
sen, sondern entweder die erotische Leidenschaft
(Agrippina, 1665) oder – was schwerer wiegt – Der Roman galt im 17. Jh. formell noch immer
das legitime Herrschaftsinteresse der Gegenpartei. nicht als ›vollwertige‹ literarische Gattung, da er in
In den ›afrikanischen‹ Trauerspielen Cleopatra den poetologischen Systemen der Antike – und in
(1661) und Sophonisbe (1669) versuchen die Titel- deren Gefolge auch des Humanismus – nicht vor-
heldinnen, vor allem die Unabhängigkeit ihrer Rei- kam. Die traditionelle Systemstelle für erzählende
che zu sichern, und setzen ihre erotischen Reize Literatur nahm das Versepos ein, das jedoch in der
zur Erreichung politischer Zwecke ein. In den Barockzeit in Deutschland kaum noch gepflegt
letztlich siegreichen Römern verbinden sich politi- wurde; Werke von nationaler Bedeutung wie
sche Weisheit und schicksalhafte Bestimmung – John Miltons Paradise Lost (1667) erschienen in
eine Kombination, die Lohenstein auch dem habs- Deutschland nicht. Andererseits wurde der Ro-
burgischen Kaiserhaus als Rechtsnachfolger des man, den erst die Theoretiker des 18. Jh.s als mo-
Römischen Reiches zuspricht. derne Entsprechung des Epos sanktionieren soll-
Epochenübergang: An der Schwelle zwischen ten, zu derjenigen literarischen Form, die der
Barock und Aufklärung steht Christian Weises kulturpolitischen Tendenz zur Ausweitung des
(1642–1708) Masaniello (1682), in dem das Schei- Leserkreises auf die ›gehobenen‹ Schichten jen-
tern eines Aufstandes auf die Bühne gebracht seits des Gelehrtenstandes – Adel und wohlhaben-
wird. Das Stück verletzt nicht nur mehrere Regeln des Bürgertum, jeweils unter Einbeziehung der
des klassischen Trauerspiels, sondern verzichtet – Frauen – entgegenkam: Die Romane vermittelten,
für die Zeit ebenso ungewöhnlich – auf klare wie andere Gattungen in der Frühen Neuzeit auch,
textimmanente Signale zur Bewertung des poli- zeitgemäßes Orientierungswissen, verzichteten
tisch brisanten Geschehens. aber auf einen gelehrten Apparat (wie etwa die Le-
Lustspiel: Das barocke Lustspiel stellt, wie es seausgaben der Dramen) und fesselten ihr Publi-
auch in vorausgehenden und späteren Epochen kum durch ein weites, auch exotische Welten ein-
verbreitet ist, Figuren aus dem bürgerlichen und beziehendes Themenspektrum. Außerdem wurde
bäuerlichen Milieu vor, die sich durch unange- den Affekten, allen voran der Liebe zwischen den
messenes Verhalten selbst der Lächerlichkeit Geschlechtern, eine positivere Rolle zugewiesen
preisgeben. Erklärtes Ziel ist, so will es jedenfalls als im Trauerspiel, wo die Leidenschaften in der
die Komödientheorie der Zeit, das Aufzeigen der Regel Auslöser fatalen Fehlverhaltens waren. Die
Laster und als Konsequenz daraus die ›Besse- Romanproduktion der Frühen Neuzeit war nicht
rung‹ der Rezipienten. Es fällt auf, dass in vielen sehr umfangreich, die überlangen und bei allem
Stücken Formen lächerlicher Anmaßung bei den Unterhaltungswert doch anspruchsvollen Werke
niederen Ständen getadelt werden, sei es dass ein
halbgebildeter Dorfschulmeister und linkische Erzählende Literatur
Handwerker eine erhabene Tragödie vor höfi-
schem Publikum aufzuführen versuchen (Andre- 1640/43 Johann Michael Moscherosch: Wunderliche und wahrhaftige
as Gryphius: Absurda Comica Oder Herr Peter Gesichte Philanders von Sittewalt
Squentz, 1658), dass ein probeweise zum Prinzen 1669 Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteur-
beförderter Bauer mit seiner Rolle nicht zurecht- liche Simplicissimus Teutsch
kommt (Christian Weise: Schauspiel vom Nieder- 1689/90 Daniel Casper von Lohenstein: Großmütiger Feldherr
ländischen Bauer, 1685) oder dass das städtische Arminius
Kleinbürgertum aristokratische Lebensweisen er- 1696/97 Christian Reuter: Schelmuffsky
folglos kopiert (Christian Reuter, 1665 – um 1712:

271
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

wurden nur von einer gebildeten und wohlhaben- Schelmenroman: Das Gegenstück zur ›hohen‹
den Oberschicht konsumiert. Dennoch entwickelte Gattung des höfisch-historischen Romans bildet
sich eine gewisse Vielfalt an Untergattungen, unter der ›niedere‹ Roman, der sich als Moralsatire (Jo-
denen der höfisch-historische und der Schelmen- hann Michael Moscherosch: Gesichte Philanders
roman die markantesten sind. von Sittewalt, 1640/43) oder als politischer Ro-
Mit dem höfisch-historischen Roman, der in man (Christian Weise: Die drei ärgsten Ertz-Nar-
der ersten Jahrhunderthälfte durch Übersetzun- ren in der gantzen Welt, 1672) ausprägt, beson-
gen im deutschen Kulturbereich heimisch wurde ders aber in der Form des Schelmen- oder (nach
(z. B. John Barclays Argenis, 1621; deutsch von den spanischen Vorbildern) Picaroromans. Der
Martin Opitz 1626), etablierte sich erstmals eine Schelmenroman ist ein Phänomen von Krisen-
Prosagattung, die den tradierten Anforderungen und Umbruchszeiten, wofür die Wirren des Drei-
›hoher‹ Literatur – hochadeliges Personal, Ge- ßigjährigen Krieges ebenso wie die sozialen Um-
genstand von überpersönlicher oder gar welthis- brüche der Folgezeit einen geeigneten Nährboden
torischer Tragweite, erhabener Stil – genügte. Die bildeten. Konstitutiv für das Genre ist ein Titel-
Stoffe stammten vielfach aus räumlich oder zeit- held von zweifelhafter Abkunft, der die Anfor-
lich entfernten Bereichen wie dem alten Birma derungen des Lebens mit moralisch fragwürdigen
(Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen: Mitteln bewältigt und häufig seine Rolle, teilweise
Die Asiatische Banise, 1689), teilweise wurden auch seine Identität wechselt. Trotz seiner Außen-
biblische Stoffe – analog zum Bibelepos der Hu- seiterposition und seiner Tätigkeit in untergeord-
manisten – umgearbeitet (Philipp von Zesen: As- neten Positionen erfreut er sich großer Beliebt-
senat, 1670; Simson, 1679). Für die politische heit bei den Mächtigen, den Reichen und den
Relevanz, die man dem exemplarisch verstande- schönen Frauen. Auf diese Weise mit den führen-
nen Romangeschehen zuschrieb, den Schichten konfrontiert, provoziert er schein-
spricht die Tatsache, dass mit Her- bar naiv deren anmaßendes oder unmoralisches
zog Anton Ulrich von Braunschweig- Verhalten und legt so die Funktionsmechanismen
Lüneburg ein Fürst selbst zur Feder der Gesellschaft offen.
griff (Aramena, 1669–1673; Octa- Simplicissimus-Figur: Prototyp dieses Genres ist
via, 1677–1707). Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens
Arminius-Stoff: Der bedeutendste (um 1622–1676) Roman Der abenteuerliche Simpli-
Vertreter des höfisch-historischen cissimus Teutsch (1669). Dessen Held Simplicius
Romans ist Lohensteins Großmüti- durchlebt die Welt des Krieges in permanentem
ger Feldherr Arminius (1689/90), der Glückswechsel und zeichnet – als im Rückblick
den siegreichen Kampf Hermanns weise gewordener Erzähler – ein halb realistisches,
(Arminius) des Cheruskers gegen die halb verzerrtes Bild einer aus den Fugen gerate-
Römer unter Varus (Schlacht im Teu- nen Welt, das sich dem unbeteiligten Leser als
toburger Wald, 9 n. Chr.) und den grimmige Satire darbietet. Autoren wie Johann Beer
darauf folgenden innergermanischen (Der Simplicianische Welt-Kucker, 1677/79) und
Bürgerkrieg schildert. Gattungsty- Christian Reuter (Schelmuffsky, 1696/97) übernah-
pisch sind neben der breit ausgestal- men das pikarische Modell, ohne die moralisieren-
teten Liebes- und Familiengeschichte de Tendenz Grimmelshausens, die bis zur barocken
die zahlreichen Exkurse, die den Le- Weltabsage des Helden führt, beizubehalten.
sern Weltwissen aus den verschie-
densten Bereichen vermitteln und
3.3.2.6 | Exkurs: Sprachgesellschaften
damit eine Art unterhaltsamer Enzy-
als kulturpatriotische Einrichtungen –
klopädie darstellen. Sehr wichtig
Die Fruchtbringende Gesellschaft
sind die politischen Maximen, die
Grimmelshausen: die Romane in die Nähe von Fürstenspiegeln rü- Sprachgesellschaften in Deutschland: In Anleh-
Der abenteuerliche cken. Lohensteins Arminius, in dem sich die Kon- nung an die Dichtersozietäten der Humanisten
Simplicissimus Teutsch stellationen des Dreißigjährigen Krieges widerspie- und im konkreten Bezug auf die 1582 in Florenz
(1669). Das Titelkupfer mit geln, vertritt eine reichspatriotische Tendenz, gegründete Accademia della Crusca etablierte sich
dem rätselhaften Mischwe- während in anderen Romanen eher Ideal- und Ge- um 1620 im mitteldeutschen Raum die Frucht-
sen hat Generationen von genbilder des absolutistischen Fürsten vorgeführt bringende Gesellschaft, eine Vereinigung zunächst
Forschern beschäftigt. werden. von Adligen, später ergänzt durch Bürgerliche, die

272
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Barock

das Ziel einer Verbesserung der deutschen Stan- undanckbar gegen die Natur und unser Vaterland seyn/ daß wir
dardsprache und Kunstliteratur verfolgte. Späte- mehr fleis auf ausländische/ als unsere eigene Muttersprache zu
re Gesellschaftsgründungen wie die der Deutsch- lernen/ wenden: Die erlernung zwar frembder/ sonderlich aber
gesinnten Genossenschaft in Hamburg (1642) der meistgewönlichen/ als auch Hauptsprachen/ ist nützlich/ an-
oder des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg mutig und lobens wehrt/ insonderheit wan eine iede bey ihrer
(1644) folgten im Grundsatz demselben Pro- eigenschaft und reinligkeit gelassen/ und aus dem grunde nicht
gramm, blieben aber stärker auf bürgerliche Mit- obenhin begriffen wird: da wir aber bey andern sprachen in zu-
glieder konzentriert und gingen, anders als die sammensetzung oder aussprechung der wörter etwa einmal ir-
›Fruchtbringer‹, keinen politischen Zwecken nach. ren/ und solches für einen groben fehler; Jn der unserigen/ wan
Generell war die Sozietätsbewegung im deutschen es alle tage und stunden geschicht/ für nichts halten wolten? Das
Kulturbereich ein fast durchweg protestantisches heist ja/ andern den preis geben/ und sich selbst vernichten:
Phänomen. Welches zwar/ wan wir es mit Gotte zu thun haben/ löblich/
Kulturpatriotismus: In der Regel werden die aber im weltlichen fleiße der tugenden die anzeigung eines
Sprachgesellschaften mit diversen kulturpatrioti- knechtischen gemütes ist.«
schen Aktivitäten in Verbindung gebracht. Tat-
sächlich beschäftigten sie sich vorwiegend mit Adelsbildung und Geistesadel: Die Argumente er-
Studien zur deutschen Sprache und Literatur, es innern stark an die frühe Schrift Aristarchus sive
wurden – neben der Produktion und Kritik poeti- de contemptu linguae Teutonicae (Aristarchus,
scher Arbeiten – auch Projekte wie Übersetzun- oder: Von der Verachtung der deutschen Sprache,
gen, Wörterbücher und Grammatiken (Justus 1617) von Martin Opitz, der selbst seit 1629 Mit-
Georg Schottelius: Ausführliche Arbeit von der glied bei den ›Fruchtbringern‹ war. Es entsprach
teutschen Haubtsprache, 1663) gefördert, ebenso auch durchaus den Interessen Opitzens und ande-
bildungsreformerische Bemühungen unterstützt. rer Gelehrter, dass sich die Adligen in steigendem
Die Wendung gegen das ›Alamode‹-Wesen der Maße um die deutsche Sprache bemühten, waren
Zeit, die Überfrachtung der deutschen Sprache mit sie doch dadurch erst in der Lage, die Leistung
französischen Vokabeln und Floskeln, ging einher der führenden Dichter angemessen würdigen zu
mit dem Rekurs auf angebliche Nationaltugenden können. Die formell propagierte Egalität aller
(›teutsche Redlichkeit‹), vor allem wollte man je- Gruppenmitglieder, die sich im Ersatz der umfang-
doch den offenkundigen kulturellen Rückstand reichen Titulaturen durch Gesellschaftsnamen ma-
gegenüber den westlichen Nachbarn aufholen. Im nifestierte (Fürst Ludwig: ›Der Nährende‹; Opitz:
Jahre 1631 schrieb das Oberhaupt der Fruchtbrin- ›Der Gekrönte‹), war ein Signal dafür, dass die von
genden Gesellschaft, Fürst Ludwig von Anhalt- den Humanisten geforderte Gleichwertigkeit von
Köthen (1579–1650), in einem Brief An Alte und ›Adel des Geistes‹ und ›Adel des Schwerts‹ sich zu-
Junge der Fruchtbringenden Geselschaft: mindest in bestimmten Rückzugsräumen realisie-
ren konnte.
»Es ist vor Jahren eine gewonheit gewesen/ und noch bey vielen/ Politische Bestrebungen: Neuere Forschungen Programmatische
die da vermeinen/ sie können nicht zierlich reden oder schrei- betonen neben der kulturellen auch die politische Verlautbarung
ben/ wan sie nicht allerhand Lateinische/ Frantzösische oder Jta- Ausrichtung der Fruchtbringenden Gesellschaft. Ludwigs von
liänische worter mit einmengen/ Wie aber! Solte dan unsere Unmittelbarer Anlass zur Gesellschaftsgründung Anhalt-Köthen
Deutsche Sprache alleine so arm oder unglückselig seyn/ daß sie war demnach die Schwächung der protestanti-
ihre meinung nicht alleine nottürftig/ sondern auch zierlich vor- schen Reichsstände in den ersten Jahren des Drei-
zubringen/ nicht selbst einen genugsamen vorraht hette/ son- ßigjährigen Krieges. Man wollte ein Gegengewicht
dern mit leihen und borgen sich behelffen müste? Jch sage viel- zu der habsburgisch-spanisch-katholischen Vor-
mehr/ daß sie hierin einen überflus hat/ und es andern reichlich macht in Deutschland etablieren und setzte zu
zuvor thut. Daß es also entweder ein bloßer fürwitz/ oder eine diesem Zwecke auf die ›nationale‹ Karte, indem
verachtung seiner selbst ist/ wan iemand an seinem Ehrentage man die lutherischen und calvinistischen Fürsten
lieber in einem entlehneten frembden/ als seinem eigenen erba- im Zeichen einer deutschen kulturellen Identität
ren kleide sich wil sehen lassen. Wir wissen/ wie vorzeiten die zu Einheit aufrief. Die Besonderheit eines solchen
Hebreer/ Griechen und Römer ihre sprachen so hoch gehalten/ Vorgehens wird deutlich, wenn man sich klar
daß sie alle mittel und wege gesuchet/ dieselbe so wol in gebun- macht, dass die auf deutschem Boden kämpfen-
dener als ungebundener rede auf das höchste ziel der zierligkeit den Truppen Söldnerheere waren und es den Ge-
zu bringen/ auch weit und fern auszubreiten: Dergleichen auch pflogenheiten der Zeit entsprach, wenn die katho-
noch unter andern völckern geschicht. Wolten wir dan alleine so lische Partei unter Tilly spanische Soldaten die

273
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

protestantische Kurpfalz verwüsten ließ. Wie Deutschen mit seiner Bibelübersetzung ein identi-
Opitz in seinem Trostgedichte in Widerwertigkeit tätsstiftendes Dokument schenkte, wollte man
Deß Krieges (1623) die ›Deutschen‹, die sich in sich nun gegen die Dominanz eines von Rom und
erster Linie als Untertanen verschiedener Territo- den Jesuiten gelenkten, von Spanien unterstützten
rialfürsten definierten, zur Einigkeit gegen auslän- und auf zentralistische Machtakkumulation zie-
dische Eroberer mahnte, so beriefen sich die Mit- lenden habsburgischen Kaiserhauses wehren – ge-
glieder der Fruchtbringenden Gesellschaft auf den stützt wiederum auf eine deutsche Sprache und
Topos von der alten ›deutschen Freiheit‹, zu des- Literatur, für deren Verteidigung lutherische und
sen Beglaubigung schon die Germania des römi- calvinistische Fürsten mit ihren bürgerlichen
schen Historikers Tacitus diente. Dichtern und Gelehrten bereit standen. Ob tat-
1517–1617: Möglicherweise ist das offiziell ange- sächlich Pläne zur Abspaltung eines protestanti-
gebene Gründungsjahr 1617 sogar fiktiv – erst ab schen ›Kerndeutschlands‹ unter Ausgliederung der
1622 sind Aktivitäten der ›Fruchtbringer‹ belegt –, habsburgischen Länder bestanden, ist nicht klar,
da man die Parallele zum Beginn der Reforma- es existieren jedenfalls Hinweise auf ein parallel
tion 1517 herstellen wollte: So wie Luther die theo- zu den kulturellen Aktivitäten geplantes militäri-
logische Vorherrschaft Roms abschüttelte und den sches Bündnis.

Interpretationsskizze Ein Sonett über Kriegszerstörung Gattung typischen Klarheit und Prägnanz Aus-
und Glaubensverlust maß und Folgen der kriegerischen Verwüstun-
gen. In den Quartetten werden die Einzelheiten
Andreas Gryphius: »Threnen des Vatterlandes / Anno 1636«. des Geschehens, wie sie sich der leidenden Be-
WIr sindt doch nuhmer gantz / ja mehr den gantz verheret! völkerung darstellen, systematisch entfaltet: Das
Der frechen völcker schaar / die rasende posaun erste Quartett nimmt die aggressiven Handlun-
Das vom blutt fette schwerdt / die donnernde Carthaun gen der marodierenden Truppen in den Blick,
Hatt aller schweis / vnd fleis / vnd vorraht auff gezehret. ohne auf die konkrete Konfliktsituation einzuge-
Die türme stehn in glutt / die Kirch ist vmbgekehret. 5 hen. Ohnehin sind die feindlichen Soldaten ge-
Das Rahthaus ligt im graus / die starcken sind zerhawn. dungene Söldner (»der frechen völcker schaar«),
Die jungfrawn sindt geschändt / vnd wo wir hin nur schawn die gar kein gezieltes – politisches oder konfessi-
Ist fewer / pest / vnd todt der hertz vndt geist durchfehret. onelles – Interesse verfolgen. Sie sind Instru-
Hier durch die schantz vnd Stadt / rint alzeit frisches blutt. mente der sinnlos wütenden Kriegsmaschinerie
Dreymall sindt schon sechs jahr als vnser ströme flutt 10 nicht anders als die Waffen und Kriegsposaunen,
Von so viel leichen schwer / sich langsam fortgedrungen. die ihrerseits personifiziert vorgestellt werden.
Doch schweig ich noch von dem was ärger als der todt. Die Folgen der über das Land hinwegfegenden
Was grimmer den die pest / vndt glutt vndt hungers noth Kriegsfurie zeigt das zweite Quartett: Die Be-
Das nun der Selen schatz / so vielen abgezwungen. zugspunkte der militärischen (»türme«), der
geistlichen (»Kirch«) und der politischen (»Raht-
Das Sonett erschien erstmals unter dem Titel haus«) Ordnung sind vernichtet, ebenso sind die
»Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes« Menschen körperlich und seelisch zerstört. Mit
1637 in der frühesten von Gryphius veranstalte- äußerster Knappheit gelingt es Gryphius nicht
ten Gedichtsammlung, den nach ihrem Druckort nur die räumliche Struktur des Gemeinwesens in
so genannten Lissaer Sonetten. 1643 wurde es in seiner Totalität zu erfassen; durch die Konzentra-
etwas veränderter Form erneut publiziert – diese tion auf die Stärksten (die geschlagenen Verteidi-
spätere Fassung ist hier wiedergegeben. ger) wie die Schwächsten unter den Bewohnern
Dreißigjähriger Krieg: Gryphius verweist mit (die vergewaltigten Mädchen) wird metonymisch
dem zweiten Teil der Überschrift (»Anno 1636«) die ganze Stadt als hilfloses Opfer ausgewiesen.
und der Formulierung »Dreymall sindt schon Der achte Vers schließt dann in Form einer divi-
sechs jahr« (V. 10) auf den Entstehungskontext: sio (Zwischenfazit) den ersten Teil des Gedichtes
Es geht um den Dreißigjährigen Krieg (1618– ab: Zerstörung, Krankheit und Tod fügen den
1648), der schon von den Zeitgenossen als schier Menschen an Körper und Seele Leid zu.
nicht enden wollende Folge von Gräueln aufge- Stufen der Verheerung: Das erste Terzett scheint
fasst wurde. Das Sonett skizziert in der für die entgegen der Sonettpoetik, die hier einen Wech-

274
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Barock

sel des Argumentationsmodus nahelegt, zu- durch die der Mensch das Seelenheil verwirkt.
nächst mit der Beschreibung der Zerstörungen Dies ist die Pointe des Textes: Mag auch die Qual
fortzufahren. Tatsächlich ergibt sich aber durch des Krieges noch so lange, scheinbar ›ewig‹ wäh-
das Adverb »alzeit« (V. 9) gegenüber dem punk- ren, sie ist doch nichts gegen die ewige Verdamm-
tuellen »nuhmer« (V. 1) eine Dynamik, die in den nis, der anheimfällt, wer ohne den Glauben an
hyperbolischen Bildern des durch die Straßen die göttliche Gnade aus dem Leben scheidet.
rinnenden Blutes und der mit Leichen überlade- Vergleich der Textfassungen: In der ersten Fas-
nen Flüsse den ununterbrochenen Fortgang des sung des Gedichtes, die bereits 1637 erschien,
Sterbens sinnenfällig macht. Im zweiten Terzett lauteten die letzten drei Verse: »Ich schweige
folgt endlich die erwartete Wendung, die auf das noch von dehm / was stärcker als der Todt / |
Ziel des kommunikativen Vorgangs hinweist: Der (Du Straßburg weist es wol) der grimmen Hun-
Sprecher, der bislang nur als Teil eines Kollektivs gersnoth / | Vnd dass der Seelen-Schatz gar vie-
aufgetreten war (»WIr«, V. 1; »wir«, V. 7; »vnser«, len abgezwungen.« Hier stand Gryphius offen-
V. 10), nimmt jetzt persönlich zu der geschilder- kundig unter dem unmittelbaren Eindruck eines
ten Situation Stellung (»ich«, V. 12). In genauer Ereignisses, das – wie der Titel der späteren Fas-
Umkehr der zuvor benannten Leiden (»fewer / sung zeigt – auf 1636 zu datieren ist: die Verhee-
pest / vnd todt«, V. 8), gleichsam in einer Pa- rungen in der protestantischen Stadt Straßburg,
linodie (Widerruf), relativiert er »todt … pest … die nach dem Kriegseintritt Frankreichs 1635 zu
glutt« und Hunger, um das eigentlich Entsetzli- einem zentralen Schauplatz des Krieges wurde
che auszusprechen: den Umstand, dass »der Se- und offenbar insbesondere unter einer Hungers-
len schatz« (V. 14) vielen Menschen abhandenge- not zu leiden hatte. Aus dieser Perspektive er-
kommen sei. scheinen Hunger und Glaubensverlust, wie die
Gefahr des Glaubensverlusts: Dabei ist an er- grammatische Beiordnung zeigt, als gleichge-
zwungene Konversion zum Katholizismus zu wichtet. Indem Gryphius aus der Distanz einiger
denken, aber wohl eher noch an den totalen Jahre diese Beiordnung in eine Unterordnung ab-
Glaubensverlust als Folge der desperatio, der Ver- wandelt, unterstreicht er die theologische Bot-
zweiflung am Wirken Gottes, das sich in der ge- schaft, die wir auch in anderen seiner bekanntes-
genwärtigen Welt kaum erkennen lässt. Gemäß ten Sonette wie »Es ist alles eitell« oder »Abend«
der Lehre Martin Luthers, der Gryphius in seinen finden: die Mahnung, angesichts der Anfechtun-
Texten folgt, ist diese Verzweiflung neben der gen des Lebens doch nie die Besinnung auf das
Hoffart (superbia) die schlimmste Todsünde, Seelenheil aus dem Auge zu verlieren.

Textsammlungen
Fischetti, Renate (Hg.): Barock. Stuttgart 1985. Schöne, Albrecht (Hg.): Das Zeitalter des Barock. Texte und
Maché, Ulrich/Meid, Volker (Hg.): Gedichte des Barock. Zeugnisse. Studienausgabe. München 1988.
Stuttgart 1980. Szyrocki, Marian (Hg.): Poetik des Barock. Stuttgart 1982.

Weiterführende Literatur
Alexander, Robert J.: Das deutsche Barockdrama. Stuttgart Bd. 4/2: Barock – Humanismus: Liebeslyrik. Tübingen
1984. 2006.
Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren Meid, Volker: Barocklyrik. Stuttgart/Weimar 22008.
geschichtlichen Grundlagen. Tübingen ²2002. – : Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom
Dyck, Joachim: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740,
rhetorische Tradition. Tübingen ³1991. Geschichte der deutschen Literatur Bd. 5. München 2009.
Henkel, Arthur/Schöne, Albrecht (Hg.): Emblemata. Meier, Albert (Hg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts.
Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. München/Wien 1999.
Jahrhunderts. Taschenbuchausgabe. Stuttgart/Weimar Niefanger, Dirk: Barock. Stuttgart/Weimar 32012.
1996. Steinhagen, Harald (Hg.): Zwischen Gegenreformation und
Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Frühaufklärung. Späthumanismus, Barock 1572–1740.
Bd. 3: Barock – Mystik. Tübingen 1988; Bd. 4/1: Reinbek 1985.
Barock – Humanismus: Krisen-Dichtung. Tübingen 2006; – /Wiese, Benno von (Hg.): Deutsche Dichter des 17. Jahr-
hunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1984.

275
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

3.3.3 | Aufklärung, Empfindsamkeit, von patriarchalischen Ordnungsstrukturen eben-


Sturm und Drang so geprägt ist wie von einem auf Wirkung be-
rechneten, rhetorischen Dichtungsverständnis.
Problematik der Epochenaufteilung: Die Zusam- Gerade an den Texten des jungen Schiller lässt
menfassung der europäischen Kulturepoche ›Auf- sich die Dialektik von Traditionsbindung und Re-
klärung‹ (engl. enlightenment, franz. lumières), volte eindrucksvoll studieren (guter Epochen-
der in Westeuropa sich verbreitenden Tendenz zur überblick bei Alt 2007).
›Empfindsamkeit‹ (engl. sensibility, franz. sensibi- Eine Binnendifferenzierung der Epoche geht
lité) und der auf Deutschland beschränkten Ju- vom Begriffsverständnis von ›Aufklärung‹ aus, als
gendbewegung des ›Sturm und Drang‹ als dritte deren Sprossformen Empfindsamkeit und Sturm
literarische Großepoche innerhalb der Frühen und Drang zu sehen sind.
Neuzeit – neben Humanismus und Barock – er- N Aufklärung: Gegen Ende des 17. Jh.s verstärk-
scheint in mancher Hinsicht problematisch. Nicht ten sich Tendenzen, die bereits früher vereinzelt
nur liegen die Bezeichnungen auf unterschiedli- artikuliert worden waren, so formulierte René Des-
chen Ebenen, da Empfindsamkeit und Sturm und cartes (1596–1650) seine berühmte Bestimmung
Drang als Epiphänomene der Aufklärung zu verste- des Menschen als reflektierendes Wesen (»Cogito,
hen sind; schwerer noch wiegt der Umstand, dass ergo sum« / Ich denke, also bin ich) bereits 1637.
mit der Wendung zur Autonomie und Originalität Beeinflusst durch naturwissenschaftliche und phi-
des literarischen Textes, wie sie die Stürmer und losophische Erkenntnisse vor allem aus Frank-
Dränger postulieren, der wohl bedeutendste Para- reich wandte man sich ab etwa 1680 verstärkt
digmenwechsel der deutschen Literaturgeschich- gegen die Akzeptanz unhinterfragter ›Vor-Urteile‹
te innerhalb der Großepoche verortet wird. Wa- in den Wissenschaften, stellte die Verbindlichkeit
rum sollte man also die Jugendwerke Goethes der in der Bibel geoffenbarten Wahrheiten in
oder gar Schillers (geb. 1759) einer historischen Frage und relativierte – dies allerdings in Deutsch-
Periode zuschlagen, die ihren Anfang in der Zeit land sehr zögerlich – die überkommenen Grund-
des Humanismus im späten 15. Jh. nimmt? Der sätze in Politik und Gesellschaft. Die Literatur
Grund liegt darin, dass die ›Stürmer und Drän- griff aufklärerische Inhalte auf, indem sie etwa
ger‹ wie auch die ›Empfindsamen‹ sozial- und Beobachtungen in der belebten Natur in lyrische
bildungshistorisch im Kontext des sogenannten Reflexionen umsetzte oder die Auseinanderset-
›alteuropäischen‹ Kultursystems stehen, das zung mit tradierten Denkpositionen auf der Thea-
terbühne führen ließ, sie forderte aber auch in
Personen und Ereignisse formaler Hinsicht eine Entsprechung von vernünf-
tiger Argumentation und klarer, verständlicher
1687 Isaac Newton: Philosophiae naturalis principia mathematica Ausdrucksweise (›Schwulstkritik‹).
(Die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie) N Empfindsamkeit: In dem Maße, in dem auf eu-
1688/89 Christian Thomasius: Monats-Gespräche ropäischer Ebene der strenge französische Ratio-
1689 Bill of Rights in England (Unterordnung des Königs unter das nalismus durch die Aufnahme des englischen Sen-
Parlament) sualismus relativiert wurde, verbreiteten sich seit
1690–98 John Locke: Two Treatises of Government etwa 1740 in Deutschland ›empfindsame‹ Texte –
1700 Gründung der Preußischen Akademie der Wissenschaften zunächst in Übersetzung, später als Original-
(mit Leibniz als Präsident) werke –, die das freilich durch ›Tugend‹ regulierte
1740–86 Regierungszeit Friedrichs II. von Preußen Gefühl als gleichberechtigtes ›Seelenvermögen‹
1748 Montesquieu: De l’esprit des lois (Vom Geist der Gesetze) neben die kalkulierende Vernunft stellten. Der
1751 Erscheinungsbeginn der französischen Encyclopédie Brief als genuin empfindsames Medium wurde li-
1762 Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social (Vom Gesellschafts- terarisch aufgewertet, mit dem Briefroman entwi-
vertrag) ckelte sich die repräsentative Gattung der Zeit.
1756–63 Siebenjähriger Krieg N Sturm und Drang: Als eine Art Radikalisie-
1775 Goethes Berufung nach Weimar rung der Empfindsamkeit kann die auf wenige
1776 Erklärung der amerikanischen Unabhängigkeit Zentren und die Jahre um 1775 beschränkte Ju-
1781 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft gendbewegung des Sturm und Drang (so benannt
1786–88 Goethes Italienreise nach dem Titel eines Dramas von Friedrich Maxi-
1789 Beginn der Französischen Revolution milian Klinger, 1776) begriffen werden. Unterdes-
sen hatte sich die Aufklärung als breitenwirk-

276
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Aufklärung, Empfind-
samkeit, Sturm und Drang

same (›Volksaufklärung‹) kulturelle Grundhaltung (Tages- oder Wochenzeitung) genutzt wurden. Die
etabliert und überdauerte selbst die elitären Be- Zahl der Leser – und vor allem Leserinnen – stieg
wegungen der Weimarer Klassik und der Roman- im 18. Jh. kontinuierlich an, neben den periodi-
tik, um in der populären Literatur des 19. Jh.s schen Blättern trugen Einrichtungen wie Lesege-
aufzugehen. sellschaften und Leihbibliotheken zur ›Leserevolu-
tion‹ bei.
Gesellschaftlicher Wandel: Um die Mitte des
3.3.3.1 | Historisch-gesellschaftliche Grund-
Jahrhunderts führte ein Konglomerat von ökono-
situation und literarisches Leben
mischen, sozialen und kulturellen Verschiebungen
Rationalismus: Das berühmte Diktum Immanuel dazu, dass das Bürgertum als Ganzes – also nicht
Kants aus dem Jahr 1784, wonach »Aufklärung nur die im öffentlichen Dienst wirkenden Gelehr-
[…] der Ausgang des Menschen aus seiner selbst- ten – zur Trägerschicht des Literaturbetriebs wur-
verschuldeten Unmündigkeit« sei, betont sowohl de. Als kulturell aktive und wirtschaftlich prospe-
den universellen Anspruch der sich als ›Aufklärer‹ rierende Gruppe bildete die bürgerliche Mittel- und
verstehenden Intellektuellen wie auch die Über- Oberschicht ein eigenständiges Wertekonzept aus,
zeugung, dass die Befreiung der Vernunft aus das auf Leistungsethos und moralische Integri-
den Fesseln der Tradition eigenverantwortlich ge- tät gründete. Das in der Forschung vielbeschwore-
schehen könne und müsse. Voraussetzung für die- ne ›selbstbewusste‹ Bürgertum der Jahrhundert-
se Position war zum einen ein wissenschaftlicher mitte, zu dem neben den Staatsbediensteten auch
Kenntnisstand, der im Bereich der Naturwissen- Kaufleute, Unternehmer und wohlhabende ›Ren-
schaften (Präzisierung des Weltbildes u. a. durch tiers‹ gehörten, griff allerdings nicht, wie oftmals
optische Geräte), der Philosophie (Rationalismus, suggeriert, offensiv nach Teilhabe an der politi-
›demonstrativische‹ Methode der Schlussfolge- schen Macht, auch gab es noch kaum das Leitbild
rung) und der Theologie (›natürliche Religion‹, Bi- des ›freischaffenden‹ Künstlers. Vielmehr sahen
belkritik) die eigenständige Urteilsbildung des sich die bürgerlichen Autoren und ihr Publikum
einzelnen ermöglichte und nahelegte. Für das als Privatleute – im Gegensatz zum Adel in seiner
Wissenschaftsverständnis der frühen Aufklärung repräsentativen Rolle –, die in grundsätzlich loya-
steht paradigmatisch der erfolgreiche Universitäts- lem Verhältnis zum System des aufgeklärten Ab-
lehrer Christian Wolff (1679–1754), der grundle- solutismus standen und lediglich Exzesse wie
gende Disziplinen wie Logik, Ethik oder Politik in Machtmissbrauch durch depravierte Tyrannen, hö-
deutschsprachigen Lehrbüchern traktierte, die phi- fisches Intrigenwesen oder die Ausbeutung der un-
losophischen Systeme eines Descartes oder Gott- teren Bevölkerungsschichten in ihren Schriften
fried Wilhelm Leibniz (1646–1716) der gebildeten (falls geboten, anonym) kritisierten.
Öffentlichkeit vermittelte und indirekt – über die Gefühlswerte wie Freundschaft, eheliche Treue
›philosophische‹ Poetik Gottscheds – auch das lite- und Familiensinn wurden als bürgerliche Tugen-
rarische Leben beeinflusste. den in der Literatur thematisiert, als Gegenspieler
Aufklärung und Medien: Schon zuvor hatte in Dramen und Romanen begegnet häufig der kor-
Christian Thomasius (1655–1728) die deutsche rupte oder ehrlose Adlige, den meist – im Sinne
Sprache in den akademischen Unterricht einge der poetischen Gerechtigkeit – die verdiente Strafe
führt, einen wissenschaftlichen Pragmatismus ge- ereilt. Die Kleinfamilie ist Integrationszentrum Neue Medien der
fordert sowie die Literaturkritik in den neu auf- der Bürger, Refugium gegenüber der bedrohlichen Aufklärungsepoche
kommenden Zeitschriften (Monats-Gespräche, Außenwelt, sofern die innerfamiliären Beziehun-
1688/89) etabliert. Aufklärung sollte sich indes- gen stabil sind. Die Figuren des weichherzigen Fa-
sen, dem Prinzip des ›pädagogischen Jahrhun- milienvaters und der tugendhaft-empfindsamen
derts‹ gemäß, über alle Bevölkerungsschichten Tochter bilden oft die Kernzone literarischer Kon-
verbreiten, und dazu bedurfte es einer Ausweitung stellationen, je nach Entwicklung der konflikthaf-
der Medienvielfalt. Waren es zunächst vor allem ten Situation fließen reichlich Tränen der Rührung,
die von Gottsched und anderen nach englischem der Reue oder der Verzweiflung.
Vorbild herausgegebenen Moralischen Wochen- Die Ausdifferenzierung des Sturm und Drang
schriften für das gehobene Bürgertum, kam es im aus der Gesamtströmung der Aufklärung allge-
weiteren Verlauf des Jahrhunderts zu einer verita- mein und aus dem empfindsamen Modell im Spe-
blen ›Volksaufklärung‹, wofür Publikationsfor- ziellen ist in der Forschung vielfach problemati-
men wie der Kalender oder das ›Intelligenzblatt‹ siert worden. Sozialgeschichtlich handelt es sich

277
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

bei den Vertretern der Bewegung um die studieren- keit zuteil (Friedrich von Blanckenburg: Versuch
den Söhne aus dem mittleren oder arrivierten Bür- über den Roman, 1774). Die besondere Wertschät-
gertum, denen man mit einer gewissen Plausibili- zung des Theaters erforderte jedoch besondere
tät ein konflikthaftes Verhältnis zu den tradierten Aufmerksamkeit und die produktive Auseinander-
Autoritäten in Staat, Gesellschaft und Familie zu- setzung mit den strukturellen und wirkungspoeti-
schreiben kann. Tatsächlich zeichnen sich beson- schen Konzepten, die von der Poetik des Aristote-
ders in der Dramenliteratur Auseinandersetzun- les ausgingen, lag auf der Hand.
gen mit einer patriarchalischen Ordnung ab, die Die aristotelische Dramentheorie mit ihrer For-
kraftlos und hemmend ist, aber dennoch von den derung nach ›Wahrscheinlichkeit‹, also nach inne-
Rebellen nicht produktiv überwunden werden rer Kohärenz und Plausibilität der Dramenhand-
kann. Natürlich geht es nicht an, den späteren lung, erwies sich in formaler Hinsicht für das
Weimarer Minister Goethe oder den am Leben rationalistische Denken der Aufklärung als attrak-
scheiternden Lenz in Engführung von Leben und tiv; ebenso nahm man, über die französischen
Werk als verunglückte Aussteiger zu klassifizie- Klassizisten vermittelt, die Lehre von den drei ›Ein-
ren; eher wird man richtig liegen, wenn man das heiten‹ auf: Der Schauplatz sollte während des
jugendbewegte Pathos der Manifeste, die provozie- Bühnengeschehens gleichbleiben, zwischen den
renden Handlungskonstrukte in Drama und Ro- Akten hatte es keine größeren Zeitsprünge zu ge-
man oder die formale Sprengkraft der Lyrik als ben, und keine selbständigen Nebenhandlungen
Ausdruck eines Ausdruck eines generellen Aufbruchs jener Gene- durften die Konzentration auf das Hauptgeschehen
generellen Aufbruchs ration junger Intellektueller liest, die – erstmals im stören. Im Bereich der Tragödie kam die Erregung
Jahrhundert der Aufklärung – die sozialen und von ›Furcht und Mitleid‹ als Wirkungspostulat hin-
kulturellen Errungenschaften der Zeit als unzurei- zu, die Komödie hingegen sollte ›durch Verlachen
chend und grundsätzlich erneuerungsbedürftig bessern‹. Johann Christoph Gottsched (1700–
empfand. 1766) versuchte, durch theoretische Schriften und
die ›regelkonforme‹ Produktion eigener Stücke die
normativen Ideale der Aufklärungspoetik rigoros
3.3.3.2 | Poetologie
durchzusetzen. Dadurch rief er den Widerspruch
Die Poetik des 18. Jahrhunderts stellt sich aus dem zahlreicher Literaten hervor, die zunächst in Ein-
Rückblick in erster Linie als Dramenpoetik dar. zelfragen, später immer deutlicher gegen das Re-
Gewiss zielten die frühaufklärerischen Regelpoeti- geldiktat vorgingen und programmatisch den da-
ken – die letzten ihrer Art – auf das gesamte mals noch wenig bekannten englischen Dichter
Spektrum der Dichtung, so setzten sich Johann William Shakespeare anstelle der französischen
Christoph Gottsched (Versuch einer Critischen Dramatiker als Vorbildfigur aufriefen.
Dichtkunst vor die Deutschen, 1730) und Johann Im Zeichen der Empfindsamkeit propagierte
Jakob Breitinger (Critische Dichtkunst, 1740) mit Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) in seiner
Themen wie dem Vorrang der ›Fabel‹ (Handlungs- Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769) ein neu-
zusammenhang) vor den ›Charakteren‹ oder dem es Verständnis des aristotelischen Mitleidsbegriffs,
Stellenwert des ›Wunderbaren‹ (Dichtung als Pro- wonach der Theaterbesucher durch den Anblick
dukt der poetischen Phantasie) auseinander. Auch leidender Helden zur Sensibilität für das Schicksal
wurde im Verlauf des Jahrhunderts der neuen Mo- der Mitmenschen erzogen würde. Grundlegend
degattung des Romans theoretische Aufmerksam- hierfür war die Identifikation des Zuschauers mit
den Figuren, die er als »mit uns von gleichem
Poetologische Wendepunkte Schrot und Korne« gestaltet sehen sollte. Dies war
im sogenannten ›bürgerlichen Trauerspiel‹ der Fall,
1730 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen das Lessing in Deutschland einführte.
1740 Johann Jakob Bodmer: Kritische Abhandlung von dem Wunder- Der Sturm und Drang forderte darüber hinaus
baren in der Poesie eine Auflösung der formalen Strukturen des Dra-
1741 Johann Elias Schlegel: Vergleichung Shakespears und Andreas mas, was dem Bestreben der literarischen Jugend-
Gryphs bewegung nach totaler Entgrenzung in sprachlicher,
1767–69 Lessing: Hamburgische Dramaturgie thematischer und normativer Hinsicht entgegen-
1773 Herder/Goethe u. a.: Von deutscher Art und Kunst kam. Die offene Dramaturgie des englischen Re-
1774 J. M.R. Lenz: Anmerkungen übers Theater naissanceautors William Shakespeare (1564–1616)
erwies sich seit Mitte des Jahrhunderts (Johann Eli-

278
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Aufklärung, Empfind-
samkeit, Sturm und Drang

as Schlegel, Lessing) als zunehmend attraktiv für Lyrik und andere Versdichtungen
die Darstellung gebrochener Helden oder unent-
wirrbarer Familienschicksale. Goethes programma- 1721–48 Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott
tische Rede Zum Schäkespears-Tag (1771, Erstdruck 1746–48 Christian Fürchtegott Gellert: Fabeln und Erzählungen
1854) zeigt allerdings deutlich, dass der Name des 1748–73 Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias
englischen Dramatikers mehr Chiffre als konkretes 1773–74 Goethes Hymnen (Prometheus, Ganymed, An Schwager
Vorbild war. Als zentrale dramentheoretische Schrift Kronos)
der Geniebewegung gelten die Anmerkungen übers 1782/83 Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Gedichte
Theater (1774) von Jakob Michael Reinhold Lenz
(1751–1792).
Prosa überführt wurde. Die Fabel, eine Erzählung
mit nicht-menschlichem Personal, die gesellschaft-
3.3.3.3 | Lyrik und andere Versdichtungen
lich oder moralisch relevante Handlungs- und Ent-
Die Versdichtung zwischen Frühaufklärung und scheidungskonstellationen in didaktisch-exem-
Sturm und Drang umgreift – jenseits der in Versen plarischer Absicht vorführt, entwickelte im 18. Jh.
verfassten Dramen – in funktionaler, thematischer unterschiedliche Strukturformen. Christian Fürch-
und formaler Hinsicht ein Spektrum, das von reli- tegott Gellert (1715–1769), der vielleicht promi-
giöser Epik und philosophischer Lehrdichtung bis nenteste Vertreter der Gattung (Fabeln und Erzäh-
zu ›engagierter‹ Lyrik im Umfeld der Französi- lungen, 1746–1748), präferierte ein zweigliedriges
schen Revolution, von barocken Versstrukturen Modell, in dem das zunächst berichtete Fabelge-
wie dem Alexandrinergedicht bis zu Experimenten schehen von einer pädagogischen Instanz nach-
mit freien Rhythmen reicht. Die Hinwendung zum
Konzept der ›Erlebnislyrik‹, vielleicht die zentrale
literarische Neuerung der Vormoderne, fällt eben-
so in diese Zeit wie die Ausdifferenzierung der
literarischen Landschaft in Zirkel und Dichter-
bünde, die sich teilweise in eigenen Publikations-
organen artikulierten (zur Gattungsvielfalt vgl.
Kemper 1991 ff.).
Lehrdichtung: Die Lyrik der Aufklärungszeit
wird dominiert durch das über ein Vierteljahr-
hundert hin fortgesetzte Großprojekt Irdisches
Vergnügen in Gott (9 Bde., 1721–1748) des Ham-
burger Senators Barthold Heinrich Brockes
(1680–1747). Gestützt auf die Erkenntnisse der
modernen Naturwissenschaft und ein rationalisti-
sches Argumentationsverfahren versuchte Bro-
ckes, das Wirken Gottes in der Natur anschaulich
und widerspruchsfrei zu beweisen (Physikotheo-
logie). Viele, und zwar die bekanntesten Gedich-
te Brockes’ mahnen zuförderst die Erkenntnis der
Größe Gottes in seiner Schöpfung an (»Kirschblü-
te bei der Nacht«), zuweilen wird aber auch rich-
tiges Handeln im Sinne einer ›natürlichen Moral‹
explizit eingefordert (»Das liebreiche Gesetz«).
Das ›pädagogische Jahrhundert‹ brachte auch Physikalische Beschrei-
eine Reihe poetischer Gattungen hervor, die einen bung des Regenbogens
dezidiert didaktischen Anspruch verfolgten. in Abstimmung mit
Fabeln: Neben dem Lehrgedicht (Albrecht von einer Bibelreferenz:
Haller: Die Alpen, 1729), der Verssatire und dem Johann Jakob Scheuchzer:
Epigramm ist vor allem die Fabel zu nennen, die Physica Sacra, oder
zunächst nach antiker Tradition in Versform ver- Geheiligte Natur-Wissen-
fasst und später durch Lessing (Fabeln, 1759) in schafft (1731)

279
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

träglich kommentiert und auf die gesellschaftliche bis 1775 verbindet die Forschung den einschnei-
Realität bezogen wird. dendsten Paradigmenwechsel der deutschen Li-
Anakreontische Dichtung: Zur Aufklärungslyrik teraturgeschichte: In den Sesenheimer Liedern, die
im weiteren Sinne gehört außerdem die nach dem Goethes Beziehung zu der elsässischen Pfarrers-
antiken Dichter Anakreon bzw. einem metrischen tochter Friederike Brion verarbeiten, habe die
Schema (Anakreonteen) so genannte ›anakreonti- deutsche Lyrik die Fähigkeit entwickelt, individu-
sche‹ Dichtung, die philosophische Leitideen der elle Erlebnisse unmittelbar und in unverwechsel-
Zeit scherzhaft-reflektierend umspielt und eine Art barer Form literarisch zu gestalten. Allerdings
aufgeklärter Geselligkeit im Zeichen epikurei- sollten die Texte nicht als mimetisch, gewisserma-
schen, also maßvollen Lebensgenusses propagiert ßen als Berichte oder Seelenerkundungen in lyri-
(Friedrich von Hagedorn: Versuch einiger Gedichte scher Form, missverstanden werden. Goethe
oder erlesene Proben poetischer Nebenstunden, selbst sprach davon, dass seine Gedichte grund-
1729; Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Versuch in sätzlich »im unmittelbaren Anschauen irgendei-
Scherzhaften Liedern, 1744/45). Der Stilbegriff des nes Gegenstandes verfasst worden« seien, dass
›Rokoko‹ wird oft synonym zu ›Anakreontik‹ ge- aber dabei immer »ein Allgemeines, Inneres, Hö-
braucht; generell überlagern sich in der ersten heres dem Dichter vorschwebte«.
Hälfte des Jahrhunderts einige Begriffskonzepte, Erlebnisdichtung: Anders als etwa im barocken
die durch ihre Bedeutungsverschiebung überdies Gedicht, wo häufig ein Geschehen oder eine Figu-
beim modernen Leser zu Missverständnissen füh- renkonstellation zur allegorischen Verdeutlichung
ren können (›galante Dichtung‹, ›Witz‹). eines ›abzuhandelnden‹ abstrakten Sachverhaltes
Klopstock Das Phänomen Klopstock: Anders als die didak- fingiert wird, ist bei Goethe die im Natur- oder Lie-
und Goethe tischen Lyrikgattungen der Aufklärung, die durch besgedicht gestaltete ›Gelegenheit‹ als reale Anre-
die locker gefügten Jamben eine Annäherung an gung zu denken, bei deren Transformation in ei-
die gehobene Umgangssprache suchen, reklamiert nen poetischen Text ein Zugewinn an Bedeutung
Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) schon in beabsichtigt ist (»Willkommen und Abschied«,
der Adaptation bzw. Transformation der kompli- »Maifest«). In »Wanderers Sturmlied« und den gro-
zierten antiken Odenstrophen für den Dichter das ßen Hymnen gestaltet Goethe Dichtung in freien
Amt eines erhabenen ›Sehers‹, der die erfahrene Rhythmen, also ohne Bindung an Reim, Versmaß
Realität auf spezifisch poetische Weise wahr- oder Strophenform, was dem Bestreben der Stür-
nimmt. Neben einer gleichsam religiösen Weihe – mer und Dränger nach ›Ursprünglichkeit‹ lyri-
in seinem Bibelepos Der Messias (20 Gesänge, scher Aussage entsprach. Wie die tradierten For-
1748–1773) verbinden sich religiöse Inbrunst und men, so sprengen die Texte auch überkommene
empfindsame Menschheitsliebe – kommt der Spre- Ordnungen: In »Prometheus« tritt das schöpferi-
cherinstanz bei Klopstock die Aufgabe zu, zeittypi- sche ›Genie‹ in aggressive Konkurrenz zur Instanz
sche Werte wie Geselligkeit, Freundschaft, Liebe des Vatergottes, in »Ganymed« wird dagegen ein
und Patriotismus in repräsentative, oft bildhafte pantheistisches Einswerden des Individuums mit
Vorstellungen umzusetzen. Die schwierig zu be- dem Weltganzen ekstatisch gefeiert.
stimmende Differenz gegenüber der goethezeit- Engagierte Poesie: Neben Goethe sind vor al-
lichen ›Erlebnislyrik‹ ist wohl darin auszuma- lem der Studentenbund des Göttinger Hain – Jo-
chen, dass die Texte nicht individuelle Sicht- und hann Heinrich Voß (1751–1826), Ludwig Chris-
Erlebensweisen zum Ausdruck bringen, sondern toph Heinrich Hölty (1748–1776) u. a. – und
in einem zwischen Reflexion und Gefühl oszillie- Einzelpersönlichkeiten wie Christian Friedrich
renden Prozess (die Forschung spricht vom Daniel Schubart (1739–1791) oder Gottfried Au-
Klopstock’schen ›Gefühlsdenken‹) kollektive Er- gust Bürger (1747–1794) dem Sturm und Drang
fahrungen als geistig-seelischen Besitz einer Wer- zuzurechnen. Innovativ bei diesen Autoren sind
tegemeinschaft festhalten. In der Ode »Der Zür- die Leidenschaftlichkeit der Sprecherinstanz
chersee« (1750) etwa wird die Bedeutung der und die autoritätskritische Tendenz der Texte, die
Freundschaft vor der Szenerie einer geselligen indessen formal entweder konventionellen For-
Kahnfahrt und im Vergleich mit diversen anderen men wie dem Lied verpflichtet bleiben oder sich
Glückserfahrungen systematisch entfaltet. an der Odendichtung Klopstocks, des bewunder-
Lyrik des jungen Goethe: Mit den Gedichten ten Vorbildes vor allem der Hainbündler, orientie-
des jungen Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) ren. Das sozialkritische Engagement der Verfas-
aus den Straßburger und Frankfurter Jahren 1770 ser richtete sich vielfach gegen Auswüchse

280
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Aufklärung, Empfind-
samkeit, Sturm und Drang

absolutistischer Willkür (Bürger: Der Bauer an Dramen


seinen durchlauchtigen Tyrannen, 1773; Schubart:
Die Fürstengruft, 1781), teilweise führte eine noch 1732 Gottsched: Sterbender Cato
wenig durchdachte Konzeption nationaler Identi- 1745 Gellert: Die zärtlichen Schwestern
tät in den 1770er Jahren aber auch zu antifranzö- 1755 Lessing: Miß Sara Sampson
sischen Reflexen und Ansätzen von kruder 1767 Lessing: Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück
Deutschtümelei. 1772 Lessing: Emilia Galotti
1773 Goethe: Götz von Berlichingen
1774 J. M.R. Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung
3.3.3.4 | Drama
1776 Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermöderin
Der Schauspielbetrieb jenseits des etablierten 1779 Lessing: Nathan der Weise
Schultheaters war zu Beginn des 18. Jh.s durch 1781 Schiller: Die Räuber
Wandertruppen geprägt, die in Repertoire und
Spielverständnis den aufklärerischen Forderungen
nach klarer Handlungskonzeption und morali- chelei des Konventikelwesens und
scher Verbindlichkeit nicht gerecht wurden. Die- die Leichtgläubigkeit des bornierten
sen Missständen versuchte der Leipziger Poetik- Bürgertums verspottet. Lessing, des-
professor Gottsched in Zusammenarbeit mit der sen frühe Komödien sich an Gott-
Theaterprinzipalin Friederike Caroline Neuber scheds Dramenkonzept anlehnen
(1697–1760) und seiner literarisch produktiven (Der junge Gelehrte, 1748), verlagert
Ehefrau Luise Adelgunde Victorie Gottsched den Aspekt der Belehrungsbedürftig-
(1713–1762) entgegenzusteuern. Mit den Auswir- keit zunehmend offenkundig von
kungen der Gottsched’schen Theaterreform, die den Dramenfiguren auf das Publi-
eine strikte Orientierung am Vorbild des französi- kum. In Die Juden (1749) fordert er
schen Klassizismus forderte, setzten sich die Zeit- eine religiöse Toleranz ein, zu der
genossen bis in die Zeit des Sturm und Drang hin- das Dramenpersonal selbst nicht vor-
ein auseinander (s. auch 3.3.3.2). dringt. Das hier angeschlagene The-
Klassizistische Tragödie: Die Trauerspielpro- ma wird in Lessings letztem Thea-
duktion der Aufklärungszeit setzt ein mit Gott- terstück Nathan der Weise (1779),
scheds Sterbendem Cato (1732), einer Mustertra- das einen Gipfelpunkt aufkläreri-
gödie nach dem Vorbild des französischen scher Literatur markiert, auf mehre-
Klassizismus. Das Stück, das eine Episode aus ren Ebenen verhandelt. Nathans rhe-
dem römischen Bürgerkrieg zum Gegenstand hat, torische Frage »Sind Christ und Jude
folgt streng dem Prinzip der Einheit von Ort, Zeit eher Christ und Jude, als Mensch?« wird diskursiv Lessing greift in seinem
und Handlung und ist ganz auf die kompromiss- (in den Dialogen der Figuren), allegorisch (in der Lustspiel Der junge
los-stoische Haltung des Republikaners Cato fi- berühmten ›Ringparabel‹) und durch die Hand- Gelehrte auf die humanis-
xiert, der sich mit dem Machtpolitiker Caesar lungsführung (die Angehörigen der drei Weltreligi- tische Narrensatire zurück.
auch dann nicht arrangiert, als dieser Züge eines onen erweisen sich am Schluss als Verwandte) Büchernarr aus Sebastian
durchaus gemäßigten Herrschers zeigt. Cato be- beantwortet. Brants Satire Das Narren
geht am Ende Selbstmord und entspricht so dem Empfindsame Elemente im Drama zeigen sich Schyff (1494) (s. 3.3.1)
Muster des aristotelischen Helden, der aufgrund um die Jahrhundertmitte im ›rührenden Lust-
eines Fehlers – eben der überzogenen Prinzipien- spiel‹ (engl. sentimental comedy, franz. comédie
treue – ins Verderben gerät (zur Tragödienkonzep- larmoyante) und im ›bürgerlichen Trauerspiel‹. Mit
tion der Aufklärung vgl. Alt 1994). seiner Komödie Die zärtlichen Schwestern (1747)
Komödie und untragisches Schauspiel: Die setzt sich Gellert von der Verlachkomödie der
Lustspiele der frühen Aufklärung folgen Gott- Gottschedianer ab und konzipiert ein Dramenmo-
scheds Forderung nach einer »lasterhaften Hand- dell, das den breit vorgeführten bürgerlichen Tu-
lung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zu- genden – Freundschaft, Mitgefühl, Selbstlosigkeit
schauer belustigen, aber auch zugleich erbauen usw. – im Sinne der poetischen Gerechtigkeit zum
kann«. Das Prinzip des ›Verlachens und Bes- Erfolg verhilft. Die Komik tritt in diesen Stücken in
serns‹ setzt Gottscheds Gattin Luise Adelgunde den Hintergrund, lasterhafte Gegenspieler der Hel-
Victorie in mehreren Lustspielen um, so werden in den werden mit Nachsicht behandelt und nach
Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736) die Heu- Möglichkeit in die bürgerliche (Familien-)ordnung

281
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

integriert. Der Unterschied zum Trauerspiel be- die Entwicklung der verfeindeten Brüder Karl und
steht vor allem in der geringeren Schwere der vor- Franz Moor auf Versäumnisse der väterlichen Au-
gestellten Konflikte und im gattungstypischen torität zurückgeht: Kann der empfindsame Karl
glücklichen Ende. In Minna von Barnhelm oder aufgrund übergroßer Verzärtelung nicht situations-
Das Soldatenglück (1767) führt Lessing den auf- angemessen mit der – durch Intrige herbeigeführ-
klärerischen und den empfindsamen Komödienty- ten – Verstoßung durch den Vater umgehen, ist die
pus zu einer bemerkenswerten Synthese. verbrecherische Energie des kalten Rationalisten
›Bürgerliches Trauerspiel‹: Lessing war es auch, Franz auf hartherzige Benachteiligung durch den-
der das ›bürgerliche Trauerspiel‹ (nach englischem selben Vater bedingt.
Vorbild, vgl. George Lillo: The London Merchant/ Brüchigkeit normativer Strukturen: In Goethes
Der Kaufmann von London, 1731) auf der deut- Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand
schen Bühne heimisch machte. Grundlegend für (1773) sieht sich der Held als ›letzter Ritter‹ histo-
diesen Dramentypus ist der Bruch mit der ›Stän- risch am Ende einer Epoche verortet; auf der Figu-
deklausel‹, die seit der Antike nur hochgestellte renebene spiegeln sich in Götzens Enttäuschung
Personen wie Fürsten oder mythische Helden als durch den seinen Schutz versagenden ›Vater‹ – den
tragikwürdig einstufte. Mit der wachsenden Be- Kaiser – und durch den unritterlich-träumerischen
deutung des Bürgertums im gesellschaftlichen und Sohn wiederum die Probleme der auseinander-
wirtschaftlichen – zunächst noch nicht im politi- brechenden Kleinfamilie. Schillers bürgerliches
schen – Leben war es nicht mehr plausibel, ihnen Trauerspiel Kabale und Liebe (1784) verbindet in
die tragische ›Fallhöhe‹ abzusprechen. In Miß Sara Figurenkonstellation und Handlungsführung an-
Sampson (1755) stellt Lessing bürgerliche Werte schaulich die familienkritischen Ansätze der Emp-
auf den Prüfstand, während er in Emilia Galotti findsamkeit und des Sturm und Drang. Geläufige
(1772) den traditionsbildenden Typus schafft, der Motive wie die Feindschaft zwischen Brüdern
den Konflikt zwischen Bürgertum und Adel auf die (z. B. Friedrich Maximilian Klinger: Die Zwillinge,
Bühne bringt. Emilia, die durch eine höfische In- 1776) oder die Kindestötung durch ›entehrte‹ Müt-
trige Opfer einer Verführung zu werden droht, bit- ter (z. B. Heinrich Leopold Wagner: Die Kinder-
tet in scheinbar auswegloser Situation ihren eben- mörderin, 1776) variieren die zentrale Problematik
so auf bürgerliche Tugend bedachten Vater, sie zu der sich auflösenden, gleichwohl durch kein posi-
töten. Die Kritik des Stückes zielt in erster Linie tives Gegenmodell ersetzten Familien- und Stan-
auf die Willkür der absoluten Fürsten und die Ver- desbindungen.
dorbenheit der höfischen Welt überhaupt, gleich- Das Lustspiel der Zeit präsentiert sich entweder
zeitig wird bürgerlicher Tugendrigorismus als als Literatursatire oder als Tragikomödie. Letztere
Produkt sozialer Desorientierung gesehen, die es wird prominent vertreten durch Jakob Michael
noch zu überwinden gilt. Reinhold Lenz (1751–1792), der in Der Hofmeister
Das Drama des Sturm und Drang problemati- (1774) und Die Soldaten (1776) groteske Tableaus
siert – wie das der Empfindsamkeit – die sozialen misslingender Familienbindungen vorführt und
und emotionalen Beziehungen innerhalb der Fami- seine ›vernünftigen‹ Nebenfiguren radikalisierte
lie, greift dabei allerdings zuweilen über den Kern Positionen der Aufklärungspädagogik explizit pro-
der bürgerlichen Kleinfamilie hinaus, indem sie die pagieren lässt. Nur in der Komödie deuten sich
patriarchalischen Strukturen des politischen Sys- somit Entwürfe einer alternativen Gesellschafts-
tems miteinbezieht. Die ›rebellische‹ Geste der struktur zumindest an.
scheinbar kraftstrotzenden Helden lässt sich nur
teilweise mit jugendspezifischer Auflehnung gegen
3.3.3.5 | Erzählende Literatur
tradierte Lebensentwürfe und sinnentleerte Bil-
dungsrhetorik erklären, vielmehr zeigt sich im Spektrum narrativer Gattungen: Die zentrale nar-
Fühlen und Handeln der Figuren ein Zwiespalt rative Gattung des 18. Jh.s ist der Roman, alle an-
zwischen dem Drang nach persönlicher Selbstbe- deren Erzählformen sind ihm gegenüber zweitran-
stimmung und der Sehnsucht nach Geborgenheit gig: Die ehrwürdige Gattung des Versepos brachte
in einer fraglos funktionierenden, gleichsam gött- nur noch wenige breit rezipierte Vertreter hervor –
lich sanktionierten Ordnung. Exemplarisch lässt Klopstocks monumentale Bibeldichtung Der Mes-
Schiller: Kabale sich der schmerzlich empfundene Konflikt mit der sias hatte sich am Ende seiner langen Entstehungs-
und Liebe (Titelblatt der Vaterinstanz an Friedrich Schillers (1759–1805) zeit (1748–1773) bereits selbst überlebt –, die
Erstausgabe, 1784) Erstlingsdrama Die Räuber (1781) studieren, wo fiktionale Kurzprosa entwickelte sich erst allmäh-

282
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Aufklärung, Empfind-
samkeit, Sturm und Drang

lich aus Beispielerzählungen in den Moralischen Erzählende Literatur


Wochenschriften zu spannenden Texten mit poin-
tiert novellistischer Struktur, eher schon entspricht 1747/48 Gellert: Leben der schwedischen Gräfin von G***
die umfangreiche Produktion von Satiren (Gottlieb 1766/67 Wieland: Die Geschichte des Agathon
Wilhelm Rabener, Georg Christoph Lichtenberg) 1771 Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim
und Idyllen (Salomon Gessner) den Paradigmen 1774 Goethe: Die Leiden des jungen Werthers
aufklärerischer bzw. empfindsamer Dichtung. Zu- 1781 Wieland: Geschichte der Abderiten
nehmend literarisiert wurden ursprüngliche
Zweckformen wie der Reisebericht, die aus dem
Bekenntniszwang des Pietismus gespeiste Auto- Gattung entwickelte, die aus einer Sequenz fingier-
biographie (Johann Heinrich Jung-Stilling: Hein- ter Briefe einen Handlungszusammenhang kon-
rich Stillings Jugend, 1777, und weitere Bände) struiert. Für die Entwicklung des Briefromans in
und natürlich der Brief, dessen Aufwertung die Deutschland waren einmal mehr englische (Samuel
erfolgreichste Romanform des Jahrhunderts, den Richardson: Pamela: or, Virtue Rewarded/Pamela,
Briefroman, hervorbrachte. Auch die übrigen er- oder: Über die belohnte Tugend, 1741) oder franzö-
zählerischen Großformen, der Reise- oder Aben- sische Vorbilder (Jean-Jacques Rousseau: La nou-
teuerroman und der satirische Roman, stehen in velle Heloïse, 1761) maßgebend. Über die Verwen-
Zusammenhang mit den schon genannten Prosa- dung des beliebten Mediums Brief hinaus gewährte
formen. Die zweite große Romanneuschöpfung das Genre vielfältige erzähltechnische Möglich-
des Jahrhunderts, der ›klassische‹ Bildungsroman, keiten wie den permanenten Wechsel des Erzähl-
hat seine Anfänge mit Wielands Geschichte des zeitpunktes, die polyperspektivische Darstellung
Agathon (1766/67) noch in der Aufklärung. beim Einsatz mehrerer Briefpartner oder die Selbst-
Utopien und verwandte Formen: Johann Gott- kommentierung des Romangeschehens durch Ein-
fried Schnabels (1692–1760) Roman Wunderliche schaltung einer fiktiven Herausgeberinstanz.
Fata einiger See-Fahrer […] (1731–1743), besser Formen des Briefromans in der deutschen Lite-
bekannt unter dem Titel Die Insel Felsenburg, ist ratur: In Gellerts Leben der schwedischen Gräfin
das deutsche Gegenstück zu Daniel Defoes weit von G*** (1747/48, Briefe hier nur als Einschübe
berühmterem Robinson Crusoe (1719). Der Text im Text) und Sophie von La Roches Geschichte des
steht in der Tradition der Reiseutopie, wie sie seit Fräuleins von Sternheim (1771) werden zeittypi-
dem 16. Jh. (Thomas Morus: Utopia, 1516) zum sche Frauenschicksale und Frauenthemen (Erzie-
Zweck der unterhaltsamen Vermittlung staats- und hung, Liebe und Verführung, Vernunft und Leiden-
gesellschaftstheoretischer Gegenentwürfe genutzt schaft, verhinderte und geglückte Beziehungen,
wurde. Die Bewohner der Insel Felsenburg sind Entsagung) zur Unterhaltung, aber auch morali-
nämlich gestrandete Europäer, die eine Art Ideal- schen Orientierung eines vorwiegend weiblichen
staat aufbauen und von Zeit zu Zeit durch An- Lesepublikums zu spannungsreichen Handlungs-
kömmlinge über die Missstände der sogenannten verläufen verdichtet. In Die Leiden des jungen
zivilisierten Welt informiert werden. Durch Her- Werthers (1774) nutzt Goethe die Möglichkeiten
ausgeberfiktion und andere Kunstgriffe erhält der des Genres zur adäquaten Abbildung einer indivi-
Roman – wie die Prosa des 18. Jh.s generell – eine dualpsychologischen Krise, die sich in der Span-
anspruchsvolle Struktur, deren Analyse zum Ver- nung zwischen dem Streben nach persönlicher
ständnis von Autorintention und textpragmati- Identität und gesellschaftlichen Zwängen manifes-
scher Funktion beiträgt. Gerade in der frühen Auf- tiert. Die scheinbare Zeitüberhobenheit der Pro-
klärung waren erzähltechnische Experimente bei blemlage und der Authentizität suggerierende Ton
der Darstellung von ›Gegenwelten‹ beliebt, so sicherten den anhaltenden Erfolg des Buches.
lässt etwa David Fassmann (1683–1744) in seinen Der satirische Roman – vielfach gegen die Ex-
Gesprächen in dem Reiche derer Todten (1718– zesse der Empfindsamkeit gewandt – ist ein typi-
1739) Verstorbene aus unterschiedlichen Epochen sches Produkt der Spätaufklärung seit den 1760er
und Kulturkreisen auf dem ›neutralen‹ Boden der Jahren. Neben Autoren wie dem Berliner Aufklä-
Unterwelt über die beste Staatsform debattieren. rungspapst Friedrich Nicolai (Das Leben und die
Briefroman: Die hohe Wertschätzung des Briefes Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothan-
im 18. Jh. als einer Form ›natürlichen‹ Schreibens ker, 1773–1776) oder dem bis in die jüngste Zeit
(Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Brie- unterschätzten Johann Karl Wezel (Wilhelmine
fe, 1742) führte dazu, dass sich eine literarische Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit,

283
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

1784) ist vor allem Christoph Martin Wieland Der Spötter: Sehr früh schon begann Lessing, der
(1733–1813) als Verfasser solcher Romane zu nen- nach kurzem Aufenthalt an der Leipziger Universität
nen, die – abweichend von satirischen Ansätzen in sich ab 1748 in Berlin als Journalist etablierte, mit
frühaufklärerischer Literatur – weniger den Opti- dem Verfassen von Theaterstücken. Zunächst orien-
mismus des ›pädagogischen Jahrhunderts‹ als eine tierte er sich am Komödienmodell Gottscheds (Der
Unzulänglichkeit grundlegende Skepsis angesichts der Unzulänglich- junge Gelehrte, 1748) den er freilich bald heftig als
menschlicher Vernunft keit menschlicher Vernunft artikulieren. Wieland, einen Pedanten bekämpfte, der »mit Kleister und
der auch satirische und philosophische Verserzäh- Scheere« seine Stücke verfasst habe und »dessen
lungen (Musarion, 1768) verfasste, entwarf mit Der vermeinte Verbesserungen […] wahre Verschlimme-
Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die rungen« des Theaters gewesen seien (17. Literatur-
Abentheuer des Don Silvio von Rosalva (1764) ein brief, 1759). Die Forschung hat nachgewiesen, dass
Gegenstück zu Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Lessings Kritik an seinem bedeutenden Vorgänger
Kritik eines Massenmediums: Im 18. Jh. war die vielfach in der Sache unberechtigt oder zumindest
›Lesewuth‹, vor allem die distanzlose Lektüre überzogen ist. Tatsächlich war Lessing der erste Li-
empfindsamer Romane und anderer phantasti- teraturkritiker modernen Zuschnitts, der, anders
scher Literatur, ebenso Gegenstand aufklärerischer als die Rezensenten der seit einem halben Jahrhun-
Kritik wie die diversen Formen des Aberglaubens. dert bestehenden gelehrten Zeitschriften, dem
Wieland führt im Don Silvio mit überlegenem Hu- ›Feuilleton‹ das Recht auf Einseitigkeit, Bösartigkeit
mor die Gefahren weltfremder Schwärmerei vor, und Ungerechtigkeit zubilligte.
wie er in der Geschichte der Abderiten (1781), ei- Der Provokateur: Kritik bedeutete für Lessing
ner in die antike Welt verlegten Schildbürgerge- immer auch Provokation und Polemik, die sich bei
schichte, die unterschiedlichen Formen menschli- ihm nicht auf den Bereich der ›schönen‹ Literatur
cher Torheit fast systematisch Revue passieren beschränkte, vielmehr ein Medium der bürgerli-
lässt. Wenn Lessing der polemische Moralist unter chen Öffentlichkeit war, die sich – noch jenseits
den Aufklärern war (s. 3.3.3.6), kann Wieland als politischer Forderungen – um die Mitte des 18. Jh.s
launiger Satiriker bezeichnet werden: weniger en- in den deutschen Territorien etablierte. Lessings
gagiert, eher von weiser Abgeklärtheit angesichts Neigung zu Zweifel und Widerspruch entwickelte
der Unvollkommenheit der Welt. sogar eine eigene publizistische Gattung, die »Ret-
tungen« – Aufsätze, in denen er Persönlichkeiten
der europäischen Kulturgeschichte wie den römi-
3.3.3.6 | Exkurs: Lessing und die Aufklärung
schen Dichter Horaz, die Luther-Gegner Simon
in Deutschland
Lemnius und Johannes Cochläus oder den italieni-
Eine Figur des Übergangs: Gotthold Ephraim Les- schen Philosophen Girolamo Cardano gegen aus
sing (1729–1781) gilt wegen seines späten Dramas seiner Sicht unberechtigte Vorwürfe verteidigt. Vor
Nathan der Weise (1779) nicht zu Unrecht als allem die streng bibelgläubige Position der ortho-
Symbolfigur der Aufklärung in Deutschland. Er doxen Lutheraner und die damit verbundene Ab-
steht daneben allerdings generell für gattungs- und lehnung anderer Religionen forderten den Aufklä-
medienspezifische Innovationen des Jahrhun- rer Lessing heraus, der von dem frühen Einakter
derts, als Begründer des bürgerlichen Trauer- Die Juden (1749) bis zum Nathan ein immer um-
spiels repräsentiert er überdies die Verbindung fassenderes Toleranzkonzept entwickelte.
aufklärerischer und empfindsamer Positionen. Die Der Vermittler bürgerlicher Tugenden: Äußerer
Bewegung des Sturm und Drang lehnte er zwar ab, Anlass für das letzte Drama war die Auseinander-
gehörte aber – nicht zuletzt wegen seiner Wert- setzung um die religionskritischen Fragmente eines
schätzung Shakespeares – zu den Vorbildern der Ungenannten (1774–1778), die Lessing aus dem
jungen Generation. Als vielseitiger Gelehrter, der Nachlass des Orientalisten Hermann Samuel Rei-
enzyklopädisches Wissen mit umfassender Kritik marus herausgegeben hatte. Auf Druck des Ham-
an Dogmen aller Art, der klassische Formbeherr- burger Hauptpastors Johann Melchior Goeze
schung mit journalistischer Leichtigkeit der Feder (›Fragmentenstreit‹) verfügte Lessings Landesherr,
verband, steht er in mancher Hinsicht auf der der Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, gegen
Schwelle von der alteuropäischen zur moder- ihn ein faktisches Publikationsverbot für theologi-
nen Kultur. Die frühesten deutschen Theaterstü- sche Schriften, während er auf seiner »alten Kan-
cke, die noch heute auf den Bühnen Resonanz fin- zel, auf dem Theater«, nach wie vor »predigen«
den, stammen von Lessing. durfte. Die Formulierung Lessings zeigt übrigens,

284
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Aufklärung, Empfind-
samkeit, Sturm und Drang

dass Literatur für ihn noch immer – wie in der ge- Poetik das ›Mitleid‹ (griech. eleos heißt eigentlich
samten Frühen Neuzeit – zweckgerichtet war: Der ›Jammer‹) als zentrale wirkungsästhetische Kate-
Nathan war ein Lehrstück für religiöse Toleranz, gorie in die Dramentheorie eingeführt hat. Seine
wie die Emilia Galotti ein Lehrstück gegen Fürsten- Überlegungen basieren auf der von Shaftesbury
willkür und bürgerlichen Tugendrigorismus, Min- (Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of S., 1671–1713) Vorstellung einer
na von Barnhelm ein Lehrstück gegen falsches entwickelten Vorstellung des moral sense, einer natürlichen Disposition
Ehrverständnis oder Der junge Gelehrte ein Lehr- natürlichen Disposition zu moralischem Handeln, zu moralischem Handeln
stück gegen weltfremden Pedantismus gewesen die dem Menschen innewohne und nur aktiviert
war. Lessings Konzept eines ›Nationaltheaters‹, werden müsse. Dieser Gedanke wurde von der
also eines spiel- und bühnentechnisch anspruchs- Empfindsamkeit, die das altruistische Gefühl ja
vollen Theaters für die ›gebildeten Stände‹, auf kultivieren wollte, aufgenommen, und auch Les-
dem die drängenden Probleme der Zeit in ›Original‹- sing ist in diesem Sinne zu den Empfindsamen zu
Stücken deutscher Gegenwartsautoren verhandelt rechnen, wenn er in Zusammenhang mit der Wir-
werden sollten und das er in Hamburg ab 1767 für kungsabsicht der Tragödie postuliert: »Der mitlei-
kurze Zeit realisierte, war in letzter Konsequenz digste Mensch ist der beste Mensch, zu allen ge-
eine Weiterentwicklung des humanistischen Schul- sellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der
theaters im Geiste der Aufklärung. Großmuth der aufgelegteste« (Brief an Friedrich
Der Theoretiker des Mitleids: Durch seine zahl- Nicolai, November 1756). Die Leiden der Heldin-
reichen kritischen Schriften zu literarisch-ästheti- nen und Helden seiner bürgerlichen Trauerspiele –
schen, philosophischen und theologischen Fragen, Sara Sampsons, Emilia Galottis und ihrer Väter –,
durch einen Teil seiner Dramenproduktion und aber auch des tragikomischen Tellheim in der
natürlich durch zeittypische didaktische Kurzfor- ernsten Komödie Minna von Barnhelm sollen das
men wie Fabeln (1759) und Epigramme (Sinnge- Mitgefühl der Zuschauer auslösen. Gleichzeitig
dichte, 1771) hat sich Lessing als ›Aufklärer‹ posi- sind die Werte, um deretwillen Tränen vergossen
tioniert. Er ist es aber auch, der durch die Um- werden, aber auch die Werte eines aufgeklärten
deutung eines Kernbegriffes der aristotelischen Zeitalters.

Die Räuber: Das Drama des verlorenen Sohnes Leben in einer falschen Zeit: Die zentrale Szene Interpretationsskizze
aus den Räubern (III,2) zeigt den Hauptmann
[Karl] Moor. Meine Unschuld! Meine Unschuld! – Seht! es ist Karl Moor in einer für ihn typischen Situation. Zu
alles hinausgegangen, sich im friedlichen Strahl des Frühlings Beginn des Dramas (I,2) hatte der etwas herun-
zu sonnen – warum ich allein die Hölle saugen aus den Freuden tergekommene Grafensohn im Kreis seiner
des Himmels? – daß alles so glücklich ist, durch den Geist des Freunde – allesamt verbummelte Studenten – ge-
Friedens alles so verschwistert! – die ganze Welt eine Familie gen das »tintenklecksende Säkulum« geeifert, das
und ein Vater dort oben – Mein Vater nicht – Ich allein der Ver- »Kastratenjahrhundert«, in dem sich wahres Hel-
stoßene, ich allein ausgemustert aus den Reihen der Reinen – dentum nur in Büchern finde, während das tat-
mir nicht der süße Name Kind – nimmer mir der Geliebten sächliche Leben von den »abgeschmackten Kon-
schmachtender Blick – nimmer nimmer des Busenfreundes Um- ventionen« korrupter Höflinge und weltferner
armung! (Wild zurückfahrend.) Umlagert von Mördern – von Gelehrter dominiert werde. Die Ideale, für die
Nattern umzischt – hinausschwindelnd ins Grab des Verderbens »Kerls« wie er wohl kämpfen könnten, gelten ihm
auf des Lasters schwankendem Rohr – mitten in den Blumen der aber schon da nicht so viel wie die ersehnte Rück-
glücklichen Welt ein heulender Abbadona! kehr ins Haus des Vaters, den er für seine jugend-
Schwarz (zu den übrigen). Unbegreiflich! Ich hab ihn nie so lichen Verfehlungen um Verzeihung gebeten hat
gesehen. (»Im Schatten meiner väterlichen Haine, in den
Moor (mit Wehmut). Daß ich wiederkehren dürfte in meiner Armen meiner Amalia lockt mich ein edler Ver-
Mutter Leib! daß ich ein Bettler geboren werden dürfte! – nein! gnügen«). Als ihm diese Verzeihung aufgrund ei-
ich wollte nicht mehr o Himmel – daß ich werden dürfte wie ner Intrige seines Bruders Franz verwehrt wird,
dieser Taglöhner einer! – O ich wollte mich abmüden, daß mir verfällt er, als verwöhnter Lieblingssohn aufgezo-
das Blut von den Schläfen rollte – mir die Wollust eines einzigen gen und unfähig, in Konfliktsituationen gefasst zu
Mittagschlafs zu erkaufen – die Seligkeit einer einzigen Träne. reagieren, einem blinden Universalhass: Er revi-
(Friedrich Schiller: Die Räuber (1781), 3. Akt, 2. Szene [Auszug]). diert seine noch vor kurzem getroffene Entschei-

285
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Frühe Neuzeit

dung (»was für ein Tor ich war, daß ich ins Kä- ner Generation, die aus plausiblen Gründen die
ficht zurückwollte!«) und schwört jeglicher Moral in Religion, Staat und Familie geltende patriar-
ab: »Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine chalische Ordnung kritisiert, ohne über ein trag-
Liebe mehr, und Blut und Tod soll mich vergessen fähiges Alternativkonzept zu verfügen. Der Aus-
lehren, daß mir jemals etwas teuer war!« bruch aus der Vaterordnung ist nicht Resultat
Der ›edle Verbrecher‹: Er baut mit seinen Kum- einer fest gegründeten Entscheidung, sondern
panen eine Räuberbande auf, in der er Ersatz für lediglich Frucht einer Enttäuschung – psycholo-
die verlorene Familie findet und zugleich seine gisch gesprochen: einer narzisstischen Krän-
angestaute Energie in Taten umsetzen kann. Auf- kung – und trägt entweder (wie bei Karl) Züge
grund seiner guten Anlagen entwickelt er sich einer halbherzigen Flucht oder (wie bei seinem
zum ›edlen Verbrecher‹, der korrupte Schmarot- Bruder Franz) den Charakter eines aberwitzig-
zer beraubt und die Beute den Armen zuteilt. Die inhumanen Kalküls. Das Schwanken des Helden
Herrschaftsform, die er etabliert, hat freilich wie in den Räubern setzt sich im zweiten Teil des Stü-
jede Utopie etwas Totalitäres und erweist sich in- ckes fort: Kurz nachdem er seine idyllischen
sofern zumindest als ambivalent. Als ihm die Träume entwickelt hat, lässt Karl sich erneut zu
Vermessenheit seines Handelns im Angesicht der einem Schwur zugunsten seiner Bande hinreißen
Untaten seiner Kameraden bewusst wird (II,3), (»Ich will euch niemals verlassen«), womit er sich
plant er den Rückzug aus der Räuberexistenz eine nach dem Handlungsverlauf noch mögliche
(»hier entsag ich dem frechen Plan, gehe, mich in Rückkehr in den Schoß der Familie endgültig ver-
irgendeine Kluft der Erde zu verkriechen, wo der wehrt.
Tag vor meiner Schande zurücktritt«), lässt sich Die Schuld der Vätergeneration: Die Interpreta-
aber durch die anmaßenden Worte eines Vertre- tion des Stückes führt zur Frage nach der Schuld:
ters der Obrigkeit und die Treue seiner Bande er- Verantwortlich für das Scheitern der Söhne – Karl
neut für deren Sache begeistern. stellt sich der Justiz, Franz bringt sich um – ist zu
Traum von der Idylle: In der oben zitierten einem guten Teil der Vater, der durch übertrie-
Szene aus dem mittleren dritten Akt des Dramas bene Verzärtelung des einen, durch gedanken-
artikulieren sich ein weiteres Mal die Abscheu lose Benachteiligung des anderen deren ›geniali-
vor dem gewählten Lebensweg und die Trauer sche‹ Anlagen an einer positiven Entwicklung
um die verlorene Unschuld. In einem Quasi-Mo- gehindert hat: Karl wurde zu unbedacht-impul-
nolog entwirft Karl eine Idylle, die sich aus emp- siv, Franz zu kaltherzig-berechnend. Die Räuber
findsam-religiösen Elementen speist und von der sind somit auch ein Lehrstück über die richtige
Sehnsucht nach einem liebenden Vatergott (»die ›Erziehung‹ im pädagogisch bewegten 18. Jh.
ganze Welt eine Familie und ein Vater dort oben«) Wie umfassend indessen die Krise sich darstellte,
über die Erinnerung an Elternhaus, Liebe und in die die alteuropäische Gesellschaft in sozialer,
Freundschaft (»mir nicht der süße Name Kind – religiöser und pädagogischer Hinsicht geraten
nimmer mir der Geliebten schmachtender Blick – war, zeigt mit psychologischer Scharfsicht Karl
nimmer nimmer des Busenfreundes Umar- Philipp Moritz’ (1756–1793) autobiographischer
mung!«) bis zu veritablen Regressionsphantasien Roman Anton Reiser (1785–1790), der als Abge-
reicht (»Daß ich wiederkehren dürfte in meiner sang auf die ›Frühe Neuzeit‹ gelesen werden
Mutter Leib!«). kann und dessen Entstehungszeit mit dem Be-
Halbherzige Rebellion: Die Passage zeigt, wie ginn der Revolution in Frankreich zusammen-
auch das ganze Stück, deutlich das Dilemma ei- fällt.

286
3.3
Kleine Literaturgeschichte
Literatur

Textsammlungen
Best, Otto F. (Hg.): Aufklärung und Rokoko. Stuttgart 1987. Killy, Walther (Hg.): 18. Jahrhundert Texte und Zeugnisse,
Bohnen, Klaus (Hg.): Deutsche Gedichte des 18. Jahrhun- 2 Bde. München 1983.
derts. Stuttgart 1987. Sauder, Gerhard (Hg.): Theorie der Empfindsamkeit und des
Karthaus, Ulrich (Hg.): Sturm und Drang und Empfindsam- Sturm und Drang. Stuttgart 2003.
keit. Stuttgart 1984.

Weiterführende Literatur
Alt, Peter-André: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Bd. 5/2: Frühaufklärung. Tübingen 1991; Bd. 6/1:
Tübingen/Basel 1994. Empfindsamkeit. Tübingen 1997; Bd. 6/2: Sturm und
– : Aufklärung. Stuttgart/Weimar 32002. Drang: Genie-Religion. Tübingen 2002; Bd. 6/3: Sturm
Buschmeier, Matthias/Kauffmann, Kai: Einführung in die und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger. Tübingen
Literatur des Sturm und Drang und der Weimarer 2002.
Klassik. Darmstadt 2010. Kimpel, Dieter: Der Roman der Aufklärung (1670–1774).
D’Aprile, Iwan-Michelangelo/Siebers, Winfried: Das Stuttgart ²1977.
18. Jahrhundert Zeitalter der Aufklärung. Berlin 2008. Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – Texte –
Grimminger, Rolf (Hg.): Deutsche Aufklärung bis zur Themen. Stuttgart 1997.
Französischen Revolution 1680–1789, 2 Bde. München/ Wiese, Benno von (Hg.): Deutsche Dichter des 18. Jahrhun-
Wien ²1984. derts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1977.
Jürgensen, Christoph/Irsigler, Ingo: Sturm und Drang. Wuthenow, Ralph-Rainer (Hg.): Zwischen Absolutismus
Göttingen 2010. und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm
Kaiser, Gerhard: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und und Drang 1740–1786. Reinbek 1980.
Drang. Tübingen/Basel 62007.
Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Robert Seidel
Bd. 5/1: Aufklärung und Pietismus. Tübingen 1991;

287
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

3.4 | Klassik und Romantik


Klassik und Romantik wurden in der Literaturwis- N Die Spätromantik (ca. 1820–1850) ist katho-
senschaft als zwei zentrale Strömungen oder Epo- lisch geprägt. Ihre Ausläufer reichen – etwa in
chen in der Geschichte der deutschen Literatur Person Joseph von Eichendorffs – bis in die
verhandelt. Obwohl sie sich zeitlich sogar über- 1850er Jahre.
schneiden, wurde in der Regel das Trennende zwi-
schen beiden Strömungen betont. Die heutige For-
schung richtet hingegen den Blick auf die
strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Klassik und 3.4.1 | Die Begriffe ›Klassik‹
Romantik. Beide markieren auf ihre je spezifische und ›Romantik‹
Weise den Beginn der ästhetischen Moderne.
Mit dem Terminus ›Klassizismus‹ wird eine äs- Der Terminus ›Klassik‹ ist in dreierlei Hinsicht zu
thetische Richtung bezeichnet, welche die Kunst unterscheiden:
des klassischen Altertums, die römische bzw. grie- Normbegriff: Das Adjektiv classicus (klassisch)
chische Antike, für maßstabsetzend hält. Intensiv entstammt ursprünglich dem staatswissenschaft-
debattiert wird die Frage, ob Moderne oder Antike lichen Diskurs. Als civis classicus gilt im antiken
als kulturell bzw. künstlerisch höherstehend anzu- Rom ein Bürger der höchsten Steuerklasse (classis
sehen seien in der französischen Querelle des anci- prima). Übertragen auf den Bereich der Künste,
ens et des modernes. gelten als ›klassisch‹ zunächst Autoren, deren Tex-
Deutsche oder Weimarer Klassik (1786–1805/ te mustergültig die sprachlich-stilistische Norm
1815) wird die Zeit zwischen Goethes Reise nach verkörpern, ferner ausgezeichnete, für die natio-
Italien (1786) bis zu Schillers Tod (1805) genannt. nale, politische oder kulturelle Identitätsbildung
Seltener nennt man als Endmarkierung der deut- einer Gemeinschaft einschlägige Kunstwerke. In
schen Klassik die Jahreszahl 1815 – die zum einen der europäischen Literatur gibt es folglich zu un-
für das Ende der Napoleonischen Kriege und zum terschiedlichen Zeiten Phasen besonderer künstle-
anderen für die politische Neuordnung Europas rischer Blüte, die als ›klassisch‹ gelten. So spricht
auf dem Wiener Kongress steht. Die terminologi- man in Spanien von einem siglo de oro (goldenen
sche Unterscheidung Klassik – Klassizismus ist Zeitalter) von der Mitte des 16. bis zur Mitte des
nicht ganz unproblematisch, weil sie impliziert, 17. Jh.s, in dem klassische Werke in Literatur
dass der Klassizismus eine eher epigonal auf die (Lope de Vega, Calderón, Quevedo) und Malerei
Antike bezogene Haltung darstelle, während die (Velázquez, El Greco, Zurbarán) entstehen. In
genuine Klassik von antikengleicher Originalität Frankreich findet sich eine époque classique gut
gekennzeichnet sei. hundert Jahre vor der deutschen oder Weimarer
Die Romantik wird in der Regel in drei Phasen Klassik mit Hauptvertretern wie Jean Racine und
gegliedert: Pierre Corneille. Seit Beginn des 20. Jh.s wird der
Drei Phasen N Die Frühromantik (ca. 1797–1804) ist stark Begriff ›Klassik‹ auch für die deutschsprachige Li-
der Romantik philosophisch orientiert und ästhetisch radi- teratur des 13. Jh.s verwendet (Staufische oder Hö-
kal. Sie wird theoretisch insbesondere von fische Klassik). Maßstabsetzende Texte des frühen
den Brüdern Friedrich und August Wilhelm 20. Jh.s, etwa von Franz Kafka, Alfred Döblin oder
Schlegel sowie von Novalis (Friedrich von Gottfried Benn, gelten als klassische Moderne. Und
Hardenberg) vertreten und findet in Ludwig ganz selbstverständlich spricht man heute z. B.
Tieck ihr literarisches Genie. Zeitlich fällt die von Alfred Hitchcock als einem ›Klassiker des
Frühromantik also vollständig in die Epoche Films‹, von Heinz Ehrhardt oder Rudi Carrell als
der Klassik. ›Klassikern der Fernsehunterhaltung‹ oder vom
N Die Hochromantik (ca. 1805–1820) hat die VW Golf als einem ›Klassiker der Automobil-Ära‹.
Protagonisten Clemens Brentano, Achim von Stilbegriff: Wegweisend für die Entwicklung
Arnim und E. T.A. Hoffmann. In diese Phase des klassischen Stils in Deutschland ist Johann Jo-
fällt auch die Sammlungstätigkeit von Volkslite- achim Winckelmanns Proklamation der griechi-
ratur und Sagen, für die die Romantik bekannt schen Antike und besonders ihrer Marmorplasti-
ist: die Märchen der Brüder Jacob und Wilhelm ken als Inbegriff ästhetischen Gelingens. Klassik
Grimm oder die Gedichtanthologie Des Knaben steht dabei für einen Stil, der sich den Zumutun-
Wunderhorn von Brentano und Arnim. gen der aufkeimenden Moderne entgegenstellt,

288
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Die Begriffe ›Klassik‹
und ›Romantik‹

und zwar im Anschluss an Polyklets Schrift Ka- Autoren wie Heinrich Laube, Wil-
non, die als künstlerische Stilprinzipien Symme- helm Scherer und Georg Gottfried
trie, Harmonie und Bezug der Elemente auf eine Gervinus, nach deren Auffassung die
Mitte festlegt. Berühmt geworden ist Winckel- künstlerische Blütezeit in Person von
manns Stilisierung des griechischen Vorbilds als Schiller und Goethe die fehlende na-
»edle Einfalt und stille Größe« in der Schrift Ge- tionale Einheit und die daraus resul-
danken über die Nachahmung der griechischen tierende mangelnde Kulturrepräsen-
Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755). tation Deutschlands kompensieren
Diese Formulierung bezieht sich auf die antike soll. ›Klassik‹ stellt in dieser Pointie-
Laokoon-Gruppe, die die namengebende Figur, ei- rung einen politisch instrumentali-
nen trojanischen Priester, und seine beiden Söhne sierten Begriff dar, der bis heute ei-
im Todeskampf zeigt. nen gewissen Widerwillen erzeugt,
Winckelmann sieht die Statue dominiert von etwa wenn man sich vor Augen
einer trotz der extremen Widerfahrnisse stoisch- hält, dass anhand der Texte der
beherrschten, gesetzten Attitüde, die nicht aus der Klassiker Generationen von Schü-
Fassung gerät, von einem Kunststil, der auf Idea- ler/innen auf Staatstragendes einge-
les, Vorbildliches, Mustergültiges baut und durch schworen wurden, und zwar in
fest umrissene Linien und die Glätte der weißen ganz unterschiedlichen politischen
Marmoroberfläche, den sogenannten ›Kontur‹, ge- Regimes, von »Naziblödel[n] genau-
prägt ist. Der ›Kontur‹ soll – so Winckelmann – so wie von biederen verantwortungs-
»das Völlige der Natur von dem Ueberflüßigen« vollen demokratischen Bewältigungsblödeln«, wie Die Laokoongruppe,
scheiden. »Der edelste Contour vereiniget oder der Schriftsteller Rainald Goetz (1986, S. 24) an- wie sie vor dem Auffinden
umschreibet alle Theile der schönsten Natur und lässlich einer Marbacher Ausstellung zum Thema des oberen Armes ergänzt
der Idealischen Schönheiten in den Figuren der Klassiker in finsteren Zeiten poltert. Schon um worden war
Griechen«. Solche Schönheit, Klarheit und Harmo- 1790 ist Goethes und Schillers künstlerisches Ge-
nie der Proportion werden sowohl der drohenden meinschaftsprojekt nicht zuletzt in kulturpoliti-
Verworrenheit der Moderne wie auch dem Aus- scher Hinsicht gefragt, gilt es doch, mit den Folgen
schweifenden, Grotesken der vermeintlich fehlen- der Französischen Revolution fertigzuwerden, in
den organischen Ganzheit von Barock oder Roko- einer von dem Historiker Reinhart Koselleck als
ko entgegengesetzt. ›Sattelzeit‹ bezeichneten Phase, in der sich traditi-
Epochenbegriff: Der Begriff ›Weimarer Klassik‹ onelle (metaphysische) Bindungen mehr und
ist eine nachträgliche Erfindung für das Wirken mehr auflösen und stattdessen ein Bewusstsein
Goethes und Schillers in den 1790er Jahren und zu historischer Differenz sowie neuzeitlicher Subjek-
Beginn des 19. Jh.s. Goethe und Schiller, die ihr tivität entsteht.
Zusammenwirken als exklusives Unternehmen be- Der Begriff ›Romantik‹: Etymologisch steckt in
treiben, verfahren selbst ausgesprochen zurück- ›Romantik‹ das altfranzösisch-provenzalische ro-
haltend mit dem Klassik-Begriff. »Wer mit den manz, womit eine Literatur in lingua romana, der
Worten, deren er sich im Sprechen oder Schreiben Volkssprache (und eben nicht in der Gelehrten-
bedient, bestimmte Begriffe zu verbinden für eine sprache Latein) gemeint war. Angezeigt ist da-
unerläßliche Pflicht hält«, formuliert Goethe in der durch eine sich von der Klassik und ihrem Anti-
Abhandlung »Literarischer Sansculottismus«, der kenbezug abgrenzende Orientierung der Romantik
»wird die Ausdrücke: klassischer Autor, klassisches an der europäischen Literatur, insbesondere derje-
Werk höchst selten gebrauchen. Wann und wo ent- nigen romanischer Sprachen sowie dem Volkstüm-
steht ein klassischer Nationalautor?«. Offenbar lichen. Aus den provenzalischen Romanzen, Rit-
nicht so einfach zu Goethes territorial zersplitter- ter- und Abenteuergeschichten mit amourösen
ten Zeiten: Ende des 18. Jh.s setzt sich Deutsch- und phantastischen Elementen leitet sich auch der
land aus mehr als dreihundert, in der Regel abso- Begriff ›Roman‹ ab, der zunächst nicht mehr meint Der Begriff ›Roman‹
lutistisch organisierten, Staatsgebilden zusammen. als eine mit phantastischen Elementen durchsetzte
»Wir sind überzeugt, daß kein deutscher Autor Art der Erzähldichtung. Das Adjektiv romantick ist
sich selbst für klassisch hält«, lautet angesichts zuerst im 17. Jh. in England belegt. Es meint eben-
dessen Goethes Fazit. falls ›romanhaft‹, ›erdichtet‹, ›phantastisch‹ oder
Etabliert wird der Begriff ›Klassik‹ erst von der ›nicht realistisch‹. Im 18. Jh. bedeutet ›romantisch‹
Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jh.s durch zunächst noch schlicht ›romanhaft‹ mit deutlicher

289
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

Affinität zum Phantastischen, zu einer Merkmale mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und
des Wunderbaren auskostenden Erzählhaltung, das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poeti-
die sich gegen den klassizistischen Regelkanon sieren […]. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten
ebenso richtet wie gegen die von der Aufklärung wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis
propagierten Begriffe der Wirklichkeit und Wahr- zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in
scheinlichkeit: »[N]ach meiner Ansicht und nach kunstlosen Gesang« (»Athenäums-Fragment« 116).
meinem Sprachgebrauch«, lässt Friedrich Schlegel
im Gespräch über die Poesie den Diskutanten Anto- Wider solche Emphase gemünzt, scheinen dage-
nio jene herkömmliche Sichtweise äußern, »ist gen Verse aus der Walpurgisnacht in Goethes
eben das romantisch, was uns einen sentimenta- Faust II: »Diese Unvergleichlichen / Wollen immer
len Stoff in einer fantastischen Form darstellt«. Bis weiter, / Sehnsuchtsvolle Hungerleider / Nach
heute wird das Adjektiv ›romantisch‹ umgangs- dem Unerreichlichen« (Vers 8202 ff.), Verse, die
sprachlich mit Landschaften bzw. Naturerlebnis- eigentlich den sogenannten Kabiren gelten – ge-
sen und insbesondere mit der Liebe in Verbindung heimnisvollen, stimmlosen Idolen, deren Kennt-
gebracht. nis Goethe freilich nichts anderem verdankt als
Ein häufiges Missverständnis ist in diesem Zu- der romantischen Mythenforschung Friedrich
sammenhang allerdings zu vermeiden. Romantik Creuzers und Schellings. Wenn Schiller angesichts
ist keineswegs darauf zu reduzieren, dass in ihr des Gefühls von Klassizität, das ihn bei der Lektü-
aufklärerische Vernunft zugunsten überborden- re von Wilhelm Meisters Lehrjahren überkommt,
der Phantastik und Irrationalität suspendiert wür- brieflich an Goethe von einem geradezu leibseeli-
de. Richtig ist vielmehr, dass die Romantiker im schen »Wohlseyn« berichtet, einem Empfinden
Kritischer Dialog kritischen Dialog sowohl mit der aufklärerischen »fröhliche[n] Leben[s]« (7.1.1795), dann bedeutet
Tradition als auch mit der zeitgenössischen idea- Goethes berüchtigtes, im Gespräch mit Ecker-
listischen Philosophie die Vernunft in unter- mann am 2.4.1829 geäußertes Diktum: »Das Klas-
schiedlichster Weise an ihre Grenzen führen. Die sische nenne ich das Gesunde, und das Romanti-
Romantik ist kein Unternehmen der »Zerstörung sche das Kranke« die gehässige Zuspitzung einer
der Vernunft«, wie es ihr der Philosoph Georg solchen Metaphorik.
Lukács unterstellt hat, keine rückwärtsgewandte Gemeinsamkeit von Klassik und Romantik:
Strömung, die ihr Genügen in süßlichen Natur- Mehr und mehr wird in neuerer Zeit betont, dass
szenarien voller Posthornklänge und Rehen auf der vermeintliche Widerstreit klassisch vs. ro-
Waldlichtungen fände. Vielmehr hat sich die Auf- mantisch als Leitdifferenz für eine Geschichte der
fassung durchgesetzt, dass die Romantik als zen- Literatur um 1800 nicht taugt. Es gilt, »verstärkte
trale Vorstufe künstlerischer Modernität zu Aufmerksamkeit auf strukturelle Gemeinsamkei-
werten ist. ten« beider Strömungen zu richten und sie als ei-
Klassik und Romantik: Ein Widerstreit? Von ih- nen dialogisch aufeinander bezogenen »doppelten
rem Gestus überschwänglicher Orientierung am Ursprung der Moderne« (Schneider 2002, S. 103)
Absoluten und der Antisystematik setzt sich die zu begreifen.
Romantik der Klassik mit ihrem mäßigenden, Ge- So lässt sich die Nähe zwischen Schillers und
schlossenheit und Ordnung verheißenden Gestus Friedrich Schlegels Konzepten der Antike nicht
entgegen: Mit der Formulierung: »Die Welt muß übersehen. Bei allem Unterschied in der Akzentu-
romantisirt werden« (»Logologisches Fragment« ierung verstehen beide das klassische Altertum
105), fordert Novalis ein kategorisches Übergreifen nicht mehr als etwas, das sich unter den Bedin-
des Romantischen auf alle Lebensbereiche, und gungen der Moderne (in der sich beide situiert se-
Friedrich Schlegel überschreitet jene ›ordentliche‹ hen) wieder einholen ließe. Peter Szondi hat ver-
Systematik, wie sie die Aufklärung pflegte, und deutlicht, dass der moderne (in Schillers Worten:
entwirft das Konzept der progressiven Universal- sentimentalische) Versuch, antikengleiche Naivi-
poesie: tät (so Schillers Kategorie für das ungebrochene in
sich Ruhen des klassischen Altertums) wiederzu-
Schlegels Konzept »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre erlangen oder auch nur zu simulieren, zum Schei-
der progressiven Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie tern verurteilt ist. Modernes Bewusstsein sieht
Universalpoesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhe- sich stets aufs Neue auf sich selbst und seine his-
torik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und torische wie mentale Differenz zum Alten verwie-
Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald sen. Antike, wie sie die Neuzeit als wie auch im-

290
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Ereignis- und
Sozialgeschichte

mer vorbildlich denkt, ist nichts anderes als ein 3.4.2 | Ereignis- und Sozialgeschichte
Konstrukt der Moderne. »Das Naive«, so Szondis
berühmte Pointierung, »ist das Sentimentalische« Zwei Revolutionen bestimmen die Ereignisse der
(Szondi 1978, S. 59). Auf vergleichbare Weise be- Zeit um 1800:
klagt Friedrich Schlegel im Gespräch über die Poe- N 1775/76 wird Amerika unabhängig, die erste
sie, dass es »unsrer [d.i. der modernen, HD] Poesie erfolgreiche Loslösung einer Kolonie von der
an einem Mittelpunkt [fehlt], wie es die Mytholo- Vorherrschaft der Metropole.
gie für die Alten war, und alles Wesentliche, worin N 1789 führt die Französische Revolution zur Ab-
die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, lösung der absoluten Monarchie.
läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir ha- Beide Revolutionen zielen auf die Errichtung de-
ben keine Mythologie«. Weit entfernt, dies bloß zu mokratischer Staatssysteme. Gedankliche Basis
beklagen, fordert Schlegel forsch, dass es an der dafür sind die modernen Menschenrechte: Wahl-
Zeit sei, eine neue Mythologie hervorzubringen, und Meinungsfreiheit, Gleichheit vor dem Recht,
freilich »auf dem ganz entgegengesetzten Wege Gewerbefreiheit, allgemeines Steuerrecht und freie
[…] wie die alte ehemalige«: »Die neue Mytholo- Berufswahl.
gie« müsse im Gegensatz zur Natürlichkeit und Diese neuen Ideen treffen im deutschsprachi- Situation im deutsch-
Naivität der antiken »aus der tiefsten Tiefe des gen Raum auf eine Situation, die von territorialer sprachigen Raum
Geistes«, also aus dem Kontext modernen Den- Zerklüftung, politischer Unmündigkeit der Bevöl-
kens, »herausgebildet werden«: sie »muß das kerung und sozial ungerechten, autoritären Regie-
künstlichste aller Kunstwerke sein«. rungsformen gekennzeichnet ist. Der dritte Stand,
Der Terminus ›Klassik‹ begegnet bei dem ausge- »ein nach unten gewissermaßen ausfransendes
bildeten Altphilologen Friedrich Schlegel in ro- Konglomerat von ›Unterbürgerlichen‹«, bestehend
mantisch-ironischer Pointierung. Gegen die Ten- aus Dienstboten, Gesindeleuten, Handlangern, Ta-
denz, dass »die meisten […] sich das Klassische gelöhnern, Arbeitslosen oder -unfähigen, über-
gar nicht denken« können »ohne Meilenumfang, steigt um 1800 in den Städten oft die 50 %-Marke.
Zentnerschwere und Äonendauer«, gilt für Schle- Ebenso groß ist die Zahl der »landlosen und land-
gel eine Schrift als klassisch, die zu stets neuer armen Unterbäuerlichen« (Wehler 1987, S. 193).
Rezeption herausfordert, »die es verdient«, dass Nicht einmal 10 % der Bevölkerung ist des Schrei- Analphabetismus
der Leser »immer von neuem« zu ihr »zurückkehr[t] bens und Lesens mächtig. Es existiert zwar eine
[…]; nicht um die Zeit zu töten, […] sondern um allgemeine Schulpflicht (Schlusspunkt bei deren
sich den Eindruck durch die Wiederholung schär- Einführung ist Bayern im Jahr 1809), aber nur ca.
fer zu bestimmen« (Schlegel: »Georg Forster. Frag- 50 % der Kinder gehen wirklich zur Schule.
ment einer Charakteristik der deutschen Klassi- Ein zunehmend emphatischer Begriff von politi-
ker«). Somit kann die progressive Universalpoesie scher Subjektivität und Autonomie steht diesen
als Unternehmen »grenzenlos wachsende[r] Klas- Verhältnissen entgegen. Durch die politischen Er-
sizität« (»Athenäums-Fragment« 116) bezeichnet eignisse am Ende des 18. Jh.s werden Individuen
werden. in ihrer Subjektivität zu dem, was man ›sozialrele-
Mit Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre vant‹ nennt. Freiheit, Gleichheit und Brüderlich-
kommt ein Schwergewicht klassischer Erzähllite- keit sollen rechtlich garantiert werden. Die Ver-
ratur in den Genuss entsprechend romantischer mittlung von Privatheit und staatlich geregelter
Lektüren. Zunächst von Schlegel und Novalis als Öffentlichkeit führt nicht selten zu einem »Um-
unpoetisch abgetan, ja von letzterem gar als schlagen[] von Rechtsordnungen in Disziplinie-
»Wallfahrt nach dem Adelsdiplom« verspottet, ge- rungsinstitute […]; die Gleichheit aller, als Rechts-
rät »dieses schlechthin neue und einzige Buch« anspruch verstanden, schafft unvermerkt zugleich
(Schlegel: »Über Goethes Meister«) in eine Reihe staatliche Organe, die sich in Maschinen der Nor-
mit den laut Schlegel »größten Tendenzen des Zeit- mierung verwandeln: Gefängnisse, Schulen, psy-
alters« (»Athenäums-Fragment« 216): der Französi- chiatrische Kliniken und Verwaltungsapparate«
schen Revolution und Fichtes Wissenschaftsleh- (Neumann 1984, S. 436).
re. Analog sind auch Goethes spätere Romane Die Begeisterung für die Französische Revolu-
Die Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meisters tion von Seiten der jungen deutschen Intellektuel-
Wanderjahre mit Aspekten romantischer Ästhetik len ist enorm. Schon 1789 dichtet Ludwig Tieck
in Verbindung gebracht worden. (1773–1853) als Gymnasiast ein enthusiastisches
Revolutionsdrama. Wilhelm Heinrich Wackenro-

291
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

Zentrale Ereignisse Don Carlos (1786) oder insbesondere in der histo-


rischen Untersuchung Geschichte des Abfalls der
1775/76 Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg und Unabhängig- Vereinigten Niederlande von der Spanischen Regie-
keitserklärung rung (1787) von der Französischen Nationalver-
1789 Beginn der Französischen Revolution; die Verfassung der sammlung ehrenhalber zum Bürger Frankreichs
Vereinigten Staaten tritt in Kraft ernannt worden ist – am 13. Juli 1793 resigniert in
1793 Ausrufung der Mainzer Republik einem Brief an den Fürsten von Augustenburg,
1804–14/15 Napoléon (I.) Bonaparte erobert Europa
(»Napoleonische Kriege«) »daß das Menschengeschlecht der vormundschaftlichen Gewalt
1806 Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation noch nicht entwachsen ist, daß das liberale Regiment der Vernunft
1813 Beginn der Befreiungskriege (Europa lehnt sich gegen da noch zu frühe kommt, wo man kaum damit fertig wird, sich der
Napoléon auf) brutalen Gewalt der Thierheit zu erwehren«.
1814/15 Wiener Kongress
1817 Wartburgfest Dennoch bleibt die Französische Revolution ein
1819 Karlsbader Beschlüsse Meilenstein. So schreibt Immanuel Kant in Der
1830 Julirevolution in Frankreich Streit der Fakultäten (1798):
1832 Hambacher Fest
»Ein solches Phänomen in der Menschheitsgeschichte vergißt sich
nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der mensch-
der, mit Tieck gemeinsam Verfasser der kunstreli- lichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Poli-
giösen Herzensergießungen eines kunstliebenden tiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge herausgeklügelt hat«.
Klosterbruders (1797) und eigentlich ein eher
empfindsamer Geist, begrüßt sogar die Blutrüns- Und Georg Wilhelm Friedrich Hegel kommt in sei-
tigkeit der Revolution: »Die Hinrichtung des Kö- nen Vorlesungen über die Philosophie der Geschich-
nigs von Frankreich hat ganz Berlin von der Sache te (1840) geradezu ins Schwärmen:
der Franzosen zurückgeschreckt; aber mich gera-
de nicht. Über ihre Sache denke ich wie sonst« »Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie
(zit. n. Safranski 2007, S. 33). Der Philosoph Jo- herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch
hann Gottlieb Fichte (1762–1814) publiziert 1793 sich auf den Kopf, d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklich-
eine Abhandlung mit dem sprechenden Titel Zu- keit nach diesem erbaut. […] Es war dieses somit ein herrlicher
rückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitge-
Europens, die sie bisher unterdrückten und billigt feiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein
in der Schrift Beiträge zur Berichtigung der Urteile Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es
des Publikums über die Französische Revolution zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst
dem Volk ausdrücklich das Recht auf Revolution gekommen«.
zu sowie, dass es dabei auch gewaltsam zugehen
dürfe. Ebenfalls 1793 wird in Mainz die erste Re- Napoléons Unterwerfung Preußens (1806) und die
publik auf deutschem Boden ausgerufen. Deren folgenden Niederlagen werden als nationale
Vizepräsident wird der Schriftsteller Georg Forster Schmach empfunden und befördern eine Welle pa-
(1754–1794), der durch seine Teilnahme sowie triotischer Begeisterung und restaurativer politi-
den Bericht über James Cooks Südsee-Weltreise scher Einstellung. Hierzu fügt sich eine Welle von
(1772–1775) berühmt geworden war. Schon im Konversionen zum Katholizismus etwa in Person
Juli 1793 wird das erste republikanische Experi- von Friedrich Schlegel (1808), der zudem in den
ment auf deutschem Boden durch die Koalitions- Österreichischen Staatsdienst eintritt und dort re-
armee aber wieder beendet. staurativ-katholische Politik mitgestaltet, oder von
Der Ausbruch der Pariser Terrorherrschaft nach Clemens Brentano, der 1817 zum Katholizismus
der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Jahr 1792, in de- übertritt und auf mehr als 15 000 Manuskriptseiten
ren Zug der Wohlfahrtsausschuss Robespierres die mystischen Visionen der Augustinernonne Ka-
und Dantons die Menschenrechte wieder außer tharina von Emmerick niederschreibt. »Ach, nur
Kraft setzt, nährt ein demokratieskeptisches Kli- einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust wür-
Schiller: ma. So schreibt Friedrich Schiller – der am 26. Au- de ich katholisch werden«, kennzeichnet Heinrich
Die Räuber (Titelblatt gust 1792 ob seiner rebellischen Forderung nach von Kleist am 21.5.1801 an Wilhelmine von Zenge
der 2. Auflage, 1782) Freiheit in frühen Werken wie den Räubern und brieflich den Katholizismus als – für ihn verstell-

292
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Poetologie und Ästhetik

ten – Sehnsuchtsort, an dem man die Krisen der einen in der unverhohlen erotisierten Versenkung
Moderne zum Schweigen zu bringen erhofft. Und noch in kleinste Details der plastischen Gestal-
schon 1799 lässt Ludwig Tieck in seiner Komödie tung. Zum anderen erweist sich Körperlichkeit im-
Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Ge- mer wieder als von Zerstörung bedroht. So ist
schmack die Figur Nestor spöttisch ausrufen: »Ei, etwa der Torso vom Belvedere, eine von Winckel-
darüber könnte man katholisch werden«. manns berühmtesten Bezugspunkten in der anti-
ken bildenden Kunst, zunächst einmal nichts als
ein »gemißhandelt[er] und verstümmelt[er]« Mar-
morklotz: »ein[] ungeformte[r] Stein«, den die Be-
3.4.3 | Poetologie und Ästhetik
schreibung allererst zu einem »Ideal« (»Beschrei-
bung des Torso vom Belvedere«) emporphantasie-
3.4.3.1 | Klassik
ren muss.
Die Rolle der Ästhetik: Wenn der klassischen Poe- Ästhetische Erziehung: Ebenso wie Moritz’
tologie und Ästhetik auch mitunter »das Stigma Konzept der Kunstautonomie (s. 3.4.3.2) lässt sich
des Normativen und Restaurativen anhaftet« auch Friedrich Schillers Wende zur Ästhetik als Schillers Wende
(Schneider 2002, S. 94), erweisen sie sich bei nähe- Kompensation einer Abscheu ebenso vor der ver- zur Ästhetik
rer Betrachtung doch als deutlich brüchiger und nunftlosen bloßen Sinnlichkeit, als die sie sich
ambivalenter. Entscheidender Unruhefaktor ist da- dem jungen Medizinstudenten in Form schreckli-
bei das von Alexander Gottlieb Baumgarten cher Erkrankungen zeigt, wie des Schocks durch
(1714–1762) begründete Verständnis der Ästhetik die Brutalität der Französischen Revolution lesen.
(griech. aísthēsis: Wahrnehmung, Empfindung) Hierauf reagiert Schiller mit seinem Konzept äs-
als einer Wissenschaft vom Sinnlichen, der soge- thetischer Erziehung. Ästhetik wird zum Vehikel
nannten unteren Seelenvermögen (d.i. die ver- moralischen Verhaltens: Es gibt laut Schiller »kei-
meintlich niedere Sinnlichkeit, die ›dunkler‹ wahr- nen andern Weg, den sinnlichen Menschen ver-
nimmt als der klar gliedernde Verstand). So fordert nünftig zu machen, als daß man denselben zuvor
Johann Gottfried Herder im Journal meiner Reise ästhetisch macht« (Über die ästhetische Erziehung
im Jahr 1769 von der »Aesthetik«, dass sie als des Menschen). Propagiert wird dabei ein Kon-
»eine Philosophie der Sinne, der Einbildungskraft, zept des ganzen Menschen, in dem Sinnlichkeit
der Dichtung!« sich geradezu einem ganzen »Ab- und Sittlichkeit zwangfrei vereint und die moder-
grund der Erfahrungen« zu stellen habe – womit ne Zerklüftung ebenso des Individuums wie der
der von Leibniz’ rationalistischer Philosophie als Gesellschaft noch einmal versöhnt erscheinen:
fundus animae, als dunkler Grund der Seele, be- »Bei der Vereinzelung und getrennten Wirksam-
zeichnete Bereich empirisch-sinnlicher Wahrneh- keit unsrer Geisteskräfte, die der erweiterte Kreis
mung, auf den die rationalen Seelenvermögen des Wissens und die Absonderung der Berufsge-
aufsatteln, einen deutlichen Karrieresprung zu ei- schäfte notwendig macht, ist es die Dichtkunst
nem gleichberechtigten »Analogon[] der Vernunft« beinahe allein, welche die getrennten Kräfte der Baumgarten:
(Baumgarten: Aesthetica, § 1) erfährt. Seele wieder in Vereinigung bringt« (»Über Bür- Aesthetica (1750–58)
Antike Plastik: Für Johann Joachim Winckel- gers Gedichte«).
mann (1717–1768) firmieren antike Marmorplasti- Goethes Symbolbegriff wird meist als Versuch
ken zwar als Inbegriff klassizistischen Stils, da ihre ästhetischer Synthetisierung gewertet. Es ist der
»Schönheit«, verglichen mit der »Schönheit in der theologische Hintergrund des Symbolbegriffs so-
Natur«, als »nicht so sehr zerstreuet«, als konzen- wie seine Karriere im Bereich der Medizin als ei-
trierter und »mehr in eins vereiniget« empfunden nes Krankheitsanzeichens auf der Körperoberflä-
werde (Gedanken über die Nachahmung). Win- che, die in Herders Definition der »Symbolik« als
ckelmanns Klassizismus ist aber nicht von jener »Durchschein […] der Seele im Körper« (»Studien
zwanghaften Harmonisierung und gipsernen Steif- und Entwürfe zur Plastik«) zusammengeführt wer-
heit, die ihm häufig unterstellt worden ist. Sie bie- den. Goethe nimmt dieses Verständnis einer Syn-
tet keinen »idealistische[n] Gegenentwurf zu einer these des Körperlichen und Geistigen auf, wenn er
sensualistisch verkommenen Moderne« (Lange das Symbol als Instrument begreift, wie sich »die
1998, S. 401), sondern formuliert – im Gegenteil – millionenfache Hydra der Empirie« zur Darstel-
eine ebenso fasziniert wie angstvoll auf den lung und damit auch zur Bedeutung bringen lasse.
menschlichen Leib und seine sinnliche Ausstat- Symbole, so Goethe am 16./17.8.1797 an Schiller,
tung bezogene Ästhetik. Diese äußert sich zum seien »eminente Fälle, die, in einer charakteristi-

293
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

Zentrale Werke der Klassik Ziel an, Dichtung und bildende Kunst nicht nur
grundlegend zeichentheoretisch voneinander zu
Poetik/Ästhetik unterscheiden, sondern ihren Illusionscharakter
1755 Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechi- zu stärken. Dies soll dadurch geschehen, dass
schen Werke in der Malerei und Bildkunst Bild- und Sprachkünste nur dasjenige zu ihrem
1766 Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Gegenstand wählen, was ihrem jeweiligen Zei-
Poesie chenarsenal angemessen erscheint. Der »Malerei«
1774 Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman mit ihren simultanen »Figuren und Farben in dem
1781 Kant: Kritik der reinen Vernunft Raume« obliegt es daher, »Körper« zu formieren,
1790 Kant: Kritik der Urteilskraft während die »Poesie« mit »artikulierte[n] Töne[n]
1795 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer in der Zeit« auf die Darstellung von »Handlungen«
Reihe von Briefen als ihres »eigentliche[n] Gegenstand[es]« (Lessing:
1800 Herder: Kalligone Laokoon XVI) verwiesen wird. Nach Lessings semi-
otischer Bestimmung bleiben indes die »Zeichen
Lyrik der Poesie […] willkürlich« (XVII), diejenigen der
1788–90 Goethe: Römische Elegien bildenden Kunst natürlich. Während Lessing also
1788 Schiller: »Die Götter Griechenlands« »sprachliche Kunst« als arbiträren, d. h. willkürli-
1798 Schiller: »Die Bürgschaft« chen Vorgang wertet, der »die Sinnlichkeit immer
1799 Schiller: »Das Lied von der Glocke« schon aufgehoben hat«, bleiben in der bildenden
Drama als »materiell-sinnliche[r]« (Wellbery 1994, S. 26)
1779 Goethe: Iphigenie auf Tauris Kunst immer Spuren unsublimierter Leiblichkeit
1797 Goethe: Faust. Eine Tragödie zurück: »Wer die Laokoon-Gruppe oder den Apoll
1798/99 Schiller: Wallenstein [von Belvedere, HD] betrachtet, […] ist konfrontiert
1800/01 Schiller: Maria Stuart mit einer gegenständlich-manifesten Sinnlichkeit,
1803 Schiller: Die Braut von Messina die sich der medialen Funktionalisierung wider-
1803/07 Kleist: Amphytrion setzt« (Mülder-Bach 1998, S. 29).
1808 Kleist: Penthesilea
3.4.3.2 | Exkurs: Karl Philipp Moritz
Prosa
und die Autonomie der Kunst
1786 Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
1795 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre Die Schnittstelle zwischen Sinnlichkeit und ästhe-
tischem Ideal wird auch im Werk von Karl Philipp
Moritz (1756–1793) produktiv. Moritz, der in klei-
schen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von nen, auf zwanghafte Weise vom Pietismus gepräg-
vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in ten Verhältnissen als Sohn eines Militärmusikers
sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, ähnli- aufwächst, ist eine schillernde Figur. Eine Hutma-
ches und fremdes in meinem Geiste aufregen und cherlehre bricht er wegen unmenschlicher Be-
so von außen wie von innen auf eine gewisse Ein- handlung ab, verübt einen Selbstmordversuch, für
heit und Allheit Anspruch machen«. Auffällig an kurze und unglückliche Zeit versucht er sich als
Goethes Diktion ist freilich die Vagheit (»eine ge- Schauspieler – von all dem zeugt der autobiogra-
wisse Totalität«, »eine gewisse Reihe«), wie auch phisch geprägte Roman Anton Reiser (1785/1790),
die Tatsache, dass Symbolisches hier kaum für die ein Werk, »wie es« – so der Schriftsteller Arno
Stillstellung der zeichenhaften Vermittlung steht, Schmidt – in seiner zugleich »schöpferische[n]«
sondern vielmehr Anlass zu einer offen bleiben- und »zerstörerischen Kraft« »kein anderes Volk der
den Verkettung, der Reihenbildung, gibt. Erde besitzt«. Später wird Moritz Gymnasiallehrer
Medienreflexivität gilt als wichtiges Kriterium und schließlich – auf Vermittlung des Weimarer
klassischer Ästhetik und Modernität. Im Experi- Herzogs Carl August – Professor für die Theorie
mentieren mit Bild- und Schriftzeichen kommt da- der schönen Künste in Berlin. Moritz betätigt sich
bei ebenso semiotische Experimentierlust zum als Theoretiker der Sprache, der Künste wie der
Ausdruck wie eine generelle »Zeichenverunsiche- mechanischen Wissenschaften, er verfasst ein
rung« (Schneider 2002, S. 118). So tritt Gotthold überaus erfolgreiches mythologisches Werk, ein
Ephraim Lessings Traktat Laokoon Oder über die grammatisches Wörterbuch, eine Deutsche Sprach-
Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) mit dem lehre für Damen (1782), den Versuch einer deut-

294
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Poetologie und Ästhetik

schen Prosodie (1786) – eine Abhandlung, die Goe- die sich wie von selbst bildet, wirkt das klassizisti-
the als seinen ›Leitstern‹ für die Überarbeitung der sche Ideal innerer, organischer Kohärenz, derzu-
zuvor in Prosa verfassten Iphigenie auf Tauris in folge die Kunst etwas »in sich selbst Vollendetes
jambisches Metrum bezeichnet –, schließlich ein [darstellt], das also in sich ein Ganzes ausmacht«
ABC-Buch (1790) und sogar eine Kinderlogik (»Über den Begriff des in sich Vollendeten«).
(1786). Sein Freund Goethe hat diesen so wandel- Moritz ist damit der erste deutschsprachige
baren Autor wegen seiner Originalität und seines Denker, der offensiv und nicht zuletzt motiviert
Esprits wie einen »jüngere[n] Bruder« geschätzt, durch eine Überforderung von Seiten der Empirie
ob seiner Merkwürdigkeit aber in gewisser Weise die Forderung nach Kunstautonomie vertritt:
auch für »beschädigt« gehalten (Brief an Charlotte Sinn und Zweck von Kunst liege jenseits aller
von Stein vom 13.–16.12.1786). Nützlichkeitserwägungen, wie sie beispielsweise
Moritz reüssiert als Herausgeber der ersten Horaz’ Formel vom künstlerischen delectare et pro-
deutschen psychologischen Zeitschrift, des Ma- desse (Erfreuen und Nutzen) verbrieft, in ihr selbst.
gazins zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793). Das Schöne bedarf laut Moritz »keines Endzwecks,
Dort erscheinen Texte unterschiedlicher Autoren, keiner Absicht, warum es da ist, außer sich […],
die sich der seit Mitte des 18. Jh.s entstehenden sondern [hat] seinen ganzen Wert, und den End-
empirischen Psychologie oder Experimentalseelen- zweck seines Daseins in sich selber« (Über die bil-
lehre verschrieben haben. Der menschlichen Psy- dende Nachahmung des Schönen). Diese Forderung
che soll mit naturwissenschaftlicher Exaktheit auf wird gleichermaßen zentral für Klassik und Ro-
den Grund gegangen werden, statt nur über sie zu mantik. Zeichentheoretisch bedeutet Kunstauto- Moritz:
spekulieren. »Es ist fast schändlich«, schreibt Mo- nomie Selbstreferenz (Selbstbezüglichkeit) und Magazin zur Erfahrungs-
ritz dort, »daß man bis itzt noch Schneckenhäuser Komplexitätssteigerung von Kunst: »[J]e mehr seelenkunde (1. Band, 1783)
und Spinnen beinahe mehr als den Menschen sei- Zusammenhang befördernde Beziehungen näm-
ner Aufmerksamkeit wert gehalten hat« – oder lich eine nützliche Sache auf den Zusammenhang,
auch – »Man sammlet tägliche Beobachtungen, worin sie sich befindet, hat, um desto nützlicher ist
dacht’ ich, über das Wetter, und den Menschen sie; und je mehrere solcher Beziehungen eine schö-
sollte man dessen nicht wert achten?«. Mit Akribie ne Sache von ihren einzelnen Teilen zu ihrem Zu-
vertieft sich Moritz deshalb in »wirkliche Fakta« sammenhange, das ist, zu sich selber, hat, um des-
des Psychischen, wobei man »nichts für unwichtig to schöner ist sie« (Über die bildende Nachahmung).
halten« soll: »die Ebbe und Flut […], welche den
ganzen Tag über in [der] Seele herrscht, und die
3.4.3.3 | Romantik
Verschiedenheit eines Augenblicks von dem an-
dern«. Man soll ebenso darauf achten, »wie die Der größte Teil frühromantischer Poetologie ist
ersten Keime von den Handlungen des Menschen nicht in Form systematischer Abhandlungen publi-
sich im Innersten seiner Seele entwickeln« wie ziert, sondern in kurzen Fragmenten und Essays,
überhaupt charakterliche »Nuancen bis in die die in Zeitschriften wie dem Lyceum der schönen
kleinsten körperlichen Bewegungen« vermerken. Künste oder dem zwischen 1798 und 1800 von den
Die methodische Frage, die hierbei offen bleibt, ist Brüdern Friedrich und August Wilhelm Schlegel
freilich jene, die sich bei jedem induktiven Vorge- herausgegebenen Athenäum erschienen.
hen stellt: Wie »ein solches Werk jemals vollendet Philosophische Selbstreflexivität: War die
werden« kann, oder anders: Wie man von der un- Selbstreflexivität der Kunst schon in der Klassik
endlichen Fülle an Details überhaupt noch zu ei- mit dem Autonomiepostulat auf die poetologische
ner Überblickserkenntnis kommen kann. Dies ist Tagesordnung gerückt, so gerät sie erst recht zum
die Stelle, an der Moritz in seiner Argumentation zentralen Thema frühromantischer Dichtungsleh-
den Schalter von empiristisch akzentuierter Er- re. Hierbei spielt die kritische, d. h. alle ihre Begrif-
kenntnislehre und Psychologie auf klassizistisch fe vom Verstand her legitimierende, Philosophie
grundierte Ästhetik umlegt: »man muß dies Sys- eine zentrale Rolle, allen voran diejenige Immanu-
tem auch so schwankend, wie möglich nehmen; el Kants und Johann Gottlieb Fichtes. Der zentrale
bloß einige Punkte festsetzen, aber noch nicht von Begriff von Kants Erkenntnislehre lautet ›tran- Kants Erkenntnislehre
einem Punkte zum andern Linien ziehen, sondern szendental‹. Das bedeutet eine Art des philosophi-
nur warten, bis diese Linien gleichsam sich selber schen Denkens, das stets nach den erkenntnisthe-
ziehen« (»Aussichten zu einer Experimentalsee- oretischen Bedingungen der Möglichkeit dessen
lenlehre«). In der Gedankenfigur einer Ganzheit, fragt, womit man theoretisch beschäftigt ist.

295
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

Zur Vertiefung Definition

Philosophische Verhandlung des Selbstbewusstseins Analog zum Konzept der Transzendentalphi-


Im Zentrum von Kants Ansatz steht das – vom empirischen Ich, d.i. dem realen losophie fordert die von Friedrich Schlegel
Bewusstsein von sich selbst, zu unterscheidende – transzendentale Ich, das »Ich propagierte romantische   Transzendental-
denke«, das »alle meine Vorstellungen begleiten können« muss (Kant: Kritik der poesie, dass Literatur nicht einfach nur eine
reinen Vernunft, B 131). Im Hinblick darauf, was näher zu diesem immerhin sys- Fiktion zur Darstellung bringe, sondern
tematisch »höchste[n] Punkt« (ebd., B 134) seiner Erkenntnislehre zu sagen ist, dabei stets über sich und ihren Stellenwert
bleibt Kant indes einsilbig: Das transzendentale »Ich« firmiert bloß als »einfache reflektieren solle.
und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung«. Von einem solchen ›Ich‹
können wir, so Kant weiter, »abgesondert, niemals den mindesten Begriff ha-
ben«, sondern müssen uns »seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen […], um »So wie man aber wenig Wert auf eine Transzendentalphilosophie
irgend etwas von ihm zu urteilen« (ebd., B 404). Anders gesagt: Ein transzenden- legen würde, die nicht kritisch wäre, nicht auch das Produzie-
tales ›Ich‹ muss immer schon vorausgesetzt sein, wenn man überhaupt nach- rende mit dem Produkt darstellte, und im System der transzenden-
denkt. Ausgerechnet der höchste Punkt der kritischen Philosophie, das Prinzip talen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen
der Rationalität, entzieht sich dem Credo kritischen Denkens, demzufolge nichts Denkens enthielte: so sollte wohl auch jene Poesie die in moder-
vorausgesetzt werden soll, was nicht von der Vernunft als dem »letzte[n] Probier- nen Dichtern nicht seltnen transzendentalen Materialien und Vor-
stein der Wahrheit« (Kant: »Was heißt: sich im Denken orientieren«?) durch- übungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit
leuchtet worden ist. der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung […]
Aus diesem Problem erwachsen zwei Formen struktureller Selbstbezüglich- vereinigen, und in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit dar-
keit, eine eher skeptische und eine titanische. Die ›skeptische Variante‹ nimmt stellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein«
es als gegeben hin, dass, wie der Philosoph Karl Wilhelm Ferdinand Solger (Schlegel: »Athenäums-Fragment« 238).
(1780–1819) formuliert, von dem »Höchste[n] […] nur in begrenzter endlicher
Gestaltung« (Solger: »Beurtheilung der Vorlesungen über dramatische Kunst und Ironie: Friedrich Schlegel führt nun die beiden Ty-
Literatur«) die Rede sein kann – denn menschliche Rede ist im Gegensatz zu ei- pen der Selbstreflexivität, die skeptische und die
nem absoluten Prinzip immer endlich und somit limitiert: »Wovon man spricht, titanische, im Konzept der Ironie zusammen. Iro-
das hat man nicht«, pointiert Novalis dieses Problem. Die ›titanische Variante‹ nie ist eigentlich ein Terminus aus der Rhetorik
drängt gleichwohl auf die Selbstbegründung des Ich. Hierfür steht der Name und bedeutet, dass man das Gegenteil dessen
des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814). In seiner in diversen Fas- sagt, was man meint. Diese Aussagestruktur be-
sungen überarbeiteten Wissenschaftslehre unternimmt Fichte den Versuch, Sub- kommt vor dem Hintergrund der idealistischen
jektivität als sich selbst begründend zu denken. Dies führt zu Formulierungen, Subjektphilosophie einen ganz neuen Gehalt.
denen in ihrer paradoxalen Geschraubtheit die Anstrengung des Begriffs anzu- Lässt sich das Ich nämlich als höchster Punkt der
merken ist: kritischen Philosophie nie adäquat zum Ausdruck
bringen, dann muss die Rede vom Absoluten
»Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich
stets so tun, als hätte sie bezeichnet, was sich nie
selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und es setzt sein Seyn, vermöge seines blos-
bezeichnen lässt. Ein Absolutes lässt sich nie in
sen Seyns. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Product der Handlung; das
endlicher Form begreifen, sonst wäre es nicht
Thätige, und das, was durch diese Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung,
mehr absolut: »Ironie« wird mithin für die Ro-
und That sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer
mantiker die »Form« genau dieses »Paradoxen«
Thathandlung […]. Man hört wohl die Frage aufwerfen: was war ich wohl, ehe
(Schlegel: »Lyceums-Fragment«, 48), die »latente
ich zum Selbstbewusstseyn kam? Die natürliche Antwort darauf ist: ich war gar
Sprachhaltung des Endlichen, das vom Unendli-
nicht; denn ich war nicht Ich. Das Ich ist nur insofern, inwiefern es sich seiner
chen reden will« (Gockel 1979, S. 28). Ironisches
bewusst ist« (Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 1794).
Sprechen wird verstanden als »stete[r] Wechsel
In kritischer Anspielung auf Fichtes Formulierung schreibt Friedrich Schlegel: »Es von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«
wäre wohl richtiger zu sagen – DAS ICH SUCHT SICH SELBST, als; es setzt sich (Schlegel: »Athenäums-Fragment« 51), als ein
selbst« (»Über Philosophie«). Subjektivität, die Suche nach dem eigenen Selbst, Wechsel von emphatischer Setzung und deren
wird zu einem Projekt der unendlichen »Sehnsucht«. gleichzeitiger Suspendierung: »Wir müssen«,
schreibt Friedrich Schlegel in seiner Rezension
»Über Goethes Meister« nicht ohne Pathos, »uns
Poetische Selbstreflexivität: Die philosophische über unsre eigne Liebe erheben, und was wir an-
Problematik wird von Friedrich Schlegel auf die beten, in Gedanken vernichten können: sonst
Dichtungslehre übertragen. Er prägt den Begriff fehlt uns, was wir auch für andre Fähigkeiten ha-
der Transzendentalpoesie: ben, der Sinn für das Weltall«.

296
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Poetologie und Ästhetik

Definition Zentrale Werke der Romantik

 Transzendentalphilosophie formuliert Poetik/Ästhetik


nicht bloß Behauptungen über die Welt 1797 Hegel/Schelling/Hölderlin (vermutlich): Ältestes System-
mit einem bestimmten Wahrheitsan- programm des deutschen Idealismus
spruch, sondern fragt stets auch nach den Fr. Schlegel: Rede über die Mythologie
formalen und logischen Voraussetzungen
dafür, dass und inwiefern sich überhaupt Lyrik
Behauptungen aufstellen und Erkenntnisse 1799–1800 Novalis: Hymnen an die Nacht
treffen lassen. Resultat ist die durchgän- 1799–1800 Hölderlin: »Wie wenn am Feiertage …«
gige Selbstbezüglichkeit philosophischen 1800–01 Hölderlin: »Brot und Wein«
Denkens. 1805–08 Brentano/von Arnim: Des Knaben Wunderhorn
1827 Heine: Buch der Lieder
1835/37 Eichendorff: »Mondnacht«
Modernität: Zerstörung ist in der Romantik mithin
kein bloßes Zeichen modernen Zerfalls oder Sub- Prosa
stanzverlusts, sondern einziger Darstellungsmodus 1797 Hölderlin: Hyperion oder Der Eremit von Griechenland
des Absoluten. Modernität wird selbstbewusst als 1799 Fr. Schlegel: Lucinde
krisenbedingter Zuwachs von Reflexivität, als 1804–05 Jean Paul: Flegeljahre
Komplexitätssteigerung verstanden. In diesem 1819/21 E. T.A. Hoffmann: Lebensansichten des Katers Murr
Sinne bestimmt Schlegel in der Abhandlung Ȇber 1826 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts
das Studium der griechischen Poesie« die moderne
Dichtkunst als interessant: »Das Gemüt« vereinigt Märchen
»nur um es [gleich darauf] schmerzlicher wieder 1804 Tieck: Der Runenberg
zu zerreißen«. Dies aber bringe »ein größeres 1812 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen
Quantum von intellektuellem Gehalt oder ästheti-
scher Energie« (ebd.) mit sich. Gedanklicher und
ästhetischer Fortschritt entstehen also laut Schle- Schelling und Hölderlin während ihrer Zeit als
gel dadurch, dass man keinem Gedanken und kei- Theologie-Studenten am Tübinger Stift verfasst
ner ästhetischen Formung letztgültig über den worden ist. Die emphatische Darstellung mündet
Weg traut. in folgender Überlegung:
Essay und Fragment: Vor diesem Hintergrund
erklärt sich die romantische Vorliebe für Darstel- »Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das
lungsformen wie Essay und Fragment: Das Frag- Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun
ment (wörtlich: Bruchstück) sorgt für eine punk- überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle
tuelle, zugespitzte Setzung, die aber eben nur Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und
situative Gültigkeit beansprucht: »Zwischen den Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß
einzelnen Fragmenten herrscht nicht eine Regel eben so viel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Men-
der Ausschließlichkeit, sondern eine Polyphonie schen ohne ästhetischen Sinn sind unsre Buchstaben-Philoso-
von Möglichkeiten; ganz so wie der philosophi- phen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philoso-
sche Essay die verschiedenen Ansichten eines Ge- phie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte
genstandes oder eines Sachverhaltes gleichge- kann man nicht geistreich räsonnieren – ohne ästhetischen Sinn.
wichtig durchspielt« (Kremer 2007, S. 95). Dabei Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen
dominiert ein (sprach-)spielerischer Ansatz. fehlt, die keine Ideen verstehen, – und treuherzig genug geste-
Kunstemphase: Mit der (Selbst-)Erkenntnispro- hen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Re-
blematik geht eine immense Kunstemphase ein- gister hinausgeht. Die Poesie bekömmt dadurch eine höhere
her. Kunst wird zur höchsten und differenziertes- Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehre-
ten Form der Kognition erklärt. Mustergültig rin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Ge-
geschieht dies im sogenannten »Ältesten System- schichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissen-
programm des deutschen Idealismus«, das erst schaften und Künste überleben«.
1912 entdeckt worden ist. Die Autorschaft dieses
kurzen Textes ist noch immer ungeklärt, man geht
aber davon aus, dass er gemeinsam von Hegel,

297
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

3.4.4 | Gattungen keit und Sittlichkeit versöhnt scheinen. Als »Schön-


heit der Bewegung« ist die Anmut mit einem klas-
3.4.4.1 | Drama sizistischen Körperschema verbunden.
Der Kontrapost, d. h. die Ausbalancierung des
Klassische Leitgattung: Schillers ästhetische Über- Körpers mit Stand- und Spielbein, löst die Statik
legungen zielen immer wieder auf das Dramati- vorklassischer Marmorplastiken auf. Solche »Be-
sche als Leitgattung – wie dies auch der antiken wegung« als die »einzige Veränderung, die mit ei-
Gattungshierarchie entspricht. In den Fokus rückt nem Gegenstand vorgehen kann, ohne seine Iden-
dabei die Kategorie der Anmut, in der Sinnlich- tität aufzuheben« (Schiller: »Über Anmut und

Beispiel Goethes Iphigenie und die Griechensehnsucht Als sich in Person von Iphigenies Bruder Orest
Lange galt Goethes Iphigenie auf Tauris als gera- und seinem Gefährten Pylades die Chance bietet,
dezu ideale Verkörperung von Schillers Konzept durch eine List der Insel zu entkommen, wählt
der schönen Seele (zu beachten ist freilich, dass Iphigenie statt strategischer Klugheit den Weg
Schillers Abhandlung aus dem Jahr 1793 stammt, unbedingter Wahrhaftigkeit und Offenheit gegen-
während Goethes Iphigenie in der Prosafassung über dem ›Barbarenkönig‹ Thoas. Sie bewahrt
auf das Jahr 1779, in der wesentlich bekannteren ihre moralische Integrität, riskiert dadurch aber
versifizierten Version auf das Jahr 1786 datiert den Erfolg der Flucht. Doch ist das Drama wirk-
ist). Iphigenie hat es aufgrund eines Fluchs, der lich jenes Paradestück klassischer Humanität, als
auf ihrer Familie – den Tantaliden – lastet, auf die das es lange Zeit firmierte? Immerhin belegte
Insel Tauris verschlagen, wo sie Dienst als Pries- schon Goethe selbst seine Titelheldin mit dem
terin tut und sich nach der Heimat sehnt: Ihre vergifteten Lobpreis, ›ganz verteufelt human‹ zu
Selbstcharakteristik aus dem Eingangsmonolog – sein. Vielleicht ist Iphigenies ethische Gesinnung
»[D]as Land der Griechen mit der Seele su- weniger Ausdruck einer schönen Seele, in der
chend« – steht wie eine Formel für die sentimen- Sinnlichkeit und Sittlichkeit zwanglos zueinan-
talische Griechensehnsucht der Klassik. derfinden, sondern eher Element eines – so
Theodor W. Adorno – »Zivilisationsdram[as]«
(Adorno 2003, S. 499), das insbesondere in der
Auseinandersetzung mit dem ›Barbaren‹ Thoas
nie ganz vergessen lässt, wofür Kultur und Zivili-
sation laut Horkheimers und Adornos Dialektik
der Aufklärung immer auch stehen: nämlich für
all das »Furchtbare[]«, das »die Menschheit sich
[hat] antun müssen, bis das Selbst, der identi-
sche, zweckgerichtete, männliche Charakter des
Menschen geschaffen war« (Adorno/Horkheimer
2003, S. 50). Man kann die Iphigenie also durch-
aus gegen die lange vorherrschende Meinung für
einen Musterfall der »Entzauberung eines schein-
bar so selbstverständlichen Humanitätsbegriffs«
(Greif 2008, S. 117) halten.
›Zu episch‹ und ›zu wenig tragisch‹ lautet indes
Schillers Kritik an der Iphigenie in einem Brief an
Goethe: »Umgekehrt schlägt Ihre Iphigenie offen-
bar in das epische Feld hinüber, sobald man ihr
den strengen Begriff der Tragödie entgegenhält.
[…] Für eine Tragödie ist in der Iphigenie ein zu
ruhiger Gang, ein zu großer Aufenthalt, die Cata-
strophe nicht einmal zu rechnen, welche der Tra-
Anselm Feuerbach: gödie widerspricht.«
»Iphigenie« (1871)

298
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Gattungen

Würde«), betrifft auch ein Konzept von Handlung Den Ausweg aus der mythischen Gewalt, wie
(griech. dran: handeln, tun; drama ist die Substan- sie durch die »mächtige Masse« des Chors darge-
tivierung hiervon), das als »Ausdruck moralischer stellt wird, eine Masse, die »durch ihre ausfüllende
Empfindungen« (ebd.) verstanden wird. Eine so Gegenwart den Sinnen imponiert« (Schiller: »Über
verstandene »Schönheit der Gestalt unter dem Ein- den Gebrauch des Chors«), sieht Schiller aber in
fluß der Freyheit« (ebd.) personifiziert sich in der Struktur des pathetisch Erhabenen.
Schillers Konzept der schönen Seele, bei der sich Im Anschluss an Kants Überlegung aus der Kri-
»das sittliche Gefühl aller Empfindungen […] bis tik der Urteilskraft schreibt Schiller: »gerade der An-
zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die griff auf unsre Sinnlichkeit«, für den das Erhabene
Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf« stehe, sei die »Bedingung« dafür, »diejenige Kraft
(ebd.). Sittliches Handeln soll dabei zu einer des Gemüths aufzuregen, deren Thätigkeit jenes
zweiten Natur werden. Vergnügen an sympathetischem Leiden erzeugt«
Schillers Arbeit an der Antike: Während Goethe (Schiller: »Über die tragische Kunst«). Anders ge-
das Tragische des antiken Dramas als Gestaltungs- sagt: In der Erfahrung des Erhabenen – die Schiller,
prinzip für seine eigenen Bühnenstücke ablehnt, über Kant hinausgehend, nicht bloß in der Natur
weil es aufgrund seiner schicksalhaften Grundie- verortet, sondern auch auf dem Feld der Kunst für
rung den modernen Zuschauer in die passive Rolle möglich hält – wird das Vermögen des Subjekts
bloßer Schaulust dränge (Goethe: »Über epische rege, sich dem vehementen Angriff auf seine Sinn-
und dramatische Dichtung«) statt seine moralische lichkeit zu entziehen. Dieses Vermögen besteht in
Urteilskraft im Rahmen eines von Handlungskon- nichts anderem als der prinzipiellen Möglichkeit
flikten geprägten dramatischen Geschehens zu for- moralischer Selbstbestimmung und damit der Über-
dern, nähert sich Schiller Schritt für Schritt dem windung der Determination durch die Sinne:
Versuch einer Reinszenierung der griechischen
Tragödie an. So ist die Arbeit an der Wallenstein- »Wir erfahren also durch das Gefühl des Erhabenen, daß sich der
Trilogie (1798/99) wie an Maria Stuart (1800/1801) Zustand unsers Geistes nicht nothwendig nach dem Zustand des
von intensivem Studium der aristotelischen Poetik Sinnes richtet, daß die Gesetze der Natur nicht nothwendig auch
begleitet. Im Mittelpunkt steht dabei die organi- die unsrigen sind, und daß wir ein selbständiges Prinzipium in
sche Entwicklung der Handlung auf ihr Ziel hin uns haben, welches von allen sinnlichen Rührungen unabhängig
(Entelechie), wie sie in der musterhaften Tragödie, ist« (Schiller: »Über das Erhabene«).
Sophokles’ König Ödipus, nachzuvollziehen ist.
Auch die Struktur der Dramen des Euripides be- Mit seinem Versuch, per »lyrisch-ekstatisch[er]«
einflusst Schiller bei der Arbeit an Maria Stuart Chorrede »Elementaraffekte« des Tragischen wie
insofern, als auch im antiken Text das tragische »Entsetzen und gewaltige[] Rührung« (Schade-
Geschehen mit der Verurteilung anfängt und die waldt 1991, S. 17; 45), d. h. phobos und eleos, zu
Motivation der Handlungen erst nach und nach reinszenieren, stößt Schiller bei vielen Zeitgenossen
analytisch entwickelt werden. Am radikalsten auf auf Unverständnis. Einem wahrlich »ekelhafte[n]
die antike Tragödie bezogen ist Schillers Braut von Spuk« sieht sich etwa Friedrich Heinrich Jacobi an-
Messina (1803). In vielfacher Hinsicht wird hier an gesichts einer der ersten Aufführungen der Braut
die antike Formensprache angeknüpft: zunächst von Messina ausgeliefert, Clemens Brentano sieht
durch ein spektakuläres Comeback des antiken
Chors, dann aber auch durch die Struktur der Definition
Handlung, die mit einem Inzestmotiv, einem den
Figuren dunkel bleibenden Orakel und durch eine   Das Erhabene ist eine schon in der Antike geläufige Komplementär-
an Sophokles’ König Ödipus erinnernde Reihe von kategorie zum Schönen. Erhaben ist ein Gegenstand bzw. eine Art der
Wiedererkennungen, mit welchen der dramatische Darstellung, die von Größe oder sogar Heiligkeit geprägt sind. Ehr-
Konflikt aufgelöst wird. furcht oder Schrecken sind damit ebenso verbunden wie ein Gefühl von
Schiller markiert in der Abhandlung Ȇber die Unbegreifbarkeit bzw. Unermesslichkeit. Bei Kant ist die Erfahrung des
tragische Kunst« allerdings auch die Kluft, die das Erhabenen als eines bedrohlich Formlosen ein Hinweis auf die Ideen
moderne Empfinden von der Antike trennt. Denn der Vernunft (Seele, Welt, Gott), »welche, obgleich keine ihnen ange-
»eine blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal«, messene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit,
wie sie in antiken Tragödien begegne, sei »immer welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüt geru-
demüthigend und kränkend für freye sich selbst fen werden« (Kritik der Urteilskraft).
bestimmende Wesen«.

299
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

sich mit einem »erbärmliche[n] Mach- dass »das Absolutum der ästhetischen Fiktion von
werk« konfrontiert, »langweilig, bisarr innen her porös« (Simon 2000, S. 261) wird.
[sic] und lächerlich durch und durch«,
und für Johann Gottfried Seume gel-
3.4.4.2 | Exkurs: Der Grenzgänger Heinrich
ten die Chorpartien als das Schlech-
von Kleist
teste, was Schiller jemals geschrieben
habe. Wenig Anerkennung unter den Zeitgenossen findet
Ludwig Tiecks Dramen: Gemäß auch die Antiken-Adaptation, die Heinrich von
Friedrich Schlegels Diktum »Die Iro- Kleist mit seiner Tragödie Penthesilea unternimmt.
nie ist eine permanente Parekbase« Kleist (1777–1811), der sich gewöhnlichen Rubri-
(»Zur Philosophie«) lässt sich auch zierungen der Literaturgeschichtsschreibung ent-
Ludwig Tiecks frühes Theater begrei- zieht, ist in der Entschiedenheit seines Antikenbe-
fen. Denn Tieck kehrt das gewöhn- zugs ein Klassiker, in formaler Hinsicht allerdings
liche Verhältnis zwischen kontinuier- von klassischen Stil- und Humanitätsvorstellungen
lichem Spielgeschehen und eher denkbar weit entfernt. Das Trauerspiel Penthesilea,
punktuellen Illusionsdurchbrechun- das an ein antikes Theater der Grausamkeit wie
gen geradezu um: »[D]er einen Haupt- Euripides’ Bacchen anschließt, entwirft ein ganz
komponente, nämlich dem Spiel der und gar nicht von humaner Gesinnung geprägtes,
Bühne mit sich selber werden Teil- sondern von Spannungen durchzogenes Antiken-
handlungen, Situationen und Mo- bild. Höhepunkt des Dramas ist die Szene, in der
mente des Spielgeschehens beigesellt Penthesilea ihren Geliebten Achill auffrisst. »Auf
oder untergeordnet, deren Bedeutung den Knien meines Herzens« übereignet Kleist ein
Tieck: Der gestiefelte nur darin zu liegen scheint, dem Spiel mit dem Manuskript der Penthesilea dem verehrten Goethe;
Kater (1797) Spiel neue Anlässe zu schaffen« (Strohschneider- dieser aber zeigt sich kühl, verständnislos, bewege
Kohrs 1960, S. 290) – so etwa in der Komödie Der sich das Stück doch für sein Empfinden in allzu
gestiefelte Kater (1797), in der es ein Publikum auf ›fremden Regionen‹.
der Bühne gibt, das sich über die Darbietungen auf Auch Kleists Komödien lassen sich als kriti-
der Bühne mokiert, ebenso wie die Schauspieler scher Kommentar zum Klassizismus lesen: So
des Spiels im Spiel – sehr zum Verdruss des fiktiven stößt man im Zerbrochnen Krug auf eine Hand-
Autors, der ebenfalls Teil der Bühnenhandlung ist. lungsstruktur, die Sophokles’ Ödipusdrama nach-
Die Illusion des komischen Märchens vom gestie- empfunden ist: Der Schuldige sitzt über sich selbst
felten Kater, das von dem ganzen Drumherum fast zu Gericht. Freilich ist sich Kleists Dorfrichter
an den Rand gedrängt wird, wird ebenfalls ein um Adam seiner Schuld im Unterschied zu Ödipus von
das andere Mal durchbrochen, etwa in einem Dia- Beginn an nur zu gut bewusst.
logstück, zwischen dem König und Nathanael, das Ein eindrucksvolles Beispiel, wie die frühro-
selbstreferentiell die Unwahrscheinlichkeit der ge- mantische Identitäts- und Subjektproblematik
rade erfolgenden Kommunikation betont: in ein Komödienthema umgesetzt wird, findet sich
in Kleists Lustspiel Amphitryon, einer Doppelgän-
»König: Aber noch eins, sagen Sie mir nur, da Sie so weit weg gerkomödie, in welcher der Gott Jupiter in die Per-
wohnen, wie Sie unsre Sprache so geläufig sprechen können? son des Feldherren Amphitryon schlüpft (zum
Nathanael: Still! Zweck einer Liebesaffäre mit dessen Ehefrau Alk-
König: Wie? mene) und sein Diener Merkur die Gestalt von
Nathanael: Still! Still! Amphitryons Untergebenem Sosias annimmt, was
König: Ich versteh nicht. Ausgangspunkt höchst komischer (manchmal
Nathanael LEISE ZU IHM: Sein Sie doch ja damit ruhig, denn sonst auch am Rand des Tragischen balancierender) Ver-
merkt es ja am Ende das Publikum da unten, daß das eben sehr wechslungen ist, so etwa bei der ersten Begegnung
unnatürlich ist«. (I/2) von Sosias und Merkur:

Wenn eine literarische Figur auf solche Weise selbst MERKUR vertritt ihm den Weg: Halt dort! Wer geht dort?
markiert, dass sie eine literarische Figur ist, wenn SOSIAS: Ich.
›fiktionale Welt‹ (Diegese) und die Realität der Büh- MERKUR: Was für ein Ich?
nenwirklichkeit nicht mehr klar zu trennen sind, SOSIAS: Meins mit Verlaub. Und meines, denk ich, geht
dann besteht das Resultat in nichts anderem, als Hier unverzollt gleich andern […] (I/2).

300
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Gattungen

Nachdem er einiges an Prügel einstecken musste, tung der Poesie […] von weiterem Umfange, als
gibt sich Sosias geschlagen und ist bereit, sich für der Roman« (Briefe zur Beförderung der Humani-
»entsosiatisiert« (III/10) zu erklären: tät, Brief 99). Goethe schreibt am 9.7.1796 wäh-
rend der Arbeit an Wilhelm Meisters Lehrjahren an
SOSIAS: Ich sehe, alter Freund, nunmehr, daß du Schiller von seinem »realistischen Tic«, der aller-
Die ganze Portion Sosias bist, dings bewirke, dass er sich mehr und mehr im
Die man auf dieser Erde brauchen kann. Kampf mit der millionenfachen »Hydra der Empi-
Ein mehreres scheint überflüssig mir. rie« (16.8.1797) aufreibe. Genau aus diesem Grund
Fern sei mir, den Zudringlichen zu spielen, hatte Schiller in Über naive und sentimentalische
Und gern tret ich vor dir zurück. Nur habe die Dichtung dem Roman überhaupt unterstellt, er
Gefälligkeit für mich, und sage mir, könne mittels seiner Darstellungsweise den Daten-
Da ich Sosias nicht bin, w e r ich bin? fluten formal nicht Herr werden, in ihm dominiere
Denn e t w a s, gibst du zu, muß ich doch sein (I/2). die »Materialität des Inhalts« in »rohe[r] Ungebun-
denheit«, ja der Romanautor sei bloß noch ein
Sein Herr Amphitryon ist allerdings nicht bereit, »Halbbruder« des Dichters.
solch identitätskritische Rede zu akzeptieren, die Bildungsroman: Ein wirkungsreiches Mittel ge-
man, wie Sosias scharfsichtig – aus seiner Rolle als gen die romanhafte Überfülle des Dargestellten
antike Dienerfigur heraustretend – bemerkt, eher formuliert die Romanpoetik des Spätaufklärers
einem idealistischen Philosophen (wie z. B. Fich- Friedrich von Blanckenburg. Dieser fordert in sei-
te) als einem einfachen Diener zugesteht: nem Versuch über den Roman (1774), ein Roman
habe die »Vervollkommung« [sic] sowohl des Indi-
AMPHITRYON: Schweig. Was ermüd ich mein Gehirn? Ich bin viduums als auch der Gattung Mensch überhaupt
Verrückt selbst, solchen Wischwasch anzuhören. zum Ziel, und zwar sowohl mit Blick auf das Dar-
Unnützes, marklos-albernes Gewäsch, gestellte als auch bewirkt durch dessen Rezeption:
In dem kein Menschensinn ist, und Verstand. Folg mir. Nicht nur die Figuren der erzählten Welt sind auf
SOSIAS für sich: So ists. Weil es aus meinem Munde kommt, einen Weg der Vervollkommnung zu schicken,
Ists albern Zeug, nicht wert, daß man es höre. sondern auch der Leser soll durch seine Lektüre
Doch hätte sich ein Großer selbst zerwalkt, gebessert werden. Als Bildungsgeschichte sucht
So würde man Mirakel schreien (II/1). auch Goethe die Geschichte des Kaufmannssohns
Wilhelm Meister zu gestalten, der zunächst seiner
Dass Sosias aus seiner Rolle in der (antik-mythi- Theaterleidenschaft nachgeht, um dann nach und
schen) fiktionalen Welt heraustreten und einen nach, angeleitet durch eine adelige Geheimgesell-
süffisanten Kommentar über die Redeweise von schaft, vermeintlich seinen Platz als nützliches
Philosophen abgeben kann, nennt man dramen- Mitglied der Gesellschaft zu finden. Wilhelm Meis-
technisch Parekbase (wörtlich: Danebentreten, ters Lehrjahre sind als das angelegt, was Hegel un-
d.i. wenn der Chor aus der Tragödienhandlung he- ter Aufnahme einer Formulierung von Johann Karl
raustritt und das Spiel als solches kommentiert). Wezel (s. Kap. III.4.2.2.2) in seinen Vorlesungen
Ein solches Spiel im oder mit dem Spiel ist als über die Ästhetik die »bürgerliche[] Epopöe« nennt,
Technik des Illusionsbruchs, als ›Aus-der-Rolle- eine Geschichte, in deren Rahmen »sich das Sub-
Fallen‹, oft in komischen Kontexten vorzufinden – jekt«, so Hegels griffige Formulierung, »die Hörner
und zwar bereits seit der Antike, so bei Aristopha- abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in
nes, dann in der Commedia dell’arte oder bei die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftig-
Shakespeare. keit derselben hineinbildet«. Kanonisch wird der
Begriff des Bildungsromans freilich erst im Nach-
hinein (ebenso wie das Label ›Klassik‹), nämlich
3.4.4.3 | Erzählende Dichtung
im Jahr 1820 durch den Literaturhistoriker Karl
Roman: Ab der Mitte des 18. Jh.s beginnt der Sie- Morgenstern. Dieser legt fest, dass Bildungsroma-
geszug der Gattung Roman. Als ›niedere Gattung‹ ne nicht nur den Bildungsgang des Helden dar-
war dieser seit der Antike von poetologischen stellten, sondern auch die Bildung des Lesepubli-
Grundlegungen eher ausgeklammert worden. Nun kums förderten (Morgenstern 1820).
aber wird der Roman zum Leitgenre einer in im- Kritik am Konzept des Bildungsromans: Die For-
mer höherem Maß der Wirklichkeit, der Empirie, schung hat das Konzept zielgerichteter Entfaltung
zugewandten Literatur. Laut Herder ist »keine Gat- des Hauptcharakters im Bildungsroman allerdings

301
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

in vielfacher Hinsicht in Frage gestellt. So sieht Da- Definition


vid Wellbery in Goethes heterogenem Roman »eine
Tendenz zur Durchkreuzung der eigenen Thesen«   Metalepse oder auch mise en abyme
(Wellbery 2006, S. 89), und der Philosoph Karl (wörtlich: in den Abgrund geschickt) nennt
Schlechta hat die Lehrjahre – nicht nur mit Blick man in der Erzähltheorie eine unendliche
auf die psychische Zurichtung der Hauptfigur, son- Selbstbezüglichkeit (vgl. Genette 1994,
dern vor allem auch auf weibliche Nebenfiguren S. 167 ff.). Die mise en abyme ist eine Figura-
wie Mignon oder Philine, die nicht ins Bildungsro- tion, welche die romantische Forderung an
man-Konzept passen – gar einen Zerstörungsro- die Kunst zum Ausdruck bringt, die »Refle-
man genannt (Schlechta 1985). xion« sei »immer wieder [zu] potenzieren
Romantischer Roman: Für die Frühromantiker und wie in einer endlosen Reihe von Spie-
wird der Roman als die zum einen am wenigsten geln [zu] vervielfachen« (Schlegel: »Athenä-
regulierte, zum anderen die Integration mannigfal- ums-Fragment« 116).
tigster Formen gestattende Gattung zum zentralen
Ausdruck romantischer Universalpoesie: »Ein
Roman ist ein romantisches Buch«, formuliert die Künstlerroman: Heinrich von Ofterdingen oder
Figur Antonio in Schlegels Gespräch über die Poe- auch Ludwig Tiecks Roman Franz Sternbalds Wan-
sie: »Ja ich kann mir einen Roman kaum anders derungen (1798) sind als Künstlerromane Kon-
denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und trafakturen zu Goethes Lehrjahren, die in den Au-
andern Formen«. Nicht selten trifft man dabei auf gen der Romantiker letztlich allzu prosaisch sind,
Verwirrspiele um Fiktionsbruch und Autorfunkti- der Poesie und den Künsten zu skeptisch gegen-
on, wie sie sich in Clemens Brentanos Godwi oder überstehen. Eine ironische Bildungsroman-Kon-
Das steinerne Bildnis der Mutter (1801) finden. So trafaktur stellen auch E. T.A. Hoffmanns Lebens-
kann Godwi im zweiten Band dieses – so der Un- Ansichten des Katers Murr (1819/21) dar. Mit Die
tertitel – verwilderten Romans auf die Druckfas- Elixiere des Teufels (1815/16) legt Hoffmann ferner
sung des ersten Teils Bezug nehmen: »Dies ist der einen an der gothic novel orientierten Schauerro-
Teich, in den ich Seite 266 im ersten Bande falle.« man vor.
(Bd. II, Kap. 18). Nicht minder effektvoll ist die Spätromantischer Roman: Ein Roman wie
Form der Selbstbezüglichkeit in Novalis’ Roman Achim von Arnims Armut, Reichtum, Schuld und
Heinrich von Ofterdingen (1802). Dort trifft die Buße der Gräfin Dolores (1810), für den Goethe der
Hauptfigur auf einen Einsiedler, auf dessen Bü- despektierliche Vergleich mit einem Fass eingefal-
cherpult ein Buch liegt, in dem sich der Held zu len ist, »das überall ausläuft, weil der Böttcher ver-
seinem Erstaunen selbst entdeckt: gessen hat, die Reifen festzuschlagen« (zit. n. Her-
wig 1969, S. 799), entwirft im Stil des verwilderten
»Endlich fiel ihm ein Buch in die Hände, das in einer fremden Romans ein polyphones Stimmen- und Diskursge-
Sprache geschrieben war, die ihm einige Ähnlichkeit mit der latei- flecht, in dem die gefühlsaufgeladenen Topoi der
nischen und italienischen zu haben schien. Er hätte sehnlichst Romantik – wie Subjektivität, Natur und insbeson-
gewünscht, die Sprache zu kennen, denn das Buch gefiel ihm vor- dere Liebe – mehr und mehr in einen bloß noch
züglich, ohne daß er eine Silbe davon verstand. Es hatte keinen zitierten Katalog enzyklopädischer Versatzstücke
Titel, doch fand er noch beim Suchen einige Bilder. Sie dünkten überführt werden: Die romantische Poetik verliert
ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah, entdeckte ihre Emphase und wird mehr und mehr in erzäh-
er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren. Er lerische Routinen überführt – dies ist neben der
erschrak und glaubte zu träumen, aber beim wiederholten Ansehn ›Katholisierung‹ die wichtigste Entwicklungsten-
konnte er nicht mehr an der vollkommenen Ähnlichkeit zweifeln. denz spätromantischer Prosa.
Er traute kaum seinen Sinnen, als er bald auf einem Bilde die Versepos: In der Antike ist das Versepos die do-
Höhle, den Einsiedler, und den Alten neben sich entdeckte« minierende Großform des Erzählens – bekannteste
(Kap. 5). Beispiele sind Homers Odyssee oder seine Dich-
tung über den trojanischen Krieg, die Ilias (ca.
Dieses Szenario ist tendenziell unendlich: Hein- 7. Jh. v. Chr.). Epen hält man – wie Hegel in seiner
rich sieht sich auf einem Bild in einem Buch, wie Ästhetik schreibt – für die genuine Darstellungs-
er ein Buch in der Hand hält, auf dem ein Bild ist, form der »objektive[n] Lebenswirklichkeit eines
auf dem er selbst ein Buch in der Hand hält usw. – Volksgeistes«, der in seinem Bestehen ›von oben‹,
eine Figuration, die man als Metalepse bezeichnet. d. h. von einem göttlichen Sinnzentrum, garantiert

302
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Gattungen

wird. Mit dem klassizistischen, in Hexametern ver- chen erörtert. Bei genauerer Betrachtung fällt je-
fassten Versepos Hermann und Dorothea (1797) doch auf, dass die Thematik der Novellen sich Goethe: Hermann
vollzieht Goethe im Anschluss an den formal ge- um die Schnittstelle »Liebe und Ökonomie« dreht, und Dorothea
wagten Wilhelm Meister also eine »formalästhe- mithin um die »doppelte[] (widersprüchliche[])
tisch-restaurative[] Wende« (Dörr 2007, S. 168). Geprägtheit bürgerlicher Selbsterfahrung durch
Die Handlung des Epos spielt zur Zeit der Koaliti- liebendes Sich-Schenken einerseits, ökonomische
onskriege gegen Frankreich (ungefähr im August Tausch-Strukturen andererseits« (Neumann 1984,
1796). Die beiden Protagonisten Hermann und Do- S. 448, 455). Eine berühmte Novelle ist auch Jo-
rothea, die in einer rechtsrheinischen Kleinstadt seph von Eichendorffs spätromantische Aus dem
wohnen, kümmern sich um durchziehende Flücht- Leben eines Taugenichts (1826), die mit ihrer Ge-
linge. In Schlaglichtern werden immer wieder Hal- genüberstellung von romantischer Künstlerexis-
tungen einzelner Figuren zur Französischen Re- tenz und bürgerlichem Philistertum nicht nur bis
volution dargestellt. Gegen die verunsichernden heute sinnbildlichen Charakter für das Romanti-
politischen Großereignisse wird die Privatsphäre sche überhaupt gewonnen hat, sondern in ihrer
als Hort moralischer Werte in Szene gesetzt, wobei Versatzstückhaftigkeit auch ein gutes Beispiel für
das Geschehen immer wieder von komödianti- spätromantische Erzähltechniken ist.
schen Passagen durchzogen ist. Nicht zuletzt des- Romantisches Kunstmärchen: Als Beispiel da-
halb gilt Hermann und Dorothea, der stets einer für kann Der blonde Eckbert (1797) von Ludwig
von Goethes erfolgreichsten und meistgelesenen Tieck (1773–1853) gelten, dem literarischen Wun-
Texten gewesen ist, als gelungene Synthese von derkind der Frühromantik. Schon mit zehn Jah-
Klassizität und Volkstümlichkeit. ren, so heißt es, kann er Goethes Götz von Berli-
Novelle: Mit Goethes Unterhaltungen deutscher chingen auswendig. Zweien seiner Lehrer, die ihr
Ausgewanderten (1795) und Friedrich Schillers Gehalt mit dem Verfassen von reißerischen Unter-
Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte haltungsromanen aufbessern, arbeitet Tieck als
(1786) begegnen modellhaft zwei Varianten novel- halbwüchsiger Schüler zu und ist bald für die ef-
listischen Schreibens. Schillers Text, den er 1792 fektvolle Gestaltung der Romanenden zuständig.
mit dem neuen Titel Der Verbrecher aus verlorener Früh übt er sich dadurch darin, aus literarischen
Ehre versieht, ist eine Kriminalnovelle, die ihren Versatzstücken neue Literatur zu machen. So fin-
Stoff im Bereich der – von Karl Philipp Moritz den sich neben Reminiszenzen an das europäi-
propagierten – Erfahrungsseelenkunde findet. Die sche Volksmärchen auch Elemente des trivialen
»Seelenlehre« liefert in den Augen Schillers nichts Schauerromans im Blonden Eckbert, und der Text
anderes als »Sektionsberichte des Lasters«. Mit reflektiert durchweg seinen künstlich ›gemachten‹
dem nüchternen Blick des Naturwissenschaftlers Status. In der von Beginn an durch eine unheim-
schickt Schiller sich an, die abgründige Region der liche Atmosphäre mit Regen, Nacht und Nebel
Seele systematisch zu kartographieren. In der Sa- gekennzeichneten Handlung sind die märchen-
che agiert die Novelle einen Konflikt der Diskurse typisch wunderbaren Ereignisse ferner keine
aus: Es geht um »Aporien bürgerlicher Identifikati- Selbstverständlichkeit mehr, sondern geraten in
on« (Neumann 1984, S. 439), wie etwa diejenige, einen Konflikt mit der psychologischen Ausstat-
dass rechtliche Institutionen dem Individuum zum tung der Figuren. Das Ende der Handlung ist mit-
Ende des 18. Jh.s zwar eine ungeahnte Sicherheit hin auch alles andere als märchenhaft glücklich,
und Festigkeit vermitteln, dass das Individuum da- sondern wird dominiert durch Verrat, Mord und
bei aber zugleich in immer subtiler zugreifende Wahnsinn.
Normierungszusammenhänge gerät. Phantastik: Einer der wichtigsten Erzähler der
Die sechs Novellen von Goethes Unterhaltun- hochromantischen Phantastik ist E. T.A. Hoff-
gen deutscher Ausgewanderten sind gemäß dem mann (1776–1822). Die Erzählungen und Romane
Gattungsvorbild von Boccaccios Decamerone von des Multitalents Hoffmann, der als Jurist, aber
einer Rahmenhandlung umgeben, die im Sommer auch als Komponist, Kapellmeister und Musikkriti-
1793 spielt, als französische Revolutionsarmeen ker tätig war, sind von vielfältigen Bezügen zur
auf deutsches Territorium gelangt sind. Eine Grup- zeitgenössischen Naturwissenschaft geprägt: So
pe von Flüchtlingen, die sich auf einem Landgut finden sich etwa Phänomene der Visualität und
befindet, sucht sich einerseits durch Erzählungen, Optik – in psychologischer Brechung – ein um das
die sich alle um die Liebe drehen, abzulenken, andere Mal in Hoffmanns Texten. Hoffmanns erste
andererseits wird die politische Lage in Gesprä- Buchveröffentlichung, die Fantasiestücke in Cal-

303
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

lots Manier (1814/15), führt den Namen des Kup- aus Rom verfasst und die zunächst unter dem Titel
ferstechers Jacques Callot im Titel, dessen Stiche Erotica Romana kursieren. Im Rückgriff auf antik-
von manieristischen, grotesken und phantasti- römische Autoren wie Catull, Properz, Tibull oder
schen Hybridbildungen geprägt sind. Damit Ovid verleiht Goethe dem eher reflektierend-zu-
wird das Prinzip eines Erzählens markiert, in rückgenommen, oft auch melancholischen Ele-
dem mit höchster ästhetisch-medientheoreti- gienton eine erotisch-sinnliche Akzentuierung. So
scher Aufmerksamkeit schauerlich-schreckliche führt die berühmte fünfte Elegie mit Anklängen an
Motive mit einer einlässlichen Thematisierung Winckelmanns sinnlich aufgeheizte und Herders
der dunklen Seite der menschlichen Psyche ver- geradezu ›tätschelnde‹ Kunstbeschreibungen vor,
bunden werden – so etwa in der berühmten Erzäh- dass das Erlebnis der antiken Kunstschätze Roms
lung »Der Sandmann« aus den Nachtstücken überhaupt erst durch erotische Stimulierung in an-
(1816/17), die nicht umsonst auch Sigmund Freud gemessener Form gelinge:
zu einer ausführlichen Lektüre herausgefordert
hat (»Das Unheimliche«). Auch dem Phänomen Froh empfind ich mich nun auf klassischem Boden begeistert,
der Schrift gilt immer wieder das Augenmerk von Vor- und Mitwelt spricht lauter und reizender mir.
Hoffmanns Prosa (etwa in dem Kunstmärchen Der Hier befolg ich den Rat, durchblättre die Werke der Alten
goldene Topf, 1814), und zwar sowohl mit hoher Mit geschäftiger Hand, täglich mit neuem Genuß.
Sensibilität für zeitgenössische Mediendiskurse Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt;
wie für die Selbstreferenz der Literatur (Oesterle Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt beglückt.
1991). Als Umdeutung einer »Dichtung als Soziali- Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens
sationsspiel« (Kaiser/Kittler 1978) interpretiert Da- Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab?
vid Wellbery Hoffmanns karnevaleskes Capriccio Dann versteh ich den Marmor erst recht: ich denk und vergleiche,
Prinzessin Brambilla (1820), das nichts anderes in Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand.
Szene setze als jene Sphäre der Liminalität, d.i.
jenen Übergangsbereich der Verunsicherung und Geradezu als Skandal wurde von den Zeitgenossen
Verwirrung, der im Rahmen der Initiation zu die gleich anschließende Skandierung des Hexa-
durchlaufen ist, den Hoffmanns Text jedoch beina- meters auf einen nackten Frauenrücken aufge-
he auf unendlich stellt (Wellbery 2006). fasst:

Raubt die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages,
3.4.4.4 | Lyrik
Gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin.
Die Lyrik der Klassik rekurriert zum einen auf an- Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen,
tike Formen und überführt Konventionen grie- Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.
chisch-römischer Metrik ins Deutsche, zum ande- Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet
ren gehören mit den Balladen auch populäre Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand
Darstellungsweisen zu den favorisierten Darstel- Ihr auf den Rücken gezählt […]
lungsweisen.
Distichon und Elegie: Es war Friedrich Gottlieb Lehrdichtung: Ebenfalls eine Reminiszenz an die
Klopstock (1724–1803), der mit seinem Versepos Antike stellt die Lehrdichtung dar, die sich durch
Der Messias unter großem Aufsehen den griechi- eine Poetisierung des kulturellen Wissensspek-
schen Hexameter und mit der gleichnamigen Ele- trums auszeichnet. Eine solche Art der Dichtung
gie (beide 1748) das antike Distichon (Hexameter war in der Antike geläufig – etwa in Form von Lu-
und Pentameter) in die deutsche Literatursprache krez’ De rerum natura (1. Jh. n. Chr.). Entsprechend
transferiert und dieser dadurch eine Fülle neuer mischt sich Goethe mit dem Gedicht »Die Meta-
metrischer und rhythmischer Möglichkeiten er- morphose der Pflanzen« (1798) in den botanischen
schlossen hatte. Hieran knüpft die klassische Lyrik Diskurs seiner Zeit ein und kritisiert die systemati-
an. Neben der Elegie finden sich Formen der sche Naturzergliederung nach Linné’schem Vor-
Spruchdichtung in Distichen wie das Epigramm bild (vergleichbar der Stoßrichtung seiner Kritik
oder das Xenion – Goethe und Schiller verfassen an Newtons Optik in der Farbenlehre). Friedrich
eine große Anzahl von Xenien, in denen sie vor- Schillers Lehrgedicht »Der Spaziergang« (1795)
wiegend gegen den Kulturbetrieb ihrer Zeit pole- (der Form nach eine Elegie) lässt das lyrische Ich
Klopstock: Der Messias misieren. Als besonders spektakulär gelten jene zunächst der Enge der Zivilisation in die Natur ent-
(Titelkupfer) Elegien, die Goethe kurz nach seiner Rückkehr fliehen, entwirft dann aber ein Panorama mensch-

304
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Gattungen

licher Kultivierung bzw. Naturzurichtung und kriti- langt dabei die Gattung der Ballade, eine populär-
siert die ausbeuterischen und entfremdenden erzählende lyrische Form, deren eher nordische
Tendenzen der Zivilisation. Sujets häufig von Schauerlichem geprägt sind:
Der Grenzgänger Friedrich Hölderlin: Die viel- Nebel, Geistern und Gespenstern. Friedrich Schil-
leicht eindrucksvollste lyrische Stimme um 1800 ler ist anfangs ganz und gar nicht überzeugt von
ist diejenige Friedrich Hölderlins, eines Autors, der einem solchen Dichtungsverständnis. Aus Anlass
sich der eindeutigen Zuordnung zu Klassik oder einer Gesamtausgabe der Gedichte Gottfried Au-
Romantik entzieht und der ein ähnlicher Solitär ist gust Bürgers, der mit seiner »Lenore« (1773)
wie Heinrich von Kleist. Als (mutmaßlicher) Co- gleichsam den Startschuss für die Balladenbegeis-
Autor des Ältesten Systemprogramms (s. S. 297) ein terung gegeben hatte, mahnt Schiller mit dem
eher romantischer Kunsttheoretiker, bereichert er strengen Gestus des Klassizisten »Idealisierung«
als Dichter in klassisch-gräzisierender Manier und »Veredlung« als zentrale Aufgaben des Dich-
die Lyrik seiner Zeit um Elegien (etwa »Brot und ters an. Anders ist der Ton der Klassiker im Jahr
Wein«) und (alkäische und asklepiadeische) Oden. 1797, das von der Literaturgeschichte als ›Bal-
Besonders die späten Hymnen, die erst 1916 he- ladenjahr‹ tituliert wird. Goethe und Schiller ent-
rausgegeben wurden, machen Hölderlin, der zu- decken die Ballade nun ebenso als Stimulans des
vor eher als »stille[r] und feine[r] Nebenpoet[…] öffentlichen Interesses für Literatur wie als poe-
mit rührender vita« (Adorno 2003, S. 447) wahrge- tisches Experimentierfeld. Goethe begreift die
nommen wurde, zur Kultfigur einer ästhetisch- Ballade als alle Grundformen des Literarischen
utopistischen Moderne, der es um die Vermittlung umfassendes Genre, als ›Ur-Ey‹, das Lyrisches mit
des Absoluten mit konkreten gesellschaftlichen Dramatischem und Erzählerischem auf engstem
Lebensformen geht. Als antikes Vorbild für die Raum vereinigt. In seinen Balladen mixt Goethe
freien Rhythmen und den Strophenbau später dann auch unterschiedlichste, antike und frühneu-
Hymnen, wie etwa »Wie wenn am Feiertage«, war zeitliche wie apokryphe Quellen (meist religiöse
lange der griechische Lyriker Pindar genannt wor- Quellen, deren Autoren nicht sicher bekannt sind)
den, der für Platon, Horaz und Quintilian als der und legt beispielsweise mit der »Braut von Ko-
Höchste unter den Dichtern galt. Diese Einseitig- rinth« (1797) einen regelrechten Skandaltext vor,
keit könnte jedoch dazu verführen, die preisende der antichristliche, nekrophile und vampiristische
Orientierung an Siegern und großen Taten überzu- Momente miteinander vereint. Friedrich Schillers
betonen. Hiergegen hat die neuere Forschung auch Balladen sind durchweg stärker von einem morali-
die antike Dichterin Sappho als wichtigen Einfluss sierenden Ton geprägt und gehören zu den meist-
insbesondere für Hölderlins späte Dichtung be- parodierten Texten der Literaturgeschichte.
nannt. Dass bei dieser erotische Obsessionen, Er- Romanische und Altdeutsche Gedicht- und Vers-
fahrungen bis zum Wahn schmerzhafter Trennun- formen: Gegen den antikisierenden Gestus der
gen oder des Alterns dargestellt werden, zudem Klassik wendet sich die romantische Lyrik in dop-
eine »scheinbar unmögliche […] Position einer pelter Hinsicht: erstens mit einem erneuten Enga-
weiblichen Autorität« ausgezeichnet wird (Men- gement für romanische Gedicht- und Versformen
ninghaus 2005, S. 9, 34), lässt Hölderlin nur »umso (insbesondere Sonett, aber auch Stanze, Terzine,
aktueller für den modernen Raum lyrischen Spre- Kanzone, Madrigale, Glosse; s. Kap. III.4.3.2.5).
chens« (ebd., S. 9) erscheinen. Hölderlin markiert Die Romanze mit ihren ritterlichen Liebesge-
auf diese Weise eine eigenständige Position im schichten gilt als ›südlicher‹ Gegenpart zur nordi-
klassizistischen Schönheitsdiskurs. Zwar traut schen Ballade – Clemens Brentanos Romanzen
Hölderlins feierlicher Hymnengesang in fast pries- vom Rosenkranz (1804–1812, publiziert erst 1852)
terlicher Weise dem Schönen noch einmal die oder Heinrich Heines später Romanzero (1851)
ganze Bandbreite »erkenntnistheoretische[r], mo- sind bekannte Sammlungen. Zweitens treten die
ralisch-soziale[r]« sowie »religiöse[r] Vermittlungs- Romantiker für die sogenannte altdeutsche Litera-
und Versöhnungsfunktion« zu; eine solche Ver- tur ein: das Volkslied. Hölderlin: Hyperion (1797)
mittlung wird aber bei Hölderlin nie losgelöst von Volkslied: Das Spiel mit den romanischen For-
»einer Erfahrung von Armut, Mangel und Verlust« men hat durchweg intertextuellen Status, stellt
(ebd, S. 63) gedacht. nichts anderes dar als »Lyrik über Lyrik« (Kluss-
Ballade: Die 1770er Jahre sind geprägt von ei- mann 1984, S. 348.). Dies gilt erstaunlicherweise
nem wachsenden Interesse für volkstümliche auch für den Volksliedton. Mit ihrem Engagement
Dichtungsformen. Besondere Aufmerksamkeit er- für das Volkslied knüpfen die Romantiker an Jo-

305
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

hann Gottfried Herder an, der das beitung der Quellen, auf simulierter Oralität: Er
Volksliedhafte als »Muttersprache ist ein Kunstton oder, mit Schiller gesagt: senti-
des Menschengeschlechts« bezeich- mentalisch.
net hatte: »Es ist wohl nicht zu zwei- Romantische Klangexperimente: Wenn Lyrik
feln«, schreibt Herder in seiner Samm- »[e]instmals« als »Medium des Ausdrucks über-
lung von Volksliedern (1778/79), »daß wältigender Gefühle [galt], das […] den innersten
Poesie und insonderheit Lied im An- Gefühlen eines einzelnen Ich konkreten Ausdruck
fang ganz volksartig d.i. einfach, aus verleiht«, so besteht der Übergang zu einem mo-
Gegenständen und in der Sprache der dernen Verständnis von Lyrik darin, Gedichte nun
Menge, so wie der reichen und für »weniger als Ausdruck der Gefühle eines Dichters
alle fühlbaren Natur gewesen« sind. anzusehen, sondern als eine über Assoziation und
Suggeriert wird dabei eine Ursprüng- Imagination geleistete Arbeit an der Sprache – als
lichkeit – als seien die Volkslieder ein Experimentieren mit sprachlichen Verknüpfun-
»aus den Kehlen der ältesten Mütter- gen und Formulierungen […]« (Culler 2002,
chen aufgehascht«, wie Goethe an S. 108). Ein solcher Vorgang lässt sich, deutlicher
Herder schreibt. Das Gros der Texte noch als in Eichendorffs »Mondnacht«, in der
aus Brentanos und Arnims berühmter höchst sprachspielerisch verfahrenden Lyrik Cle-
Sammlung Des Knaben Wunderhorn mens Brentanos erkennen. Die Arbeit an der Spra-
(1806–1808) stammt jedoch keines- che erweist sich hier insbesondere als Experiment
wegs aus mündlich-anonymer Über- mit dem Klang vor jeder Bedeutungsfunktion der
lieferung, sondern lag bereits in ge- Sprache. Ludwig Tieck postuliert in diesem Zu-
Achim von Arnim/Clemens druckter Form vor. Zudem greifen die Herausgeber sammenhang »Poesie« sei »in Musik, in etwas Be-
Brentano: Des Knaben in Form von Überarbeitungen und Ergänzungen stimmt-Unbestimmtes zu verwandeln«, und Nova-
Wunderhorn (1806) zum Teil massiv in den jeweiligen Textbestand lis fordert »Gedichte – blos wohlklingend und voll
ein; ironischerweise insbesondere dort, wo sie schöner Worte – aber auch ohne allen Sinn und
dann später die Bemerkung mündlich als Quel- Zusammenhang«. Texte wie Brentanos spätes, aus
lenangabe über ein Gedicht setzen. Der romanti- einem einzigen Satzgefüge bestehendes Gedicht
sche Volkston beruht also auf sekundärer Bear- »Wenn der lahme Weber träumt«, ist denn auch
geradezu als Unterminierung von Bedeutung, als
Vorbote modern-avantgardistischer Lyrik aufge-
fasst worden. Seine Anfangsverse lauten:
Wenn der lahme Weber träumt, er webe,
Träumt die Lerche auch sie schwebe,
Träumt die stumme Nachtigall, sie singe,
Daß das Herz des Widerhalls zerspringe,
Träumt das blinde Huhn, es zähl die Kerne,
und der drei je zählte kaum, die Sterne,
Träumt das starre Erz, gar linde tau es,
und das Eisenerz, ein Kind vertrau es […].
»Immer wieder muß der Leser oder Hörer gleich-
sam die Augen aufreißen und fragen: was sagt er
da? Doch kein Ich tritt für diese Rede ein; sie
scheint von niemandem zu kommen und zu nie-
mandem zu gehen; sie ist einfach da« (Kaiser
1987, S. 255). Dabei ist bemerkenswert, dass Bren-
tanos Gedicht kein für sich autonom stehender
Text ist, sondern der erweiterten Fassung des Mär-
chens Gockel, Hinkel und Gakeleia (1838) ent-
stammt. Viele romantische Gedichte verkörpern
solche ›Einlagerungen‹ in Romane oder kürzere
Brentano: Gockel, Hinkel Erzähltexte gemäß der universalpoetischen Maxi-
und Gakeleia (1838) me einer Gattungs- und Genrevermischung.

306
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Gattungen

Die Übergangsfigur Heinrich Heine  – Antiro- Und zärtlich sich betrachten


mantische Romantik: Eine Sonderposition im Feld Mit bräutlichem Gesicht; –
der romantischen Lyrik nimmt Heinrich Heine ein,
der zugleich Romantiker wie Anti-Romantiker ist. Wo alle Bäume sprechen
Vor allem im Buch der Lieder (1827) kommt die Und singen, wie ein Chor,
spezifische Mixtur seines Dichtungstons zum Aus- Und laute Quellen brechen
druck. Heine verfügt einerseits souverän über das Wie Tanzmusik hervor; –
Repertoire romantischer Ausdrucksmittel und
fühlt sich dem romantischen Dichtungsverständ- Und Liebesweisen tönen,
nis geradezu sehnsüchtig verbunden; andererseits Wie du sie nie gehört,
entlarvt er mit desillusionierender Geste und fast Bis wundersüßes Sehnen
parodistisch die Konventionalität romantischer Dich wundersüß betört!
Bildlichkeit und ihre Weltflucht:
Ach, könnt ich dorthin kommen,
Aus alten Märchen winkt es Und dort mein Herz erfreun,
Hervor mit weißer Hand, Und aller Qual entnommen,
Da singt es und da klingt es Und frei und selig sein!
Von einem Zauberland:
Ach! jenes Land der Wonne,
Wo große Blumen schmachten Das seh ich oft im Traum;
Im goldnen Abendlicht, Doch kommt die Morgensonne,
Zerfließts wie eitel Schaum.

Konstruktion des Romantischen Naturgedichts – Volksliedstrophe. In das Ensemble solch insze- Interpretationsskizze
Joseph von Eichendorff: »Mondnacht« nierter Einfachheit fügen sich auch unreine
Reime wie »spannte – Lande« sowie die bloße
Es war, als hätt der Himmel Assonanz »Himmel – Schimmer«. Jeweils der
Die Erde still geküßt, erste und der dritte Vers der drei Strophen enden
Daß sie im Blütenschimmer mit einer weiblich-klingenden Kadenz, so dass
Von ihm nun träumen müßt. die dadurch bezeichneten Versübergänge asyn-
aphisch (ungefugt) sind: Das heißt, die regelmä-
Die Luft ging durch die Felder, ßige Alternation wird durch Doppelsenkungen
Die Ähren wogten sacht, durchbrochen. Dies ist zum einen mit der mögli-
Es rauschten leis die Wälder, chen Füllungsfreiheit der Volksliedstrophe zu
So sternklar war die Nacht. legitimieren, zum anderen evozieren diese Über-
gänge rhythmisch eine Art Nachschwingen, ein
Und meine Seele spannte innehaltendes Schweben, das mit der Thematik
Weit ihre Flügel aus, des Gedichts korrespondiert.
Flog durch die stillen Lande, Die erste Strophe spricht von einer Vereinigung
Als flöge sie nach Haus. des Himmels und der Erde in einem Kuss, der
häufig als Brautkuss interpretiert worden ist. Zu-
Eichendorffs »Mondnacht« (zwischen 1830 und dem erinnert das Szenario an antike Mythen kos-
37) ist das vermutlich berühmteste Gedicht der mischer Vereinigung etwa denjenigen von Ura-
Romantik – und eines der meistinterpretierten nos und Gaia aus Hesiods Theogonie. Freilich
zudem. Auf den ersten Blick ist der Text von be- wird nicht die Vereinigung selbst dargestellt, son-
zwingender Schlichtheit. Er besteht aus drei Stro- dern – bei aller vermeintlichen Naivität des
phen, die jeweils einen aus vier Versen bestehen- Tons – in mehrfacher Hinsicht distanziert davon
den Satz formieren. Das Metrum ist zunächst gehandelt. Zunächst einmal liegt der Kuss zeit-
regelmäßig dreihebig, auftaktig alternierend, die lich zurück. Das Gedicht hebt nicht im Präsens
Verse sind kreuzgereimt. Mit diesen Eigenschaf- eines just im Sprechen erfahrenen subjektiven
ten entspricht das Gedicht der sogenannten Zustands an, wie es Hegel als typisch für die Ly-

307
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

rik bestimmt hatte, sondern im Präteritum (»Es einer Bewegung, sondern in einem Stillstand.
war«). Die Auswirkungen des vergangenen Ge- Schritt für Schritt vergehen die Aktivitäten. Nicht
schehens werden »nun«, mit Abstand, freilich der Wind weht, sondern die Luft geht. ›Sacht‹
immer noch im Präteritum, das den gesamten wogen die Ähren und ›leis‹ rauschen die Wälder«
Text regiert, zum Thema. Vom Kuss zwischen (Kaiser 1987, S. 180).
Himmel und Erde bleibt nur ein Abglanz, ein Re- Bemerkenswert ist weiter, dass mit der Bewe-
flex (vgl. den romantischen Schlüsselbegriff der gung der Luft »durch« die Felder das sanfte verti-
Reflexion) im Blütenschimmer, der metaphorisch kale einander Zuneigen von Himmel und Erde
mit einem kognitiven Zustand, dem Traum, ver- aus der ersten Strophe in eine ebenso sachte ho-
bunden wird. Darüber hinaus ist die gesamte rizontale Bewegung umgewandelt wird, die auch
erste Strophe im Konjunktiv, und zwar im Irrea- von der dritten Strophe (»flog durch die fernen
lis, verfasst. Wir haben es also nicht mit einem Lande«) aufgenommen wird. Mit dem Verweis
›realen Szenario‹ zu tun, sondern mit einem, das des vierten Verses der zweiten Strophe auf die
im Modus des bloßen »Als-ob« gehalten ist. Da- sternklare Nacht wendet sich der Blick indes wie-
mit wird dem Text eine »simulatorische[] Diffe- der nach oben. Dieser Verweis bleibt aber logisch
renz« eingezeichnet, die für die poetische Erfah- rätselhaft. Denn ein ungetrübter Blick auf die
rung »einen Abstand zur Alltagswirklichkeit Sterne ist nicht eben die Voraussetzung dafür,
immer schon voraussetzt« (Kremer 2007, S. 300). dass Luft sacht durch Felder geht, dass Wälder
Mit dem Schimmer wird zudem ein »ungreifbarer leise rauschen. Man könnte hier auf die Idee
optischer Reiz, ein im Raum diffus verteiltes kommen, dass »der Wind aus den Weiten des
Leuchten« (Kaiser 1987, S. 184) evoziert, dem Himmels herabzukommen« (Frühwald 1984,
das Rauschen in Strophe zwei korrespondiert. S. 397 f.) scheint. Dieser Optimismus einer wirkli-
Rauschen ist ein akustisches Phänomen vor jeder chen Verbindung von Himmel und Erde ist je-
Unterscheidung der Laute in bedeutungstragende doch mit einem Fragezeichen zu versehen: Wenn
Einheiten. Beide, Schimmern wie Rauschen, ste- Vers acht mit dem Attribut »sternklar« den Bogen
hen, mit dem Philosophen Martin Seel gesagt, für zu Vers eins (›Himmel‹) zurückschlägt, so wird
die »Gegenwart einer Fülle, genauer: einer Über- damit vielmehr noch einmal die Fragilität der ge-
fülle […], die bewirkt, daß nicht länger […] ein- samten Konstruktion unterstrichen. »Es war, als
zelne Gestalten, Gestaltverwandlungen oder Ge- hätt der Himmel / Die Erde still geküßt«: Es ist
staltenfolgen ausgemacht werden können«. und bleibt unklar, ob Himmel und Erde sich
Anders gesagt: Schimmern und Rauschen mar- ›wirklich geküsst‹ haben, und der Text nun nach
kieren ein »Geschehen ohne Geschehendes«, eine Worten des Ausdrucks dafür ringt, oder ob es
»radikale[] Immanenz des Erscheinens« (Seel ›nur so scheint‹, dass sie sich geküsst hätten, es
2003, S. 230 f., 227). Noch anders: Das Eichen- in Wirklichkeit jedoch nie haben.
dorff’sche Gedicht spricht zwar von der Fülle ei- Theodor W. Adorno hat solche Schwebe als Ei-
ner Vereinigung der kulturell mit schwerer Be- chendorffs »metaphysischen Takt« bezeichnet
deutung aufgeladenen Sphären Himmel und (Adorno 2003, S. 73), und Gerhard Kaiser spricht
Erde; sie relativiert diese Vereinigung von Tran- angesichts dessen von der »Modernität« von Ei-
szendenz und Immanenz jedoch, um sprachlich chendorffs auf den ersten Blick »einfachen und in
die Fülle einer Immanenz zu inszenieren. den formalen Mitteln rückwärts weisenden« Tex-
Die zweite Strophe wechselt modal in den Indi- tes. Die »Risse und Verwerfungen«, mit anderen
kativ und verteilt drei denkbar knappe Haupt- Worten: die Sehnsucht, die den Text bestimmt,
sätze auf die ersten drei Verse. Das unpersönliche die Unsicherheit in Bezug auf die dargestellte Ver-
Satzsubjekt im dritten Vers (»Es rauschten leis einigung von Weltlichem und Absolutem, sind in
[…]«) korrespondiert dem ersten Vers des Ge- Eichendorffs Gedicht zentrale »Ausdrucksmo-
dichts (»Es war«). Grammatisch ist diese Formu- mente« und verleihen ihm »seine Vielschichtig-
lierung eindeutig aktivisch. »Die Satzbildung mit keit, seinen Reichtum« (Kaiser 1987, S. 192).
dem sachlichen Pronomen ›es‹«, so hat Gerhard Mithin trifft auf dieses so einfach klingende Ge-
Kaisers feinsinnige Lektüre bemerkt, »schwächt dicht ohne Einschränkung das zu, was Friedrich
die Subjektfunktion der Wälder [aber] gramma- Schlegel in seiner Abhandlung Über das Studium
tisch um eine Nuance ab. Die Nacht ist nicht in der griechischen Poesie als »das herrschende

308
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Literatur

Prinzip der modernen Poesie« bezeichnet hat: wohl im ruhigen Genuß, als in unbefriedigter
Dass nämlich »viele ihrer trefflichsten Werke Sehnsucht«.
ganz offenbar Darstellungen« sind, die nicht von Der Ton der dritten Strophe, in der mit dem Pos-
einer »Befriedigung« und »vollständige[m] Ge- sessivpronomen (»meine Seele«) erstmals ein ly-
nuß« beherrscht sind, »wo jede erregte Erwar- risches Ich zur Sprache kommt und in der die
tung erfüllt, auch die kleinste Unruhe aufgelös’t Versanfänge zwei und drei »weit« und »Flog« mit
wird; wo alle Sehnsucht schweigt«. Unsicherheit einer gewissen Emphase gegen das Metrum be-
in Bezug auf die Darstellung des Absoluten tont sind, ist deshalb weder die Anzeige gelunge-
bleibe das Wesen der »Poesie unsres Zeitalters«. ner ›vollständiger Übereinstimmung‹ noch der
Darin liege aber nicht ihr Mangel, sondern – und Ausdruck autosuggestiver Selbstüberschätzung.
dies ist die spezifische, den Zeitgenossen erst Er ist vielmehr die Feier der Sehnsucht als eines
mühsam begreiflich zu machende Volte romanti- ästhetisch produktiven Zustands – einer Bewe-
scher Poetik – ihr Gewinn. Denn, so Schlegel: gung, die sich (bei ständigem Blick auf die Verti-
»man wird es wohl endlich, wenngleich ungern, kale) in der mit dem Lokaladverb »durch« ange-
eingestehen müssen, daß es eine Darstellung der zeigten Horizontalen des Textes ereignet. Eichen-
Verwirrung in höchster Fülle, der Verzweiflung dorffs »Mondnacht« stellt in diesem Sinne einen
im Überfluß aller Kräfte gibt, welche eine gleiche Musterfall romantischer Lyrik dar, der – ohne im
wo nicht eine höhere Schöpferkraft und künstle- mindesten ironisch zu klingen – strukturell im
rische Weisheit erfordert, wie die Darstellung Modus der Ironie spricht: Im Bewusstsein, dass
der Fülle und Kraft in vollständiger Übereinstim- man das, was nicht zu erreichen ist, doch stets so
mung. […] [U]nd findet sich ja eine leise Ahn- darzustellen sucht, als hätte man es zumindest
dung vollkommner Schönheit, so ist es nicht so- punktuell doch erlangt.

Literatur
Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur. Gesammelte Kaiser, Gerhard: »Mutter Natur als Himmelsbraut: Joseph
Schriften, Bd. 11. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt von Eichendorff: ›Mondnacht‹«. In: Augenblicke
a. M. 2003. deutscher Lyrik. Gedichte von Martin Luther bis Paul
– /Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. In: Theodor Celan. Frankfurt a. M. 1987, S. 178–193.
W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3. Hg. von Rolf – /Kittler, Friedrich A.: Dichtung als Situationsspiel. Studien
Tiedemann. Frankfurt a. M. 2003. zu Goethe und Gottfried Keller. Göttingen 1978.
Behler, Ernst: Ironie und literarische Moderne. Paderborn Klussmann, Paul Gerhard: »Bewegliche Imagination oder
u. a. 1997. Die Kunst der Töne. Zu Ludwig Tiecks ›Glosse‹«. In: Wulf
Berndt, Frauke/Drügh, Heinz J. (Hg.): Symbol. Grundlagen- Segebrecht (Hg.): Gedichte und Interpretationen, Bd. 3.
texte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft. Klassik und Romantik. Stuttgart 1984, S. 343–357.
Frankfurt a. M. 2009. Kremer, Detlef: Romantik. Lehrbuch Germanistik.
Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart/Weimar ³2007.
Stuttgart 2002 (engl. 1997). Lange, Wolfgang: »Watteau und Winckelmann oder
Dörr, Volker C.: Weimarer Klassik. Paderborn 2007. Klassizismus als antik drapiertes Rokoko«. In: Deutsche
Frühwald, Wolfgang: »Die Erneuerung des Mythos. Zu Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Eichendorffs Gedicht ›Mondnacht‹«. In: Wulf Geistesgeschichte 72 (1998), S. 376–410.
Segebrecht (Hg.): Gedichte und Interpretationen, Bd. 3: Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1954.
Klassik und Romantik. Stuttgart 1984, S. 395–407. Menninghaus, Winfried: Hälfte des Lebens. Versuch über
Genette, Gérard: Die Erzählung. München 1994 (franz. Hölderlins Poetik. Frankfurt a. M. 2005.
1972). Morgenstern, Karl: »Ueber das Wesen des Bildungsro-
Gockel, Heinz: »Friedrich Schlegels Theorie des Frag- mans«. In: Inländisches Museum 1 (1820), S. 13.
ments«. In: Ernst Ribbat (Hg.): Romantik. Ein literatur- Mülder-Bach, Inka: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der
wissenschaftliches Studienbuch. Königstein, Ts. 1979, Statue und die Entdeckung der ›Darstellung‹ im
S. 23–37. 18. Jahrhundert. München 1998.
Goetz, Rainald: »Was ist ein Klassiker«. In: Ders.: Hirn. Neumann, Gerhard: »Die Anfänge deutscher Novellistik.
Frankfurt a. M. 1986, S. 22–25. Schillers ›Verbrecher aus verlorener Ehre‹ – Goethes
Greif, Stefan: Arbeitsbuch Deutsche Klassik. Paderborn ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹«. In:
2008. Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpoli-
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die tik. Hg. von Wilfried Barner/Eberhard Lämmert/
Philosophie der Geschichte. Frankfurt a. M. 31992. Norbert Oellers. Stuttgart 1984, S. 433–460.
Herwig, Wolfgang: Goethes Gespräche. Zürich 1969 ff. Oesterle, Günter: »Arabeske, Schrift und Poesie in E. T.A.
Hoffmanns Kunstmärchen ›Der goldne Topf‹«. In: Ernst

309
3.4
Kleine Literaturgeschichte
Klassik und Romantik

Behler u. a. (Hg.): Athenäum. Jahrbuch für Romantik. und zurück«. In: Uwe Japp/Stefan Scherer/Claudia
Paderborn 1991, S. 69–107. Stockinger (Hg.): Das romantische Drama. Produktive
Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre. Synthese zwischen Tradition und Innovation. Tübingen
München 2007. 2000, S. 259–280.
Schadewaldt, Wolfgang: Die griechische Tragödie. Tübinger Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Die romantische Ironie in
Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1991. Theorie und Gestaltung. Tübingen 1960.
Schlechta, Karl: Goethes Wilhelm Meister. Mit einer Szondi, Peter: »Das Naive ist das Sentimentalische. Zur
Einleitung von Heinz Schlaffer. Frankfurt a. M. 1985. Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung«. In: Ders.:
Schmidt, Arno: »Die Schreckensmänner. Karl Philipp Schriften 2. Hg. von Jean Bollack u. a. Frankfurt a. M.
Moritz zum 200. Geburtstag«. In: Ders.: Bargfelder 1978, S. 59–105.
Ausgabe. Werkgruppe II Dialoge, Bd. 1. Zürich 1990, Uerlings, Herbert: Theorie der Romantik. Stuttgart 2000.
S. 389–411. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1.
Schneider, Sabine M.: »Klassizismus und Romantik – Zwei Bd.: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur
Konfigurationen der einen ästhetischen Moderne. Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815.
Konzeptuelle Überlegungen und neuere Forschungs- München 1987.
perspektiven«. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft Wellbery, David E.: »Die Geburt der Kunst. Zur ästheti-
37 (2002), S. 86–128. schen Affirmation«. In: Christoph Wulf/Dietmar
Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. Kamper/Hans-Ulrich Gumbrecht (Hg.): Ethik der
2003. Ästhetik. Berlin 1994, S. 23–36.
Simon, Ralf: »Romantische Verdopplungen – komische – : Seiltänzer des Paradoxalen. Aufsätze zur ästhetischen
Verwechslungen. Von der romantischen Reflexionsphi- Wissenschaft. München/Wien 2006.
losophie über die Verwechslungskomödie zur Posse
Heinz Drügh

310
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Vormärz

3.5 | Das 19. Jahrhundert


3.5.1 | Vormärz 3.5.1.2 | Historisch-gesellschaftliche Grund-
situation und literarisches Leben
3.5.1.1 | Epochenüberblick
Die Jahre zwischen 1815 und 1848/49 waren eine
Als nicht unumstrittener Epochenbegriff bezeich- Zeit des Wandels, in sozio-ökonomischer, politi-
net ›Vormärz‹ den Zeitraum zwischen dem Wiener scher und mentaler Hinsicht. Zwar wurde auf dem
Kongress 1814/15 und den deutschen Revolutio- Wiener Kongress (1815) nach den Wirren der
nen von 1848/49. Das Präfix »vor« bezieht sich auf Französischen Revolution und den Napoleoni-
das Epochenende, also den Beginn der Revolutio- schen Kriegen eine neue europäische Friedensord-
nen im März 1848. Die Periodisierung stützt sich nung verhandelt, die alle Hoffnungen auf Verände-
damit insbesondere auf historisch-politische Rah- rungen erst einmal zunichte machte, doch konn-
mendaten und unterscheidet sich dadurch von ten die verschiedenen Emanzipationsbewegungen
Epochenbezeichnungen wie ›Klassik‹, ›Romantik‹ (Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus) der
oder ›Realismus‹. Die Vielzahl anderer Epochenbe- Zeit nur eingedämmt, nicht aufgehalten werden.
griffe für die deutsche Literatur der ersten Jahr- Der 1815 gegründete Deutsche Bund war eine
hunderthälfte wie ›Biedermeier‹, ›Restaurations- lose Staatenbindung, der Bundestag in Frankfurt
zeit‹, ›Zwischen Restauration und Revolution‹ ein Gesandtenkongress. Damit wurden die Hoff-
stehen für die Schwierigkeiten, die Signatur einer nungen auf die Schaffung eines deutschen Natio- Marx/Engels: Manifest
Epoche auszumachen, die so stark von Gegensät- nalstaates enttäuscht und bereits auf dem Wart- der Kommunistischen
zen geprägt ist, dass mit Blick auf die literarische burgfest im Jahr 1817 neu formuliert. Ließ der Partei (Titelblatt)
Produktion der Zeit von einer »Gleichzeitigkeit des deutsche konstitutionelle Liberalismus die Souve-
Ungleichen« (Eke 2005, S. 17) gesprochen werden ränität des Fürstenstaates anfänglich noch unan-
kann. Während die Begriffe ›Biedermeier‹ und getastet, sorgte die demokratische Bewegung spä-
›Restauration‹ einseitig die werte- und stilkonser- testens seit der Pariser Julirevolution von 1830 für
vativen Tendenzen dieser Jahre akzentuieren, hat eine Radikalisierung, an deren Ende die Volkssou-
sich in der jüngsten Forschung ein ›Vormärzbe- veränität stehen sollte. In dieselbe Zeit fallen die
griff‹ durchgesetzt, der die Komplementarität der Anfänge der Arbeiterbewegung, deren Vertreter –
literarischen Strömungen nicht verschleiert. Bauern, Arbeiter, besitzlose Akademiker – sich
Autorengruppen wie das Junge Deutschland vom politischen Liberalismus nicht mehr genü-
(Heinrich Heine, Ludolf Wienbarg, Heinrich Lau- gend vertreten sahen. Ab 1845 entwickelten Karl
be, Theodor Mundt und Karl Gutzkow) sind eben- Marx und Friedrich Engels im Pariser Exil ihre Po-
so zum Vormärz zu zählen wie die Österreicher sition eines wissenschaftlichen Sozialismus und
Franz Grillparzer und Adalbert Stifter oder die publizierten im Revolutionsjahr 1848 mit dem Ma-
Wegbereiter einer modernen Dramatik wie Georg nifest der Kommunistischen Partei die wirkungs-
Büchner und Christian Dietrich Grabbe. Gemein- vollste politische Programmschrift dieser Zeit.
sam war den Autoren die Erfahrung der eigenen
Gegenwart als einer Zeit der Krise, auf die ein Zentrale Ereignisse
Teil (die Jungdeutschen) mit neuen Darstellungs-
formen (Essay, Feuilletonroman) reagierte. Doch 1814/15 Wiener Kongress
während die einen sich von den literarischen Para- 1817 Wartburgfest
digmen der Klassik lösten, griffen andere auf ältere 1819 Karlsbader Beschlüsse
Formtraditionen zurück, um gerade in diesen eige- 1830 Julirevolution in Frankreich
ne Gegenwartserfahrungen zu reflektieren. Wenn 1832 Hambacher Fest
Heine in den 1820er Jahren das »Ende der Kunst- 1835 Erste deutsche Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth
periode« propagiert, richtet er sich gegen Klassik 1837 Protest und Amtsenthebung der »Göttinger Sieben« (u. a. Jacob
und Romantik und deren ästhetische Leitvorstel- und Wilhelm Grimm)
lung von der Autonomie der Kunst. Die Literatur 1837 Entwicklung des fotografischen Verfahrens der Daguerreotypie
des Vormärz wollte »sich eben nicht auf den olym- 1844 Aufstand der schlesischen Weber
pischen Standort des Rein-Ästhetischen beschrän- 1848 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei
ken«, sondern »teilhaben, mitgestalten, eingreifen, 1848/49 Revolutionen in Deutschland
kurz: politisch sein« (Eke 2005, S. 13).

311
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

Gustav Taubert: der ersten Hälfte des 19. Jh.s. Der Anstieg der Al-
»Im Berliner Lesecafé« phabetisierungsrate führte zu einer Vergrößerung
(1832) des Leserkreises, die Zahl registrierter Buchhand-
lungen stieg ebenso wie diejenige der Autoren.
Leihbibliotheken, deren Leserschaft aus den ver-
schiedensten Gesellschaftsschichten kam, und Le-
segesellschaften waren die Hauptabnehmer ge-
druckter Literatur. Zur Expansion des literari-
schen Marktes trug auch die Einführung von
Schnelldruckpressen und Papiermaschinen bei,
durch die der wachsende Bedarf überhaupt erst
gedeckt werden konnte. Publikationsforen wur-
den verstärkt Zeitungen wie etwa die Augsburger
Allgemeine, wodurch sich zusätzlich neue Aus-
drucksformen literarischer Kommunikation ent-
wickelten. Auch die Rolle des Schriftstellers unter-
lag vielfachen Veränderungen: Die im 18. Jh.
beginnende Professionalisierung des Schriftstel-
Im Kampf gegen die nationalen und liberalen lerberufs setzte sich in der ersten Hälfte des
Bewegungen eröffnete die Ermordung des konser- 19. Jh.s fort, doch konnten die meisten Autoren
vativen Schriftstellers August von Kotzebue durch vom Ertrag ihrer literarischen Arbeiten allein im-
den Jenaer Theologiestudenten Karl Ludwig Sand mer noch nicht leben. Der Literaturproduzent, der
den deutschen Bundesstaaten die Möglichkeit, für den freien Markt schrieb, versuchte sich nun
neue Restriktionsmaßnahmen zu ergreifen. Mit in allen Sparten des literarisch-publizistischen Be-
den Karlsbader Beschlüssen von 1819 (Einrichtung triebs durchzusetzen. Und schließlich war auch
einer zentralen Untersuchungskommission, Verbot die hohe Zahl der schreibenden Frauen im Vor-
der Burschenschaften, Überwachung der Presse märz ein Zeichen der Demokratisierung des Lite-
und der Universitäten, ›Demagogenverfolgung‹) raturmarktes (vgl. Goetzinger 1998).
wurde die nationale Bewegung unterdrückt. Die
Auswirkungen der Julirevolution verschärften
3.5.1.3 | Gattungsentwicklung
dann die Maßnahmen der Reaktion erneut (Amts-
enthebung der ›Göttinger Sieben‹), doch war »die In 24 Vorlesungen unter dem Titel Ästhetische
›Revolution‹ durch keine Restauration einzudäm- Feldzüge wandte sich Ludolf Wienbarg im Jahr
men« (Stein 1998, S. 30), so dass die Pariser Unru- 1834 gegen die traditionelle normative Ästhetik
hen des Februars 1848 bereits im März auf die und ihren Autonomiegedanken. Er propagierte
Staaten des Deutschen Bundes übergriffen. Die eine »Poesie des Lebens« eine Verbindung von Le-
anfänglichen Erfolge der Revolutionäre (Bildung ben und Kunst, eine Kunst, die politisch und le-
von sogenannten Märzministerien) führten zwar bensnah ist. Die Umsetzung seiner Forderungen
zu einer kurzzeitigen Umsetzung der ›Märzforde- musste aus seiner Sicht zwangsläufig mit einer
rungen‹ (u. a. Vereins- und Pressefreiheit, Einberu- Neuordnung des literarischen Wertekanons ein-
fung einer Nationalversammlung, Einführung des hergehen. Abgewertet wurden Lyrik und Drama,
allgemeinen Wahlrechts), nicht jedoch zu einer da die Verwendung gebundener Sprache dem Prin-
dauerhaften Etablierung der oppositionellen Kräf- zip der Natürlichkeit widerspreche und, so Wien-
te. Bereits 1849 war die Verfassungspolitik des barg, »weil Prosa unsere gewöhnliche Sprache und
Frankfurter Parlaments, das sich im Mai selbst auf- gleichsam unser tägliches Brot ist, weil unsere
löste, gescheitert. Desillusioniert schrieb Heine am Landstände in Prosa sprechen, weil wir unsere
13.2.1852 an Gustav Kolb: »Die schönen Ideale Person und Rechte nachdrücklicher in Prosa ver-
von politischer Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Bürger- teidigen können als in Versen« (Ästhetische Feld-
tugend, Freyheit und Gleichheit […] da liegen sie züge, 9. Vorlesung).
nun zu unseren Füßen, zertrümmert, zerschlagen, Prosa: Im Zuge der Umgestaltung der literari-
wie die Scherben von Porzellankannen […]«. schen Landschaft entstanden neue Formen, wäh-
Literarisches Leben: Tendenzen der Demokrati- rend ältere wie die Novelle und der Roman
sierung kennzeichnen auch das literarische Leben Wandlungen durchmachten, sich den neuen An-

312
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Vormärz

forderungen anpassten. Als literaturtheoretisch Poetik und Ästhetik


noch immer ›verachtete‹ Gattung eignete sich der
Roman besonders als Experimentierfeld der Wirk- 1834 Ludolf Wienbarg: Ästhetische Feldzüge
lichkeitsbeschreibung. Gutzkow schrieb mit den 1836 Heine: Die romantische Schule
Rittern vom Geiste einen »Roman des Nebeneinan- 1842 Theodor Mundt: Geschichte der Literatur der Gegenwart
der«, um die Realität des Lebens einzufangen, und 1847/48 Theodor Mundt: Dramaturgie oder Theorie und Geschichte
distanzierte sich damit von der klassischen Struk- der dramatischen Kunst
tur traditioneller Romane wie etwa des Bildungsro-
mans Goethe’scher Prägung.
Den ersten deutschen Feuilletonroman, Leben So wie Heine in der Form von Reisschilderungen
und Thaten des berühmten Ritters Schnapphanski, Kritik an den deutschen Zuständen übte, galt
publizierte Georg Weerth in 21 Folgen in der Neuen ihm und den Jungdeutschen die Kritik generell als
Rheinischen Zeitung und etablierte damit ein Gen- ›Zerstörerin‹ des Alten und ›Wegbereiterin‹ des
re, das einer ganz eigenen, dem Medium verpflich- Neuen. Mit der ›Waffe‹ der Prosa ging man gegen
teten Ästhetik folgt. Unter dem Einfluss von Goe- die Literatur der Goethezeit vor. Die romantische
thes Wilhelm Meister standen Eduard Mörikes Schule, ursprünglich als Artikelserie für eine fran-
Maler Nolten und Karl Immermanns Epigonen. In zösische Zeitschrift verfasst, diente zwar dazu,
beiden Entwicklungs- bzw. Bildungsromanen ver- den Franzosen ein Bild der deutschen Literatur zu
weigern die Autoren ihren Protagonisten die Ein- vermitteln, doch geriet sie dem Autor zu einer lite-
gliederung in die Gesellschaft – der Schluss der rarischen Programmschrift, die mit eigenen bzw.
Epigonen ist nur ein scheinbar harmonischer – fremden literarischen Konzepten abrechnete.
und widersprechen damit dem Zukunftsoptimis- Während allerdings der neben Heine bedeutendste
mus, den die jungdeutschen Theoretiker des Ro- Literaturkritiker Ludwig Börne »die literarische Öf-
mans einforderten (vgl. Heigenmoser 1998). Erste fentlichkeit in eine politische Öffentlichkeit umzu-
realistische Tendenzen lassen sich in der Erzählli- wandeln« (Eke 2005, S. 67) suchte, bestand Heine
teratur der 1840er Jahren ausmachen: Novellen Zeit seines Lebens auf dem Primat des Ästheti-
wie Der arme Spielmann von Franz Grillparzer schen, weshalb er streng genommen nicht zu den
oder Die Judenbuche von Annette von Droste- Jungdeutschen gerechnet werden kann.
Hülshoff stellen Figuren aus dem ›Volk‹ in den Mit-
telpunkt des Geschehens. Mit der Dorfgeschichte Erzählliteratur
entstand eine Textsorte, deren Handlung zwar im
ländlichen Raum angelegt war, die jedoch das In- 1826–31 Heine: Reisebilder
teresse eines gebildeten Publikums am dörflich- 1832 Mörike: Maler Nolten
agrarischen Leben befriedigen sollte. 1833–37 Laube: Das junge Europa
Die Reiseliteratur, die den denkbar größten 1835 Gutzkow: Wally die Zweiflerin
Kontrast zur Dorfgeschichte bildet, erlebte durch 1835 Büchner: Lenz
neue Verkehrstechniken einen Aufschwung und 1836 Karl Immermann: Die Epigonen
eröffnete die Möglichkeit, in einer flexiblen Form 1842 von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche
aus ganz subjektiver Sicht Kritik an den deut- 1842 Gotthelf: Die schwarze Spinne
schen Verhältnissen zu üben. Ludwig Börne reiste 1847 Weerth: Fragment eines Romans
in die französische Hauptstadt, um in seinen Brie- 1847 Grillparzer: Der arme Spielmann
fen aus Paris (1832–34) über die Julirevolution
und ihre sozialen Folgen zu berichten und dabei
gleichzeitig die Situation in Frankreich mit der im Drama und Theater: Einig waren sich Heine und
gesellschaftlich und politisch zurückgebliebenen Börne dagegen in ihrer Kritik an der Unzeitge-
Deutschland zu vergleichen. Mit seinen Reisebil- mäßheit des Theaters. Das Bühnenrepertoire der
dern hatte Heine bereits zuvor ein neues Genre des Zeit wurde bestimmt von Modestücken (Ritter-
Reiseberichts begründet, in dem die Schilderungen und Schicksalsdramen), die jeweils verschiedenen
der Reise nur den äußeren Anlass bilden, um in Trends folgten, geschickt konstruiert waren, aber
ironisch-witziger Sprache, in unterschiedlichen ly- nur wenig individuelle Kontur zeigten. Autoren
rischen und erzählerischen Formen, assoziativ wie August von Kotzebue, Ernst Raupach und
und in lockerer Fügung europäische Emanzipati- Charlotte Birch-Pfeiffer führten die Spielplanstatis-
onsprozesse zu reflektieren. tik an, gelegentlich ergänzt durch Klassiker wie

313
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

Lessing, Goethe und Schiller. Grabbe erlebte im- verschiedene Formtraditionen (der Weimarer Klas-
merhin die Uraufführung eines seiner Stücke, sik, des spanischen Barockdramas, des Geschichts-
Büchner gar keine. »Es bestand also eine Kluft dramas Shakespeares) ausmachen. Im Unterschied
zwischen den ästhetisch und inhaltlich zukunfts- zu den deutschen Dramatikern konnte er als Öster-
weisenden Stücken, die […] zwar gedruckt, aber reicher auch an eine durchgehende Herrschertra-
nicht gespielt wurden, und jenen Dramen, die sich dition anknüpfen. Den ›Mythos Habsburg‹ verklä-
auf den Kompromiß mit den überlieferten Form- ren Stücke wie König Ottokars Glück und Ende
strukturen einließen, damit erfolgreich aufgeführt (1825) und Ein Bruderzwist in Habsburg (1848),
wurden, aber ihren politischen Wahrheitswert zu- jedoch nicht ohne skeptische und pessimistische
rücknahmen« (Rösch 1998, S. 380). Untertöne.
Hohenstaufen – Das historische Drama bezog seine Stoffe be- Das soziale Drama des Vormärz knüpfte als Fa-
Habsburg vorzugt aus der römischen Antike, dem staufi- miliendrama an die Tradition des bürgerlichen
schen Mittelalter und der Geschichte des Hauses Trauerspiels an. In Friedrich Hebbels Maria Mag-
Habsburg. In seinem Hannibal (1835) und dem dalena (1843) wird die Protagonistin Klara zwi-
Fragment Marius und Sulla (1827) entwickelt schen den Forderungen und Bevormundungen der
Christian Dietrich Grabbe Porträts überlebens- Eltern und ihres ungeliebten Bräutigams Leon-
großer, amoralischer und grausamer Herrscher, die hard zerrieben. In die Enge getrieben, leistet die
jedoch durchaus ambivalent gezeichnet sind, weil schwangere, noch unverheiratete Klara dem Vater
sie eine Art Gegenentwurf zur öden, gleichförmi- einen Meineid und ertränkt sich, nachdem Leon-
gen und ereignislosen Zeit der Restauration ver- hard sich von ihr losgesagt hat. Der das Stück be-
körpern. Die Dynastie der Hohenstaufen und ihr schließende Satz des Vaters »Ich verstehe die Welt
christliches Großreich, das sich bis nach Sizilien nicht mehr« bezieht sich sowohl auf den häusli-
erstreckte, diente all denjenigen als Vorbild, die ein chen Bereich als auch auf die gesellschaftlichen
geeintes Deutschland anstrebten. Ernst Raupach Strukturen, deren Modernisierung nicht nur den
veröffentlichte einen Zyklus von 16 Dramen – Heb- Handwerksmeister überfordert. Hebbel zeigt in
bel nannte sie ›Hohenstaufenbandwürmer‹ -, die in dem formstreng und traditionell gebauten Stück
Anbetracht eines politisch zersplitterten Deutsch- Personen, die in Zwangsverhältnissen leben und
lands den verklärenden Blick zurück auf eine glor- in ihrer Rollenidentität gefangen sind, doch ver-
reiche Vergangenheit lenkten. Von seinem auf acht meidet er offene Kritik an seinen Figuren und un-
Stücke angelegten Hohenstaufen-Zyklus vollende- terscheidet sich dadurch von den jungdeutschen
te Grabbe mit Kaiser Friedrich Barbarossa (1829) Autoren, deren Stücke er nicht gerade wohlmei-
und Kaiser Heinrich der Sechste (1829) nur zwei, nend als ›Tendenzdramen‹ bezeichnete (vgl. Rösch
aber im Gegensatz zu Raupach diente ihm der his- 1998).
torische Stoff zur Deutung aktueller vormärzlicher Volksstücke: Zwar schrieben die zentralen
Zustände. Mit seinen ausgedehnten, filmische Mit- Dramatiker des Vormärz (Grabbe, Grillparzer,
tel vorwegnehmenden Massenszenen, den realisti- Büchner) auch Komödien, doch konnten diese –
schen Details, der Verwendung des Dialekts war sofern sie aufgeführt wurden – nie die Popularität
Grabbe dramaturgisch seiner Zeit weit voraus. In der Volksstücke erreichen. Zauber- und Singspie-
den Stücken Grillparzers wiederum lassen sich le, Lokal- und ›Besserungsstücke‹ und ab den 30er
Dramen Jahren auch die kritisch-realistischen Possen ei-
nes Ferdinand Raimund und Johann Nestroy be-
1819 Grillparzer: Sappho stimmten das Repertoire des Wiener Volkstheaters
1825 Grillparzer: König Ottokars Glück und Ende der ersten Hälfte des 19. Jh.s, das stark von insti-
1828 Raimund: Der Alpenkönig und der Menschenfeind tutionellen Rahmenbedingungen wie der Zensur,
1831 Grabbe: Napoleon oder Die hundert Tage der Konkurrenzsituation der Vorstadtbühnen un-
1835 Büchner: Dantons Tod tereinander und dem Unterhaltungscharakter der
1836 Büchner: Leonce und Lena Produktionen geprägt war (vgl. Hein 1997). Das
1836 Büchner: Woyzeck Lebensgefühl der Zerrissenheit bzw. des Welt-
1838 Grabbe: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung schmerzes, das eine Folge politischer Ohnmacht
1840 Grillparzer: Wehe dem, der lügt war und von nahezu allen Autoren des Vormärz
1843 Hebbel: Maria Magdalena thematisiert wurde, nahm Nestroy in seiner Posse
1848 Nestroy: Freiheit in Krähwinkel Der Zerrissene (1844) zwar ebenfalls auf, doch lie-
ferte er eine satirische Fallstudie dieser Zeitkrank-

314
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Vormärz

heit und desavouiert sie als ›grundloses‹ Leiden Lyrik


am Dasein als solchem.
Lyrik: Bedeutendster Lyriker des Vormärz ist 1825 August von Platen: Sonette aus Venedig
Heinrich Heine. Sein Buch der Lieder (1827), eine 1827 Heine: Buch der Lieder
Sammlung von 237 Gedichten, steht in der Traditi- 1840 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Unpolitische Lieder
on sowohl der klassisch-romantischen Lied- und 1844 Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen
Balladendichtung als auch der petrarkistischen 1844 Ferdinand Freiligrath: Ein Glaubensbekenntnis
Liebeslyrik. Epochentypisch ist die Anlage als Ge-
dichtzyklus, dessen kunstvolle Komposition jedes
Gedicht in einen funktionalen Zusammenhang Einschätzung von Lyrik generell ab. Sie wurde als
stellt. Heines dualistische Liebeskonzeption – »Ich operative Literatur bevorzugtes Instrument politi-
weiß nicht, war Liebe größer als Leid? / Ich weiß scher Einmischung. Verbreitet wurden die meist
nur, sie waren groß alle beid!« (Lyrisches Intermez- singbaren Gedichte in Zeitungen, auf Flugblättern
zo XXI) – lässt sich nur in Antithesen wie Schmerz oder durch Sonderdrucke. Die konkrete Zeitkritik
und Lust, ›Tränen‹ und ›Lachen‹, ›Lieb und Liebes- verbarg man oft hinter ironischem, metaphori-
weh‹ fassen. Die Themen der unglücklichen und schem oder allegorischem Sprechen vor der Zen-
unverstandenen Liebe, des Liebesschmerzes und sur, die gegen die Flut der auch im Ausland ge-
der Liebessehnsucht, die Konzentration auf eine druckten Texte kaum ankam.
persönliche Liebeserfahrung des lyrischen Spre- Die Lyrik der klassisch-romantischen Nach-
chers haben einen über das Individuelle hinausge- folge beherrschte allerdings den literarischen
henden zeittypischen Charakter und stehen auch Markt bis in die 1830er Jahre. August Graf von
für die gesellschaftlichen Entfremdungserfahrun- Platen-Hallermünde und Friedrich Rückert griffen
gen des Autors. auf antikisierende (Oden, Eklogen, Hymnen) bzw.
Den dezidiert politischen Dichter lässt das Vers- orientalische Formen (Ghaselen) zurück und wur-
epos Deutschland. Ein Wintermärchen erkennen, den dafür von den Jungdeutschen ebenso kritisiert Heine: »Deutschland.
das Heine seinem Verleger in einem Brief vom wie Eduard Mörike. Auch er nahm den Vormärz Ein Wintermärchen«
17. April 1844 anbot: »Es ist politisch romantisch zwar als Übergangszeit wahr, reagierte jedoch auf
und wird der prosaisch bombastischen Tendenz- die gesellschaftlichen Veränderungen nicht mit po-
poesie hoffentlich den Todesstoß geben.« Eine litischem Engagement, sondern mit einer Art Rück-
Deutschland-Reise des mittlerweile in Paris Leben- zug nach Innen. Geprägt ist er durch den über-
den ist Anlass, eine exemplarische Sprecherin- schaubaren württembergischen Kulturraum, sein
stanz den Gegensatz eines fortschrittlichen Frank- konservativ strukturiertes Weltbild und die Orien-
reichs und eines rückständigen Deutschlands im tierung am klassischen Formideal. »Schönheit ist
Verlauf einer fiktionalisierten Reise thematisieren Mörike immer auch Zeichen einer ursprünglich
zu lassen. Das Epos zeigt ein durch politische harmonischen Weltordnung, und ihr Erleben zu-
und religiöse Restauration winterlich erstarrtes gleich ein Stück Rückverwandlung von Ich, Natur
Deutschland, das vom Militär beherrscht, von der und Welt in diesen verlorengegangenen Zustand«
Zensur eingeengt nur durch die mythische Wie- (Schneider 1984, S. 243). Die Zurücknahme eines
derkehr des alten Stauferkaisers Barbarossa erlöst individualisierten Sprechens verbindet die Lyrik
werden kann. Den von konservativen Kritikern Mörikes mit derjenigen von Annette von Droste-
und der Zensur übel beschimpften Autor lässt die Hülshoff. Ihr gelingt es etwa in ihrem Zyklus Das
radikale Verneinung der deutschen Verhältnisse al- geistliche Jahr in detailgenauen, formal ganz unter-
lerdings als glühenden Patrioten erscheinen (vgl. schiedlichen Gedichten ein religiös-restauratives
Höhn 2004, S. 115 ff.). Weltbild über eine bereits realistisch zu nennende
Mit der von ihm desavouierten ›Tendenzpoesie‹ Schreibweise literarisch zu vermitteln.
meint der Emigrant die politische Lyrik eines Au-
gust Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Georg
3.5.1.4 | Exkurs: Georg Büchner »Friede
Herwegh und Ferdinand Freiligrath. Während sich
den Hütten! Krieg den Palästen!«
die Jungdeutschen – auch Heine – in den 1830er
Jahren noch programmatisch von einer Dichtung Eine singuläre Erscheinung in der Zeit des Vor-
in Versen abgesetzt hatten, zeichnete sich mit dem märz war der 1813 im Großherzogtum Hessen-
Beginn der 1840er Jahre und der sogenannten Darmstadt geborene und bereits 1837 in Zürich
Rheinkrise als äußerem Anlass eine Wende in der gestorbene Dramatiker Georg Büchner. Uraufge-

315
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

des Vormärz überforderten. Erst die Naturalisten


entdeckten in ihm einen ›Zeitgenossen‹ und bald
wurden die Stücke auch für das Musiktheater ad-
aptiert: Alban Bergs Wozzeck (UA 1925) und Gott-
fried von Einems Dantons Tod (UA 1947) sind nur
die bekanntesten Vertonungen.
Begonnen hat Büchner als Autor sozialrevoluti-
onärer Schriften. Von einem zweijährigen medizi-
nischen Studium in Straßburg nach Hessen zu-
rückgekehrt, gründete er 1834 in Gießen und
Darmstadt nach französischem Vorbild eine Sekti-
on der »Gesellschaft der Menschenrechte« und
verfasste mit dem Hessischen Landboten (1834)
eine Flugschrift, in der er die Notwendigkeit einer
umfassenden politisch-sozialen Revolution for-
mulierte. Doch zerschlugen sich Büchners Hoff-
nungen, die er auf die Wirkung der Schrift gesetzt
hatte.
In Darmstadt entstand am Ende desselben Jah-
res mit Dantons Tod sein erstes Drama. Die Flug-
schrift und das Revolutionsstück stehen zwar in
großer zeitlicher und gedanklicher Nähe, doch ist
dieses keine Agitationsliteratur, sondern die litera-
rische Reflexion einer gescheiterten revolutio-
nären Bewegung. Büchner konzentriert sich allein
auf die Revolutionäre und ihre ›innerparteilichen‹
Richtungskämpfe, die Revolutionsgegner sind weit-
gehend irrelevant. Für sein Geschichtsdrama, das
die ersten fünf Jahre der Französischen Revolution
behandelt, hat er sich intensiv mit den Quellen be-
schäftigt, den Text mit Zitaten und Anspielungen
durchsetzt und den historischen Konflikt zwischen
Robespierre und Danton als Kampf zweier Prinzi-
pien (idealistischer Tugendrigorismus gegen epi-
kureischen Materialismus) modellhaft dargestellt.
Büchner folgt einer »Ästhetik des Widerspruchs«
(Knapp 2000, S. 25) und schreibt ein Drama, das
zwischen Komik und Tragik, Rolle und Wirklich-
keit changiert und verschiedene Konzeptionen von
Geschichte nebeneinanderstellt. Weil er zwischen-
zeitlich ins Ausland geflohen war, publizierte sein
Freund Karl Gutzkow das Drama mit (zensurbe-
dingten) starken Eingriffen. Seine Korrespondenz
mit Büchner lässt erkennen, dass dieser den jung-
deutschen Vorstellungen, durch die »Tageslitera-
tur eine völlige Umgestaltung [der] religiösen
und gesellschaftlichen Ideen« (Büchner: Brief
vom 1.1.1836) zu erreichen, ablehnend gegen-
überstand.
Büchner: führt wurden seine Stücke erst um die Jahrhun- Das im Exil 1836 entstandene Lustspiel Leonce
Der Hessische Landbote dertwende (Dantons Tod 1902, Leonce und Lena und Lena ist als politische Dichtung ein Drama
(Titelblatt, Juli 1834) 1895 und Woyzeck 1913), da sie dramaturgisch, über den kleinstaatlich-deutschen Spätabsolutis-
ästhetisch und ideologisch die Theaterverhältnisse mus, als Satire ein Stück Literatur über Literatur,

316
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Vormärz

doch liegt die eigentliche Innovation »in der durch- ten, die aber auch Opfer der Verhältnisse ist, betro-
gängig (selbst)kritischen Selbstreferenzialität lust- gen wird. Der so physisch und psychisch von den
spieleigener Elemente, die er gezielt zur Formauf- typisierten Vertretern der staatlichen Institutionen
lösung der Literaturkomödie von innen einsetzt« zugrunde Gerichtete tötet schließlich die Geliebte.
(Knapp 2000, S. 159). Die Fallstudie eines sozialen Wie Lenz ist Woyzeck ein Beispielfall, an dem der
Außenseiters ist Büchners einzige Novelle Lenz, in Autor zeigt, wie psychosoziale Voraussetzungen in
deren Mittelpunkt der Sturm-und-Drang Dichter Kombination mit sozialen Unterdrückungsmecha-
gleichen Namens steht. Und einen der ›Geringsten‹ nismen den Menschen verformen. Büchners anti-
stellt er auch ins Zentrum seines nur als Fragment aristotelisches Drama, das hinsichtlich der Form
überlieferten Dramas Woyzeck. Dort schildert er (kurze, abgerissene Szenen) und der Sprache (Dif-
die Destruktion eines mittellosen Soldaten, der ferenzierung der Sprachschichten, Körpersprache)
sich um der Existenzerhaltung willen unmenschli- entschieden über das im Vormärz Akzeptable hin-
chen medizinischen Experimenten unterzieht, von ausgeht, konnte angemessen wohl erst im 20. Jh.
den Vorgesetzten gedemütigt und von der Gelieb- gewürdigt werden.

Heinrich Heine »Die schlesischen Weber« Gewerbes seit den 1830er Jahren eine erneute Interpretationsskizze
Senkung ihrer Löhne nicht mehr hinnehmen
Im düstern Auge keine Träne, wollten. Der Angriff auf die Häuser der Großun-
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: ternehmer wurde vom Militär blutig niederge-
Deutschland, wir weben dein Leichentuch, schlagen, einige der Weber wurden getötet, viele
Wir weben hinein den dreifachen Fluch – verletzt und über 1000 verhaftet. Bereits am
Wir weben, wir weben! 10. Juli 1844 erschien im Pariser Vorwärts! im
Rahmen einer Artikelserie über den Weberauf-
Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten stand das vierstrophige Gedicht »Die armen We-
In Winterskälte und Hungersnöten; ber« von »H. H.«. Diese erste Fassung ergänzte
Wir haben vergebens gehofft und geharrt, Heine im folgenden Jahr um eine Strophe und
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt – publizierte den erweiterten Text nun unter dem
Wir weben, wir weben! Titel »Die schlesischen Weber« 1846 in Hermann
Püttmanns Album.
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, Mit seinem bekanntesten Zeitgedicht reagierte
Den unser Elend nicht konnte erweichen, der Autor also unmittelbar auf die sozialen Span-
Der den letzten Groschen von uns erpreßt nungen der 1840er Jahre. Während er in anderen
Und uns wie Hunde erschießen läßt – formal und thematisch ganz unterschiedlichen
Wir weben, wir weben! Gedichten dieses Typs mit Verfahren der Ver-
schlüsselung, Verstellung und Verfremdung ar-
Ein Fluch dem falschen Vaterlande, beitet, fallen »Die schlesischen Weber« allein des-
Wo nur gedeihen Schmach und Schande, halb aus dem Rahmen der Zeitgedichte, weil sie
Wo jede Blume früh geknickt, ohne Elemente der Ironie und ohne mythisch-
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt – historische Überhöhung auskommen.
Wir weben, wir weben! »Im Vergleich mit anderen Weberliedern der Zeit«
wiederum »unterscheidet sich Heines Gedicht
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, durch den Verzicht auf eine individualisierende,
Wir weben emsig Tag und Nacht – mitleidheischende Milieuschilderung« (Stauf
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, 1995, S. 145). Weder sind die Fabrikherren Adres-
Wir weben hinein den dreifachen Fluch, saten des Textes noch steht einer der typischen
Wir weben, wir weben! Sozialfälle der beginnenden Industrialisierung im
Mittelpunkt des Gedichtes. Die Konzentration
In den schlesischen Orten Peterswaldau und Lan- liegt auf einem Erkenntnisprozess, in dessen
genbielau kam es vom 4. bis 6. Juni 1844 zu ei- Verlauf die Weber realisieren, dass sie von den
nem Aufstand der gänzlich verarmten Weber, die maßgeblichen ›Autoritäten‹ (Gott, König, Vater-
im Zuge des fortschreitenden Niedergangs ihres land) keine Hilfe zu erwarten haben, ihre Sache

317
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

der Beginn der wörtlichen Rede im dritten Vers


markiert dann die Stelle, von der an die Distanz
zu den Sprechenden vollkommen reduziert
scheint und der Leser Teil des Kollektivs der We-
ber wird. Der bereits in dieser Strophe formu-
lierte Fluch der Weber ist im Folgenden nicht auf
Gott, König und Vaterland allgemein bezogen,
sondern auf ganz bestimmte (preußische) Vari-
anten: Heine decouvriert nämlich in seinem Ge-
dicht die preußische Parole der Befreiungskriege
(›Mit Gott für König und Vaterland‹).
Der erste Fluch gilt einem personifizierten,
christlich-allmächtigen Vatergott, der sich eben
nicht väterlich und gütig zeigt, sondern als Ko-
mödiantenfigur mit der Not und Empörung der
Weber spielt. Die Strophe richtete sich allerdings
nur gegen eine deistische Gottesvorstellung,
Käthe Kollwitz: vielmehr selbst in die Hand nehmen müssen, schließt aber ein anderes Gottesverständnis, wie
»Sturm« (Radierung aus wobei der Verzicht auf konkrete Handlungs- es Heine etwa in dem Essay »Zur Geschichte der
dem Zyklus »Ein Weber- schritte am Schluss des Gedichtes keine resigna- Religion und Philosophie in Deutschland« ent-
aufstand«, 1897) tive Haltung impliziert. Das Produkt der Arbeit worfen hat, nicht aus. Der zweite Fluch kritisiert
wird nämlich das Leichentuch sein, in das »Alt- ein falsches Königtum, das nur die Interessen be-
deutschland« eingewickelt werden wird und das stimmter gesellschaftlicher Schichten vertritt.
durch die fortwährende Arbeitsleistung der We- Dabei dachte Heine wie auch sein Zeitgenosse
ber zustande kommt. »Insofern sind die fluchen- Richard Wagner nicht an die Abschaffung der
den Weber […] als Repräsentanten dieser wach- Monarchie, sondern vielmehr an eine Art Volks-
senden historischen Macht der Arbeit dargestellt, königtum, das den König aus dem höfischen
einer Macht, deren sie sich selbst erst langsam Kontext löst und unmittelbar an das Volk bindet.
bewußt zu werden beginnen« (ebd., S. 148). Dem alten Deutschland, das als »falsches Vater-
Die Eintönigkeit des Arbeitsprozesses wird im land« bezeichnet wird, gilt der dritte Fluch. Wie
Rahmen des Textes metrisch, syntaktisch und in den vorangegangenen Strophen impliziert das
rhetorisch abgebildet. Mit den fünf Strophen kor- Falsche immer auch das Richtige: das Vaterland
respondieren die fünf Verse jeder Strophe. Der eben, das keine Verfassungsversprechen bricht,
Paarreim und der Refrain, der alle Strophen be- das restaurative Maßnahmen lockert, Meinungs-
schließt, betonen die mechanische Bewegung freiheit zulässt. So wenig konkret das ›neue‹
ebenfalls. Die erste und die letzte Strophe bilden Deutschland skizziert wird, so offen endet das
auch durch die Wiederholung dreier Verse (3–5 Gedicht: mit der Wiederholung des dreifachen
in 23–25) einen Rahmen um die drei mittleren Fluches.
Strophen, auf die der dreifache Fluch verteilt ist. Thematisiert wurde die soziale Frage als Ge-
Anaphorische Wiederholungen von Strophen- samtheit der sozialpolitischen Probleme der ers-
(2–4) und Versanfängen (17–19), Alliterationen ten Hälfte des 19. Jh.s nicht nur im Roman eines
(16, 17), reiche Reime (8–9), syntaktische Paral- Ernst Willkomm oder im Drama eines Büchner,
lelismen, Antithesen und Wiederholungen prä- sondern eben auch in der sozialen Lyrik. Heines
gen das Gedicht, dessen 15-mal wiederholtes »Die schlesischen Weber« ist nur eines von vie-
»Wir weben« die Monotonie des Arbeitsprozes- len Gedichten, die als Reaktion auf den Weber-
ses unterstreicht. aufstand entstanden. Doch im Gegensatz zu
Die erste Strophe intoniert die im Folgenden cho- Heines Zeitgedicht kommen die meisten der
risch vorgetragene Klage der Weber erst, nach- Texte nicht über den Grad von ›Mitleidspoesie‹
dem der Leser durch die einleitenden beiden hinaus bzw. können als operative Literatur ad-
Verse in die Rolle des Betrachters gedrängt wor- äquat nicht nach ästhetischen Kategorien beur-
den ist. Der Wechsel vom »Sie« zum »Wir« und teilt werden.

318
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Realismus

Literatur
Borgards, Roland/Neumeyer, Harald (Hg.): Büchner-Hand- Knapp, Gerhard P.: Georg Büchner. Stuttgart/Weimar
3
buch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2009. 2000.
Bunzel, Wolfgang/Stein, Peter/Vaßen, Florian (Hg.): Lauster, Martina/Oesterle, Günter (Hg.): Vormärzliteratur
Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer in europäischer Perspektive II. Politische Revolution – In-
Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun- dustrielle Revolution – Ästhetische Revolution. Bielefeld
derts. Bielefeld 2003. 1998.
Eke, Norbert Otto: Einführung in die Literatur des Vormärz. Lipp, Carola (Hg.): Schimpfende Weiber und patriotische
Darmstadt 2005. Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution
– /Werner, Renate (Hg.): Vormärz – Nachmärz. Bielefeld 1848/49. Bühl-Moos/Baden-Baden 1986.
2000. Rösch, Gertrud Maria: »Geschichte und Gesellschaft im
Goetzinger, Germaine: »Die Situation der Autorinnen und Drama«. In: Zwischen Restauration und Revolution
Autoren«. In: Zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Hg. von Gert Sautermeister und Ulrich
1815–1848. Hg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München 1998, S. 378–420.
Schmid. München 1998, S. 38–59. Schneider, Ronald: »Im Schatten der Restauration: Das
Heigenmoser, Manfred: »Bildungsroman, Individualro- literarische ›Biedermeier‹«. In: Geschichte der
man, Künstlerroman«. In: Zwischen Restauration und deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur
Revolution 1815–1848. Hg. von Gert Sautermeister und Gegenwart, Bd. I/2 : 1700–1848. Hg. von Viktor Žmegač.
Ulrich Schmid. München 1998, S. 151–174. Königstein, Ts. 21984, S. 231–276.
Hein, Jürgen: Das Wiener Volkstheater. Darmstadt 31997. Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im
Hermand, Jost (Hg.): Der deutsche Vormärz. Texte und Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution
Dokumente. Stuttgart 1967. 1815–1848, 3 Bde. Stuttgart 1971–1980.
Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit – Person – Werk. Stauf, Renate: »Wo jede Blume früh geknickt« [Die
Stuttgart/Weimar 32004. schlesischen Weber]. In: Gedichte von Heinrich Heine.
Jahrbuch Forum Vormärz Forschung. Bielefeld 1995 ff. Interpretationen. Hg. von Bernd Kortländer. Stuttgart
Koopmann, Helmut: Das Junge Deutschland. Eine 1995, S. 144–166.
Einführung. Darmstadt 1993. Stein, Peter: »Sozialgeschichtliche Signatur 1815–1848«. In:
– /Lauster, Martina (Hg.): Vormärzliteratur in europäischer Zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Hg.
Perspektive I. Öffentlichkeit und nationale Identität. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München
Bielefeld 1996. 1998, S. 16–37.
Bernd Zegowitz

3.5.2 | Realismus
sche Poesie seit 1848«). Ebenso schwierig ist die
konkrete Bestimmung des Endes der Epoche. Der
3.5.2.1 | Epochenüberblick
Naturalismus der 1880er Jahre vermochte den
Die Epoche des Realismus ist nur scheinbar die deutschen Realismus nicht zu verdrängen. Mit Beginn und Ende
letzte klar abgegrenzte Periode der deutschen Lite- Ausnahme Fontanes setzte sich auch keiner der be- der Epoche
raturgeschichte. Dass das Scheitern der Revolutio- deutenden Realisten produktiv mit der neuen lite-
nen von 1848/49 deren Beginn bezeichnet, er- rarischen Strömung auseinander, so dass von ei-
scheint zwar plausibel, da die Jahrhundertmitte nem Aufgehen des Realismus im Naturalismus
auch in der Kultur-, Wirtschafts- und Sozialge- nicht gesprochen werden kann. Da Raabe und Fon-
schichte als Einschnitt aufgefasst wird und der Re- tane einige ihrer bedeutendsten Romane erst am
alismus literarhistorisch auch in Opposition zur Ende des Jahrhunderts publizierten, gilt die Wende
Romantik und zum Vormärz entsteht, doch hat es vom 19. zum 20. Jh. als Abschluss der Epoche.
Formen realistischen Schreibens bereits in der ers- Binnengliederungen der Zeit des Realismus –
ten Jahrhunderthälfte gegeben. Und auch im etwa in eine Phase des programmatischen (1849–
Selbstverständnis der Autoren stellte die Revoluti- 1870) und des späten Realismus (1870–1900) –
onszeit keine Epochengrenze dar, wie eine Aussage sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich
Theodor Fontanes beweist: »Wir sind durchaus sowohl im stofflich-thematischen als auch im for-
nicht der Meinung, daß die Vorgänge des Jahres mal-strukturellen Bereich Gemeinsamkeiten der
1848 richtunggebend auf unsere schönwissen- Autoren der zweiten Jahrhunderthälfte finden las-
schaftliche Literatur eingewirkt haben, und kön- sen, die deren Zugehörigkeit zu einer literarischen
nen uns höchstens zu der Ansicht bequemen, daß Epoche rechtfertigen.
sie der Gewitterregen waren, der die Entfaltung Der Begriff ›Realismus‹ bezeichnet im alltags-
dieser oder jener Knospe zeitigte. Aber die Knos- sprachlichen Bereich eine bestimmte »Haltung,
pen waren da« (Fontane: »Unsere lyrische und epi- die durch besonderen Sinn für das Wirkliche,

319
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

Zentrale Ereignisse und Werke Revolutionen von 1848/49 zu tun. Die Bemühun-
gen des liberalen Bürgertums, über die nationale
1838 Jacob und Wilhelm Grimm beginnen mit ihrer Arbeit am Einheit zu politischer Freiheit zu gelangen, wurden
Deutschen Wörterbuch zögerlich und nur teilweise belohnt. Österreich er-
1859 Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natür- zwang 1850 die Wiederherstellung des Deutschen
liche Zuchtwahl Bundes unter seiner Führung, doch führten die all-
1863–66 Einführung der Rotationspresse mähliche Schwächung des Habsburgerreiches von
1867–94 Karl Marx/Friedrich Engels: Das Kapital innen (Nationalitätenstreit) und außen (Krimkrieg)
1871 Reichsgründung sowie der Deutsch-Französische Krieg 1871 zur
1871–93 Émile Zola: Die Rougon-Macquart Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches in Ver-
1875 Der »Allgemeine deutsche Arbeiterverein« und der »Vereinstag sailles. Damit war eine der zentralen Forderungen
deutscher Arbeitervereine« schließen sich zur »Sozialistischen der liberalen und nationalen Bewegung nach ei-
Arbeiterpartei Deutschlands« zusammen, zur späteren SPD. nem deutschen Nationalstaat umgesetzt worden,
1879 Henrik Ibsen: Nora doch die Hoffnung auf Freiheit, basierend auf der
1881–89 Sozialpolitisches Reformwerk Bismarcks Idee der Festigung bürgerlicher Grundrechte und
1883–85 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra der Ausarbeitung einer liberalen Verfassung, wur-
de enttäuscht. Aus ökonomischen und materiellen
Überlegungen, u. a. aus Furcht vor einer proletari-
Sachliche, Maßvolle, Angemessene und Machbare schen Revolution, vollzog das liberale Bürgertum
charakterisiert ist« (Aust 2000, S. 6). In literatur- eine national-konservative Wende, verlagerte seine
wissenschaftlichem Sinne meint er einen ganz be- Interessen vom Politischen auf das Wirtschaftliche
stimmten Zugriff auf die Wirklichkeit. Es ging den und wandte sich von seinen ›Idealen‹ des Vormärz
Autoren nicht um eine bloße Kopie der empiri- ab, hin zur Realpolitik eines Bismarck.
schen Welt, die unverändert in die Literatur einge- Verbesserte medizinische Verhältnisse und hy-
hen sollte, sondern um deren Poetisierung bzw. gienische Bedingungen führten zu einem Bevöl-
Verklärung. Letztere ist eine zentrale Kategorie kerungszuwachs, der mit einem »Übergang von
der ästhetischen Debatte. »Aufgabe des Dichters« traditionellen, ständisch-agrarisch geprägten Le-
sei es, in der »gemeinen Wirklichkeit eine schöne- bensformen zu modernen, demokratisch-indus-
re Welt wiederherzustellen«, wie Keller 1849 for- triellen« (Wittmann 1981, S. 227 f.) verbunden
derte, und zwar »durch die Schrift« (Keller: Jere- war. Die Industrialisierung war in Deutschland
Mittel der Verklärung mias Gotthelf). Die verschiedenen Mittel der Ver- erst in den 1830er Jahren in Gang gekommen,
klärung sind etwa eine spezifische Wortwahl, die schritt dafür aber in der zweiten Jahrhunderthälf-
Subjektivierung des Realen und der Humor. Ganz te schneller voran. Gewinner dieser Entwicklung
bestimmte Stoffe und Themen, die eine harmoni- war neben dem Adel, der sich im Gegensatz zu
sierende Darstellung der erfahrbaren Wirklichkeit Ländern wie England und Frankreich an der
beeinträchtigen würden, bleiben ausgeschlossen Macht halten konnte, das Besitzbürgertum. Ver-
(z. B. soziale Fragen, Wahnsinn, Krankheit). Die lierer war das Proletariat, das unter einer Ver-
Autoren verlegen sich auf die Schilderung des schlechterung der sozialen Lage litt. Diese Situa-
bürgerlich-familiären Umfelds, auf Bereiche wie tion änderte sich erst mit der Sozialgesetzgebung
Ehe, Liebe, Erziehung, Entwicklung und Bildung. in den 1880er Jahren.
Attributive Zusätze wie ›poetischer‹ oder ›bürger- Literaturbetrieb: Sozio-ökonomische und politi-
licher‹ Realismus oder Begriffskonstellationen wie sche Entwicklungen blieben nicht ohne Folgen für
›Realidealismus‹ oder ›Idealrealismus‹ benennen den Literaturbetrieb. Der demographische Wandel
jeweils Spezifika der Literatur der Zeit, taugen wirkte sich auf die Struktur der Leserschaft aus,
aber kaum als übergeordnete Epochenbezeich- auch wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung
nung (vgl. Aust 2006). (Lohnarbeiter, Handwerker, Kleinbauern u. a.)
nicht als solche bezeichnet werden kann. Dass die
Angehörigen der bürgerlichen Gesellschaftsschich-
3.5.2.2 | Historisch-gesellschaftliche Grund-
ten verstärkt lasen, lag daran, dass deren Interes-
situation und literarisches Leben
sen vor allem durch die humanistischen Gymna-
Dass die Autoren des Realismus ihre Themen im sien geweckt und gelenkt wurden. Technisch
Subjektiv-Individuellen eher als im Objektiv-Ge- verbesserte Druckverfahren verbilligten die Pro-
sellschaftlichen finden, hat mit dem Scheitern der duktion. Preiswerte Klassikerausgaben gab es

320
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Realismus

seit 1867, dem Jahr der Klassikerfreigabe. Zu den Die Gartenlaube


meist verkauften Büchern gehörten allerdings (erste Ausgabe 1853)
nicht die Romane eines Raabe, Keller oder Fonta-
ne, sondern Viktor von Scheffels Ekkehard, der im
Jahr 1887 die 94. Auflage erreichte, oder Gustav
Freytags Soll und Haben mit 22 000 verkauften Ex-
emplaren in den ersten fünf Jahren. Gesichert war
die Literaturverbreitung über Leihbibliotheken
und Familienzeitschriften.
Die Normalauflage eines Romans (ca. 800 Ex-
emplare) orientierte sich am Bedarf der Biblio-
theken, die sich zwar hinsichtlich des sozialen
Status ihrer Benutzer unterschieden, nicht jedoch
in Betracht ihrer Lektürepräferenzen: 60 bis 80 %
der ausgeliehenen Werke waren belletristische von der literaturgeschichtlichen Tradition am we-
Texte. Großstädtische Leihbibliotheken schafften nigsten vorstrukturierte Genre und galt wegen des
Erfolgsromane dann in mehreren hundert bzw. Verzichts auf gebundene Sprache auch als formal
tausend Exemplaren an und kurbelten damit den flexibel. Die wichtigsten Grundtypen des realisti-
Buchhandel an. Trotz der Konkurrenz billiger Bü- schen Romans sind der Entwicklungs- oder Bil-
cher blieben die Bibliotheken auch in der zweiten dungsroman, der Zeit- oder Gesellschaftsroman
Jahrhunderthälfte ein wichtiger Ort der Distributi- und der historische Roman.
on von Literatur. Von ebenso großer Bedeutung Gleich einer der ersten Romane wurde von den
waren wöchentlich erscheinende Familienzeit- Zeitgenossen als Mustertext gelesen. Gustav Frey-
schriften, in denen neben natur- und landeskund- tags Soll und Haben (1855) verwischt zwar die
lichen Berichten auch Gedichte und Erzählungen Grenzen zwischen Zeit- und Bildungsroman,
publiziert wurden. Prototyp des Genres war die setzt aber die literaturpädagogischen Forderun-
1853 gegründete Gartenlaube, in der bis in die gen der Zeit um: »Gegenwart, nicht Vergangen-
1880er Jahre auch Texte von Paul Heyse, Wilhelm heit; Wirklichkeit, nicht Schein; Prosa, nicht Vers«
Raabe und Theodor Fontane veröffentlicht wur- (Fontane). Freytag schildert den Lebens- und Bil-
den. Und gerade der Lesegeschmack des Zeit- dungsweg des aus kleinen Verhältnissen stam-
schriftenpublikums bestimmte die Literatur dieser menden Anton Wohlfahrt, der nach zahlreichen
Jahre in hohem Maße. Verwicklungen und Verirrungen vom Lehrling
zum Kompagnon und wohl auch zum Erben ei-
nes Handelshauses aufsteigt. Kontrastiert wird
3.5.2.3 | Gattungsentwicklung
dieser Entwicklungsgang durch den eines jüdi-
Poetik/Ästhetik: Auch wenn der Realismus im schen Schulkameraden und eines adligen Freun-
Unterschied zur Romantik keine theorieorien- des. Das soziale Spektrum des Bildungsromans
tierte Epoche war, entwickelten ausgesprochene wird dadurch zwar ausgeweitet, doch liegt der
Programmatiker wie Julian Schmidt oder Gustav erzählerische Schwerpunkt auf der Darstellung
Freytag theoretische Konzepte, die unzusammen- des bürgerlichen Wertesystems und Lebensbe-
hängend und in unterschiedlicher Form veröffent- reichs.
licht wurden. Publizistisches Forum war die Zeit-
schrift Die Grenzboten, in der vor allem in der Zeit Poetik / Ästhetik
des programmatischen Realismus’, also den Jah-
ren von 1849 bis 1870, die Diskussion um eine 1853 Fontane: »Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848«
realistische Literaturprogrammatik ausgetragen 1855 Julius Frauenstädt: Die Naturwissenschaften in ihrem Einfluß
wurde. auf Poesie, Religion, Moral und Philosophie
Prosa: Die Forderungen der Realisten nach Ak- 1858 Rudolf Gottschall: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik.
tualität, Wirklichkeit und Natürlichkeit ließen Vom Standpunkte der Neuzeit
sich adäquat in der Form des epischen Erzählens 1863 Gustav Freytag: Die Technik des Dramas
umsetzen, und so wurden Roman und Novelle zu 1873 Friedrich Spielhagen: »Das Gebiet des Romans«
den führenden Textsorten in der zweiten Hälfte 1891 Otto Ludwig: Der poetische Realismus
des Jahrhunderts. Der Roman war daneben das

321
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

Bildungsroman: Ein weniger ein- späten Texten gänzlich vom Formmodell des Ent-
deutiges Konzept von Bürgerlichkeit wicklungsromans. Die Unüberschaubarkeit der
entwirft Gottfried Keller in seinem Welt (Urbanisierung, Industrialisierung, Technisie-
Grünen Heinrich (1854/55), einem rung) bedingt auch neue Erzählstrategien: den
der zwei großen Bildungsromane der Verzicht auf einen auktorialen Erzähler, den hohen
Epoche neben Stifters Nachsommer Anteil dialogisch gestalteter Textpassagen, die Um-
(1857). Beide stehen in der Nachfol- stellung der Chronologie des Erzählten. Immer
ge von Goethes Wilhelm Meister, noch dominiert in der Spätzeit des Realismus der
und in Anlehnung an diesen disku- Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft,
tiert Kellers Roman an zentraler Stel- doch sind die neuen Romanhelden gesellschaftli-
le das Verhältnis von Künstler und che Außenseiter. Auch stehen sie nicht mehr allein
Bürger sowie von Individuum und im Zentrum des Geschehens, sondern sind Teil ei-
Gesellschaft. Mit seinen künstleri- ner Gruppe gleichermaßen wichtiger Personen.
schen Ambitionen steht der Protago- Gesellschaftsroman: Theodor Fontanes ›Viel-
nist Heinrich Lee nämlich von Be- heitsromane‹ spielen meist im Kreis der Familie,
ginn des Romans an außerhalb der die mikroskopisch die Gesellschaft repräsentiert
geregelten bürgerlichen Arbeitswelt. und eine ebenso rigide, männlich dominierte Ord-
Der Autor lässt seinen Helden in der nungswelt darstellt. Die mehrheitlich weiblichen
ersten Fassung des Romans in dem Helden werden in Muster gepresst, sind fremdbe-
Moment sterben, als seine persönli- stimmt und fliehen oft in den Ehebruch, »dessen
chen Voraussetzungen für eine Ein- individuelle, emotionale Aspekte ebenso bedeut-
gliederung in die Gesellschaft gege- sam waren wie seine institutionellen und sozialen
ben sind. In einer zweiten Fassung Implikationen« (Balzer 2006, S. 60). Durch die
Stifter: Nachsommer (1879/80) ändert Keller den Schluss dahingehend, Handlung dieser Gesellschaftsromane wird kein
(Titelblatt der Erstausgabe) dass sich Heinrich in die soziale Gemeinschaft in- bürgerliches Wertesystem vermittelt, vielmehr
tegriert, ein öffentliches Amt übernimmt und da- wird an diesem Kritik geübt, da es die Selbstver-
mit die bürgerlichen Werte akzeptiert. Adalbert wirklichung des Einzelnen verhindert. In seinem
Stifters Nachsommer erzählt dagegen den kon- ersten Berliner Frauenroman L’Adultera (1882) ge-
fliktfreien Entwicklungsgang Heinrich Drendorfs, steht Fontane seiner Protagonistin ein Leben nach
der seine Bedürfnisse den Belangen der Gesell- der von ihr aufgelösten, sie demütigenden Ehe zu,
schaft angleicht. Sein Bildungsweg besteht im Er- doch schon in Irrungen, Wirrungen (1888) steht
lernen einer Lebensweise, die die Summe fremder der Glücksanspruch der bürgerlichen Lene und
Erfahrungen darstellt, bereits vorab als richtig und des adligen Botho konträr zur sozialen Ordnung.
gut erkannt worden ist und in eine Gegenwelt zur Beide verzichten aufeinander und heiraten stan-
zeitgenössischen Wirklichkeit führt. Neuere Lesar- desgemäß, doch bezahlen sie diese Integration mit
ten erkennen allerdings gerade in der Künstlich- menschlichem Verlust. In Effi Briest (1895) schließ-
keit des Textes einen Vorgriff auf Erzählverfahren lich, dem berühmtesten Eheroman Fontanes, ver-
der Moderne (vgl. Begemann 2000). stößt der Ehemann die Ehefrau und tötet den Ne-
Spätere Romane des Realismus, die von Bil- benbuhler im Duell, obwohl die Affäre sieben
dungswegen und Orientierungskonflikten han- Jahre zurückliegt und er die Sinnlosigkeit seines
deln, thematisieren »in dem einzelnen Lebenslauf Handelns reflektiert. Das Verklärungspostulat
weniger die innere Reifung und den zielbewußten des Realismus gilt für Fontane in hohem Maße.
Weg, als vielmehr einen Sozialisationsprozeß, in Umreißen lässt es sich mit den Begriffen »Intensi-
dem sich Persönlichkeitsstruktur und gesellschaft- tät, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung«
liche Fasson wechselseitig bedingen« (Aust 2000, (Fontane: »Rezension von Paul Lindaus Der Zug
S. 86). Während etwa Wilhelm Raabes Hunger- nach dem Westen«). Bezeichnet ist damit Unter-
pastor (1864) noch deutlich dem von Goethe ge- schiedliches: die symbolische Verdichtung, die
prägten Romantypus verpflichtet scheint, entfernt hochentwickelte Anspielungskunst, die struktu-
sich der Autor mit den Werken der Folgezeit – Abu rierte Komposition, das funktionale Arrangement
Telfan (1867), Der Schüdderump (1870) – vom li- der einzelnen Teile, die Art der Konfliktlösung und
nearen Verlaufsschema biographischen Erzählens. die Rationalität der Handlung.
Auch wenn seine Romane von Beginn diese Ten- Der historische Roman etabliert sich als dritte
denz kennzeichnet, löste sich Raabe erst in den Form neben den beiden genannten Romantypen.

322
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Realismus

Den Markt beherrschen aber nicht nur ›Professo- len nach 1864 (Draußen im Heidedorf, Hans und
renromane‹ wie Felix Dahns Ein Kampf um Rom Heinz Kirch, Ein Doppelgänger) schließen mit ei-
(1876–78), sondern auch Texte namhafter Auto- nem unversöhnlichen Ende.
ren. Während in jenen die antike oder germanisch- Die österreichischen und schweizerischen No- Novellensammlungen
deutsche Geschichte in Analogie zur Gegenwart vellisten setzen das Verklärungspostulat der Epo-
gesetzt wurde mit dem Ziel, »die zeitgeschichtli- che inhaltlich konsequenter um. Stifters Novellen,
che Situation zu legitimieren« (Balzer 2006, S. 51) gesammelt in den Zyklen Bunte Steine (1853) und
und dem bürgerlichen Publikum Identifikations- Studien (1844–50), enden meist harmonisch. Kel-
vorgaben zu liefern, sind die Intentionen in diesen lers große Novellensammlungen Die Leute von Seld-
anderer Art. Der Österreicher Adalbert Stifter ent- wyla (1856/1873–74), Züricher Novellen (1878)
wirft in Witiko (1865/67) ein politisch-moralisches und Das Sinngedicht (1881) vermitteln unter-
Konzept, das einen Gegenentwurf zur Machtpoli- schiedliche didaktische Konzepte, mit denen der
tik Bismarcks darstellt. Raabes Odfeld (1888) de- Autor auf jeweils gewandelte gesellschaftliche Ver-
mentiert eine teleologische Geschichtsauffassung hältnisse reagiert. Das schließt den tragischen Aus-
und auch Fontanes Entheroisierung und Entpoliti- gang der Novellen nicht aus, wie der Opfertod der
sierung des Personals und der Handlung in Vor beiden Kinder in Romeo und Julia auf dem Dorfe
dem Sturm (1878) ist nicht auf Verherrlichung beweist, doch entschärfen der Humor und die Hap-
preußischer Geschichte angelegt. py Ends der unmittelbar folgenden Novellen die
Novelle: Historisches Erzählen in der zweiten Drastik des pessimistischen Schlusses.
Jahrhunderthälfte war jedoch nicht beschränkt auf Drama und Theater: Auch wenn die bedeu-
die Textsorte des Romans. In den Chroniknovellen tendsten literarischen Leistungen des Realismus
Theodor Storms, Kellers Züricher Novellen und al- auf dem Gebiet der Erzählprosa lagen, behauptet
len Novellen Conrad Ferdinand Meyers ist die das Drama seit Hegels Ästhetik den höchsten Rang
Handlung ebenfalls in einem konkreten gesell- im Gattungsgefüge. Keller wollte Dramen schrei-
schaftlich-geschichtlichen Lebensraum angesie- ben, Freytag verfasste mit seiner Studie Die Tech-
delt. Doch dient die zeitliche Verfremdung immer nik des Dramas (1863) ein Standardwerk der Dra-
als Folie, auf der aktuelle Missstände benannt wer- mentheorie, doch eine der Erzählprosa adäquate
den. Storms Figur des adligen Deichgrafen im Dramenproduktion lässt sich für die Zeit des Rea-
Schimmelreiter (1888) zielt auf den bürgerlichen
Machtmenschen des 19. Jh.s. Die Vorliebe Meyers Prosa
für die Zeit der Renaissance erklärt sich »vor allem
aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem 1850 Storm: Immensee
übersteigerten Selbstbild des Menschen in dieser 1853 Stifter: Bunte Steine
Epoche« (Freund 1998, S. 179). Dass die Novelle 1854 Heyse: L’ Arrabiata
neben dem Roman zum dominierenden Genre des 1854–55 Keller: Der grüne Heinrich (2. Fassung: 1879–80)
Realismus wurde, liegt jedoch auch daran, dass 1855 Freytag: Soll und Haben
sich der zentrale, die Epoche kennzeichnende 1856/73–74 Keller: Die Leute von Seldwyla
Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft 1857 Stifter: Der Nachsommer
am prägnantesten im Rahmen dieser Textsorte ver- 1857 Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
arbeiten ließ. Storm bezeichnet die Novelle als 1864 Raabe: Der Hungerpastor
›Schwester des Dramas‹, dessen strukturelle, the- 1873 C. F. Meyer: Das Amulett
matische und ästhetische Anforderungen auf diese 1877 Storm: Aquis submersus
übertragen werden müssten, und betont deren Er- 1878 Keller: Züricher Novellen
eignischarakter und Verweisungsfunktion (vom 1882 Fontane: Schach von Wuthenow
Besonderen auf das Allgemeine). Paul Heyse sieht 1882 Storm: Hans und Heinz Kirch
die Novelle beherrscht von einem spezifischen 1887 C. F. Meyer: Die Versuchung des Pescara
Spannungsprofil, einer starken ›Silhouette‹. Schär- 1888 Fontane: Irrungen, Wirrungen
fer als in den Romanen sind die Konflikte gezeich- 1888 Storm: Der Schimmelreiter
net, unversöhnlicher die Gegensätze, übermächti- 1891 Raabe: Stopfkuchen
ger die gesellschaftlichen Zwänge, geringer die 1892 Fontane: Frau Jenny Treibel
Chancen auf individuelle Autonomie. In Raabes 1895 Fontane: Effi Briest
Novellen seit den 1870er Jahren scheitern auch die 1898 Fontane: Der Stechlin
positiv besetzten Figuren tragisch. Storms Novel-

323
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

lismus in Deutschland nicht erkennen. Obwohl Realismus gilt Gottfried Keller, der ab 1855 ver-
Friedrich Hebbels Agnes Bernauer (UA 1851) stärkt politisch-patriotische Gedichte schrieb, die
schon von der zeitgenössischen Kritik als einziges den pädagogischen Ehrgeiz des Schweizers durch-
Werk gefeiert wurde, das die Erfahrungen der Re- scheinen lassen und ihn als Verfechter einer bür-
volution tragisch zu fassen vermochte, lehnte der gerlich-humanen Wertegemeinschaft zeigen.
Autor die programmatischen Forderungen des Re-
alismus ab. Seine späteren Dramen, mit denen er
3.5.2.4 | Exkurs: Richard Wagners »Der Ring
sich der Historie und dem Mythos zuwandte, wur-
des Nibelungen«
den in Wien uraufgeführt, der unbestrittenen The-
aterhauptstadt im deutschsprachigen Raum. Im Jahr 1876 wurden im eigens dafür gebauten
Die Tradition des Volkstheaters bewahrte dort Festspielhaus in Bayreuth alle vier Teile von Ri-
Johann Nestroy noch bis zu seinem Tod im Jahr chard Wagners Nibelungen-Tetralogie zum ersten
1862, bevor sie in den 1870er Jahren von Ludwig Mal als Zyklus gespielt. Nachdem Das Rheingold
Anzengruber modifiziert fortgeführt wurde. Mit und Die Walküre bereits 1869 bzw. 1870 in Mün-
seinen Stücken Der Meineidbauer (UA 1871), Der chen ohne Wagners Zustimmung uraufgeführt
G’wissenswurm (UA 1874) oder Das vierte Gebot worden waren, wurden Siegfried und Götterdäm-
(UA 1877) suchte er »zeitgenössische und univer- merung erst in Bayreuth szenisch realisiert. Die
sale (aber konkrete) Probleme und Konflikte dar- Bezeichnung ›Oper‹ wollte Wagner für sein Büh-
zustellen, deren Lösung ›realistisch‹ erfolgen soll- nenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend
te, d. h. mit Hilfe von Verklärung, beispielgebendem nicht gelten lassen. In der Mitteilung an meine
Modell oder tröstender Perspektive« (Aust u. a. Freunde schrieb er 1851: »[…] da ich keinen will-
1989, S. 213). kürlichen Namen für meine Arbeiten erfinden
Lyrik: Ebenso wie das Drama war die Lyrik eine will, so nenne ich sie ›Dramen‹, weil hiermit we-
eher vernachlässigte Gattung. Als die Form, in der nigstens am deutlichsten der Standpunkt bezeich-
technische Entwicklungen und gesellschaftliche net ist, von dem aus das, was ich biete, empfangen
Veränderungen am ehesten wiedergegeben wer- werden muß.« Der (von Theodor Mundt geprägte
den konnten, galt die Ballade. Besonders Fontane und von Wagner selbst abgelehnte) Begriff des
gelang es, sie zur zeitgenössischen Wirklichkeit Musikdramas bezeichnet im Hinblick auf Wagners
hin zu öffnen. Sowohl in »Die Brück’ am Tay« als terminologische Uneinheitlichkeit wohl am besten
auch in »John Maynard« verarbeitet er aktuelle das neu konzipierte Verhältnis von Wort und Ton
Verarbeitung von Themen: in jener die Nachricht über ein Eisen- im Ring und in den Bühnenwerken seit den 1850er
aktuellen Themen bahnunglück, in diesem den Heldentod eines See- Jahren. Der Komponist zieht einen Schlussstrich
manns. Im Mittelpunkt auch anderer seiner Balla- unter den alten Opernstreit um die Vorherrschaft
den stehen bürgerliche Helden, die in ihrer des Textes über die Musik oder der Musik über den
(Arbeits-)Welt gezeigt werden und sich als über- Text: Beide sind gleichberechtigte Mittel des Dra-
legt soziale Handelnde präsentieren. Durch Objek- mas. Wagner entwickelt in seinen theoretischen
tivität, Simplizität und Gegenständlichkeit zeich- Hauptschriften eine eigene Poetologie, in der er die
nen sich auch Theodor Storms Gedichte aus, mit Sprache zum Ausgangspunkt und Fundament sei-
denen der Autor sich nicht »Gedanken über das nes ›Kunstwerks der Zukunft‹ macht. Das Konzept
Leben« machen wollte, sondern die »Darstellung des Musikdramas wiederum ist nur ein Teil seiner
des Lebens selbst« (zitiert nach Becker 2003, Idee eines Gesamtkunstwerkes, in dem die Ein-
S. 330) im Sinn hatte. Als dritter großer Lyriker des zelkünste (Dichtung, Musik, Tanz, Malerei etc.)
ein organisches Ganzes bilden und dadurch als
Lyrik und Drama einzelne Künste nicht mehr identifizierbar sind.
Wenige Jahre nach der Uraufführung begann
1852 Storm: Gedichte (erw. Ausgabe: 1856, man, den Ring bereits als Allegorie des 19. Jh.s
1864, 1885) zu lesen, die Mythologie als ein Medium der Ge-
1880 Fontane: »Die Brück’ am Tay« sellschaftskritik zu verstehen. George Bernard
1886 Fontane: »John Maynard« Shaw hat das in seinem Buch The Perfect Wagne-
1855 Hebbel: Agnes Bernauer rite im Jahr 1898 getan: »der ›Ring‹ mit all seinen
1862 Hebbel: Die Nibelungen Göttern und Riesen und Zwergen, mit den Wasser-
1878 Anzengruber: Das vierte Gebot jungfrauen und Walküren, der Tarnkappe, dem
magischen Ring, dem verzauberten Schwert und

324
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Realismus

dem wunderbaren Schatz ist ein Drama der Ge- und Italien (Gabriele d’Annunzio) eher den Tann-
genwart und nicht eines aus ferner und sagenhaf- häuser und den Tristan rezipierten, wirkte in den
ter Vorzeit. Es hätte nicht vor der zweiten Hälfte englischsprachigen Ländern gerade der Ring nach:
des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben wer- bei James Joyce, Virginia Woolf, Joseph Conrad. In
den können […]« (Shaw 1973, S. 21). Bis weit in der deutschsprachigen Literatur ist es vor allem die
die Deutungsversuche des 20. Jh.s hinein zieht Erzählprosa Thomas Manns, die stark durch die
sich diese Lesart, die noch von einer Bemerkung Auseinandersetzung mit Wagner bzw. seiner Tetra-
Richard Wagners während einer Englandreise im logie geprägt ist, und zwar bis in die ›Komposition‹
Jahr 1877, bei der er mit seiner Frau Cosima die der Texte hinein. In den Betrachtungen eines Unpo-
Londoner Hafenanlagen besichtigte, gestützt wird: litischen fasst Mann den formalen Einfluss Wag-
»Der Traum Alberichs ist hier erfüllt. Nibelheim, ners auf ihn zusammen: »Was ich vom Haushalt
Weltherrschaft, Tätigkeit, Arbeit, überall der Druck der Mittel, von der Wirkung überhaupt […], vom
des Dampfes und Nebel« (Cosima Wagner: Die epischen Geist, vom Anfangen und Enden, […]
Tagbücher). Seit den 1970er Jahren begannen Re- von der Symbolbildung, von der organischen Ge-
gisseure wie Ulrich Melchinger und Joachim Herz, schlossenheit der Einzel-, der Lebenseinheit des
letzterer an Shaws Schrift anknüpfend, die politi- Gesamtwerkes […] weiß und zu üben und auszu-
schen und gesellschaftlichen Akzente im Ring her- bilden in meinen Grenzen versucht habe, ich ver-
auszuarbeiten und Wagners Wurzeln auch im ra- danke es der Hingabe an diese Kunst.«
dikal-demokratischen Diskurs des 19. Jh.s zu Überdies ist das Bühnenfestspiel nicht nur we-
suchen. Diese politische und gesellschaftskritische gen seiner Wirkung ein Fall für die Literaturge-
Dimension ist bis heute aus der Inszenierungsge- schichte. Wagner war nämlich Komponist und
schichte nicht verschwunden. Dichter in Personalunion, schrieb also zusätzlich
Doch nicht nur (musik-)theatergeschichtlich ist zur Musik auch noch die Texte zu seinen Bühnen-
Wagners Ring ein zentrales Werk aus der zweiten werken. Deshalb konnte der Altgermanist Peter
Hälfte des 19. Jh.s, auch literarhistorisch hat es ent- Wapnewski bereits 1978 ›des Philologen Recht auf
scheidend nachgewirkt. Themen, Stoffe und Perso- Wagner‹ betonen. Und seit die Literaturwissen-
nen wurden ebenso übernommen und weiterverar- schaft auch die Librettoforschung als Disziplin ent-
beitet wie etwa spezifische Darstellungsmittel: deckt hat, öffnet sich ein weites Feld für eine ver-
das Leitmotiv, die Alliteration. Während die Auto- nachlässigte Textsorte, die Wagner entscheidend
ren in Frankreich (Paul Verlaine, Marcel Proust) geprägt hat.

Der Anfang von Fontanes Effi Briest ren horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Interpretationsskizze
Stricken hing – die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief
In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie stehend. Zwischen Teich und Rondell aber und die Schaukel
von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel halb versteckend standen ein paar mächtige alte Platanen.
heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während Auch die Front des Herrenhauses – eine mit Aloekübeln und ein
nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter paar Gartenstühlen besetzte Rampe – gewährte bei bewölktem
Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün Himmel einen angenehmen und zugleich allerlei Zerstreuung
quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein bietenden Aufenthalt; an Tagen aber, wo die Sonne nieder-
großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem brannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt, be-
Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Ron- sonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute
dell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage wieder auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange sa-
genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine, ganz in klein- ßen, in ihrem Rücken ein paar offene, von wildem Wein um-
blättrigem Efeu stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen rankte Fenster, neben sich eine vorspringende kleine Treppe,
weißgestrichenen Eisentür unterbrochene Kirchhofsmauer, hin- deren vier Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des
ter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzen- Seitenflügels hinaufführten. Beide, Mutter und Tochter, waren
den, weil neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn auf- fleißig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelqua-
ragte. Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer bildeten ein draten zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezählte
einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an dessen Wollsträhnen und Seidendocken lagen auf einem großen, runden
offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angekettel- Tisch bunt durcheinander, dazwischen, noch vom Lunch her,
tem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, de- ein paar Dessertteller und eine mit großen, schönen Stachelbee-

325
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

ren gefüllte Majolikaschale. […] Effi trug ein blau- und weißge- Fontane nahm dann entscheidende Änderungen
streiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein fest zu- am Handlungsverlauf vor, ordnete das Material
sammengezogener, bronzefarbener Ledergürtel die Taille gab; nach seinen Vorstellungen, verarbeitete es und
der Hals war frei, und über Schulter und Nacken fiel ein breiter arrangierte die einzelnen Teile unter funktiona-
Matrosenkragen. In allem, was sie tat, paarte sich Übermut und len Gesichtspunkten. Diese eher technischen
Grazie, während ihre lachenden braunen Augen eine große, na- Aspekte – Handlungsführung, Konfliktverlauf,
türliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte verrie- Charakterisierung, Motivation, Raum- und Land-
ten. Man nannte sie die »Kleine«, was sie sich nur gefallen las- schaftsschilderung – und ihre Beherrschung
sen mußte, weil die schöne, schlanke Mama noch um eine machten für Fontane die eigentliche Arbeit des
Handbreit höher war. Schriftstellers aus.
Eben hatte sich Effi wieder erhoben, um abwechselnd nach links Im Zentrum von Effi Briest steht von Beginn an
und rechts ihre turnerischen Drehungen zu machen, als die von die titelgebende Protagonistin, auf die nahezu
ihrer Stickerei gerade wieder aufblickende Mama ihr zurief: alle Personen ausgerichtet sind und deren Bild
»Effi, eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden müs- schon das erste Kapitel »durch Handlung und
sen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube bei- Ambiente, Konfiguration und Allusion, Spiege-
nah, daß du so was möchtest.« lung und Symbolik« (Downes 2000, S. 637) ent-
wirft. Die scheinbar ganz realistische Beschrei-
»Der Anfang ist immer das entschei- bung des Herrenhauses bzw. die topographische
dende; hat mans darin gut getroffen, Lage des Ziergartens verweisen auf Kommendes.
so muß der Rest mit einer Art von Die Handlung wird nämlich – und dadurch ist
innerer Nothwendigkeit gelingen, eine Symmetrie der Handlungsorte gewahrt – im
[…]« (Fontane: Brief vom 3.6.1879). selben Park enden, in dem sie begonnen hat, nur
Dass Fontanes Effi Briest auch den dass dann anstelle der Sonnenuhr Effis Grab das
Zeitgenossen gelungen schien, zeigt Rondell ziert. Die Kirchhofsmauer und die Uhr
die überwiegend positive Aufnahme sind Dingsymbole, die auf den Tod Effis verwei-
noch zu Lebzeiten des Autors. Stoff- sen. Zur Subjektivität der Raumgliederung ge-
liche Vorlage der Handlung war eine hört auch die Lage des Teichs, der die einzige
Berliner Skandalgeschichte, die we- »offene Seite« des hufeisenförmig angelegten
nige Jahre vor der Publikation des Gartens bildet und Effis Beziehung zum Element
Romans in aller Munde war. Und es des Wassers ebenso andeutet wie das Leinwand-
ist überaus typisch für den Autor, kleid mit dem Matrosenkragen. Sie wird deshalb
dass er seine Stoffe nicht erfindet, auch zu den Melusinengestalten gezählt, die
sondern aus dem gesellschaftlichen »sozial schwer integrierbar sind und denen die
Leben nimmt. Den kreativen Prozess liebende Erfüllung versagt bleibt« (ebd.). Durch
von der Aneignung eines Stoffes bis die Nachbarschaft zu Kirche und Kirchhof ge-
zu seiner poetischen Verarbeitung winnt der Garten überdies eine sakrale Aura, die
Max Liebermann: beschreibt Fontane ganz im Sinne noch durch die Tätigkeit von Mutter und Tochter
Steinzeichnung zu des Realismus folgendermaßen: »Das Leben ist verstärkt wird: Beide arbeiten an einem Altar-
Effi Briest von 1921 doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den teppich. Da Fontane als Kunstkritiker mit der
Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie christlichen Ikonographie der präraffaelitischen
schlummern darin, aber nur dem Auge des Ge- Malerei vertraut war, lassen sich wohl auch vom
weihten sichtbar und nur durch seine Hand zu Anfang (und Ende) des Romans Bezüge zur Ver-
erwecken. Der Block an sich, nur herausgerissen kündigung Marias (Garten als Symbol der Jung-
aus einem größern Ganzen, ist noch kein Kunst- fräulichkeit) und zum Passionsgeschehen her-
werk, und dennoch haben wir die Erkenntnis als stellen (vgl. Schuster 1978). Effis individuelle
einen unbedingten Fortschritt zu begrüßen, daß Natürlichkeit – die Bezeichnung als »Tochter der
es zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des Luft« gehört zu einer Symbolik des Flugs – ist
›Wirklichen‹, zu allem künstlerischen Schaffen jedoch nicht als positives Gegenbild zur Rollen-
bedarf« (Fontane: »Unsere lyrische und epische haftigkeit ihres Gatten zu sehen, sondern durch-
Poesie seit 1848«). aus kritisch zu beurteilen.

326
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Naturalismus und
Jahrhundertwende

Fontanes Darstellung des topographischen Um- Techniken vorweg, indem der Handlungsraum
felds ist also keine »daguerreotypisch treue Ab- wie bei einer Panoramafahrt optisch überflogen
schilderung«, die den »letzten Knopf […] und die wird und dabei bestimmte Details (Schaukel) he-
verborgenste Empfindung des Herzens […] mit rangezoomt werden. Die poetische Wahrheit galt
gleicher Treue« (Fontane: »Rezension von Gustav den Realisten eben mehr als die naturwissen-
Freytags Soll und Haben«) wiedergibt – er selbst schaftlich exakte Beziehung zwischen Wirklich-
wandte sich wie viele Autoren der Zeit gegen die keit und Abbildung.
moderne Fotografie -, sondern nimmt filmische

Literatur
Aust, Hugo: Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen/ Downes, Daragh: »Effi Briest. Roman«. In: Christian
Basel 1998. Grawe/Helmuth Nürnberger (Hg.): Fontane-Handbuch.
– : Literatur des Realismus. Stuttgart 32000. Stuttgart 2000, S. 633–651.
– : Realismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart/Weimar Freund, Winfried: Novelle. Stuttgart 1998.
2006. Plumpe, Gerhard (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus.
– u. a.: Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Eine Textsammlung. Stuttgart 1985.
Drama der Gegenwart. München 1989. Schanze, Helmut: Drama im bürgerlichen Realismus
Balzer, Bernd: Einführung in die Literatur des Bürgerlichen 1850–1890. Theorie und Praxis. Stuttgart 1973.
Realismus. Darmstadt 2006. Schuster, Peter-Klaus: Theodor Fontane: Effi Briest – Ein
Becker, Sabina: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1978.
im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900. Tübingen/Basel Selbmann, Rolf: Die simulierte Wirklichkeit. Zur Lyrik des
2003. Realismus. Bielefeld 1999.
Begemann, Christian: »Adalbert Stifter ›Der Nachsom- Shaw, Bernard: Ein Wagner-Brevier. Kommentar zum Ring
mer‹«. In: Lektüren für das 21. Jahrhundert. Hg. von des Nibelungen. Frankfurt a. M. 1973 (engl. 1898).
Dorothea Klein/Sabine M. Schneider. Würzburg 2000, Wittmann, Reinhard: »Das literarische Leben 1848–1880«.
S. 203–225. In: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und
Cowen, Roy C.: Der Poetische Realismus. Kommentar zu Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880, Bd. 1.
einer Epoche. München 1985. Hg. von Max Bucher u. a. Stuttgart 1981, S. 161–257.
Bernd Zegowitz

3.5.3 | Naturalismus und Jahr- noch einmal beschleunigten Industrialisierung,


hundertwende Technisierung, Urbanisierung, auf den sozialen
Wandel, die wissenschaftliche Neuformierung des
3.5.3.1 | Epochenüberblick Welt- und Menschenbildes sowie auf die neuen
Medienkonkurrenzen reagiert diese inhaltlich und
Neben dem sich in den 1880er Jahren formieren- formal.
den Naturalismus und vor dem europaweiten Die Ambivalenzen der Epoche um 1900 zeigen Kritische Revision des
»Aufbruch der historischen Avantgarde um 1910« sich insgesamt zwischen Aufbruchseuphorie, Fort- Fortschrittversprechens
(Fähnders 2010, S. 123) lässt sich um 1900 ein schrittsoptimismus und kulturkritisch getönter
komplexes Neben- und Gegeneinander ästheti- Endzeitstimmung sowie in der kritischen Revision
scher Neuformierungen sowie eines Stilpluralis- des Fortschrittsversprechens. Ein vielfältiger Aus-
mus anti- bzw. postnaturalistischer Kunstpro- tausch mit anderen zeitgenössischen Diskursen
gramme beobachten, das sich nicht (mehr) einem kennzeichnet die Literatur der Zeit. So wird ein
linearen literarhistorischen Konzept der Abfolge Feld sehr heterogener, auch widersprüchlicher,
von Epochen fügt. In den ästhetischen Debatten Phänomene mit dem terminologisch unscharfen
und literarischen Praktiken entwirft sich an dieser Begriff der literarischen Moderne umspannt. Der
historischen Schwelle programmatisch die litera- Terminus ist in dem Sinne unbedingt als eine Zu-
rische Moderne, welche die gesellschaftlichen schreibung zu sehen, die sich aus der Differenz
Modernisierungsprozesse kritisch verarbeitet. Auf (des ›Neuen‹) zu einem als überholt gesetzten ›Al-
die Herausforderungen einer seit Ende des 19. Jh.s ten‹ speist und in der Literaturgeschichte keines-

327
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

falls neu, ohne Tradition ist (generell zur Epoche venlebens« (Simmel 1995, S. 116) stellt u. a. Georg
vgl. u. a. Fähnders 2010; Kiesel 2004). Simmels Großstadtessay im Jahr 1903 fest und
reiht sich ein in die zeitgenössischen Diagnosen
eines epochalen modernen Symptoms: Nervosität
3.5.3.2 | Ereignis- und Sozialgeschichte/
bzw. Neurasthenie als Zivilisationskrankheit. Die
mediengeschichtliche und wissenschaftliche
Erfahrung der »Zersetzung ganzheitlicher Wahr-
Kontexte
nehmungsbilder« (Segeberg 2000, S. 424) sind um-
Nach der Reichsgründung 1871 ist Deutschland von fangreichen technologischen (neue Verkehrsmittel
einer Beschleunigung der Industrialisierung und und Kommunikationstechnik), ökonomischen, so-
des Wirtschaftswachstums sowie einer raschen zialen, aber auch medialen Entwicklungen ge-
Modernisierung der Produktionsweisen geprägt, schuldet.
was nicht zuletzt durch die französischen Repara- Von einer mediengeschichtlichen Revolution
tionsleistungen nach dem deutsch-französischen seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s lässt sich inso-
Krieg 1870/71 ermöglicht wird. Im Zuge der vorü- fern sprechen, als technische Apparaturen dem
bergehenden wirtschaftlichen Blütezeit der Grün- Wahrnehmungsvermögen des menschlichen Au-
derjahre setzen – im Vergleich zu anderen europä- ges und Ohres, der bisherigen Zeit- und Raumer-
ischen Staaten – verspätet die Landflucht und fahrung, aber auch dem Repräsentationsanspruch
Urbanisierung größeren Ausmaßes ein. Berlin der Künste Konkurrenz bieten. Neben der Erfin-
wächst innerhalb weniger Jahre zu einer großen dung des Phonographen (1877) und des Grammo-
europäischen Metropole heran (vgl. Wehler 1995). phons (1887) ist im Bereich des Visuellen der Weg
Kommunikation, Verkehr und Warenproduktion von der frühen Fotografie in den 1830er Jahren
vervielfachen sich analog dazu. Erhöhte Mobilität, (Louis Daguerre) über die Serienfotografie der
Rationalisierung, Fragmentarisierung und Beschleu- gleichsam bewegten Bilder (1878) zum Film (1895
nigung des Lebens verdanken sich u. a. neuen Tech- erfolgte die erste öffentliche Filmvorführung der
nologien (z. B. Elektrifizierung) und industriellen Brüder Lumière in Paris), aber etwa auch zur
Fertigungsprozessen. In vorher nie gekanntem Aus- Röntgentechnik (1895) bedeutsam. Konzepte des
maß führt die gesellschaftliche Modernisierung zu künstlerischen Realismus müssen sich nicht nur
einem ökonomischen und sozialen Wandel (mit mit der technischen Perfektion von Wahrnehmung
seinen negativen Kehrseiten der sozialen Verelen- messen, Repräsentation von Wirklichkeit über-
dung und Verarmung), zu potenzierter Entfrem- haupt steht zur Disposition, wenn die technischen
dungserfahrung, Vernichtung von Tradition, Verlust Apparate eine für das menschliche Auge nicht
metaphysischer Gewissheiten, zur Neubestimmung sichtbare, andere Welt erschließen.
und Pluralisierung von Werten, Normen und Le- Die Natur- und Sozialwissenschaften gewinnen
Politische und bensstilen. Dazu gehören die folgenreichen poli- seit der Mitte des 19. Jh.s zunehmend an Bedeu-
soziale Konsequenzen tischen und sozialen Konsequenzen durch ein tung und werden zu leitenden Disziplinen für die
entstehendes Industrieproletariat und die Arbeiter- Neuformierung des Welt- und Menschenbildes.
bewegung, die Herausbildung einer urbanen Mas- Auf Beobachtung, Experiment und empirische
sengesellschaft, die Formierung unterschiedlicher Überprüfbarkeit setzt der von dem französischen
Reform- und Protestbewegungen (u. a. bürgerliche Philosophen Auguste Comte begründete Positivis-
und proletarische Frauenbewegung, Lebensre- mus. Nachhaltige Wirkung in der Erfolgsgeschich-
form-, Jugend- und Friedensbewegung), der Bruch te der empirisch orientierten Naturwissenschaften
mit tradierten Vorstellungen von Familie, Ehe, Lie- ist ebenso von Charles Darwins Evolutionslehre
be, Geschlechterbeziehungen, sowie ein veränder- ausgegangen, die in Deutschland vor allem durch
tes Körper- und Menschenbild. Ernst Haeckel in popularisierter Form verbreitet
Zum geradezu verdichteten Erfahrungsort der wurde. Die Metapher vom ›Kampf ums Dasein‹
umfangreichen gesellschaftlichen Modernisierung durchzieht fortan die verzweigte Rezeption darwi-
avanciert in dieser Zeit die Großstadt, deren Wahr- nistischer Lehre, etwa in der verhängnisvollen Be-
nehmung um 1900 »zwischen Faszination und Ab- gründung von Eugenik und Rassenlehre oder auch
wehr« (Kimmich/Wilke 2006, S. 55) pendelt. Der in psychiatrischem und kriminalanthropologi-
Großstadtdiskurs um 1900 richtet seine Aufmerk- schem Wissen, in der Degenerationstheorie (Bé-
samkeit auch auf die Historizität von Werten und nédict Augustin Morel) und dem Diskurs über
Normen, auf die kulturelle Veränderung der Entartung (Cesare Lombroso, Max Nordau). Die
Wahrnehmung selbst: Eine »Steigerung des Ner- Errungenschaften des biologisch-medizinischen

328
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Naturalismus und
Jahrhundertwende

Wissens um 1900 bilden hier zugleich die Perspek- Zeittafel


tive wissenschaftlicher Fortschrittsutopien und
kulturpessimistischer Diagnosen eines Zeitalters 1873 Weltwirtschaftskrise
des Verfalls und Niedergangs – in politischer, sozi- 1877 Erfindung des Phonographen (Thomas Alva Edison)
aler, kultureller und moralischer Hinsicht. 1878–90 Sozialistengesetz
Die Rückseite eines über die Lebensphiloso- 1878 Serienfotografie (Eadweard Muybridge)
phie, u. a. Wilhelm Diltheys (1833–1911), Fried- 1887 Entwicklung des Grammophons (Emil Berliner)
rich Nietzsches (1844–1900) und Henri Bergsons, 1888 Wilhelm II. (Thronbesteigung) und Beginn der sog. Wilhelmini-
inspirierten, emphatisch aufgeladenen Lebensbe- schen Epoche (bis 1918)
griffs wird im zeitgenössischen Diskurs der Deka- 1895 Erste öffentliche Filmvorführung in Paris durch die Brüder Lumière
denz verhandelt, der wesentlich über Nietzsche 1895 Entdeckung der Röntgenstrahlen durch Wilhelm Conrad
aus Frankreich vermittelt ist. Ähnliche Ambiva- Röntgen
lenzen ergeben sich durch die Setzung und die 1905 Albert Einstein: Zur Elektrodynamik bewegter Körper (Spezielle
Verabschiedung eines positivistischen Objektivi- Relativitätstheorie)
tätsanspruchs: Albert Einsteins Relativitätstheorie
erschüttert die vermeintlich stabilen Größen Zeit
und Raum, Nietzsches Philosophie erklärt die radi- programms stammen aus Frankreich (vor allem
kale Erkenntnisskepsis, der Empiriokritizismus Émile Zola), aus Skandinavien (Henrik Ibsen, Au-
des Physikers Ernst Mach, eine zwischen Physik gust Strindberg) und Russland (vor allem Lev Tols-
und Psychologie vermittelnde Lehre der Empfin- toi). Daneben werden auch Vorbilder in der deut-
dungen, relativiert Wahrnehmung und Erkenntnis schen literarischen Tradition gesucht (›Sturm und
und problematisiert das Ich als eine Illusion und Drang‹, s. Kap. III.3.3.3; ›Vormärz‹, s. 3.5.1).
instabile Größe zwischen Reizen und subjektiven Poetologie und Ästhetik: Das naturalistische
Empfindungen. Auch Sigmund Freuds Psychoana- Kunstprogramm beansprucht im Zeichen einer
lyse demontiert die vermeintlich souveräne In- »programmatische[n] Moderne« (Kiesel 2004, S. 13)
stanz des Ich. die unmittelbare Zeitgenossenschaft zum industri-
ellen, technischen und wissenschaftlichen Fort-
schritt. Es ist insofern zugleich als eine Kritik und
3.5.3.3 | Naturalismus
»Radikalisierung des Poetischen Realismus« (Bun-
Erneuerung der Kunst und soziale Frage: Der deut- zel 2008, S. 7; vgl. auch Sprengel 2007, S. 685) zu
sche Naturalismus, der sich als eine dezidiert ur- betrachten, als es sich mit einem forcierten Mime-
bane und ›moderne‹ Künstlerbewegung entwirft, sisanspruch vom Ideal einer Poetisierung der Welt
wirkt vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten (s. 3.5.2) abwendet, um eine möglichst unge-
des 19. Jh.s und konzentriert sich auf die großstäd- schminkte Darstellung der (sozialen) Realität über
tischen Zentren München und Berlin. Gesell- die Annäherung an wissenschaftliche Verfah-
schaftskritik, politische Parteinahme (im Umfeld rensweisen und deren Wahrheitsanspruch zu er-
der damaligen Sozialdemokratie) wie künstleri- zielen (dominante Sujets sind u. a. Sexualität,
sche Erneuerung stehen gleichermaßen auf der Krankheit, soziales Elend, Alkoholismus, Prostitu-
Agenda der Bewegung, die diesen Anspruch mit tion). Dieses Ziel formuliert etwa Wilhelm Böl-
der Bezeichnung der eigenen Epoche als »Moder- sches Programmschrift über Die naturwissen-
ne« (erstmals 1886 in 10 Thesen der Berliner schaftlichen Grundlagen der Poesie (1887): Am
Schriftstellervereinigung »Durch!«) nachdrücklich »realen Standpuncte« hätten »der Naturforscher
einfordert. Das kämpferische Pathos der Erneue- und der Dichter gleich großen Antheil« (Bölsche
rung ist nicht zuletzt an Zeitschriftentiteln wie Kri- 1976, S. 1). Empirie und Experiment werden im Empirie und Experiment
tische Waffengänge (1882–84) der Brüder Heinrich Kontext des von Auguste Comte begründeten Posi-
und Julius Hart oder an der programmatischen tivismus auch als prägend für die literarische Pro-
Schrift Revolution der Literatur (1886) von Karl duktion angenommen. Bereits Émile Zola fordert
Bleibtreu ablesbar. Das zielt in erster Linie auf den in seinem einflussreichen Essay Le roman expéri-
Bruch mit der konservativen, im Dienst der nati- mental (1880) für den Roman eine Laborsituation
onalen Repräsentation stehenden, gründerzeit- und ein gleichsam naturwissenschaftliches Experi-
lichen Kunst (vgl. Bunzel 2008, S. 16 f.; zum Na- ment, in dem der Autor zum Beobachter und Ex-
turalismus insgesamt vgl. Stöckmann 2011). perimentator mit anthropologischen und soziolo-
Wesentliche Einflüsse des naturalistischen Kunst- gischen Wissensbeständen (vgl. Bunzel 2008,

329
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

S. 30 f.) wird. In diesem Kontext werden die Sozio- ralismus (vgl. u. a. Fähnders 2010, S. 30–32). Sie
logie und die Biologie gewissermaßen zu wissen- greift damit einen Begriff auf, der bereits unter den
schaftlichen Leitdisziplinen für den Naturalismus. Naturalisten zirkulierte und wesentlich die experi-
Die Determination des Menschen durch soziale mentelle Ausrichtung der von Arno Holz und Jo-
und genetische Prägungen ist ein zentraler Aspekt hannes Schlaf (1862–1941) gemeinsam verfassten
naturalistischer Literatur (für Handlungs- und Fi- Texte bezeichnet, z. B. die Erzählung Papa Hamlet
gurenkonzepte) und Programmatik (vgl. Meyer (1889) und das Drama Die Familie Selicke (1890).
2000). Entscheidende Einflüsse stammen aus der Die besondere mediale Herausforderung literari-
Evolutionslehre Darwins und der Milieutheorie, scher Gestaltungsperspektiven durch die neuen
wie sie vor allem Émile Zola entwickelte und da- technischen Reproduktionsmedien zeigt sich dort
mit eine Grundlage naturalistischer Ästhetik schuf. etwa in der Darstellungstechnik des sogenannten
Inspiriert war diese wiederum von der Theorie des ›Sekundenstils‹.
französischen Philosophen und Historikers Hippo-
lyte Taine, der drei determinierende Faktoren für Definition
die wissenschaftlich positivistische Erkenntnis des
Menschen, der Geschichte und Gesellschaft, an- Als   Sekundenstil gilt die maximale Annä-
nahm: genetische Abstammung (race), soziologi- herung von Erzählzeit und erzählter Zeit.
scher Faktor (milieu) sowie aktuelle geschichtliche Das Ziel einer möglichst vollkommenen Illu-
Prägung (moment). Auch soziale und seelische sion setzt zugleich die möglichst exakte
Vorgänge sollen – so der Anspruch – in ihren Ge- fotografische Deskription und phonographi-
setzmäßigkeiten wie die physikalische Natur exakt sche Wiedergabe des Geschehens sowie die
erfassbar sein. genaue Transkription des Gesprochenen
Für den deutschen Naturalismus hat Arno Holz (u. a. Dialekt, Jargon, Lautmalerei) voraus
(1863–1929) in seiner Schrift Die Kunst. Ihr Wesen (vgl. Fähnders 2010, S. 44 f.).
und ihre Gesetze (1891) die angenommene Gesetz-
mäßigkeit aller Dinge zur Basis eines Kunstgeset-
zes erklärt, das nach der mathematischen Formel Lyrik ist als Gattung nicht sehr prägend für den
Mathematische Formel des »Kunst=Natur – x« (Holz 1987, S. 149) funktio- Naturalismus geworden, obgleich sich die Bewe-
Kunstgesetzes nach A. Holz nieren soll. Der naturalistische Mimesisanspruch gung mit dem Programm einer Revolutionierung
kann sich nach dieser Formel niemals absolut rea- der Literatur zunächst vor allem mit Gedicht-An-
lisieren. Die minimale Differenz zwischen Natur thologien wie der ersten kollektiven Publikation
und künstlerischem Abbild, den Faktor x, lokali- Moderne Dichter-Charaktere (1885) profiliert hat.
siert Holz in den Reproduktionsbedingungen und Insgesamt bietet die naturalistische Lyrik ein we-
ihrer Handhabung, d. h. in den technischen Rah- nig konsistentes Bild. Im Bruch mit der gründer-
menbedingungen und der Eigenheit des Materials zeitlichen Lyrik wird u. a. auf die Genie-Ästhetik
(z. B. der Sprache) und schreibt ihm u. a. auch die des ›Sturm und Drang‹ zurückgegriffen. Eine Ak-
experimentelle Kreativität des Künstlers zu. Das tualisierung politischer Lyrik erprobt Karl Hen-
Innovationspotential der Literatur sucht Holz nicht ckell z. B. im Poetischen Skizzenbuch (1885). Inno-
in neuen Inhalten, sondern in einer auf wissen- vativ ist vor allem ein neues Themenspektrum,
schaftliche Prinzipien vertrauenden Ästhetik, wo- das sich um die Erfahrungswelt der Großstadt und
mit der Naturalismus vor allem eine Frage der um die soziale Frage rankt (u. a. Arno Holz: Buch
Form wird. Die Literaturwissenschaft spricht in der Zeit, 1886). In formaler Hinsicht gehen die Er-
dem Zusammenhang vom konsequenten Natu- neuerungsversuche jedoch nicht über die weitge-
Poetik / Ästhetik hende Auflösung von Reim, Strophe und Metrum,
über die Annäherung an die Prosarede, hinaus.
1863 Hippolyte Taine: Histoire de la littérature anglaise Mit der Simulation mündlicher Rede und dem Ver-
1880 Émile Zola: Le roman expérimental such, die Vielstimmigkeit des urbanen Erfah-
1886 Karl Bleibtreu: Revolution der Literatur rungsraums mit experimentellen Montagetechni-
1887 Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen ken darzustellen, nähern sich Karl Henckells
der Poesie Großstadtgedichte bereits den wesentlich radika-
1891 Arno Holz: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze leren Formexperimenten der Prosa.
1899 Arno Holz: Revolution der Lyrik Erzählprosa: Der Anspruch einer Verwissen-
schaftlichung der Schreibweisen hat sich in der

330
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Naturalismus und
Jahrhundertwende

Lyrik Prosa

1885 Wilhelm Arent (Hg.): Moderne 1888 Max Kretzer: Meister Timpe
Dichter-Charaktere 1888 Gerhart Hauptmann: Bahnwärter
1885 Karl Henckell: Poetisches Skizzenbuch Thiel
1886 Arno Holz: Buch der Zeit. Lieder eines 1888–95 Conrad Alberti: Der Kampf ums
Modernen Dasein
1898/99 Arno Holz: Phantasus 1889 Arno Holz/Johannes Schlaf: Papa
Hamlet
1902 Clara Viebig: Das tägliche Brot
naturalistischen Prosa vor allem in epischen Klein-
formen (wie Novelle, Skizze, Studie) niederge-
schlagen. Das narrative Modell der Studie oder alen Milieus in der Figurenkonzeption kennzeich-
Skizze ist als Versuch zu sehen, das empirisch nen das naturalistische Drama. Vererbungs- und
Beobachtbare als etwas Vorläufiges, Entwurfsarti- Milieutheorie bestimmen den dramatisch-wissen-
ges bei gleichzeitigem Bemühen um maximale schaftlichen Diskurs, der häufig im Strukturmodell
Authentizität gleichsam nachforschend aufzu- des analytischen Dramas (s. Kap. III.4.4) begegnet.
zeichnen. Die naturalistischen Milieustudien rich- In diesem Punkt und in der häufigen Beschrän-
ten sich selektiv auf Ausschnitte statt auf einen kung auf den familiären Binnenraum der Familie,
größeren Erzählzusammenhang von Lebenswelt auf soziale Not und Zerrüttung (Holz/Schlaf: Die
und bieten Fragmentarisches statt eines abge- Familie Selicke, 1890; Hauptmann: Vor Sonnenauf-
schlossenen Werkes. Gerhart Hauptmanns »novel- gang, 1889), zeigt sich zugleich der prägende Ein-
listische Studie« Bahnwärter Thiel (1888) sprengt fluss der gesellschaftskritischen Stücke des Nor-
ein konventionelles Erzählverfahren, indem sie wegers Henrik Ibsen. Ein gesteigerter szenischer
sich über die Technik des inneren Monologs auf Illusionismus und der Effekt von Authentizität
die exakte innenperspektivische Darstellung psy- werden u. a. über die Einheit von Zeit, Ort und
chischer Realität konzentriert und so Schritt für Handlung, Sekundenstil, Dia- und Soziolekt ange-
Schritt den Fall ihres Protagonisten in den Wahn- strebt. Auch Hauptmanns historisches Revoluti-
sinn beobachtet. Radikaler ist etwa die Skizzen- onsdrama Die Weber (1892) über den Aufstand der
sammlung Papa Hamlet (1889) von Holz und schlesischen Weber 1844 (Erstfassung im schlesi-
Schlaf. Mit der Technik des ›Sekundenstils‹ wird schen Dialekt), in dem der individuelle Held Teil
hier fast vollständig auf die ordnende Erzählin- eines größeren Kollektivs ist, zeichnet sich durch
stanz zugunsten gesteigerter Illusionsbildung ver- eine auf maximale Illusion setzende Dramaturgie
zichtet. Der naturalistische Roman hat sich we- aus, die bezeichnenderweise ohne episierende
sentlich als ›sozialer Roman‹ profiliert. Die Momente nicht auskommt, etwa in Form ausge-
prekären sozialen Bedingungen der Proletarisie- dehnter Bühnenanweisungen oder in Gestalt des
rung und Urbanisierung verhandelt der auf lokale Boten aus der Fremde als einer vermittelnden In-
Milieuschilderungen konzentrierte Typus des so- stanz zur Analyse des Milieus. Arno Holz: Phantasus
genannten Berliner Romans. Dazu gehören z. B. (1898)
Max Kretzers (1854–1941) Meister Timpe (1888) Dramen
und Clara Viebigs (1860–1952) Das tägliche Brot
(1902). Literarisches Vorbild für naturalistische 1889 Gerhart Hauptmann: Vor Sonnen-
Romanzyklen wie etwa Conrad Albertis (1862– aufgang
1918) Der Kampf ums Dasein (1888–95) war Émile 1890 Arno Holz/Johannes Schlaf: Die
Zolas, 20 Bände umfassendes, großes Romanpro- Familie Selicke
jekt Les Rougon-Macquart (1871–1891). 1892 Hauptmann: De Waber/Die Weber
Drama: Als erfolgreichste naturalistische Gat- 1892 Max Halbe: Eisgang
tung darf in den 1890er Jahren das Drama gelten, 1892 Johannes Schlaf: Meister Oelze
insbesondere prägten Gerhard Hauptmanns 1893 Elsa Bernstein: Dämmerung
(1862–1946) Stücke nachhaltig das Genre. Aus- 1893 Hauptmann: Der Biberpelz
schnitthafte Begrenzung, Handlungsarmut zu-
gunsten einer tendenziellen Zustandsschilderung
sowie die Dominanz des determinierenden sozi-

331
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

Interpretationsskizze Skizze im Sekundenstil – Holz/Schlaf: eine Handlungsabfolge vor. Vielmehr handelt es


Papa Hamlet sich um eine Reihung ausschnitthafter Zustands-
beschreibungen, die keine erkennbar narrative
Was? Das war Niels Thienwiebel? Niels Thienwiebel, der große, Funktion in einem Handlungszusammenhang
unübertroffene Hamlet aus Trondhjem? Ich esse Luft und werde mehr erfüllen. Der Text beginnt in medias res und
mit Versprechungen gestopft? Man kann Kapaunen nicht besser lässt von Anfang an eine Orientierung bietende
mästen?… Erzählinstanz vermissen. Sie ist bis auf minimale
»He! Horatio!« Partikel zugunsten szenisch-dialogischer Passa-
»Gleich! Gleich, Nielchen! Wo brennt’s denn? Soll ich auch die gen zurückgenommen. Sowohl der Kontext des
Skatkarten mitbringen?« Geschehens als auch die Zuordnung der Dialoge
»N … nein! Das heißt …« zu Figuren bleiben unvermittelt. Indem die Auf-
– – »Donnerwetter noch mal! Das, das ist ja eine, eine – Bade- merksamkeit sich offenbar ziellos auch auf das
wanne!« noch so unwichtige Detail richtet, scheint sich
Der arme kleine Ole Nissen wäre in einem Haar über sie gestol- diese in Bruchstücke aufgelöste soziale Welt von
pert. Er hatte eben die Küche passiert und suchte jetzt auf allen selbst zu erzählen und produziert fortlaufend
vieren nach seinem blauen Pincenez herum, das ihm wieder in eine Kette skizzenhaft montierter Wirklichkeits-
der Eile von der Nase gefallen war. effekte (s. Kap. III.4.2). An die Stelle eines ge-
»Hä? Was? Was sagste nu?!« schlossenen Ganzen, das den Überblick ermög-
»Was denn, Nielchen? Was denn?« (19) licht, tritt so mit dem Verfahren des Sekundenstils
der Vollständigkeitsanspruch einer mikrosko-
Das Gemeinschaftswerk von Arno Holz und Jo- pisch übergenauen, exakten Registratur der Dinge
hannes Schlaf erscheint 1889 unter dem Pseudo- (des Gesehenen und Gehörten). Der Effekt von
nym eines vermeintlich norwegischen Autors, Unmittelbarkeit und Vergegenwärtigung verdankt
Bjarne P. Holmsen. Holz und Schlaf reagieren sich nicht nur der maximalen Annäherung von
damit ironisch entlarvend auf die zeitgenössische Erzählzeit und erzählter Zeit, sondern auch dem
Konjunktur skandinavischer Literatur. Papa Versuch einer genauen Wiedergabe des Gespro-
Hamlet ist im Vorwort als ein erzählerisches Ex- chenen und der Geräusche (Lautmalerei). Sogar
periment vorgestellt, dessen unmittelbare Nähe die Interpunktion avanciert zu einem wichtigen
zu den »Seziersälen der Anatomie« und dessen Ausdrucksmittel (vgl. Bunzel 2008, S. 63). Deren
»Vorliebe für die nackte Realität der Dinge« (16) semantische Aufladung in Verbindung mit Laut-
behauptet wird. malerei findet sich etwa an folgender Textstelle,
Der Protagonist Niels Thienwiebel, ein arbeitslo- als sich gerade die Katastrophe ereignet hat:
ser Schauspieler (Hamlet-Darsteller), lebt, dem
Alkohol verfallen, dem Wahnsinn nahe und rest- Eine Diele knackte, das Öl knisterte, draußen auf die Dachrinne
los verarmt, mit seiner Familie in einer herunter- tropfte das Tauwetter.
gekommenen Wohnung. Weil die Miete schon Tipp ………………………………..Tipp ……………
länger nicht mehr aufgebracht werden kann, Tipp ……………………………..Tipp ……………………… (62).
droht die Räumung der Wohnung zum kommen-
den Neujahrstag. Die familiären Beziehungen Auslassungspunkte zeichnen das unbestimmte
sind von roher Gewalt zwischen Thienwiebel, Vergehen von Zeit auf. Über die vermeintlich ob-
dessen schwindsüchtiger Frau Amalie und dem jektive Registratur des Milieus hinaus wird eine
kleinen Sohn Fortinbras geprägt. Am Silvester- Deutungsperspektive angeboten, in der die Dinge
abend eskalieren die Verhältnisse: Betrunken er- zeichenhaft werden. So scheint das tropfende
würgt Thienwiebel seinen kranken Sohn, als der Tauwasser zugleich den unaufhaltsamen Rhyth-
unaufhörlich hustet. Einige Tage später wird er mus der Schicksalsschläge und der determinie-
selbst erfroren auf einer Straße gefunden. Der renden Verhältnisse anzuzeigen.
Niedergang der Familie ist in einzelnen Abschnit- Die vermeintliche Unmittelbarkeit einer sprachli-
ten erzählt, die jeweils Momentaufnahmen des chen Repräsentation der Realität erweist sich als
elenden Milieus in seiner unausweichlichen ›Na- Effekt eines sorgfältigen ästhetischen Arrange-
turgesetzlichkeit‹ dokumentieren. Es liegt keine ments, womit dem Faktor »x« in Holz’ Kunstge-
konventionelle Geschichte mit Konzentration auf setz aber eine weitaus größere Bedeutung zu-

332
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Naturalismus und
Jahrhundertwende

wächst, als es das Gesetz behauptet. Das Konzept und III.3.6.1). Die übergenaue Registratur sowie
eines konsequenten Naturalismus öffnet sich be- die ausschnitthafte, flüchtige Skizzenhaftigkeit
reits einer Perspektive, die die Sprache im experi- produzieren in Papa Hamlet Verunsicherung
mentellen Gebrauch als Material von ihrer Mittei- über die ›Wirklichkeit‹ des Beobachteten und
lungsfunktion abkoppelt (vgl. Bunzel 2008) und leisten damit wiederum dessen verfremdender
die Nähe zu modernen antinaturalistischen, Auflösung Vorschub, was zum produktiven Mo-
nicht mehr am Mimesis-Begriff festhaltenden ment in der modernen Kunst und Literatur um
Verfahrensweisen dokumentiert (s. Kap. III.3.5.3.4 1900 avanciert.

3.5.3.4 | Anti- und postnaturalistische »Die Bilder der äußeren Welt zu verlassen um lieber die
Strömungen um 1900 Rätsel der einsamen Seele aufzusuchen – dieses wurde die
Losung: Man forschte nach den letzten Geheimnissen,
welche im Grunde des Menschen schlummern. Aber diese
In den 1890er Jahren formiert sich in Konkurrenz Zustände der Seele zu konstatieren genügte dem unsteten
zu einem naturwissenschaftlich-positivistischen Fieber der Entwickelung bald nicht mehr, sondern sie ver-
langten lyrischen Ausdruck […]. So kam man von der Psy-
Konzept der Dichtung eine anti- oder auch postna- chologie, zu welcher man durch einen konsequenten Na-
turalistische literarische Moderne, die sich als turalismus gekommen war, weil ihre Wirklichkeit allein
Vielfalt heterogener Strömungen und Stile be- von uns erfaßt werden kann […], notwendig am Ende
greifen lässt. Das Präfix ›post‹ ist nicht nur im zeit- zum Sturze des Naturalismus: Das Eigene aus sich zu ge-
stalten, statt das Fremde nachzubilden, das Geheimnis
lichen Sinne zu verstehen, sondern auch als kriti- aufzusuchen, statt dem Augenschein zu folgen, und ge-
sche Abkehr von der naturalistischen Perspektive rade dasjenige auszudrücken, worin wir uns anders fühlen
und insofern als eine Verschiebung der Aufmerk- und wissen als die Wirklichkeit.« (Bahr 2000, S. 199 f.).
samkeit vom objektiven zum subjektiven Wahr-
heitsanspruch, vom Geschichtlichen und Sozialen Die den Naturalismus sprengende Kunst tauscht
zum Individuellen. Drei Tendenzen lassen sich in den objektiven Wahrheitsanspruch Bahr zufolge Das Subjektive statt
der Vielfalt der Ansätze erkennen: gegen das Subjektive. Er kennzeichnet sie als »ner- des objektiven
N Eine sich um 1900 artikulierende Fortschritts- vöse Romantik« und »Mystik der Nerven« (ebd., Wahrheitsanspruchs
skepsis, die Erkenntnis-, Subjekt- und Sprach- S. 202), wobei der Rückgriff auf die Romantik zu-
krise bringen nicht nur das Moment objektiver gleich schon die Differenz im Blick auf das moder-
Wahrheit, sondern auch die Gewissheit der lite- ne (auch von Medizin und Psychologie geprägte)
rarischen Repräsentationsfunktion ins Wanken Wissen vom Menschen um 1900 festhält. So ha-
und verabschieden den Mimesisanspruch. ben nicht allein literarische Darstellungen von
N An die Stelle des dem wissenschaftlichen Expe- Krankheit, Wahnsinn, Hysterie etc. um 1900 Hoch-
riment verpflichteten Kunstwerks rückt das konjunktur, überhaupt avanciert die Frage nach
künstlerische Experiment. den Gefährdungen und Möglichkeiten des moder-
N Im Gegensatz zu einem »eher instrumentellen nen Subjekts zu einem der zentralen Themen. Die
Literaturbegriff« (Fähnders 2010, S. 89) des Na- moderne Nervenkunst verhandelt dementspre-
turalismus stehen Entwürfe des autonomen li- chend den Verlust eines souveränen Subjekts, tra-
terarischen Kunstwerks. ditioneller Werte sowie verlässlicher Größen der
»Überwindung des Naturalismus«: Die antinatura- Weltdeutung. Die Relativierung von Erkenntnis Relativierung
listische Literatur ist u. a. maßgeblich vom medizi- und Wahrnehmung (Friedrich Nietzsche, Ernst von Erkenntnis und
nischen, psychologischen bzw. psychoanalytischen Mach), die in Machs Empfindungslehre das Sub- Wahrnehmung
Wissen geprägt, ohne allerdings – wie noch der jekt als nur instabiles, flüchtiges Resultat der empi-
Naturalismus – die Dichtung als »Verdoppelung rischen Erfahrungen betrachtet, bilden wesentliche
des wissenschaftlichen Diskurses« (Kimmich/Wil- Impulse für das heterogene Feld antinaturalisti-
ke 2006, S. 79) zu setzen. Dagegen behauptet sich scher Dichtung, die sie sowohl affirmativ als auch
nun die Eigenständigkeit des literarischen Diskur- kritisch aufnimmt. Wenn Bahr den literarischen
ses im Austausch mit den wissenschaftlichen Dis- Entwürfen attestiert, sie gestalteten »das Eigene
ziplinen. Hermann Bahrs (1863–1934) Beitrag Die aus sich«, so zeugt das u. a. bereits von den Ambi-
Überwindung des Naturalismus (1891) kommen- valenzen im Diskurs der Subjektkrise, zwischen
tiert signifikante Akzentverschiebungen: Auflösung und Rettung des Ich.

333
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

Sprachskepsis: Ein grundsätzlicher Zweifel an der Verlust von Ganzheit zugunsten des sich ver-
der Ausdrucks- und Bezeichnungsfunktion der selbständigenden Details gelten um 1900 als kultu-
Sprache ist um 1900 ein wirkmächtiger philoso- relle Symptome der (literarischen) Dekadenz.
phischer und literarischer Diskurs, der u. a. von Künstlerische Verfeinerung und Ich-Verlust, ›Le-
Friedrich Nietzsche (Über Wahrheit und Lüge im bensschwäche‹ bzw. Tod sind in diesem Diskurs
außermoralischen Sinne, 1873) und Fritz Mauth- untrennbar miteinander verbunden. Inspiriert
ners Werk Beiträge zu einer Kritik der Sprache durch die Theorie, die der Franzose Paul Bourget
(1901/02) geprägt wird. Der Zweifel an der Fähig- in seinen Essais de psychologie contemporaine
keit der Sprache, die Welt auf den Begriff bringen (1883) anhand von Dichterporträts entwickelt,
zu können, verbindet sich in diesem Kontext be- spricht Nietzsche von den Kennzeichen literari-
Annahme reits mit der Annahme der sprachlichen Vermittelt- scher Dekadenz:
der sprachlichen heit einer jeden Erkenntnis. Die sprachkritische
»Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence?
Vermitteltheit Perspektive, dass die Welt und die Dinge ihren Ort
Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das
jeder Erkenntnis nicht in der Sprache haben, führt jedoch keines- Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der
wegs zum Verstummen, sondern befördert gerade- Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die
zu auch die Suche nach kreativem Sprachpoten- Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das
Ganze ist kein Ganzes mehr. […] Das Ganze lebt über-
tial sowie zahlreiche Sprachexperimente in der
haupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet,
Literatur. Den Punkt des Umschlags markiert künstlich, ein Artefakt« (Nietzsche 1988, S. 27).
gleichsam das bekannteste literarische Zeugnis
dieses Diskurses, Hugo von Hofmannsthals (1874– Das Primat von Künstlichkeit, das auch die Gren-
1929) Prosatext Ein Brief (1902): zen zwischen Fiktion und Realität unsicher wer-
den lässt, ist insgesamt signifikant für die antina-
»Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts turalistischen ästhetischen Verfahren um 1900.
mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte Auf den im urbanen Raum der Moderne und durch
schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten technische Medien bedingten Wahrnehmungs-
und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die wandel, der Zeit- und Raumerfahrung sowie ver-
hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und traute Wirklichkeiten auseinanderbrechen oder
durch die hindurch man ins Leere kommt« (26). fremd werden lässt, reagieren literarische Techni-
ken der Verfremdung produktiv.
Ein grundlegendes Sprachmisstrauen, eine Er- Konkurrierende Strömungen und Stile: Die für
kenntnis- und dichterische Schaffenskrise beglei- die heterogenen anti- bzw. postnaturalistischen
ten den fiktiven Verfasser des Briefes, Lord Chan- Strömungen gebräuchlichen literaturwissenschaft-
dos. Nicht nur sucht er in den Worten die Dinge lichen Epochen- und Stilbezeichnungen sind un-
vergeblich, vielmehr hat sich die Sprache gerade- einheitlich und bieten sowohl konkurrierende als
zu bedrohlich verselbständigt. Doch bereits die auch komplementäre Deutungen, die sich zudem
überbordenden Sprachbilder deuten an, dass der auf unterschiedliche Qualitäten des jeweils Be-
Brief keinesfalls als Dokument eines sprachlichen zeichneten richten und nicht klar voneinander ab-
Verstummens lesbar ist, stellt er doch höchst elo- zugrenzen sind:
quent und selbstreflexiv das Potential poetischer N Ästhetizismus hat sich in der Literaturwissen-
Sprache aus: Dort, wo die begriffliche Sprache schaft als ein Oberbegriff für die antinaturalisti-
versagt, tritt sie auf den Plan und vermag eine ei- schen Strömungen der Jahrhundertwende, die so-
gengesetzliche ästhetische Welt im sprachlichen genannten Ismen, eingebürgert (vgl. Sprengel
Kunstwerk zu erschaffen. Damit sind die Perspek- 1998, S. 116) und wird auch mit einem radikalisier-
tiven und Spielräume einer radikalen, von allen ten Verständnis von Kunstautonomie (l’art pour
Zweckbestimmungen befreiten Autonomieästhe- l’art) verbunden, für das etwa Stefan George steht.
tik des Ästhetizismus ausgelotet, der sich als N Wiener Moderne wird ebenfalls als Sammelbe-
Rückzug in ästhetische Gegenwelten – als Kunst- griff (für Impressionismus, Dekadenz und Symbo-
und Lebensprogramm – mit der Verabschiedung lismus) verwendet (vgl. Lorenz 2007) und bezeich-
des literarischen Mimesisanspruchs und dem Pri- net sowohl regionale Differenzen (z. B. im Kontrast
mat der Künstlichkeit ex negativo auf die moder- zur ›Berliner Moderne‹) als auch die signifikante
ne urbane Lebenswelt bezieht. Prägung dominanter Tendenzen im Wiener Kon-
Kunst und Leben: Die Dominanz des Künstli- text um 1900 (u. a. Hermann Bahr, Hugo von Hof-
chen (des Artefakts) gegenüber dem ›Leben‹ und mannsthal, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg).

334
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Naturalismus und
Jahrhundertwende

N Fin de Siècle, zunächst der Titel eines Pariser Poetik/Ästhetik und Kontexte
Boulevardstücks 1884 (vgl. Fähnders 2010, S. 95),
wurde zum zeitgenössischen Begriff für die krisen- 1872 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
hafte Endzeitstimmung und hat sich als Name für 1873 Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne
die gesamteuropäische Epoche nichtnaturalisti- 1883 Paul Bourget: Essais de psychologie contemporaine
scher Kunstrichtungen um 1900 etabliert. 1886 Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis
N Dekadenz (Décadence) deckt sich zum Teil mit des Physischen zum Psychischen
dem Begriff Fin de Siècle und impliziert ebenfalls 1888 Nietzsche: Der Fall Wagner
die mentalitätsgeschichtlichen Dimensionen eines 1891 Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus
epochalen Krisenbewusstseins des Verfalls und 1895 Josef Breuer/Sigmund Freud: Studien über Hysterie
Niedergangs (vgl. Sprengel 1998, S. 119–122). 1900 Sigmund Freud: Traumdeutung
N Symbolismus ist eine sich vor allem in der Ly- 1901/02 Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache
rik profilierende ästhetizistische Stilausprägung 1904 Hugo von Hofmannsthal: Gespräch über Gedichte
europäischer Literatur um 1900, die ursprünglich
aus Frankreich (u. a. Stéphane Mallarmé, Paul Ver-
laine) stammt (vgl. Hoffmann 1987). vor allem bei Stefan George (1868–1933) als ganz
N Impressionismus, eine ursprünglich kunsthis- selbstbezügliche, ästhetische Gegenwelt der Mo-
torische Stilbezeichnung, wird zum Epochenbe- derne entworfen, in der auch Leben und Natur
griff für eine den Naturalismus überwindende zum reinen Artefakt einer Art Kunstreligion wer-
›Nervenkunst‹ der Wiener Moderne und zur um- den. Beispielhaft sind die Gedichtzyklen Algabal
fassenden Charakterisierung einer mentalitätsge- (1892) und Das Jahr der Seele (1897) zu nennen.
schichtlichen Stimmung um 1900 (vgl. Fähnders Die Blätter für die Kunst (1892–1919) werden zum
2010, S. 93). wichtigsten Publikationsorgan Georges und seines
N Jugendstil, ein kunsthistorischer Terminus, Münchner Dichterkreises für das ästhetizistische
bleibt zwar weitgehend auf die Bildende Kunst be- Programm einer Kunst um der Kunst willen (l’art
schränkt, erfasst jedoch auch die Berührungen pour l’art). Radikale Autonomie und Tendenz
zwischen den Künsten (u. a. mit Architektur und zum Hermetischen und Esoterischen sind durch
dem Kunstgewerbe) sowie mit der Literatur (z. B. den Einfluss des französischen Symbolismus und
Lyrikillustrationen) und steht darüber hinaus mit dessen Konzept einer poésie pure inspiriert, die
einem emphatischen Begriff von ›Leben‹ und ›Ju- sich zugunsten sprachlicher Artifizialität fast voll-
gend‹ für eine Aufbruchstimmung (vgl. ebd., S. 92 ständig von jeder Referenz auf eine außerliterari-
und Scheible 1984). sche Welt lossagt und antimimetische Wort- und
N Neuromantik, ein um 1900 sehr erfolgreicher Bildwelten, zum Teil mit klanglichen und rhythmi-
zeitgenössischer Begriff für antinaturalistische schen Gestaltungsmitteln (z. B. Lautmalerei, freie
Tendenzen, speist sich aus dem »identifikatori- Verse) sowie Synästhesien entwirft. Als synästheti-
schen Rückbezug auf die historische Romantik« sches Arrangement von Sinneseindrücken (opti-
(Sprengel 2004, S. 100) und weist in seiner Un- schen, akustischen, olfaktorischen und taktilen)
schärfe zahlreiche Überschneidungen mit den an- sind u. a. Gedichte von Hofmannsthal, Rainer Ma-
deren Stilbegriffen auf. ria Rilke, Max Dauthendey und Richard Dehmel
N Daneben formieren sich um 1900 auch dezi- komponiert. Mit der Betonung des Flüchtigen und
diert antimoderne Strömungen, wie etwa die äu- Fragmentarischen wechselnder Eindrücke und
ßerst reaktionäre Heimatkunst (vgl. Fähnders unkoordinierter Sinnesreize zeichnet die poetische
2010, S. 93–95; Sprengel 2004, S. 103–107), die mit Darstellungsweise die Bedingungen moderner
Antisemitismus, Rassismus sowie einer ›Blut- und Wahrnehmung und die Erfahrung des Ich-Zerfalls
Boden‹-Mythologie bereits eine Tradition entwirft, nach und bedient sich damit impressionistischer
in die sich der Nationalsozialismus einschreiben Techniken. Im Blick auf Rilkes (1875–1926) Neue George: Das Jahr der Seele
wird. Gedichte (1907) sind vor allem die sogenannten (1897)
Lyrik: Als ein Genre, das sich nach der domi- Dinggedichte hervorzuheben. Diese sind weder
nanten Phase realistischer Schreibweisen in den auf ein Ich als lyrische Aussageinstanz noch auf
beiden anderen großen Gattungen auf besondere vermeintlich objektive Erfassung gegenständli-
Weise auf das Medium Sprache selbst konzen- cher Realität bezogen, sondern vielmehr als poeti-
triert, verzeichnet die Lyrik um 1900 geradezu sche Wahrnehmungsexperimente zu betrachten.
Hochkonjunktur. Das sprachliche Kunstwerk wird Mit grotesken Sprachspielen verhandeln Christian

335
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

Lyrik entiert an Freuds Psychoanalyse, als gleichsam


literarisches Beobachtungsexperiment. Eine ästhe-
1890 Detlev von Liliencron: Der Haidegänger und andere Gedichte tizistische Verabsolutierung der Kunst gegenüber
1891 Ricarda Huch: Gedichte dem Leben inszeniert z. B. Heinrich Manns (1871–
1891 Richard Dehmel: Erlösungen. Eine Seelenwanderung in Gedichten 1950) Romantrilogie Die Göttinnen (1903). Neben
und Sprüchen experimentellen Formen des Erzählens behauptet
1892 Stefan George: Algabal sich im weiten Feld der Prosa um 1900 weiterhin
1893 Max Dauthendey: Ultra-Violett eine konventionelle Formensprache, so etwa in der
1895 Rainer Maria Rilke: Larenopfer literarischen Verhandlung von Dekadenz in Tho-
1897 Stefan George: Das Jahr der Seele mas Manns (1875–1955) Buddenbrooks (1901).
1902 Else Lasker-Schüler: Styx Drama: Nicht nur neue Themen, auch zahlrei-
1903 Hugo von Hofmannsthal: Ausgewählte Gedichte che »Formexperimente« (Szondi 1963, S. 80) be-
1905 Christian Morgenstern: Galgenlieder stimmen diese Gattung um 1900. Es sind vor allem
1905 Rilke: Das Stundenbuch dramatische Verhandlungen neuer Wirklichkeits-
1907 Rilke: Neue Gedichte erfahrungen, die sich nicht mehr im Rahmen des
traditionellen Forminventars der Gattung (Einheit,
Kontinuität und Finalität der Handlung) darstellen
Morgensterns (1871–1914) Galgenlieder (1905) die lassen (s. Kap. III.4.4; vgl. Kimmich/Wilke 2006,
Sprache in ihrer Materialität. S. 70 f.). Die lyrischen Dramen Hugo von Hof-
Erzählprosa: Die Tendenz zur Abstraktion, Kon- mannsthals, wie etwa der Einakter Der Tor und der
zentration und Ausschnitthaftigkeit kennzeichnet Tod (1893), überschreiten herkömmliche Gat-
Erzähltexte um 1900. Die dem urbanen Erfahrungs- tungsgrenzen und sind insofern eng mit der lyri-
raum der Moderne geschuldeten Veränderungen schen Dichtung Hofmannsthals verbunden, als
von Wahrnehmung (Nervosität, Flüchtigkeit, Be- auch dort das Rollengedicht und der Dialog szeni-
schleunigung und Fragmentarisierung) prägen auch sche Formen erproben (vgl. Sprengel 1998, S. 453).
impressionistisch inspirierte Darstellungsformen, Mit der Vermischung tragischer und komi-
die sich zugleich als Krise und Kritik traditionellen scher Aspekte und der dramatischen Kurzform
Krise und Kritik Erzählens äußern, indem »Prinzipien wie Kontinui- des Einakters experimentiert insbesondere Ar-
traditionellen Erzählens tät, Kohärenz und Kausalität« (vgl. Kimmich/Wilke
2006, S. 50) verabschiedet werden. Robert Walsers Prosa
(1878–1956) Jakob von Gunten (1909) und Rilkes
Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) lö- 1893 Ricarda Huch: Erinnerungen von
sen die Struktur der fortlaufenden Romanerzählung Ludolf Ursleu dem Jüngeren
in eine diskontinuierliche Zusammenschau einzel- 1896 Peter Altenberg: Wie ich es sehe
ner Textpassagen auf, die Selbständigkeit gegenüber 1900 Richard Beer-Hofmann: Der Tod
dem Ganzen demonstrieren und so auch ästhetisch, Georgs
nicht nur thematisch, auf die urbane Moderneerfah- 1900 Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl
rung reagieren. Daneben gewinnen epische Klein- 1901 Thomas Mann: Buddenbrooks
formen an Bedeutung (Novelle, Prosaskizze, Apho- 1902 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief
rismus), die auf Momenthaftigkeit und Verdichtung 1902 Robert Musil: Die Verwirrungen des
des Geschehens setzen. Beispielhaft dafür ist etwa Zöglings Törleß
Altenbergs (1859–1919) Skizzensammlung Wie ich 1903 Heinrich Mann: Die Göttinnen oder
es sehe (1896). Die drei Romane der Herzogin von
Im Zuge der modernen Subjekt- und Erkennt- Assy
niskrise werden die auktoriale Erzählinstanz und 1904 Jakob Wassermann: Alexander in
deren souveräne Beglaubigung des Erzählten zu- Babylon
nehmend unglaubwürdig. An ihre Stelle treten 1905 Heinrich Mann: Flöten und Dolche
vielfach das stärkere Gewicht der Figurenrede be- 1906 Hermann Hesse: Unterm Rad
ziehungsweise interne Fokalisierungen. Das erste 1909 Thomas Mann: Königliche Hoheit
deutschsprachige Beispiel, das den Effekt von ver- 1909 Robert Walser: Jakob von Gunten
meintlich erzählerloser Unmittelbarkeit durch 1910 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnun-
den inneren Monolog erzeugt, ist Schnitzlers No- gen des Malte Laurids Brigge
velle Leutnant Gustl (1900). Der Text gibt sich, ori-

336
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Naturalismus und
Jahrhundertwende

Dramen Reigens an der herrschenden Sexualmoral bleibt


kein Einzelfall, vielmehr wird das Drama um
1891 Frank Wedekind: Frühlings Erwachen 1900 auch zu einem Schauplatz vielfältiger Expe-
1893 Hugo von Hofmannsthal: Der Tor und rimente mit sozialen Normen, Rollenerwartungen
der Tod und Tabus sowie »alternativen Konzepte[n] von
1893 Arthur Schnitzler: Anatol Körperlichkeit, Weiblichkeit und Männlichkeit«
1894 Wedekind: Die Büchse der Pandora. (Kimmich/Wilke 2006, S. 60). Frank Wedekinds
Eine Monstretragödie (1864–1918) »Kindertragödie« Frühlings Erwa-
1896/97 Arthur Schnitzler: Reigen chen (1891) verhandelt mit tragisch-komischen
1903 Hofmannsthal: Elektra und grotesken Elementen Pubertätskonflikte im
Schatten repressiver bürgerlicher Sexualmoral, als
deren emphatische Gegenbegriffe ›Natur‹, ›Ju-
thur Schnitzler (1862–1931). Anatol (1893) ist gend‹ und ›Leben‹ fungieren.
sein erster Einakterzyklus, in dem eine Reihe von Im Zeichen einer utopisch getönten, »umfas- Frank Wedekind:
Einzelszenen nur locker über Motive und Figuren senden Moralkritik« (Sprengel 1998, S. 520) und Frühlings Erwachen
miteinander verbunden ist. Noch radikaler löst der Kritik herrschender Geschlechterordnung (Einband der Original-
sich Schnitzlers Reigen (1896/97) mit seiner dezi- steht schließlich Wedekinds Lulu-Dichtung, die ausgabe von 1891)
diert episodischen, seriellen Struktur von Gat- eine u. a. durch Zensurmaßnahmen komplizierte
tungstraditionen. Der Untertitel »Zehn Dialoge« Entstehungs- und Publikationsgeschichte ver-
weist bereits darauf, dass die Sprache selbst zum zeichnet. Die Urfassung entsteht bereits als soge-
Gegenstand von Experiment und Beobachtung nannte »Monstretragödie« 1894 und wurde später
wird. Die einen Skandal provozierende Kritik des mehrfach umgearbeitet.

Literatur
Bahr, Hermann: »Die Überwindung des Naturalismus« Scheible, Hartmut: Literarischer Jugendstil in Wien.
[1891]. In: Wunberg 22000, S. 199–205. München/Zürich 1984.
Baßler, Moritz/Brecht, Christoph u. a. (Hg.): Historismus Schmitz, Walter (Hg.): Die Münchner Moderne. Die
und literarische Moderne. Tübingen 1996. literarische Szene in der »Kunststadt« um die Jahrhun-
Bölsche, Wilhelm: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen dertwende. Stuttgart 1990.
der Poesie. Prolegomena einer realistischen Aesthetik Schutte, Jürgen/Sprengel, Peter (Hg.): Die Berliner
[1887]. Hg. von Johannes J. Braakenburg. Tübingen 1976. Moderne 1885–1914. Stuttgart 1987.
Brauneck, Manfred/Müller, Christine (Hg.): Naturalismus. Segeberg, Harro: »Technische Konkurrenzen. Film und
Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur Tele-Medien im Blick der Literatur«. In: Mix 2000,
1880–1900. Stuttgart 1987. S. 422–436.
Bunzel, Wolfgang: Einführung in die Literatur des Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben«
Naturalismus. Darmstadt 22011. [1903]. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–
Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne. 1890–1933. 1908, Bd. 1. Hg. von Rüdiger Kramme u. a. Frankfurt
Stuttgart/Weimar 22010. a. M. 1995, S. 116–131.
Hoffmann, Paul: Symbolismus. München 1987. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur
Holz, Arno: »Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze« 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhun-
[1891]. In: Brauneck/Müller 1987, S. 140–150 (Auszug). dertwende (= Geschichte der deutschen Literatur von
Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. IX/1). München
Sprache – Ästhetik – Dichtung im zwanzigsten 1998.
Jahrhundert. München 2004. – : Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918.
Kimmich, Dorothee/Wilke, Tobias: Einführung in die Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten
Literatur der Jahrhundertwende. Darmstadt 2006. Weltkriegs (= Geschichte der deutschen Literatur von
Koopmann, Helmut: Deutsche Literaturtheorien zwischen den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. IX/2). München
1880 und 1920. Eine Einführung. Darmstadt 1997. 2004.
Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne. Stuttgart/Weimar – : »Naturalismus«. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der
2
2007. deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2. Berlin/New York
Mahal, Günther: Naturalismus. München 31996. 2007, S. 684–688.
Meyer, Theo: »Naturalistische Literaturtheorien«. In: Mix Stöckmann, Ingo: Naturalismus. Stuttgart/Weimar 2011.
2000, S. 28–43. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880–1950).
Mix, York-Gothard (Hg.): Naturalismus, Fin de Siècle, Frankfurt a. M. 1963.
Expressionismus 1890–1918. München 2000. Wunberg, Gotthart (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur,
Nietzsche, Friedrich: »Der Fall Wagner« [1888]. In: Ders.: Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart
2
Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe in 15 2000.
Bänden), Bd. 6. Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte,
Montinari. München 21988, S. 11–53. Bd. 3 : 1849–1914. München 1995.

337
3.5
Kleine Literaturgeschichte
Das 19. Jahrhundert

Literarische Texte
Hofmannsthal, Hugo von: »Ein Brief« [1902]. In: Ders.: Der
Brief des Lord Chandos. Erfundene Gespräche und Briefe.
Frankfurt a. M. 2002, S. 21–32.
Holz, Arno/Schlaf, Johannes: »Papa Hamlet«. In: Dies.:
Papa Hamlet. Ein Tod. Stuttgart 2007.

Susanne Komfort-Hein

338
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Avantgarde und Moderne

3.6 | Das 20. Jahrhundert


3.6.1 | Avantgarde und Moderne Definition
(1910–1945) Der Begriff   ›Avantgarde‹ entstammt ursprünglich dem Militärischen
(kleine Vorhut einer Kampfeinheit). Aus einer räumlichen Dimension
3.6.1.1 | Epochenüberblick
(vorn zu sein) wird im Selbstverständnis der modernen Avantgarde-
Der um die Jahrhundertwende entfaltete moderne Bewegungen eine geschichtliche (an der Spitze des Fortschritts). – Als
Stilpluralismus radikalisiert sich noch einmal mit ›Gründungsurkunde‹ des italienischen Futurismus und der europäi-
den sich um 1910 formierenden europäischen schen Avantgarden gilt ein 1909 in der Pariser Tageszeitung Le Figaro
Avantgarde-Bewegungen und deren kunst- und so- veröffentlichtes Manifest des italienischen Schriftstellers Filippo Tom-
zialrevolutionären Programmen. Die Literaturge- maso Marinetti (das »Erste Futuristische Manifest«). Der Futurismus
schichte ist nun endgültig nicht mehr als chronolo- beeinflusst u. a. den deutschen Expressionismus. Als dessen Radikali-
gische Reihe einzelner Epochen darstellbar. Spricht sierung und Kritik wird wiederum 1916 in Zürich die internationale
man z. B. von einem Epochenkonzept des Expres- Dada-Bewegung gegründet. Während der Futurismus sich der totalitä-
sionismus (vgl. Mix 2000; Anz 2010), so bezeich- ren Politik des (italienischen) Faschismus zuordnet und in Italien bis in
net man lediglich die dominante Strömung der die 1940er Jahre wirkt, sich mit Beginn der 1920er Jahre in Frankreich
1910er Jahre, die nicht auf dieses Jahrzehnt zu der Surrealismus als Nachfolgebewegung des Dadaismus konstituiert,
begrenzen ist und auch nicht- bzw. antiexpressio- der die europäische Avantgarde bis in die 1940er Jahre prägt, bilden
nistische Tendenzen aufweist. Der Rückgriff auf sich in Deutschland keine neuen avantgardistischen Bewegungen in
realpolitische Zäsuren für literaturgeschichtliche den 1920er Jahren heraus.
Epochenkonzepte, z. B. Weimarer Republik (vgl.
Streim 2009), stößt wiederum auf das Problem von
literarischen Kontinuitäten, die sich mit politisch- und Heteronomie der Literatur, der immer wieder
historischen Daten nicht einhegen lassen. Die lite- reflektierten Beziehung zwischen Literatur und
raturgeschichtlichen Phänomene sind vielmehr Politik, sowie zwischen Tendenzen der experi-
als komplexe, heterogene Gleichzeitigkeit unter- mentellen Abstraktion und der forcierten Rück-
schiedlicher Programme, Konzepte, ideologischer kehr zum Gegenständlichen.
und ästhetischer Differenzen sowie konkurrieren-
der Ansprüche auf Innovation und Fortschritt zu
3.6.1.2 | Ereignis- und Sozialgeschichte/
begreifen. Nur unter Vorbehalt lässt sich also von
Kulturelle Kontexte
einer Zäsur um 1910 sprechen, denn die älteren
Programme und Richtungen werden nicht einfach Die Fülle an politischen Ereignissen und Prozes-
nur historisch abgelöst. So wirken u. a. der Natura- sen, sozialen und ökonomischen Wandels sowie
lismus (z. B. Hauptmann), Ästhetizismus (z. B. kultureller Umbrüche, die den unmittelbaren Re-
George), sowie modernefeindliche Tendenzen wei- sonanzraum der Literatur zwischen Kaiserreich,
ter. Einzelne Autor/innen sind wiederum keiner Weimarer Republik und NS-Diktatur prägen, kann
Gruppierung oder literarischen Strömung zuzu- hier nur in wenigen Ausschnitten angedeutet wer-
ordnen. Darüber hinaus ist auch die avantgardis- den (ausführlich dazu u. a. Wehler 2003).
tische Moderne nur als vielstimmiger Kontext Der Erste Weltkrieg stellt das nachhaltig er-
konkurrierender Gruppenbewegungen (z. B. Futu- schütternde katastrophische Ereignis des begin-
rismus, Expressionismus, Dadaismus, Surrealis- nenden 20. Jh.s dar. Irritierend ist die sich im Kai-
mus) zu fassen. Deren kleinster gemeinsamer serreich zu Kriegsbeginn 1914 (das änderte sich
Nenner ist im kulturrevolutionären Anspruch zu jedoch schnell) quer zu den politisch-ideologi-
sehen, von der Kunst aus das Leben zu revolutio- schen Lagern artikulierende Kriegseuphorie, die
nieren und sich von künstlerischen Autonomievor- nicht nur vom kaiserlich proklamierten ›Burgfrie-
stellungen und damit von einem bürgerlichen den‹, sondern auch von einer regelrechten Pro-
Kunst- und Literaturbegriff zu verabschieden (vgl. pagandaschlacht der Presse angeheizt wurde.
dazu Asholt/Fähnders 1997; Fähnders 2010). Zahlreiche deutsche Intellektuelle und Künstler
Der in diesem Kapitel betrachtete literaturge- meldeten sich als Freiwillige, denn das mythisch
schichtliche Zeitraum umfasst ein Spannungsfeld aufgeladene Datum ›August 1914‹ fungierte für
moderner literarischer Entwürfe zwischen Ästhe- Viele als weltgeschichtliche Zäsur, sei es in natio-
tizismus und Avantgardismus bzw. Autonomie nal-chauvinistischen Erlösungsvisionen eines mis-

339
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

sionarischen Aufbruchs in den deutschen ›Kultur- len die bereits um die Jahrhundertwende einset-
krieg‹ gegen die westliche Zivilisation oder in zenden (s. Kap. III. 3.5.3), nun noch einmal be-
einem sich von nationaler Propaganda distanzie- schleunigten (sozio-)kulturellen Modernisierungen
renden Internationalismus, der den Krieg als kul- dar, die sowohl mit Demokratisierungshoffnungen
turrevolutionäres Ereignis und als Überwindung und neuen Freiheiten für den Einzelnen wie mit
eines krisenhaften Modernisierungsprozesses so- folgenreichen Verunsicherungen verbunden sind.
wie als Ende eines dekadenten Zeitalters und der Diesen Aspekt reflektiert z. B. Karl Jaspers Schrift
bürgerlich-kapitalistischen Welt ersehnt (vgl. dazu Die geistige Situation der Zeit (1931).
u. a. Mommsen 1996; Anz 2010). Und es gibt nicht (Sozio-)kultureller Wandel: Umfangreiche Tech-
wenige Zeugnisse junger Künstler und Dichter, die nisierungen der Lebenswelt, Rationalisierungen in
um 1914 von einer Komplizenschaft von Kunst- der Arbeitsorganisation und Massenfabrikation
schaffen und Kriegsdienst sprechen bzw. den (Fließband) führten zu erhöhter Mobilität, Dyna-
Krieg als »ungeahnte[n], sieghafte[n] Zu-Ende- miken in der Sozialstruktur und in den Geschlech-
Bildner« der Kunst imaginieren (Huebner 1982, terordnungen sowie zum spürbaren Anstieg von
S. 214), bevor die Realität auf den europäischen Produktion und Konsum. Die Herausbildung in-
Schlachtfeldern für Viele eine solche Ästhetisie- dustrieller Massenkultur und neuer Massenme-
rung des Krieges ausschließt. dien (Film, ab 1923 Rundfunk, Massenpresse) be-
Die Weimarer Republik gründet sich und bleibt gleiteten diese Entwicklungen. Im Zuge des
im Widerspruch zwischen Erneuerungshoffnung Wirtschaftswachstums, des Ausbaus im Handels-,
und Krise. Die unmittelbaren Kriegsfolgen bilde- Dienstleistungs- und Verwaltungssektor wurden
ten die »psychopolitische Grundschicht der Wei- die Angestellten als neuer Mittelstand ein signi-
marer Kultur« (Weyergraf 1995, S. 9), die ebenfalls fikantes Phänomen der Großstädte. Die zuneh-
von der blutig niedergeschlagenen Revolution mende Sichtbarkeit von Frauen im Erwerbsleben
1918/19, ökonomischen und außen- wie innenpo- stand in einem unmittelbaren Zusammenhang da-
litischen, bürgerkriegsähnlichen Krisen geprägt mit, zumal sich der Angestelltenberuf als ein »typi-
blieb. Inflation und Wirtschaftskrise erreichten scher Frauenberuf« (Frevert 1986, S. 174) etablier-
u. a. durch die Kriegsfolgen 1923 einen Höhe- te und die weiblichen Angestellten als »Prototypen
punkt, 1924 bis 1929 folgte jedoch eine Phase der weiblicher Emanzipation« (ebd., S. 172) galten.
relativen wirtschaftlichen und außenpolitischen Die Angestellten sind eine wichtige Zielgruppe des
Stabilisierung. Die innenpolitische Lage der parla- neuen Phänomens kulturindustriell organisierter
mentarisch-parteienstaatlichen Demokratie war Freizeit, und das Bild der emanzipierten Neuen
allerdings instabil. Das Ende der Republik, d. h. Frau kann – bis es vom nationalsozialistischen
die Phase einer deutlichen Destabilisierung, auch ›Mutterkult‹ abgelöst wird – als eines der vielleicht
in politischer und sozialer Hinsicht, schien bereits erfolgreichsten medialen Produkte und als nach-
Weltwirtschaftskrise in der Weltwirtschaftskrise 1929 auf, in dem haltig wirksame kulturelle Imagination der Zeit
1929 »tiefste[n] Strukturbruch in der Geschichte des gelten, in der Geschlechterentwürfe auch »zuneh-
westlichen Industriekapitalismus« (Wehler 2003, mend von den Ikonographien des Kinos bestimmt«
S. 257). Die Massenarbeitslosigkeit war nur ein (Pankau 2010, S. 35) sind.
erster wegweisender Faktor, der der NSDAP zum Mit den neuen populären Massenmedien und
politischen Erfolg bis zur Machtübergabe 1933 im Zuge einer Pressekonzentration bekamen der
(vgl. ebd. 2003, S. 580–585) verhalf, u. a. über traditionelle Bildungs- und Literaturbegriff Konkur-
die, demokratische Konstellationen zerstörende, renz: »Der Akzent verschiebt sich von einer Lese-
»schrittweise Entmachtung des Parlaments« und kultur zu einer Kultur der Zuschauer. Politisie-
den »Übergang zum Präsidialregime« (Streim rung, Information, Unterhaltung – so lauten die
2009, S. 23), das auf der Basis von Notverord- neuen Leitbegriffe« (Weyergraf 1995, S. 23). Das
nungen regierte – ohne Absicherung durch eine entzog nicht allein den »Formen der Hochkultur
Parlamentsmehrheit. […] den Boden« (ebd.), sondern veränderte sie zu-
Die schrittweise Zerstörung bzw. Verhinderung gleich, indem die Grenzen zur Populärkultur ver-
funktionsfähiger demokratischer Strukturen der schwammen. In den 1920er Jahren wandelten sich
»Republik ohne republiktreue Mehrheit« (Wehler nicht allein die ökonomischen und sozialen Kondi-
2003, S. 513), eine Situation äußerster politischer tionen der Kulturproduktion, sondern auch der
wie ökonomischer Instabilität und sozialer Krisen Kulturbegriff, der sich über den »Boom der Kultur-
ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite stel- industrie« (Streim 2009, S. 27) u. a. transnationa-

340
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Avantgarde und Moderne

len Perspektiven öffnete: ›Amerikanismus‹ ist ei- und literarische Moderne zu denunzieren, im kul-
nes der populären Schlagworte, das für eine turellen Gedächtnis zu löschen und ins Exil zu
technisierte, rationalisierte Lebenswelt, einen libe- treiben. Die von drastischen Zensurmaßnahmen
ralen Lebensstil moderner Metropolenkultur, für (gegen die bürgerliche Presse ebenso wie gegen
industrielle Massenfertigung wie für den Import die kommunistische und sozialdemokratische)
kulturindustrieller Produkte steht (z. B. Jazz, Hol- flankierte kulturpolitische Gleichschaltung er-
lywoodfilm). Die Kehrseite der Demokratisierungs- wies sich als ein wirkungsvolles Instrument der
tendenzen und Freiheitsversprechen im Kultursek- Kontrolle, auch aller publizistischen und künstleri-
tor wurde u. a. darin gesehen, dass Kunstwerk und schen Bereiche. Propaganda, Kontrolle und Terror
Autor den Marktgesetzen unterworfen sind (vor gegen oppositionelle Tendenzen fanden ihren ers-
allem Bertolt Brecht und Walter Benjamin reflektie- ten Höhepunkt u. a. mit der landesweiten Bücher- Bücherverbrennung
ren das). Zunehmende Reglementierungen zeigten verbrennung am 10. Mai 1933, organisiert vom am 10. Mai 1933
sich in stärkerem Maße noch in den rigorosen Reichspropagandaministerium und der ›Deutschen
Praktiken der politischen Zensur, die zwar 1918 Studentenschaft‹. Sie wurde in streng ritualisierten
offiziell abgeschafft war, jedoch im 1926 verab- Feiern und mit vorausgehender antisemitischer
schiedeten »Schund- und Schmutzgesetz« mit dem Hetze unter dem Titel »Aktion wider den undeut-
Deckmantel des vermeintlichen Jugendschutzes schen Geist« als eine ›nationale Kulturrevolution‹
zumeist Werke linker Schriftsteller/innen, insbe- inszeniert, die das nationale kulturelle Gedächtnis
sondere aus dem Kontext proletarisch-revolutionä- ›reinigen‹ soll, was in den öffentlichen Bibliothe-
rer Literatur traf und sich mit der »Pressenotverord- ken in die Praxis umgesetzt wurde. Das mediale
nung« (1931) verschärfte. Großereignis ist insofern als symbolpolitische
Die kulturelle Modernisierung war gegen Ende Handlung zu sehen. Ein Nachfolgeakt dessen war
der Republik insgesamt immer schärferen Ein- die Münchner Ausstellung über sogenannte »Ent-
schränkungen unterworfen; ein Vorschein dessen, artete Kunst« 1937.
was sich 1933 radikalisierte, zeigte sich bereits in
dem antisemitisch fundierten Kulturkampf »kon- Zeittafel – Auswahl zentraler Daten
servativer, völkischer und deutschnationaler Kräf-
te gegen die Moderne« (Streim 2009, S. 26), d. h. 1914–18 Erster Weltkrieg
gegen Liberalisierung, Demokratisierung und die 1917 Oktoberrevolution in Russland
transnationale Öffnung der urbanen modernen Ge- 1918/19 Novemberrevolution; Münchner Räterepublik; Gründung
sellschaft. der KPD
»Wider den undeutschen Geist«. Die Zäsur 1933: 1918 9. November: Philipp Scheidemann ruft die deutsche
Die zunehmenden Freiheitsbeschneidungen radi- Republik aus, Karl Liebknecht die freie sozialistische Republik
kalisierten sich mit der Machtübernahme der Nati- 1919 Nationalversammlung in Weimar wählt Friedrich Ebert zum
onalsozialisten zu einem totalitären Übergriff auf Reichspräsidenten (Weimarer Republik); erstmals Frauen-
alle Lebensbereiche, bis in das Intimste hinein. Als wahlrecht
totalitärer Führerstaat, der die Volkssouveränität 1919 Gründung des Bauhauses in Weimar
beseitigt, legitimierte sich der NS-Staat zunächst 1923 Beginn des Rundfunks als Massenmedium
über einschneidende juristische Maßnahmen, wie 1929–33 Weltwirtschaftskrise
das sogenannte »Ermächtigungsgesetz« (1933), 1933 Machtübergabe an die NSDAP; Reichstagsbrand; Bücherver-
das einen Staat im dauerhaften Ausnahmezustand brennungen in zahlreichen deutschen Städten
entwirft (vgl. Wehler 2003, S. 607 f.). Der Reichs- 1935 Erlass der sogenannten »Nürnberger Gesetze«
tagsbrand (28.2.1933), für den Kommunisten ver- 1936–39 Spanischer Bürgerkrieg
antwortlich gemacht wurden, und der als Vorwand 1937 Ausstellung »Entartete Kunst« in München
diente, um elementare Grundrechte abzuschaffen, 1938 9. November: Pogromnacht
führte zu einem ersten massenhaften Exodus von 1939–45 Zweiter Weltkrieg
Schriftsteller/innen und Intellektuellen. Spätes- 1942 20. Januar: Wannseekonferenz
tens die Pogrome vom 9. November 1938 ließen
das Ziel der ethnonationalen Vernichtungspolitik
deutlich werden, die im Holocaust ihre abgründige
Perfektion erreichte.
Die nationalsozialistische Kulturpolitik war sys-
tematisch darauf ausgerichtet, die künstlerische

341
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

3.6.1.3 | Expressionismus und Dadaismus der Sprachkritik und der Lebensphilosophie der
Jahrhundertwende (s. Kap. III.3.5.3), vor allem aus
Expressionismus Nietzsches fundamentaler Skepsis gegenüber ei-
nem rationalen Erkenntnisanspruch, der an die
Nihilismus oder visionäre Utopie: Als Expressionis- sprachliche Repräsentation von Wirklichkeit bzw.
mus wird sowohl eine kulturrevolutionäre Bewe- Wahrheit glaubt, ziehen expressionistische Hoff-
gung des beginnenden 20. Jh.s als auch ein ästheti- nungen auf die revolutionäre Wiedergeburt der
scher Stil (Bildende Kunst, Architektur, Literatur, Sprache eine radikale Konsequenz: Die ›neue‹ po-
Schauspielkunst, Musik, Tanz, Film) bezeichnet, etische, revitalisierte Sprache soll aus den Regeln
der sich vom Naturalismus wie auch von den anti- und Zwängen (grammatischen und sprachlogi-
naturalistischen Strömungen des Ästhetizismus um schen) alltagssprachlicher Kommunikation austre-
1900 abgrenzt. Als Phänomen einer epochalen ten: »Sie wird Musik und Gebärde sein, vielleicht
Krisenerfahrung, die im Ersten Weltkrieg ihren einmal Tanz und Weissagung« (ebd.).
traumatischen Höhepunkt erreicht, zeigt die ex- Abstraktion und das ›Elementare‹: Analog zur
pressionistische Bewegung eine höchst ambivalente Malerei etabliert sich eine Tendenz zur Abstrak-
Programmatik: Dazu gehören zivilisationskritische tion, als »Weg zum Elementaren« (Hatvani 1982,
apokalyptische Untergangsvisionen, ein wesentlich S. 39), zum Nichtgegenständlichen auch in der ex-
von Nietzsche inspirierter Nihilismus, die Faszinati- pressionistischen Literatur und den Programm-
on am vorzivilisatorischen Archaischen sowie ein schriften, die vor allem mit der mimetischen Kunst
»ethische[r] Idealismus« (Erhart 1996, Sp. 166), der des Naturalismus zugunsten des konstruktiven
pathetisch die Überwindung moderner Krisener- ›Ausdrucks‹ in der künstlerischen Gestaltung bre-
fahrung mit dem Entwurf einer Menschheitserneu- chen. Die Programmatik der Abstraktion ist u. a.
erung verkündet und die empirische Realität in ei- von einem exotistisch aufgeladenen, zivilisations-
nem immateriellen »Reich geistiger Werte« (ebd.) kritischen Impuls gezeichnet, der (nicht nur) die
verwirft. Die höchst unkonkrete, visionäre Program- expressionistische Avantgarde nach künstlerischen
matik setzt ganz auf die affektive Wirkung der Vorbildern in außereuropäischen Kulturen, der so-
Rhetorik. Die aktivistischen kulturkritischen Impul- genannten ›Primitiven‹, suchen lässt (Primitivis-
se der Bewegung sind bereits an den Titeln der Zeit- muskult). Diese Verbindung stellt bereits Wilhelm
schriften ablesbar, die zu zentralen Publikations- Worringers kunsthistorische Schrift Abstraktion
und Verständigungsorganen wurden: etwa die von und Einfühlung (1908), her.
Herwarth Walden (eigentlich Georg Lewin) gegrün- Die Abkehr vom Naturalismus wie vom Impres-
dete Zeitschrift Der Sturm. Wochenschrift für Kultur sionismus formuliert Kasimir Edschmids program-
Die Aktion (Titelblatt der und die Künste, Organ eines zentralen Forums (so- matischer Beitrag »Expressionismus in der Dich-
Ausgabe vom 16.11.1918) genannter Sturm-Kreis) neuer ästhetischer Experi- tung« (1918):
mente, oder die von Franz Pfemfert »Es kamen die Künstler der neuen Bewegung. Sie gaben
ins Leben gerufene Zeitschrift Die Ak- nicht mehr die leichte Erregung. Sie gaben nicht mehr die
tion. Zeitschrift für freiheitliche Politik nackte Tatsache. […] Sie waren nicht mehr unterworfen
und Kultur. den Ideen, Nöten und persönlichen Tragödien bürgerli-
chen und kapitalistischen Denkens.
Sprache und ›Leben‹: Auch die Ihnen entfaltete das Gefühl sich maßlos.
Sprache selbst, »in Begriffen ver- Sie sahen nicht.
steint« (Pander 1982, S. 612), soll Sie schauten.
sich grundlegend erneuern, soll wie- Sie photographierten nicht.
[…]
der das ›Eigentliche‹, das ›Leben‹ Vor allem gab es gegen das Atomische, Verstückte der Im-
bzw. ›Erleben‹ unmittelbar ausdrü- pressionisten nun ein großes umspannendes Weltgefühl.
cken: »Expressionismus will dem Er- […]
leben abgestorbene Sprache aus dem Nun gibt es nicht mehr die Kette der Tatsachen: Fabriken,
Häuser, Krankheit, Huren, Geschrei und Hunger. Nun gibt
Erleben neu gebären« (ebd., S. 613). es die Vision davon. Die Tatsachen haben Bedeutung nur
Vertrauen einerseits die programma- soweit, als durch sie hindurchgreifend die Hand des
tischen Verlautbarungen ganz auf die Künstlers nach dem greift, was hinter ihnen steht« (Ed-
Kraft der Rhetorik, so soll diese an- schmid 1982, S. 46).
dererseits in der behaupteten Unmit- N Der aus dem vermeintlich unmittelbaren ›Erle-
telbarkeit der Sprache zum ›Leben‹ ben‹ resultierende künstlerische ›Ausdruck‹
wiederum unsichtbar bleiben. Aus wird sowohl gegen die flüchtige Impression als

342
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Avantgarde und Moderne

auch gegen eine dem Naturalismus zugeschrie- Poetik/Ästhetik (Auswahl)


bene, bloß reaktive fotografische Wiedergabe
der »nackte[n] Tatsache« ausgespielt. 1908 Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung
N Im »Weltgefühl« artikuliert sich der auf eine 1909 Filippo Tommaso Marinetti: Manifeste du Futurisme
neue Ganzheit des Daseins jenseits der empiri- 1911 Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst
schen Realität zielende Anspruch der künstleri- 1911 Heinrich Mann: Geist und Tat
schen »Vision«. 1912 Marinetti: Manifesto tecnico della letteratura futurista
N Dieser wird das Vermögen zugesprochen, ein 1913 Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner
vermeintlich ›Wesentliches‹, ›Eigentliches‹ hin- Programm
ter der Oberfläche der Dinge zu erschließen und 1915 Carl Einstein: Negerplastik
so den Kampf »gegen die Zeit und ihre Reali- 1916 Paul Hatvani: Versuch über den Expressionismus
tät« (Pinthus 1996, S. 26) aufzunehmen. 1918 Kasimir Edschmid: Expressionismus in der Dichtung
Insgesamt erweist sich der in den literaturtheoreti- 1918 Oswald Pander: Revolution der Sprache
schen Programmschriften verhandelte Begriff ›Ex-
pressionismus‹ als sehr heterogen und unklar:
So lassen sich utopisch-idealistische Botschaften Zusammenwirkens der Künste – er ist geprägt
(»umspannendes Weltgefühl«, ›Neuer Mensch‹) durch die Malerei, das literarische Erzählen, das
nur schwer mit einer Tendenz zur künstlerischen Theater bzw. die Varietékunst um 1900 und inte-
Abstraktion vereinbaren; unklar bleiben auch das griert auch die Musik – so ist überhaupt die pro-
Verständnis von ›Ausdruckskunst‹ und ästheti- duktive Verschränkung der Medien und Künste
schem Stil (vgl. Erhart 1996, Sp. 165). (Gesamtkunstwerk) sowie die Überschreitung
Urbane Wahrnehmungsästhetik: Die Sujets ex- von Gattungsgrenzen für den Expressionismus
pressionistischer Literatur (z. B. Großstadt, Ent- und andere avantgardistische Bewegungen signifi-
fremdung, Wahrnehmungs-, Sprach- und Erkennt- kant. Darüber hinaus war eine Reihe von Künst-
niskrise, Subjektzerfall, Krieg, Weltende, Generati- ler/innen, wie Ernst Barlach oder Else Lasker-
onskonflikt, Wahnsinn, Krankheit, messianische Schüler, auf mehreren Gebieten tätig.
Feier eines neuen Menschen) sind zumeist auch ›Wortkunst‹: Am radikalsten realisieren sich
Gegenstand formaler Experimente bzw. Formzer- Abstraktion und experimentelle Spracherneue-
trümmerungen, die eine moderne, urbane Wahr- rung in dem vor allem vom italienischen Futuris-
nehmungsästhetik erproben (Tempo, Dynamik, mus (Marinetti) und Arno Holz’ Kunsttheorie
Reizüberflutung, Flüchtigkeit, Simultaneität). Als (s. Kap. III.3.5.3) inspirierten ästhetischen Verfah-
Gegenentwurf zum ästhetizistischen Kult des ren der sogenannten ›Wortkunst‹ (ein zeitgenössi-
Schönen um 1900 (s. Kap. III.3.5.3.4) fungiert eine scher Begriff), die ihr maßgebliches theoretisches
demaskierende Ästhetik des Grotesken und wie praktisches Forum vor allem im Blick auf lyri-
Hässlichen. sche Texte und dramatische Produktionen (der
Einen inspirierenden Einfluss auf künstlerische ›Sturm-Bühne‹) im sogenannten Sturm-Kreis fin-
Gestaltungsformen gewinnen Verfahrensweisen det. Strategien äußerster sprachlicher Reduktion
industrieller Produktion (Montagetechnik) und suchen den Bruch mit dem grammatischen Regel-
die neuen technischen Medien (vor allem der korsett und geben sich entschieden antinaturalis-
Film). In der raschen Bewegung der Bilder sieht tisch und ungegenständlich. Die Worte repräsen-
Walter Benjamin die »Chockwirkung des Films« tieren nicht mehr Dinge, vielmehr ist die Sprache
(Benjamin 1974, S. 464) begründet, die ihn zu- konsequent als Material eingesetzt, und zwar als
gleich als »entsprechende Kunstform« einer epo- rhythmisiertes Lautmaterial wie als Baumaterial
chalen großstädtischen Wahrnehmung ausweise. einer Textarchitektur:
Radikale Verknappung, Konzentration, Präzision,
Beschleunigung und Montage heißen entspre- »Das Material der Dichtung ist das Wort. Die Form der
Dichtung ist der Rhythmus. […] Die Kunst […] muß sich
chend die Stichworte, die Alfred Döblin 1913 in jedes Wort neu gewinnen. Man kann kein Gebäude aus
seinem Manifest »Berliner Programm« einem zeit- Mauern aufrichten. Stein muß zu Stein gefügt werden«
gemäßen Erzählen im »Kinostil« abverlangt (Döb- (Walden 1982, S. 618).
lin 1982, S. 660), das er selbst in seinen Erzählun-
gen erprobt und das sich durch filmische Das Verfahren der ›Wortkunst‹ zielt auf eine syn-
Schnitttechniken inspirieren lässt. Galt bereits der ästhetisch wirkende, umfassende Ästhetik. Wassi-
Film als genuiner Ausdruck eines synästhetischen ly Kandinskys kunsttheoretische Schrift Über das

343
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

Lyrik (Auswahl) Jakob van Hoddis (eigentlich Hans Davidsohn),


Alfred Lichtenstein und Heym, erproben eine
1911 Georg Heym: Der ewige Tag nicht zuletzt filmisch inspirierte moderne Wahr-
1912 Gottfried Benn: Morgue und andere Gedichte nehmungsästhetik. Generell zeichnet die expressi-
1913 Else Lasker-Schüler: Hebräische Balladen onistische Lyrik die Tendenz zur Abstraktion und
1913 Georg Trakl: Gedichte zur Abkehr vom Mimetischen aus. Das lässt sich
1915 August Stramm: Du u. a. an Georg Trakls Farbsymbolik und Sprachma-
1919 Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster gie ablesen oder auf ganz andere Weise an den
Dichtung (Anthologie) experimentellen lyrischen Texten August Stramms
1919 Stramm: Tropfblut (Sammlung, posthum hg. von Herwarth (1874–1915), eines repräsentativen Vertreters ex-
Walden) pressionistischer Wortkunst.
Das expressionistische Drama bricht weitgehend
mit traditionellen dramatischen Formen. Das gilt
Geistige in der Kunst (1911) leistete einen wesentli- z. B. für eine Reihe von Einaktern, die das Frag-
chen Beitrag zu dieser Auffassung von der inter- mentarische und Episodische an die Stelle eines
medialen Verbindung der abstrakten Künste. geschlossenen Geschehenszusammenhangs rü-
Lyrik ist die zunächst dominante literarische Gat- cken. Zu nennen wäre etwa Wassily Kandinskys
tung des Expressionismus. So ist die bekannteste Bühnenkomposition Der gelbe Klang (1912), die auf
literarische Anthologie des Expressionismus, die die Synästhesie aus Farbe, Klang, Bewegung setzt
von Kurt Pinthus erstmals 1919 unter dem für die und ein Zusammenführen der Künste mit der Idee
expressionistische Programmatik symptomatisch eines Gesamtkunstwerks probt. Naturalistische
doppeldeutigen Titel Menschheitsdämmerung. Sym- Züge trägt noch Else Lasker-Schülers Drama Die
phonie jüngster Dichtung herausgegeben wurde, Wupper (1909). Als signifikante Form des expres-
eine Gedichtsammlung. Expressionistische Lyrik sionistischen Dramas darf das Stationendrama
profiliert sich mit einer Erweiterung der tradierten (s. Kap. III.4.4) nach dem Vorbild der Stücke August
lyrischen Formensprache, der experimentellen Auf- Strindbergs gelten. Analog zum parataktischen Si-
sprengung syntaktischer und sprachlicher Kon- multan- und Reihungsstil der Lyrik bietet es eine
ventionen. Neben Experimenten mit freien Rhyth- lockere, episodische Revue nicht mehr psycholo-
men (z. B. Benn, Johannes R. Becher), finden aber gisch motivierter, einzelner Handlungssequenzen,
auch traditionelle Reim-, Vers- und Strophenformen zumeist als Wandlungs- oder Verkündigungsdra-
Verwendung (vor allem das Sonett als Gedicht- ma (des ›Neuen Menschen‹). Im Mittelpunkt stehen
form), die wiederum – etwa im Fall der Großstadt- die Entwicklung und Erlösung einer in Identitätskri-
und Kriegsgedichte Georg Heyms (1887–1912) – mit sen verwickelten, isolierten Figur. Kritik am wil-
einer grotesken Bildlichkeit, mit dämonisierenden helminischen Bürgertum, der Generationskonflikt,
Mythisierungen und Allegorisierungen, provo- apokalyptische Krisenerfahrungen einer urbanisier-
Ästhetik des Hässlichen zieren. Eine Ästhetik des Hässlichen entfaltet über ten, technisierten Welt und der Krieg sind bestim-
die »Poetisierung von Krankheits- und Verfallspro- mende Themen. Exemplarisch seien Walter Hasen-
zessen« (Bogner 2005, S. 128) mit einer kalten me-
dizinischen Registratur des menschlichen Körpers, Drama (Auswahl)
ihre Schockwirkung in Gottfried Benns (1886–1956)
Gedichtsammlung Morgue und andere Gedichte 1909–22 Carl Sternheim: Aus dem bürger-
(1912). Den verworfenen ästhetizistischen Kult des lichen Heldenleben (Komödien-
Schönen ruft z. B. Benns Gedicht »Schöne Jugend« zyklus)
noch ex negativo in Erinnerung, indem dieser Titel 1909 Else Lasker-Schüler: Die Wupper
auf ein Nest junger Ratten in einer weiblichen Was- 1912 Wassily Kandinsky: Der gelbe Klang
serleiche anspielt. 1912 Reinhard Johannes Sorge: Der Bettler.
Auf religiöses und mystisches Vokabular grei- Eine dramatische Sendung
fen im Kontrast dazu wiederum aktivistisch pa- 1914 Walter Hasenclever: Der Sohn
thetische Hymnen der Menschheitserneuerung, 1916 Georg Kaiser: Von morgens bis
z. B. Franz Werfels, Bechers oder Ludwig Rubi- mitternachts
ners, zurück, auf orientalische Motive die Gedich- 1919 Ernst Toller: Die Wandlung
te Else Lasker-Schülers. Die im Zeilenstil gehalte- 1920 Arnolt Bronnen: Vatermord
nen Reihungs- oder Simultangedichte, etwa von

344
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Avantgarde und Moderne

Zeichenhafte Analogie zur Gewalt des Krieges. »schlächtert«, die Verwendung eines numeruslo- Interpretationsskizze
August Stramm: »Sturmangriff« sen Substantivs im Plural (»Fürchte«) sowie die
Übertragung in eine andere Wortklasse (z. B. »keu-
Aus allen Winkeln gellen Fürchte Wollen chen« in adjektivischer Verwendung) bei.
Kreisch Fehlende syntaktische Signale bzw. grammatische
Peitscht Vieldeutigkeiten stellen offensiv eine prinzipiell
Das Leben unabschließbare Lektüre, einen nicht zu fixieren-
Vor den Sinn des Textes zur Schau: So kann z. B. je
Sich nach Lesart mal »das Leben« selbst zum Subjekt
Her werden, das den »keuchen Tod« vor sich hertreibt,
Den keuchen Tod mal selbst ein getriebenes Objekt durch jene be-
Die Himmel fetzen drohlich anonymen Kräfte sein, die sich nicht zum
Blinde schlächtert wildum das Entsetzen grammatischen Subjekt vereindeutigen lassen
(»Wollen« oder »Kreisch«?). Verstärkt wird der Ef-
»Sturmangriff« ist eines der bekanntesten Kriegs- fekt über typographische Momente, wenn man
gedichte August Stramms, die zwischen 1914 und den »Sturmangriff« als ein visuelles Gedicht wahr-
seinem Tod im September 1915 entstanden. Sie nimmt (vgl. u. a. Kiesel 2004, S. 204). Die beiden
wurden posthum noch unter dem von ihm selbst Langzeilen, in denen »Wollen« und »Entsetzen«
vorgeschlagenen Titel Tropfblut. Gedichte aus dem die jeweils äußerste, herausragende Position ein-
Krieg 1919 von Herwarth Walden publiziert. Der nehmen, signalisieren gleichsam auf den ersten
Text gibt sich mit seiner telegrammartig verknapp- Blick eine direkte Korrespondenz. Sie rahmen ein
ten, fast atemlosen Reihung der Worte, die dort unbegreifliches (Sprach-)Geschehen, das sich
abrupt endet, wo das »Entsetzen« buchstäblich zwischen »Wollen« und »Entsetzen« aufspannt.
das letzte Wort hat, als zentrumslos. Mit einer ver- Eine weitere Korrespondenz, die ganz am Ende
störenden Eigendynamik (über Personifikationen) durch einen überraschenden Reim erzeugt wird
agieren die Dinge als Subjekte des Textes. Der Ef- (»fetzen« und »Entsetzen«), unterstreicht den Ef-
fekt einer aufgelösten Ordnung der Dinge wird fekt. Dort, wo die »Himmel fetzen«, lässt sich
ebenso von der Aufsprengung syntaktischer und nichts mehr auf eine rettende metaphysische Ord-
grammatischer Bindungen erzeugt, die das in eine nung beziehen, bleibt die reine Immanenz eines
Vieldeutigkeit entlassene Sprachgeschehen nicht katstrophischen Geschehens, das kein Sinnsys-
mehr in einer Mitteilungsfunktion aufgehen las- tem mehr trägt, vielmehr restlose Kontingenz
sen. Die Auflösung syntaktischer Ordnungsstruk- und eine jede Entität sprengende Gewalt. In dem
turen verdankt sich u. a. dem vollständigen Ver- Sinn wird das letzte, als allegorische Personifika-
zicht auf Interpunktion. Eine Verbindung scheint tion erscheinende Wort des »Sturmangriffs« (»Ent-
allein durch den über die Zäsuren der Kurzzeilen setzen«) auch in einer Bedeutungsdimension les-
hinausgreifenden stakkatoartigen, nicht metrisch bar, die selbstreflexiv auf eine ganz buchstäblich
gebundenen Rhythmus gestiftet zu sein. Das iso- aus der Fassung geratene, entsetzte (Sprach-)Ord-
lierte Wort droht zugleich zum Ort semantischer nung weist, nämlich auf eine ästhetische Inszenie-
Explosion zu werden, da sich eine geschärfte Auf- rung des kriegerischen Ausnahmezustands, der in
merksamkeit auf das entstellte sprachliche Mate- den syntaktischen und grammatischen Sprachkör-
rial richtet. Dazu tragen u. a. Neologismen wie per einschlägt.

clevers Vatermorddrama Der Sohn (1914), Georg gegen Carl Sternheims (1878–1942) Komödien (Tri-
Kaisers (1878–1945) Von morgens bis mitternachts logie Aus dem bürgerlichen Heldenleben, 1909–22),
(1916), ein Stück über die tragisch endende Verfüh- die sich der satirischen Verspottung des wilhelmini-
rung durch die Großstadt und den Fetisch Geld, so- schen Bürgertums widmen.
wie Ernst Tollers (1893–1939) Antikriegsdrama Die Die Erzählprosa bietet ebenso wie die Lyrik keine
Wandlung (1919) erwähnt, das am Ende die Geburt für den Expressionismus exklusiven Merkmale. Zu
des ›Neuen Menschen‹ und eine Apotheose des beobachten sind eine »Tendenz zur kleinen Form«
Dichters als dessen leitendes Vorbild feiert. Im Kon- (Anz 2010, S. 185) in kurzen Erzählungen, Prosa-
trast zum utopischen Wandlungspathos stehen hin- skizzen und Erzählfragmenten, die experimentelle

345
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

Prosa (Auswahl) taire als eine internationale Bewegung von Künst-


ler/innen begründet, die vor dem Ersten Weltkrieg
1911 Albert Ehrenstein: Tubutsch in die Schweiz geflüchtet sind. Zur Gründergruppe
1912 Carl Einstein: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders in Zürich gehören u. a. Hugo Ball, Richard Huel-
1913 Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume und andere senbeck, Emmy Hennings, Tristan Tzara und Hans
Erzählungen Arp. Ist das Züricher Cabaret Voltaire eher ein Ort
1913 Franz Kafka: Der Heizer. Ein Fragment künstlerischer Experimente, so zeigt sich der Ber-
1915 Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun liner Dadaismus im Kontext der Novemberrevolu-
1916 Gottfried Benn: Gehirne tion (1918/19) als ein entschieden politisierter. Zu
1920 Kafka: Ein Landarzt (Sammlung) diesem Kreis gehören u. a. Johannes Baader, Raoul
1920 Döblin: Wallenstein Hausmann, George Grosz, Hannah Höch sowie die
Brüder John Heartfield und Wieland Herzfelde. In
Köln wirkt u. a. Max Ernst, in Hannover Kurt
Sprengung und Verdichtung tradierter Erzählstruk- Schwitters. Auch in New York und Paris gründen
turen in einer Poetik der Parataxe. Ebenso lässt sich Dada-Gruppen.
sich von einer Tendenz zur »Reflexionsprosa« spre- Der Begriff zielt zugleich auf eine Radikalisie-
chen (Vietta/Kemper 1997, S. 153). Eines der radi- rung der antibürgerlichen expressionistischen
kalsten Experimente stellt diesbezüglich Carl Ein- Kunstprogrammatik als auch auf deren fundamen-
steins (1885–1940) Roman Bebuquin oder die tale Kritik (z. B. am idealistischen Entwurf eines
Dilettanten des Wunders (1912) dar. Hier werden Neuen Menschen):
keine metaphysischen Gewissheiten mehr vermit-
telt, Zeit und Raum entfallen als Orientierungskate- »Gegen die ästhetisch-ethische Einstellung! Gegen die blutleere
gorien mit der Entmachtung einer auktorialen Er- Abstraktion des Expressionismus! Gegen die weltverbessernden
zählinstanz, es gibt keine konsistente Handlung. Theorien literarischer Hohlköpfe!« (Huelsenbeck 1984, S. 33).
Psychologie der Figuren sowie Syntax und Seman-
tik sind ebenfalls aufgebrochen. Auf elementare Der Dadaismus ist eine politisch-revolutionäre und
Verunsicherung einer nicht mehr identifizierbaren künstlerische Avantgarde, die das Leben von der
erzählerischen Welt und den Entzug von sinnstif- Kunst aus zu revolutionieren, zugleich die Kunst
tender narrativer Ordnung setzen ebenfalls Kafkas und deren gesellschaftliche Funktionen ganz neu
unlösbar verrätselte parabolische Erzählungen, zu begründen sucht. Die insgesamt heterogene
Benns Novellen Gehirne (sog. Rönne-Novellen, Bewegung zeichnet sich durch militante Kultur-,
1916) oder Döblins Psychologie und Kausalität ver- Gesellschafts- und Rationalitätskritik, Zertrüm-
weigernde Erzählungen, z. B. Die Ermordung einer merung des bürgerlichen Kunstbegriffs, provo-
Butterblume und andere Erzählungen (1913): »Man kative, satirische Attacken auf die kulturelle Sinn-
lerne von der Psychiatrie«. Sie »beschränkt sich auf produktion und die konsequente Verweigerung
die Notierung der Abläufe, Bewegungen« (Döblin von programmatischer Selbstfestlegung zugunsten
1982, S. 659). Unverständlichkeit ist ein signifikan- des Anarchisch-Subversiven aus. In dem Sinne hat
ter Effekt der Abstraktionsverfahren in der Kurzpro- Dada für nur wenige Jahre als eine der radikalsten
sa (vgl. Baßler 1994). Episodische Strukturen wei- Avantgarde-Bewegungen gewirkt, jedoch künstle-
sen etwa Döblins Romane auf (z. B. Die drei Sprünge rische Tendenzen bis ins späte 20. Jh. geprägt (u. a.
des Wang-lun, 1915; Wallenstein,1920). Umstritten Pop-Art und Konkrete Poesie).
ist die Zuordnung der Prosa Franz Kafkas (1883– »Dada ist mehr als Dada«: Diese Erklärung
1924). Seine fragmentarischen Nachlassromane (Huelsenbeck 1984, S. 39) ist symptomatisch für
sind erst in den 1920er Jahren publiziert worden, ein sich jeder Festlegung entziehendes Selbstver-
wenngleich Kafka Teile bereits vorher als Erzählun- ständnis, das mehr will, als eine neue künstlerische
gen veröffentlichte (z. B. Der Heizer 1913, aus dem Praxis zu etablieren. Sie zielt auf die grundsätzliche
Roman Amerika, der später unter dem Titel Der Ver- Erschütterung kultureller und gesellschaftlicher
schollene bekannt wurde). Selbstgewissheiten, z. B. über die Grenzen zwi-
schen Kunst und Lebenspraxis sowie auf kulturell
Dada (Titelblatt der geprägte Vorstellungen von Sinn und Unsinn. Vor
Dadaismus
von Raoul Hausmann allem der Erste Weltkrieg wird zum Anlass eines
herausgegebenen Politisch-revolutionäre und künstlerische Avant- umgreifenden Ideologieverdachts. Dada avanciert
Zeitschrift, 2/1919) garde: ›Dada‹ wird 1916 im Züricher Cabaret Vol- zum politischen wie ästhetischen Kampfbegriff ei-

346
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Avantgarde und Moderne

ner kulturrevolutionären Praxis, die mit Schock, Lyrik/Prosa/Manifeste (Auswahl)


Provokation und Skandal an der subversiven De-
montage der kulturellen Zeichenwelt arbeitet. Die 1914–22 Hugo Ball: Tenderenda der Phantast (posthum 1968)
Stellungnahmen und Manifeste arbeiten einerseits 1918 Tristan Tzara, George Grosz u. a.: Dadaistisches Manifest
mit Superlativen: »mit dem Dadaismus tritt eine 1918 Tzara: DADA-Manifest
neue Realität in ihre Rechte. […] Der Dadaismus 1919 Kurt Schwitters: Anna Blume. Dichtungen
steht zum erstenmal dem Leben nicht mehr ästhe- 1920 Walter Serner: Letzte Lockerung. Manifest
tisch gegenüber« (ebd., S. 32). Andererseits bevor- 1921 Raoul Hausmann: Dada ist mehr als Dada (Manifest)
zugen sie ebenso logisch Widersinniges und ironi- 1922–32 Schwitters: Ursonate
sche Selbstaufhebungsgesten, die den Sinn des
Ausgesagten unterminieren: So endet ein Dada-
Manifest mit den Worten: »Gegen dies Manifest N Laut- und Buchstabengedichte: Die Lautge-
sein, heißt Dadaist sein!« (ebd., S. 33). dichte Hugo Balls (z. B. »Karawane«, 1917) und
Zufall als Prinzip: Schon die Bedeutung des als Kurt Schwitters (z. B. »Ursonate«, 1922–32) leben
Zufallsfund ausgegebenen Namens ›Dada‹ bleibt von der Zerstörung von Syntax und Worten, von
nebulös, und es kursieren im Dada-Kreis die unter- der Reduktion auf den puren Klang des sprachli-
schiedlichsten Versionen (u. a. franz. ›Stecken- chen Materials und führen das Projekt expressio-
pferd‹; Imitation des kleinkindlichen Stammelns). nistischer ›Wortkunst‹ des Sturm-Kreises insofern
Das deutet bereits auf die Rolle, die Zufallsprinzip weiter. Die Buchstaben- und Plakatgedichte Raoul
und Alltagsfundstück in der dadaistischen Kunst- Hausmanns reduzieren die Wörter hingegen op-
praxis spielen. Dada funktioniert in dem Sinn auch tisch auf graphische Zeichen. Seine sogenannten
als provozierendes Label (vgl. Fähnders 2010, ›optophonetischen‹ Gedichte sind als synästheti-
S. 191), das die Grenzen zwischen Kunst und Wa- sche Kombination aus Visuellem und Akustischem
renwelt fundamental verunsichert. zu begreifen.
Gesamtkunstwerk und Entgrenzung der Kunst: N Aktionskunst: Nicht nur die Dada-Abende hat-
Hat schon der Expressionismus auf ein Zusam- ten einen Ereignischarakter, wenn die Lesungen mit
menwirken der Künste gesetzt, so werden die Publikumsbeschimpfungen und Lärmkulisse zur
Grenzen zwischen den etablierten Formen und Performance wurden und z. B. Hugo Ball im scha-
Gattungen, den Künsten und Medien, zwischen manenartigen Kostüm seine Lautgedichte vortrug. Kurt Schwitters:
Kunstaktion und Alltagspraxis von Dada noch Grundsätzlich setzt die dadaistische Provokation Anna Blume. Dichtungen
konsequenter überschritten: auf die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der (Einband der Original-
N Montage und Collage: Sowohl die Grenzen der konkreten künstlerisch-politischen Aktion, auf das ausgabe von 1919)
Einzelkünste als auch die Idee des organischen, Ereignis anstelle des musealisierbaren
geschlossenen, originalen Kunstwerks werden Kunstwerks.
durch diese antimimetischen Techniken verab-
schiedet. Prinzipiell kann alles als (vorgeform-
3.6.1.4 | Neue Sachlichkeit
tes) Material dienen, die Sprache (Wortmaterial
und andere Strömungen
unterschiedlicher Herkunft) wie jeder vorgefun-
der 1920er Jahre
dene Alltagsgegenstand (objet trouvé), eben auch
Produkte industrieller Fertigung (wie die Ready- Die Literatur der 1920er Jahre kann
mades Marcel Duchamps, s. Kap. III.1.2). Kurt insofern als ein »Experimentier- und
Schwitters (1887–1948) etwa realisiert dieses Ver- Ausdrucksfeld der Moderne« (Fähn-
fahren in seiner sogenannten Merz-Kunst, zu der ders 2010, S. 224) gelten, als sie von
z. B. die Anna Blume. Dichtungen (1919) ebenso der Simultaneität heterogener Phä-
gehören wie abstrakte Bühnenkunst (Merz- nomene, Programme und Ideologien
Bühne) und zahlreiche dreidimensionale Objekte gezeichnet ist, eben auch durch jene
(Assemblagen) einer Wort- und Bildkunst (die Tendenzen, die sich in einer radika-
u. a. Zeitungsausschnitte, Reklametexte, unter- len Opposition zur Moderne positio-
schiedliche Gegenstände und Abfälle verwertet). nieren. Als eine dominante Strömung
Da die Collagetechnik (das Aufkleben) von der seit Mitte der 1920er Jahre ist die
sichtbaren Differenz des verwerteten heterogenen Neue Sachlichkeit zu betrachten,
Materials lebt, ist sie mit diesem Effekt an ein Uni- die allerdings weder begrifflich klar
kat gebunden. einzugrenzen ist noch als Künstler-

347
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

bewegung (wie etwa der Expressionismus) gefasst len Konzepten einer gegenständlichen Darstellung
werden kann. Mit einem deutlich programmati- löst und herkömmliche Vorstellungen des Autors
schen Anspruch formiert sich hingegen die prole- als eines Schöpfers sowie des Kunstwerks als eines
tarisch-revolutionäre Literaturbewegung (vgl. organischen Ganzen verabschiedet, kann als eine
Safranski/Fähnders 1995), und zwar mit dem signifikante ästhetische Neuerung betrachtet wer-
ideologischen Verständnis von Kunst und Literatur den. War die Fotografie schon für den Naturalis-
als ›Waffe‹ im Klassenkampf. 1928 gründet sich mus ein leitendes Medium neuen Sehens, so erfüllt
aus Mitgliedern der KPD bzw. ihr nahe stehenden sie diese Funktion auch im Kontext neusachlicher
Intellektuellen der ›Bund proletarisch-revolutionä- Ästhetik.
rer Schriftsteller‹ (BPRS), der 1933 sofort verboten
wird. Zu den Mitgliedern des BPRS zählten u. a.
Der Diskurs Neuer Sachlichkeit
Johannes R. Becher, Egon Erwin Kisch, Bertolt
Brecht, Erwin Piscator und Anna Seghers. ›Neue Sachlichkeit‹ ist ein insofern problemati-
Tendenzen für die Literatur der 1920er Jahre scher Begriff, als er verschiedene, widersprüchli-
sind bei aller Vielfalt: che Facetten hat und nicht klar einzugrenzen ist,
Tendenzen für die Literatur N Intensiver noch als zu Beginn des 20. Jh.s wer- und zwar weder in historischer Hinsicht noch im
der 1920er Jahre den ästhetische Aspekte im Kontext der aktu- Hinblick auf die politisch-ideologische Verortung
ellen »politischen, sozialen, technischen und (von linken bis zur Nähe faschistischer Positio-
medialen Produktions- und Rezeptionsbedin- nen) oder gar die Zuordnung von Kunstwerken
gungen« (Streim 2009, S. 43) verhandelt. bzw. literarischen Texten oder Autor/innen. Im
N Herkömmliche Vorstellungen von Autorschaft weitesten Sinn umspannt der Begriff »Phänomene
und Kunstwerk stehen durch industrielle Ferti- der soziokulturellen Modernisierung« (Streim
gungstechniken und technische Reproduktions- 2009, S. 8) und ist nicht nur als ein literarästheti-
verfahren, auch der neuen Massenmedien, zur sches Phänomen (vgl. dazu Becker 2000) zu ver-
Disposition (vgl. u. a. Benjamin 1974). stehen. In der Architektur der Jahrhundertwende
N Dazu gehört auch eine Erweiterung des Litera- markierte ›Sachlichkeit‹ ein formales Kriterium
turbegriffs, da die Grenze zwischen ›hoher‹ (Funktionalität und Ablösung vom Ornamenta-
und ›niederer‹ Kultur (sowie u. a. zwischen Li- len). Als programmatischer Begriff für neue ästhe-
teratur und Journalismus) durchlässig wird. tische Tendenzen – der forcierten Rückkehr zum
N Die Vereinbarkeit von bzw. Differenz zwischen Gegenständlichen in den »Traditionslinien des
ästhetischer Modernität und politischer Par- Realismus« (Fähnders 2010, S. 230) – wurde er we-
teinahme ist ein signifikantes Spannungsfeld sentlich durch eine Mannheimer Kunstausstellung
der literarischen Entwürfe und kulturpoliti- 1925 populär, die auf Vorschlag von Gustav F.
schen Debatten. Hartlaub den Titel »Die neue Sachlichkeit« trug
Literatur im (urbanen) Medienkontext: Die Präsenz und »Deutsche Malerei seit dem Expressionismus«
der neuen Medien (vor allem Film und Rundfunk) zeigte.
hatte wahrnehmungspsychologische Konsequen- Neue Sachlichkeit im kulturellen Kontext: Ame-
zen für die Realitätserfahrung und beförderte eben- rikanismus, Massenkultur und Technikkult sind
so ästhetische Innovationen (vgl. Wessels 1995). die besonders prägenden Stichworte für das kultu-
So sind Montagetechniken (in allen etablierten relle Klima der in den 1920er Jahren in vielen all-
Gattungen) wie auch neue Genres (z. B. Dokumen- tagskulturellen Bereichen populären neusachli-
tation, Reportage, Hörspiel) einem produktiven chen Diskurse, die das Einverständnis, das
Austausch der Literatur mit dem Film, dem Rund- synchrone Schritthalten im Denken und Sozial-
funk, aber auch mit der in den 1920er Jahren ex- verhalten mit dem vermeintlich objektiv Fakti-
pandierenden Presse geschuldet (vgl. Wessels schen der gesellschaftlichen und ökonomischen
1995, S. 68): »Die Technifizierung der literarischen Modernisierung sowie der technisierten, urbanen
Produktion ist nicht mehr rückgängig zu machen« Lebenswelt formulieren und auf Zweckrationali-
(Brecht 1992, S. 464), merkt Brecht 1931 an und tät, Illusionslosigkeit, Distanz im zwischen-
bezieht das vor allem auf das Medium Film, ein menschlichen Umgang und im Verhältnis zu den
Aspekt, den auch Döblin ja schon 1913 in seinem Dingen setzen (vgl. Lethen 1994). – »Die Kon-
»Berliner Programm« erörterte (s. Kap. III.3.6.1.3). struktion des Lebens liegt im Augenblick weit
Die Montagetechnik, die sich als ein experimen- mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeu-
telles, antimimetisches Verfahren von traditionel- gungen« (Benjamin 1972, S. 85).

348
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Avantgarde und Moderne

Als literarästhetischer Diskurs begründet sich Poetik/Ästhetik/Medientheorie


Neue Sachlichkeit vor allem mit der Abkehr vom (Auswahl – von den 1920er Jahren bis Kriegsende)
Expressionismus (und dem Ästhetizismus). Er pri-
vilegiert neben »Gebrauchswertkategorien« (Pan- 1920 Georg Lukács: Die Theorie des Romans
kau 2010, S. 43) die Öffnung der Literatur zur All- 1927 Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse
tagskultur und zur aktuellen Gegenwart. Dem 1929 Alfred Döblin: Der Bau des epischen Werks
neusachlichen, literarischen Stil wird eine Rück- 1932 Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat
kehr zum Gegenständlichen in Form der präzisen 1934 Walter Benjamin: Der Autor als Produzent
Beschreibung, der nüchternen Beobachtung, mit 1936 Benjamin: Der Erzähler
dem Verzicht auf Psychologie, Wertung und Ein- 1936/39 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
fühlung zugeschrieben. Eine die Trennung von Reproduzierbarkeit
Dokumentarischem und Fiktion unterminierende 1939/40 Brecht: Der Messingkauf
Ästhetik der ›Tatsachen‹ avanciert zum zentralen 1948 Brecht: Kleines Organon für das Theater
Aspekt dieses Diskurses, der sich als ein neuer Re-
alismus entwirft (vgl. die zahlreichen Dokumente
bei Becker 2000). ›Sachlichkeit‹ ist so immer als Der rasende Reporter (1925). Deren Programm re-
Effekt einer in den Texten wirksamen Rhetorik klamiert eine ethnologisch fundierte, ebenso
des Faktischen zu untersuchen statt als substanti- standpunktlose wie tendenzlose Beobachtung. Der
eller Kern »dokumentarischer Authentizität« (Streim behauptete Wahrheitsanspruch des Faktischen,
2009, S. 45) vorauszusetzen. Die Prosa (mit neuen Sachlichen wird gegen die literarische Imagination
Genres wie z. B. der Reportage) stellt den zentralen ausgespielt und mehr noch: Die Reportage soll die-
Bereich neusachlicher Literatur dar. se gleichsam ersetzen. Die vermeintliche Unmittel-
barkeit des Faktischen verdankt sich jedoch in
Kischs Reportagen (und nicht nur dort) gerade ei-
Tendenzen der Prosa
ner besonders sorgfältigen literarischen Konstrukti-
Kleine Prosaformen: Im Zuge eines wachsenden on und ist erst deren eigentlicher Effekt, womit die
Einflusses der Presse und vor allem des Feuille- behauptete Differenz zwischen reiner Beobachtung
tons, die zu privilegierten Publikationsorten wer- des Faktischen und literarischer Fiktion unterlaufen
den, ist eine Tendenz zu Prosaminiaturen bzw. zu wird. Siegfried Kracauer attestiert der ›üblichen‹
»essayistischen Kleinform(en)« (Fähnders 2010, zeitgenössischen (neusachlichen) Reportage einen
S. 259) zu bemerken. Mit dem Anspruch einer un- naiven Abbildrealismus und kritisiert in seiner so-
mittelbaren, kritischen Zeitdiagnostik verhandeln ziologischen Reportage Die Angestellten (1929/30)
sie – als zugleich literarische wie kulturtheoreti- den »Hunger nach Unmittelbarkeit« sowie den
sche Ansichten – den Kontext urbaner Moderne Glauben an die einfache »Reproduktion des Beob-
und der Massengesellschaft. Im Unterschied zur achteten« (Kracauer 1971, S. 15). Vielmehr gelte
»anspruchsvolle[n] Geste des Buches« entfalten, es, im dokumentarischen Verfahren das bloß Be-
so Walter Benjamin, »die unscheinbaren Formen« obachtete konstruktiv zu überwinden, um zu Er-
ihre Wirkung besser, und zwar »in Flugblättern, kenntnissen zu gelangen: »Die Wirklichkeit ist
Broschüren, Zeitschriftenartikeln und Plakaten« eine Konstruktion« und eben nicht »in der mehr
(Benjamin 1972, S. 85). Dazu gehören u. a. Benja- oder weniger zufälligen Beobachtungsfolge der Re-
mins Sammlung Einbahnstraße (1928), Franz Hes- portage enthalten« (ebd., S. 16).
sels Spazieren in Berlin (1929) und Siegfried Kra- Krise und Erneuerung des Romans: Dass die
cauers Essays (Das Ornament der Masse, 1927). ›Wirklichkeit‹ nicht auf den Begriff zu bringen,
›Rasende Reporter‹ und die Literatur: Der literari- d. h. sprachlich zu repräsentieren ist, und die mo-
sche Kontext Neuer Sachlichkeit lebt von der Kon- derne Lebenswelt darüber hinaus so komplex, he-
junktur neuer Formen und Sujets, die das literari- terogen und fragmentiert ist, dass sie sich nicht
sche Feld um Diskurse des Dokumentarischen mehr in die große, geschlossene Erzählung des
erweitern (vor allem Reportage, Sachbuch und Romans nach dem Vorbild des 19. Jh.s bannen
(Auto-)Biographien). Im Zuge einer Öffnung der li- lässt, bestimmt u. a. schon die zahlreichen Erzähl-
terarischen zu publizistischen Formen wird die Re- experimente der Jahrhundertwende und des Ex-
portage zur signifikant neusachlichen Gattung. Das pressionismus (s. Kap. III.5.3.3.4, III.3.6.1.3). Im
wohl prominenteste und in seiner Zeit populärste Zeichen einer Erkenntnis- und Sprachkrise, des
Beispiel ist Egon Erwin Kischs Reportagesammlung Verlusts tradierter, verbindlicher Werte sowie der

349
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

Prosa (Auswahl – von den 1920er Jahren bis Kriegsende) Franz Kafkas Romane, die erst posthum veröf-
fentlich wurden (Der Process, 1925; Das Schloss,
1918 Heinrich Mann: Der Untertan 1926; Amerika, 1927, später unter dem Titel Der
1924 Thomas Mann: Der Zauberberg Verschollene) vollziehen konsequent den Abschied
1924 Arthur Schnitzler: Fräulein Else von einem mimetischen Repräsentationsanspruch
1924 Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter (Reportagen) sowie Figurenpsychologie und entziehen sich so-
1925 Franz Kafka: Der Process (posthum) mit auch radikal jedem Versuch des hermeneuti-
1925 Lion Feuchtwanger: Jud Süß schen Verstehens, zumal die Schauplätze des Er-
1926 Kafka: Das Schloss (posthum) zählten immer zugleich auch Schauplätze einer
1926 Arthur Schnitzler: Traumnovelle Reflexion über das Erzählen und Schreiben selbst
1927 Hermann Hesse: Der Steppenwolf sind.
1927 Kafka: Der Verschollene (posthum, zunächst mit dem Titel Physiognomie der Epoche: Als Parodie des klas-
Amerika) sischen Bildungsromans gibt sich Thomas Manns
1927 Joseph Roth: Flucht ohne Ende (1875–1955) einflussreichster Roman der 1920er
1928 Walter Benjamin: Einbahnstraße Jahre, Der Zauberberg (1924). Er bietet das um-
1929 Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz fangreiche, mit ironischem Gestus erzählte Porträt
1929 Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues der 1914 in die Katastrophe gezogenen bürgerli-
1929 Franz Hessel: Spazieren in Berlin chen Gesellschaft der Vorkriegsepoche und deren
1929/30 Siegfried Kracauer: Die Angestellten (soziologische Reportage) Ideologie im Spiegel einer zugleich kritischen,
1930–52 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften philosophisch perspektivierten Zeitdiagnose, die
1931 Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten sich mit der erzählerischen Fiktion verbindet. Auf
1931 Marieluise Fleißer: Mehlreisende Frieda Geier der Folie des Bildungsromans ist auch Robert Mu-
1931 Erik Reger: Union der festen Hand sils (1880–1942) unvollendet gebliebener, monu-
1931/32 Hermann Broch: Die Schlafwandler (Trilogie) mentaler Epochenroman Der Mann ohne Eigen-
1932 Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen schaften (ab 1930) zu lesen, der sich jedoch von
1932 Joseph Roth: Radetzkymarsch tradierten Formen des Erzählens löst, zerstreute
1932 Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? Reflexionen und eine essayistische Schreibweise
1932–38 Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (publ. 1950) privilegiert, die produktiv auf die moderne Er-
1936 Elias Canetti: Die Blendung kenntnisskepsis reagiert. Hermann Brochs (1886–
1936 Klaus Mann: Mephisto 1951) Trilogie Die Schlafwandler (1931/32) bietet
1936 Lion Feuchtwanger: Der falsche Nero mit eingestreuten essayistischen Reflexionen
1936–44 Brecht: Flüchtlingsgespräche gleichsam eine narrative Physiognomie der Epo-
1937 Anna Seghers: Das siebte Kreuz che zwischen Kaiserreich und Nachkriegszeit. Ei-
1937 Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott ner satirischen Kritik setzt Heinrich Manns (1871–
1937 Else Lasker-Schüler: Das Hebräerland 1950) Roman Der Untertan (1918) die autoritären
1939 Thomas Mann: Lotte in Weimar politischen und gesellschaftlichen Konstellationen
1940 Döblin: Schicksalsreise der wilhelminischen Epoche aus. Hermann Hes-
1940/41 Seghers: Transit (publ. 1948) ses (1877–1962) Der Steppenwolf (1927) ver-
1942 Stefan Zweig: Schachnovelle schränkt in seiner kulturpessimistischen Zeitdia-
1943/44 Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen gnose eine individuelle Leidensgeschichte mit
1943–47 Thomas Mann: Doktor Faustus gesellschaftlichen Krisensymptomen.
Der historische Roman erweist sich als ein
überaus beliebtes Genre der Zeit (z. B. Lion
Konkurrenz der durch neue (technische) Medien Feuchtwanger: Jud Süß, 1925; Joseph Roth: Ra-
bedingten, anderen Erzählweisen stehen ebenfalls detzkymarsch, 1932). Es kann insofern als literari-
in den 1920er Jahren die Debatten um eine Krise sches Krisenphänomen betrachtet werden, als es
des Romans (vgl. die Dokumente bei Kaes 1983, auf einen mit dem Ersten Weltkrieg erschütterten
S. 376–395), aber auch Versuche seiner Erneue- Glauben an »die Geschlossenheit und Darstellbar-
rung. Auf das Problem der »Unerzählbarkeit des keit geschichtlicher Entwicklungen« (Streim 2009,
modernen Lebens« (Streim 2009, S. 68) reagieren S. 84 f.) reagiert.
Romankonzepte der 1920er Jahre nun ganz unter- Unmittelbare Gegenwart im Zeitroman: Der
schiedlich, wie es die nachfolgenden Beispiele il- Abschied vom großen Erzählzusammenhang, vom
lustrieren. Panoramatischen und von Formen des Bildungsro-

350
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Avantgarde und Moderne

mans, zugunsten des Ausschnitthaften und einer Frieda Geier (1931) im Spannungsfeld zwischen
Öffnung zu »journalistischen Schreibweisen« (Pan- urbaner Metropole und Provinz aus. Der Erinne-
kau 2010, S. 48) zeichnet Formen des auf die un- rung der abgründig grausamen Materialschlachten
mittelbare Gegenwart bezogenen Romans aus, die des Ersten Weltkriegs widmen sich u. a. Erich Ma-
sich dem dominanten Kontext Neuer Sachlichkeit ria Remarques (1898–1970) Antikriegs-Roman Im
zuordnen lassen. Sie erproben den Fakt und Fik- Westen nichts Neues (1929), als literarische Autop-
tion verschränkenden literarisch-soziologischen sie einer vom Krieg schwer beschädigten, trauma-
Blick und die ethnographische Erkundung des tisierten Generation, und Joseph Roths Flucht ohne
zeitgenössischen Alltags in der urbanen und tech- Ende (1927), dessen Protagonist ein entwurzelter
nisierten Lebens- und Arbeitswelt. Dem neuen An- heimatloser Kriegsheimkehrer ist. Erik Regers Uni-
gestelltenmilieu gelten u. a. Erich Kästners Fabian. on der festen Hand (1931) verhandelt reportagear-
Die Geschichte eines Moralisten (1931) und Hans tig, auf ein Konzept radikaler Mimesis setzend,
Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932). Der Bü- den zeitgenössischen sozialen Kontext der Arbei-
roalltag und die massenkulturellen bzw. massen- terbewegung und der Schwerindustrie im Ruhrge- Erich Kästner:
medialen Phänomene der Großstadt, vor allem die biet. Eine Poetik des Faktischen beansprucht vor Fabian (Cover der
Verlockungen der Kinowelt, verbinden sich etwa allem auch der proletarisch-revolutionäre Massen- Erstausgabe von 1931)
in Irmgard Keuns (1905–1982) Das kunstseidene roman, etwa Klaus Neukrantz’ Barrikaden am
Mädchen (1932) mit der Thematisierung des Ge- Wedding (1931).
schlechterkonflikts. Diesen lotet wiederum Marie- Döblins modernes Großstadt-Epos: In seinem
luise Fleißers (1901–1974) Roman Mehlreisende Montageroman Berlin Alexanderplatz (1929) er-
probt Alfred Döblin (1878–1957), u. a. inspiriert
durch James Joyce’ Großstadtroman Ulysses (1922)
und Schnitttechniken des Films, die experimentel-
le Erneuerung des Genres und reagiert damit auf
eine Forderung, die sein sogenanntes »Berliner
Programm« (»An Romanautoren und ihre Kriti-
ker«) bereits 1913 formulierte: Der Roman müsse
als »Kunstwert und modernes Epos« wiederbe-
lebt werden, »man erzählt nicht, sondern baut
[…], das Nebeneinander des Komplexen wie das
Hintereinander« (Döblin 1982, S. 661, 660). Bibel- Erich Maria Remarque: Im
zitate, literarische Anspielungen, Zitate aus Schla- Westen nichts Neues (Cover
gern, Volksliedern, amtlichen Bekanntmachungen, der Erstausgabe von 1929)
Zeitungsmeldungen, Werbetexten bilden das viel-
stimmige Netzwerk des hier erklingenden urbanen
Resonanzraums der unmittelbar zeitgenössischen
Gegenwart, die als eine fragmentierte Welt zur
Schau gestellt wird; auch die eigene Konstruktion
stellt der Text offensiv aus. Wenngleich Berlin
Alexanderplatz eine, die emotionale Identifikation
oder ideologische Deutung verweigernde Zeitdia-
gnose im »steinernen Stil« (ebd.) bietet, ist seine
radikal experimentelle Ästhetik nicht repräsentativ
für das Genre des neusachlichen Zeitromans.
Antimoderne Strömungen mit radikal antide-
mokratischen, sozialdarwinistischen, rassistischen
und antisemitischen Tendenzen, u. a. reaktionäre
Heimatkunst einer ›Blut-und Boden‹-Mythologie,
behaupten daneben in den 1920er Jahren eine be-
drohlich wachsende Konjunktur, die in ihrer ent-
schiedenen Opposition zur Moderne jedoch auch
Döblin: Berlin Alexanderplatz (Cover der Erstausgabe ein »spezifisch modernes Phänomen« (Streim
von 1929) 2009, S. 85) sind und insgesamt ein »folgenreiches

351
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

Paradigma« (Sprengel 2004, S. 819) für den Natio- Artistik und Montage: Gottfried Benn spielt in
nalsozialismus bereitstellen, wie es Peter Sprengel seinen Montagegedichten (z. B. Schutt, 1924) eine
für Ernst Jüngers tagebuchartige Notizen In Stahl- mythisch fundierte, radikal antimimetische Ord-
gewittern (1920) und deren Ȋsthetischen Rehabili- nung des Artistischen aus, die eine als ungeordne-
tation des Kriegs« als eines mythischen Ereignisses tes Chaos erscheinende ›Wirklichkeit‹ zu über-
gegeben sieht. schreiten sucht.
Lyrik im Zeichen von Aktualität und ›Gebrauchs-
wert‹: Die Lyrik im Kontext neusachlicher Diskur-
Tendenzen der Lyrik
se verabschiedet sich weitgehend von Subjektivis-
»Die Lyrik wird heute von den Reklamechefs der mus und Innerlichkeit und entdeckt gleichsam die
Stiefelwichsefabriken und von den Unfallverhü- urbane, alltägliche »Prosa der Verhältnisse« (Fähn-
tungspsychologen der B.V.G. verwaltet. […] Die ders 2010, S. 237), die sich nicht zuletzt auch
Lyrik stirbt an dem technischen Fortschritt, an den in der auflagenstarken Publikation von Gedichten
Automobilen, an der Hygiene und an den kurzen in den Massenmedien und der Produktion von
Röcken« (Kiaulehn 2000, S. 257). – Wenn auch in Werbelyrik (u. a. Brecht) niederschlägt. Technik-
diesem zeitgenössischen Statement mit ironischer euphorie und Amerikanismus prägen z. B. Lion
Geste ein das Genre historisch überholender, neu- Feuchtwangers PEP. J. L. Wetcheeks amerikani-
sachlicher Zeitgeist beschworen wird, so ist die sches Liederbuch (1928), Erich Kästners populäre
lyrische Produktion der 1920er Jahre von hetero- Zeitungsgedichte über den großstädtischen Alltag
gener Vielfalt gezeichnet. (z. B. Lärm im Spiegel, 1929) und Mascha Kalékos,
Im ästhetizistischen Kontext der Jahrhundert- vor allem auf die Bürowelt urbaner Angestellten-
wende stehen noch Rainer Maria Rilkes (1875– kultur bezogene Sammlung Das lyrische Steno-
1926) späte Gedichte, die Sonette an Orpheus (1923) grammheft (1933). Bertolt Brechts (1898–1956)
und seine Duineser Elegien (1923), die eine rück- Hauspostille (1927) spielt mit beißender Ironie auf
wärtsgewandte »Überwindung der Moderne, […] die religiöse Erbauungsliteratur an und über-
als Dekonstruktion von Sinn- und Ordnungsmus- schreibt deren tradierten Gebrauchswert gesell-
tern der Epoche« (Korte 1995, S. 611) inszenieren; schaftskritisch mit einem anarchischen Nihilis-
ebenso gilt das für Stefan Georges (1868–1933) letz- mus. Brechts Sammlung Aus dem Lesebuch für
te Sammlung Das neue Reich (1928), die eine äs- Städtebewohner (1930) lehrt mit zynischer Geste
thetische Opposition zur Gegenwart mit dem heils- den kalten Abschied vom bürgerlichen Individu-
geschichtlich aufgeladenen Entwurf des Dichters um und vom bürgerlichen Humanitätspostulat als
als eines geistigen Führers reklamiert und einen sachliche, historisch notwendige Überlebensstra-
fundamentalistischen Antimodernismus entwirft. tegie auf dem urbanen, inhumanen Territorium
der Moderne. Als politische Lyrik mit operativem
Lyrik (Auswahl – von den 1920er Jahren bis Kriegsende) Anspruch war insbesondere das proletarisch-re-
volutionäre Kampflied bzw. Arbeiterlied verbrei-
1919 Kurt Tucholsky (alias Theobald Tiger): Fromme Gesänge tet. Zu den populärsten Autoren gehören Oskar
1920 Walter Mehring: Das politische Cabaret Kanehl (»Steh’ auf, Prolet!«, 1920; »Straße frei«,
1923 Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien 1928) und Erich Weinert, dessen Kampflied »Der
1923 Rilke: Sonette an Orpheus Rote Wedding« (1929) nicht zuletzt durch die Ver-
1924 Gottfried Benn: Schutt tonung von Hanns Eisler sehr bekannt wurde. Das
1925 Benn: Betäubung gilt ebenso für Brechts, den Klassenkampf propa-
1926 Oskar Loerke: Der längste Tag gierendes »Solidaritätslied« (1931).
1927 Brecht: Hauspostille Song-Lyrik bzw. Chanson etablierten sich im
1928 Stefan George: Das neue Reich Kontext des in den 1920er Jahren populären litera-
1929 Erich Kästner: Lärm im Spiegel rischen und politischen Kabaretts. Zu nennen wä-
1930 Brecht: Aus dem Lesebuch für Städtebewohner ren etwa Joachim Ringelnatz’ satirische Turnge-
1933 Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft dichte (1920), Walter Mehrings beißende politische
1939 Brecht: Svendborger Gedichte Satire in der Couplet-Sammlung Das politische Ca-
1943 Else Lasker-Schüler: Mein blaues Klavier baret (1920) und Kurt Tucholskys Fromme Gesänge
1943/44 Nelly Sachs: In den Wohnungen des Todes (1919). Die Songs aus Brechts Dreigroschenoper
1945 Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen (1928) erlangten in der Rezeption ungeahnte
Schlagerqualitäten.

352
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Avantgarde und Moderne

Naturlyrik: Die Abkehr von modernen, experi- Wolfs Stück Cyankali (1929), das die Auseinan-
mentellen Formen und »deutliche Wendung zum dersetzungen um den Abtreibungsparagraphen
lyrischen Traditionalismus« (Fähnders 2010, 218 thematisiert. Dramatische Entwürfe proleta-
S. 264) kennzeichnet die wiedererwachende Kon- risch-revolutionärer Agitation kreisen zumeist um
junktur einer Naturlyrik um 1930, der vor allem Kriegs- und Revolutionsereignisse wie Alfons Pa-
die 1929 bis 1932 erschienene Zeitschrift Die Ko- quets erfolgreiches Stück Fahnen (1924), das mit
lonne ein Forum bot und u. a. Gedichte von Oskar dem legendären Arbeiteraufstand in Chicago am
Loerke, Günter Eich, Peter Huchel und Elisabeth 1. Mai 1886 (›Haymarket Riot‹) gleichsam das
Langgässer publizierte. Gründungsereignis der internationalen Arbeiterbe-
wegung dramatisch in Szene setzt. Die unmittelbar
zeitgeschichtliche Vergangenheit verhandelt z. B.
Drama und Theater
das dem Kieler Matrosenaufstand (1918) gewidme-
Die Geschichte des Dramas steht in den 1920er te Stück Ernst Tollers, Feuer aus den Kesseln (1930).
Jahren auch in enger Verbindung mit der »experi- Kritisches Volksstück: Im Zeichen von Gegen- Gegenwartskritik und
mentellen Entwicklung von neuen Bühnen, Schau- wartskritik und Demontage des Klischees provin- Demontage des Klischees
spielstilen und technischen Mitteln« (Streim 2009, zieller Idylle sowie der ideologisch besetzten Be-
S. 56). Neben diesen Innovationen gehören inter- griffe ›Heimat‹, ›Volk‹ und ›Tradition‹ steht ebenso
mediale Experimente ebenso dazu wie neue, die die kritische Erneuerung des Volksstücks. Radika-
traditionelle Guckkastenbühne des Illusionsthea- ler als in Carl Zuckmayers Komödie Der fröhliche
ters ablösende, abstrakte Bühnenkonzepte und Weinberg (1925) werden kleinbürgerliche Mentali-
Aufführungsorte, die eine veränderte Rezeptionssi- tät, Bigotterie, eine geradezu anti-idyllische pro-
tuation schaffen, im politischen Agitprop-Theater vinzielle Welt ebenso sinnentleerter wie auf Ge-
etwa die Eröffnung des kollektiven Spiels mit den walt basierender Ordnungen in Marieluise Fleißers
Rezipient/innen in der Bespielung öffentlicher Dramen Fegefeuer in Ingolstadt (1926), Pioniere in
Räume (z. B. der Straße). Ferner lässt sich die Ten- Ingolstadt (1928) und in Ödön von Horváths
denz zum Regietheater, zu einer »weitreichende[n] (1901–1938) Stücken, z. B. in den Geschichten aus
Autonomie der Inszenierung gegenüber dem Dra- dem Wienerwald (1931), vorgeführt.
matiker und dessen Text« (Kreidt 1995, S. 244) be- Die Komödie kann ebenfalls als ein recht erfolg-
obachten. reiches Genre der 1920er Jahre gelten. Einflussrei-
Zeitstück: Hochkonjunktur erlebt in den 1920er che Vorbilder liefern insbesondere Carl Sternheims
Jahren das sogenannte Zeitstück, das ein unmittel- satirische Komödien über das wilhelminische Bür-
bar zeitgeschichtliches, häufig tagespolitisch be- gertum. Das gilt z. B. für Georg Kaisers, aus drei
stimmtes Themenspektrum zumeist reportageartig simultanen Handlungssträngen bestehendes Stück
verhandelt und als ein Effekt wachsender Medien- Nebeneinander (1923), das den neusachlichen
konkurrenz (u. a. durch das Kino) zu sehen ist, die Zeitgeist ebenso satirisch demontiert wie das mes-
das Theater zu Aktualisierungen drängt. Die dem sianische Pathos des Expressionismus. In der Tra-
Journalismus nahestehenden und dem Kontext dition der Wiener Volkskomödie (s. Kap. III.3.5.2)
Neuer Sachlichkeit zu verortenden Zeitstücke rea- stehen hingegen noch Hugo von Hofmannsthals
lisieren das zumeist im Blick auf aktuelle Themen, Charakterkomödien, z. B. Der Schwierige (1921).
in ästhetischer Hinsicht jedoch eher konventio- Erwin Piscators politisches Theater: Als einer
nell. Thematisch bewegen sie sich im Spannungs- der einflussreichsten Regisseure des sich als par-
feld zwischen gesellschaftskritischer Information, teilich entwerfenden politischen Theaters der
politischer Aufklärung und direkter Agitation. Sie 1920er Jahre gilt Erwin Piscator (1893–1966), der
sagen sich in dem Sinn vor allem vom abstrakten zunächst 1920 als KPD-Mitglied zu den Initiatoren
Idealismus und der »deklamatorische[n] Reali- eines ›proletarischen Theaters‹ in Berlin gehört,
tätsenthobenheit« (Pankau 2010, S. 44) des expres- das mit Laienspielgruppen an den Versammlungs-
sionistischen Dramas los. Soziale Probleme der orten der Arbeiterbewegung agitiert (vgl. Safrans-
Weimarer Republik und Justizkritik stehen oft im ki/Fähnders 1995, S. 179 f.) und später, insbeson-
Mittelpunkt der Dramen, so etwa in Erich Müh- dere an der Piscator-Bühne in Berlin, nicht nur mit
sams Stück Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und der eingreifenden Bearbeitung der Stoffe, sondern
Vanzetti (1928), Peter Martin Lampels Revolte im auch mit neuen Formen des Theaters, im Zeichen
Erziehungshaus (1928), Ernst Tollers Kriegsheim- einer neusachlichen Technikbegeisterung (vgl.
kehrer-Drama Hinkemann (1923) oder Friedrich Fähnders 2010, S. 268), experimentiert. Dazu gehö-

353
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

ren u. a. eine an funktionalen Gesichtspunkten ori- nen sehr kritisch mit dem idealistischen Pathos des
entierte Bühnenarchitektur, eine multimediale expressionistischen Dramas ab (vgl. Müller 2009,
Montagetechnik (Einsatz von Filmen, Fotografien S. 42–55). Schon hier werden anti-illusionistische
und Musik) sowie die Auflösung der traditionellen Tendenzen seines Theaters deutlich, die psycholo-
Textkompositionen zu revueartig angeordneten gische Einfühlung verhindern und stets an den
Szenen. Das ehrgeizige Ziel seiner Arbeiten ist die Spielcharakter des Aufgeführten, an die artistisch
Synthese aus radikaler Modernisierung und Politi- konstruierte dramatische Welt, erinnern sollen. Auf
sierung des Theaters. eine ›sachliche‹ Rezeptionshaltung, die mit soziolo-
Bertolt Brechts episches Theater und die Lehr- gischem Blick die sozialen Konflikte der modernen
stücke: Brechts (1898–1956) dramatisches Schaffen Großstadt wie einen sportlichen Wettkampf beur-
ließe sich auf die Formel bringen: »Der Schrei nach teilt, setzt Brechts Dramatik der 1920er Jahre, z. B.
einem neuen Theater ist der Schrei nach einer neu- in dem von Upton Sinclairs Chicago-Roman (The
en Gesellschaftsordnung« (Brecht 1992, S. 238). Jungle, 1906) inspirierten Stück Im Dickicht (1923;
Der pädagogische und zugleich auf Gesellschafts- Im Dickicht der Städte, 1927). Im Zuge seiner in-
veränderung setzende politische Impuls konzen- tensiven Beschäftigung mit dem Marxismus ent-
triert sich noch stärker als bei Piscator auf eine wickelte Brecht seit den 1920er Jahren dann prak-
neue, zeitgemäße Form des Dramas und der Spiel- tisch wie theoretisch die Grundprinzipien eines
weise, die auf die »Inthronisierung des wissen- sogenannten nicht-aristotelischen, epischen The-
schaftlichen Prinzips« (Szondi 1963, S. 115), auf aters, das u. a. mittels verschiedener Techniken
Aktives, kritisch Beobachtung und Experiment, auf ein aktives, kri- der desillusionierenden Verfremdung sowie der
distanziertes Publikum tisch distanziertes, das Geschehen prüfendes Publi- montageartigen Fügung der einzelnen Elemente
kum setzen, das nicht mehr in passiv aufnehmen- dem Geschehen das vermeintlich Unabänderliche,
der, emotionaler Haltung zum Bühnengeschehen Natürliche nimmt und das Publikum zur aktiven
verharren soll. Bereits Brechts frühe Dramen, das Entscheidung drängt (s. Kap. III.4.4.2; vgl. Szondi
Künstlerdrama Baal (Erstfassung 1918) sowie das 1963, S. 115–121), so etwa erstmals deutlich im
den Kontext der Novemberrevolution 1918 verhan- Stück Mann ist Mann (1926). Eine neue, epische
delnde Stück Trommeln in der Nacht (1922), rech- Form des Musiktheaters erprobte Brecht mit der so
überaus erfolgreichen Dreigroschenoper (1928) und
Drama (Auswahl – von den 1920er Jahren bis Kriegsende) mit Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930).
Brechts sogenannte Lehrstücke (z. B. das Radio-
1918 Bertolt Brecht: Baal Experiment Der Flug der Lindberghs, 1929; Die
1919/22 Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit Maßnahme, 1930) experimentieren als lehrhafte,
1919/22 Brecht: Trommeln in der Nacht die kritische Reflexion des Gespielten suchende,
1921 Hugo von Hofmannsthal: Der Schwierige Übungsstücke für Schauspieler, eben auch Laien-
1923 Georg Kaiser: Nebeneinander darsteller, mit einem Theater ohne Zuschauer und
1923/27 Brecht: Im Dickicht (der Städte) sind als eine spezielle Form des epischen Theaters
1925 Carl Zuckmayer: Der fröhliche Weinberg zu betrachten.
1926 Marieluise Fleißer: Fegefeuer in Ingolstadt Radioästhetik und Hörspiel: Seit Beginn des re-
1926 Brecht: Mann ist Mann gelmäßigen Sendebetriebs mit dem Unterhaltungs-
1928 Marieluise Fleißer: Pioniere in Ingolstadt programm der Berliner Funkstunde (im Oktober
1928 Brecht: Dreigroschenoper 1923) wurden die kulturpolitischen Perspektiven
1928 Peter Martin Lampel: Revolte im Erziehungshaus dieses neuen Massenmediums und die techni-
1929 Brecht: Der Flug der Lindberghs (Ozeanflug) schen wie ästhetischen Möglichkeiten einer litera-
1929 Friedrich Wolf: Cyankali rischen Radiokunst ausgelotet. Die Anfangsjahre
1930 Brecht: Die Maßnahme des Rundfunks stehen dementsprechend im Zei-
1930 Brecht: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny chen einer umfangreichen Produktion von Hör-
1930 Ernst Toller: Feuer aus den Kesseln spielen (vgl. Wessels 1995, S. 93). Das Spannungs-
1931 Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald feld der Formen reicht von einem anfangs eher
1938/39 Brecht: Leben des Galilei (auch 1947, 1955/56) noch wenig experimentierfreudigen, eher natura-
1939 Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder listischen Ansatz (›Theater für Blinde‹; vgl. Würf-
1941 Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui fel 1978, S. 15) bis hin zu antimimetischen Laut-
1941/42 Franz Werfel: Jacobowsky und der Oberst und Geräuschexperimenten, wie sie etwa das
erste ausgestrahlte Hörspiel Zauberei auf dem Sen-

354
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Avantgarde und Moderne

der von Hans Flesch (Frankfurter Sender 1924) Exil und Literatur: Die Literatur, die im Exil 1933
oder Kurt Schwitters im Süddeutschen Rundfunk bis 1945 entstand, ist nur zu einem Teil eine expli-
1932 mit seiner Ursonate durchführen konnten, zit Stellung beziehende, engagiert antifaschisti-
was jedoch ein Ausnahmephänomen blieb. Ange- sche Literatur; vielmehr bietet sie als ein breites
sichts wachsender staatlicher Kontrolle und Funk- Spektrum sehr unterschiedlicher Reaktionen und
tionalisierung des Rundfunks knüpfen u. a. Walter literarischer Verhandlungen der individuellen und
Benjamin und Bertolt Brecht die kulturrevolutio- politischen Umstände der durch politische Gewalt
näre Hoffnung an das neue Massenmedium, es erzwungenen Flucht und Entortung, die u. a. auch
jenseits der Unterhaltungskunst im emanzipatori- den Verlust der Muttersprache und eines literari- Verlust der Muttersprache
schen Sinn der demokratischen Kommunikation schen Publikums bedeuten.
und politischen Aufklärung dienstbar zu machen. Die Situation des Exils, »dessen Traumatik eine
So erprobt Benjamin mit einer Reihe von Hörmo- Fixierung an Sprachbildern und Narrationen«
dellen, wie z. B. Gehaltserhöhung?! Wo denken Sie braucht, stiftet den Inhalt der Texte und ist ihr
hin? (1931) und Hörspielen didaktische Perspek- »konstitutiver Moment« (Bronfen 1993, S. 168). Im
tiven der emanzipatorischen Wissensvermittlung Hinblick auf die Frage nach der Übersetzung der
anhand alltäglicher Begebenheiten. Brechts radio- Exilerfahrung in literarische Repräsentationen
theoretische Überlegungen formulieren eine basis- (und um deren mögliche Grenzen) ist darüber hin-
demokratische Medienutopie der Umfunktionie- aus zu bedenken, dass das Exil auch als eine schon
rung des Radios aus einem »Distributionsapparat« fast inflationär strapazierte »Metapher« (ebd.,
zu einem »Kommunikationsapparat«, der »den S. 172) der Krise in den literarischen Modernedis-
Hörer als Lieferanten« (Brecht 1992, S. 553) orga- kursen erscheint (Entfremdung und Verlusterfah-
nisiert. Die praktische Erprobung dessen erfolgte rung, Unbehaustsein, Sprach- und Subjektkrise).
in seinem, an Kinder adressierten, Radio-Lehr- Das ist im Umgang mit jenen Texten im Auge zu
stück Der Flug der Lindberghs. Dessen Urauffüh- behalten, welche die traumatische Erfahrung ge-
rung fand 1929 zur Musik von Kurt Weill und Paul waltsamer Vertreibung aus dem kulturellen Raum
Hindemith statt. und der Sprache, mit denen sich eine persönliche
Identität verbindet, literarisch verhandeln. Als Re-
alismusdebatte (auch »Expressionismusdebatte«) Kontroversen um
3.6.1.5 | Nationalsozialismus und Exil
fanden 1937/38 poetologische Kontroversen um politisch-literarische
Die totalitäre nationalsozialistische Kulturpolitik die angemessene politisch-literarische Repräsenta- Repräsentation des Exils
hat insofern 1933 eine Zäsur gesetzt, als sie einen tion des Exils zwischen avantgardistischer Moder-
großen Teil der Schriftsteller/innen und Intellektu- ne und Wiederbelebung traditioneller Formen (des
ellen ins Exil getrieben hat und mit dem Anspruch bürgerlichen Realismus) statt, an der sich u. a. Ge-
einer ›nationalen Kulturrevolution‹ im Grunde eine org Lukács und Bertolt Brecht beteiligten (vgl. u. a.
literarische Tradition der (international orientier- Stephan 2001, S. 459–462).
ten) Moderne unterbrochen bzw. ausgelöscht Exilliteratur als Epoche? In der germanistischen
hat, an die erst nach 1945 wieder mühsam ange- Literaturwissenschaft wird unter ›Exilliteratur‹ zu-
knüpft werden konnte. Die nationalsozialistische meist eine Epoche deutschsprachiger Literatur ver-
Literatur hat hingegen, auch ideologisch gesehen, standen: »Werke, die 1933–1945 von Flüchtlingen
keine Zäsur gesetzt, sondern Perspektiven fortge- aus Hitlers Machtbereich verfaßt wurden« (Spies
führt, die schon lange vorher in einer moderne- 2007, S. 538). Die Exilliteratur wird damit auf die
feindlichen, antisemitischen, rassistischen Litera- politischen Daten des NS-Staates bezogen und ge-
tur, in reaktionärer Heimatkunst mit ›Blut-und winnt ihr Profil über die Verschränkung politi-
Boden‹-Mythologie artikuliert wurden. Sie steht scher, biographischer und ästhetischer Perspekti-
im Zeichen ideologischer Kontinuitäten, die dann ven. Einige Aspekte bleiben jedoch in diesem
im NS-Staat letztlich in die ethnonationale Ver- Epochenentwurf des literarischen Exils unberück-
nichtungspolitik des Holocaust münden. sichtigt:
Das Exil kennt mithin nicht nur politische Exi- N Das Exil ist auch eine historische Erfahrung, Literarisches Exil
lanten (eines explizit antifaschistischen Wider- die nicht nur eine engere Bestimmung für den als Epochenentwurf?
stands), sondern wird für sehr Viele auch zu einer Zeitraum von 1933 bis 45 zulässt; man denke etwa
ganz existentiellen Frage des unmittelbaren Über- an Heinrich Heine, auf den sich wiederum zahlrei-
lebens, in der es nicht mehr nur um das Recht zu che Exilant/innen 1933–45 berufen, wie z. B. Anna
bleiben geht. Seghers als Gründerin und Präsidentin des Hein-

355
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

rich Heine Klubs im mexikanischen Exil, Bertolt Lotte in Weimar (1939) die goethezeitliche Weima-
Brecht, der Heine in eine, die aktuelle Exilerfah- rer Kultur als kulturelles Erbe eines anderen
rung kommentierende, historische Ahnenreihe Deutschlands auf. Mit der Berufung auf dieses
rückt (z. B. »Besuch bei den verbannten Dichtern« Erbe zeigt sich im Exil (in den 1930er Jahren) auch
aus den Svendborger Gedichten, 1939), oder Exil- das Bemühen, alle nicht-faschistischen Positionen
gedichte Mascha Kalékos (Verse für Zeitgenossen, in einer breiten Volksfront zu vereinen. Die DDR
1945). Aus dem Grund ist es wichtig, Vergleichbar- hat den national-kulturellen Erbanspruch des exi-
keiten und Differenzen der Exile in den Blick zu lierten, antifaschistischen Deutschlands symbol-
nehmen. politisch zu ihrem Gründungsmythos gemacht.
N Fortdauer des Exils: Viele Autorinnen und Au- Keine Rückkehr in eine national-kulturelle Hei-
toren kamen nach dem politischen Ende des Nati- mat: Dass die Kategorie des Nationalen jedoch
onalsozialismus nicht zurück oder blieben nach eine problematische Verkürzung im Hinblick auf
ihrer Rückkehr nicht (vgl. z. B. Becker 2009), wie die vielfältigen Phänomene des Exils und der Exil-
u. a. Thomas Mann (der sich in der Schweiz nie- literatur darstellt, zeigt sich an jenen Beispielen,
derließ) oder Peter Weiss und Nelly Sachs, die aus die »sich persönlich wie literarisch auf die Erfah-
ihrem Exilland Schweden nicht zurückkehrten. Pe- rung der Fremde einließen« (Becker 2009, S. 247),
ter Weiss (1916–1982) verfasste erst am Ende der in denen sich das Exil nicht als befristete Erfahrung
1950er Jahre die ersten Texte in deutscher Sprache, mit dem Blick auf Deutschland, nicht mit der nati-
nachdem er zunächst mit schwedischsprachigen onalen Identifizierung verbindet, vielmehr durch
Texten als Autor in Erscheinung getreten ist. Sein intensive Beziehungen zu den Sprachen und Kul-
autobiographischer Roman Fluchtpunkt ist ein ex- turen der Exilländer oder kulturelle Wechselbe-
plizites Erinnerungszeugnis des Exils, erschien ziehungen gezeichnet ist. Diese Perspektiven las-
aber erst 1962. sen sich auch nicht mehr nur nationalgeschichtlich
N Die literarische Erinnerung des Exils und der oder nationalphilologisch erfassen und öffnen
NS-Zeit nach 1945 bestimmt u. a. auch noch eine sich transkulturellen Fragen (vgl. Krohn/Winck-
ganze Reihe von Texten der deutschsprachigen ler 2009; s. auch Kap. III.5.4.3). Auf die mit der
(Gegenwarts-)Literatur, wie z. B. Barbara Honig- Exilierung verbundene Produktionskrise durch
manns (u. a.) Eine Liebe aus nichts (1991), W. G. den Sprachverlust (der zudem durch den totalitä-
Sebalds Erzählungen Die Ausgewanderten (1992) ren Zugriff des Nationalsozialismus beschädigten
oder Michael Lentz’ Pazifik Exil (2007). Muttersprache) reagieren nicht wenige Autor/in-
nen mit Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel
Exil als ›Anderes Deutschland‹: »Doch wer in unse- (u. a. Klaus Mann, Peter Weiss, Georges-Arthur
ren Fabriken gearbeitet, auf unseren Straßen de- Goldschmidt; Letztere treten sogar erst in der Spra-
monstriert, in unserer Sprache gekämpft hat, der che des Aufnahmelandes als Autoren in Erschei-
wäre kein Mensch, wenn er sein Land nicht liebte« nung).
(Seghers 1977, S. 188 f.). – Anna Seghers (1900– Die literarischen Texte des Exils, die sich nicht
1983) Rede über »Vaterlandsliebe«, die sie 1935 auf eine Rhetorik national-kultureller Zugehörig-
anlässlich des »I. Internationalen Schriftstellerkon- keit einlassen, verhandeln auf unterschiedliche
gresses zur Verteidigung der Kultur« in Paris hielt, Weise Heimat und Nation als problematische
ist repräsentativ für viele Zeugnisse des Exils, die Konstrukte: Schon Brechts Prosatext Flüchtlings-
dieses mit dem moralischen, politischen und kul- gespräche (1936–44) verweigert jeden Patriotismus
turellen Repräsentationsanspruch eines ›anderen, und stellt die Unmöglichkeit einer Berufung auf
besseren Deutschlands‹ verbinden und in Konkur- eine nationale Verwurzelung heraus, weil der Ge-
renz zur totalitären nationalsozialistischen Be- danke an die ›Heimat‹ nicht mehr von der Erfah-
hauptung ›deutscher Kultur‹ treten (vgl. u. a. Jako- rung des gewaltsamen Ausgegrenztseins abge-
bi 2006). Der aus der Position der gewaltsamen trennt werden kann. Mascha Kalékos Exilgedichte
Entwurzelung formulierte Anspruch auf eine nati- verbinden das Exil nicht allein mit dem Verlust
onal-kulturelle Heimat wird sowohl – wie bei Se- von Herkunft und Ursprung, sondern ebenso mit
ghers – auf marxistischer Seite reklamiert wie einer Position zwischen den Kulturen. Und auch in
auch, ungeachtet aller ideologischen Differenzen Anna Seghers’ autobiographischer Erzählung Der
auf konservativer Seite, z. B. bei Thomas Mann Ausflug der toten Mädchen (1943/44) gelingt der
(1875–1955). So scheint – und das ist ganz symp- Erzählerin keine erinnernde Rückkehr in eine un-
tomatisch für den Diskurs – in Manns Exilroman versehrte Heimat, vielmehr bleiben die erinnerten

356
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Avantgarde und Moderne

Heimatbilder beschädigt, von der traumatischen (1884–1958) Der falsche Nero (1936), im Zeichen
Abtrennung schwer gezeichnet. Das Erzählen kritischer Aufklärung über den Faschismus und sa-
selbst ist davon affiziert: Raum- und Zeitverhält- tirischer Demontage der ›großen Männer der Ge-
nisse brechen aus der Linearität aus und schieben schichte‹ Brechts fragmentarischer Roman Die Ge-
sich ineinander, Heimat und Fremde werden un- schäfte des Herrn Julius Caesar (1938/39). Den
unterscheidbar. Jean Amérys (1912–1978) auto- humanistischen Gegenentwurf zur zeitgenössi-
biographische Essaysammlung Jenseits von Schuld schen Gegenwart nationalsozialistischer Bedro-
und Sühne (1966) reflektiert die Unmöglichkeit hung modelliert Heinrich Mann in seinem zwei-
der Rückkehr wie der imaginären Verortung in ei- bändigen Roman über Henri IV. (Die Jugend des
ner national-kulturellen Heimat für diejenigen Exi- Königs Henri Quatre, 1935; Die Vollendung des Kö-
lanten, denen diese Heimat mit der Zuweisung nigs Henri Quatre, 1938). Die im Exil erzwungene
einer jüdischen Identität durch die totalitäre ethno- Selbstvergewisserung ist zentrales Thema einer
nationale Politik des Nationalsozialismus (u. a. Reihe von autobiographischen Texten. Neben den
über die »Nürnberger Gesetze«) gewaltsam entzo- oben erwähnten Beispielen von Anna Seghers, Pe-
gen wurde. Die ideologischen Fundamente von ter Weiss und Jean Améry sind u. a. Alfred Döblins
Heimat, Kultur und Nation werden demontiert, Schicksalsreise (1940) und Heinrich Manns Ein
weil sie von der barbarischen Gewalt des Holo- Zeitalter wird besichtigt (1946) zu nennen.
caust nicht mehr abzutrennen sind. Auch in Franz Brechts Exildramatik steht unter anderem im
Werfels (1890–1945) Stück Jacobowsky und der Zeichen der politisch aufklärenden Faschismus-
Oberst (1941/42) sind die grundsätzlichen Wider- deutung. Die dramatische Parabel Der aufhaltsame Politisch aufklärende
sprüche und Grenzen der Behauptung national- Aufstieg des Arturo Ui (1941) thematisiert auf der Faschismusdeutung
kultureller Herkunft aus der Perspektive der jüdi- Grundlage marxistischer Theoriebildung einen
schen Hauptfigur aufgezeigt, für die es keine Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Fa-
Bindung an eine homogene kulturelle Identität schismus, und zwar anhand der ins Chicagoer
oder Heimat gibt. In diesen Problematisierungen Gangster-Milieu verlegten und somit verfremdeten
nationaler Verortung scheint letztlich ein anderes Aufstiegsgeschichte Hitlers und des Nationalsozia-
Konzept auf, das an die jüdische Tradition der Dia- lismus. Die Parabelform dient Brecht insofern als
spora (griech. diaspora: Zerstreuung) anknüpft. aufklärerisches Erkenntnismedium, als sie »Analo-
Damit wird auch die Erinnerung an jene Konstel- gien zwischen der Geschichte des Dritten Reiches
lationen eröffnet, die z. B. Franz Kafkas Prager und der großen amerikanischen Gangstersyndika-
deutsch-jüdische Literatur prägen. In Anna Se- te« (Müller 2009, S. 146) herstellt. Die experimen-
ghers’ Roman Transit (1940/41) verweist die an telle Szenenmontage Furcht und Elend des Dritten
das Exil gebundene Existenz der Entwurzelung Reiches (1935–38) gibt auf der Basis von Zeitungs-
und des Transitorischen auf ein geschichtliches Er- notizen und Augenzeugenberichten eine sozial-
innern, dem der Zivilisationsbruch durch den Na- psychologische Bilderfolge nationalsozialistischen
tionalsozialismus eingeschrieben bleibt. Alltags. Seine Theorie und Praxis des epischen
Besondere Tendenzen in der Prosa: Der histori- Theaters hat Brecht vor allem in den großen, be-
sche Roman erweist sich als ein sehr beliebtes kannten Exildramen weiterentwickelt, so u. a. in
Genre der Exilliteratur. Im Zeichen der Analogiebil- Mutter Courage und ihre Kinder (1939) und in Le-
dung zwischen Vergangenheit und Gegenwart (vgl. ben des Galilei (Erstfassung 1938/39).
Spies 2007, S. 539) steht u. a. Lion Feuchtwangers

Literatur
Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus. Stuttgart/ Becker, Sabina: Neue Sachlichkeit. Bd. 1: Die Ästhetik der
Weimar 22010. neusachlichen Literatur (1920–1933). Köln/Weimar/
– /Stark, Michael (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Wien 2000 (= 2000a).
Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. – : Neue Sachlichkeit. Bd. 2: Quellen und Dokumente. Köln/
Stuttgart 1982. Weimar/Wien 2000 (=2000b).
Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hg.): »Die ganze Welt – : »›Weg ohne Rückkehr‹ – Zur Akkulturation deutsch-
ist eine Manifestation«. Die europäische Avantgarde sprachiger Autoren im Exil«. In: Haefs 2009, S. 245–265.
und ihre Manifeste. Darmstadt 1997. Benjamin, Walter: »Einbahnstraße« [1928]. In: Ders.:
Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur. Unverständlich- Gesammelte Schriften I, 2. Hg. von Rolf Tiedemann/
keit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1972,
1910–1916. Tübingen 1994. S. 85–148.

357
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

– : »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Krohn, Claus-Dieter/Winckler, Lutz (Hg.): Exil, Entwurze-
Reproduzierbarkeit« [1936/39]. In: Ders.: Gesammelte lung, Hybridität (= Exilforschung. Ein internationales
Schriften I, 2. Hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Jahrbuch. Bd. 27). München 2009.
Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1974, S. 431–508. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversu-
Bogner, Ralf Georg: Einführung in die Literatur des che zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994.
Expressionismus. Darmstadt 2005. Mix, York-Gothard (Hg.): Naturalismus, Fin de Siècle,
Brecht, Bertolt: Werke. Bd. 21. Hg. von Werner Hecht u. a. Expressionismus 1890–1918. München 2000.
Frankfurt a. M. 1992. Mommsen, Wolfgang J. (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle
– : »Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker« der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten
[1927]. In: Ders. 1992, S. 191–193. Weltkrieg. München 1996.
– : »Über eine neue Dramatik« [1928]. In: Ders. 1992, Müller, Klaus-Detlef: Brecht. Epoche – Werk – Wirkung.
S. 234–239. München 2009.
– : »Der Dreigroschenprozeß« [1931]. In: Ders. 1992, Pander, Oswald: »Revolution der Sprache«. In: Anz/Stark
S. 448–514. 1982, S. 612–613.
– : »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über Pankau, Johannes G.: Einführung in die Literatur der Neuen
die Funktion des Rundfunks« [1932]. In: Ders. 1992, Sachlichkeit. Darmstadt 2010.
S. 552–557. Pinthus, Kurt (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein
Bronfen, Elisabeth: »Exil in der Literatur: Zwischen Dokument des Expressionismus [1919]. Revidierte
Metapher und Realität«. In: Arcadia 28/2 (1993), Ausgabe. Reinbek 1996.
S. 167–183. Riha, Karl (Hg.): Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen.
Delabar, Walter: Klassische Moderne. Deutschsprachige Stuttgart 1994.
Literatur 1918–33. Berlin 2010. – /Wende-Hohenberger, Waltraud (Hg.): Dada Zürich.
Döblin, Alfred: »An Romanautoren und ihre Kritiker. Texte, Manifeste, Dokumente. Stuttgart 1995.
Berliner Programm« [1913]. In: Anz/Stark 1982, Safranski, Rüdiger/Fähnders, Walter: »Proletarisch-revolu-
S. 659–661. tionäre Literatur«. In: Weyergraf 1995, S. 174–231.
Edschmid, Kasimir: »Expressionismus in der Dichtung« Schnell, Ralf: Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche
[1918]. In: Anz/Stark 1982, S. 42–55. Literatur und Faschismus. Reinbek 1998.
Erhart, Walter: »Expressionismus«. In: Gert Ueding (Hg.): Segeberg, Harro: »Technische Konkurrenzen. Film und
Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Tübingen Tele-Medien im Blick der Literatur«. In: Mix 2000,
1996, Sp. 164–179. S. 422–436.
Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne. 1890–1933. Seghers, Anna: »Vaterlandsliebe«. In: Winkler 1977,
Stuttgart/Weimar 22010. S. 187–190.
Frevert, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Spies, Bernhard: »Exilliteratur«. In: Klaus Weimar (Hg.):
Verbesserung und Neuer Weiblichkeit. Frankfurt a. M. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1.
1986. Berlin/New York 2007, S. 537–541.
Haefs, Wilhelm (Hg.): Nationalsozialismus und Exil Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen
1933–1945. München 2009. Literatur1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum
– : »Lyrik in den 1930er und 1940er Jahren«. In: Ders. 2009, Ende des Ersten Weltkriegs. (= Geschichte der deut-
S. 392–416. schen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Hatvani, Paul: »Versuch über den Expressionismus« [1917]. Bd. IX/2). München 2004.
In: Anz/Stark 1982, S. 38–42. Stephan, Inge: »Die deutsche Literatur des Exils«. In:
Huebner, Friedrich Markus: »Krieg und Expressionismus« Wolfgang Beutin (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte.
[1914]. In: Anz/Stark 1982, S. 312–314. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart/
Huelsenbeck, Richard (Hg.): DADA. Eine literarische Weimar 62001, S. 451–478.
Dokumentation. Reinbek 1984. Streim, Gregor: Einführung in die Literatur der Weimarer
Jakobi, Carsten: »Das ›Andere Deutschland‹. Alternativer Republik. Darmstadt 2009.
Patriotismus in der deutschen Exilliteratur und Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880–1950).
Nationaldiskurs des 18. Jahrhunderts«. In: Ders. (Hg.): Frankfurt a. M. 1963.
Exterritorialität. Landlosigkeit in der deutschsprachigen Vietta, Silvio/Kemper, Hans-Georg: Expressionismus.
Literatur. München 2006. München 61997.
Kaes, Anton (Hg.): Weimarer Republik. Manifeste und Walden, Herwarth: »Das Begriffliche in der Dichtung«. In:
Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933. Stuttgart Anz/Stark 1982, S. 618–622.
1983. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte.
Kiaulehn, Walther: »Der Tod der Lyrik« [1930]. In: Becker Bd. 4. 1914–1949. München 22003.
2000b, S. 257. Wessels, Wolfram: »Die Neuen Medien und die Literatur«.
Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. In: Weyergraf 1995, S. 65–98.
Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jahrhundert. Weyergraf, Bernhard (Hg.): Literatur der Weimarer Republik
München 2004. 1918–1933. München 1995.
Korte, Hermann: »Lyrik am Ende der Weimarer Republik«. Winkler, Michael (Hg.): Deutsche Literatur im Exil 1933–45.
In: Weyergraf 1995, S. 601–635. Texte und Dokumente. Stuttgart 2004.
Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Aus dem neuesten Würffel, Stefan Bodo: Das deutsche Hörspiel. Stuttgart
Deutschland [1929/30]. Frankfurt a. M. 1971. 1978.
Kreidt, Dietrich: »Gesellschaftskritik auf dem Theater«. In:
Weyergraf 1995, S. 232–265. Susanne Komfort-Hein

358
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Nachkriegsliteratur/
Literatur nach 1968

3.6.2 | Nachkriegsliteratur/ Zum Begriff


Literatur nach 1968
Die Literatur der Nachkriegszeit umfasst sowohl die Werke der Auto-
Die Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Welt- r/innen der BRD und DDR, der Schweiz und Österreichs als auch die
kriegs sind von Diskussionen um die Aufgaben Werke der Migrant/innen und die interkulturelle Literatur (vgl. Schnell
von Literatur sowie die politische und ethische 2003; Peitsch 2009). Der Begriff   Nachkriegsliteratur umschließt kei-
Verantwortung der Autor/innen geprägt. Es gab nen eng definierten Zeitraum, sondern er steht für
keine »Stunde Null«: Schreiben nach Auschwitz N das erste Jahrzehnt bis Mitte der 1950er Jahre,
war die Herausforderung für die deutschsprachi- N die Jahre bis 1968 sowie
gen Autor/innen; die Muttersprache war zugleich N die Jahrzehnte bis zur deutschen Wiedervereinigung 1989.
die Sprache der Täter und die Sprache vieler Opfer.
Die Beziehung von Literatur und Politik wird kri-
tisch hinterfragt, hatte doch die Kollaboration pro- gen die Sirenen. Noch rostet ihr Blechmund. Die Luftschutzbunker
minenter Autor/innen mit dem Terrorregime der wurden gesprengt; die Luftschutzbunker werden wiederhergerich-
Nazis den moralischen Anspruch der Literatur tet. Der Tod treibt Manöverspiele. […] Doch niemand entflieht
schwer beschädigt. Die Antworten vieler Autor/in- seiner Welt. Der Traum ist schwer und unruhig. Deutschland lebt
nen zeugen von der intensiven Auseinanderset- im Spannungsfeld, östliche Welt, westliche Welt, zerbrochene
zung mit Formen und Themen literarischen Schrei- Welt, zwei Welthälften, einander feind und fremd, Deutschland
bens nach dem Holocaust und dem Ende der Nazi- lebt an der Nahtstelle, an der Bruchstelle, die Zeit ist kostbar, sie
Zeit, zugleich dokumentieren und kommentieren ist eine Spanne nur, eine karge Spanne, vertan, eine Sekunde zum
sie die politische und kulturelle Entwicklung und Atemholen, Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld.«
Etablierung der neuen Systeme BRD und DDR
und die literaturpolitischen Diskussionen in der Szenarien einer Welt nach dem Dritten Weltkrieg
Schweiz und Österreich. Auch die politischen und und einer atomaren Katastrophe entwerfen zum
sozialen Kontroversen der 1968er Jahre und der Beispiel Arno Schmidt in der Warnutopie Die Ge-
Mauerfall im November 1989 markieren wichtige lehrtenrepublik. Roman aus den Roßbreiten (1956)
Zäsuren, die in vielen literarischen Texten und Es- und Friedrich Dürrenmatt in Der Winterkrieg in
says reflektiert werden. Tibet (in Labyrinth. Stoffe I–III).
In Jerusalem wurde im April 1961 der Eich-
mann-Prozess eröffnet; 1963 erschien Hannah
3.6.2.1 | Nachkriegsliteratur
Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht
Historisch-gesellschaftliche Situation: Im Zweiten von der Banalität des Bösen. Der erste Auschwitz-
Weltkrieg starben in Europa und Asien etwa 60 Prozess begann 1963 in Frankfurt, weitere Prozes-
Millionen Menschen: politisch und ethnisch Ver- se folgten ab 1965 und in den 1970er Jahren. In
folgte in Konzentrationslagern, Zivilisten – Kinder, der Vorbemerkung zum dokumentarischen Drama
Frauen und Männer – sowie Soldaten. General- Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen (1965)
oberst Jodl unterzeichnete am 7. Mai 1945 die Ka- betont Peter Weiss: »Bei der Aufführung dieses
pitulation. Mit den finanziellen Mitteln des Mar- Dramas soll nicht der Versuch unternommen wer-
shallplans (1948–1952) unterstützten die USA den den, den Gerichtshof, vor dem die Verhandlungen
Wiederaufbau in vielen europäischen Ländern. über das Lager geführt wurden, zu rekonstruieren.
Der 1944 entwickelte Morgenthauplan, der die Eine solche Rekonstruktion erscheint dem Schrei-
Rückführung Deutschlands in ein Agrarland und ber des Dramas ebenso unmöglich, wie es die Dar-
die vollständige Deindustrialisierung vorsah, wur- stellung des Lagers auf der Bühne wäre.«
de in der Nachkriegszeit nicht umgesetzt; Chris- »Innere Emigration«: Nur wenige Autorinnen
toph Ransmayr gestaltet in seiner düsteren Dysto- und Autoren, die »Ofenhocker des Unglücks«, die
pie Morbus Kithara (1995) das Thema. Der Kalte »›treu‹ in Deutschland Sitzengebliebenen«, so Tho-
Krieg begann. Wolfgang Koeppen ›erzählt‹ die At- mas Mann, wagten eine offene Opposition; viele
mosphäre der ersten Nachkriegsjahre in den letz- blieben aus familiären und ökonomischen Grün-
ten Sätzen des 1951 erschienenen Romans Tauben den in Deutschland und Österreich oder einem
im Gras: von der deutschen Armee besetzten Land: Werner
Bergengruen, Gertrud Fussenegger, Ricarda Huch,
»Die Nachrichten wärmen nicht. Spannung, Konflikt, Verschär- Ernst Jünger, Erich Kästner, Oskar Loerke, Erika
fung, Bedrohung. Am Himmel summen die Flieger. Noch schwei- Mitterer und andere. Luise Rinser, deren 1946 er-

359
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

schienenes Gefängnistagebuch bis in die Gegen- Johannes R. Becher und Paul Wiegler gegründet,
wart als biographisches Zeugnis einer engagierten als Herausgeberin fungierte die in Ost-Berlin ange-
Gegnerin des Nazi-Regimes bewertet wurde, kolla- siedelte Akademie der Künste. Die »Zeitschrift für
borierte, so zeigt die 2011 erschienene Biographie europäisches Denken«, Merkur, erscheint seit 1947
von José Sánchez de Murillo, doch viel intensiver und ist eine der wenigen Zeitschriften, die bis heu-
mit dem Regime, als sie dies zu Lebzeiten zuge- te Beiträge zu aktuellen kulturpolitischen Themen
standen hatte. publiziert. Der Ruf, vorgestellt als »unabhängige
Rückkehr aus dem Exil: Viele vor den Nazis ge- Blätter der jungen Generation«, erschien ab August
flüchtete Autor/innen, die, so der apologetische 1946, herausgegeben von Alfred Andersch und
Vorwurf von Frank Thiess, »aus den Logen und Hans Werner Richter. Aufgrund angeblich zu gro-
Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragö- ßer Zustimmung zu sozialistischen Konzepten und
die zuschaute[n]« (zit. nach Bohn 1995, S. 84), der kritischen Beurteilung der amerikanischen Be-
kehrten zurück, zahlreiche Texte erschienen zum satzungspolitik und ihrer Folgen wurde die Zeit-
Rückkehr nach Ost- ersten Mal in Europa. In den Osten gingen: Bertolt schrift im April 1947 von den Militärbehörden ver-
oder Westdeutschland Brecht, Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Stefan boten, konnte jedoch nach der Entlassung von
Heym, Anna Seghers und Arnold Zweig; in den Andersch und Richter noch bis 1949 erscheinen.
Westen kamen: Alfred Döblin, Erich Fried, Carl Der Anspruch der Herausgeber und Autoren, »die
Zuckmayer. Thomas Mann ging in die Schweiz, in Schönschreibkunst, als Sklavensprache des Drit-
Schweden blieben Nelly Sachs und Peter Weiss, ten Reichs […] durch eine einfache, klare, entrüm-
Heinrich Mann starb vor einer möglichen Rück- pelte Sprache zu ersetzen«, so Richter in dem re-
kehr. Peter Weiss, der über England und die Tsche- trospektiven Essay »Wie entstand und was war die
choslowakei nach Schweden emigrierte, schrieb Gruppe 47?«, verweist zum einen auf die sog.
im Exil in der neuen, fremden Sprache. Erst 1960 »Kahlschlag«-Literatur, zum anderen stellt er das
erscheint sein erstes Buch in Deutschland: Der ästhetische Konzept für die ersten Lesungen der
Schatten des Körpers des Kutschers, verfasst schon Gruppe 47 vor (vgl. Bohn 1995, S. 71 ff.).
1952 und zunächst von einer ganzen Reihe von Literarische Strömungen nach 1945: Wolfgang
Verlagen abgelehnt; es folgen die Prosabände Ab- Koeppen, Arno Schmidt, Uwe Johnson und andere
schied von den Eltern (1961) und Fluchtpunkt Autor/innen versuchen nach Kriegsende, wieder
(1962), in den Jahren 1975 bis 1981 die drei Bände Anschluss an die ästhetischen Konzepte der Mo-
seines Hauptwerks, Die Ästhetik des Widerstands. derne zu finden (John Dos Passos, James Joyce,
Verlage: Die Verleger Peter Suhrkamp, Gottfried Samuel Beckett). Der dritte Band von Robert Mu-
Bermann Fischer und Ernst Rowohlt erhielten ab sils fragmentarischem Monumentalroman Der
1945 von den amerikanischen Besatzungsbehör- Mann ohne Eigenschaften erschien 1943 posthum,
den die Lizenz, die Verlagsarbeit wieder aufzuneh- der erste und der zweite Band waren bereits 1930
men. Im Rowohlt Verlag erscheinen ab 1950 die und 1932 in Berlin erschienen. Die Literatur der
ersten Taschenbücher: »Rowohlts Rotations Ro- Nachkriegszeit wird von einer Vielzahl literari-
mane«, bekannt unter dem Kürzel rororo. Die erste scher Strömungen geprägt, die jeweils das Span-
Frankfurter Buchmesse nach dem Krieg fand im nungsfeld von Tradition und Innovation, Restaura-
Herbst 1949 statt: Rund 205 deutsche Verlage stell- tion und Aufbruch ausloten.
ten ihre Programme vor, ein Jahr später waren es Als Trümmerliteratur wird die Literatur be-
bereits 460 (ca. 100 aus dem Ausland). Eine wich- zeichnet, die in den Jahren nach dem Ende des
tige Rolle in der Vermittlung zwischen den literari- Zweiten Weltkriegs die Schrecken des Krieges und
schen Produzenten und den Lesern übernahmen ihre Folgen für die Überlebenden schildert. Im
auch die Buchgemeinschaften, z. B. der 1950 ge- Rückblick charakterisiert Heinrich Böll in den
gründete Bertelsmann Lesering. Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1964) die Situa-
Literarische Zeitschriften: Zahlreiche literari- tion nach Kriegsende: »Die ungeheure, oft mühse-
sche Zeitschriften werden in den Nachkriegsjah- lige Anstrengung der Nachkriegsliteratur hat ja
ren gegründet. In der »Kulturpolitischen Monats- darin bestanden, Ort und Nachbarschaft wieder-
schrift« Aufbau, die bereits ab Herbst 1945 zufinden. Man hat das noch nicht begriffen, was
erscheint, werden Beiträge von Heinrich und Tho- es bedeutete, im Jahr 1945 auch nur eine halbe
mas Mann, Friedrich Wolf und Hans Fallada ge- Seite deutscher Prosa zu schreiben« (zit. nach
druckt. Die Zeitschrift Sinn und Form mit dem Un- Bohn 1995, S. 25). Die unmittelbar nach Kriegs-
tertitel »Beiträge zur Literatur« wurde 1949 von ende erschienenen Texte von Heinrich Böll, Wolf-

360
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Nachkriegsliteratur/
Literatur nach 1968

gang Borchert, Hans Werner Richter und Wolf- Zur Vertiefung


gang Weyrauch zählen – auch durch die
Aufnahme in den schulischen Kanon – zu den Heinrich Böll: »Bekenntnis zur Trümmerliteratur« (1952)
bekanntesten Werken. »Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation nach 1945 hat man
›Kahlschlag‹: Auch die Literatur des ›Kahl- als Trümmerliteratur bezeichnet, man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben
schlags‹ kann der Trümmerliteratur zugeordnet uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: tatsäch-
werden. Viele Autoren stellen sich erstmals in der lich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen
1949 erschienenen Anthologie Tausend Gramm aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder.
vor. Im Vorwort betont Wolfgang Weyrauch, dass Und sie waren scharfäugig: sie sahen. […] Wir schrieben also vom Krieg, von
die Verfasser »in Sprache, Substanz und Konzepti- der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr
on von vorn« anfangen. Exemplarisch wird Günter vorfanden: von Trümmern; das ergab drei Schlagwörter, die der jungen Literatur
Eichs Gedicht »Inventur« zitiert, das in der ameri- angehängt wurden: Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur. […] Wer Augen
kanischen Kriegsgefangenschaft entstand: hat zu sehen, der sehe! Und in unserer schönen Muttersprache hat Sehen eine
Bedeutung, die nicht mit optischen Kategorien allein zu erschöpfen ist: wer Au-
Dies ist meine Mütze, gen hat, zu sehen, für den werden die Dinge durchsichtig - und es müßte ihm
dies ist mein Mantel, möglich werden, sie zu durchschauen, und man kann versuchen, sie mittels der
hier mein Rasierzeug Sprache zu durchschauen, in sie hineinzusehen« (Böll 1979, S. 31 und 34).
im Beutel aus Leinen.

Zugleich fordert Weyrauch von seiner Generation So liegt auch heute für den Erzählenden die Gefahr nicht
eine »verpflichtete Literatur«, denn nur diese habe mehr darin, weitschweifig zu werden, sie liegt eher darin,
daß er angesichts der Bedrohung und unter dem Eindruck
das Potential, gegen die »endgültige Zerstückelung«
des Endes den Mund nicht mehr aufbringt« (Aichinger
anzuschreiben und eine Bestandsaufnahme der 1991, S. 9).
jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart zu ge-
ben. Zahlreiche Autorinnen und Autoren folgen in Gruppe 47: Nach dem Verbot der Zeitschrift Der
den nächsten Jahrzehnten dieser Aufforderung. In Ruf fand das erste Treffen am 10. September 1947
Kurzgeschichten, Romanen, Dramen und Gedich- auf Einladung der Schriftsteller Hans Werner Rich-
ten von Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Ingeborg ter und Ilse Schneider-Lengyel bei Füssen statt.
Bachmann, Heinrich Böll, Wolfgang Borchert, Gün- Die Gruppe wurde schnell zu dem das literarische
ter Eich, Max Frisch, Günter Grass, Wolfgang Hil- Leben dominierenden Zusammenschluss wichti-
desheimer, Rolf Hochhuth, Uwe Johnson, Marie ger Autor/innen aus der BRD, der Schweiz und
Luise Kaschnitz, Wolfgang Koeppen, Siegfried Österreich; insgesamt kamen im Lauf der Jahre ca.
Lenz, Anna Seghers, Martin Walser, Carl Zuckmay- 200 Autor/innen zu den Treffen. Zu Gast waren
er und anderen werden die Erfahrungen der Kriegs- auch Journalisten, Philosophen, Publizisten, Ver-
und der Nachkriegszeit literarisch reflektiert. Be- leger, Literaturwissenschaftler und Literaturkriti-
reits 1948 erschien der Roman Die größere Hoffnung ker. Einige Namen fehlen: Thomas Mann, Bertolt
von Ilse Aichinger; in zehn Kapiteln wird die Ge- Brecht, Alfred Döblin, aber auch jüngere Autoren
schichte des halbjüdischen Mädchens Ellen erzählt, wie Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Arno
das zu den »Kinder[n] mit falschen Großeltern, Schmidt (vgl. Arnold 2004). Als eine der ersten
Kinder[n] ohne Paß und ohne Visum, Kinder[n], Autorinnen erhielt Ilse Aichinger 1952 den Preis Preis der Gruppe 47,
für die niemand mehr bürgen konnte«, gehört (Ai- der Gruppe 47 für die Erzählung Spiegelgeschichte; erstmals 1952
chinger 2002, S. 9–10). Im Essay »Das Erzählen in 1953 wird Ingeborg Bachmann für Gedichte aus
dieser Zeit« (1952) entwirft Aichinger eine Poetik, dem Band Die gestundete Zeit ausgezeichnet. Der
die die Metapher des Erzählflusses aufnimmt, um Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki charakteri-
vor der Gefahr des Verstummens zu warnen: siert die Gruppe im Rückblick als »kein Phänomen
der Literatur«, sondern als »ein Phänomen des lite-
»Der Vergleich mit dem Fluß ist noch immer richtig. Aber
wer heute Erzählungen mit Flüssen vergleicht, muß an rei- rarischen Lebens«, »eine dringend benötigte Pro-
ßendere Flüsse denken, mit steileren und steinigeren bebühne«. Peter Handkes Vorwurf, die Gruppe
Ufern, an die keiner, der einmal den Sprung gewagt hat, so leide unter »Beschreibungsimpotenz«, anlässlich
leicht wieder zurückkommt. Und vielleicht an Grenz- des Treffens in Princeton 1966 erhoben, wies be-
flüsse. Die Ufer, die vielen bisher Sicherheit bedeutet ha-
ben, sind zur Bedrohung geworden, und es verlockt den reits auf die 1967 vollzogene Auflösung voraus.
Fluß nicht mehr, daran zu spielen, er drängt schneller Die Werke der auch vor dem Krieg international
zum Meer. bekannten Autoren Heinrich und Thomas Mann,

361
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig und Hermann Nach dem Aufstand des 17. Juni
Hesse erschienen in neuen Ausgaben oder erstmals Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
in Deutschland. 1946 erhielt Hesse als erster In der Stalinallee Flugblätter verteilen
deutschsprachiger Autor der Nachkriegszeit den Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Literatur-Nobelpreis, »für sein inspiriertes dichteri- Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
sches Schaffen, in dessen Entwicklung Kühnheit Und es nur durch verdoppelte Arbeit
und das Durchdringen zum Wesentlichen zuneh- zurückerobern könne. Wäre es da
Cover einiger Titel men, das für die Ideale des klassischen Humanis- Nicht doch einfacher, die Regierung
aus den 1950er Jahren mus eintritt und hohe Kunst des Stils repräsen- Löste das Volk auf und
tiert«. Der Steppenwolf (1927) wurde in den 1960er Wählte ein anderes?
und 1970er Jahren zu einem der ersten internatio-
nalen Bestseller. Mit dem Österreicher Thomas Der »Bitterfelder Weg«, benannt nach dem Ta-
Bernhard betritt Ende der 1950er, Anfang der gungsort im April 1959, proklamierte die Aufhe-
1960er Jahre ein Autor die literarische Bühne, des- bund der Trennung von Kunst und Alltagsleben;
sen Themen und literaturpolitische Ausfälle zahl- der Arbeiter sollte zur Feder greifen, der Schrift-
reiche Skandale provozierten. Vor allem die lebens- steller sich an der Produktion beteiligen. Die fol-
lange Auseinandersetzung mit dem Faschismus genden Jahrzehnte sind von einem Wechsel von
und dem Katholizismus, in der Prosa oft in endlo- restriktiven kulturpolitischen Vorgaben und Pha-
sen hypotaktischen Sätzen der Ich-Erzähler präsen- sen der Liberalisierung bestimmt. Eine Zäsur be-
tiert, prägt das gesamte literarische Werk. deutete die Ausbürgerung des Liedermachers
Das Hörspiel wurde in den 1950er Jahren zu ei- Wolf Biermann im November 1976. Gegen die
nem wichtigen Medium der literarischen Öffent- Ausbürgerung protestieren auch viele Schriftsteller
lichkeit. Im Februar 1947 wurde Draußen vor der und Künstler in der DDR und riskieren Zensur,
Tür von Wolfgang Borchert als Hörspiel gesendet. Ausschluss und Ausweisung, u. a. Stefan Heym
Viele Autoren der Gruppe 47 schrieben und in- und Christa Wolf. Sarah Kirsch, Günter Kunert und
szenierten Hörspiele (vgl. Schneider 1991). Alfred andere Autor/innen kamen in die Bundesrepublik
Andersch betreute und förderte als Rundfunkre- (vgl. Opitz/Hofmann 2009).
dakteur des Hessischen und Süddeutschen Rund- Die Werke vieler Ost-Autor/innen werden auch
funks zahlreiche Produktionen (vgl. Figge 1994); im Westen zu Bestsellern: Jakob der Lügner von
viele seiner Hörspiele, z. B. In der Nacht der Gi- Jurek Becker (1969), Ahasver von Stefan Heym
raffe (1960, Regie: Martin Walser) reflektieren ak- (1981), die Novelle Der fremde Freund von Chris-
tuelle politische Ereignisse im auditiven Medium toph Hein (1982, im Westen unter dem Titel Dra-
(s. Kap. III.2.1.2). Den seit 1950 verliehenen Hör- chenblut veröffentlicht), Die neuen Leiden des jun-
spielpreis der Kriegsblinden erhielten u. a. Gün- gen W. von Ulrich Plenzdorf und Kassandra von
ter Eich (Die Andere und ich, 1953), Friedrich Dür- Christa Wolf (1983). Der erste Roman von Monika
renmatt (Die Panne, 1957), Ingeborg Bachmann Maron, Flugasche, der die gravierenden Umwelt-
(Der gute Gott von Manhattan, 1959), Friederike probleme in Bitterfeld beschreibt, konnte erst 1981
Mayröcker und Ernst Jandl (Fünf Mann Menschen, im Westen erscheinen. Auch die Gedichtbände
1969) sowie Elfriede Jelinek (Jackie, 2004). von Peter Huchel, Johannes Bobrowski, Sarah
Literarische Entwicklung in der DDR: Nach der Kirsch und Günter Kunert zählen inzwischen zu
Gründung der Deutschen Demokratischen Repu- den kanonischen Texten der deutschen Gegen-
blik im Oktober 1949 wird auch der Literatur die wartsliteratur (vgl. Arnold/Korte 2009). Den
Aufgabe zugewiesen, am Aufbau des Sozialismus Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Spra-
mitzuwirken und gegen restaurative und faschisti- che und Dichtung erhielten u. a. Christa Wolf
sche Tendenzen anzukämpfen. Bereits im Juni (1980), Heiner Müller (1985), Durs Grünbein
1945 wurde der »Kulturbund zur demokratischen (1995) und Wolfgang Hilbig (2002).
Erneuerung Deutschlands« gegründet. Bertolt Neue Dramen-Modelle: Mit dem Kleine[n] Orga-
Brecht war einer der prominentesten Exil-Autoren, non für das Theater (1949) stellt Bertolt Brecht ein
die sich für den Osten entschieden. Gleichwohl dramenpoetisches Konzept vor, das die bereits in
zeigt das Gedicht »Die Lösung«, das er nach der den 1930er und 1940er Jahren erschienenen Essays
blutigen Niederschlagung des Aufstands vom und Entwürfe zum epischen Theater bündelt.
17. Juni 1953 schrieb, seine ambivalente Haltung 1949 fand auch die Uraufführung des mehrfach
gegenüber dem System: überarbeiteten Lehrstücks Mutter Courage und ihre

362
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Nachkriegsliteratur/
Literatur nach 1968

Kinder statt; das »Berliner Ensemble« am Schiff- Romane/Prosa nach 1945 (Auswahl)
bauerdamm bot für die Aufführung der Brecht-
schen Stücke und Dramen anderer Autor/innen 1944 Anna Seghers: Transit (im Exil – spanische Ausgabe,
die ideale Bühne, auf der auch seine Nachfolger deutsche Ausgabe 1947)
Peter Hacks und Heiner Müller die intellektuellen 1945 Hermann Broch: Der Tod des Vergil (1938–1945 im Exil ent-
Debatten fortsetzten. Hacks’ Stück Ein Gespräch standen)
im Hause Stein über den abwesenden Herrn von 1947 Thomas Mann: Doktor Faustus (ED Stockholm)
Goethe (UA 1976) zählt sowohl auf west- als auch 1948 Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung (ED Amsterdam)
ostdeutschen Bühnen zu den großen Publikumser- 1953 Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus
folgen. Heiner Müller gilt neben Hacks als der 1954 Heinrich Böll: Haus ohne Hüter
wichtigste DDR-Dramatiker in der Nachfolge von 1954 Max Frisch: Stiller
Brecht. Einige seiner regimekritischen Stücke, so 1956 Gert Ledig: Vergeltung (1999)
Die Umsiedlerin (1961) und Der Bau (1965), wur- 1957 Martin Walser: Ehen in Philippsburg
den vom Spielplan abgesetzt; viele Dramen, zum 1959 Günter Grass: Die Blechtrommel
Beispiel Die Hamletmaschine (1979) und Der Auf- 1959 Uwe Johnson: Mutmaßungen über Jakob
trag (1980), wurden auf westdeutschen Bühnen 1968 Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.
uraufgeführt (vgl. Lehmann/Primavesi 2003). 1968 Siegfried Lenz: Deutschstunde
In dem programmatischen Essay »Theaterpro- 1969 Jurek Becker: Jakob der Lügner
bleme« (1955) fordert Friedrich Dürrenmatt ein 1972 Peter Handke: Wunschloses Unglück
neues Dramenkonzept: »Die heutige Welt, wie sie 1975 Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands (3 Bände bis 1981)
uns erscheint, läßt sich dagegen schwerlich in der 1984 Thomas Bernhard: Holzfällen. Eine Erregung
Form des geschichtlichen Dramas Schillers bewälti- 1985 Patrick Süskind: Das Parfüm. Die Geschichte eines Mörders
gen, allein aus dem Grunde, weil wir keine tragi- 1988 Christoph Ransmayr: Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovidi-
schen Helden, sondern nur Tragödien vorfinden, schen Repertoire
die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackma- 1998 Ingo Schulze: Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen
schinen ausgeführt werden.« Wie Dürrenmatt mit Provinz
den Theaterstücken Der Besuch der alten Dame 2001 W. G. Sebald: Austerlitz
(1956) und Die Physiker (1962), so schreibt auch 2004 Juli Zeh: Spieltrieb
sein Schweizer Schriftstellerkollege Max Frisch 2005 Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt
»Lehrstücke ohne Lehre«, so der Untertitel des Dra- 2006 Feridun Zaimoğlu: Leyla
mas Biedermann und die Brandstifter (UA 1958). 2008 Uwe Tellkamp: Der Turm
Neben Peter Weiss’ Dramen prägen auch Rolf Hoch- 2009 Herta Müller: Atemschaukel
huths Der Stellvertreter (UA 1961), George Taboris
Die Kannibalen (UA 1969) und Heinar Kipphardts
In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964) die Aus- der Werte eine neue Transzendenz zu setzen: die
einandersetzung mit den Tätern, Mitläufern und Transzendenz der schöpferischen Lust« (Benn
Opfern der Nazis sowie mit den Folgen in der Nach- 2001, S. 14). Im selben Jahr erschien ein Essay von
kriegszeit. Diese Stücke werden dem dokumentari- Theodor W. Adorno, »Kulturkritik und Gesell-
schen, sozialkritischen Theater zugeordnet. schaft«, dessen immer wieder zitierter Satz –
Lyrik nach Auschwitz: Die jüdische Exilautorin »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist
Nelly Sachs erhielt 1966 »für ihre hervorragenden barbarisch« – in der Folgezeit zu heftigen Debat-
lyrischen und dramatischen Werke, die das ten führte. Adornos angebliches ›Verdikt‹ hat viele
Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpre- Autor/innen zum Widerspruch provoziert, es
tieren«, den Nobelpreis. Gottfried Benn war es al- führte zu einer intensiven Diskussion über die
lerdings, der mit seinen Statischen Gedichten (1948) Möglichkeiten der Dichtung nach Auschwitz,
und vor allem mit seinem Marburger Vortrag Pro- »weniger eine Kontroverse, sondern ein […] jahr-
bleme der Lyrik (1951) eine intensive Auseinan- zehntelang anhaltende[r] literaturphilosophischer
dersetzung um die Formen und Themen zeitge- Dialog, der, in den verschiedensten Formen und
nössischer Lyrik anstieß: »Artistik ist der Versuch Ausprägungen, zum vielleicht wichtigsten Dreh-
der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der punkt des ästhetischen Diskurses der Nachkriegs-
Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus zeit wurde« (Weninger 2004, S. 33). Hans Magnus Christa Wolf: Der geteilte
diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden, es ist Enzensberger suchte in dem Essay »Die Steine der Himmel (Cover Original-
der Versuch, gegen den allgemeinen Nihilismus Freiheit« (1959) nach Antworten: ausgabe, DDR 1963)

363
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

»Wenn wir weiterleben wollen, muß dieser Satz widerlegt »Die Realitätsvokabeln sind einfach, es treten auf Fenster,
werden. Wenige vermögen es. Zu ihnen gehört Nelly Schuttplätze, Kehricht, Güterzüge, Regen, Rost- und Ölfle-
Sachs. Ihrer Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem cke, Kaffeeflasche, Bäckerei, Fabrik, Untergrundbahn, die
sie spricht, gibt sie uns selber zurück, Satz für Satz, was Welt wird befragt, aber nicht überfragt. Überfragt ist nur
wir zu verlieren drohten: Sprache. Ihr Werk enthält kein dieses Ich, verfolgt, gewarnt und gebeten, Warnungen
einziges Wort des Hasses« (Enzensberger 1962, S. 249). weiter zu melden.
Meine Damen und Herren, von einem heiligen Gesang,
von einer Sendung, einer auserwählten Gemeinschaft von
Auch Paul Celan, der den Nazi-Terror überlebt hat- Künstlern kann nämlich heute überhaupt keine Rede mehr
te, suchte in der »Bremer Literaturpreisrede« von sein« (Bachmann 2005, S. 274).
1958 und der unter dem Titel »Der Meridian« be-
kannt gewordenen Rede anlässlich der Verleihung In der letzten Vorlesung, »Literatur als Utopie«,
des Georg-Büchner-Preises im Oktober 1960 nach formuliert sie einen Appell, der sowohl den Ver-
neuen Wegen, um die »Verluste« der Sprache zu tretern der »Stunde Null« als auch den Anhän-
überwinden: Das Gedicht »behauptet sich am Ran- gern traditioneller Literaturkonzepte eine strikte
de seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen Absage erteilt: »So ist die Literatur, obwohl und
zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht- sogar weil sie immer ein Sammelsurium von Ver-
mehr in sein Immer-noch zurück. […]. Dieses Im- gangenem und Vorgefundenem ist, immer das
mer-noch des Gedichts kann ja wohl nur in dem Erhoffte, das Erwünschte, das wir ausstatten aus
Gedicht dessen zu finden sein, der nicht vergißt, dem Vorrat nach unserem Verlangen – so ist sie
daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, ein nach vorn geöffnetes Reich von unbekannten
dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht« Grenzen. […] Es gilt weiterzuschreiben« (ebd.,
(Celan 1986, S. 197). Die neu gegründete Poetik- S. 333 und 348).
Dozentur in Frankfurt übernahm im Wintersemes-
ter 1959/60 erstmals die junge Autorin Ingeborg
3.6.2.2 | Literatur nach 1968
Bachmann: In den fünf Vorlesungen stellte sie Fra-
gen zeitgenössischer Dichtung. In der zweiten Vorle- Historisch-gesellschaftliche Situation: 1967 er-
sung, »Über Gedichte«, schließt sie mit Verweis auf schien die psychoanalytisch orientierte Untersu-
Gedichte von Günter Eich an die Diskussionen über chung Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kol-
die Aufgaben von Literatur an: lektiven Verhaltens von Margarete und Alexander
Mitscherlich. Im Mai 1968 verabschiedete die ers-
Dramen nach 1945 (Auswahl) te Große Koalition von CDU und SPD die – von
den Alliierten geforderten – Notstandsgesetze;
1946 Carl Zuckmayer: Des Teufels General massive Proteste auch der Gewerkschaften und
1947 Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür studentischer Aktionsgruppen folgten. Der studen-
1949 Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder tische Protest eskalierte ab Mitte der 1960er Jahre.
1958 Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter. Ein Lehrstück Anlässlich des Germanistentags 1968 in Berlin for-
ohne Lehre. mulierte die FAZ die Schlagzeile: »Germanisten im
1959 Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter (UA 1961) Nahkampf«. Die Politisierung des Faches stand
1962 Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker ganz oben auf der Agenda, ein in vielen Semina-
1964 Heinar Kipphardt: In der Sache J. Robert Oppenheimer ren zitiertes Motto lautete: »Schlagt die Germanis-
1965 Peter Weiss: Die Ermittlung. Ein Oratorium in elf Gesängen tik tot, färbt die blaue Blume rot!« In der Literatur-
1966 Peter Handke: Publikumsbeschimpfung wissenschaft wurde Roland Barthes’ These vom
1968 George Tabori: Die Kannibalen (UA Berlin 1969) »Tod des Autors« (1968) kontrovers diskutiert;
1976 Peter Hacks: Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden 1969 dekonstruierte Michel Foucault mit der Frage
Herrn von Goethe »Was ist ein Autor?« eine zentrale Instanz des lite-
1977 Heiner Müller: Die Hamletmaschine rarischen Betriebs.
1977 Botho Strauß: Trilogie des Wiedersehens Leslie Fiedler hielt 1968 in Freiburg den Vortrag
1982 Elfriede Jelinek: Burgtheater (UA Bonn 1985) »The Case for Post-Modernism«. Sein Essay »Cross
1995 Albert Ostermaier: Zwischen zwei Feuern. Tollertopographie the border, close the gap« (»Überquert die Grenzen,
1999 Theresia Walser: King Kongs Töchter schließt den Graben!«) plädiert dafür, die Grenze
2001 Sibylle Berg: Hund, Frau, Mann zwischen U- und E-Literatur zu schleifen, und
2003 Dea Loher: Unschuld zwar nicht im Sinne einer Nivellierung um ihrer
2008 Felicia Zeller: Kaspar Häuser Meer selbst willen. Populäre Formen gelten ihm viel-
mehr als zentrale Katalysatoren ästhetischer Inno-

364
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Nachkriegsliteratur/
Literatur nach 1968

vation. So spricht Susan Sonntag in ihrem Essay wird als konservativ-autoritäre Selektion abgelehnt.
»Anmerkungen zu ›Camp‹« (1964) davon, dass die Auf die literarische und literaturwissenschaftliche
Ästhetik des Camp von einer »equivalence of all Tagesordnung gelangen z. B. dokumentarische Li-
objects« ausgeht und insbesondere jene Formen in teratur, Science-Fiction, Comics und Triviallite-
den Blick nimmt, die in »affluent societies«, in ratur. Auch der mediale Transfer – Hörbücher, Ver-
Überflussgesellschaften, produziert werden. Deren filmungen, dramatische Umsetzungen und seit den
Inventar wird unter einer Doppelperspektive in den 1990er Jahren auch das Internet – erweitert das
Blick genommen: Einerseits geht es um eine Erfah- klassische Spektrum der gedruckten Texte (s. Kap.
rung der »psychopathology of affluence« und ande- III.2); neue medientheoretische Konzepte, die auch
rerseits um die Frage »how to be a dandy in the age die jeweils medienspezifischen Funktionsweisen
of mass culture«. Aus dieser Mixtur aus einer zu- und Techniken berücksichtigen, ergänzen genuin
gleich genießend-connaisseurhaften Teilnahme an literaturwissenschaftliche Ansätze.
der Pop-Kultur wie kritischer Distanz zu den Aus- Dokumentarische Literatur: Zu den spezifi-
wüchsen des Kapitalismus entsteht die Pop-Litera- schen Techniken dokumentarischer Literatur zäh-
tur der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. len Collage und Montage realer Materialien, Doku-
1970 wurde die Rote Armee Fraktion von Ulrike mente und Berichte, Darstellungsformen sind z. B.
Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Protokoll, Reportage, Interview, Brief und Tage-
weiteren gegründet. Heinrich Bölls kritische Ausei- buch. Das Werk von Walter Kempowski gilt als Das Werk
nandersetzung mit der medialen Berichterstattung herausragendes Zeugnis dieser zwischen litera- Walter Kempowskis
über den Terrorismus erschien 1974: Die verlorene risch-ästhetischer Präsentation und Integration au-
Ehre der Katharina Blum. In diesem Jahr kam auch thentischer Dokumente angesiedelten sog. vierten
Alexander Kluges Film In Gefahr und größter Not Gattung. Die Deutsche Chronik erschien in den
bringt der Mittelweg den Tod in die Kinos (Buch Jahren 1971 bis 1984 in neun Bänden in nicht
gemeinsam mit Edgar Reitz). chronologischer Folge. Vor allem Band IV: Tadellö-
Literarische Zeitschriften: 1968 erschien das ser & Wolff (1971) wird mit der Verfilmung (1975)
Kursbuch 15, herausgegeben von Hans Magnus auch einem breiteren Publikum bekannt. Mit Echo-
Enzensberger, das angeblich den »Tod der Litera- lot (1993–2004) legt Kempowski ein »kollektives
tur« proklamierte. Es enthält ein Konglomerat he- Tagebuch« in zehn Bänden vor; der Untertitel ver-
terogener Texte, neben einem Gedicht von Mao weist zugleich auf das »Archiv für unpublizierte
Tse-Tung sind Gedichte von F. C. Delius und Inge- Autobiografien«. In Anzeigen in überregionalen
borg Bachmann abgedruckt. Vor allem Bachmanns Zeitungen suchte Kempowski Tagebücher und Fo-
Gedicht »Keine Delikatessen« wurde für die Absa- tos aus der Zeit bis 1950, Materialien, die er im
ge an die Dichtung vereinnahmt. Auch heute noch letzten Band unter dem Titel Abgesang ’45 für die
lesenswert und im besten Wortsinn anstößig sind letzten Tage des Nazi-Regimes montiert.
die Beiträge von Karl Markus Michel: »Ein Kranz Literatur aus der Arbeitswelt: 1966 erschien der
für die Literatur. Fünf Variationen über eine The- Almanach der Gruppe 61: Aus der Welt der Arbeit,
se« und Hans Magnus Enzensbergers »Gemein- in dem Günter Wallraffs Bericht »Am Band« abge-
plätze, die Neueste Literatur betreffend«. F. C. De- druckt war. Die Gruppe 61 stellt sich in bewusste Die Gruppe 61
lius kommentiert anlässlich der Marbacher Aus- Konfrontation zur Gruppe 47 und fordert eine in-
stellung 1999: »Protest! Literatur um 1968« in tensivere Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt
seiner Rede: »Wie scheintot war die Literatur?«: auch in literarisch-dokumentarischen Texten. Max
»Das ist Unsinn. Bis heute habe ich nicht verstan- von der Grün, Erika Runge, Günter Wallraff und
den, warum im Horrorfilm 68 einige Autoren die- Peter-Paul Zahl zählen zu den bekannten Mitglie-
ses Heftes zu Meuchelmördern an Kunst, Literatur dern. 1968 veröffentlichte Erika Runge die Bottro-
und Liberalität stilisiert wurden.« per Protokolle. Martin Walser beklagt im Vorwort:
Literaturbegriff: In den Auseinandersetzungen »Berichte aus der Klassengesellschaft« die man-
der 1960er Jahre wird auch der klassische Literatur- gelnde Präsenz von Arbeitern in der bürgerlichen
begriff auf den Prüfstand gestellt, normative Gat- Literatur und fordert »weitere von böser Erfahrung
tungsvorgaben und ästhetische Traditionen werden geschärfte Aussagen, weitere Seufzer, Flüche,
kritisch hinterfragt (s. Kap. III.4.1). Ein verbindli- Sprüche und Widersprüche, weitere Zeugnisse ei-
cher Kanon, der Werke als literarisch hochwertig ner immer noch nach minderem Recht lebenden
ausweist und eine stabile Orientierung im unüber- Klasse«. Wallraff berichtet in Der Aufmacher. Der
sichtlicher werdenden Büchermarkt bieten könnte, Mann, der bei BILD Hans Esser war (1977) über

365
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

Lyrik nach 1945 (Auswahl) Innenwelt das Lesepublikum, die Literaturkritik


und die Literaturwissenschaft (s. Kap. III.4.3).
1947 Nelly Sachs: In den Wohnungen des Todes (ED Ost-Berlin) Brinkmann prägt als Mitherausgeber der An-
1948 Gottfried Benn: Statische Gedichte thologie ACID. Neue amerikanische Szene (1969)
1952 Paul Celan: Mohn und Gedächtnis die Rezeption der amerikanischen Beat- und Pop-
1953 Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit Literatur in Deutschland. »Ich komme mir komisch
1953 Bertolt Brecht: Buckower Elegien vor unter all diesen ›alten‹ Leuten«, schreibt Brink-
1955 Günter Eich: Botschaften des Regens mann, gemünzt auf die Meinungsführer des bun-
1957 Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe gegen die desrepublikanischen Literaturbetriebs im Rahmen
lämmer der Debatte um Leslie Fiedlers Essay »Cross the
1966 Ernst Jandl: laut und luise border, close the gap«. Und er spitzt polemisch zu,
1967 Sarah Kirsch: Landaufenthalt dass »gegenüber der Arbeit, die für [eine] Musik
1969 Peter Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt [wie diejenige der Band The Doors, d. Verf.] not-
1972 Nicolas Born: Das Auge des Entdeckers wendig war, […] deutsche Dichter Schlampen
1977 Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2 [sind]« (Brinkmann 1968, S. 66). Die Arbeit am
1979 Peter Rühmkorf: Haltbar bis 1999 kulturellen Material der Gegenwart, welche die
1981 Ulla Hahn: Herz über Kopf Pop-Literatur einfordert, erweitert den Gegen-
1981 Robert Gernhardt: Wörtersee standsbereich der Literatur um die Oberflächen
1985 Thomas Kling: BUSLADUNGEN, aus geschmacksverstärkern einer Überflussgesellschaft: um Songs, Markenwa-
(1985–1993) ren und neue Medien. Deren Registratur geschieht
1991 Durs Grünbein: Schädelbasislektion aber keineswegs immer mit affirmativem Gestus,
1995 Anne Duden: Wimpertier wie sich in den angeekelten Tiraden von Brink-
2005 Ulrike Draesner: für die nacht geheuerte zellen manns Roman Keiner weiß mehr (1968) nachlesen
lässt. Der Band Westwärts 1&2 – Gedichte erschien
posthum nach Brinkmanns frühem Unfalltod 1975
die umstrittenen journalistischen Rechercheme- und präsentiert, begleitet von schwarz-weißen Fo-
thoden und Berichte des Massenblattes. tomontagen, kurze Momentaufnahmen in Ge-
Neue Subjektivität: Die Rubriken der Antholo- dichtform, aber auch lange Texte, die mit Techni-
gie Lyrik von allen Seiten (1981), die Gedichte und ken des Filmschnitts strukturiert sind: »Ich hätte
Beiträge des ersten Lyrikertreffens in Münster vor- gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie
Brinkmann: ACID. Neue stellt, spiegeln die intensiven literaturpolitischen Songs. […] Vielleicht ist es mir aber manchmal ge-
amerikanische Szene (1969) Debatten in den 1960er und 1970er Jahren: Neue lungen, die Gedichte einfach genug zu machen,
Subjektivität, Subjektivität als politi- wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der
sche Kategorie, Poesie in der Arena. Sprache und den Festlegungen raus« (S. 7). ROM,
Auf der poetischen Tagesordnung Blicke (1979) stellt eine Montage von Briefen, Bil-
standen: Alltagslyrik, Neue Empfind- dern und Collagen vor, die seinen Aufenthalt als
samkeit, Betroffenheitslyrik, Bezie- Stipendiat der Villa Massimo in Text und Bild do-
hungskrisen etc. kumentieren und kommentieren.
Handke und Brinkmann: Zwei Au- Frauenliteratur: Die Forderung nach Emanzipati-
toren, die mitunter diesen Strömun- on und Gleichberechtigung wird in der neuen Frau-
gen zugeordnet werden, gehen auch enbewegung seit den 1960er Jahren in literarischen,
andere Wege: Peter Handke und Rolf essayistischen und journalistischen Texten lautstark
Dieter Brinkmann. 1966 fand die Ur- erhoben. Wurde der Begriff der Frauenliteratur zu-
aufführung des Theaterstücks Publi- nächst vor allem als verkaufsförderndes Label vom
kumsbeschimpfung in Frankfurt am Buchmarkt verwendet, stellt sich mit der Etablie-
Main unter der Regie von Claus Pey- rung der feministischen Literaturwissenschaft
mann statt. Handke fordert im einfüh- auch die Frage, ob und wie sich die Geschlechterzu-
renden Nebentext: »kein Bühnenbild, gehörigkeit in den Text einschreibt (vgl. Lindhoff
keine Kostüme, keine Geschichte«; 2003). In den 1970er Jahren erschien der erste Teil
ein Sprecher: »Sie werden kein Spiel des fragmentarischen Todesarten-Projekt von Inge-
sehen. Hier wird nicht gespielt.« 1969 borg Bachmann, der Roman Malina, der zu einem
irritierte der Autor mit dem Gedicht- der Kerntexte der feministischen Auseinanderset-
band Die Innenwelt der Außenwelt der zung mit tradierten Rollenzuschreibungen und Ge-

366
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Nachkriegsliteratur/
Literatur nach 1968

schlechterkonflikten avancierte. Ein Jahr später ver- 1978 zahlreiche Prosabände in deutscher Sprache
öffentlicht Karin Struck den Roman Klassenliebe, veröffentlichte. Zunehmend melden sich auch Au-
1975 erschien der Roman Häutungen von Verena torinnen mit Essays, Prosatexten, Gedichten und
Stefan. Aufsehen erregen beide Bücher vor allem Dramen in den Diskussionen um das »Zwischen-
mit der Enttabuisierung weiblicher Sexualität. In WeltenSchreiben« zu Wort (vgl. Ette 2005); die An-
der DDR führt die Autorin Irmtraud Morgner die thologie Freihändig auf dem Tandem (1985) stellt
Debatte unter der Tarnkappe historischer Gattun- Texte von 30 Autorinnen aus 11 Ländern vor. Die
gen und Figuren: Leben und Abenteuer der Trobado- Entwicklung der letzten Jahrzehnte resümiert die
ra Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und
(1974) und Amanda. Ein Hexenroman (1983). Dichtung im Herbst 2009: »Eingezogen in die Spra-
Die Gastarbeiter- bzw. Migrantenliteratur war in che, angekommen in der Literatur.« Die aus der Slo-
den 1970er und 1980er Jahren zunächst vor allem wakei stammende Schweizer Autorin Ilma Rakusa
eine Domäne von Autoren. 1980 gründeten Franco stellt »Die Vielfalt der ›Migrantenliteratur‹ – eine
Biondi und Gino Chiellino den »Polynationalen anthologische Annäherung« vor. Neben Ilma Raku-
Literatur- und Kunstverein«, der den Autor/innen sa repräsentieren auch Libuše Moníková, Terézia
ein multikulturelles und transnationales Forum bie- Mora, Herta Müller, Emine Sevgi Özdamar, Yoko
ten wollte. Zu den Gründungsmitgliedern gehört Tawada und andere Autorinnen mit ihren Werken
auch der syrisch-deutsche Autor Rafik Shami, der die inter- und transkulturelle Literatur (vgl. Chiel-
1971 in die Bundesrepublik immigrierte und seit lino 2000; Wierlacher/Bogner 2003; s. Kap. 5.4.3).

Literatur
Aichinger, Ilse: »Das Erzählen in dieser Zeit« [1952]. In: Der Korte, Hermann: Deutschsprachige Lyrik seit 1945.
Gefesselte. Erzählungen I. Frankfurt a. M. 1991. Stuttgart/Weimar 2004.
– : Die größere Hoffnung. Frankfurt a. M. 2002. Lehmann, Hans-Thies/Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner
Ansichten und Auskünfte zur deutschen Literatur nach 1945. Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/
Text + Kritik Sonderband IX/95. Hg. von Heinz Ludwig Weimar 2003.
Arnold. München 1995. Leskovec, Andrea: Einführung in die interkulturelle
Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Die Gruppe 47 – Ein kritischer Literaturwissenschaft. Darmstadt 2011.
Grundriß. Sonderband Text + Kritik. München 22004. Lindhoff, Lena: Einführung in die feministische Literatur-
– (Hg., in Verbindung mit Julia Abel, Hansjörg Bay, theorie. Stuttgart/Weimar 22003.
Andreas Blödorn, Christof Hamann): Literatur und Lubkoll, Christine: »Nachkriegsliteratur«. In: Reallexikon
Migration. Sonderband Text + Kritik. München 2006. der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald
– /Korte, Hermann (Hg.): Lyrik der DDR. Frankfurt a. M. 2009. Fricke, Bd. II. Berlin/New York 2000, S. 669–672.
Bachmann, Ingeborg: Kritische Schriften. Hg. von Monika Lyrik der DDR. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Hermann
Albrecht und Dirk Göttsche. München/Zürich 2005. Korte. Frankfurt a. M. 2009.
Benn, Gottfried: Sämtliche Werke, Bd. VI. Hg. von Holger Opitz, Michael/Hofmann, Michael (Hg.): Metzler Lexikon
Hof und Gerhard Schuster. Stuttgart 2001. DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten.
Bohn, Volker: Deutsche Literatur seit 1945. Texte und Bilder. Stuttgart/Weimar 2009.
Frankfurt a. M. 1995. Peitsch, Helmut: Nachkriegsliteratur 1945–1989. Göttingen
Böll, Heinrich: Werke. Essayistische Schriften und Reden I: 2009.
1952–1963. Hg. von Bernd Balzer. Köln (ca. 1979). Rusterholz, Peter/Solbach, Andreas (Hg.): Schweizer
Brinkmann, Rolf-Dieter: »Angriff aufs Monopol. Ich hasse Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar 2007.
alte Dichter« [1968]. In: Roman oder Leben? Postmo- Schneider, Irmela: »Fast alle haben vom Rundfunk gelebt.
derne in der deutschen Literatur. Hg. von Uwe Hörspiele der 50er Jahre als Geschichte der literari-
Wittstock. Leipzig 1994. schen Formen. In: Die Gruppe 47 in der Bundesrepublik.
Celan, Paul: »Der Meridian«. In: Gesammelte Werke in fünf Hg. von Justus Fetscher. Würzburg 1991, S. 203–217.
Bänden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Schnell, Ralf: Geschichte der deutschsprachigen Literatur
Bd. 3. Frankfurt a. M. 1986, S. 187–202. seit 1945. Stuttgart/Weimar 22003.
Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Weidermann, Volker: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der
Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart/Weimar 2000. deutschen Literatur von 1945 bis heute. München 2007.
Egytien, Jürgen: Einführung in die deutschsprachige Weninger, Robert: Streitbare Literaten. Kontroversen und
Literatur seit 1945. Darmstadt 2006. Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser.
Enzensberger, Hans Magnus: Einzelheiten I. Frankfurt a. M. München 2004.
1962, S. 246–252. Wierlacher, Alois/Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch
Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar 2003.
festen Wohnsitz. Berlin 2005.
Figge, Klaus: »Alfred Andersch als Radiomacher«. In: Gabriele Rohowski
Alfred Andersch. Hg. von Irene Heidelberger-Leonard
und Volker Wehdeking. Opladen 1994, S. 42–50.

367
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

3.6.3 | Literatur nach 1989/Pop-Literatur Pop-Literatur: In den 1990er Jahren kommt es


zu einer zweiten Konjunktur pop-literarischen
Historisch-gesellschaftliche Situation: Mit der Öff- Schreibens. Pop stand in den 1960er Jahren für ein
nung der Mauer am 9. November 1989 fiel der rebellisches Projekt, für einen »von Jugend- und
Eiserne Vorhang, der die BRD und die DDR, West- Gegenkulturen ins Auge gefaßten Umbau der
und Osteuropa, aber auch die politischen Groß- Welt«, den Diedrich Diederichsen »Pop 1« nennt:
mächte USA und UdSSR im Kalten Krieg getrennt »Sexuelle Befreiung, englischsprachige Internatio-
hatte. Im März 1990 fanden die ersten freien Wah- nalität, Zweifel an der protestantischen Arbeits-
len zur Volkskammer der DDR statt, am 3. Oktober ethik und den mit ihr verbundenen Disziplinar-
Wiedervereinigung wurde die Wiedervereinigung von BRD und DDR regimes« lauten die entsprechenden Parameter
von BRD und DDR zur Bundesrepublik Deutschland auch juristisch (Diederichsen 1999, S. 273 f.). Im Folgenden wird
vollzogen. Im Oktober 1998 führt Martin Walsers Pop sogar zum »Kurzwort […] für die Käuflichkeit
Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedens- gegenkultureller Ziele«. Folglich formiert sich ab
preises des Deutschen Buchhandels zu einer hefti- den 1980er Jahren eine ironischere Gegentendenz
gen Kontroverse. Der Autor stellt – mit Verweis auf zu den idealistischen 70er Jahren und betont im
die Gedenkrituale – die These auf, »daß öfter nicht Pop Aspekte wie »Geschwindigkeit, Warenförmig-
mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das keit und Flüchtigkeit« (ebd.). ›Authentizität‹ als
Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unse- Geste gesellschaftlicher Empörung ist den Texten
rer Schande«. Ignatz Bubis, damaliger Vorsitzender dieser Generation eher fremd, eher schon arbeiten
des Zentralrats der Juden in Deutschland, wirft sie im Sinne einer Erschließung und Registratur
Walser vor, »geistige[] Brandstiftung« zu betrei- eines in vielfacher Hinsicht pop-kulturell gepräg-
ben, eine Formulierung, die Bubis bei einem direk- ten Alltags: »Für mich bedeutet Pop in erster Linie
ten Treffen mit Walser wieder zurücknimmt (vgl. einen produktiven Umgang mit bereits vorgefun-
Weninger 2004, S. 186 ff.). »Die Erfahrungen beim denen Oberflächen, also: Samples, Zitate, Verwei-
Verfassen einer Sonntagsrede«, so der Untertitel se. […] Von daher lege ich großen Wert auf das
von Walsers Rede, bezeugen auch 45 Jahre nach Uneigentliche, Vermittelte«, schreibt der Pop-Autor
Kriegsende die Virulenz des Ringens um ethisch Thomas Meinecke (zit. n. Ullmaier 2001, S. 14).
überzeugende Formen und Inhalte des Gedenkens. Literaturwissenschaftlich wird die Pop-Literatur
Deutsch-deutscher Literaturstreit: Ein Jahr spä- ausgehend von zwei Ansätzen produktiv erschlos-
ter löst die Erzählung Was bleibt von Christa Wolf sen: Zunächst von Moritz Baßlers Archivkonzept
einen vehementen Literaturstreit aus. Der als Be- (2002), demzufolge literarischer Pop unerschlosse-
richt einer Ost-Berliner Schriftstellerin präsentierte ne Bereiche der gegenwärtigen Kultur überhaupt
Text basiert auf Aufzeichnungen aus den 1970er erst sprachlich zugänglich macht und in der Folge
Jahren, als Christa Wolf von der Stasi observiert als ebenso literarisch aufschreibens- wie kultur-
wurde. Bereits vor Erscheinen wurde in den Feuil- wissenschaftlich auslegungswert verhandelt. Als
letons kontrovers diskutiert, ob das Buch als ver- Beispiele pop-literarischer Archivpoetik nennt
spätete Rechtfertigung der »DDR-Staatsdichterin« Baßler Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre
(Reich-Ranicki) oder als nachträgliche Erklärung oder Thomas Meinecke. Eckhard Schumachers
des kulturpolitischen Grenzgangs zu werten sei. Studie Gerade Eben Jetzt (2003) ergänzt Baßlers
Ulrich Greiner gibt der Diskussion eine generelle Untersuchung um die Thematisierung eines spezi-
Perspektive: »Es geht in der Tat um die Mitschuld fischen Konzepts von Präsenz, mit dem der medial
der Intellektuellen der DDR, um die Mitverantwor- geprägte Ereignischarakter der Pop-Literatur er-
tung für die zweite deutsche Katastrophe – nach schlossen wird. Neben Rainald Goetz stehen dabei
der nationalsozialistischen die stalinistische« (DIE auch zwei Protagonisten der 1960er und 70er Pop-
ZEIT, 27.7.1990, vgl. auch Weninger 2004, 133 ff.). Literatur zur Debatte: Rolf Dieter Brinkmann und
Auch Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocks- Hubert Fichte.
gesang (DER SPIEGEL, 8.2.1993), Peter Handkes Literatur der Wende  – Wendeliteratur: Bereits
Bericht Eine winterliche Reise zu den Flüssen Do- Jahrzehnte vor der Wende wird in literarischen
nau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit Texten durchgespielt, wie die Mauer das Alltagsle-
für Serbien (1996) und W. G. Sebalds Thesen zu ben prägt und wie sie zu überwinden ist (zum Bei-
Luftkrieg und Literatur (1997) belegen eindrück- spiel Christa Wolf: Der geteilte Himmel, 1963; Fritz
lich das ambivalente und stets neu auszulotende Rudolf Fries: Der Weg nach Oobliadooh, 1966).
Verhältnis von Literatur und Politik. 1982 stellt Peter Schneider aus westdeutscher Per-

368
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Literatur nach 1989/
Pop-Literatur

spektive mit der Erzählung Der Mauerspringer ten abweicht«. Wozu aber soll eine solche Abwei-
Grenzgänger vor, die zwischen Ost und West ori- chung von der historischen Wahrheit gut sein? Abweichung von
entierungslos wechseln. Mit dem Fall der Mauer Hier ordnet sich Kehlmann in eine Reihe mit ›Klas- der historischen Wahrheit
im November 1989 entsteht eine neue Subgattung sikern‹ des angelsächsischen postmodernen Ro-
zeitgenössischer Prosa, die zunächst von der Lite- mans, die er, wohl weil er auch den Goethe-Roman
raturkritik, in der Folge auch von der Literaturwis- Lotte in Weimar (1945) des von ihm verehrten
senschaft als »Wendeliteratur« bezeichnet wird. Thomas Mann hinzuzählt, als »Seitenstrom der
Die Erwartungen der Literaturkritik kommentiert Moderne« bezeichnet: John Fowles’ Die Geliebte
Jurek Becker in einem SPIEGEL-Interview im De- des französischen Leutnants (1969), John Barths
zember 1994: »Seit drei Jahren sehe ich in Deutsch- Der Tabakhändler (1960) und Thomas Pynchons
land die Kritiker mit den Fingern trommeln: Wo ist Mason&Dixon (1997). Dieser ›Seitenstrom‹ unter-
der deutsche Einheitsroman? […] In vielen Schrift- nehme es »nicht bloß Geschichten, sondern Ge-
stellerzimmern schwebt die Erwartung wie eine schichte zu erzählen und das scheinbar Unseriö-
fürchterliche giftige Wolke« (zit. nach Wehdeking se dieses von der Trivialliteratur okkupierten
1995, S. 147). Genres für Spiele mit Fakten und Fiktionen zu nüt-
Möglicherweise auch in gezielter Verweigerung zen. Immer schon hat die Gattung des Romans,
bzw. Unterbietung der staatstragend klingenden wirksamer vielleicht als irgendeine andere, beste-
Forderungen aus dem Feuilleton nach einem litera- hende Meinungen untergraben – und eine der
rischen Umgang mit der Wende, der gewisserma- wirksamsten Arten, das zu tun, besteht darin, sich
ßen mit seinem Entstehen schon nach einer Kano- die Vergangenheit neu zu erzählen und von der
nisierung in künftigen Schulbüchern schielt, offiziellen Version ins Reich erfundener Wahrheit
kultiviert ein Autor wie Thomas Brussig in seinem abzuweichen« (Kehlmann 2008, S. 13 f.). Eine zu-
Wenderoman Helden wie wir (1994) einen pikaro- gespitzte Variante dieses Verfahrens findet sich in
haft-derben Ton, in dem beispielsweise aus Christa Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im
Wolfs Der geteilte Himmel »Der geheilte Pimmel« Sonnenschein und im Schatten (2009), der der so-
wird. In Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999), genannten alternate history zugezählt werden
dem Buch zu Leander Hausmanns Film Sonnen- kann, einer Form der literarischen Fiktion, in der
allee (1999), wählt Brussig Pop als Ausdrucksform die Geschichte einen anderen als den bekannten
sowie als kulturelles Referenzsystem der Wende- Verlauf genommen hat – im Fall von Kracht trifft
literatur. Ingo Schulze schreibt programmatisch man auf eine sowjetische Schweiz, die sich in ei- Daniel Kehlmann:
Simple Storys (1998) über den ostdeutschen Nach- nem unbeendbar scheinenden Krieg mit faschisti- Die Vermessung der Welt
wendealltag, die im Ton an einen US-amerikani- schen Nachbarländern befindet. (2005)
schen Autor wie Raymond Carver erinnern und die »Meine Art des Protests«: Im Ok-
zudem nach einem Verfahren zu einem Roman aus tober 2004 erhält die österreichische
der ostdeutschen Provinz verknüpft sind, wie man Schriftstellerin Elfriede Jelinek den
es aus Robert Altmans Film Short Cuts kennt. Viel Literatur-Nobelpreis; viele Medien
Beachtung erfährt auch Uwe Tellkamps Roman reagieren mit Verwunderung, Ableh-
Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land nung und Kritik an der Preisvergabe.
(2008), in dem das bildungsbürgerliche Milieu der Mit den Romanen Die Klavierspiele-
DDR zur Darstellung kommt. rin (1983) und Lust (1989), mit den
Postmoderne Geschichtsdarstellung: Ein Er- Theaterstücken Was geschah, nach-
folgsroman der besonderen Art ist Daniel Kehl- dem Nora ihren Mann verlassen
manns Die Vermessung der Welt (2005), der bis hatte oder Stützen der Gesellschaft
heute weltweit rund 1,5 Millionen mal verkauft (1977), Burgtheater (1985), Totenau-
worden ist. In Bezug auf die der historischen berg (1991) und Ulrike Maria Stuart
Wirklichkeit der Ereignisse um die Protagonisten (2006) mutet Jelinek dem Lesepubli-
Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß kum Texte zu, die philosophische,
eher lax verpflichtete Art der Darstellung schreibt politische, psychoanalytische und
der Autor: »Ein Erzähler operiert mit Wirklichkei- kulturelle Diskurse mit Alltags- und
ten. Aus dem Wunsch heraus, die vorhandene Vulgärsprache provokativ überblen-
nach seiner Vorstellung zu korrigieren, erfindet er den. Die Demontage zentraler äs-
eine zweite, private, die in einigen offensichtlichen thetischer Traditionen behaupten
Punkten und vielen gut versteckten von jener ers- schon die Titel der poetologischen

369
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Das 20. Jahrhundert

Zur Vertiefung

Realismus als dominantes Verfahren


Wenn es zutrifft, dass sich die Aufmerksamkeit bei literarischen Texten grundsätzlich auf diese selbst und ihr Ver-
fahren, d. h. auf ihren Discours richtet (s. Kap. III.4.2.4) – im Unterschied zu Sachtexten, welche die Aufmerksam-
keit von sich selbst weg »auf das [richten], worauf sie sich in der außertextlichen Realität beziehen« (Bode 2005,
S. 53), dann akzentuiert Kehlmann mit seinem Verfahren aus der Vermessung der Welt (und seiner ein wenig
pompös formulierten Selbstauslegung) im Grunde etwas, was für alle literarischen Texte gilt, was aber, und dies
ist das literarhistorisch Spezifische, in der gegenwärtigen Literatur nicht mehr unbedingt durch experimentelle
Verfahren angezeigt werden muss, sondern auch durch Texte vermittelt wird, die bei aller spielerischen Attitüde
formal eher konventionell sind und gemäß eines realistischen Paradigmas funktionieren: »In einer Lese-Kultur, in
der sowieso ›dies‹ nie nur ›dies‹, sondern auch ›das‹ oder ›das‹ bedeutet«, in der man also gewohnt ist, Literatur
im Verstehen den nötigen Spielraum zu geben, ja, Literatur als genuines Medium für eine Bandbreite divergieren-
der Deutungsmöglichkeiten anzuerkennen, »ist Realismus ein sinnvolles literarisches Programm, weil er einer-
seits die Aktualität und Spezifik einer neuartigen Situation bedient« – also eine interessante, neue und dennoch
für den Leser vor dem Hintergrund seiner lebensweltlichen Prägung nachvollziehbare Geschichte erzählt – »aber
andererseits gerade nicht behauptet: Es ist, was es ist. You can have it both ways« (ebd., S. 52) – ebenso als fes-
selnde Geschichte mit Aktualitätspotenzial wie als komplexes und deutbares Kunstwerk.
So bildet Kehlmanns jüngstes Buch, das 2009 erschienene Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten, eine Mixtur
aus süffigen, mal witzigen, mal auch anrührenden kürzeren Erzählungen, die auf hochkomplexe Weise verspie-
gelt und metaleptisch (s. Kap. III.3.4.4.3) miteinander verwoben sind. Die komplexe Erzählstruktur fordert laut
Heinrich Detering natürlich eine »zweite Lektüre«, und doch müsse man »nichts von solchen Bezügen bemer-
ken, um dieses Buch mit dem größten Vergnügen zu lesen«, da das Buch einerseits »temporeich und pointen-
sicher, so unverschämt unterhaltsam erzählt« sei, und es andererseits thematisch immer wieder um gewichtige,
ja geradezu letzte Dinge gehe: um »›Gnade‹ oder ›Hoffnung‹; […] um Schuld und Sühne, Leben und Tod« (Dete-
ring 2009).
Im Film und in gehobenen Fernsehproduktionen, bei denen schon allein aus ökonomischen Gründen der
Kunstanspruch nicht zu Lasten einer breiten Rezipierbarkeit gehen darf, finden sich ebenfalls solche Mehrfach-
codierungen. Es ist freilich nicht so, dass die künstlerische Komplexität solch populärer Formate notwendig Re-
sultat eines trickle down-Effekts sein muss, dass also das jüngere und in der Hierarchie der Kulturformen niedri-
ger stehende Medium (Film oder Fernsehen) im Fall gelungener Darstellungsverfahren stets vom großen Bruder
(der Literatur) profitiert hat. Anspruchsvoll produzierte Fernsehserien gelten umgekehrt zurzeit als wichtige In-
novationsquelle eines sich neu am Realismus orientierenden Erzählens. So sieht der Romancier Thomas Peltzer
»bei Serien wie The Wire oder Mad Men […] eine ganz neue Qualität des Erzählens. […] Mich interessiert da-
ran vor allem die narrative Struktur, wie ›das Reale‹ auf ganz neue Weise erzählt wird. […] Diese epische Breite
können andere Formate nicht leisten, die notwendigerweise auf zwei, drei Stunden Film oder dreihundert Sei-
ten Roman beschränkt sind« (FAZ 11.6.2010).

Essays Ich schlage sozusagen mit der Axt drein »Dieser Text mit Namen »Neid« gehört nicht in ein Buch. Er
(1983), Ich möchte seicht sein (1984) und Sinn gehört nicht auf Papier, er gehört in den Computer hinein,
dort habe ich ihn hineingestellt, dort habe ich ihn depo-
egal. Körper zwecklos (1997). In zahlreichen Es- niert, dort kann er in Ruhe verderben wie Müll (nur auf
says und Interviews, gedruckt oder auf ihrer Wunsch und mit Hilfe einiger Knopfdrückereien können
Homepage nachzulesen (http://www.elfriedejeli- Sie ihn sich aber holen, wann Sie sollen, solang Sie und
nek.com), greift Jelinek in aktuelle kulturelle und soviel davon wie Sie wollen), und bin dann einfach wegge-
gangen. […] Ich hebe ja oft Tagesneuigkeiten und Aktuali-
politische Debatten ein. Neben den gedruckten täten, auch Klatsch und Tratsch, in die Texte hinein, um
Ausgaben bilden die Texte auf der Homepage ein ihnen ihr Verfallsdatum einzuprägen. Das muß man ihnen
sich ständig neu formierendes Werk. Auf der immer wieder einbläuen, sonst vergessen sie es. Jeden Au-
Homepage kann auch der »Privatroman« Neid genblick können sie fällig sein, und das ist gut so«.
gelesen werden, der inzwischen als Download
für PCs, Tablets und Smartphones kostenfrei zur »Reisende auf einem Bein«: Das Verhältnis von
Elfriede Jelinek: Verfügung steht. In »ein Paar Anmerkungen zu Heimat, Migration und Exil sowie die Auflösung so-
Die Klavierspielerin (1983) ›Neid‹« erklärt Jelinek: zialer, kultureller und psychischer Identitäten bil-

370
3.6
Kleine Literaturgeschichte
Literatur nach 1989/
Pop-Literatur

den das Zentrum der Erzählungen, Romane und risch präzise Aufzählung der kleinsten Habseligkei-
Essays von Herta Müller. Mit der Verleihung des ten des Lagerlebens die beklemmende Lektüre auf
Literatur-Nobelpreises an die aus dem rumäni- paradoxe Weise erträglich macht.« Die Literaturkri-
schen Banat stammende Deutsche im Jahr 2009 tikerin Iris Radisch hingegen beklagt »peinigende[]
wurde eine Autorin ausgezeichnet, deren Leben Parfümiertheit«: »Sprachlich ist man hier näher bei
und Werk von der Auseinandersetzung mit Aus- der Menschheitsdämmerung des Expressionismus
grenzung, Fremdheit und ihren Auswirkungen auf als bei Stalins Himmelfahrtskommandos« (DIE
soziale und kulturelle Identität geprägt ist. Bereits ZEIT, 20.8.2009).
in der Prosasammlung Niederungen, die 1982 in Die politischen, ökonomischen, sozialen und
Rumänien nur zensiert erscheinen konnte, werden kulturellen Folgen von Globalisierung, Migration,
die das Werk dominierenden Themen aufgenom- Finanzkrisen, Klima- und Technikwandel werden
men: das Leben als Minderheit in einem autoritä- in den literarischen und poetologischen Texten der
ren System, aber auch die sozialen und ökonomi- letzten Jahrzehnte in immer neuen Versuchsan-
schen Folgen von Isolation und Armut. Der Roman ordnungen arrangiert. Auch die literaturwissen-
Atemschaukel (2009) basiert auf Interviews mit schaftliche Theoriebildung spiegelt die zunehmen-
dem Lyriker Oskar Pastior und anderen Überleben- de Ausdifferenzierung und Überlagerung von
den über deren Deportation und Zwangsarbeit in literarischen und nicht-literarischen Paradigmen Herta Müller:
einem stalinistischen Lager. Der Publizist Michael und Diskursen: »cultural turn«, »spatial turn« und Atemschaukel (2009)
Naumann formuliert in der Kontroverse »Kitsch »postcolonial turn« (s. Kap. III.5.4) sowie »Litera-
oder Weltliteratur?« die Argumente »pro Herta Mül- turwissenschaft als Lebenswissenschaft« (vgl. As-
ler«: »Es ist die sachgebannte Genauigkeit, mit der holt/Ette 2010).
Herta Müllers poetische, zugleich aber buchhalte-

Literatur
Asholt, Wolfgang/Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissen- Kehlmann, Daniel: »Wo ist Carlos Montúfar?«. In: Daniel
schaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Kehlmanns ›Die Vermessung der Welt‹. Materialien,
Perspektiven. Tübingen 2010. Dokumente, Interpretationen. Hg. von Gunter Nickel.
Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Reinbek bei Hamburg 2008, S. 11–25.
Archivisten. München 2002. Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der
Bode, Christoph: Der Roman. Eine Einführung. Tübingen/ Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003.
Basel 2005. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine
Detering, Heinrich: »Wenn das Handy zweimal klingelt. Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz
Daniel Kehlmanns Roman ›Ruhm‹«. In: Frankfurter 2001.
Allgemeine Zeitung, 17.1.2009. Wehdeking, Volker: Die deutsche Einheit und die
Diederichsen, Diedrich: Der lange Weg nach Mitte. Der Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit
Sound und die Stadt. Köln 1999. 1989. Stuttgart 1995.
Erhart, Walter/Niefanger, Dirk (Hg.): Zwei Wendezeiten. Weninger, Robert: Streitbare Literaten. Kontroversen und
Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser.
Tübingen 1997. München 2004.
Gilcher-Holtey, Ingrid (Hg.): 1968 – vom Ereignis zum
Mythos. Frankfurt a. M. 2008.
Gabriele Rohowski und Heinz Drügh

371
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Kurze Geschichte
der Kinder- und
Jugendliteratur

3.7 | Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur


Die Kinder- und Jugendliteratur in lyrischer, epi- teratur geprägt durch stoffreiche Kompendien, die
scher oder dramatischer Form tritt von Epoche zu kein Wissensgebiet ausließen. Es handelte sich
Epoche, aber auch innerhalb ein und derselben überwiegend um Lehrbücher für den privaten
Epoche in ganz unterschiedlicher Gestalt auf. Unterricht, angereichert mit Fabeln und morali-
Von einer in poetologischer Hinsicht eigenstän- schen Beispielerzählungen, die in vielen Fällen
digen und homogenen Literatur zu sprechen, ist Übersetzungen aus dem Französischen darstellten.
nur für einige Epochen bzw. einzelne Strömungen Als herausragendes deutsches Werk seien hier die
der Kinder- und Jugendliteratur legitim. Wenn mit fünfbändigen Historischmoralischen Schilderungen
Blick auf einzelne Epochen bzw. Strömungen von zur Bildung eines edlen Herzens in der Jugend
einer relativ großen Nähe zur Erwachsenliteratur (1753–1764) von Johann Peter Miller genannt.
die Rede ist, dann sind in der Regel die breit ak- Vorbild Frankreich: Wie für die deutsche Litera-
zeptierte Literatur und nur in Ausnahmefällen tur überhaupt, so war auch für die deutsche Kin-
avantgardistischen Tendenzen einer Epoche ge- derliteratur Frankreich in dieser Zeit das große
meint. Vorbild. Neben den Enzyklopädien wurden die
Wochenschriften und Magazine übersetzt (so Ma-
rie Leprince de Beaumonts Magazin des enfants,
1756, deutsch 1758; darin das Feenmärchen »La
3.7.1 | Aufbruch im 18. Jahrhundert belle et la bête«). Erst 1772/73 erschien mit dem
Leipziger Wochenblatt für Kinder von Johann
Im Verlauf des 18. Jh.s bildete sich in England und Christoph Adelung die erste deutsche Kinderzeit-
Frankreich, wenig später auch in Deutschland eine schrift. Wenig später gab der Lessing-Freund
Kinder- und Jugendliteratur im heutigen Verständ- Christian Felix Weiße, ein renommierter Komödi-
nis heraus. Für die an Kinder bzw. Jugendliche endichter seiner Zeit, den Kinderfreund. Ein Wo-
gerichtete Literatur etablierte sich ein eigenes chenblatt (1775–82; Fortsetzung Briefwechsel der
Buchmarktsegment, das von der pädagogischen Familie des Kinderfreundes, 1784–92) im Stil der
wie von der literarischen Öffentlichkeit aufmerk- englischen moral weeklies heraus. Diese Zeitschrift
sam beobachtet wurde. Ab Mitte des Jahrhunderts erlangte nicht zuletzt aufgrund der zahlreich ent-
fanden die liberalen pädagogischen Ideen des eng- haltenen Kinderschauspiele europaweite Berühmt-
lischen Philosophen John Locke große Resonanz. heit. Von Weiße stammte ebenfalls die erste deut-
Sie veranlassten eine stärkere Rücksichtnahme auf sche Lyriksammlung für Kinder (Lieder für
die kindliche Auffassungsgabe. Mit Verstandesbil- Kinder, 1766), die sich freilich nicht mit den Kin-
dung und Wissensvermittlung sollte dennoch so derdramen messen konnte.
früh wie möglich begonnen werden (vgl. Brügge- Bilderenzyklopädien: Auf die Kindheitsphiloso-
mann/Ewers 1982; Wild 2008; Ewers 2010a). Bis phie Jean-Jacques Rousseaus (Émile, 1762) berie-
in die 1770er Jahre war die Kinder- und Jugendli- fen sich in Deutschland die sog. Philanthropen,
Zum Begriff die neben einer Reform des Erziehungswesens
auch eine Veränderung der Kinderliteratur beab-
Als   Kinder- und Jugendliteratur gilt epochenübergreifend die sichtigten. Deren Wortführer Johann Bernhard Ba-
Gesamtheit der an Kinder und Jugendliche adressierten Literatur. sedow wartete noch mit der Enzyklopädie Elemen-
Dieses Textkorpus wird genauer als intendierte Kinder- und Jugendlek- tarbuch für die Jugend (3 Bde, 1770), erweitert als
türe bezeichnet, worunter all die Texte zu verstehen sind, die als geeig- Elementarwerk (4 Bde, 1774), auf, die in ihrer Glie-
nete potentielle Kinder- und Jugendlektüre angesehen werden – unab- derung allerdings ganz auf das Kind als Sinneswe-
hängig davon, ob sie ursprünglich auch als potentielle Kinder- und sen ausgerichtet war, weshalb eine prachtvolle
Jugendlektüre gedacht waren. Es handelt sich teils um zur Lektüre bloß Sammlung von Kupfertafeln mitgeliefert wurde,
empfohlene, teils um für Kinder- und Jugendliche eigens publizierte deren zeichnerische Vorlagen von dem berühmten
Lektüreangebote. Zeichner Daniel Chodowiecki stammten. Einen
Unter originärer Kinder- und Jugendliteratur wird die für Kinder und weiteren Höhepunkt der Illustration für Kinder
Jugendliche eigens verfasste Literatur verstanden; sie umfasst all die stellte das zwei Jahrzehnte später publizierte
Werke, die seitens ihrer Verfasser/innen von vornherein als potentielle mehrbändige Bilderbuch für Kinder (1790–1830,
Kinder- und Jugendlektüre gedacht waren. 12 Bde) des Weimarer Verlegers Friedrich Justin
Bertuch dar.

372
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Märchenzauber
und Moderne

Robinson der Jüngere – das Evangelium der sprechen darf. In der Vorrede verkün-
Kinder: Zu den jüngeren Philanthropen gehörte det der Autor mit sichtlichem Stolz:
Joachim Heinrich Campe (1746–1818), den man »Hier spricht, wenn ichs gut gemacht
wohl als den überragendsten und zugleich mo- habe, wirklich ein Kind.«
dernsten deutschen Kinderschriftsteller des spä- Pädagogische Provinz: Der Ge-
ten 18. Jh.s bezeichnen darf. Campe schloss sich dichtband Overbecks bleibt freilich
der Rousseau’schen Auffassung an, nach der die eine Ausnahmeerscheinung. Die Phi-
Kindheit eine eigenständige Lebensphase des lanthropische Reform bindet die
Menschen darstellt. Kinder mit Wissen vollzustop- Kinderliteratur zwar an die Lebens-
fen, das ihnen erst später als Erwachsenen von welt der Kinder, sieht diese jedoch
Nutzen sein wird, verletze deren Autonomie. Die eher als Schonraum, als »pädagogi-
Kinderliteratur müsse allen Bildungsballast abwer- sche Provinz« an, in der die Erzie-
fen und sich thematisch auf das beschränken, was hungsautoritäten ihren angestamm-
für das Kind aktuell von Belang sei. »Wozu dem ten Platz und letztlich auch das
Kind eine Lehre, welche nur Erwachsene angeht?«, Sagen haben. Die Rahmenhandlung
so fragt Campe 1779. Die philanthropische Kinder- von Campes Robinson der Jüngere
literaturreform bewirkt eine Einschränkung auf mit dem Vater als Erzähler und Auto-
kindliche Belange und eine Konzentration auf die ritätsperson zugleich, aber auch die-
kindliche Lebenswelt. Ein neues Paradigma ist ge- jenige des Moralischen Elementar-
boren, das Kinderliteratur als strikt kindgemäße buchs (1782/83) des zweiten großen
Literatur definiert. In seiner durch Rousseaus philanthropischen Kinderschriftstel-
Émile angeregten Robinson Crusoe-Adaption von lers Christian Gotthilf Salzmann sind
1779/80, betitelt Robinson der Jüngere, wurde das Beispiele hierfür. Mit der philanthro-
Reformprogramm auf vorbildhafte und zugleich pischen Reform gewann die deutsche Kinderlitera- Campe: Robinson der
spektakuläre Weise umgesetzt. Es handelt sich um tur ein eigenes Profil gegenüber den französischen Jüngere (Frontispiz der
eines der erfolgreichsten deutschen Kinderbücher und (zumeist auf dem Umweg über Frankreich Ausgabe von 1779)
überhaupt, das in zahllose Sprachen übersetzt und rezipierten) englischen Vorbildern. Von diesem
bis hinein ins 20. Jh. aufgelegt wurde (122. recht- Zeitpunkt an wurde die Geschichte der europäi-
mäßige Aufl. 1923). Goethe äußerte über Campe: schen Kinderliteratur zu einem beträchtlichen Teil
»Er hat den Kindern unglaubliche Dienste geleis- in Deutschland geschrieben, von dem nun Impul-
tet; er ist ihr Entzücken und sozusagen ihr Evange- se nach Frankreich und England, aber auch nach
lium« (an Eckermann 29.3.1830). Skandinavien und Osteuropa ausgingen. Selbst die
»Vom Kinde aus«: Der Rousseau’schen Kind- jüdische Kinderliteratur Mittel- und Osteuropas
heitsauffassung entspräche eine Kinderliteratur, blieb lange Zeit der deutschen Aufklärung (und
die nicht nur von kindlichen Belangen handeln, Moses Mendelssohn) verpflichtet.
sondern auch der kindlichen Weltsicht verpflichtet
sein müsste. Sie hätte Erlebnisse und Erfahrungen
der Kinder unbeeinflusst durch die Wertvorstellun-
gen der Erwachsenen darzustellen, auf den mög- 3.7.2 | Märchenzauber und Moderne
lichst unverstellten Ausdruck kindlichen Wahr-
nehmens und Fühlens abzuzielen. Tatsächlich Eine im europäischen Kontext herausragende Posi-
wurde seit dem späten 18. Jh. immer wieder die tion bewahrte die deutsche Kinderliteratur auch
Forderung nach einer Kinderliteratur »vom Kinde für den nächsten Entwicklungsabschnitt: Die euro-
aus« erhoben, wie man um 1900 sagen wird. Ge- paweit wirksame romantische Kinderliteraturre-
wiss bedurfte es einer Vielzahl wiederholter kin- form nahm von Deutschland ihren Ausgang. Vor-
derliterarischer Reformanstrengungen, ehe diese bereitet durch Johann Gottfried Herder, trat sie in
Auffassung auf breitere Akzeptanz stieß. Unabhän- ihren programmatischen Grundsätzen in der Zeit
gig davon wartete bereits das späte 18. Jh. mit dem um 1800 hervor, nachzulesen in zerstreuten Äuße-
ersten, durchaus als antiautoritär zu bezeichnen- rungen Ludwig Tiecks und Novalis’ (vgl. Ewers
den Kinderbuch auf. Gemeint ist Christian Adolf 2008). In den ersten beiden Jahrzehnten des
Overbecks Kindergedichtsammlung Frizchens Lie- 19. Jh.s entstanden die Klassiker der romantischen
der (1781), in der sich ein kindliches lyrisches Ich Kinderliteratur: der Kinderlieder-Anhang zum drit-
auf eine für die Zeit erstaunlich freie Weise aus- ten Band von Achim von Arnims und Clemens

373
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Kurze Geschichte
der Kinder- und
Jugendliteratur

Normative Definitionen Kinderliteratur forderten. Doch verstanden sie da-


runter etwas ganz anderes. Was innerhalb der mo-
Ihre Bestimmung als   didaktische Literatur besagt, dass die Kinder- dernen Gesellschaften als Kindheitsraum ausge-
und Jugendliteratur in erster Linie Kenntnisse und Werte bzw. Verhal- grenzt worden war, stellte für die Romantiker
tensnormen vermitteln soll. nichts anderes als das Relikt eines vergangenen
Ihre Charakterisierung als   kind- und jugendgemäße Literatur besagt, Weltzustandes dar. Sich auf den kindlichen Stand-
dass sie in erster Linie auf das sprachliche Vermögen, die intellektuellen punkt stellen, hieß nun, sich zurückzuversetzen in
Fähigkeiten, den Wissensstand und die literarische Dekodierungsfähig- das archaische Zeitalter, das in Kindern noch le-
keit der kindlichen und jugendlichen Adressaten abgestimmt sein und bendig war. Es bedeutete in kinderliterarischer
womöglich auch noch deren Vorlieben und Interessen nachkommen soll. Hinsicht, auf diejenigen Dichtungsarten zurückzu-
Wer sie als   vollwertige Ausprägung von Literatur ansieht, verlangt, greifen, die eben dieser Vergangenheit entstamm-
dass die Kinder- und Jugendliteratur sich der in ihrer Zeit jeweils herr- ten. Die Romantiker erklärten die überlieferte nati-
schenden epochalen Stilformen und Dichtungsarten bedienen soll. In onale Folklore – allen voran das volkstümliche
der Regel ist damit eine Orientierung an den Darstellungskonventionen Kinderlied und das Märchen – zur einzig ange-
und Gattungsmustern der jeweiligen Hochliteratur gemeint. messenen Kinderlektüre. Dabei setzten Jacob und
Wer in ihr eine   Wiedergeburt der Volkspoesie sieht, fordert, dass die Wilhelm Grimm anfänglich alles daran, die alt-
Kinder- und Jugendliteratur sich an Dichtungsformen der Vergangen- überlieferten Dichtungen den kindlichen Rezipien-
heit orientieren, d. h. sich die sog. volksliterarischen Gattungen (Volks- ten in möglichst unveränderter Gestalt nahezu-
lied, Märchen, Sage, Legende etc.) zum Vorbild nehmen soll. bringen, diesen also nur Reime und Märchen,
Sagen und Schwänke von nachweisbar hohem
Alter darzubieten. Alle Zusätze aus jüngerer Zeit
Brentanos Des Knaben Wunderhorn (1808), Bren- galten ihnen als Verunreinigungen.
tanos Italienische Märchen nach Basile (ca. 1805– Vom Märchen zur Phantastik: Die romantischen
11), Ludwig Tiecks Märchennovelle Die Elfen Dichter glaubten dagegen, dass jedes Zeitalter, wie
(1812), die Kinder- und Hausmärchen der Brüder fern es auch den Anfängen sein mag, über eine
Grimm (1. Aufl. 1812/15, 2. Aufl. 1819), schließ- ausreichende poetische Gabe verfügte, die über-
lich die Kinder-Märchen von Contessa, Fouqué lieferten Dichtungsarten auf eine neue, schöpferi-
und E. T.A. Hoffmann (1816/17). Eine Fülle gera- sche Weise zu aktualisieren. Die spätromanti-
dezu unsterblicher Werke war in einer Zeit schen Märchennovellen stellen eine Altes und
schwerster Kriegswirren erschienen, in der auch Modernes mischende Literatur dar. Sie handeln
die literarische Produktion nahezu vollständig von einer fernen Wunderwelt, einem kindlich-
zum Erliegen kam. poetischen Dasein; doch spricht sich in ihnen
Wiederentdeckung der Folklore: Auch die Ro- auch die Gegenwart aus. Letzteres vollzieht sich
mantiker gingen von der Eigenständigkeit der in den Italienischen Märchen Clemens Brentanos,
Kindheit aus, wie auch sie eine strikt kindgemäße einer Bearbeitung einzelner Märchen Giambattis-

Beispiel Moderne Phantastik dersinn, im modernen Alltagsleben unterworfen


In E. T. A. Hoffmanns Kindermärchen Nußkna- sind. E. T.A. Hoffmann macht das Kind zum Be-
cker und Mausekönig (1816) trägt die Diesseits- wohner zweier Welten und gibt damit dessen
welt die Züge einer modernen städtischen prekärer Situation, in eine seiner Geistesart ent-
Wirklichkeit. An die Stelle des kindlichen Mär- gegengesetzte Welt hineingepflanzt zu sein, ei-
chenhelden ist eine psychologisch-realistisch ge- nen literarisch präzisen Ausdruck. Den kindli-
zeichnete kindliche Protagonistin getreten. Deren chen Leser/innen wird damit die Gelegenheit
Wunderglaube bleibt solange unbefriedigt, bis geboten, ihren Realitätssinn zu schärfen, ohne
sich die Erlebnismöglichkeit einer zweiten, einer das gleichzeitig vorhandene Vergnügen am Un-
jenseitigen Welt ergibt. Im vorübergehenden Auf- wahrscheinlichen, am Phantastischen unterdrü-
enthalt in einer solchen Jenseitswelt bzw. im cken zu müssen. Mit seinem Kindermärchen
zeitweiligen Zusammensein mit einer Jenseitsge- Nußknacker und Mausekönig ist E. T.A. Hoff-
stalt im Diesseits sind all die Einschränkungen mann zum Begründer der modernen Phantastik
und Begrenzungen aufgehoben, denen die kindli- für Kinder geworden, die freilich erst im späten
che Phantasie, insbesondere der kindliche Wun- 20. Jh. zum Durchbruch gelangen sollte.

374
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Das Kinderbuch
im Biedermeier

tas Basiles »für deutsche Kinder«, vornehmlich auf Wunderbaren mit deutlicher Reser-
der Ebene der Erzählweise; die Wahrnehmung der viertheit begegnete. Dennoch findet
hier waltenden Ironie dürfte freilich erwachsenen sich auch hier kinderliterarisch Blei-
Leser/innen vorbehalten sein. In Ludwig Tiecks bendes: allen voran die Märchenal-
Die Elfen von 1811 wird die Moderne auf der manache Wilhelm Hauffs, sodann
Handlungsebene greifbar: Tieck steigert das Ne- Märchen von Eduard Mörike (Das
beneinander von Diesseits- und Jenseitswelt zu Stuttgarter Hutzelmännchen, 1853),
einem antagonistischen Verhältnis und funktio- Gottfried Keller (Spiegel, das Kätz-
niert es um zur bildlichen Darstellung einer Gegen- chen, 1856), Theodor Storm (Der
sätzlichkeit des modernen Lebens, des Gegensat- kleine Häwelmann, 1849; Die Regen-
zes nämlich zwischen kindlichem Wundersinn trude, 1864) und Victor Blüthgen
und erwachsener Rationalität. Zusammen mit dem (Hesperiden, 1878). Zu einer Fortfüh-
Elfenmärchen Das fremde Kind (1817) von E. T.A. rung des von E. T.A. Hofmann in Nuß-
Hoffmann markiert Tiecks Märchen den Beginn knacker und Mauskönig praktizier-
der phantastischen Kindererzählung, die sich im ten modernen Erzählmusters kam es
19., mehr noch im 20. Jh. zu einer breiten Strö- in der deutschen Kinderliteratur vor-
mung auswächst und auf immer neue Weise die erst nicht; die phantastische Kinder-
Kluft zwischen der mythisch-poetischen Kinder- erzählung gelangte in Frankreich
welt und der prosaischen Erwachsenengesellschaft und England zu einer Blüte. Eine
umkreist. wichtige Vermittlerrolle dürfte hier-
Blickt man auf die deutsche Kinderliteratur der bei der Däne Hans Christian Ander-
Zeit zwischen 1770, dem Erscheinungsjahr des sen gespielt haben, der sowohl bei
Basedow’schen Elementarwerks, und 1819, dem den Grimms wie bei Tieck und
Erscheinungsjahr der zweiten, stark veränderten E. T.A. Hoffmann in die Schule ge-
Auflage der Kinder- und Hausmärchen, so finden gangen war und im europäischen
sich die grundlegenden Muster moderner, kindge- Ausland intensiv rezipiert wurde.
mäßer Kinderliteratur, wie sie bis in die heutige Antimodernismus: Größer war in
Zeit vorherrschend geblieben sind, hier bereits Deutschland die Gefolgschaft der Ge-
entwickelt und teilweise in klassischen Werken brüder Grimm. Die Zahl der im Ver-
schon ausgeprägt. lauf des 19. Jh.s erschienenen Volks-
märchen- und Sagensammlungen
für Kinder ist immens. Genannt sei-
en hier lediglich Ludwig Bechsteins
3.7.3 | Das Kinderbuch im Biedermeier (1801–60) Deutsches Märchenbuch
(1845) und Deutsches Sagenbuch (1859), die aller- J. und W. Grimm:
Mit der Wiederbelebung der literarischen Produk- dings keinerlei romantische Züge mehr aufwiesen Kinder- und Hausmärchen
tion ab Ende der 1820er Jahre hörte die Kinderli- und mit Ironie gespickt sind. Seit den Grimms war (2. Auflage 1819,
teratur in Deutschland weitgehend auf, ein Reali- in Deutschland mit solchen Ausgaben überlieferter gezeichnet von Ludwig
sierungsfeld programmatischer Absichten und Folklore eine unversöhnliche Wendung gegen jeg- Emil Grimm)
reformerischer Ideen zu sein; sie wurde mehr und liche zeitgenössische Kinderliteraturproduktion
mehr zu einem reinen Geschäft und musste sich verknüpft: Der Gegenwart gehe jegliche Fähigkeit
dabei den teilweise dezidiert antimodernen Ein- ab, eine wahrhaft kindliche Poesie hervorzubrin-
stellungen ihres Publikums anpassen (vgl. Pech gen, so dass als Kinderlektüre allein die folkloristi-
2008). Am ehesten war hiervon das Feld der Kin- sche Überlieferung in Frage komme. In der deut-
derlyrik ausgenommen. Mit den Kinderreimen, schen Kinderliteraturgeschichte ist weniger die
-liedern und -gedichten von Friedrich Rückert, moderne, sondern mehr die entschieden antimo-
Wilhelm Hey, Hoffmann von Fallersleben, Robert derne Seite der Romantik zum Zuge gekommen.
Reinick und Friedrich Güll kam es in den 1830er Illustrationskunst und literarische Verflachung:
bis 1850er Jahren zu einer Blüte deutscher Kin- Seit diesem Zeitpunkt verweigerten die Bildungs-
derlyrik aus dem Geist der Romantik. eliten jegliche produktive Auseinandersetzung mit
Märchen und Wirklichkeitssinn: In den Mär- der aktuellen Kinderliteraturproduktion, die, in Er-
chendichtungen für Kinder machte sich demge- mangelung offizieller Wertschätzung und kriti-
genüber ein Wirklichkeitssinn breit, der dem schen Ansporns, mehr denn je zum reinen Ge-

375
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Kurze Geschichte
der Kinder- und
Jugendliteratur

schäft verkam. Von den unüberschau- In Paula Dehmels Singinens Geschichten (1903; als
bar vielen moralischen, historischen, Buch 1921) trat die moderne kindliche Ich-Erzäh-
den Reise- und Abenteuererzählun- lung auf den Plan, die das Kind zum Wahrneh-
gen für Kinder aus deutscher Feder – mungs- und Wertungszentrum erhob.
von wenigen Ausnahmen wie dem Neoromantik und Jugendstil: Um die Jahrhun-
Pole Poppenspäler (1874) von Theo- dertwende entstanden die Kindergedichte von
dor Storm abgesehen – vermochten Christian Morgenstern, die gesammelt erst post-
nur wenige zu überleben. Wenn das hum erschienen sind (Klein Irmchen, 1921). Des-
Biedermeier (von den 1830er bis zum sen Nonsense-Gedichte (Galgenlieder, 1905) wer-
Ende der 1860er Jahre) dennoch als den kinderliterarisch jedoch nicht vor den 1960er
ein goldenes Zeitalter deutscher Kin- Jahren rezipiert. Auf dem Feld der Märchendich-
derliteratur gelten darf, dann ist dies tung ragen Otto Julius Bierbaums freie Pinocchio-
wesentlich das Verdienst der Illustra- Nachdichtung Zäpfel Kerns Abenteuer (1905) und
toren: z. B. von Ludwig Richter, Franz Gerdt von Bassewitz’ Kinderschauspiel Peterchens
Pocci, Theodor Hosemann, Otto Mondfahrt (1911/15) heraus. Die Jahrhundertwen-
Speckter und zahlloser anderer. Nicht de war nicht zuletzt durch eine künstlerische Er-
zufällig gehören die deutschen Kin- neuerung des Bilderbuchs geprägt, für die Ein-
derbuchklassiker des 19. Jh.s zur flüsse aus England (Walter Crane, Randoph
Gattung der Bildgeschichte: Heinrich Caldecott, Kate Greenaway) entscheidend waren.
Heinrich Hoffmann: Hoffmanns Struwwelpeter (1845), Neben Ernst Kreidolf wären hier die Künstler Carl
Struwwelpeter (1845) Carl August Reinhardts Sprechende Tiere (1854) Hofer, Karl F. E. von Freyhold wie die Österreicher
und Wilhelm Buschs (1832–1908) Max und Moritz Heinrich Lefler und Joseph Urban zu nennen.
(1865). Reformpädagogik und Großstadtliteratur: Wäh-
rend die sozialdemokratische Kinderliteratur mit
Märchendichtungen einsetzte (König Mammon
und die Freiheit von Lorenz Berg, 1878), verfassten
3.7.4 | Jahrhundertwende reformpädagogische Lehrer aus Hamburg und Bre-
und Weimarer Republik men Großstadtskizzen und -geschichten für Kin-
der im ersten Schulalter, die sich an die kindliche
Die massenhafte unterhaltende, sei es sentimentale, Erlebnisperspektive – damit an das Prinzip der
sei es sensationell-abenteuerliche Literatur für Kin- »Dichtung vom Kinde aus« – hielten, inhaltlich je-
Richard und der, für die Namen wie Gustav Nieritz und Franz doch über die Kinderwelt hinausgingen und die
Paula Dehmel: Fitzebutze Hoffmann, Sophie Wörishöffer und Karl May Großstadt, die industrielle Arbeitswelt wie auch
(1900, Illustrationen (1842–1912) stehen, geriet gegen Ende des Jahr- die sozialen Probleme der Industriegesellschaft in
von Ernst Kreidolf) hunderts in den Bann von Nationalismus, Chauvi- den Blick nahmen. Diese teils naturalistisch, teils
nismus, Kolonialismus und Militaris- impressionistisch gefärbte Kinderdichtung setzte
mus. Wie die Massenliteratur, so ein mit Ilse Frappans Hamburger Bilder für Kinder
wurde auch die Kinder- und Jugendli- (1899), Fritz Gansbergs Streifzüge durch die Welt
teratur zur ideologischen Mobilma- der Großstadtkinder (1904) und Heinrich Scharrel-
chung missbraucht. Doch wurden manns Ein kleiner Junge (1908) und erreichte in
parallel dazu neue literarische und Carl Dantz’ eindringlicher Darstellung der Lebens-
pädagogische Ansprüche an die Kin- umstände eines Arbeiterjungen in Peter Stoll
derliteratur herangetragen (vgl. Wil- (1925) einen Höhepunkt. In den großstädtischen
kending 2008; Ewers 2010b). Richard Unterschichtenmilieus waren die Lebenswelten
und Paula Dehmel erneuerten mit der der Kinder von denen der Erwachsenen noch nicht
von Ernst Kreidolf illustrierten Samm- in dem Maße abgetrennt wie in den oberen gesell-
lung Fitzebutze (1900) die deutsche schaftlichen Schichten. Von der Vergegenwärti-
Kinderlyrik. Es handelt sich hierbei gung unterschichttypischer Kindheitsmuster mit
eine impulsive, unzensierte lyrische ihrer weitreichenden Teilhabe am Erwachsenen-
Selbstaussprache des Kindes, die von leben zehrte auch der realistische, teilweise sozi-
der zeitgenössischen Kritik auf die be- alkritische Kinderroman der Jahrhundertwende
reits erwähnte Formel einer »Dich- und der Weimarer Republik; erwähnt seien Drei
tung vom Kinde aus« gebracht wurde. gute Kameraden (1908) von Gustav Falke und Hei-

376
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Nachkriegszeit
in Westdeutschland
und Österreich

Erich Kästners Welterfolg Kinder schreibenden Großstadtliteraten zuzule- Beispiel


Mit den Kinderromanen Erich Kästners (1899– gen. Durch seine Erzählungen wehen sowohl
1974) hat die deutsche Kinderliteratur die inter- der Hauch althergebrachter Erzählkunst wie
nationale Ausstrahlungskraft wiedererlangt, die auch das Fluidum der modernen Großstadt.
sie mit Campes Robinson, der Jüngere (1779/80) Kästner fügt in seinen Kinderromanen zusam-
und den Grimm’schen Kinder- und Hausmär- men, was sich im Zeitalter der Moderne eigent-
chen (1812/15; 2. Aufl. 1819) einmal besessen lich ausschließt: Pädagogik und Literatur ebenso
hatte. Kästners kinderliterarischer Welterfolg ist wie Traditionalität und Modernität. Den neben
einem subtilen Doppelspiel zu verdanken. Seine Kästner zu nennenden Walter Benjamin (z. B.
Kinderromane lassen sich zum einen als Erzie- Aufklärung für Kinder. Rundfunkvorträge, 1929–
hungsliteratur lesen, die sich in eine nicht nur 1932) und Bertolt Brecht, die auch auf dem Feld
in Deutschland starke Tradition kinderliterari- der Kinderliteratur aktiv waren, war ein ver-
scher Moralistik einfügt. Kästner ist aber zum gleichbar großer kinderliterarischer Erfolg ver-
anderen ein grandioser Geschichtenerzähler, sagt geblieben.
der es dazu noch schafft, sich den Ruf eines für

ni Jermann. Der Lebenstag eines Jungen (1929) zenden Ausweitung des Bildungswesens kommt es Kästner für Kinder
von Anni Geiger-Gog. zu einer weitreichenden Übernahme des bislang
Emil, Anton & Konsorten: Gegen Ende der Wei- auf die Ober- und die oberen Mittelschichten be-
marer Republik entwickelte sich der zumeist als grenzten modernen Kindheitsmusters durch die un-
spannende Detektiv- bzw. Kriminalgeschichte tere Mittel- wie große Teile der Unterschicht, deren
aufgezogene Großstadtroman für Kinder zu einem Kinder nun an dem zeitlich ausgedehnten Bildungs-
durchschlagenden Erfolg (vgl. Hopster 2012). Zu angebot partizipieren. Die auf alle Schichten ausge-
denken wäre hier in erster Linie an Kai aus der dehnte Langzeitverschulung führt zu einer Univer-
Kiste (1927) von Wolf Durian, Emil und die Detek- salisierung von autonomer Kindheit im modernen
tive (1928) und Pünktchen und Anton (1931) von Sinne. Der sozialkritischen Kinderliteratur des frü-
Erich Kästner sowie Das rote U (1932) von Wil- hen 20. Jh.s, deren Geschichte 1933 in Deutschland
helm Matthießen. Mit Karl Aloys Schenzingers Der ihren zwangsweisen Abschluss findet, sind in der
Hitlerjunge Quex (1932) liegt ein nationalsozialisti- Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – auf westlicher
scher Großstadtroman für Jugendliche vor. Aus Seite jedenfalls – die gesellschaftlichen Vorausset-
dem Bereich der sog. proletarischen Kinderlitera- zungen entzogen. Die großstädtischen, straßenöf-
tur wären die Kinderromane Ede und Unku (1931) fentlichen Kindheitsräume wie das Einbezogensein
von Alex Wedding (1905–66) und Erwin und Paul der Kinder in das Erwachsenenleben, in die sozia-
(1933) von Lisa Tetzner zu nennen. Letzterer wur- len Konflikte und politischen Auseinandersetzun-
de zum Ausgangspunkt der 8-bändigen Kinder- gen gehören damit der Vergangenheit an. Es setzt
Odyssee Die Kinder aus Nummer 67 (1933–46). auf kinderliterarischem Gebiet wieder eine Konzen-
Doch herrschen hier weiterhin märchenhaft-phan- tration auf Kinderweltliches ein, wobei dies für die
tastische Erzählmuster vor: Erwähnt seien Hermy- kindlichen Leser nicht-bürgerlicher Schichten histo-
nia Zur Mühlens proletarische Märchen Was Peter- risch gesehen die erste Begegnung mit der literari-
chens Freunde erzählen (1924) und Lisa Tetzners schen Inszenierung einer autonomen Kinderwelt
Hans Urian (1929). Nach der Machtergreifung der darstellt.
Nationalsozialisten wird die sozialkritische Kin-
derliteratur ins Exil verdrängt; aus der Exilproduk-
tion ragt neben Lisa Tetzners bereits erwähnter
Kinder-Odyssee vor allem Kurt Helds Abenteuerro- 3.7.5 | Nachkriegszeit in Westdeutschland
man Die rote Zora und ihre Bande (1941) heraus. und Österreich
Rückkehr zur autonomen Kinderwelt: Historisch
gesehen, sind großstädtischen kindlichen Lebens- In der Nachkriegszeit fand im westdeutschen und
räume, die die Basis des kinderliterarischen Realis- österreichischen Raum eine bislang nicht dage-
mus des frühen 20. Jh.s abgeben, zum Untergang wesene Öffnung für die Kinderliteratur anderer
verurteilt. Im Zuge der ab Mitte des 20. Jh.s einset- Nationen statt, gefördert u. a. durch die Deutsch-

377
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Kurze Geschichte
der Kinder- und
Jugendliteratur

Amerikanerin Jella Lepman, die 1948 als wachsenenfiguren zu Partnern der Kinder. Eine
UNESCO-Projekt die Internationale Jugendbiblio- provokante Infragestellung von Autoritäten, wie
thek in München gründete. Es kam ab den 1950er sie in Lindgrens Pippi Langstrumpf (1945, dt.
Jahren zu einer breiten Rezeption der Klassiker 1949) anzutreffen war, blieb freilich die Ausnah-
der phantastischen Kinderliteratur Englands me. Wir haben es dennoch mit einem kinderlitera-
und Amerikas, die teilweise schon vor 1933 über- turgeschichtlich bemerkenswerten Umschwung
setzt worden war (J. M. Barrie: Peter Pan, 1904; zu tun: Eine auf dem Grundsatz der Kindheitsau-
Kenneth Graham: The Wind in the Willows, 1908, tonomie basierende Kinderliteratur genoss mit ei-
dt. Der Wind in den Weiden; Hugh Lofting: Dr. Do- nem Mal eine breite gesellschaftliche Akzeptanz,
little, 1920 ff.; A. A. Milne: Winnie the Pooh, 1926, während gleichzeitig eine Kinderliteratur mit au-
dt. Puh, der Bär; P. L. Travers: Mary Poppins, toritären Zügen wie eine Kinderliteratur des erho-
1934 ff.; C. S. Lewis’ Narnia-Erzählungen, 1950 ff.; benen Zeigefingers in Misskredit geriet.
Mary Norton The Borrowers, 1952 ff., dt. Die Borg- Kinderliteratur der Kindheitsautonomie: Paral-
männchen; Philippa Pearce: Tom’s Midnight Gar- lel dazu wurde die prinzipielle Ablehnung originä-
den, 1958, dt. Als die Uhr 13 schlug; Pauline Clark: rer Kinderliteratur aufgegeben, wie sie für einen
The Twelve and the Genii, 1962, dt. Die Zwölf vom großen Teil der Bildungselite in Deutschland seit
Dachboden; Madeleine L’Engle: A Wrinkle in Mitte des 19. Jh.s charakteristisch war. Eine zeitge-
Time, 1962, dt. Die Zeitfalte). mäße theoretische Legitimation originärer Kinder-
Die Astrid-Lindgren-Ära: Nicht minder bedeu- literatur lieferte die Literaturwissenschaftlerin
tend war der Einfluss der skandinavischen Nach- Anna Krüger. Die anderthalb Jahrzehnte ab etwa
kriegsliteratur für Kinder, allen voran derjenigen 1955 gehören zu den produktivsten Epochen deut-
Astrid Lindgrens (1907–2002). Im Werk dieser scher Kinderliteraturgeschichte überhaupt. Hier
schwedischen Autorin fließen die verschiedenen wurde all das nachgeholt, was an Ausgestaltung
Stränge moderner Kinderliteratur zusammen: Die moderner Kinderliteratur – sowohl in ihrer reform-
reformpädagogische Linie schlägt sich in Umwelt- pädagogischen wie in ihrer romantischen Ausprä-
geschichten von der Art der Kinder aus Bullerbü gung – in Deutschland bislang versäumt worden
(ab 1947, dt. 1954) nieder. Im Unterschied zu den war. Es war die Blütezeit einer Kinderliteratur, die
Umweltgeschichten der Jahrhundertwende, die an die Erlebnisperspektive und die Weltsicht des
dem Kind die Großstadt, die Industrie, die Arbeits- Kindes anknüpft, die den kindlichen Wünschen
welt vor Augen führen, sind die Schauplätze der und Projektionen Raum gibt, die von Belehrung
Erzählungen Lindgrens nicht nur auf das Land, und Bevormundung weitgehend absieht. Wir ha-
sondern auch in eine poetische Vergangenheit ver- ben es mit einer Kinderliteratur der außerhalb der
legt. Das »Pferdezeitalter« Lindgrens stellt eine Gesellschaft angesiedelten kindlichen Freiräume
nach rückwärts projizierte Kindheitsutopie dar. zu tun.
Präsent im Lindgren’schen Werk ist aber auch die Hochzeit des Kindergedichts: Man kann ab Mit-
romantisch-phantastische Linie der Kinderliteratur te der 1950er Jahre von einer Hochphase deutscher
mit Titeln wie Mio, mein Mio (1954, dt. 1955) oder Kinderlyrik sprechen. In Anknüpfung an die Kin-
Karlsson vom Dach (1955, dt. 1956). Hier wird die derlyrik des Biedermeier und der Jahrhundertwen-
englische Tradition kinderliterarischer Phantastik de trat sie als naive kindliche Ausdruckspoesie auf,
fortgeschrieben und gleichzeitig einer Psychologi- die insofern zugleich Naturlyrik war, als allein die
sierung unterzogen. Ausgangspunkt ist die proble- Natur, vor allem die Tierwelt das kindliche Gemüt
matische Situation des Kindes in der modernen zu symbolisieren vermochten. Die Kinderlyrik die-
Gesellschaft, die eine Realisierung der Autonomie ser Epoche zeigte einerseits eine große Nähe zum
von Kindheit nur noch in der Imagination zulässt. volkstümlichen Kinderreim (Friedrich Hoffmann:
Kein erhobener Zeigefinger mehr: Es mag zu Ole Bole Bullerjahn, 1957), griff andererseits Ele-
einem nicht unerheblichen Teil dem Einfluss As- mente der modernen Erwachsenen(Natur-)lyrik
trid Lindgrens zuzuschreiben sein, dass die (be- auf (Josef Guggenmos: Lustige Verse für kleine Leu-
achtenswerte) deutsche Kinderliteratur ab Mitte/ te, 1956; Was denkt die Maus am Donnerstag,
Ende der 1950er Jahre sich auf breiter Front beleh- 1967; Christine Busta: Die Sternenmühle, 1959; Eli-
rend-autoritärer Züge weitgehend entledigte (vgl. sabeth Borchers: Und oben schwimmt die Sonne
Weinmann 2011). Sie ließ nun die Kinderwelten davon, 1965). Daneben entwickelte sich in An-
in freier Selbständigkeit und weitgehender Un- knüpfung an Erich Kästner (Das verhexte Telefon,
abhängigkeit hervortreten und machte die Er- 1932) eine komische, bisweilen moritatenhaft gro-

378
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Die neue Kinder-
und Jugendliteratur
ab den 1970er Jahren

teske Kinderlyrik, die in erster Linie von James Freiräumen, den teils exotischen Spiel- und Aben-
Krüss gepflegt wurde (Spatzenlügen, 1957; Der teuerwelten zurückgeholt und ins wirkliche Leben
wohltemperierte Leierkasten, 1961). Krüss förderte gestellt, wo sie für ihre Grundrechte eintreten soll-
zugleich die Nonsense-Poesie und das lyrische ten. Man nahm sie ernst, eröffnete ihnen Entschei-
Sprachspiel, die jedoch erst ab Mitte/Ende der 60er dungsspielräume, respektierte ihre Entschlüsse,
Jahre Konjunktur hatten (Hans A. Halbey: Pampel- gewährte ihnen Mitsprache und Mitbestimmung,
musensalat, 1965; Jürgen Spohn: Der Spielbaum, sah in ihnen nicht mehr Befehlsempfänger, son-
1966; Michael Ende: Das Schnurpsenbuch, 1969; dern Verhandlungspartner.
Josef Guggenmos: Gorilla, ärgere dich nicht, 1971). Auflehnung gegen Autoritäten: In der soge-
Kinderliterarische Erzählkunst: Auf epischen nannten »antiautoritären Kinderliteratur« (ca.
Gebiet ragte zunächst James Krüss heraus, der mit 1968–72) waren es die Kinder selbst, die sich all
seinen Helgoländer Erzählzyklen (Der Leuchtturm dies gegen teilweise erbitterten, teilweise hilflosen
auf den Hummerklippen, 1956; Mein Urgroßvater Widerstand der Erwachsenen, der Väter vor al-
und ich, 1959) an die Tradition althergebrachter lem, erkämpften, wofür Christine Nöstlingers Kin-
Erzählkunst anknüpfte. Neben ihn trat Otfried derroman Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972)
Preußler, dessen literarische Kindermärchen und ein herausragendes Beispiel ist. Die Kinder wur-
Kasperlgeschichten (Der kleine Wassermann, 1956; den zu Bewohnern der Wirklichkeit, die keinerlei
Die kleine Hexe, 1957; Der Räuber Hotzenplotz, idyllische Züge mehr aufwies. »Wir lassen unsere Preußler: Das kleine
1962; Das kleine Gespenst, 1966) zu international Kinder«, so Ursula Wölfel, »nicht nur auf sonni- Gespenst (1966)
erfolgreichen Kinderbuchklassikern aufstiegen, gen Spielplätzen und in hellen Klassenzimmern
was ebenso für die Jim-Knopf-Erählungen (1960– fröhlich sein. Sie leben mit den Erwachsenen in
62) Michael Endes galt. Zeitverhafteter – und heu- einer Welt voller Konflikte und Disharmonien«.
te nahezu vergessen – sind demgegenüber die rea- Ihre wegweisende Kurzgeschichtensammlung Die
listischen Kindererzählungen dieser Zeit (Heinrich grauen und die grünen Felder (1970) konfrontierte
M. Denneborg: Jan und das Wildpferd, 1957; Ursu- die kindlichen Leser/innen mit der Vielzahl sozia-
la Wölfel: Der rote Rächer, 1959; Feuerschuh und ler und politischer Probleme – auf die Gefahr hin,
Windsandale, 1961) wie auch die Abenteuerlitera- deprimierend zu wirken.
tur (Kurt Lütgen: Kein Winter für Wölfe, 1951) und Problemliteratur: Damit wurden auch die exis-
der geschichtliche Roman für Kinder (Hans Bau- tentiellen Probleme der Erwachsenen zum Thema
mann: Der Sohn des Kolumbus, 1951). In den der Kinderliteratur: Beziehungsprobleme der El-
1960er Jahren kam es zu ersten Versuchen einer tern, Scheidung, Emanzipationsstreben und Be-
kritischen Aufarbeitung der deutschen Geschichte, rufstätigkeit der Mutter, Arbeitslosigkeit des Vaters,
insbesondere der des ›Dritten Reichs‹ (Hans Peter Aggressivität, Alkoholismus und andere Suchter-
Richter: Damals war es Friedrich, 1961; Hans Georg scheinungen, schließlich Behinderung, Krankheit
Noack: Stern über der Mauer, 1962). und Tod der Großeltern, um nur einige dieser neu- Ende: Jim Knopf und Lukas
en Themen zu nennen. Genannt seien hier Peter der Lokomotivführer (1960)
Härtlings Kinderromane Das war der Hirbel (1973),
Oma (1975) und Fränze (1989) sowie die Kinderro-
3.7.6 | Die neue Kinder- und Jugend- mane des Norwegers Tormod Haugen Die Nachtvö-
literatur ab den 1970er Jahren gel (1975, dt. 1978) und des Niederländers Guus
Kuijer Erzähl mir von Oma (1978, dt. 1981).
Für die Kinderliteratur des westlichen deutschen Psychologisierung: Ernst genommen wurde
Sprachraums (einschl. Schweiz und Österreich) auch das Innenleben von Kindern. Ihre Gefühle,
begann Ende der 1960er Jahre ein neues Zeitalter ihre Träume und Ängste gelangten ungeschminkt
(vgl. Ewers 1995). Der Kinderliteratur der voraus- zur Darstellung. Die Mündigkeitserklärung forder-
gegangenen Epoche ging es um die Konstruktion te und belastete die Kinder psychisch in erhebli-
von Kindheit als einer autonomen Gegenwelt. In chem Maße, und so nimmt es nicht Wunder, dass
den kindlichen Frei- bzw. Spielräumen waren die ihr Innenleben unausgeglichen, angespannt und
(Markt-)Gesetze der Leistungsgesellschaft suspen- zerklüftet wurde. An die Stelle des unbekümmer-
diert. Die neue Kinderliteratur ab 1970 war eine ten, gänzlich extrovertierten und überwiegend
Literatur der kindlichen Gleichberechtigung; sie heiter-ausgeglichenen kindlichen Gemüts aus der
reklamierte die allgemeinen Menschenrechte nun vorangegangenen Kinderliteraturepoche war das
auch für die Kinder. Die Kinder wurden aus den introvertierte, das eigene zerrissene Innenleben

379
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Kurze Geschichte
der Kinder- und
Jugendliteratur

bewusst reflektierende Kind getreten, das sein In- zes auf einen Personenstand, der hiervon bislang
neres mit aufgeschnappten Begriffen der Psycholo- ausgeschlossen war. Diese Gemeinschaftlichkeit
gie schon in Ansätzen zu beschreiben wusste. Bei- von Kindern und Erwachsenen ergibt sich nicht
spiele hierfür sind Peter Härtlings Benn liebt Anna mehr aus einem generationsübergreifenden Klas-
(1979), Gudrun Mebs Das Sonntagskind (1983) senschicksal, sondern einem abstrakten Egalitäts-
und Christine Nöstlingers Olfi Obermeier und der verhältnis, der abstrakten Gleichheit nämlich mün-
Ödipus (1984). Auch die nachfolgenden Jahrzehn- diger Subjekte. Die Kinderemanzipationsideologie
te warteten mit psychologischen Romanen auf, in der 70er Jahre ist – allemal in ihren extremen Aus-
welchen das innere Geschehen dominierte und die prägungen – mittlerweile selbst historisch gewor-
thematisch um Ich-Stabilisierung und Selbstfin- den. In ihren grundlegenden Intentionen jedoch
dung kreisten. Genannt seien hier nur Kirsten dürfte sie durch eine reale Veränderung von Kind-
Boies Mit Kindern redet ja keiner (1990) und Re- heit eine dauerhafte Fundierung und Absicherung
nate Welshs Drachenflügel (1993). Dabei ging es erfahren haben.
auch um problematische familiäre Konstellatio- Wiederannäherung der Lebensalter: Über die-
nen, die Risiken für die kindliche Entwicklung be- sen allerjüngsten Wandel kindlicher Lebenswelten
inhalteten. So gelangte schließlich auch körperli- besteht innerhalb der Sozialwissenschaften keines-
cher und sexueller Missbrauch von Kindern und wegs Konsens, doch ist auffallend häufig von einer
Jugendlichen in der Familie zur Darstellung, wofür Wiederannäherung der Lebensalter die Rede – und
Heidi Hassenmüllers Gute Nacht Zuckerpüppchen zwar beiderseitig, d. h. Vorverlagerung traditionell
(1989) ein viel beachtetes Beispiel war. erwachsener Eigenschaften und Verhaltensweisen
Radikaler Stilwandel: Zur Gleichberechtigung in das Jugend- und Kindesalter wie Konservierung
gehört schließlich auch das Anrecht der Kinder auf kindlicher bzw. jugendlicher Züge im Erwachse-
eine Literatur, die sich von der der Erwachsenen nenalter –, was Veranlassung gäbe, von einer Wie-
nicht prinzipiell unterscheidet. Die neue Kinderli- deraufhebung der historischen Trennung in ver-
teratur seit den 1970er Jahren bemühte sich um schiedene, relativ autonome Lebenswelten zu
eine dezidiert erwachsenenliterarische Stilistik. sprechen. Bei der Aufhebung traditioneller Wis-
Neben dem Imperativ, von Kindern als Menschen sensgrenzen, die den Unterschied zwischen Kind-
zu handeln, trat der weitere, für Kinder im Prinzip heit und Erwachsenenstatus ganz wesentlich (mit-)
nicht anders als für Erwachsenen zu schreiben. begründeten, spielten das Fernsehen, später das
Den hier stattfindenden Stilwandel darf man als Internet eine entscheidende Rolle. Sie haben die
Weitreichender einen weitreichenden Traditionsbruch bezeichnen. Zugangsbarrieren zu einer Fülle von Wissensberei-
Traditionsbruch Die Werke der neuen Kinderliteratur ab 1970 wa- chen soweit herabgesenkt, dass bereits Kinder an
ren stilistisch auf den ersten Blick nicht mehr als politischen, sozialen, psychologischen, sexuellen
Literatur für Kinder erkennbar. Die lyrischen Texte etc. Diskursen teilhaben konnten, die zu führen
etwa einer Susanne Kilian, einer Christine Nöstlin- bislang ein Privileg der Erwachsenen war.
ger oder des Schweizers Hans Manz erinnerten
in nichts mehr an das traditionelle Kindergedicht,
das am Liedcharakter, am Reim und an stro-
phischer Gliederung festhielt. Gebrochen wurde 3.7.7 | Jüngste Entwicklungstendenzen
ebenso mit den Traditionen kinderliterarischen
Geschichtenerzählens. Die neue epische Kinder- In den 1990er Jahren öffnete sich der psychologi-
literatur seit den 1970er Jahren rückte in formaler sche Kinderroman für komische Elemente. In den
und stilistischer Hinsicht dem modernen Roman Blick gerieten nicht mehr nur die Risiken familiä-
nahe und übernahm teilweise dessen komplexe ren Zusammenlebens; es wurden nun auch die
Darstellungstechniken. Wir stoßen auf die mo- Chancen des neuen Familientyps, der sog. Ver-
derne Ich-Erzählung, das personale Erzählen, die handlungsfamilie, wahrgenommen. Beispiele für
erlebte Rede, die Technik des inneren Monologs den sog. tragikomischen Familienroman sind Kirs-
und des Bewusstseinsstroms, auf Formen wie ten Boies Nella-Propella (1994) und Christine
Montage und dokumentarische Collage. Nöstlingers Einen Vater hab ich auch (1994). Ins-
Kindheitsverständnis: Seit den 1970er Jahren ist gesamt kam es zu einer Wiederbelebung tradi-
kinderliterarisch eine erneute Gemeinschaftlichkeit tionsreicher komischer Literaturgattungen,
von Kindern und Erwachsenen erreicht. Sie ergibt insbesondere des Pikaro- oder Schelmenromans
sich aus der Übertragung des Gleichheitsgrundsat- (Helmut Sakowski: Wie brate ich eine Maus, 1993;

380
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Plurimedialität
und Medienverbund

Prinzessin, wir machen die Fliege, 1993) und der die schwierigeren Werke wie z. B. Michael Endes
Lausbubengeschichte (Anders Jacobsson/Sören Unendliche Geschichte (1979) oder Philip Pullmans
Olsson: Berts gesammelte Katastrophen, schwed. His Dark Materials-Trilogie (1995–2000; dt.
1987, dt. 1987; Bjarne Reuter: So einen wie mich 1997 ff.) aus Jugendbuchverlagen. Die Fantasy
kann man nicht von den Bäumen pflücken, sagt wurde deshalb zur All-Age- oder Crossover-Litera-
Buster, dän. 1979, dt. 1986; Dagmar Chidolue: An- tur par exellence ausgerufen (vgl. Ewers 2011b).
ton Pochatz. Klassenclown, 1989). Eine weitere Grundlegender Themenwandel: Der Aufstieg der
Veränderung stellte die Rückkehr von idyllischen Fantasy zur Leitfigur kindlicher und jugendlicher
Naturschilderungen dar, die ihrerseits eine Synthe- Freizeitlektüre markierte einen bedeutsamen Ein-
se mit dem Daseinsernst von Kindheit eingingen schnitt. Man darf hier von einem weitreichenden
und insofern beschädigte oder gebrochene Idyllen kinder- und jugendliterarischen Themenwandel
darstellten. Schlüsseltexte für die gebrochene Idyl- sprechen. Zwar hält die Harry Potter-Serie mit ihren
lik waren die Eddie-Romane der Schwedin Viveca Muggel-Familien- und Internatsszenen kinderlitera-
Sundvall (Eddie und Maxon Jaxon, schwed. 1991, turtypischen Stoffen noch die Treue, doch geht es,
dt. 1992; Alles wegen Valentino, schwed. 1992, dt. je mehr der Kampf gegen Lord Voldemort und des-
1993; Johanna, die beste Freundin der Welt, sen Vasallen ins Zentrum rückt, um Fragen der
schwed. 1993, dt. 1994). Weltordnung und Weltherrschaft. Auch als Ju-
Poetischer Realismus: Man kann hier von einer gendlektüre ist die Fantasy keine Kindheit und Ju-
Lockerung der strengen kinderliterarischen Grund- gendalter thematisierende Dichtung. Mit ihrer Aus-
sätze der 1970er und frühen 1980er Jahre spre- breitung auf dem kinder- und jugendliterarischen
chen. Die Kinder- und Jugendliteratur bemühte Feld wurden Kindheits- und Jugendthemen durch
sich jetzt um einen Ausgleich zwischen Da- allgemeine, altersübergreifende Themen ersetzt.
seinsernst und Problementbundenheit, zwi- An die Stelle von psychologisch-realistischen Kin-
schen Besorgtheit und zeitweiliger Unbeschwert- der- und Jugendfiguren traten – seien es kindliche,
heit, zwischen realitätsbezogener Nüchternheit jugendliche oder erwachsene – Heroen- und Herr-
und phantasievoller Ausschweifung (vgl. Ewers scherfiguren, Fabelwesen und mythische Gestalten.
1995). Damit wurde die Mündigkeitserklärung der Es ging nicht mehr um die Bewältigung altersspezi-
Kinder, die die Kinderliteraturreform der 1970er fischer Probleme, sondern um die Abwehr und Nie-
Jahre durchsetzen konnte, nicht grundsätzlich in derwerfung feindlicher Mächte, um die Rettung der
Frage gestellt, auch wenn nun Unbeschwertheit Erde vor Invasoren, um den Kampf gegen die Zer-
(im Sinne einer Lockerung des Gebots, sich in je- störung unserer natürlichen Lebensgrundlagen
der Situation als autonomes Subjekt zu verhalten) durch feindliche Mächte, gegen die von Menschen
zeitweilig wieder zugelassen wurde. Im Kinderro- verursachten Umweltkatastrophen etc. (vgl. Ewers
man der 1990er Jahre fand eine Weiterentwick- 2011a). Fantasy verschafft der permanenten Krisen-
lung des sozialkritischen und psychologischen hin und Katastrophenstimmung unserer Zeit Aus-
zu einem poetischen Realismus statt, wie man ihn druck und erweist sich damit als ein eminentes
bspw. in den Werken von Ulf Nilsson antrifft Zeitphänomen. Freilich zeigt sich hier eine Ambiva-
(Wenn ich doch nur fliegen könnte, schwed. 1987, lenz: Fantasy schlägt aus der zeittypischen Katas-
dt. 1988). trophenstimmung insofern Kapital, als sie daraus
Fantasy als Crossover-Literatur: Das an ältere eine Form der Unterhaltung, des Kitzels, des Thrills
Kinder und an Jugendliche gerichtete Programm- macht. Sie verbreitet darüber hinaus Illusionen, in-
angebot der Kinder- und Jugendbuchverlage wur- dem sie – hierin der Heldendichtung alter Zeiten die
de seit Ende der 1990er Jahre von Fantasy-Roma- Treue wahrend – nur zu oft ausgewählten Einzel-
nen dominiert. Verantwortlich hierfür dürfte zu nen zutraut, die Welt zu retten.
einem Gutteil die weltweit erfolgreiche Harry Pot-
ter-Serie (1997–2007; dt. 1998–2007) von Joanne
K. Rowling gewesen sein. Bei diesen Angeboten
zeigt sich kein grundlegender Unterschied zu 3.7.8 | Plurimedialität und Medien-
Fantasy-Titeln aus anderen Verlagsbereichen. Die verbund
Unterscheidung von jugend- und erwachsenenli-
terarischer Fantasy hängt heutzutage nahezu aus- Seit ihren Anfängen zeichnete sich die Kinderlite-
schließlich davon ab, in welchem Verlag ein Werk ratur durch eine Verknüpfung von Schrift und Bild Rowling: Harry Potter und
publiziert worden ist. Paradoxer Weise kommen aus. Von den ABC-Büchern mit ihren Buchstaben- der Stein der Weisen

381
3.7
Kleine Literaturgeschichte
Kurze Geschichte
der Kinder- und
Jugendliteratur

bildern über Bilderenzyklopädien in der Folge des bögen und Bildgeschichten; in jüngster Zeit haben
Orbis sensualium pictus (1658) von Johann Amos wir es – wie im Fall von Kästners Kinderromane –
Comenius, die Bilderbögen und Bildgeschichten mit Comicversionen von Kinderliteraturklassikern
des 19. Jh.s bis hin zum modernen Bilderbuch zu tun, die auch als Graphic Novel auftreten. Eine
zieht sich eine Linie enger Verschränkung von große Rolle spielten im 20. Jh. die Verfilmungen
Schrift- und Bild, die gestützt wird durch die An- von Kindererzählungen und -romanen, an deren
nahme, dass sich Kinder durch anschauliches Anfang die Verfilmung von Emil und die Detektive
Denken auszeichnen. Kindererzählungen und -ro- (1931) stand und die mit den Lindgren-Verfilmun-
mane weisen bis auf den heutigen Tag Illustratio- gen einen ersten Höhepunkt erreichten (vgl. Metz-
nen auf, was bis Mitte des 20. Jh.s auch für Ju- dorf 2011). Daneben ist die Umsetzung von Kinder-
genderzählungen und -romane gegolten hat. Erst literaturklassikern in Zeichentrickserien für das
der moderne Jugendroman verzichtet in Anglei- Fernsehen getreten (Die Biene Maya, Japan 1975 ff.,
chung an erwachsenliterarische Gepflogenheiten dt. 1976 ff.). Mittlerweile lernen Kinder die ein-
auf illustrative Beigaben. Was die Kinderlyrik an- schlägigen Literaturangebote zuerst, wenn nicht gar
geht, so bleibt sie in stärkerem Maße als die Er- ausschließlich, in medialen Adaptionen kennen. In
wachsenenlyrik liedhaft und wird oft mit Noten- mehr und mehr Fällen erfahren die für das Fernse-
satz publiziert. Es darf als eine durchgehende hen produzierten Kinder- oder Jugendserien eine
Besonderheit der Kinder- und Jugendliteratur gel- nachträgliche ›Verbuchung‹, für die sich der aus
ten, dass es sich bei ihr um eine plurimediale dem Englischen stammende Begriff der Noveliza-
Kommunikationsform handelt. tion eingebürgert hat. Eine neue Stufe des Crossme-
Mediale Adaptionen: Die Kinder- und Jugendli- dialen ist dort erreicht, wo Angebote von vornher-
teratur ist darüber hinaus durch eine reichhaltige ein in mehreren Mediengattungen geplant und
Praxis medialer Adaptionen gekennzeichnet. Vom realisiert werden, und zwar als Kinofilm, als Fern-
18. Jh. an wurden zahlreiche Kindererzählungen sehserie, als Graphic Novel, als Buchserie und als
und Märchen für die Bühne, ab dem 19. Jh. auch für Computer-Spiel. Hier wird von Medienverbundan-
das Kasperl- und Marionettentheater adaptiert. Um- geboten gesprochen, die Ausdruck einer umfassen-
setzung erfuhren sie ebenfalls in Form von Bilder- den Medienkonvergenz sind.

Literatur
Brüggemann, Theodor/Ewers, Hans-Heino (Hg.): Kinderbuch? Gegenwart und Zukunft der Literatur für
Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750 bis junge Leser. Wiesbaden 2011b, S. 13–22.
1800. Stuttgart 1982. – : Literatur für Kinder und Jugendliche. München 22012.
Brunken, Otto u. a. (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Heidtmann, Horst: Kindermedien. Stuttgart 1992.
Jugendliteratur. Von 1800 bis 1850. Stuttgart/Weimar Hopster, Nobert (Hg.): Die Kinder- und Jugendliteratur in
1998. der Zeit der Weimarer Republik. 2 Teile. Frankfurt a. M.
– (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 2012.
1850 bis 1900. Stuttgart/Weimar 2008. Metzdorf, Ragna: Stilwandel des Kinderfilms. 1960er bis
Ewers, Hans-Heino: »Themen-, Formen- und Funktions- 1980er Jahre. Frankfurt a. M. 2011.
wandel der westdeutschen Kinderliteratur seit Ende Pech, Ulrich: Vom Biedermeier zum Realismus. In: Wild
der 60er, Anfang der 70er Jahre«. In: Zeitschrift für 2008, S. 131–170.
Germanistik N. F.5 2 (1995), S. 257–278. Steinlein, Rüdiger u. a. (Hg.): Handbuch zur Kinder- und
– : »Romantik«. In: Wild 2008, S. 96–130. Jugendliteratur: SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990. Stuttgart/
– : »Aufklärung und Kinderliteratur«. In: Ders.: Erfahrung Weimar 2006.
schrieb’s und reicht’s der Jugend. Geschichte der Wild, Reiner (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und
deutschen Kinder- und Jugendliteratur vom 18. bis zum Jugendliteratur. Stuttgart/Weimar 32008.
20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 2010a, S. 17–51. – : »Aufklärung«. In: Ders. 2008, S. 43–95.
– : »Kinder- und Jugendliteratur von der Gründerzeit bis Weinmann, Andrea: »Geschichte der Kinderliteratur der
zum Ersten Weltkrieg«. In: Ders.: Erfahrung schrieb’s Bundesrepublik nach 1945«. In: Günter Lange (Hg.):
und reicht’s der Jugend. Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein
Kinder- und Jugendliteratur vom 18. bis zum 20. Jahr- Handbuch. Baltmannsweiler 2011, S. 13–57.
hundert. Frankfurt a. M. u.a 2010b, S. 163–205. Wilkending, Gisela: »Vom letzten Drittel des 19. Jahrhun-
– : »Fantasy – Heldendichtung unserer Zeit. Versuch einer derts bis zum Ersten Weltkrieg«. In: Wild 2008,
Gattungsdifferenzierung«. In: Zeitschrift für Fantastik- S. 171–240.
forschung 1 (2011a), S. 5–23. Hans-Heino Ewers
– : »Von der Zielgruppen zur All-Age-Literatur. Kinder- und
Jugendliteratur im Sog der Crossover-Vermarktung«.
In: Christine Haug/Anke Vogel (Hg.): Quo vadis

382
4.1
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse

4 Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse


4.1 Einleitung
4.2 Erzählende Literatur
4.3 Lyrik
4.4 Drama

4.1 | Einleitung
4.1.1 | Gattung als Ordnungs- gen, die sich nur für ganz bestimmte Aspekte des
und Klassifikationsbegriff je einzelnen Textes interessieren. Gattungen kön-
nen verschiedene Allgemeinheitsgrade bzw. unter-
Gattungsbegriffe gehören wie Epochenbegriffe zu schiedliche interne typologische und/oder ge-
einem uns sehr vertrauten zentralen Instrumenta- schichtliche Differenzierungen bezeichnen: Neben
rium der Literaturwissenschaft. Es sind abstrakte, den sogenannten drei Großgattungen, Epik, Dra-
kulturell und historisch geprägte Allgemeinbegrif- matik, Lyrik, werden auch weiter spezifizierte
fe, die uns helfen, die Vielzahl literarischer Phäno- Untergattungen unterschieden, wie z. B. Roman –
mene systematisch zu ordnen, zu klassifizieren Historischer Roman, Tragödie – bürgerliches Trau-
und für eine gewisse Übersicht im Chaos des Text- erspiel, Sonett – Liebessonett.
universums zu sorgen. Die Kriterien, die sie uns Gattungsbegriffe reduzieren Vielfalt also prinzi-
für die Systematisierung der Literatur zur Verfü- piell auf wenige, ausgewählte Kriterien, die als do-
gung stellen, spiegeln zugleich ein bestimmtes Li- minante, eben typische Merkmale Geltung bean-
teraturverständnis. spruchen. So blendet die Gattungsbezeichnung der
Textgruppe ›bürgerliches Trauerspiel‹ das breite
Definition Spektrum ganz unterschiedlicher Texte und deren
individuelle Eigenheiten aus und richtet den Fokus
  Gattung (lat. genus) ist eine Ordnungska- auf wenige, gemeinsame Merkmale wie z. B. das
tegorie. Sie steht für eine Textgruppe, die bürgerliche Personal und sein Tugendethos. Diese
eine Schnittmenge von Ähnlichkeiten auf- Kriterien funktionieren auch zugleich nach außen
weist. Das können je nach Erkenntnisinter- als Unterscheidungskriterien, indem sie etwa die
esse oder theoretischen Vorgaben u. a. Differenz zwischen bürgerlichem Trauerspiel und
Inhalte und/oder Formen, Verfahren oder barocker Tragödie markieren oder im tragischen
Funktionen der Texte sein. Konflikt die Unterscheidung von der Komödie.
Gattungen als theoretisches Problem: So brauch-
bar und unverzichtbar Gattungen in ihrer typisie-
Beschränkt sich die Verwendung des traditionellen renden Funktion auch sind, um Überblick und Zu-
Begriffs ›Gattung‹ im engeren Sinne auf die Eintei- sammenhang zu stiften, Ordnungen und Strukturen
lung literarischer Texte in systematischer und his- zu beschreiben, die Produktion und Rezeption lite-
torischer Hinsicht, so ist seit den 1960er Jahren rarischer Texte zu prägen, so ist doch auch die pro-
auch der aus der Textlinguistik stammende Begriff blematische Kehrseite einer Reduktion von Kom-
der ›Textsorte‹ als Klassifikationsbegriff für nicht- plexität im Blick auf die literarischen Phänomene
literarische (Sachtexte), aber auch literarische Tex- zu bedenken: Gattungsbegriffe konstruieren eine
te gebräuchlich. Um Gattungsstrukturen mit unter- sehr grob gerasterte ›Karte‹ der literarischen Land-
schiedlicher Geltungsdauer zu beschreiben, hat schaft, die das Besondere, Unvergleichliche igno-
sich ebenfalls der Begriff ›Schreibweise‹ für histo- riert und verstellt sowie die Vielschichtigkeit und
rische Invarianten (wie z. B. das Narrative, das Dynamik der Literatur nicht abbildet, sondern ten-
Dramatische) in Abgrenzung von einem engeren denziell normierend eingrenzt.
Gattungsbegriff eingebürgert (vgl. Hempfer 2007).
Gattungen als typisierende Ordnungsmuster: »Sobald man das Wort ›Gattung‹ vernimmt, sobald es er-
Gattungsbegriffe sind typisierende Zuschreibun- scheint, sobald man versucht es zu denken, zeichnet sich

383
4.1
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Einleitung

eine Grenze ab. Und wenn sich eine Grenze herausbildet, N Zwischen Regel und Regelbruch: Bereits dieses
dann lassen Norm und Verbot nicht auf sich warten […]« Beispiel zeigt, dass der je einzelne Text bestehende
(Derrida 1994, S. 248).
Gattungsmuster sowohl bestätigt als auch zugleich
modifiziert, bis hin zum subversiven oder offenen
Die Frage der Gattungsgrenzen: Fragen wir nach Bruch mit ihren Vorgaben (besonders in der literari-
der Identität einer Gattung (also nach ihren spezi- schen Moderne). Gattungen verändern sich dem-
fischen Eigenschaften), so müssen wir bedenken, entsprechend fortlaufend. Als Exemplar einer Gat-
dass sie Grenzziehungen voraussetzt, die sie als tung hat der einzelne Text mit dem Regelbruch eine
Gattung überhaupt erst hervorbringen – z. B. eine potentiell paradoxe Funktion. Das gilt besonders
Grenze zwischen Komödie und Tragödie –, und z. B. für die Genie-Ästhetik, die mit der Forderung
dass diese Grenzen potentiell aber auch immer von Originalität den Regelbruch einfordert.
überschritten werden können, wie es etwa die Phä- N Prototypen: Als historische Prototypen, die den
nomene der Mischgattungen wie Tragikomödie etablierten Gattungskanon innovativ verändern,
(z. B. Gerhart Hauptmann: Die Ratten), das epische können einzelne Texte ein Gattungsmuster norm-
Theater Brechts, Prosagedicht (z. B. Johannes bildend prägen, z. B. Daniel Defoes Robinson Cru-
Schlaf: Frühling) oder lyrisches Drama (z. B. Hugo soe (1719) die sogenannten Robinsonaden, Goe-
von Hofmannsthal: Der Tor und der Tod) bezeugen. thes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) die
Im Grunde genommen entwickeln sich aus der Gattung des Bildungsromans.
›Reinheit‹ von Gattungen Unmöglichkeit, ›Reinheit‹ von Gattungen in der N Integration verschiedener Gattungen: Ein sol-
in der Praxis unmöglich literarischen Praxis einzuhalten, immer neue Gat- cher Fall liegt bereits im Briefroman vor (Einbet-
tungen, die auch den literarischen Gattungskanon tung der Gattung Brief in den Romankontext) und
mit der Erweiterung des Literaturbegriffs (s. Kap. hat eine neue, hybride Gattung begründet. Alfred
III.1.2.1) innovativ verändern. Gattungsmischun- Döblins Roman Berlin Alexanderplatz ist z. B. ein
gen, man spricht auch von hybriden Gattungen, Roman, der gleich eine ganze Palette an Textmate-
können z. B. auch die Vermischung von Fakt und rial aus unterschiedlichen Gattungen zusammen-
Fiktion betreffen, wenn z. B. dokumentarisches fügt (u. a. durch die Aufnahme von Bibelzitaten,
Material in einen Roman integriert wird (z. B. Hans Schlagertexten, Volksliedern, amtlichen Bekannt-
Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der An- machungen, Zeitungsmeldungen, Werbetexten
archie). Die Grenzüberschreitung zwischen ver- etc.). Insofern kann man von einem Montagero-
Grenzüberschreitung schiedenen Medien und Künsten bringt ebenfalls man sprechen.
zwischen Medien hybride Formen (z. B. Bildgedicht, Comic; die Re- Textinterpretation: Gattungszuweisungen (z. B.
und Künsten portage an der Schnittstelle von Journalismus und über sog. Paratexte, s. Kap. III.1.3.2) geben uns ei-
Literatur) hervor. Und so entstehen im Zuge der nerseits eine erste entscheidende Orientierung für
Entwicklung audiovisueller und digitaler Medien die Textdeutung, da Gattungskonventionen auch
u. a. Hörspiel, Drehbuch und Internet-Roman. jeweils einen bestimmten Erwartungshorizont für
Der einzelne Text als Exemplar: Eine nie endgül- die Rezeption implizieren (z. B. die Katastrophe in
tig zu klärende Frage betrifft auch die Zugehörig- der Tragödie); andererseits sind sie immer zugleich
keit eines Textes zu einer Gattung: auch das Resultat von Interpretationen. Sie geben
N Das Problem der Zuordnung: So kann, je nach uns nicht Auskunft über die objektive Beschaffen-
Kriterium, ein einzelner Text auch verschiedenen heit ihrer Gegenstände (sind also nicht ›wahr‹ oder
Gattungen zugeordnet werden. Goethes Roman ›falsch‹), sondern rufen mögliche Kontexte eines
Die Leiden des jungen Werther kann z. B. sowohl Textes auf und formulieren Angebote, die stets der
als Briefroman wie auch als empfindsamer Liebes- Prüfung bedürfen. Solchermaßen funktionieren
roman oder Adoleszenzroman gelesen werden. Er Gattungszuweisungen als Sinnzuweisungen für
wird dabei jeweils mit anderen Vergleichstexten die Interpretation literarischer Texte. Sie lenken un-
(der jeweiligen Gattung) in Verbindung gebracht sere Aufmerksamkeit selektiv auf ganz bestimmte
und demzufolge auch in unterschiedliche Gat- Eigenschaften eines Textes (z. B. erwarten wir in
tungstraditionen eingeordnet. Neben Ähnlichkei- einer Komödie Komik). Dabei kann sich gerade
ten, die Goethes Roman z. B. mit anderen Briefro- auch die Nichteinlösung des Erwartbaren als be-
manen aufweist, wird man ebenso Unterschiede deutungsstiftend für die Interpretation erweisen
finden, etwa, dass der Werther nicht vielstimmig in (etwa die irritierende Gattungsbezeichnung ›Komö-
Briefwechseln erzählt, sondern fast ausschließlich die‹ in J. M.R. Lenz’ Drama Der Hofmeister, das ei-
monologisch. gentlich wie ein Trauerspiel funktioniert). Und je

384
4.1
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Gattungen und
(Literatur-) Geschichte

nachdem, welcher Gattung wir ein und denselben 4.1.2 | Gattungen und (Literatur-)
Text in unserer Lektüre zuordnen, verschiebt sich Geschichte
unsere sinnzuweisende Aufmerksamkeit in dessen
Interpretation (lesen wir z. B. Irmgard Keuns Ro- Dass Gattungskonventionen verändert, subversiv
man Das kunstseidene Mädchen als Großstadt- unterlaufen oder gar verworfen werden, dafür lie-
roman oder als Bildungsroman). fert uns die Literaturgeschichte zur Genüge Bei-
Aus diesen interpretatorischen Spielräumen der spiele. Es gibt mithin keinen stabilen, abgeschlos-
Gattungszuweisung können wir grundsätzlich den senen, überzeitlich gültigen Gattungskanon, da
Schluss ziehen, dass Gattungen signifikante Mittel literarische Gattungen eben kulturelle und histo-
der poetologischen Selbstreflexion (s. Kap. III.1.2) rische Phänomene sind und als Formen der Lite-
eines literarischen Textes sind, indem er sich – wie ratur immer mit ihrer Zeit, mit kulturellen Kontex-
auch immer – zu Gattungskonventionen verhält ten im Austausch stehen. Das Problem einer jeden
und sich mithin in einer literarischen Umgebung Theorie literarischer Gattungen ist es demzufolge,
verortet. überzeitlich gültige (invariante) Merkmale mit
Intertextualität: Gattungen sind als Phänome- historischen, sich fortlaufend verändernden Phä-
ne von Intertextualität zu verstehen (s. Kap. III.1.3), nomenen zu verbinden und systematische Be-
indem sie die Aufmerksamkeit auf die Exempla- schreibungskriterien mit der Historizität von Gat-
rität eines einzelnen Textes in einer Gruppe ähn- tungsbegriffen zu vermitteln.
lich strukturierter Texte lenken und gleichsam ›Epik/Dramatik/Lyrik‹ forever? Ein markantes
dieses literarische Archiv als Voraussetzung sei- Beispiel für dieses Problem stellt bereits die uns so
ner Möglichkeiten lesbar machen. So entstehen geläufige Gattungstrias (Epik, Dramatik, Lyrik)
Gattungskonventionen über die Erinnerung bzw. dar, die keinesfalls einen überzeitlichen Gültig-
Aktualisierung vorgängiger Texte (u. a. möglicher keitsanspruch für die Ordnung literarischer Texte
Prototypen), und so verändern diese sich selbst behaupten kann; denn erst im Lauf des 18. Jh.s
auch fortlaufend, indem mit den zugehörigen Tex- etablierte sich die Rede von der dritten großen Gat-
ten die Gattungen zugleich aktualisiert werden. tung Lyrik, und immer noch beansprucht diese
Gattungen sind so als offene, dynamische Systeme Trias sogenannter Hauptgattungen eine unhinter-
und nicht als stets mit sich identische Wesenheiten fragte Gültigkeit in der Literaturgeschichtsschrei-
zu begreifen. Sie verändern sich z. B. in Form der bung, obgleich sie einem engen Literaturbegriff
Ausdifferenzierung oder Neukonstitution, was verpflichtet ist und die Weite und Vielfalt der sich
wiederum zu einer eigenständigen neuen Gattung ständig verändernden literarischen Praxis nicht re-
führen kann. Das gilt etwa für das sich im 18. Jh. präsentativ abbilden kann.
gegen die höfische Tradition der barocken Tragö- Seit dem 18. Jh. lassen sich eine beschleunigte
die herausbildende bürgerliche Trauerspiel. Selbst Ausdifferenzierung der Literatur und eine Erweite- Ausdifferenzierung
der radikale Bruch mit Gattungskonventionen rung des Literaturbegriffs beobachten, die auch der Literatur
setzt die Kenntnis anderer Exemplare der entspre- den Gattungskanon und das Gattungswissen per-
chenden Gattung voraus. Nur so funktioniert etwa manent verändern, mithin neue Formen hervor-
Brechts ›episches Theater‹ erst als Kritik an der bringen, die sich einer eindeutigen Zuordnung in
etablierten, »dramatischen Form« (Bertolt Brecht) diesem triadischen Modell verweigern. So kommt
des Theaters (s. Kap. III.4.4.2). es (insbesondere in der Romantik und der litera-
Eine Gattung wie die Parodie (z. B. Friedrich rischen Moderne) zu kreativen Gattungsmi-
Nicolai: Freuden des jungen Werthers. Leiden und schungen (s. 4.1.1), neuen Darstellungsformen
Freuden Werthers des Mannes) lebt wiederum von über die Erweiterung des Literaturbegriffs bzw.
diesem intertextuellen Wiedererkennungseffekt. die radikale Verabschiedung tradierter ästheti-
Die Gattungskonvention erwartet hier schon die scher Werte und Vorstellungen vom literarischen
direkte Bezugnahme auf einen Vorläufertext. Kunstwerk, etwa im Grenzgang zwischen den
Medien und Künsten (z. B. in den Avantgarden
des 20. Jh.s, s. Kap. III.3.6.1).
Seit dem Ende des 19. Jh.s hat sich die literari-
sche Landschaft ohnehin im Zeichen technisch
medialer Innovationen sowie der Entstehung von
Massenliteratur und Populärkultur grundlegend
geändert und dementsprechend auch vollkommen

385
4.1
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Einleitung

neue Gattungen hervorgebracht, die u. a. etablierte 4.1.3 | Gattungstheorie


Grenzen zwischen fiktionalen und nicht-fiktiona- und (Literatur-)Geschichte:
len Texten durchlässig werden lassen. So bringen
Vor und jenseits der Gattungstrias
Massenmedien wie die Zeitung neue (journalisti-
sche) Gattungen hervor. Fotografie, Film, Hörfunk, Die Klassifikation und Systematisierung von poeti-
Fernsehen und Internet sprengen in ihren jeweili- schen Formen nach Gattungskriterien beginnt be-
gen historischen Zusammenhängen nicht nur ge- reits in der Antike und ist lange mit der Normie-
wohnte Produktions- und Rezeptionsbedingun- rung und Kanonisierung der Dichtungsgattungen
gen, sondern generieren neue literarische Inhalte verbunden. Die literaturwissenschaftliche Gat-
und Formen. tungsforschung geht heute eher deskriptiv vor, sie
Die genannten Aspekte veranschaulichen be- versucht, die literarischen Phänomene historisch
reits, dass literarische Gattungsgeschichte – wie zu (re-)konstruieren und ihrer Vielfalt Rechnung
die Geschichte der Literatur überhaupt – eigentlich zu tragen (vgl. Komfort-Hein 1996; Zymner 2010).
nur sinnvoll im Austausch mit ihrem geschichtli- Literarische Gattungen werden nicht (mehr) als
chen und kulturellen Kontext zu erfassen ist. Gegebenheiten, sondern als offene, veränderliche
Das impliziert die Frage, wie kulturelle Kontexte, Größen untersucht, die jeweils auch verraten, wel-
Bedingungen und Regeln das Reden über Gattun- chen Status und welche Funktion wir der Literatur
gen prägen (vgl. Zymner 2003, S. 59). zuschreiben. So spielen heute im Rahmen eines
Gattung und (außerliterarischer) Kontext: Lite- weiten Literaturbegriffs eher kulturelle Kontexte
rarische Gattungen sind nicht nur im Blick auf die eine Rolle (s. 4.1.2), Fragen der Intertextualität
Gattungen als Ausdruck Literatur selbst von Interesse, sie können ebenso oder auch der medialen Grenzgänge (Intermediali-
historischer Problem- als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher oder tät) der Literatur.
stellungen bzw. -lösungen »historische[r] Problemstellungen bzw. Problemlö-
sungen« und als »kommunikative Ereignisse inner- Definition
halb eines bestimmten sozialen Rahmens« (Zym-
ner 2003, S. 202) untersucht werden. In dem Sinne   Gattungstheorien reflektieren über die
erfüllen sie Funktionen, die denen gesellschaftli- Einteilung der Literatur in Gattungen, Krite-
cher Institutionen entsprechen, indem sie be- rien und Merkmale der Unterscheidung oder
stimmte lebensweltliche Angebote machen (vgl. Gemeinsamkeit sowie die Funktion und
Voßkamp 1977). So hat sich z. B. die Gattung des Geschichtlichkeit von Gattungen. Daneben
bürgerlichen Trauerspiels in der kulturellen und so- gibt es Theorien einzelner Gattungen. Auch
zialen Umbruchzeit des 18. Jh.s formiert und so- Gattungstheorien sind historische Phäno-
wohl den Konflikt zwischen Bürgertum und Adel mene, die einem bestimmten Literaturver-
verhandelt als auch wesentlich an der Etablierung ständnis verpflichtet sind.
eines bürgerlichen Tugendethos sowie am Entwurf
›empfindsamer‹ Liebe und bürgerlich familialer
Werte mitgeschrieben. Wir können hier von einem Ordnung der Dichtkunst: Den ersten systemati-
Austausch zwischen Text Austausch zwischen Text (literarische Gattung) schen Versuch, Dichtkunst nach Gattungskriterien
und kulturellem Kontext und kulturellem Kontext sprechen. Dieser kann zu erfassen, finden wir in der philosophisch-ästhe-
auch dahingehend präzisiert werden, dass literari- tischen Schrift Poetik (ca. 335 v. Chr.) des Aristo-
sche Gattungen als Formen unseres kulturellen teles. Aristoteles verfährt dabei vor allem deskrip-
Wissens wirken, denn unsere »Gegenstände des tiv. Mit dem sogenannten Redekriterium (Wer
Wissens« sind »nicht in den Referenten der Aussa- spricht?) unterscheidet er erzählende und dramati-
gen, sondern insbesondere in den Aussageweisen sche Texte.
zu lokalisieren« (Vogl 1999, S. 15). So sind literari- Normative Gattungspoetiken: Mit Horaz’ Epis-
sche Formen spezielle Formen unseres kulturellen tula ad Pisones (ca. 20 v. Chr.), der sogenannten
Wissens, die vom Austausch mit anderen Wissens- Ars poetica, beginnt eine lange Geschichte der
formen leben. Zwei Beispiele: Der Aphorismus war normativen Gattungspoetiken, die als praktische
z. B. in der Antike ursprünglich ein medizinischer Anweisungslehren Dichtkunst als erwerbbare Fä-
Lehrsatz (bei Hippokrates) und wurde zu einer be- higkeit über konkrete Regeln ausweisen. So haben
deutsamen Gattung der Romantik. Und Freud gab Poetik und Rhetorik (s. Kap. III.1.4) in enger Ver-
einmal den Hinweis, seine Krankengeschichten bindung bis ins 18. Jh. auch präzise Vorschriften
seien »wie Novellen zu lesen«. für die Gattungseinteilung sowie die Sicherung ei-

386
4.1
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Gattungstheorie und
(Literatur-) Geschichte

ner Tradition über einen festen Gattungs- und Au- »Naturformen der Poesie«: Goethes Rede von
toren-Kanon (vgl. Zymner 2003, S. 146) formuliert den »drei echte[n] Naturformen der Poesie« ist in
und mit der Autorität einer überzeitlichen Gültig- dem Zusammenhang das wohl bis weit in das
keit über tradierte Vorbilder versehen. 20. Jh. hinein einflussreichste triadische Gattungs-
Philosophisch-spekulative Kriterien: Artikuliert modell. Mit der Übertragung naturkundlicher Per-
sich im 18. Jh. einerseits der radikale Abschied von spektiven auf die Poetik sind »Epos, Lyrik und
jeder vorgegebenen Regelhaftigkeit im Originali- Drama« als anthropologische Grunderfahrungen
tätspostulat der Genie-Ästhetik, so werden um bezeichnet, »die klar erzählende, die enthusias-
1800 ebenso Gattungsfragen nun systematisch mit tisch aufgeregte und die persönlich handelnde«
einer übergeordneten Idee, die man der Dichtung (Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem
zuschreibt, verknüpft. Mit dem sich herausbilden- Verständnis des West-östlichen Divans).
den Geschichtsbewusstsein und der Suche nach Von diesen drei ›natürlichen‹ Ausdrucksformen,
außerliterarischen Begründungskategorien (z. B. die auch in einem Text zusammen auftreten kön-
anthropologische) verliert die Normativität der nen, unterscheidet er eine Reihe von »Dichtarten«
praktischen Anweisungslehren in einem Regelka- als deren historische Varianten. Dahinter steht
non ihre Legitimation zugunsten des Gedankens der Gedanke der Entwicklung literarischer Gattun-
einer Entwicklung bzw. eines Ursprungs von Gat- gen aus einem übergeordneten, ursprünglichen
tungsphänomenen sowie der Frage nach dem Ver- Prinzip: ›Natur‹ als Ursprung aller Dichtungsgat-
hältnis von Einzelphänomen und allgemeinem tungen. Deren Geschichtlichkeit ist in Analogie
Begriff. In diesem Kontext erst formiert sich das zur Naturgeschichte als organisches Werden und
triadische Gattungsmodell. Vergehen gedeutet.

Literatur
Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. und hg. von Szondi, Peter: »Von der normativen zur spekulativen
Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994. Gattungspoetik«. In: Ders.: Poetik und Geschichtsphilo-
Derrida, Jacques: »Das Gesetz der Gattung« [1980]. In: sophie II. Frankfurt a. M. 1974.
Ders.: Gestade. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1994, Vogl, Joseph: »Einleitung«. In: Ders. (Hg.): Poetologien des
S. 245–283. Wissens um 1800. München 1999, S. 7–16.
Hempfer, Klaus W.: »Gattung«. In: Klaus Weimar (Hg.): Voßkamp, Wilhelm: »Gattungen als literarisch-soziale
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. Institutionen«. In: Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre –
Berlin/New York 2007, S. 651–655. Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977.
Komfort-Hein, Susanne: »Gattungslehre«. In: Gert Ueding – »Gattungsgeschichte«. In: Klaus Weimar (Hg.):
(Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1.
Tübingen 1996, Sp. 528–557. Berlin/New York 2007, S. 655–658.
– : »Germanistische Gattungsforschung«. In: Zymner 2010, Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und
S. 256–259. Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003.
Lamping, Dieter: »Gattungstheorie«. In: Klaus Weimar – : (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart/Weimar
(Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 2010.
Bd. 1. Berlin/New York 2007, S. 658–661. Susanne Komfort-Hein
– (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart
2009.

387
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

4.2 | Erzählende Literatur


Im System der literarischen Gattungen werden er- etablierten literarischen Gattungen, erzählt wird
zählende von lyrischen und dramatischen Texten unentwegt und unvermeidlich auch im Alltag: »We
abgegrenzt (was aber nicht ausschließt, dass sich make narratives many times a day, every day of
in Gedichten oder Dramen auch erzählerische Mo- our lives, and we start doing so almost from the
mente, oder dass sich in erzählenden Texten auch moment we begin putting words together. As soon
dramatische oder lyrische Passagen finden). as we follow a subject with a verb, there is a good
Prosa: Für erzählende Texte wird auch die Be- chance we are engaged in narrative discourse«
zeichnung ›Prosa‹ verwendet, was auf die rhetori- (Abbott 2008, S. 1). Worin aber unterscheiden sich
sche Bezeichnung oratio prosa bzw. prorsa zu- das alltägliche Gespräch oder der Zeitungsbericht
rückgeht. Wörtlich bedeutet dies eine Rede (lat. vom Roman oder dem Epos? Was ist der Unter-
oratio), die nach vorwärts gewandt ist, nach vor- schied zwischen
wärts eilt (von lat. pro: nach vorne; und versa von N faktualem, d. h. authentisch auf eine gemein-
lat. vertere: wenden). Dies fügt sich zu der Auffas- same Wirklichkeit bezogenem Erzählen und
sung des Erzähltheoretikers Seymour Chatman, N fiktionalem, also erfindendem, fingierendem
der zufolge eine der elementaren Bedingungen von Erzählen?
Erzählungen darin besteht, dass sie Verkettungen Alltagsgespräche haben ebenso wenig literari-
von Ereignissen bzw. Abfolgen von Geschehnissen schen Anspruch wie Zeitungsberichte und sind in
Verkettung zur Darstellung bringen und damit stets eine zeitli- der Regel der Faktizität verpflichtet, also der Welt,
von Ereignissen che Ausrichtung besitzen (Chatman 1990, S. 7 ff.). wie man sie gemeinhin als wirklich annimmt. Aus-
Prosa wird von der gebundenen Rede (oratio liga- nahmen wären die Lüge oder die sogenannte Zei-
ta) des Verses abgegrenzt, die lange Zeit Lyrik aber tungsente, die allerdings ex negativo die Norm des
auch dramatische Texte bestimmt hat. Faktualen bestätigen. Denn Lügen können nur
Die Bezeichnung ›Prosa‹ wirft allerdings auch funktionieren, Zeitungsenten nur dann Aufsehen
Probleme auf. Zunächst schwingt darin eine Ab- erregen, wenn Wahrhaftigkeit und Wirklichkeits-
grenzung zur Poesie mit, die darauf beruht, dass bezug der Äußerung der Normalfall sind.
bis ins 18. Jh. vorwiegend gebundene Rede als ›li- Fiktionalität: Literatur ist hingegen grundsätz-
terarisch‹ und das Prosaische als wenig oder gar lich fiktionalen Charakters. Dadurch ist sie laut
nicht künstlerisch galt. Ferner finden sich in der Platon »von der Wahrheit weit entfernt« und somit
Moderne lyrische Texte auch in ungebundener ein »Verderben für das Denken« (Der Staat,
Rede (Prosagedicht), und schließlich wird von der 10. Buch). Dass man eine »Welt des Glaubens und
Bezeichnung ›Prosa‹ eine ganze Reihe erzählender der Dichtung von einer Welt der Wirklichkeit« un-
Literatur nicht erfasst, die für die Herausbildung terscheidet und erstere nicht nur »für fiktiv« er-
der Gattung von grundlegender Bedeutung ist: die klärt, sondern ihr einen eigenständigen Wert zu-
Begriff des Epischen Versepik, auf die der Begriff des Epischen oder der schreibt, ist »das Ergebnis eines über mehrere
Epik zurückzuführen ist. Der Begriff ›Epik‹ wird Jahrhunderte reichenden kulturhistorischen Pro-
häufig auch im Hinblick auf Erzählliteratur über- zesses« (Martínez/Scheffel 2009, S. 11).
haupt verwandt. Das erste bedeutende Dokument des Abendlan-
des, das sich in diesem Sinne von Platons Dichter-
schelte absetzt, ist die Poetik des Aristoteles, die
erste systematische Darstellung der Dichtkunst.
4.2.1 | Der Akt des Erzählens Aristoteles betont, »daß es nicht Aufgabe des Dich-
ters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist,
Erzählen gehört als kulturelle Konstante grund- sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das
sätzlich zum Menschsein. Erzählt wird zu jeder nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Not-
Zeit, von Beginn der abendländischen Tradition wendigkeit Mögliche« (1451b). Fiktionalität be-
an, in allen Kulturen, in den unterschiedlichsten deutet nach Aristoteles also nicht die Lizenz zu
Medien: in mündlichen, schriftlichen und auch völliger Erfindungsfreiheit. Erfinden darf der Dich-
bildlichen. ter – er kann gar nicht anders – allerdings nur auf
Faktual/fiktional: Mythos, Legende, Fabel, solche Weise, dass stets die Wahrscheinlichkeit
Märchen, Novelle, Epos, Geschichte, Lokalteil der der Erzählung gewährleistet bleibt, d. h. die Mög-
Zeitungen, Gespräch. – Erzählt wird nicht nur in lichkeit, dass das Fiktionale so oder so ähnlich hät-

388
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Der Akt des Erzählens

te geschehen können oder zukünftig geschehen Zur Vertiefung


könnte (s. Kap. III.1.2.2). »In diesem Sinne bedeu-
tet etwa die klassische Eingangsformel ›Es war ein- Ubiquität der Erzählung
mal‹ am Beginn eines Märchens wie ›Es war ein- »Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunli-
mal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine che Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt
schöne Tochter‹ eben nicht nur ›Glauben Sie nichts sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzäh-
von dem, was Sie im folgenden hören bzw. lesen‹, lungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche
sondern immer auch soviel wie die Aufforderung: oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder
›Stellen Sie sich bitte vor, daß einmal ein Müller das Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Le-
war, etc.‹« (Martínez/Scheffel 2009, S. 14 f.). Dich- gende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tra-
tung steht für die Eröffnung eines Möglichkeits- gödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild (man
spielraums und als solche findet sie Aristoteles’ denke an die Heilige Ursula von Carpaccio), der Glasmalerei, dem Film, den Co-
besondere Wertschätzung: mics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch. Außerdem findet man die Er-
zählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten
»Der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der
sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Ver- Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klas-
sen und der andere in Prosa mitteilt […]; sie unterschei-
den sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Ge- sen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häufig werden
schehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter
Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthaf- Kultur gemeinsam geschätzt. Die Erzählung schert sich nicht um gute oder
teres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und da-
mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung mehr das
Besondere mit« (Poetik 1451b). mit einfach da, so wie das Leben« (Barthes 1988, S. 102).

Wenn Aristoteles die Dichtkunst als Mimesis ver-


steht, und dies gemeinhin mit Nachahmung über- Faktuales Erzählen: Auch Gattungen wie Ge-
setzt worden ist, so liegt in dieser Übertragung schichtsschreibung oder die Autobiographie ge-
eine Verzerrung des Begriffs. Denn Dichtung bildet ben die Wirklichkeit keineswegs ungefiltert wie-
nicht bloß etwas ab, was außerhalb ihrer bereits der. Sie sind vielmehr faktuale Erzählungen.
gegeben wäre, sondern sie stellt dar, wie es sein Natürlich ist die Darstellung historischer Ge-
könnte. Mimesis ist also adäquater durch Darstel- genstände faktischen Ereignissen verpflichtet.
lung zu übersetzen. Man kann zentrale historische Ereignisse nicht
Fiktionales Erzählen: Wenn wir jenes Berlin, einfach leugnen oder in seiner Darstellung über-
das den Schauplatz von Alfred Döblins Roman gehen. Zum Sprechen gebracht werden die jewei-
Berlin Alexanderplatz bildet, beim Lesen als wirk- ligen Fakten aber erst durch bestimmte Formen
lichkeitsgetreues Berlin der späten 1920er Jahre der Darstellung und nur auf diesem Weg ergibt
empfinden, dann mag dies nicht ohne Berechti- sich auch ein gedanklicher Zugang zu histori-
gung sein. Aus dichtungslogischen Gründen er- schem Geschehen: »Die Französische Revolution
stellt ein solcher Roman aber kein authentisches zu verstehen bedeutet, eine Geschichte zu begrei-
Abbild, sondern allenfalls eine literarische Dar- fen, die zeigt, wie ein Ereignis zum anderen ge-
stellung, eine Simulation, die ihrerseits – und das führt hat« (Culler 2002, S. 121).
ist zu beachten – dasjenige prägt, was wir als Im Fall der Autobiographie ist der Gegenstand
Wirklichkeit begreifen. Das, was wir für ein ›au- durch die Lebensdaten und -ereignisse des Verfas-
thentisches Berlin‹ halten, verdankt sich nie bloß sers vorgegeben. Zwischen Leser/in und Verfas-
dem eigenen Hinsehen, sondern ist immer auch ser/in existiert ein sogenannter autobiographi-
durch Bilder, Erzählungen, Filme etc. mitgeprägt. scher Pakt, demzufolge die Personalunion aus
Literatur ist kein Abbild, sondern umgekehrt an Verfasser, Erzähler und Hauptfigur dafür bürgt,
der Formation unserer Wirklichkeitsbilder sowie dass der Text mit dem aufrichtigen Bemühen zur
an der Reflexion ihres Zustandekommens beteiligt. Darstellung des Faktischen verfasst ist (Lejeune
Kommen in der Literatur Orte, Personen oder Er- 1994). Dennoch sind Autobiographien stets auch
eignisse vor, die auch faktisch existieren, so gilt es sprachlich-literarische Konstruktionen: Die Aus-
festzuhalten, dass diese nie bloß neutral oder an wahl der Ereignisse, die aus der Fülle des Lebens
sich selbst dargestellt werden können: Faktizität zur Darstellung gebracht werden, sind von gängi-
unterliegt in der Literatur stets den Bedingungen gen Topoi wie Geburt und frühester Kindheit, El-
sprachlich-literarischer Formung. ternhaus, Einschulung, erster Liebe, Berufswahl

389
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

Zur Vertiefung

Narrative Formierung des Selbst


Unter den medialen Bedingungen des Web 2.0 lässt sich die narrative Formierung des Selbst an Seiten wie
OurStory.com ablesen, einem Erzählnetzwerk, in das die User Dokumente und Bilder zu ihrer Familien- und Le-
bensgeschichte einstellen können, gerahmt von einem Set zu beantwortender Fragen, angefangen mit »What do
you know about the day of your birth and what made your arrival memorable?« über »Who, and what, did you
look like as a baby?«, »Were there any special characteristics that ›ran in the family‹, or that set you apart?« bis
»Who did you come home to when you were a baby?«, »What family members shared or spent time in your
home« und einigen hundert mehr (vgl. Esders 2010).

Man kann die öffentliche Selbstdarstellung im Internet einerseits als Signum eines schrankenlosen, das Ge-
fühl für Privatheit nivellierenden self-fashioning lesen. Andererseits ist das Erzählen anhand eines solchen Ras-
ters auch nur der ins Virtuelle potenzierte (dadurch möglicherweise aber um seinen sozialen Nutzen gebrachte)
Ausdruck dessen, was Jürgen Habermas als Konzept der Lebenswelt begreift: eine Mischung aus narrativer
Formung von Lebensgeschichten und kommunikativer Einordnung in eine Sozietät. Menschen »können näm-
lich«, Habermas zufolge, »eine persönliche Identität nur ausbilden, wenn sie erkennen, daß die Sequenz ihrer
eigenen Handlungen eine narrativ darstellbare Lebensgeschichte bildet, und eine soziale Identität nur dann,
wenn sie erkennen, daß sie über die Teilnahme an Interaktionen ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen auf-
rechterhalten und dabei in die narrativ darstellbare Geschichte von Kollektiven verstrickt sind. Die Kollektive
erhalten ihre Identität nur in dem Maße, wie sich die Vorstellungen, die sich die Angehörigen von ihrer Lebens-
welt machen, hinreichend überlappen und zu unproblematischen Hintergrundüberzeugungen verdichten« (Ha-
bermas 1981, 2. Bd., S. 206).

etc. (vgl. Berndt 1999, S. 7–10) gesteuert, und hin- die unmittelbaren Bedingungen ihrer physischen
zukommt noch eine jeweils individuelle Stilisie- Umwelt symbolisch, d. h. bildlich und sprachlich,
rung. Dies gilt allerdings nicht nur für die literari- in Form von Mythos, Kunst, Religion und anderen
sche Selbstdarstellung, sondern strenggenommen Formen narrativ gestifteten Sinnzusammen-
bereits für jede Vorstellung, die man sich von sich hangs zu überschreiten und zu reflektieren. Der
selbst macht, ohne diese eigens, geschweige denn Mensch ist, so der Philosoph Ernst Cassirer, ein
mit literarischem Anspruch, aufzuschreiben (vgl. animal symbolicum. Er begegnet seinem »Man-
Thomä 2007). gel an Instinktorientierung« durch sozial konstru-
Erzählen als kognitiver Akt: Gibt es Gründe da- ierte Wirklichkeiten. Zu den zentralen Orientie-
Erzählen als trans- für, dass Erzählen ein solch transhistorisches und rungsmustern gehört dabei jener »Prozeß der
historisches und trans- transkulturelles Phänomen ist, wie Roland Barthes Sinnbildung«, den wir Erzählen nennen. Erzählen
kulturelles Phänomen schreibt (s. S. 389)? Warum gehört das Erzählen ist einer der grundlegenden Mechanismen, mit
zur menschlichen Grundausstattung? Eine Ant- dessen Hilfe es Menschen gelingt, »sich gegenüber
wort darauf lässt sich mit Hilfe eines anthropologi- einem überkomplexen Angebot an Umweltwahr-
schen Ansatzes geben. Die Anthropologie ist die nehmungen zu orientieren« (Gumbrecht 1980,
philosophische Lehre vom Menschen (griech. an- S. 207 f.). Erzählen ist also ein kognitiver, auf Er-
thropos), sowohl in seiner spezifisch sinnlichen kenntnis zielender Akt.
Ausstattung als auch in seiner Eigenschaft als so- Lust an der Erzählung: Neben dem kognitiven
ziales Wesen. Im Vergleich mit anderen Lebewe- Gehalt kann man auch von einer generellen emoti-
sen ist der Mensch allerdings mit Blick auf seine onalen Beteiligung an der Erzählung ausgehen,
Sinneswerkzeuge – so der Philosoph Arnold Geh- und zwar ebenso auf Seiten des/der Erzählenden
len – ein Mängelwesen. Menschen unterscheiden wie auf derjenigen der Rezipienten. Wer einer Ge-
sich von den meisten Tieren durch einen bedeut- schichte lauscht bzw. eine solche liest, ist stets
samen Mangel an Instinktorientierung. Kompen- auch von einem Begehren nach Wissen angetrie-
siert wird dies dadurch, dass Menschen sich auf- ben, möchte in Erfahrung bringen, wie die jeweili-
grund ihrer Fähigkeit zu vernünftigem Denken ge Geschichte weitergeht bzw. wie sie endet. Ge-
bzw. durch die Fähigkeit zu behaupten vermögen, schichten sind auch deshalb so attraktiv, weil sie

390
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Gattungen

die Möglichkeit bieten, Erlebnisse, die man so oder Zur Vertiefung


so ähnlich aus der Realität kennt, noch einmal
handlungsentlastet durchzuspielen. Dem Men- Erzählen: Lust am Fabulieren und Begreifbar-Machen von Welt
schen ist – so Aristoteles in der Poetik – eine Freu- Der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge berichtet, dass es ihm am
de an der Darstellung überhaupt angeboren: »Als 8. April 1945 während des Bombardements seines Geburtsorts Halberstadt fast
Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache die- froh durch den Kopf ging: »jetzt habe ich endlich etwas zu erzählen«. Tags dar-
nen. Denn von Dingen, die wir in Wirklichkeit nur auf war er deshalb fast enttäuscht, als die Schule und mithin das Forum des
ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst Schulhofs, auf dem sich so trefflich erzählen ließ, geschlossen blieb (vgl. Jürgen
getreue Abbildungen« (1448b). Das mag unter- Kaube: »Alexander Kluge – Ein Ingenieur seiner Geschichten«, FAZ vom
schiedliche psychologische oder auch ästhetische 11.9.2009). Das literarische Modell für eine solche Erzähllust im Angesicht des
Gründe haben. Ein wichtiger Bestandteil der Schreckens bildet die Rahmenhandlung der berühmten indisch-persisch-arabi-
menschlichen Freude am erzählerischen Nachvoll- schen Erzählungssammlung Geschichten aus 1001 Nacht. Dort lässt der König
zug auch von schrecklichen oder auf bedrängende Schahriyâr seine untreue Frau ermorden und gibt seinem Wesir den Auftrag, ihm
Weise eindrucksvollen Ereignissen liegt sicherlich jede Nacht eine neue Jungfrau mit dem Versprechen zuzuführen, sie als neue
darin begründet, dass das Erzählbar-Machen ei- Frau zu nehmen. Stets lässt er die Frauen jedoch am nächsten Morgen töten.
nes Sachverhalts Ansätze für seine gedankliche Scheherazade, die Tochter des Wesirs, möchte das Gemetzel beenden und reiht
wie psychische Verarbeitung liefert. sich zu diesem Zweck in den Reigen der heiratswilligen jungen Frauen ein. Als
sie an der Reihe ist, wendet sie eine List an: In jeder Nacht erzählt sie dem König
eine Geschichte, die sie gegen Morgen stets an einer so spannenden Stelle ab-
4.2.2 | Gattungen bricht, dass der König auf die Fortsetzung brennt und die Tötung aufschiebt –
ein Prinzip, das man heute als cliffhanger aus vielen Fernsehserien kennt.
4.2.2.1 | Versepos Lust am Fabulieren, Begreifbar-Machen von Welt (für sich selbst und für andere),
die Begierde nach Neuem, nach Erkenntnis, nach spannenden Geschichten oder
In der Antike ist die dominierende Großform des auch nur der Wunsch nach Zeitvertreib – für die Allgegenwart des Erzählens
Erzählens die in gebundener Rede verfasste Vers- zeichnen eine Reihe von Gründen verantwortlich – und in dramatischer Zuspit-
epik – etwa Homers Odyssee oder seine Dichtung zung bringt der erzählerische Rahmen von 1001 Nacht zum Ausdruck: Solange
über den trojanischen Krieg, die Ilias (ca. wir erzählen, sind wir lebendig, ja, wehren wir uns gegen den Tod: »Sprechen,
7. Jh. v. Chr.). Auch die großen Erzähltexte des Mit- um nicht zu sterben, ist wahrscheinlich eine Beschäftigung, die so alt ist wie das
telalters – Gottfrieds von Straßburg Tristan, Wolf- Wort« (Foucault 1988, S. 90).
rams von Eschenbach Parzival oder das anonyme
Nibelungenlied (alle 13. Jh.) – sind Versepen. In
seinen Vorlesungen zur Ästhetik hält Hegel das neke Fuchs (1793) oder Hermann und Dorothea
Epos für die genuine Darstellungsform der (1797) – letzterer war einer seiner erfolgreichs-
»objektive[n] Lebenswirklichkeit eines Volksgeis- ten Texte zu Lebzeiten – sind in Hexametern ver-
tes«, der ›von oben‹, d. h. von einem göttlichen fasst, jenem antiken Versmaß, das Friedrich Gott-
Sinnzentrum, getragen wird. Dennoch machen lieb Klopstock mit seinem Epos Der Messias
sich an der Schwelle zur Neuzeit auch im Epos Zer- (1748–73) und Johann Heinrich Voß mit den
fallsprozesse geltend, die ihre Ursache im Erstar- Übersetzungen der Odyssee und der Ilias auf die
ken der Subjektivität haben. So trifft der Leser mit deutsche Sprache übertragen haben.
dem Protagonisten von Ariosts Orlando furioso
(Der rasende Roland, 1532) nicht mehr auf einen
4.2.2.2 | Roman
ausersehenen und souverän handelnden christli-
chen Helden, sondern auf ein vom Wahn heimge- Die heute geläufigste und am stärksten verbreitete
suchtes, hin- und hergerissenes Subjekt. erzählerische Großform ist der Roman. Bereits in
Im 18. Jh. kommt es durch die im Klassizis- der Antike finden sich Erzähltexte in ungebunde-
mus intensivierte Orientierung an der Antike ner Rede, die in neuerer Zeit als Romane bezeich-
(s. Kap. III.3.4) zu einer Renaissance erzählender net werden – beispielsweise Petrons Satyricon (50
Versdichtung. Genannt sei nur Christoph Martin n. Chr.) oder Apuleius’ Metamorphoses, auch unter
Wielands Musarion oder die Philosophie der Gra- dem Titel Asinus aureus (Der goldene Esel), be-
zien (1768), dank dessen Lektüre Goethe, wie er kannt (2. Jh. n. Chr.). Diese Texte galten jedoch als
in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit niedere Literatur und wurden deshalb von den
schreibt, »das Antike lebendig und neu wieder maßgeblichen Poetiken nicht thematisiert (Holz-
zu sehen glaubte«. Goethes eigene Versepen Rei- berg 2006).

391
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

Volkstümlichkeit, genauer die Tatsache, dass nen Erzähl-, ja Literaturform überhaupt gelingt im
sie in Volkssprache, und nicht in der Gelehrten- Lauf des 18. Jh.s. Ausschlaggebend dafür sind drei
sprache Latein verfasst sind, gilt seit dem frühen Aspekte:
12. Jh. als wichtigstes Charakteristikum der Gat- N Romane werden zur genuinen literarischen
tung Roman. Die erste historisch orientierte Poetik Form des bürgerlichen Zeitalters: Im Anschluss
des Romans, der 1670 publizierte Traité de l’origine an aufklärerisch-empfindsame Romane nach engli-
des romans (dt. Abhandlung über den Ursprung schem und französischem Vorbild (z. B. Samuel
der Romane) des französischen Gelehrten Abbé Richardsons Pamela (1740) oder Jean-Jacques
Pierre Daniel Huet, nennt darüber hinaus eine Lie- Rousseaus Nouvelle Héloïse (1761)) erscheinen
beshandlung als inhaltlich wesentliches Kriterium auch in deutscher Sprache Texte wie Christian
für Romane. Fürchtegott Gellerts Leben der schwedischen Gräfin
Der Schelmen- oder Picaroroman wird im Ba- von G*** (1747/48) oder Sophie von La Roches Ge-
rock erfolgreich. Grimmelshausens an spanischen schichte des Fräuleins von Sternheim (1771). Letz-
Vorbildern wie u. a. Cervantes’ Don Quijote terer ist der erste literarisch bedeutende deutsch-
(1605/15) orientierter Simplicissimus (1668) ist sprachige Roman einer weiblichen Verfasserin, in
der berühmteste deutschsprachige Vertreter dieses dem die, so mit den Worten des Romantheoretikers
Genres. Die sozial niedrigstehenden Protagonisten Friedrich von Blanckenburg, »innere Geschichte
des Schelmenromans stellen mit plebejischem des Menschen« (Versuch über den Roman, 1774)
Witz geläufige Moralvorstellungen in Frage. Vari- zur Darstellung kommt – im Unterschied zur Ge-
anten dieses Antihelden erfreuen sich bis heute schichte des Bürgers als öffentlicher Person bzw.
großer Beliebtheit: Der ›Ritter von der traurigen des vorbürgerlichen Helden, wie sie das Epos be-
Gestalt‹ Don Quijote oder der ›brave Soldat‹ vorzugt, oder einer äußeren Handlung, wie sie
Schwejk des tschechischen Autors Jaroslav Hašek Abenteuerromane schildern. Die Vorstellung des
(1921–23) sind zu populären Ikonen geworden. Menschen als eines vielschichtigen, in sich gebro-
Thomas Manns Felix Krull (1954) oder Oskar Mat- chenen und mit der Gesellschaft nicht selten über
zerath aus Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959) Kreuz liegenden Individuums kommt insbesondere
Grass: Die Blechtrommel haben es zu Filmhelden gebracht. auch in Briefromanen wie Goethes Die Leiden des
Im Don Quijote begegnet in einer komplizierten jungen Werthers (1774/87) zum Ausdruck.
Schachtelung von Erzählerstimmen der erste neu- N Realismus der Figurenzeichnung: Der Roman
zeitliche Romanheld, der bekanntlich zu viele Rit- des 18. Jh.s bringt – als Pendant zu Lessings Forde-
terromane gelesen hat und nun Fakt und Fiktion rung nach dramatischen Helden ›von gleichem
nicht mehr auseinanderhalten kann. Cervantes Schrot und Korn‹ wie die Zuschauer – Protagonis-
konfrontiert den Leser mit einer typisch neuzeitli- ten hervor, die in ihrem Menschsein nachvoll-
chen Situation: Die Helden sind nun nicht mehr in ziehbar sind: »Figuren und Leser bevölkern ein
einem sinnvoll geordneten Kosmos aufgehoben und dasselbe Zeitkontinuum« (Bode 2005, S. 45).
(wie im Epos), sondern auf »Selbst-Deutungen«, Dies bedeutet auch eine konsequente Psychologi-
auf die eigene Konstruktion einer Wirklichkeit sierung des Romans z. B. bei Karl Philipp Moritz
angewiesen. »Das schließt auch immer die Mög- (s. Kap. III.3.4.3.2).
lichkeit ein, ziemlich daneben zu liegen« (Bode N Teleologie: Im 18. Jh. wird dem Roman, der
2005, S. 41). »Das erste große Buch der Gattung, lange als hybrides, wenig reglementiertes, andere
der Don Quichote«, formuliert Walter Benjamin in Formen integrierendes und deshalb nicht selten
seinem Essay Der Erzähler, »lehrt sogleich, wie die zum Wuchern und Mäandern tendierendes Ge-
Seelengröße, die Kühnheit, die Hilfsbereitschaft ei- bilde gegolten hatte, eine stärkere Zielstrebigkeit
nes der Edelsten – eben des Don Quichote – von verordnet (griech. telos: Ziel).
Rat gänzlich verlassen sind und nicht den kleins- Bildungsroman: Goethes Roman Wilhelm
ten Funken Weisheit enthalten« (Benjamin 1991, Meisters Lehrjahre (1795/96) wird zum Prototyp
S. 443). Ähnlich erschüttert ist auch die weltan- des Entwicklungs- oder Bildungsromans erklärt
schauliche Orientierung von Grimmelshausens (s. Kap. III 3.4.4.3), einer, wie der Romancier Jo-
Simplicissimus – dagegen vermögen auch alle Ver- hann Karl Wezel 1780 schreibt »wahren bürgerli-
suche der christlichen Rahmung nichts Wesentli- chen Epopee« (in: Steinecke/Wahrenburg 1999,
ches mehr auszurichten. S. 203). ›Epopee‹ ist der aristotelische Begriff für
Goethe: Die Leiden des Der Durchbruch des Romangenres als der bis das Epos (vgl. Poetik 1447a, 1459b). In ihr kommt
jungen Werthers (1774) heute mit Abstand meistgedruckten und -gelese- es laut der einflussreichen Theorie des Romans

392
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Gattungen

(1916/20) des ungarischen Philosophen und Lite- ches kennt man von Goethes Unterhaltungen
raturwissenschaftlers Georg Lukács zu einer »Ver- deutscher Ausgewanderten (1795), bei denen die
söhnung des problematischen, vom erlebten Ide- Französische Revolution und der anschließende
al geführten Individuums mit der konkreten, Terror als ›erschreckende‹ Ereignisse einen Rah-
gesellschaftlichen Wirklichkeit« (Lukács 1982, men bilden, gegen den durch die Binnenge-
S. 117). Im Briefwechsel zwischen Goethe und schichten ›anerzählt‹ wird. Im 19. Jh. erfährt die
Schiller kann man allerdings sowohl nachlesen, Novelle eine regelrechte Konjunktur, die sich
wie viel Mühe Goethe allein schon der Abschluss dem Umstand verdankt, dass sich in diesem Gen-
des Romanmanuskripts bereitet (von einer Ver- re Konflikte zwischen dem bürgerlichen Indivi- Brennglasartige Ver-
söhnung von Individuum und Wirklichkeit ganz duum und der Gesellschaft brennglasartig ver- dichtung von Konflikten
zu schweigen), als auch, wie ratlos Schiller zu- dichten lassen. Zum Erfolg der Novelle tragen
nächst der Deutung des Textes gegenübersteht. auch die verbesserten Publikationsbedingungen
Was wir heute als Bildungsroman begreifen, ist für kürzere Prosa insbesondere als Fortsetzungs-
eine nachträgliche Erfindung, die den Text zu- geschichten in Zeitschriften bei. Da die Gattung
rechtbiegt und glättet. selbst aber nicht antiken Ursprungs ist, somit
Das Konzept des Bildungsromans findet indes keinem klassizistischen Kanon angehört und zu-
im 19. Jh. eine Fülle von Nachahmern. Es wird da- dem oft von erotischen mitunter auch reißeri-
bei immer wieder zur Debatte gestellt, ob die pro- schen Ereignissen geprägt ist, lässt sich Theodor
grammatische Teleologie wirklich dominiert oder Storms berühmte Definition der Novelle als der
ob der moderne ›Bildungsgang‹ nicht vielmehr den »kleinen Schwester des Dramas« ebenso als tref-
Werdegang des Subjekts als krisenhaftes und kei- fende Charakteristik ihrer Knappheit und Hand-
neswegs immer erfolgreiches Projekt kenntlich lungsstärke werten wie als Versuch, die – für
macht: »Die Geburtskammer des Romans ist das Autoren schon aufgrund der guten Publikations-
Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über und damit Einnahmemöglichkeiten attraktive –
seine wichtigsten Anliegen nicht mehr auszuspre- Gattung durch die Ankopplung an die klassische
chen vermag«, schreibt Walter Benjamin. Und die- Literaturform des Dramas gewissermaßen poe-
ses Individuum sei »selbst unberaten« und könne tologisch zu adeln (vgl. Aust 2006; Rath 2008;
»keinem Rat geben«: Schlaffer 1993).
Kurzgeschichte: In den 1920er Jahren etabliert
»Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des sich in Deutschland die nach dem englischen Be-
menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze
zu treiben. Mitten in der Fülle des Lebens und durch die
griff short story sogenannte Kurzgeschichte. Die
Darstellung dieser Fülle bekundet der Roman die tiefe Rat- Konjunktur dieser Gattung beruht nicht zuletzt
losigkeit des Lebens« (Benjamin 1991, S. 443). auf verbesserten Publikationsmöglichkeiten in der
Presse. Idealtypisch stellt die Kurzgeschichte ei-
nen in medias res beginnenden, pointierten,
4.2.2.3 | Kleinere epische Formen
konfliktgeladenen Daseinsausschnitt mit offenem Konfliktgeladener
Die Erzählung ist die – über die quantitative Be- Ende dar. Man deutet dies als Ausdruck einer Daseinsausschnitt
stimmung als kürzerer Prosatext hinaus – am Wirklichkeit, die nicht mehr als sinnvolles Ganzes
wenigsten festgelegte Prosagattung. Der Begriff zu erfahren, zu deuten und darzustellen ist (vgl.
›Erzählung‹ fungiert mitunter auch als Sammel- Marx 2005).
bezeichnung für erzählende Texte überhaupt. Fabel und Parabel sind im Unterschied zur Kurz-
Novelle: Der Begriff stammt von ital. novella geschichte lehrhaften Inhalts. Bei der Fabel wird
(Neuigkeit), was Goethe im Gespräch mit Ecker- eine moralische Wahrheit oder ein Lehrsatz durch
mann als »unerhörte Begebenheit« übersetzt. die Übertragung aus menschlichen Verhältnissen in
Ohne größere epische Breite konzentriert sich die die Tier- oder auch Pflanzenwelt versinnbildlicht.
Novelle auf den Einbruch eines solchen Ereignis- Legende, Sage, Märchen: Legenden sind eine
ses. Der erste berühmte Novellenzyklus ist Boc- volkstümliche, unterhaltende Literaturform, in
caccios Decamerone (1353). Dort werden, von einer der das Leben und Wirken meist eines Heiligen
Rahmenstruktur umgeben, hundert Binnennovel- dargestellt wird. Dabei spielt in der Regel auch
len, häufig erotischen Inhalts, dargeboten. Auf das Wunderbare eine wichtige Rolle – ebenso
der Zeitstufe der Rahmenhandlung herrscht die wie in der Sage, die, ausgehend von realen Orten
Pest, so dass dem Erzählen eine Ablenkungs- und Zeiten, nicht selten auch historische Ereig-
oder Kompensationsfunktion zukommt. Ähnli- nisse zum Anlass hat. Das Märchen ist eine ur-

393
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

sprünglich volkstümliche Gattung wunderbaren folgen und nimmt sich stattdessen vor, immer
Inhalts, die im Unterschied zur Sage nicht an re- auch auf das vermeintlich Unwesentliche, die
alen Verhältnissen anknüpft. Seit der Romantik Feintextur des Analysegegenstands, zu achten.
unterscheidet man Volks- von Kunstmärchen Eine Grundunterscheidung: In Analogie zur
(s. Kap. III.3.4.4.3). strukturalistischen Unterscheidung der zwei Sei-
ten des sprachlichen Zeichens, Signifikat und
Signifikant (s. Kap. III.5.2.3) unterscheidet man
zwei Seiten des erzählenden Textes (s. Definition
4.2.3 | Die Analyse erzählender Texte unten).

Eine genaue Strukturanalyse hat idealerweise je-


des Detail eines erzählenden Textes unter Berück- 4.2.4 | Discours
sichtigung seiner besonderen Rolle zu würdigen.
Aber ist denn wirklich jedes Detail des literari- Die folgenden Kategorien sind von grundlegender
schen Textes von Interesse oder gar relevant? Ist in Bedeutung für die Analyse erzählender Texte: ge-
einem literarischen Text alles von Bedeutung? wissermaßen der Basiswerkzeugkasten für jede
Prinzipiell ja, meint Roland Barthes, und fragt rhe- Erzähltextanalyse. Im Zentrum der Aufmerksam-
torisch: »Von welchem Wert könnte wohl eine Me- keit steht dabei die genaue formale Analyse des
thode sein, die nicht der gesamten Oberfläche des Erzähltextes: das »erzählerische[] Medium mit-
Erzählgewebes gerecht würde?« (Barthes 2006, samt den jeweils verwendeten Verfahren der Prä-
S. 164, Herv. HD). Sich nur auf das vermeintlich sentation« (Martínez/Scheffel, S. 20, Herv. HD).
Offensichtliche in einem Text zu konzentrieren Durch deren präzise Bestimmung lässt sich ein
und das auf den ersten Blick Nebensächliche weg- Merkmalsprofil des Textes erstellen. Wichtig ist,
zulassen, hieße, statt einer wissenschaftlichen dass eine solche Analyse nicht rein deskriptiv ver-
eine bloß natürliche Einstellung im Hinblick auf fährt. Es reicht nicht, die Merkmale eines Textes
das Untersuchungsobjekt einzunehmen. Aber was bloß zu benennen. Dies kann jeweils nur ein erster
wäre denn daran so schlimm? Ist es kein adäqua- Schritt sein. Auf der Basis der formalen Befunde
ter Umgang mit Literatur, bei ihrer Analyse von sind stets auch Thesen zu formulieren, Argumen-
der Faszination des unbelasteten ersten Eindrucks tationen zu entwickeln und Schlüsse anzudeuten.
auszugehen, ihr gegenüber einen von wissen- Auf diese Weise wird die narratologische Analyse
schaftlichen Modellen unverstellten Zugang zu be- zum Ausgangspunkt einer gehaltvollen, weil an
wahren? Der Literaturwissenschaftler würde ant- die detaillierte Betrachtung der textuellen Form
worten, dass man mit einer solchen ›natürlichen zurückgebundenen Interpretation.
Einstellung‹ eher das reproduziert, was man schon Mit Gérard Genettes Forschungen zur Erzähl-
vorher gewusst bzw. erwartet hat, d. h. bestehen- theorie sind drei Hauptaspekte des erzählerischen
de Sichtweisen bzw. sogar Ideologien bestärkt. Die Discours zu unterscheiden: Zeit, Modus und Stim-
Strukturanalyse bringt hingegen ihrem Selbstver- me (als Einführungen vgl. Martínez/Scheffel 2009;
ständnis nach »etwas zum Vorschein […], das im Lahn/Meister 2008):
natürlichen Objekt unsichtbar oder […] unver- N Zeit: Auf welche Weise stellt der Text der Erzäh-
ständlich blieb« (Barthes 1996, S. 217). Sie weigert lung die zeitliche Abfolge des Geschehens dar?
sich also, dem vermeintlich Offensichtlichen zu N Modus: Analysiert werden die Distanz des Er-
Definition zählens zum Erzählten und die Fokalisierung
(aus welcher Sicht wird erzählt?).
Der   Discours ist die formale Seite der Erzählung. Bei seiner Analyse N Stimme: Gefragt wird nach dem Akt des Erzäh-
wird danach gefragt, wie, d. h. mit welchen Besonderheiten in Bezug lens, der Erzählsituation, und zwar im Hinblick
auf die Darstellung, erzählt wird auf das Verhältnis der Erzählinstanz zum Er-
Die   Histoire ist die Handlung der Erzählung. Mit Blick darauf fragt zählten und zum Rezipienten bzw. Leser.
man danach, was erzählt wird, wie die einzelnen Ereignisse miteinan-
der verknüpft werden.
4.2.4.1 | Zeit
Von zentraler Wichtigkeit für die Analyse ist, dass beide Aspekte
untrennbar miteinander verbunden sind: Das ›Was‹, die Histoire, gibt 1. Ordnung: Im Hinblick auf die zeitliche Ordnung
es nie ohne das ›Wie‹, den Discours und umgekehrt. von Erzählungen ergeben sich zwei grundsätzli-
che Möglichkeiten:

394
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Discours

N chronologische Erzählweise: Der Discours Definition


lässt die Reihenfolge der Ereignisse in der er-
zählten Welt unangetastet. Die Analyse der Grundkategorie der   Zeit widmet sich der Frage nach
N anachronische Erzählweise: Der Discours ver- dem Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit.
ändert die Reihenfolge der Ereignisse in der er- Die   Erzählzeit betrifft das ›Wie der Erzählung‹. Es geht um die Art,
zählten Welt. wie der Discours die Zeitlichkeit der erzählten Welt zur Darstellung
Anachronien lassen sich wiederum in zwei Unter- bringt.
kategorien einteilen: Die   erzählte Zeit betrifft das ›Was der Erzählung‹. Es geht um den
N Vorausdeutung (Prolepse): Der Discours springt Zeitraum, den die Ereignisse in der erzählten Welt umfassen.
zu zukünftigen Ereignissen. Das Verhältnis dieser beiden Aspekte lässt sich in dreierlei Hinsicht
N Rückwendung (Analepse): Der Discours geht untersuchen:
zu bereits vergangenen Ereignissen zurück. Ordnung: In welchem Verhältnis steht die Chronologie der erzählten
Analepsen und Prolepsen lassen sich quantitativ Zeit zu derjenigen der Erzählzeit? Merkfrage: In welcher Reihenfolge?
wie qualitativ nach einer Reihe von Kriterien ge- Dauer: Welchen Zeitraum umfasst die Erzählzeit im Verhältnis zur
nauer bestimmen: erzählten Zeit?
N Umfang: Welche Dauer umfasst der in der Ana- Merkfrage: Wie lange?
bzw. Prolepse dargestellte Zeitraum? Frequenz: Werden singuläre oder sich wiederholende Ereignisse in der
N Reichweite: Wie ist der zeitliche Abstand zwi- erzählten Welt vom Discours einmal oder wiederholt erzählt? – Merk-
schen dem in der Ana- bzw. Prolepse dargestell- frage: Wie oft?
ten Zeitraum und dem gegenwärtigen Augen-
blick der Geschichte?
N intern: Der in der Ana- bzw. Prolepse darge- N Die Simullepse stellt eine Sonderform erzähleri-
stellte Zeitraum ist zur Haupterzählung hinzu- scher Ordnung dar, in der simultan ablaufende
zuzählen. Ereignisse hintereinander dargestellt werden.
N extern: Der in der Ana- bzw. Prolepse dargestell-
te Zeitraum gehört nicht zur Haupterzählung. 2. Dauer: Mit Blick auf die Dauer fragt man da-
N komplett: Der Zeitraum der Ana- bzw. Prolepse nach, welchen Zeitraum die Erzählzeit im Ver-
ist lückenlos mit dem Zeitraum der Haupter- hältnis zur erzählten Zeit umfasst. Hierbei erge-
zählung verbunden. ben sich fünf unterschiedliche Möglichkeiten:
N partiell: Zwischen dem Zeitraum der Ana- bzw. N Erzählzeit = erzählte Zeit – zeitdeckendes
Prolepse und der Haupterzählung klafft eine Erzählen oder Szene: Die Zeitlichkeit des Er-
zeitliche Lücke. zählens wie des Erzählten laufen simultan ab.
N aufbauende Analepse: Die Erzählung beginnt Der Effekt ist ein szenischer Bericht, wie man
unvermittelt und ohne weitere Erklärung in me- ihn etwa aus der Darstellung von Dialogen
dias res. Nach einer gewissen, nicht zu langen kennt – was eigentlich ein dramatisches Ver-
Zeit klärt die aufbauende Analepse für die Le- fahren ist. Man kann auch an einen Fußball-
ser/innen die der Handlung zugrundeliegenden Livekommentar denken – oder an neuere Fern-
Verhältnisse auf, dann geht die Haupthandlung sehformate wie die amerikanische Serie 24, die
weiter. sich in der Illusion einer zeitlich deckenden
N auflösende Analepse: Die Verwicklung der 1 : 1-Darstellung der Ereignisse eines einzigen
Haupthandlung wird durch eine Rückwendung Tages versucht. Auch hier kommen aber selbst-
geklärt und dadurch aufgelöst – so wenn etwa verständlich Mechanismen der Auswahl zum
am Schluss eines Krimis die Frage nach dem Tragen, denn nicht alle Ereignisse, die alle be-
Täter durch eine Rekonstruktion des Tather- teiligten Figuren erleben, werden gezeigt.
gangs beantwortet wird. N Erzählzeit < erzählte Zeit – Raffung: Erzähl-
N zukunftsgewisse Prolepse: Die Erzählinstanz zeit ist kürzer als die erzählte Zeit. Diese Art
besitzt Kenntnisse über die Zukunft der Haupt- der Erzähldauer bildet den Normalfall epischer
erzählung und kann deshalb Vorausdeutungen Darstellung. Man muss sich nur vor Augen hal-
treffen, deren Eintreten gesichert ist. ten, dass die Handlungszeit der meisten Ro-
N zukunftsungewisse Prolepse: Die Erzählerper- mane viele Jahre umfasst, während ihre Lek-
spektive ist beschränkt und kann deshalb in türe, selbst wenn die Texte sehr umfangreich
Prolepsen nur tentative Aussagen über die Zu- sind, kaum mehr als einige Stunden oder we-
kunft machen. nige Tage in Anspruch nimmt.

395
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

Beispiel Erzählerische Dehnung Körpers zu fühlen. Das ist immerhin nicht wenig bei einem
Im Folgenden wird als Beispiel für die Anwen- Menschen, der seit seinem achten Jahr nicht an Gott geglaubt
dung erzähltheoretischer Kategorien Robert Mu- hat.
sils Erzählung »Die Amsel« herangezogen. Sie Inzwischen war der Laut von oben körperlicher geworden, er
handelt davon, dass zwei Jugendfreunde, denen schwoll an und drohte. Ich hatte mich einigemal gefragt, ob ich
ein Rahmenerzähler die Namen »Aeins« und warnen solle; aber mochte ich oder ein anderer getroffen wer-
»Azwei« verleiht, nach langer Zeit wieder auf- den, ich wollte es nicht tun! Vielleicht steckte eine verdammte
einandertreffen. Bei dieser Gelegenheit erzählt Eitelkeit in dieser Einbildung, daß da, hoch oben über einem
Azwei seinem Gegenüber Aeins drei Geschich- Kampffeld, eine Stimme für mich singe. […]. Aber ohne Zweifel
ten, die bei all ihrer Rätselhaftigkeit zentrale Er- hatte nun die Luft auch für die anderen zu klingen begonnen;
eignisse in seinem Leben darzustellen scheinen. ich bemerkte, daß Flecken von Unruhe über ihre Gesichter
Die erste Geschichte handelt davon, dass Azwei, huschten, und siehst du – auch keiner von ihnen ließ sich ein
motiviert durch den Gesang einer Amsel (die er Wort entschlüpfen! Ich sah noch einmal diese Gesichter an:
zunächst für eine Nachtigall gehalten hat), seine Burschen, denen nichts ferner lag als solche Gedanken, stan-
Ehefrau verlässt; die zweite Geschichte stellt die den, ohne es zu wissen, wie eine Gruppe von Jüngern da, die
tödliche Bedrohung durch einen Fliegerpfeil im eine Botschaft erwarten. Und plötzlich war das Singen zu ei-
Ersten Weltkrieg dar. Fliegerpfeile sind, wie die nem irdischen Ton geworden, zehn Fuß, hundert Fuß über uns,
Erzählung selbst erklärt, »spitze Eisenstäbe […], und erstarb. Er, es war da. Mitten zwischen uns, aber mir zu-
welche damals die Flugzeuge aus der Höhe ab- nächst, war etwas verstummt und von der Erde verschluckt
warfen; und trafen sie den Schädel, so kamen sie worden, war zu einer unwirklichen Lautlosigkeit zerplatzt.
wohl erst bei den Fußsohlen wieder heraus« Mein Herz schlug breit und ruhig; ich kann auch nicht den
(555); und die dritte Geschichte schildert, wie Bruchteil einer Sekunde erschrocken gewesen sein; es fehlte
Azwei nach dem Tod von Vater und Mutter in nicht das kleinste Zeitteilchen in meinem Leben. Aber das
sein Elternhaus zurückkehrt und sich dort in die erste, was ich wieder wahrnahm, war, daß mich alle ansahen.
intensive Lektüre seiner Kinderbücher vertieft. Ich stand am gleichen Fleck, mein Leib aber war wild zur Seite
Wieder erscheint dort die Amsel und behauptet, gerissen worden und hatte eine tiefe, halbkreisförmige Verbeu-
Azweis Mutter zu sein. gung ausgeführt. Ich fühlte, daß ich aus einem Rausch erwache,
Die Fliegerpfeilgeschichte ist die wohl berühm- und wußte nicht, wie lange ich fort gewesen war« (556 f.).
teste Passage in Musils Text. Diese nimmt sich
ausgesprochen lange Zeit dafür, das Nahen des In der Forschung ist zu dieser Passage häufiger
Fliegerpfeils zu schildern: zu lesen, dass sie dehnend verfahre. Doch ist
dem wirklich so? Zunächst einmal lässt sich
»Ich wunderte mich zuerst darüber, daß bloß ich das Klingen feststellen, dass sich in dieser Passage auch raf-
hören sollte. Dann dachte ich, daß der Laut wieder verschwin- fende Sätze finden (»Das dauerte eine lange
den werde. Aber er verschwand nicht. Er näherte sich mir, Zeit«). Auch eine veritable Ellipse sehen wir
wenn auch sehr fern, und wurde perspektivisch größer. Ich sah dort, wo der Einschlag des Fliegerpfeils ausge-
vorsichtig die Gesichter an, aber niemand nahm ihn wahr. […] spart wird. Der Eindruck des Gedehnten kommt
Das dauerte eine lange Zeit, während derer nur ich das Ge- vermutlich dadurch zustande, dass das Nahen
schehen näher kommen hörte. Es war ein dünner, singender, des Flugobjekts mehr als eine Seite umfasst, und
einfacher hoher Laut, wie wenn der Rand eines Glases zum dies in einem dreißig Seiten zählenden Text, der
Tönen gebracht wird; aber es war etwas Unwirkliches daran; eine ganze Lebensgeschichte enthält. In der Er-
das hast du noch nie gehört, sagte ich mir. Und dieser Laut zählliteratur ergibt sich ein Effekt der Dehnung
war auf mich gerichtet; ich war in Verbindung mit diesem Laut meist schon dann, wenn die Routine des raffen-
und zweifelte nicht im geringsten daran, daß etwas Entschei- den Erzählens zugunsten der Zeitdeckung auf-
dendes mit mir vor sich gehen wolle. Kein einziger Gedanke in gegeben wird.
mir war von der Art, die sich in den Augenblicken des Lebens- Nicht erst die Zeitlupe, sondern schon die Echt-
abschiedes einstellen soll, sondern alles, was ich empfand, war zeit kann in literarischer Darstellung zur Ge-
in die Zukunft gerichtet; und ich muß einfach sagen, ich war duldsprobe für die Leser werden (s. 4.2.4.3;
sicher, in der nächsten Minute Gottes Nähe in der Nähe meines Gleichzeitiges Erzählen I).

396
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Discours

Ellipse Dame herbeigerufen, ein russischer Offizier erschien, und die Beispiel
Da man nicht alles erzählen kann, nicht in einer Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren, mit wütenden Hie-
bestimmten Situation, und schon gar nicht, wenn ben zerstreute. Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu
die Handlung eine gewisse epische Breite hat, sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren
kommen Ellipsen ständig in Erzähltexten vor. Man schlanken Leib umfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Ge-
thematisiert sie aber nur dann, wenn sie bedeu- sicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut, zurücktau-
tungstragend sind – wie etwa bei Heinrich von melte; bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französi-
Kleist, in dessen Erzählung »Die Marquise von schen Anrede den Arm, und führte sie, die von allen solchen
O …« aus dem Jahr 1808 sich die wahrscheinlich Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch
berühmteste Ellipse in der deutschsprachigen Li- nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußt-
teratur findet, markiert durch den ebenfalls be- los niedersank. Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen
rühmtesten Gedankenstrich: Ein Trupp russischer Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte,
Soldaten fällt zu Beginn der Handlung in eine Zi- indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde;
tadelle ein, wo die Titelheldin mit ihren Eltern und kehrte in den Kampf zurück« (Kleist: Die Marquise von O …).
lebt; ihr Vater ist dort Kommandant. Die Marquise
fällt den russischen Angreifern in die Hände, die Wo steckt die Ellipse in dieser mit hohem Tempo
sich anschicken, sie zu vergewaltigen: und großer Handlungsdichte erzählten Passage?
Nun, sie verbirgt sich – kein Leser wird dies beim
»Hier, unglücklicher Weise, begegnete ihr, da sie eben durch die ersten Mal bemerken – in dem Gedankenstrich
Hintertür entschlüpfen wollte, ein Trupp feindlicher Scharfschüt- der viertletzten Zeile (»Hier – traf er …«). Was im
zen, der, bei ihrem Anblick, plötzlich still ward, die Gewehre über Discours nicht mehr ist als ein kleiner rhythmi-
die Schultern hing, und sie, unter abscheulichen Gebärden, mit scher Aussetzer, bedeutet in der erzählten Zeit
sich fortführte. Vergebens rief die Marquise, von der entsetzli- die unglaubliche Tat, dass sich der russische Of-
chen, sich unter einander selbst bekämpfenden, Rotte bald hier, fizier, der vermeintlich engelhafte Retter, seiner-
bald dorthin gezerrt, ihre zitternden, durch die Pforte zurückflie- seits an der bewusstlosen Marquise vergangen
henden Frauen, zu Hülfe. Man schleppte sie in den hinteren hat, weshalb diese im Fortlauf der Ereignisse ein
Schloßhof, wo sie eben, unter den schändlichsten Mißhandlun- Kind erwarten wird, ohne zu wissen, von wem
gen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der sie es empfangen hat.

N Erzählzeit > erzählte Zeit – Dehnung: Er- sie aus der Perspektive einer Figur formuliert
zählzeit ist umfangreicher als die erzählte Zeit. sind, die Teil der erzählten Welt ist – denn hier
Der Effekt dieses eher seltenen Verfahrens ist fließt die Zeit der erzählten Welt fort.
eine Art erzählerischer Zeitlupe.
N Ellipse: Der Discours lässt etwas aus, was sich 3. Frequenz meint das quantitative Verhältnis von
auf der Ebene der Histoire ereignet. In Katego- Ereignis und Darstellung. Dabei ergeben sich vier
rien erzählerischer Dauer dargelegt, heißt das Möglichkeiten:
(ein wenig technisch), dass die Zeit der Histoire N Singulativ (i): Ein Ereignis findet einmal statt
offensichtlich weitergeht, während die Zeit des und wird einmal dargestellt.
Discours stillsteht (Erzählzeit – erzählte Zeit). N Singulativ (ii): Ein Ereignis findet mehrfach
N Pause: Hierbei entwickelt der Discours etwas statt und wird mehrfach dargestellt.
bzw. stellt etwas dar, das nicht zum Ereignis- N Repetitiv: Ein Ereignis findet einmal statt und
fluss der erzählten Zeit gehört. Die Erzählzeit wird mehrfach dargestellt.
fließt also weiter, während diejenige der erzähl- N Iterativ: Ein Ereignis findet mehrfach statt und
ten Zeit gleichsam stillsteht (Erzählzeit – er- wird einmal dargestellt.
zählte Zeit). Dieser Effekt ergibt sich dann,
wenn eine Erzählinstanz von ihrer Warte au-
4.2.4.2 | Modus: Fokalisierung und Distanz
ßerhalb der erzählten Zeit allgemeine weltan-
schauliche Kommentare von sich gibt oder Die Kategorie des Modus geht auf die Erzähltheo-
wenn ausführlich Interieurs der erzählten Welt rie Gérard Genettes zurück. Sie ist durch die Unter-
beschrieben werden. Beschreibungen sind je- scheidung von Fokalisierung und Distanz flexi-
doch narratologisch gesehen keine Pause, wenn bler und präziser (s. Definition S. 398 unten) als die

397
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

im Schulunterricht meist zum Einsatz kommende Definition


Kategorisierung von typischen Erzählsituationen,
wie sie Franz Stanzel entworfen hat. Als Anknüp- Der   narrative Modus ist eine Form der
fung an das Schulwissen sowie als erste Orientie- Distanz zwischen den erzählten Ereignissen
rung sei Stanzels Einteilung kurz in Erinnerung und der Erzählung. Es herrscht durchgängig
gerufen (s. Vertiefung S. 399). erzählerische Vermittlung vor – auch von
Figurenrede.
1. Die Fokalisierung eines erzählenden Textes wird Der   dramatische Modus verfährt ohne
in dreifacher Hinsicht unterschieden: Distanz zwischen Ereignis und Erzählung.
N Nullfokalisierung: d. h. der Fokus der Erzäh- Figurenrede, Dialoge und Gedanken werden
lung ist nicht auf die Sicht einer beteiligten Fi- wörtlich wiedergegeben.
gur verengt, sondern gewährt eine Art der
Übersicht, wie bei Stanzels Modell des aukto-
rialen Erzählens. Es ist wichtig, sich zu verdeutlichen, welchen Ef-
N Interne Fokalisierung: Die Ereignisse sind aus fekt der Grad der erzählerischen Vermittlung von
der Perspektive einer Figur dargestellt – wie bei Worten hat und an welchen grammatischen For-
Stanzels ›personalem Erzählen‹. men sich die jeweiligen Varianten erkennen las-
N Externe Fokalisierung: Die Ereignisse werden sen:
›neutral‹ von außen geschildert, manchmal sagt Autonome oder direkte Figurenrede sind die
man: wie von einer Kamera aufgenommen (ca- am Schwächsten vermittelten Formen der erzähle-
mera eye-Verfahren), ohne eine Übersicht oder rischen Präsentation von Rede. Man hat sich aber
Selektion der Gesichtspunkte sowie ohne An- klarzumachen, dass auch hier Vermittlung vorliegt
teilnahme aus Figurenperspektive. und dass allenfalls eine Minimierung der Distanz
Der Stanzel’schen ›Ich-Erzählung‹ entspricht bei zwischen Erzähler und Figur angestrebt wird. In
Genette kein eigenständiger Fokalisierungstyp. Musils »Die Amsel« kommt das Gespräch zwi-
Denn er lässt sich entweder als nullfokalisierte Er- schen den Hauptfiguren Aeins und Azwei auf
zählweise beschreiben (wenn das erzählende Ich das Thema der architektonischen Eintönigkeit der
deutlich vom erzählten Ich unterschieden ist und Städte:
dessen Erlebnisse aus souveränem Abstand prä-
sentiert) oder als interne Fokalisierung (wenn das »Ich gebe übrigens noch heute zu, daß etwas Gewaltiges in dieser
erzählende nah ans erzählte Ich heranrückt oder Regelmäßigkeit liegt – räumte Azwei von selbst ein –, und damals
sich mit diesem deckt) oder als Mixtur aus beiden. glaubte ich, in diesem Geist der Massenhaftigkeit und Öde etwas
Genette führt daher als drittes die externe Fokali- wie eine Wüste oder ein Meer zu sehen […]« (550).
sierung ein.
Die Redeinstanz ist hier mit einem verbum dicendi
Definition (Verb des Aussagens: z. B. sagen, murmeln, schrei-
en, dozieren etc.) bzw. einer inquit-Formel (lat.
Unter der Kategorie des   Modus fragt man nach der Per- inquit: er sagt) markiert: »räumte Azwei … ein«.
spektivierung und Mittelbarkeit des Erzählten. Man Von autonomer Figurenrede spricht man, wenn
unterscheidet dabei zwei Hauptaspekte: eine solche inquit-Formel weggelassen wird.
Fokalisierung: Aus welcher Sicht wird erzählt? Wer nimmt Die Literatur des Naturalismus experimentiert
die Ereignisse wahr? mehr und mehr mit Formen wirklich gesprochener
Distanz: Wie mittelbar wird das Erzählte präsentiert? Sprache, um eine möglichst geringe Abweichung
Kommen die Gedanken und Worte der Figuren selbst zur von der Wirklichkeit zu erreichen: »Kunst = Na-
Sprache oder wird nur etwas über die Figuren erzählt? tur – x«, so Arno Holz’ Formel hierfür (Die Kunst.
Ihr Wesen und ihre Gesetze, 1891). Die Größe »x«
soll in dieser Rechnung möglichst klein gehalten
2. Die Kategorie der Distanz fragt nach der Mit- werden, und typisch naturalistische Figurenrede
telbarkeit insbesondere in Bezug auf die Darstel- erfreut sich dann geradezu am Dialekt und der un-
lung von Figurenrede bzw. von Gedanken oder geschönten Umgangssprache:
psychischen Regungen der Figuren. Grundsätz-
lich unterscheidet man dabei zwei Modi des Er- »Nee! Nee! So’nn Frooenzimmer! So’nn … pfff! Ooch schlecht!!
zählens: Ick sag’t ja! Warum nich jleich lieberst in die Beene?? So’nn Mist-

398
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Discours

Zur Vertiefung

Drei Erzählsituationen nach Franz Stanzel


Ich-Erzählung: Die Ereignisse werden von einem Ich-Erzähler präsentiert, der selbst Teil der erzählten Welt ist.
Seine Distanz zum Geschehen kann variieren. Bei einem Erzähler, der im Rückblick sein Leben erzählt, besteht
eine größere Kluft zwischen erzählendem und erlebendem Ich als etwa bei einem Briefroman, in dem diese
Kluft mitunter fast zum Verschwinden gebracht werden soll. So schreibt Goethes Werther nach einer turbulen-
ten Nacht mit der von ihm geliebten (und mit einem anderen verlobten) Lotte an Wilhelm, den Adressaten sei-
ner Briefe:

am 10. Sept.
»Das war eine Nacht! Wilhelm! nun überstehe ich alles. Ich werde sie nicht wieder sehn! O daß ich nicht an
Deinen Hals fliegen, dir mit tausend Thränen und Entzückungen ausdrücken kann mein Bester, die Empfindun-
gen, die mein Herz bestürmen! Hier sitze ich und schnappe nach Luft, suche mich zu beruhigen, und erwarte
den Morgen […]« (Goethe: Die Leiden des jungen Werthers).

Auktoriale Erzählsituation: Der auktoriale Erzähler ist der »Gottvater unter den Erzählinstanzen« (Bode 2005,
S. 149). Er steht außerhalb der erzählten Welt, hat auf sie aber einen schier allmächtigen Zugriff. Er ist all-
wissend, besitzt Einblick in das Empfindungsleben jeder Figur und verfügt souverän über die zeitlichen Dimen-
sionen der Erzählung. In einem Zeitschrifteninterview bringt der Schriftsteller W. G. Sebald die moderne Skepsis
im Hinblick auf auktoriales Erzählen zum Ausdruck:

»Eine literarische Produktion, die nicht die Unwissenheit des Erzählers eingesteht, ist eine Art von Hochstapelei,
die auf mich sehr, sehr schwer hinnehmbar wirkt. Jegliche Form des auktorialen Schreibens, bei der sich der Er-
zähler als Bühnenbildner, Spielleiter oder Richter und Vollstrecker einsetzt, finde ich irgendwie unhaltbar. […]
In einer Welt, in der es klare Regeln gibt und jeder weiß, wo deren Übertretung beginnt, halte ich es für legi-
tim – in einem solchen Kontext –, ein Erzähler zu sein, der die Regeln kennt und auf bestimmte Fragen Antwor-
ten weiß. Ich glaube aber, solche Gewissheiten sind uns im Laufe der Geschichte genommen worden: wir müs-
sen nun unser Gefühl der Unwissenheit und Unzulänglichkeit in diesen Dingen eingestehen und deshalb auch
so zu schreiben versuchen« (zit. n. Wood 2011, S. 19 f.).

Personale Erzählsituation: Das personale Erzählen liefert die Illusion von Unmittelbarkeit, eines Erzählens
ohne vermittelnden Erzähler, das ganz in das Bewusstsein der Figuren eintaucht. Eine solch personal erzählte
Figur nennt Stanzel Reflektorfigur. Diese »spiegelt Vorgänge der Außenwelt in ihrem Bewußtsein wider, nimmt
wahr, empfindet, registriert, aber immer stillschweigend, denn sie ›erzählt‹ nie, das heißt, sie verbalisiert ihre
Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle nicht, da sie sich in keiner Kommunikationssituation befindet« (Stanzel
2001, S. 194). Da dies freilich nur der Effekt eines spezifischen Erzählarrangements ist, und Erzählen nolens vo-
lens immer Sprachlichkeit sowie Techniken der Selektion und Anordnung von Ereignissen impliziert – handelt
es sich laut Stanzel genau genommen um »die Überlagerung der Mittelbarkeit durch die Illusion der Unmittel-
barkeit« (ebd., S. 16).

sticken!! Na komm du mir man! Ick weer dir schon inweihen! schaft‹. – An den Wortlaut der Figurenrede erin-
--- Wat?? … Eenzen … Zween« (Arno Holz/Johannes Schlaf: Die nert dabei nichts.
papierne Passion, 1890). Transponierte, d. h. erzählerisch vermittelte
Figurenrede findet sich in zwei Varianten:
Die erzählte Rede steht als zweite Hauptkategorie Die indirekte Rede markiert den sprachlichen
am anderen Ende jenes Spektrums, das Figuren- Akt in der 3. Person Indikativ (Präteritum): ›Azwei
rede distanziert wiedergibt: Dies geschieht ent- räumte ein‹; daran wird ein mit der Konjunktion
weder durch die bloße Erwähnung eines sprach- »dass« eingeleiteter Nebensatz angeschlossen, in
lichen Akts: ›Azwei sprach mit Aeins‹ oder in dem zwei Transformationen vorgenommen wer-
Form eines Gesprächsberichts: ›Azwei sprach mit den: Das Verb des Aussagesatzes wird in den Kon-
Aeins über die großstädtische Massengesell- junktiv übertragen und Lokal- oder Temporalad-

399
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

verbien werden der in der Vergangenheit liegenden Sie stellt eine besonders interessante Form dar. In
Sprechergegenwart angeglichen (aus ›heute‹ wird ihr kommt es zu einer regelrechten Mixtur von Er-
›an diesem Tag‹ aus ›morgen‹ wird ›am nächsten zähler- und Figurenstimme. Das Tempus der er-
Tag‹, aus ›hier‹ wird ›an dieser Stelle‹). Der Satz lebten Rede ist das epische Präteritum, sie ist
bei Musil würde also in indirekter Rede lauten: also aus der Sicht einer Erzählinstanz erzählt, de-
›Azwei räumte ein, dass er noch an diesem Tag ren Standort nicht identisch mit dem der Figur ist
zugeben müsse, dass etwas Gewaltiges in der Re- (sollte es sich um die identische Person handeln,
gelmäßigkeit großstädtischer Architektur liege, so ist dennoch der Zeitpunkt und Ort des Erzäh-
und er seinerzeit geglaubt habe, in jenem Geist lens als verschieden von dem der handelnden Fi-
der Massenhaftigkeit und Öde etwas wie eine gur markiert). Die erlebte Rede wird stets ohne
Wüste oder ein Meer zu sehen.‹ – Stilistisch alles einleitende verba dicendi oder inquit-Formeln
andere als schön, aber nicht untypisch für die präsentiert. Die erlebte Rede ist insofern unabhän-
nicht immer elegante, insbesondere bei gehäufter giger von einem vermittelnden Erzähler. Lokal-
Anwendung eher etwas steife indirekte Rede, in und Temporaladverbien sind entsprechend aus
der man nur die Stimme der vermittelnden Erzäh- der Sicht der Figur formuliert. Man versteht dies
lers hört. im Anschluss an Käte Hamburger als linguistische
Die erlebte Rede ist eine geschmeidigere und Signale für eine Ich-Origo, also für die erzähleri-
elegantere Variante transponierter Figurenrede. sche Anzeige eines konkreten Ich in einem Hier
und Jetzt (Hamburger 1977). Darüber hinaus nä-
hert sich der Duktus der individuellen Figurenre-
Beispiel: Indirekte Rede de an (wie er in der gesprochenen Sprache vorlä-
In der Rahmenerzählung der »Amsel« stellt ge), nicht zuletzt mit Hilfe kolloquialer Modal- oder
Azweis angesprochene Kritik an der Normie- Abtönungspartikeln (›halt‹, ›eben‹, ›ja‹, ›doch‹
rung der Existenz durch gleichmachende Woh- u. a.), z. B.: ›Nun ja, er musste einfach zugeben: In
nungseinrichtungen keineswegs das letzte dieser Regelmäßigkeit lag schon etwas Gewalti-
Wort dar. In einem der raren Blicke der Erzäh- ges, doch glaubte er, in diesem Geist der Massen-
lung auf den Zuhörer Aeins heißt es: »Aeins haftigkeit und Öde etwas wie eine Wüste oder ein
dachte daran, daß sie auf einem Balkon mit Meer zu sehen‹.
einem roten Lampenschirm säßen, der zu sei- Für die Präsentation von Gedanken gelten
ner Wohnung gehörte, aber er schwieg, denn er grundsätzlich dieselben Kategorien wie bei der
wußte zu genau, was er hätte einwenden kön- Präsentation von Worten. Auch hier finden sich
nen« (550). Die Situation ist paradox: Der Ein- Grade der Mittelbarkeit:
wand, den Aeins gegen Azweis kritische Be- N Der distanzierte Bewusstseinsbericht (psycho
merkungen zu den Berliner Höfen offenbar mit narration), in dem Gedanken vollständig erzäh-
Leichtigkeit hätte äußern können, wird ver- lerisch vermittelt werden.
schwiegen. Dadurch aber, dass der Text auf N Die transponierte, d. h. indirekte oder erlebte
Aeins’ Gedanken an den Balkon mit rotem Gedankenrede.
Lampenschirm hinweist, wird deutlich, dass N Die zitierte Gedankenrede, in der die Distanz
Azweis Äußerung performativ widersprüchlich zwischen (Rede-)Ereignis und Erzählung am
ist. Die Kritik an der Gleichmacherei der Miets- Geringsten ist.
kasernen wird offenbar genau in einer solchen Das Problem einer authentischen Abbildung stellt
Mietskaserne geäußert: Ist damit Azweis kriti- sich in der zitierten Gedankenrede freilich in ver-
sche Ausführung ebenfalls als topisch vorge- schärfter Form. Lässt sich in Bezug auf direkte Fi-
formt entlarvt? So sicher kann man sich da gurenrede das Problem der literarischen Vermitt-
nicht sein – denn grammatisch kann die indi- lung zwar auch stets in Form der Frage: »Redet
rekte Rede – »… daß sie auf einem Balkon mit man wirklich so?« stellen, so erscheint es in Bezug
einem roten Lampenschirm säßen« sowohl ein auf die direkte Präsentation von Gedankenrede
Potentialis wie ein Irrealis sein; d. h. Aeins »auf den ersten Blick« geradezu »widersinnig, daß
denkt daran, dass sie wirklich auf einem sol- die unausgesprochenen Gedanken fiktiver Perso-
chen Balkon sitzen oder er denkt daran, dass nen gerade in Form der direkten Rede mitgeteilt
sie dort sitzen würden – grammatisch ist das werden« (Vogt 1990, S. 179, Herv. HD).
hier nicht zu entscheiden. Innerer Monolog: Seltsam ist diese Form des
Selbstgesprächs eigentlich schon dort, wo sie her-

400
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Discours

Innerer Monolog (I) seiner Gewohnheit nach, also mit sich selbst zu philosophieren Beispiel
Bei einem frühen Beispiel des Inneren Monologs angefangen:
in der deutschsprachigen Literatur, dem Kapitel »War es ein Traum, was mir begegnet ist, oder sah ich sie würk-
»Ein Selbstgespräch« aus Christoph Martin Wie- lich, hört’ ich würklich den rührenden Akzent ihrer süßen
lands Bildungsroman Geschichte des Agathon Stimme, und umfingen meine Arme keinen Schatten? Wenn es
(Erste Fassung 1766/67), wird deutlich, wie sehr mehr als ein Traum war, warum ist mir von einem Gegenstand,
dieses im Grunde unnatürliche Erzählarrange- der alle andern aus meiner Seele auslöschte nichts als die Er-
ment einer Rechtfertigung bedarf. Noch bevor innerung übrig? – Wenn Ordnung und Zusammenhang die
wir nämlich Agathon mit sich selbst reden hö- Kennzeichen der Wahrheit sind, o! wie ähnlich dem ungefäh-
ren, meldet sich der Erzähler ausführlich zu ren Spiel der träumenden Phantasie sind die Zufälle meines
Wort: ganzen Lebens! […]« (Wieland: Geschichte des Agathon. Erste
Fassung).
»Da wir uns zum unverbrüchlichen Gesetze gemacht haben, in
dieser Geschichte alles sorgfältig zu vermeiden, was gegen die Der Innere Monolog bedarf bei Wieland also ei-
historische Wahrheit derselben einigen gerechten Verdacht er- ner doppelten Rechtfertigung: Zunächst einmal
wecken könnte; so würden wir uns ein Bedenken gemacht ha- wird das Selbstgespräch psychologisch mit Aga-
ben, das Selbstgespräch, welches wir hier in unserm Manuskript thons charakterlicher Eigenschaft begründet,
vor uns finden, mitzuteilen, wenn nicht der ungenannte Verfas- »mit sich selbst zu philosophieren«. Weiter wird
ser die Vorsicht gebraucht hätte uns zu melden, daß seine Erzäh- mit Blick auf die mediale Überlieferung ausführ-
lung sich in den meisten Umständen auf eine Art von Tagebuch lich dargelegt, wie es überhaupt zur Aufzeich-
gründe, welches (sichern Anzeigen nach) von der eignen Hand nung eines solchen Selbstgesprächs kommen
des Agathon sei, und wovon er durch einen Freund zu Crotona konnte. Doch tragen diese Ausführungen wirk-
eine Abschrift erhalten. Dieser Umstand macht begreiflich, wie lich dazu bei, den Anspruch des Inneren Mono-
der Geschichtschreiber habe wissen können, was Agathon bei logs (und von Wielands Romanprojekt) zu stär-
dieser und andern Gelegenheiten mit sich selbst gesprochen; ken, die ungefilterte innere Wahrheit einer
und schützet uns gegen die Einwürfe, die man gegen die Selbst- Romanfigur zur Darstellung zu bringen? Eher
gespräche machen kann, worin die Geschichtschreiber den Poe- scheint das Erzählarrangement – Agathon führt
ten so gerne nachzuahmen pflegen, ohne sich, wie sie, auf die ein Tagebuch, in dem er seine Selbstgespräche
Eingebung der Musen berufen zu können. nachträglich verzeichnet, dieses Tagebuch fällt
Unsre Urkunde meldet also, nachdem die erste Wut des Schmer- dem anonymen Erzähler in die Hände und des-
zens, welche allezeit stumm und Gedankenlos zu sein pflegt, sen Erzeugnisse gibt wiederum ein Redaktor her-
sich geleget, habe Agathon sich umgesehen; und da er von allen aus – das in hohem Maß Konstruierte des narra-
Seiten nichts als Luft und Wasser um sich her erblickt, habe er, tiven Unternehmens zu betonen.

stammt, im Drama. Denn wer stellt sich ›in Wirk- Dujardin in seiner Erzählung Les lauriers sont cou-
lichkeit‹ hin und räsoniert lang und breit in laut pés (Der geschnittene Lorbeer) erprobt (s. S. 402).
vernehmlicher Rede über seine innere Befindlich- Stream of consciousness: Das systematische Pro-
keit? Im Drama ist diese Form der Figurenrede in- blem des Inneren Monologs besteht darin, dass
des als jene »einzige Möglichkeit« akzeptiert, »die Gedanken in Wirklichkeit möglicherweise viel we-
Gedanken einer Figur außerhalb des Dialogs mit- niger sortiert sind, als dies geäußerte oder gar
zuteilen« (ebd., S. 180). grammatisch wohlgeordnete Sätzen auszudrücken
Aufgrund solcher Künstlichkeit, die in der vermögen. Daraus wurde die Konsequenz gezo-
Struktur des Inneren Monologs begründet ist, mo- gen, den autonomen Inneren Monolog stilistisch
difiziert ihn die moderne Prosa mit dem Ziel einer weiter zu radikalisieren – in Form von abgehack-
besseren Simulation von Bewusstseinsprozessen. ten Syntagmen, sprunghaften Assoziationen und
Eine der Maßnahmen besteht darin, die vermit- Ideen, in denen das zum Ausdruck kommen sollte,
telnde Erzählerinstanz auszuschalten. So kommt was der Bewusstseinsphilosoph William James
es zur Variante eines autonomen, d. h. weder von um 1890 den stream of consciousness (Bewusst-
inquit-Formel eingeleiteten noch von einem Er- seinsstrom) genannt hat. Virginia Woolf schreibt
zählrahmen dominierten Inneren Monologs. Erst- dazu programmatisch in ihrem Essay »Moderne
malig wird ein solcher im Jahr 1888 von Édouard Romankunst« (1919):

401
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

»Wir wollen die Atome aufzeichnen, und zwar in der 4.2.4.3 | Stimme
Folge, wie sie ins Bewußtsein fallen, wir wollen das Mus-
ter nachzeichnen, so unverbunden und zusammenhang-
los es auch erscheinen vermag, das jeder Anblick und je- Definition
des Ereignis dem Bewußtsein aufprägt« (Woolf, zit. n. Vogt
1990, S. 185). Mithilfe der Kategorie   Stimme wird das
Verhältnis des Erzählakts zum Erzählten und
Der Anlass für Virginia Woolfs Ausführungen zum Leser untersucht. Dabei stehen vier
stammt von James Joyce, der seinen monumenta- Aspekte zur Debatte: der Zeitpunkt und der
len Roman Ulysses mit dem fast 100-seitigen Ort des Erzählens, der Grad der Beteiligung
stream of consciousness Molly Blooms enden lässt, des Erzählers am Geschehen sowie die Frage
der Ehefrau des Protagonisten Leopold Bloom. An- danach, wer Subjekt und Adressat des
gesichts dieses bewusst kolloquialen, auf Satzzei- Erzählens ist (wer erzählt wem?).
chen verzichtenden, voller Assoziationen, Erin-
nerungsfetzen, Wortspielen und -neubildungen
steckenden Redeflusses wird einmal mehr deut- 1. Der Zeitpunkt des Erzählens lässt sich wiederum
lich, dass ein stream of consciousness nicht etwa in dreifacher Hinsicht unterscheiden:
Vorsprachliches in Sprache fasst, sondern umge- N Späteres Erzählen: Erzählt wird, was sich zu-
kehrt: mit Hilfe eines äußerst kalkulierten und vor ereignet hat. Dies stellt den ›Normalfall‹ des
kunstvollen sprachlichen Verfahrens die Sugges- Erzählens dar. Man spricht in diesem Zusam-
tion psychischer Vorgänge betreibt (s. Beispiel menhang auch vom epischen Präteritum.
S. 403 oben). N Früheres Erzählen: Erzählt wird, was sich spä-
ter ereignen wird. Diese Form futurischen Er-
zählens bildet eine seltene Ausnahme und fin-
det sich in der Regel nur in erzählerischen
Kabinettstücken.

Beispiel Innerer Monolog (II) unvollständige Syntagmen, noch um Aposiope-


In der deutschsprachigen Literatur nimmt Arthur sen, also um ein Verschweigen des Wesentli-
Schnitzler mit der Erzählung Leutnant Gustl chen, handelt – denn eigentlich wird ja alles ge-
(1900) diese Form auf. Doch auch hier bleiben sagt, was von dieser Situation zu sagen ist. Der
die Limitierungen des Inneren Monologs erkenn- Duktus der Formulierung ist indessen dem
bar: Mündlichen, genauer dem Wienerischen Dialekt
angenähert, etwa mit Hilfe von Elisionen (»lang’«
»Wie lang’ wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr »sieht’s«, »Wenn’s«) oder in Form von ungram-
schauen … schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so erns- matisch kolloquialer Rede »Mir kommt vor,…«
ten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so paßt statt wie korrekt ›Mir kommt es vor‹. Nicht zu
er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch’ ich mich übersehen ist allerdings, dass jede Handlungs-
nicht zu genieren … Erst viertel auf zehn?… Mir kommt vor, ich form der Figur, über die der Text den Leser in
sitz’ schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin’s halt nicht Kenntnis setzen möchte, von einer inneren An-
gewohnt … Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm weisung begleitet werden muss – »Ich muß auf
anschauen … Ja, richtig: Oratorium!« die Uhr schauen« oder »Ich muß das Programm
anschauen«. Deutlich sind hierdurch die mimeti-
Man sieht, mit Hilfe welcher stilistischer und schen Grenzen eines absolut gesetzten Inneren
grammatischer Mittel der Text versucht, den Le- Monologs markiert, denn, schlicht gesagt: So
ser direkt in die Psyche seiner Reflektorfigur zu denkt niemand. An solchen Stellen wirken auto-
versetzen, als würden die Gedanken so wieder- nome Innere Monologe umständlich und höl-
gegeben, wie sie just ins Bewusstsein treten: Die zern oder allenfalls wie die Rede eines Zwangs-
Sprunghaftigkeit des Denkens wird mit Pünkt- neurotikers, der nicht anders kann, als jeden
chen simuliert, wobei festzustellen ist, dass es Handgriff mit einem gemurmelten Kommentar
sich dabei weder um regelrechte Ellipsen, also zu versehen.

402
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Discours

Stream of consciousness war fromm weil die garantiert kein Mann ein zweitesmal an- Beispiel
Der Beginn der dahinrauschenden Gedanken guckt hoffentlich werde ich nie so wie die […]« (James Joyce:
Molly Blooms, die mit ihrem schlafenden Ehe- Ulysses).
mann Leopold im heimischen Bett liegt und dem
Tag nachsinnt, macht deutlich, dass die stream of Joyce verzichtet hier zugunsten der Simulation
consciousness-Technik gewissermaßen aus jedem eines Gedankenflusses völlig auf Interpunktion.
Tag im Leben, aus jedem noch so alltäglichen Be- Der stream of consciousness von Thomas Lehrs
wusstseinsvorgang, ein literarisches Experiment Novelle Frühling (2001) zeichnet sich hingegen
und ein rauschendes Abenteuer machen kann: durch eine hektisch rhythmisierende Zeichenset-
zung aus. Hier geht es auch nicht darum, nach-
»Ja, weil er sowas doch noch nie gemacht hat bis jetzt daß er denklich den Tag ausklingen zu lassen, sondern
sein Frühstück ans Bett haben will mit zwei Eiern seit dem City um die letzten 39 Sekunden im Leben eines Man-
Arms Hotel wo er immer so tat wie wenn er wegen seiner kran- nes. So beginnt der Text:
ken Stimme das Bett hüten müßte und den feinen Lackaffen
spielte alles bloß um sich bei der alten Ziege interessant zu ma- »Helfen Sie. Mir! Glauben Sie: Ich würde niemanden. Bitten,
chen Mrs Riordan von der er dachte er hätte einen dicken Stein wenn mir nicht immer: der Bürgersteig: das Haus: hören Sie
im Brett bei ihr und dabei hat sie uns keinen roten Heller hinter- diese dunkle Straße sogar: diese Stadt. Selbst! Immer wieder.
lassen alles für Messen weg für sie selber und ihre blöde Seele Entgleiten würde.
also sowas von Geizkragen das gibts nicht nochmal wieder wie Es geht mir. Gut danke wenn Sie mich. Ein wenig unter den Ach-
die sich gesträubt hat die lumpigen 4d für ihren Brennspiritus seln. Danke. Es geht mir: sehr gut! Dieses Schlingern braucht
rauszurücken und dann all ihr Wehwehchen die sie hatte und nicht aufzuhören. Auf diesem Gehweg der hier aussieht. Wie
das ganze Gequatsche über Politik und Erdbeben und das Ende eine lebende Fisch: Seite. Meine Schuhsohlen auf den Schuppen.
der Welt also erstmal wolln wir uns doch noch ein bisschen Stürze. Ich? Liegt es an Ihrem. Eisen. Klingen: Griff dass. Ich
amüsieren guter Gott wenn alle Frauen derart rot sähen bei nicht. Zusammenstoße? Hören Sie: Ich kann hier sehr wenig.
Badeanzügen und ausgeschnittenen Kleidern von ihr hat ja Sehen. Alles ist so.
schließlich keiner verlangt daß sie sowas trägt ich nehme an sie Ich heiße hab. Ich. Vergessen […]« (Thomas Lehr: Frühling).

N Gleichzeitiges Erzählen: Erzählt wird, was bung von Ist-Zuständen oder Oberflächen den
sich gleichzeitig ereignet. Man kann dabei an »alten Mythen der Tiefe« abschwört, oder in
den Stil von Live-Reportagen denken. Litera- Deutschland durch Peter Weiss’ ebenso doku-
risch größere Bedeutung erlangte diese eher un- mentarischen wie surrealen Kurzroman Der
gewöhnliche Art des Erzählens in der Prosa der Schatten des Körpers des Kutschers (1960), der
1950er und 60er Jahre, insbesondere im franzö- folgendermaßen beginnt:
sischen nouveau roman, der in der Beschrei-

Gleichzeitiges Erzählen spezifische Sichtweise ist, d. h. bestimmten Rah- Beispiel


mungen oder Kadrierungen unterliegt, die sie ge-
»Durch die halboffene Tür sehe ich den lehmigen, aufgestampf-
nauso ermöglichen wie einschränken – hier deut-
ten Weg und die morschen Bretter um den Schweinekofen. Der
lich markiert durch die »halboffene Tür« oder
Rüssel des Schweines schnuppert in der breiten Fuge wenn er
auch durch die Pfähle mit Querstangen, die
nicht schnaufend und grunzend im Schlamm wühlt. Außerdem
gleichsam ein Raster für den Blick in die Ferne
sehe ich noch ein Stück Hauswand mit zersprungenem, teilweise
bilden. Es wird indes auch angedeutet, wie
abgebröckeltem gelblichem Putz, ein paar Pfähle, mit Querstan-
schwierig ein wirklich konsequent gleichzeitiges
gen für die Wäscheleinen, und dahinter, bis zum Horizont,
Erzählen zu erreichen ist, denn die Formulierung
feuchte, schwarze Ackererde« (Peter Weiss: Der Schatten des
»Der Rüssel des Schweines schnuppert in der
Körpers des Kutschers).
breiten Fuge wenn er nicht schnaufend und
Es ist deutlich, dass in dieser Form des Erzählens grunzend im Schlamm wühlt« markiert genau
die visuelle Wahrnehmung dominiert. Weiss’ genommen ein iteratives Erzählen, verfährt also
Text betont allerdings, dass jede Sicht immer eine nicht streng gleichzeitig, sondern raffend.

403
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

Formal nicht unähnlich, jedoch weniger einem ex- John Updike für Rabbit, Run (dt. Hasenherz,
perimentellen Erzählen denn einem zeitgenössi- 1960), den ersten Roman seiner (nach dem Spitz-
schen Realismus verpflichtet, ist die Form gleich- namen der Hauptfigur sogenannten) Rabbit-Penta-
zeitigen Erzählens, das der amerikanische Autor logie wählt:

Beispiel Gleichzeitiges Erzählen mit Wechsel eher »die ungestalte Fülle an Details« vor Augen
der Fokalisierung zu führen, die »das Leben […] bereithält« (Wood
2011, S. 68), als deren kalkulierte und mithin se-
»Jungen, die Basketball spielen um einen Telegraphenmast he-
lektive Literarisierung. Eine solche aber versucht
rum, an den sie ein Brett genagelt haben. Beine, Schreie. Das
Updike, wenn er mit einem kalkuliert ausgewähl-
Schurren und Rutschen der Turnschuhe auf den losen Kieseln
ten Repertoire von Eindrücken nicht nur visuelle
katapultiert die Stimmen hoch in die feuchte Märzluft hinauf,
Anschaulichkeit erzeugt, sondern auch für akus-
die sich blau über den Drähten wölbt. Rabbit Angstrom, der ge-
tische (»Schurren und Rutschen«), ja sogar die
rade die kleine Straße heraufkommt, in strengem Anzug, bleibt
Kälteempfindung betreffende Sinneseindrücke
stehen und sieht zu, obwohl er sechsundzwanzig ist und eins-
(»feuchte Märzluft«) sorgt. Die Szenerie dient der
neunzig groß. Bei einer solchen Größe scheint der Spitzname
Charakteristik des Protagonisten: Er – ein ehema-
›Kaninchen‹ nicht gerade nahezuliegen, aber das breite, hellhäu-
liger Highschool-Basketballstar – ist trotz Anzug
tige Gesicht, die blassen blauen Augen und das nervöse Zucken
und Körperlänge irgendwie ein Junge geblieben.
unter der kurzen Nase, wenn er sich eine Zigarette in den Mund
Die externe Fokalisierung hält der Text denn auch
steckt: all das erklärt teilweise den Namen, der er bekommen
nicht konsequent durch, sondern mischt nullfo-
hat, als er selber ein Junge war. Er steht da und denkt: die Ben-
kalisierte Feststellungen wie (»Er steht da und
gel kommen immer näher, sie umzingeln dich noch.« (John
denkt: …«) mit Momenten interner Fokalisie-
Updike: Hasenherz).
rung. In poetischen Beschreibungen wie der
Märzluft, »die sich blau über den Drähten wölbt«
Anders als Updike wählt Peter Weiss für seinen sieht und hört man nicht bloß das, was der Er-
Romanfang eine auch den Fortlauf des Textes do- zähler wahrnimmt und äußert, sondern auch
minierende externe Fokalisierung und wahrt da- das, was Rabbit empfindet – er ist ein ziemlich
durch konsequent das Rätsel, weshalb uns eine sensibler Zeitgenosse, worauf nicht zuletzt auch
solch präzise Erfassung der Gegebenheiten über- die Furcht deutet, die Basketball spielenden Kin-
haupt interessieren sollte. Der Roman scheint der könnten ihn umzingeln.

2. Ort: Hier ist nach der Stellung des Erzählens zur Homodiegetisches Erzählen: Erzähler ist selbst
erzählten Welt gefragt oder genauer nach erzähle- Teil der erzählten Welt. Hier gibt es eine ganze
rischen Rahmenkonstruktionen Bandbreite von Möglichkeiten, wie der Erzähler an
N Extradiegetisch nennt man ein Erzählen, des- den Geschehnissen der erzählten Welt beteiligt
sen Standort außerhalb der Diegese (der erzähl- ist – von peripher bis zentral:
ten Welt) ist. N Unbeteiligter Erzähler (d. h. sein Standort
N Intradiegetisches Erzählen – erzähltes Erzäh- kann ganz woanders sein – aber er wohnt z. B.
len: In der Diegese findet sich eine Figur, die in derselben Stadt)
ihrerseits eine Geschichte erzählt. N Unbeteiligter Beobachter (d. h. er ist in Sicht-
N Metadiegetisch – erzähltes erzähltes Erzählen: weite des Geschehens)
Innerhalb der intradiegetischen Erzählung be- N Beteiligter Beobachter (d. h. er hat z. B. eine
findet sich ein weiterer Erzähler. persönliche Beziehung zu einem der Protago-
N Metametadiegetisch nennt man eine weitere nisten)
Schachtelung innerhalb der Diegese usw. N Nebenfigur (gewisse Involvierung in die Hand-
lung)
3. Stellung des Erzählers zum Geschehen: Grund- N Eine der Hauptfiguren (auf entscheidende
sätzlich unterscheidet man hier: Weise in die Handlung involviert)
Heterodiegetisches Erzählen: Erzähler ist nicht N Hauptfigur (das Zentrum des Geschehens)
Teil der erzählten Welt.

404
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Discours

Metadiegetisches Erzählen blitzt an solchen Stellen zwar keine regelrechte Beispiel


Wie ein solches ›Matrjoschka-Prinzip‹, also ein weitere Erzählebene auf (zitierte Figurenrede ge-
Erzählen im Stil jener russischen Holzpuppen, in neriert noch keine eigene Erzählebene), das Zi-
denen immer wieder kleinere Püppchen in der tatgefüge wird aber – verstärkt durch den ständi-
jeweils größeren stecken, gewissermaßen auf gen Wechsel zwischen direkter und transponierter
engstem Raum funktioniert, führt Thomas Bern- Figurenrede – noch komplizierter und generiert
hards Erzählung »Der Wetterfleck« (1976) vor. in seiner Verknäuelung eine eigenwillig absurde
Dort erfährt ein Rahmenerzähler schriftlich von Komik:
einem Anwalt namens Enderer von dessen Be-
gegnung mit einer Figur namens Humer. Enderer »Und jetzt notieren Sie, sagt Humer, schreibt Enderer und Hu-
ist auf Humer aufmerksam geworden, da er mer eröffnete mir zum erstenmal: vor einer Woche ist mir plötz-
glaubt, dieser trage den Wetterfleck (der österrei- lich gesagt worden, ich solle auch aus dem zweiten Stock aus-
chische Begriff für eine wetterfeste Jacke aus Lo- ziehen und in den dritten Stock. Mein Sohn machte mir den
denstoff) seines verstorbenen Onkels, der Selbst- sonderbaren Vorschlag, wie ich gerade mit der Lektüre von Zell-
mord in einem Flüsschen namens Sill begangen stoff- und Preßpapierprospekten beschäftigt bin. Nicht einen
hat. Hat Humer dessen Jacke entwendet? Ein ty- Augenblick zweifelte ich daran, daß, während mein Sohn mich
pischer Bernhard-Plot. aufforderte, aus dem zweiten Stock auszuziehen, mich in Wirk-
Wenn nun Humer in diesem Zusammenhang lichkeit, durch seinen unverschämten Mund allerdings, sagt Hu-
wiederum seine familiäre Situation schildert, ge- mer, mich meine Schwiegertochter dazu aufforderte. Ja, habe
nauer gesagt, Enderer sein Leid klagt, dass ihn ich gesagt, sagt Humer und er habe sich dabei bemüht, ruhig zu
sein Sohn und dessen Ehefrau im gemeinsam be- bleiben, nicht in Erregung zu kommen, ja, also auch aus dem
wohnten Haus wegen deren wachsender Kinder- zweiten Stock heraus und in den dritten! Und er habe mehrere
schar in eine schwer beheizbare Dachkammer Male wiederholt: und in den dritten, und in den vierten, weil,
abgeschoben haben, dann liegt folgender Fall inzwischen waren noch zwei geboren, ein viertes Kind
vor: Humers (metadiegetische) Erzählung wird kommt … ein viertes Kind, sagt Humer zu mir, schreibt Enderer,
vom intradiegetischen Erzähler Enderer schrift- ist das nicht unsinnig? Ist das nicht unsinnig und stumpfsinnig
lich dem extradiegetischen Rahmenerzähler mit- zugleich? Mehrere Male sagt Humer zu mir: ist das nicht vollkom-
geteilt und von diesem dem Leser erzählt. Wenn mener Stumpfsinn? Ein Verbrechen, ein viertes Kind! sagt Hu-
in Humers Erzählung dann auch noch Versatz- mer, schreibt Enderer. In diesen Zeiten, habe ich gesagt, so Hu-
stücke von Figurenrede seines Sohnes zitiert wer- mer, schreibt Enderer, in welcher um Hunderte Millionen
den (und diese dann auch noch als Rede der Menschen zuviel sind, ein viertes Kind?« (Thomas Bernhard:
Schwiegertochter identifiziert werden), dann »Der Wetterfleck«).

4. Subjekt und Adressat des Erzählens: Jeder Akt fliege ... fliege ... schlafe und träume ... und fliege ... nicht we-
des Erzählens richtet sich an einen Zuhörer. Wer cken … morgen früh …
etwas zu erzählen hat, ist geradezu auf den Zuhö- ›El …‹
rer angewiesen. Ich fliege … ich träume … ich schlafe … ich trä … träu – ich flie ……«
Dass auch extradiegetische Erzähler an Kontur (Arthur Schnitzler: Fräulein Else).
gewinnen können, sieht man etwa bei Scheheraza-
de, der Rahmenerzählerin der Geschichten aus Auch wenn ein Erzähler diegetisch im Verborge-
1001 Nacht, erzählt diese doch gegen ihre eigene nen bleibt, also beispielsweise in heterodiegeti-
Tötung an (s. 4.2.1). Spannend wird es auch, wenn schen Erzählungen ohne Rahmenstruktur, gewinnt
ein intradiegetischer Erzähler mit dem Tod bedroht er allein aufgrund seines Erzähltons stets an Kon-
oder von diesem gar ereilt wird – wie die Heldin tur. ›Erzähler‹ und ›Leser‹ sind zwar nicht notwen-
aus Arthur Schnitzlers Erzählung Fräulein Else dig eine bestimmte männliche oder weibliche Fi-
(1924), die von der Überdosis eines Schlafmittels gur, ihre Art der Formulierung, insbesondere bei
dahingerafft wird: Ich-Erzählern ist aber auch bei nullfokalisiertem
Erzählen in der Regel »weiblich oder männlich
»Sie rufen von so weit! Was wollt ihr denn? Nicht wecken. Ich konnotiert […], auch wenn explizit der/die Ich-
schlafe ja so gut. Morgen früh. Ich träume und fliege. Ich fliege ... Erzähler(in) im Text nicht als Mann/Frau gekenn-
zeichnet wird« (Fludernik 2008, S. 83).

405
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

Beispiel Subjekt und Adressat des Erzählens stände« (ebd., S. 84) eingelassen sind und dadurch
Wie um dies zu demonstrieren, führt der extradie- diegetisch ›Fleisch an die dürren Knochen bekom-
getische Erzähler von Musils »Die Amsel« intradie- men‹. Anders als es die Variablen zunächst sugge-
getisch einen weiteren Erzähler und einen Zuhö- rieren, scheint es dem extradiegetischen Erzähler
rer ein: »Die beiden Männer, deren ich erwähnen der »Amsel« auch alles andere als gleichgültig zu
muß – um drei kleine Geschichten zu erzählen, sein, wie beispielsweise seine intradiegetische Er-
bei denen es darauf ankommt, wer sie berichtet – zählgemeinschaft aussieht, vielmehr gibt er sich
waren Jugendfreunde; nennen wir sie Aeins und viel Mühe mit gesuchten Vergleichen:
Azwei« (548). Diese Formulierung ist wider-
sprüchlich. Denn einerseits sind Aeins und Azwei »Wichtiger wäre es, wenn man genau zu beschreiben vermöchte,
als Variablen denkbar unpersönliche Bezeichnun- wie Azwei damals aussah, weil dieser unmittelbare Eindruck für
gen. »Anders als im Fall der faktualen Erzählung die Bedeutung der Worte nicht ganz zu entbehren ist. Aber das
bezeichnen die herkömmlichen Begriffe ›Erzähler‹ ist schwer. Am ehesten könnte man sagen, er erinnerte an eine
bzw. ›Leser‹ im Fall der fiktionalen Erzählung […] scharfe, nervige, schlanke Reitgerte, die, auf ihre weiche Spitze
nicht notwendig eine bestimmte männliche oder gestellt, an einer Wand lehnt; in so einer halb aufgerichteten
weibliche Person, sondern sind grundsätzlich als und halb zusammengesunkenen Lage schien er sich wohl zu
neutrale Bezeichnungen für eine Rolle zu verste- fühlen« (549 f.).
hen, die auf ganz verschiedene Weise ausgefüllt
werden kann (insofern sind die schwerfälligen, Einfach zu verstehen ist das freilich nicht. Umso
aber neutralen Formulierungen ›narrative Instanz‹ mehr ist der Zuhörer laut Azwei nicht zuletzt für
bzw. ›narrativer Adressat‹ in der Sache treffender die kognitive Funktion des Erzählens von gro-
als der von […] den meisten Erzählforschern ßem Belang:
gebrauchte personifizierende Ausdruck ›Erzähler‹
bzw. ›Leser‹)« (Martínez/Scheffel 2009, S. 85). »Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie
Führt man nun aber ein solches Duo intradiege- wahr sind; ich habe mich jahrelang mit keinem Menschen aus-
tisch ein, dann ist es geradezu unvermeidlich, sprechen können, und wenn ich mich darüber laut mit mir spre-
dass die beiden in »raumzeitlich bestimmte Um- chen hörte, wäre ich mir, offen gestanden, unheimlich« (553 f.).

Zur Vertiefung

Weitere Aspekte des Discours


Es sollte nicht vergessen werden, dass es über die dargestellten narratologischen Kategorien zur Analyse des Dis-
cours hinaus eine Fülle anderer formaler Aspekte gibt, andere Auffälligkeiten der Textmaterialität, die für die Ana-
lyse erzählender Texte nicht spezifisch, aber dennoch von Bedeutung sind, insbesondere Fragen der Rhetorik
und des Stils (s. Kap. III.1.4).
Der amerikanische Literaturkritiker James Wood stellt anschaulich dar, dass Prosa auf der einen Seite eine ganz
alltägliche Seite hat und auf der anderen Seite aber auch als Kunstform funktioniert:

»Prosa ist [auf gewisse Weise] immer einfach, weil die Sprache ein übliches Mittel alltäglicher Kommunikation
darstellt, anders als Töne und Farben. Aber auch sehr diffizile Autoren borgen sich unser Alltagsgut aus […].
Wenn Prosa so gut geschrieben sein soll wie Lyrik – eine alte Hoffnung der Moderne –, dann müssen Autoren
und Leser ihr eigenes drittes Ohr ausbilden [die Formulierung drittes Ohr bezieht sich auf ein Nietzsche-Zitat
und meint ein Gehör, das für Ästhetisches, für Klangnuancen eines Textes besonders sensibel ist, HD]. Wir müs-
sen musikalisch lesen, einen Satz auf Genauigkeit und Rhythmus prüfen, dem fast unhörbaren Rascheln eines
geschichtlichen Zusammenhangs, der sich an den Saum der Wörter heftet, nachhorchen, wir müssen auf Struk-
turen, Wiederholungen und Echoeffekte achten, entscheiden, wann und warum eine Metapher gelungen ist, eine
andere nicht, oder ein Urteil darüber fällen, ob die perfekte Platzierung des richtigen Verbs oder Adjektivs einen
Satz mit mathematischer Endgültigkeit versiegelt« (Wood 2011, S. 157 ff.).

406
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Histoire

4.2.5 | Histoire
Wie Ereignisse eine Handlung bilden Beispiel
Im Unterschied zum Discours, den formalen As- Eine grundlegende Frage in Bezug auf Musils
pekten des Erzählens, steht mit Blick auf die His- »Die Amsel« ist, weshalb Azwei, wenn er Aeins
toire dasjenige, was erzählt wird, zur Debatte. sein Leben erzählt, dafür ausgerechnet jene drei
Analytisch stehen zwei Aspekte im Vordergrund: speziellen Geschichten auswählt. Was haben
N die Verknüpfung der Ereignisse zu einer Hand- diese miteinander zu tun? Stellen sie wesentliche
lung, d. h. der Zusammenhang des Textes Eckdaten seiner Biographie dar? Was ist das Ver-
N die Vernetzung des Textes mit gesellschaftlichen bindende im ständigen Wechsel der Ereignisse,
Themen oder Phänomenen jenseits des Textes wie kann sich dabei eine beständige Identität
ausbilden? Die Opposition von ständigem Wech-
sel und Dauer, die dieser Frage zugrundeliegt,
4.2.5.1 | Ereignisse und Handlungsschemata
wird von der Novelle gleich in den ersten Sätzen
Die elementare Größe, aus deren Verkettung sich durch einen Erzählerkommentar des Rahmener-
die Handlung eines erzählenden Textes entspinnt, zählers markiert:
nennt man Ereignis (vgl. Tomaševskij 1985). Er-
eignisse lassen sich unterscheiden in: »Man ändert sich im Laufe solcher Jahre vom Scheitel bis zur
N Dynamische Ereignisse: elementare Gescheh- Sohle und von den Härchen der Haut bis ins Herz, aber das Ver-
nisse (»Die Sonne geht auf«) und Handlungen hältnis zu einander bleibt merkwürdigerweise das gleiche und
(»Der Mann öffnet die Tür«) ändert sich sowenig wie die Beziehungen, die jeder einzelne
N Statische Ereignisse: Beschreibung von Zu- Mensch zu den verschiedenen Herren pflegt, die er der Reihe
ständen (»Der Mann wohnt in der Hütte«) und nach mit Ich anspricht« (548).
Eigenschaften (»Der Mann ist brutal«)
Ereignisse werden mithilfe grundlegender Hand-
lungsschemata verknüpft, z. B. ›Verbot – Über-
4.2.5.2 | Formen der Verknüpfung
tretung – Strafe‹ oder ›Aufbruch – Abenteuer/
Bewährung – Rückkehr‹. Nach strukturalistischer Segmentierung: Durch sie unterbricht die Analyse
Auffassung liegen solchen Schemata semanti- »den Strom der Rede, der die Lektüre zu tragen
sche Oppositionen zugrunde, z. B. Begehren/Ver- scheint, um hinter dieser illusionären Kontinuität
bot, Leben/Tod, männlich/weiblich, Kultur/Na- die Organisation des Sinnes aufzudecken« (Well-
tur etc. bery 1987, S. 71). Es geht also zunächst einmal
Diese Erkenntnis geht auf den französischen darum, die Narration in ihre Komponenten oder
Ethnologen Claude Lévi-Strauss zurück. In seiner Sinneinheiten zu untergliedern.
Strukturalen Anthropologie behauptet er, dass My- Verknüpfungsformen: Man unterscheidet zwei
then als kulturelle Grundformen des Erzählens Grundformen der Verknüpfung, durch die aus
stets die narrative Vermittlung bzw. Überwindung Wörtern ein zusammenhängender Text wird,
einer unüberwindbar scheinenden Opposition an-
streben (vgl. Lévi-Strauss 1969, S. 226 ff.). »Um
[…] von Anfangs- und Endpunkt einer Geschichte Segmentierung
reden zu können, bedarf es einer konzeptuellen Musils »Die Amsel« markiert ihre wichtigsten Segmentierun-
Opposition auf der Zeitachse. Nur wenn sich et- gen im Druckbild. Auf die Einführung der beiden Figuren
was relevant verändert hat, verlohnt es sich, da- Aeins und Azwei mitsamt der Skizze ihrer Jugendfreund-
von zu erzählen« (Stierle 1977, S. 217). Oder an- schaft und ihres Werdegangs folgen nach einer Leerzeile die
ders gesagt: »Eine reine Abfolge von Ereignissen Binnengeschichten, die jeweils wieder durch eine Leerzeile
macht noch keine Geschichte. Es muss einen voneinander getrennt werden. Auffällig ist, dass der Ort und
Schluss geben, der auf den Anfang zurückbezogen die Situation des Erzählens auch noch zu Beginn der ersten
ist – [und dies] muss […] ein Schluss sein, der Binnengeschichte zur Debatte stehen, so dass der Übergang
zeigt, was mit dem Begehren, das die erzählten zu jenen Geschehnissen, die dazu führen, dass Azwei seine
Ereignisse ausgelöst hat, letztendlich geschehen Frau verlässt, fast wie eine langsame Überblendung wirkt. Es
ist« (Culler 2002, S. 123). fällt zudem auf, dass sich der Erzählrahmen nicht schließt.
Vielmehr betont Azwei am Ende der Novelle: »das ist die
dritte Geschichte, wie sie enden wird, weiß ich nicht« (562).

407
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

Beispiel Syntagmatische Verkettung Kontinuität verheißt auch die durch ihren Tod
Die Probleme syntagmatischer Verkettung sind in noch einmal intensivierte Verbindung Azweis zu
Musils »Die Amsel« virulent. Als Azwei in der seiner Mutter, die »zwar nicht viel von Azweis
ersten Binnengeschichte, durch den Gesang einer Liebe« abbekommen hat, mit der er aber, wie er
»ganz gewöhnliche[n] Amsel«, der durchs offene ausführt, »trotz allem tief […] zusammen« hängt,
Fenster zu seiner Schlafstätte herein tönt, gera- nicht zuletzt deshalb, weil ihre »Liebe« seit »Jahr-
dezu »verrückt« gemacht, sich anschickt, seine zehnten« an dem »Bild eines kleinen Knaben«,
Frau zu verlassen, da kommentiert er diese ei- eben dem Erzähler Azwei, hängt. Auch wenn
gentümliche Motivation in der Rückschau: »Das Azwei von sich selbst behauptet, dass er im Un-
alles hing ganz von selbst zusammen«, fügt aber terschied zu vielen anderen, die »sich behaglich
sogleich an: »aber ich weiß nicht wie«. Auch im Photographien ansehen, die sie in früheren Zei-
Folgenden behauptet er das bloß Tastende der ten darstellen, oder sich gern erinnern, was sie
narrativen Verkettung: »Vielleicht habe ich un- da und dann getan haben« – eine Haltung, die er
recht, dir diese Geschichte im Zusammenhang als »Ich-Sparkassen-System« verspottet – nicht
mit zwei andern zu erzählen, die darauf gefolgt gern bei sich selbst »verweil[t]« (558), so weist
sind« (553). Die abschließende Rückfrage des die dritte Geschichte, die um die Rückkehr ins
zuhörenden Aeins: »Aber du deutest doch an, – Haus der Eltern (nach deren Tod) kreist und die
suchte sich Aeins vorsichtig zu vergewissern – dort fast manisch stattfindende Lektüre der Kin-
daß dies alles einen Sinn gemeinsam hat?«, be- derbücher mit ihren »Flecken« und »Bleistiftspu-
antwortet Azwei denn auch ausweichend: »Du ren« aus der Kindheit, unverkennbar regressive
lieber Himmel, – widersprach Azwei – es hat sich Züge auf, dokumentiert ein übersteigertes Fest-
eben alles so ereignet« (562). halten am eigenen Ursprung.

eine syntagmatische und eine paradigmatische ›Das Telefon klingelte, Bond begab sich zu seinem
(s. Kap. III.5.2.3). Schreibtisch, legte seine Zigarette weg, strich sich
Kerne und Katalysen: Mit Blick auf die syn- den Anzug glatt, rückte die Krawatte zurecht,
tagmatische Verkettung unterscheidet Roland räusperte sich, einmal, ein zweites Mal, zögerte
Barthes ausgehend von Tomaševskijs Kategorien- einen Moment, wie wenn er unwillens wäre, jetzt
paar des dynamischen und des statischen Ereig- ein Gespräch zu führen, er dachte an den Martini,
nisses zwei Verknüpfungsformen: Kern und Ka- gerührt, nicht geschüttelt, den er am Abend an der
talyse. Bar trinken würde, … und nahm den Hörer ab‹
Als Beispiel für das Phänomen der Kerne wählt Ferner ließe sich das Telefon ausführlicher be-
Roland Barthes eine Stelle aus einem James Bond- schreiben: ›Es war ein graugrünes Telefon aus Ba-
Roman von Ian Fleming: »Das Telefon klingelte kelit, das Bond einst bei einem Aufenthalt in Berlin
und Bond hob ab«. Barthes weist darauf hin, dass erstanden hatte. In der Hörmuschel hatten sich
»der Raum« zwischen diesen Kernen, der »›das Te- feine Ablagerungen des Gebrauchs ausgebreitet,
lefon klingelte‹ und ›Bond hob ab‹ voneinander besonders interessant fand Bond aber die sternför-
trennt«, potentiell »durch eine Fülle von Kleinstge- mige Anordnung der kleinen Löcher, durch die der
schehen und Kleinstbeschreibungen gesättigt wer- Schall ans Ohr dringen konnte …‹. Solche Füll-
den kann« (Barthes 1988, S. 113): Geschehensmo- elemente, entweder in Form von eher marginalem
mente können theoretisch in unendlicher Zahl in Geschehen oder in Form von Beschreibungen
die Geschichte aufgenommen werden – also z. B.: Kleinstgeschehens, nennt Barthes ›Katalysen‹.
Definition Eigenschaften von Katalysen sind laut Barthes:
N Sie tendieren zur Überpräzision, zum Wuchern.
 Kerne sind die Knotenpunkte der Erzählung, die als zentral für den »Keine ›Ansicht‹ ließe sich vom Diskurs ausschöp-
Fortgang und die Motivation der Handlung angesehen werden. fen […]: es gäbe immer noch einen Winkel, eine
  Katalysen nennt man die potentiell unendliche Zahl der Füllele- Einzelheit, eine Krümmung des Raums oder einen
mente der Erzählung zwischen den Kernen. Dabei handelt es sich ins- Farbschimmer, die angeführt werden müßten«
besondere um eher marginales Geschehen oder um ausführlichere (Barthes 2006, S. 169). Dadurch scheinen Katalysen
Beschreibungen. eine zielstrebige Entfaltung der Histoire zu be-
hindern. Sie werden deshalb oft als zweitrangig,

408
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Histoire

Zur Vertiefung

Der Wirklichkeitseffekt (effet de réel)


Bekannt geworden ist Barthes’ Deutung von Katalysen als »unbedeutende[n] Gegenstände[n]«, die zwar nicht
über sich selbst hinauszuweisen scheinen, gerade dadurch aber einen gewissen Wirklichkeitseffekt (effet de
réel) bewirken. Was seltsam klingt, ist eigentlich ganz einleuchtend. Denn das Leben selbst, soviel ist klar, kon-
frontiert einen stets mit einer »ungestalte[n] Fülle an Details« (Wood 2011, S. 68), die gewissermaßen nichts sind
als sie selbst und keinen höheren Sinn haben. Als Beispiel dafür, wie Literatur einen solchen Effekt simulieren
kann, dient Barthes ein Barometer, das in Gustave Flauberts Erzählung Un cœur simple (1877) im Rahmen der
Beschreibung eines Wohnzimmers erwähnt wird. Die betreffende Passage ist reichlich unspektakulär, besagt
nicht mehr, als dass im betreffenden Salon: »›ein altes Klavier […], unter einem Barometer, einen pyramidenför-
migen Haufen von Schachteln und Kartons (trug)‹.« Barthes bemerkt dazu:

»Läßt sich […] die Erwähnung des Klaviers allenfalls noch als ein Indiz für den bürgerlichen Standard seiner
Besitzerin und die der Kartons als ein Zeichen für Unordnung und Verwahrlosung lesen, die geeignet sind, die
Stimmung im Hause […] anzudeuten, so scheint sich die Bezugnahme auf das Barometer, ein weder unpassen-
des noch bezeichnendes Objekt, das also auf den ersten Blick nicht nennenswerter Natur ist, durch keinerlei Fi-
nalität begründen zu lassen« (Barthes 2006, S. 165).

Es geht beim Wirklichkeitseffekt also darum, im Wortsinn losgelöste, scheinbar nicht mit dem Gang der Hand-
lung verwobene Details, zu denen Barthes auch flüchtige Überleitungen (transitions fugitives) oder Haltungen
(attitudes transitoires), kleine Gesten (menus gestes) oder weitschweifiges, überflüssig scheinendes Gerede (pa-
roles redondantes) (vgl. ebd., S. 164, 169) zählt, als »referentielle Illusion« zu verstehen, als Erweckung des Ein-
drucks, der Text beziehe sich direkt auf die Realität, bedeute eine »bloße ›Darstellung‹ des ›Wirklichen‹, die
nackte Schilderung des ›Seienden‹ (oder Gewesenen)« (ebd., S. 169).

von geringerem Interesse oder sogar als überflüssig Paradigmatische Relationen sind solche der
betrachtet. Als »funktionell« gelten sie nur »inso- »Äquivalenz (im Hinblick auf die gegenseitige Er-
fern, als sie in Korrelation zu einem Kern treten« setzbarkeit) und der Varianz (im Hinblick auf die
(Barthes 1988, S. 113), d. h. wenn sie in gut moti- Bedeutungsunterschiede unter den Elementen ei-
vierter Beziehung zu den Kernen als dem vermeint- ner gegebenen paradigmatischen Klasse)« (Well-
lich Wesentlichen der Narration stehen. bery 1987, S. 76). Untersucht man erzählende Tex-
N Die Funktionalität einer Katalyse im Hinblick te auf die in ihnen vorfindlichen paradigmatischen
auf den narrativen Ereignisgang ist aber »keines- Relationen, dann interessiert man sich für die
wegs null«. Denn jede Katalyse besitzt auch eine Klassen- oder Reihenbildungen, die der Text selbst
»diskursive Funktion: sie beschleunigt, verzögert, vornimmt. Dabei sind ebenso die Verschaltung
bringt den Diskurs in Schwung, sie resümiert, von Textelementen von Interesse, die an unter-
nimmt vorweg, verunsichert bisweilen sogar« schiedlichen Stellen des Textes vorkommen, als
(ebd., S. 114). auch die Verschaltung mit Bedeutungskomplexen
N Anders als die Kerne, welche »die Handlung« außerhalb des Textes (Diskursen).
zwar »zielstrebig zur Entfaltung bringen«, dadurch Mit dem Aspekt des narrativen Paradigmas las-
aber »beim Leser gerade jene unkritische, konsu- sen sich nicht nur vertikale (d. h. nicht dem hori-
mierende Haltung befördern, die sich bloß dem zontalen Fluss des Syntagmas folgende, sondern
»Abspinnen der Geschichte« (ebd., S. 107) über- quer durch den Text verlaufende) Verschaltungen
lässt, fordern Katalysen also einen genauen Blick von Elementen begreifen, sondern auch jene Be-
auf den Text, der nichts noch so Unscheinbares ziehungen, die eine Erzählung zu bzw. zwischen
auslässt: »In der Ordnung des Diskurses ist alles bestimmten kulturellen Feldern stiftet: »Der Text
Erwähnte per definitionem erwähnenswert: sollte greift in der Weise in die ihn umgebende Kultur
ein Detail unweigerlich bedeutungslos erscheinen (d. h. den historischen Kontext seiner Produktion)
und sich hartnäckig gegen jede Funktion sperren, ein, daß er die Codes, die in verschiedenen kom-
so erhielte es letztendlich dennoch die Bedeutung munikativen Räumen ihre Verwendung haben« –
des Absurden oder des Nutzlosen: entweder ist al- also etwa auch bestimmte Redeweisen wie den
les sinnvoll oder nichts« (ebd., S. 109). Diskurs um das Individuum, den Diskurs über die

409
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

Beispiel Paradigmatische Verkettung einander, das Bad mit den weißen Kacheln und der Balkon mit
Schon die Grundstruktur von Musils »Die Amsel« dem roten Lampenschirm. Liebe, Schlaf, Geburt, Verdauung,
ist erkennbar paradigmatisch strukturiert. Drei Er- unerwartete Wiedersehen, sorgenvolle und gesellige Nächte lie-
eignisse sind miteinander verknüpft: das Verlassen gen in diesen Häusern übereinander wie die Säulen der Brötchen
der Ehefrau, der Fliegerpfeil, die Rückkehr ins El- in einem Automatenbüfett. Das persönliche Schicksal ist in sol-
ternhaus. Ihr Zusammenhang, behauptet Azwei, chen Mittelstandswohnungen schon vorgerichtet, wenn man
beruht auf Ähnlichkeit: »Ich kann nicht mehr sa- einzieht« (550).
gen«, bemerkt er etwa zur Pointe der dritten Bin-
nengeschichte, »als daß der Zustand, in dem ich Der letzte Satz markiert das Thema dieser eigen-
mich von da an befand, viel Ähnlichkeit mit dem artigen Raumbeschreibung (s. Kap. III.5.2.2). Ge-
Erwachen in jener Nacht hatte, wo ich mein Haus zeigt wird die paradigmatische Überformung
verließ, und mit der Erwartung des singenden menschlicher Existenz, d. h. ebenso die Palette
Pfeils aus der Höhe« (560). Ähnlich sind sich die der Möglichkeiten (Varianz) im großstädtischen
drei Geschichten insofern, als jede von einem be- Lebensentwurf wie auch die generelle Aus-
merkenswerten Einschnitt geprägt ist: erstens dem tauschbarkeit (Äquivalenz) des Menschen, des-
Gesang der Amsel, welcher den Weggang von der sen Wesen letztlich in der unspektakulären Be-
Ehefrau auslöst, zweitens der tödlichen Gefahr friedigung einer Reihe von Grundbedürfnissen
durch den sich von oben nahenden Fliegerpfeil zu bestehen scheint: Nahrungszubereitung, -auf-
und drittens dem nochmaligen Erscheinen »der nahme und -ausscheidung, Sexualität, körperli-
Amsel« im Elternhaus, in das Azwei zurückgekehrt che Hygiene, Geselligkeit oder Schlaf. Von einer
ist. Nicht genug damit, kann diese nun sogar spre- solchen Überformung der individuellen Existenz
chen und wendet sich mit den Worten »Ich bin scheint Azwei offenbar nicht begeistert, worauf
deine Amsel« und dann sogar mit »Ich bin deine etwa der Vergleich mit den Brötchen in einem
Mutter« (561) an Azwei. Auch hier wird also durch Automatenbüfett deutet.
syntaktische Äquivalenz: ›Ich bin deine x‹ ein Pa- Den »Geist der Massenhaftigkeit und Öde«, der
radigma Mutter/Amsel generiert, für das sich ins- sich laut Azwei in einer solchen vertikal angeord-
besondere psychoanalytische Amsel-Interpretatio- neten »Regelmäßigkeit« manifestiert, scheint
nen interessiert haben. man allerdings überwinden zu können, und
Äquivalenzverhältnisse erzeugt der Text auch zwar ebenfalls in der Senkrechten, dadurch, dass
durch die vielen Vergleiche, ein Verfahren, für die Konnotation des Vertikalen von Stapeln oder
das Musil generell berühmt ist. Eine Beschrei- Vermassung auf Einzigartigkeit oder Freiheit ver-
bung jener Berliner Höfe, die das Szenario der schoben wird: »Du wirst zugeben«, richtet sich
ersten Binnengeschichte bilden, führt aus: Azwei an Aeins,

»Da hinaus und hinab sehen nun die Küchen und die Schlafzim- »daß die menschliche Freiheit hauptsächlich darin liegt, wo und
mer; nahe beieinander liegen sie, wie Liebe und Verdauung am wann man etwas tut, denn was die Menschen tun, ist fast immer
menschlichen Körper. Etagenweise sind die Ehebetten überein- das gleiche: da hat es eine verdammte Bedeutung, wenn man
ander geschichtet; denn alle Schlafzimmer haben im Haus die auch noch den Grundriß von allem gleich macht. Ich bin einmal
gleiche Lage, und Fensterwand, Badezimmerwand, Schrank- auf einen Schrank geklettert, nur um die Vertikale auszunutzen,
wand bestimmen den Platz des Bettes fast auf den halben Meter und kann sagen, daß das unangenehme Gespräch, das ich zu
genau. Ebenso etagenweise türmen sich die Speisezimmer über- führen hatte, von da ganz anders aussah« (550).

Großstadt etc. – »aufeinander projiziert, sie korre- ton 2012, S. 82). Alle Formen der Handlung und
liert und damit unter ihnen Homologien schafft des Verhaltens, gesellschaftliche Institutionen,
(oder entdeckt)« (Wellbery 1987, S. 77). Machtstrukturen, die in ihnen wirksam sind, aber
»Die Bedeutung eines Textes ist« folglich »nicht auch die Dinge des Alltags, mit denen wir uns um-
einfach eine textimmanente Angelegenheit, son- geben, ereignen sich für die Literatur nicht ›bloß
Beziehung des Textes dern sie ist zugleich Bestandteil der Beziehung des einfach so‹ oder sind ›bloß einfach so‹ da, sondern
zu umfassenden Textes zu umfassenderen Bedeutungssystemen, zu sind bedeutsam und in ihrer Bedeutsamkeit zu
Bedeutungssystemen anderen Texten, Codes oder Normen in der Litera- analysieren. Eine für die literarische Paradigmen-
tur wie in der Gesellschaft als Gesamtheit« (Eagle- bildung sensible Lektüre sorgt also für ein kriti-

410
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Histoire

Paradigmatische Vernetzung »Vielleicht ist Gott überhaupt nichts, als daß wir Beispiel
mit gesellschaftlichen Codes armen Schnorrer in der Enge unseres Daseins
Eine Markierung auf dem Gebiet der semioti- uns eitel brüsten, einen reichen Verwandten im
schen Manifestation, d. h. eine Auffälligkeit auf Himmel zu haben« – unterschiedlichste Wirk-
dem Niveau der Signifikanten, rückt in Musils lichkeitsbereiche werden von Musils Erzählung
»Die Amsel« den Diskurs der Ökonomie in den mit Hilfe ökonomischer Metaphorik verschaltet.
Blick. So bemerkt Azwei im Übergang von der Es fällt sogar eine gewisse Insistenz des Ökono-
zweiten zur dritten Binnengeschichte: »Da mischen ins Auge: So hat die Mutter dem Sohn
schrieb mir meine Mutter einigemal: Wir können »einigemal« von der Erbschaft geschrieben, und
dir nicht helfen; aber wenn ich dir mit dem weni- es gibt einen »komische[n] Satz«, der Azwei »von
gen helfen könnte, was du einst erben wirst, Zeit zu Zeit« in den Sinn kommt »wie eine Fliege,
möchte ich mir zu sterben wünschen«. ›Erben‹ – die sich nicht verscheuchen läßt« und der die Be-
›sterben‹. Eine Assonanz – in einem Gedicht ziehung zwischen Eltern und Kind einmal mehr
würde man von einem identischen Reim spre- im ökonomischen Sprachregister, präziser gesagt
chen – verschaltet die Themen Familie/Individu- in der Negation des Ökonomischen bedient, der
alität und Ökonomie, und das ist kein Einzelfall. bedingungslosen Gabe: »Sie [d.i. die Eltern] ha-
Sei es das sogenannte »Ich-Sparkassen-System«, ben dir das Leben geschenkt«. Auch wenn Azwei
das Azwei als Modell subjektiver Identitätsbil- selbst – wie es so seine Art ist – über »diese
dung ebenso verspottet wie den Kauf einer Ei- scheinheilige Redensart« spottet, »die man uns in
gentumswohnung (»siehst du, jetzt hast du dein der Kindheit einprägt« (und dadurch wieder das
Leben gekauft«, 551), sei es die Erwähnung des Moment der Vorgeformtheit des Lebens und Den-
»Börsenmann[es]« als Inhaber einer Zeitung, die kens betont), so räumt er doch auch wieder ein:
der vormalige »Klassenkämpfer« Aeins heraus- »Ich glaube dieser Satz barg einen Schatz von
gibt, sei es Azweis religionskritische Bemerkung: Unregelmäßigkeit und Unberechenbarkeit« (551).

Definition
»Fiktion meint nie allein den besonderen Fall, den sie dar-
stellt, sondern immer etwas Allgemeines, für das der be-
Ein   Code ist ein System von Regeln und sondere Fall einsteht. So geht es der Fiktion nicht einfach
Übereinkünften, das den Kontext für die darum, Wirklichkeit zu erfassen und abzubilden, sondern
Verortung und Deutung von Zeichen und sie ist darauf gerichtet, Wirklichkeitsäquivalenzen zu fin-
Zeichenkomplexen erlaubt. den, die die konzeptuellen Konfigurationen« – Strukturen,
die sowohl die Gesellschaft wie die Individuen prägen –
»zur Anschauung bringen können« (Stierle 1977, S. 123 f.).

sches Verständnis gesellschaftlicher Strukturen, Intertextualität: Auch intertextuelle Bezüge


die man im Gewimmel des Alltagslebens meist (s. Kap. III.1.3) sind als paradigmatische Verschal-
nicht klar vors Auge bekommen kann. So formu- tungen des literarischen Textes mit einem Univer-
liert Karlheinz Stierle (mit Bezug auf Aristoteles, sum anderer Texte zu verstehen.
s. 4.2.1):

Literatur
Abbott, H. Porter: The Cambridge Introduction to – : »Der dritte Sinn. Forschungsnotizen über einige
Narrative. Cambridge/New York 2008. Fotogramme S. M. Eisensteins«. In: Ders.: Der
Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische
abendländischen Literatur. Tübingen 91994. Essays III. Aus dem Franz. von Dieter Hornig. Frankfurt
Aust, Hugo: Novelle, Stuttgart/Weimar 42006. a. M. 1990.
Barthes, Roland: Die Lust am Text. Aus dem Franz. von – : »L’effet de reel«. In: Ders.: Œuvres complètes, Bd. III:
Traugott König. Frankfurt a. M. 1974. 1966–1973. Hg. von Éric Marty. Paris 1994, S. 479–484.
– : »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählun- – : »Die strukturalistische Tätigkeit«. In: Texte zur
gen«. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Literaturtheorie der Gegenwart. Hg. und komm. von
Franz. von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1988, Dorothee Kimmich u. a. Stuttgart 1996, S. 215–223.
S. 102–143.

411
4.2
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Erzählende Literatur

– : »Der Wirklichkeitseffekt«. In: Ders.: Das Rauschen der Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Aus dem
Sprache. Aus dem Franz. von Dieter Hornig. Frankfurt Franz. von Wolfram Bayer/Dieter Hornig. Frankfurt
a. M. 2006, S. 164–172. a. M. 1994.
Benjamin, Walter: »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie. Frankfurt
Nikolai Lesskows«. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. a. M. 1969.
II/2. Hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppen- Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilo-
häuser. Frankfurt a. M. 1991, S. 438–465. sophischer Versuch über die Formen der großen Epik.
Berndt, Frauke: Anamnesis. Studien zur Topik der Darmstadt/Neuwied 1982.
Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 Martínez, Matías (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie,
und 1900 (Moritz – Keller – Raabe). Tübingen 1999. Analysen, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011.
Bode, Christoph: Der Roman. Eine Einführung. Tübingen/ – /Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie.
Basel 2005. München 82009.
Chatman, Seymour: Coming to Terms. The Rhetoric of Marx, Leonie: Die deutsche Kurzgeschichte. Stuttgart/
Narrative in Fiction and Film. Cornell 1990. Weimar 32005.
Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Rath, Wolfgang: Die Novelle. Konzept und Geschichte.
Stuttgart 2002. Stuttgart 22008.
Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. Schlaffer, Hannelore: Poetik der Novelle. Stuttgart 1993.
Stuttgart/Weimar 52012 (im Erschienen). Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. Göttingen 72001.
Esders, Michael: »Storytelling. Über die Enteignung des Steinecke, Hartmut/Wahrenbrug, Fritz: Romantheorie.
Erzählens«. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 1999.
europäisches Denken 64 (2010), S. 25–35. Stierle, Karlheinz: »Die Struktur narrativer Texte«. In:
Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. Funkkolleg Literatur I. Hg. von Helmut Brackert u. a.
Darmstadt 22008. Frankfurt a. M. 1977, S. 210–233.
Foucault, Michel: »Das unendliche Sprechen«. In: Ders.: Thomä, Dieter: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als
Schriften zur Literatur. Aus dem Franz. von Karin von philosophisches Problem. Frankfurt a. M. 2007.
Hofer/Anneliese Borond. Frankfurt a. M. 1988, Tomaševskij, Boris: Theorie der Literatur. Poetik. Hg. von
S. 90–103. Klaus-Dieter Seemann. Wiesbaden 1985.
Gumbrecht, Hans Ulrich: »Erzählen in der Literatur – Er- Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung
zählen im Alltag«. In: Konrad Ehlich (Hg.): Erzählen im in Erzähltechnik und Romantheorie. Opladen 71990.
Alltag. Frankfurt a. M. 1980, S. 403–420. Wellbery, David E.: »Semiotische Anmerkungen zu Kleists
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. ›Das Erdbeben in Chili‹«. In: Ders. (Hg.): Positionen der
2 Bde. Frankfurt a. M. 1981. Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel
Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 31977. von Kleists ›Das Erdbeben von Chili‹. München 1987,
Holzberg, Niklas: Der antike Roman. Eine Einführung. S. 69–87.
Darmstadt3 2006. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungs-
Kristeva, Julia: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der kraft im 19. Jahrhundert in Europa. Aus dem Amerik.
Roman«. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und von Peter Kohlhaas. Frankfurt a. M. 1994.
Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. III. Frankfurt Wood, James: Die Kunst des Erzählens. Aus dem Engl. von
a. M. 1972, S. 345–375. Imma Klemm unter Mitwirkung von Barbara Hoffmeis-
Lahn, Silke/Meister, Jan Christoph: Einführung in die ter. Reinbek 22011.
Erzähltextanalyse. Stuttgart/Weimar 2008.

Literarische Texte
Musil, Robert: »Die Amsel«. In: Ders.: Prosa und Stücke.
Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays
und Reden. Kritik. Gesammelte Werke, Bd. 2. Hg. von
Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 548–562.

Heinz Drügh

412
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Grundlagen:
Poetische Sprache

4.3 | Lyrik

4.3.1 | Grundlagen: Poetische Sprache Martin Opitz entwirft im Buch von der Deutschen
Poeterey (1624), der ersten deutschsprachigen Poe-
»Lyrik nervt!«, behauptet Andreas Thalmayr alias tik, keine Gattungssystematik, sondern beschreibt
Hans Magnus Enzensberger in der 2004 erschiene- thematische Aspekte einzelner Gedichtformen. Er
nen »Erste[n] Hilfe für gestreßte Leser«. Er reagiert formuliert keine restriktive Poetik, um Dichter, die
mit seiner Anleitung auf Lesehaltungen, die einer- »das edele Papir mit jhren ungereimten reimen be-
seits von begeisterter Aufnahme, andererseits von flecken«, anzuleiten: Der Dichter muss zugleich
massiver Ablehnung der angeblich so widerspens- »von sinnreichen einfällen vnd erfindungen sein«
tigen Texte geprägt sind. Wie unterscheiden sich (1991, S. 16). Das Dichterbild entspricht dem in
lyrische Texte von Erzähltexten und Dramen? Auch den großen Rhetoriken der Antike vorgestellten Ide-
in Gedichten wird beispielsweise von Liebe, Natur albild des großen Redners, der nicht nur mit seinen
und Tod berichtet, werden Erlebnisse, Reisen, rhetorischen Fähigkeiten, sondern als vir bonus
Abenteuer und Ruhmestaten ›erzählt‹. In einem beeindruckt. Dichtung, so die Überzeugung von
der berühmtesten Liebesgedichte der Moderne, Opitz, begleitet den Alltag, sie ist im positiven Sinn
Bertolt Brechts »Erinnerungen an die Marie A.«, Gelegenheitsdichtung (Kasuallyrik).
›erzählt‹ das Ich von der Begegnung »[a]n jenem Die enge Bindung der Poesie an rhetorische Tra-
Tag im blauen Mond September« (Vers 1). Der ditionen wird im 18. Jh. zunehmend gelockert. He-
zweite und vierte, der sechste und achte Vers sind gels Definition der Lyrik als Selbstaussprache des
in den drei Strophen jeweils mit einem Reim ver- Subjektes prägt – mit wenigen historisch, politisch
bunden, die Syntax ist gegen die Regeln der All- und kulturell bedingten Ausnahmen – bis heute
tagssprache umgestellt; schon die Metapher »im das Verständnis lyrischer Texte: »Ihr Inhalt ist das
blauen Mond September« signalisiert poetische Subjektive, die innere Welt, das betrachtende emp-
Sprache. findende Gemüt« (Vorlesungen über die Ästhetik Andreas Thalmayr:
III, 1838). Der poeta doctus, der gelehrte Dichter, Lyrik nervt. Erste Hilfe für
Zum Begriff wird zum alter deus, einem zweiten Schöpfer, der gestreßte Leser (2004)
kraft seiner Imagination Werke erschafft. Mit dem
Mit Epik und Dramatik bildet die   Lyrik die Zurückdrängen der normativen Poetik und der
Trias der Gattungen. Lyrische Texte lenken in Verschiebung vom handwerklichen zum kreativ-
besonderem Maße die Aufmerksamkeit auf individuellen Aspekt wird die »enthusiastisch auf-
lautliche Phänomene, syntaktische Auffäl- geregte« Naturform (Goethe: Naturformen der
ligkeiten und rhetorische Strategien. Im Dichtung, 1819) zur etablierten Großgattung ne-
Unterschied zu narrativen Texten prägen ben Epik und Dramatik. Bereits 1798 betont Au-
visuelle Strukturen wie Strophen und gust Wilhelm Schlegel in den »Vorlesungen über
Abschnitte, phonetisch-rhythmische Ele- philosophische Kunstlehre« in Abschnitt II über
mente wie Metrik und Reim, syntaktische »Lyrische Dichtungsart«, dass »die lyrische Diktion
Umstellungen und Störungen sowie eine […] am weitesten über den konventionellen Ge-
bildliche Sprache, die es zu entziffern gilt, brauch der grammatischen Regeln der Prosa« hi-
die Rezeption von Gedichten. nausgehe: »die ungewöhnlichsten Wörter und
Wendungen, kühne und oft neue Zusammenset-
zungen, starke Auslassungen, verwickelte Wortfü-
Die Geschichte der Gattung ›Lyrik‹ zeigt, dass Poe- gungen und Stellungen« (§ 194). An diese Vorga-
sie (griech. poiesis: das Machen) und Poetik, die ben schließen zahlreiche Definitionsversuche von
Lehre von der Dichtkunst, stets unmittelbar korre- Literaten und Literaturwissenschaftlern im 20. Jh.
spondieren und konkurrieren. Dichter, Philosophen an, die die sprachliche und bildlich-rhetorische
und Rhetoriker diskutieren seit der Antike über das Gestalt lyrischer Texte als entscheidende Differenz-
Spezifische der Gattung ›Lyrik‹ (vgl. Völker 1990). kriterien ausweisen.
Aristoteles weist in der Poetik darauf hin, dass die Rainer Maria Rilke entwirft in den Sonetten an
Lyrik (griech. lyra: Leier) – die dritte Gattung neben Orpheus (1922) eine implizite Poetik im Rückgriff
Epik und Dramatik – noch »keine eigene Bezeich- auf die Dichtertopik der Antike, Bertolt Brecht
nung erhalten« habe (Poetik, Kap. I, S. 6 f.). Auch spottet hingegen wenige Jahre später in dem klei-

413
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrik

nen Essay »Die Lyrik als Ausdruck« (1927) über ist »eine mündliche oder schriftliche Rede in Ver-
das traditionelle Verständnis von Lyrik als Darstel- sen, ist also durch zusätzliche Pausen bzw. Zei-
lung von Befindlichkeiten und Gefühlen. Gottfried lenbrüche von der normalen rhythmischen oder
Benn, der mit den »Morgue«-Gedichten bereits graphischen Erscheinungsform der Alltagsspra-
1912 Aufsehen erregt hatte, betont in seinem Mar- che abgehoben« (Burdorf 1997, S. 21). Als zweite
burger Vortrag »Probleme der Lyrik« (1951) vor notwendige Eigenschaft, die »per definitionem«
allem die optisch-visuellen Textsignale sowie den jedes Gedicht habe, führt er an, es sei »kein Rol-
handwerklichen Prozess des Dichtens: »Ein Ge- lenspiel, also nicht auf szenische Aufführung
dicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht hin angelegt« (ebd.). Prosagedichte sowie szeni-
wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das sche Aufführungen und Verfilmungen von Ge-
Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrig- dichten belegen anschaulich, dass auch diese
bleibt, wenn dann noch etwas übrigbleibt, das ist beiden Eigenschaften zwar auf viele, jedoch nicht
dann vielleicht ein Gedicht« (Benn 1989, S. 506). auf alle Gedichte zutreffen. Der Film »POEM«,
Gegen Benn wendet sich noch 2008 Peter Rühm- 2003 auf der Berlinale uraufgeführt, präsentiert
korf, dessen letzter Gedichtband den poetologi- 19 Gedichte, u. a. von Johann Wolfgang Goethe,
schen Titel Paradiesvogelschiß trägt. Rühmkorf be- Heinrich Heine, Else Lasker-Schüler, Hermann
harrt auf der Dominanz des dichterischen Einfalls: Hesse, Ingeborg Bachmann, Ernst Jandl und
»Darum habe ich immer Gottfried Benn widerspro- Heiner Müller; Regie führte Ralf Schmerberg
chen, der in der Nachfolge von Baudelaire gesagt (DVD 2004).
hat: Gedichte werden aus Worten gemacht. Ge- Charakteristische Merkmale für Lyrik werden in
Peter Rühmkorf: Paradies- dichte werden aber aus Einfällen gemacht« (DIE vielen Einführungen zu Lyriktheorie und Gedicht-
vogelschiß (2008) ZEIT Nr. 14, 27.3.2008). analyse in Gruppen zusammengestellt (vgl. z. B.
Literaturwissenschaft: 1946 lösen Emil Staigers Burdorf 1997, S. 6–10):
Grundbegriffe der Poetik eine Jahrzehnte währen- N die Liedhaftigkeit/Sangbarkeit des Textes (As-
de Diskussion aus. Der Schweizer Literaturwissen- muth 1984);
schaftler formuliert mit Blick auf die Lyrik der N die Abweichung von der Alltagssprache (Ja-
Goethezeit und des 19. Jh.s ein anthropologisch kobson 1979);
fundiertes Verständnis von Lyrik, auch in vehe- N die Kürze/Konzisheit, die sprachliche Verdich-
menter Abgrenzung von den Entwicklungen der tung im Unterschied zur ›epischen Breite‹ (Killy
Moderne. Staiger will keine neue Gattungssyste- 1972);
matik vorstellen, sondern allgemein das Lyrische, N die Selbstreflexivität des Textes: »Das poetolo-
Epische und Dramatische als Eigenschaften von gische Gedicht vermittelt zwischen Begriff und
Texten beschreiben. »Die Idee des Lyrischen Bild, zwischen Abstraktion und Anschaulich-
schließt alle rhetorische Wirkung aus. […] Be- keit, und es überführt poetische Theorie schon
gründen in lyrischer Dichtung ist unfein, so un- wieder in poetische Praxis« (Hinck 1994, S. 11).
fein, wie wenn ein Liebender der Geliebten die Neue Untersuchungen erproben die Übertragung
Liebe mit Gründen erklärt« (Staiger 1946, S. 49). narratologischer Kategorien auf die Analyse von
Staigers ahistorischer Ansatz ist in den folgenden Gedichten. Die Unterscheidung zwischen Darstel-
Jahrzehnten immer wieder kritisiert worden. Die- lungs- und Handlungsebene kann z. B. auch für
se Defizite auszugleichen unternehmen in den die Analyse von Gedichten fruchtbar genutzt wer-
1950er und 1960er Jahren unter anderen der Ro- den, ohne Gattungsunterschiede zu verwischen
manist Hugo Friedrich in der komparatistisch aus- (vgl. Schönert/Hühn/Stein 2007). Rüdiger Zymner
gelegten Studie Die Struktur der modernen Lyrik stellt folgenden abstrakten »Vorschlag zur meta-
(1956) sowie die Germanisten Heinz Otto Burger theoretischen Begriffsbestimmung von ›Lyrik‹« zur
und Reinhold Grimm in der Essay-Sammlung Evo- Diskussion: »Repräsentation von Sprache als gene-
kation und Montage (1961). risches Display sprachlicher Medialität und damit
Neue Definitionsversuche: Ein expliziter Wech- als generischer Katalysator ästhetischer Evidenz«
sel von der »Subjektivitäts-« zur »Sprach-Theo- (2009, S. 140). Mit dem technischen Begriff »dis-
rie der Lyrik« (Lamping 2000, S. 237) wird erst in play« charakterisiert Zymner die syntaktischen
neueren Definitionsversuchen seit den 1970er Jah- und semantischen »Störungen«, die schon Schlegel
ren vollzogen. Eine Minimaldefinition in Anleh- hervorgehoben hatte.
nung an die »technische Definition« von Dieter In der Lyrik der Moderne und der Gegenwarts-
Lamping formuliert Dieter Burdorf: Das Gedicht literatur dominieren zunehmend »Gedichte ohne

414
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Grundbegriffe
der Gedichtanalyse

Reimbindung« und »durchgehendes Vermaß« (Wa- 1967 hatte er in einem Essay programmatisch be-
genknecht 2007, S. 130), Abschnitte mit variieren- tont: »Ich schreibe verschiedene Arten von Ge-
der Verszahl ersetzen die feste Strophenordnung. dichten, um Etikettierungen, mit denen es sich
Auch die Gattungsgrenzen werden durchlässig: die Literaturwissenschaftler oft allzu leicht ma-
Das Kompositum ›Prosagedicht‹ zum Beispiel ver- chen, zurückzuweisen«.
weist auf die Auflösung klassischer Gattungsmerk-
male. Im Gedichtband Die Innenwelt der Außen-
welt der Innenwelt veröffentlichte Peter Handke
4.3.2 | Grundbegriffe der Gedichtanalyse
1969 »Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom
27.1.1968« und »Die japanische Hitparade vom
4.3.2.1 | Präsentationsformen
25. Mai 1968«, Texte, die in der Regel als Ge-
brauchstexte gelesen werden. Handke stellt die Gedichte sind in Handschriften überliefert, in Ge-
scheinbar stabile Zuschreibung von Gattungskrite- dichtbänden, Anthologien und Zeitungen abge-
rien, Autorschaft und Literarizität in Frage und druckt, sie können auf Plakaten in U-Bahnstatio-
provoziert eine intensive Diskussion über Präsen- nen, im Museum oder im Internet gelesen werden.
tationsformen und Merkmale lyrischer Texte sowie In den letzten Jahrzehnten haben sich die media-
den Literaturbegriff allgemein. Ann Cotten verwei- len Präsentationsformen von Lyrik vervielfacht:
gert in Florida-Räume (2010) jegliche Gattungszu- Nicht mehr nur das stille Lesen im Buch oder der
weisung; der Leser wird mit einer Vielzahl von Vortrag in einer kleinen Gruppe prägt die Rezepti-
Textsorten und hypothetischen Autorschaften kon- on. Wie schon im Minne- und Meistergesang ist
frontiert: eine Anzeige, ein Begleitschreiben, Pro- die Verbindung von Text und Musik, von wort
satexte und Gedichte, die verschiedenen Figuren (Text) und wîse (Melodie), ein zentrales Kriterium
zugeschrieben werden, so auf den Seiten 203 bis populärer Lyrik, ob in der Kombination von ›Lyrik
217 auch Ann Cotten. und Jazz‹ oder in Poetry-Slam-Veranstaltungen,
Unbekümmert von den konzeptionellen und der modernen Variante des klassischen Dichter-
klassifikatorischen Anstrengungen der Literatur- streits, wo selbstgeschriebene Gedichte ›performt‹
wissenschaftler oder in direkter Auseinanderset- werden (s. Kap. III.2.1). Nicht Experten beurteilen
zung mit deren Theorien entwickeln Dichterin- den Vortrag, sondern das Publikum entscheidet
nen und Dichter individuelle Poetiken. Die über Sieg oder Niederlage. Die Texte der Politbar-
Materialität der Sprache stellt Ernst Jandl z. B. den und Bänkelsänger des 20. und 21. Jh.s, z. B.
ins Zentrum seiner poetischen Arbeit, so 1985 in Wolf Biermann und Herbert Grönemeyer, aber
der Frankfurter Poetik-Vorlesung mit dem Titel auch die Songtexte der »Fantastischen Vier« und
Vom Öffnen und Schließen des Mundes. Bereits der »Ärzte« haben Eingang ins »lesebuch für die
oberstufe« (Enzensberger) gefunden. Fußball-Ge-
Zur Vertiefung dichte wurden anlässlich der Weltmeisterschaft
2006 auf Plakaten und in Zeitschriften gedruckt
Aspekte moderner Lyrik und im Radio gesendet.
»Montage und Ambiguität; Brechung und Umfunk- Internet: Zahlreiche Internetforen bieten kano-
tionierung des Reimes; Dissonanz und Absurdität; nisierte und neue Gedichte in digitalisierter Form:
Dialektik von Wucherung und Reduktion; Verfrem- Die »Freiburger Anthologie« stellt Gedichte von
dung und Mathematisierung; Langverstechnik, 1720 bis 1900 vor (http://freiburger-anthologie.
unregelmäßige Rhythmen; Anspielung und Ver- ub.uni-freiburg.de/fa/fa.pl); auf der Audio-Platt-
dunkelung; Wechsel der Tonfälle; harte Fügung; form für internationale Lyrik, »Lyrikline«, kön-
Erfindung neuartiger metaphorischer Mechanismen; nen Texte und Übersetzungen gelesen und ge-
und Erprobung neuer syntaktischer Verfahren. hört werden (http://lyrikline.org). Zwölf Auto-
Wieweit diese und andere Stichwörter und Katego- r/innen, u. a. Ulrike Draesner, Elke Erb, Oswald
rien, die man zu einem theoretischen Verständnis Egger und Peter Waterhouse, präsentieren das
der modernen Poesie aufgeboten hat, triftig und intermediale Projekt »neuedichte.de«, eine »Text-
brauchbar sind, darüber entscheiden die Texte landschaft aus Poesie und Poetik« (2004). Über
selbst.« Hans Magnus Enzensberger, Vorwort zur das Internetforum »Lyrikmail« kann die »tägliche
Anthologie Museum der modernen Poesie (Frank- Dosis Poesie« kostenlos abonniert werden: Ver-
furt a. M. 1960, S. 11). schickt werden Texte der Klassiker vom Mittelal-
ter bis zur Gegenwartslyrik, aber auch neue, un-

415
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrik

gedruckte Gedichte unbekannter Autor/innen. In Lyrische Einlagen in Erzähltexten trennen und


welchem Maße das Internet die »quecksilbrige[] verbinden Handlungselemente: 1797 erschien
Natur der Lyrik« (Stierle 2008, S. 132) verstärkt, Ludwigs Tiecks romantische Version der Liebesge-
ist noch nicht abzuschätzen. Digitale Poesie un- schichte der schönen Magelone und des Grafen Pe-
terscheidet sich grundlegend von digitalisierter ter von Provence, in der jedes Kapitel von einem
Poesie: Der »semiotische[] Gehalt« ist »an techni- Lied begleitet wird. Die Romanzen wurden von
sches Prozessieren gekoppelt« und kann »nur Johannes Brahms vertont. Das Gedicht »Abend-
über computerbasierte Netzwerke rezipiert wer- ständchen« von Clemens Brentano ist in vielen
den« (Scholler 2008, S. 451). Ob ein Gedicht zu- Anthologien als Beispiel romantischer Lyrik abge-
nächst im klassischen Medium Buch erscheint druckt. Im Singspiel Die lustigen Musikanten
oder im Rahmen eines digitalen Projektes vorge- (1803) ist es als musikalisches Duett zwischen Pi-
stellt wird: Der Druckort bzw. das Publikations- ast und Fabiola integriert, ein Titel fehlt. Die Kom-
medium erlaubt erste Rückschlüsse auf den mentare in historisch-kritischen Ausgaben erläu-
werkhistorischen Kontext und die Rezeption. tern den Werkkontext und stellen die Entstehung
In Anthologien werden Gedichte entweder in eines Gedichts – oft auch im Vergleich mehrerer
chronologischer Abfolge oder in thematischer Ord- Fassungen – vor.
nung vorgestellt: zum Beispiel Natur, Liebe und
Komik oder Lied, Sonett und Ballade. Auswahl
4.3.2.2 | Metrische Formen
und Anordnung der Gedichte spiegeln sich in Zy-
klen, die zugleich auf formale und thematische Metrische Formen bezeichnen die abstrakten
Kontexte verweisen: »Römische Elegien« (Goethe), Schemata, die die Abfolge der betonten und unbe-
»In hora mortis« (Thomas Bernhard), »Oden nach tonten Silben, d. h. der Hebungen und Senkungen
der Natur« (Marion Poschmann). in einem Vers regeln. Das Versmaß beeinflusst die
Paratexte: Thematische Gedichttitel bezeich- Wortwahl und -stellung sowie die rhythmische
nen Motive, Dinge und Figuren, wie z. B. »Blaue Qualität eines Verses. Das metrische Schema kann
Hortensie«, »Der römische Brunnen«, »Orpheus«, den sprachlichen Rhythmus begleiten, verstärken
»Prometheus«, oder variieren das Thema metony- oder stören. Der Begriff ›Rhythmus‹ wird in der
misch oder metaphorisch-allegorisch: ›Vergäng- Literaturwissenschaft kontrovers beschrieben: Wird
lichkeit‹, ›Inventur‹, ›Herbstmanöver‹. Mit rhema- in älteren Beiträgen allgemein die Differenz zwi-
tischen Titeln können Gattungen aufgerufen schen Metrum und Rhythmus betont (vgl. z. B.
werden, deren Tradition aufgenommen oder spie- Kayser 1978, S. 242), verweist Burdorf hingegen
lerisch-ironisch gebrochen wird: Elegie, Psalm, auf den »individuellen Rhythmus«, der sich »nur
Sestine, Sonett –, es können Adressaten: »An die im Einzelfall in seinem Verhältnis zum Metrum
Nachgeborenen« (Brecht) oder Orte benannt wer- […] beschreiben läßt« (1997, S. 72). Auch die
den: »Der Zürchersee« (Klopstock), »Zürich Zum Reimstruktur sowie Klang- und Satzfiguren beein-
Storchen« (Celan). Rhematische und thematische flussen die rhythmische Qualität eines Textes. Je-
Elemente werden auch kombiniert: »Gesang zu der Vortrag eines Gedichts aktualisiert und inter-
zweien in der Nacht« (Mörike) oder »Erstickter pretiert das Verhältnis von abstraktem Metrum
Preisgesang« (Schubart). Weitere Paratexte kön- und sprachlichem Rhythmus.
nen das Gedicht rahmen, z. B. Widmungen, Motti In der deutschen Dichtung dominiert das ak-
sowie Orts- und Zeitangaben zur Entstehung des zentuierende Prinzip: Die sinntragenden Silben,
Texts (vgl. Genette 1989; Burdorf 1997, S. 130– die Stammsilben, werden betont, im Unterschied
134). Die Titel »Prometheus« und »Orpheus« ver- zu den antiken Versen, in denen die Silben nach
weisen zugleich auf mythologische Prätexte, die Länge und Kürze differenziert werden. Im Gegen-
Untergattungen Psalm, Hymne und Gebet bezeich- satz zu den romanischen Versen, die von der An-
nen liturgische Lieder und religiöse Gebrauchstex- zahl der Silben bestimmt sind, führt Opitz für
te. Der intertextuelle Verweis, ob im Titel explizit deutschsprachige Verse die Alternation ein: Beton-
formuliert oder mit der Wahl einer Gattung formal te und unbetonte Silben wechseln regelmäßig;
angezeigt, verortet das Gedicht in literarischen »aus den accenten vnnd dem thone« sei zu »erken-
Traditionen, die ernst oder spielerisch transponiert nen / welche sylbe hoch vnnd welche niedrig ge-
(Pastiche, Parodie) sowie kritisch deformiert wer- setzt soll werden« (Opitz 1991, S. 49). Metrische
den können (Travestie, Persiflage; vgl. Genette Betonung und natürliche Betonung sollen zusam-
1993, S. 10 ff.). menfallen, Wort- und Versakzent harmonieren.

416
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Grundbegriffe
der Gedichtanalyse

Die wichtigsten metrischen Grundformen sind fen am Versende und am Anfang des nächsten Ver-
N Zweisilbler: Jambus, Trochäus und Spondeus ses zwei Hebungen aufeinander, liegt ein asyna-
sowie phischer, ungefugter Übergang vor. Dieses Zu-
N Dreisilbler: Daktylus und Anapäst. sammentreffen von zwei betonten Silben wird
Der Spondeus, die Folge von zwei Hebungen (XX, auch als Hebungsprall bezeichnet.
Einhorn, Efeu), ist im Deutschen sehr selten zu Bei einer Tonbeugung wird eine unbetonte Sil-
finden. Als Notation hat sich die Kennzeichnung be an die Stelle einer betonten gesetzt und umge-
mit kleinem ›x‹ (Senkung) und großem ›X‹ (He- kehrt: »Wie schön leuchtet der Morgenstern«
bung) etabliert. Differenzierte Notationsformen (Nicolai). Einsilbige Wörter sind hebungsneutral.
stellen Moennighoff (2004) und Wagenknecht Kadenz: Endet ein Vers mit einer Hebung,
(2007) vor. Beginnt ein Vers mit einer Senkung, spricht man von einer stumpfen bzw. männli-
wird dies als Auftakt bezeichnet; eine Hebung zu chen Kadenz (Gedicht – Licht; franz. grand); der
Beginn charakterisiert Verse ohne Auftakt. Reim endet auf einer betonten Silbe. Schließt ein
Jambus: xX, Wechsel von Senkung und Hebung Vers mit einer Folge von Hebung und Senkung,
(wie in Gesáng, Gedícht). Jambische Verse alter- wird dies als klingende bzw. weibliche Kadenz
nieren mit Auftakt und bilden die metrische (dichten – richten; franz. grande) bezeichnet, der
Grundform von Alexandriner, Vers commun, En- Reim endet auf einer unbetonten Silbe.
decasillabo und Blankvers (s. u., romanische Vers- Wird die Alternation aufgehoben, spricht man
formen): von Füllungsfreiheit. Zwischen zwei Hebungen
kann die Anzahl der Senkungen variieren: Zweisil-
»Geh aus, mein Herz, und suche Freud« (Paul Gerhardt) ber werden mit zusätzlicher Senkung erweitert,
xXxXxXxX Dreisilbler durch Auslassung einer Senkung ver-
»Der Mond ist aufgegangen« (Claudius) xXxXxXx kürzt. Im zweiten Vers in Eichendorffs Gedicht
»Sehnsucht« wird der Daktylus nach der zweiten
Trochäus: Xx, Wechsel von Hebung und Senkung Hebung im zweiten Vers gekürzt:
(wie in síngen, díchten), trochäische Verse alter-
nieren ohne Auftakt: Es schienen so golden die Sterne, xXxxXxxXx
Am Fenster ich einsam stand (Eichendorff) xXxxXxX
»Frühling läßt sein blaues Band« (Mörike) XxXxXxX
»Freude, schöner Götterfunken« (Schiller) XxXxXxXx Die Zäsur markiert einen syntaktischen oder me-
trischen Einschnitt in längeren Versen mit höherer
Daktylus: Xxx, Wechsel von einer Hebung und Hebungszahl. In vielen Gedichten wird die Zäsur
zwei Senkungen (wie in Rósenstock, Königin): mit einer Virgel (/ oder |) graphisch angedeutet.
Die Verse werden durch Satzzeichen oder gedank-
»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« (Heine) xXxxXxxXx liche Strukturierung, z. B. in Form einer Antithese,
(mit Auftakt) gegliedert:
»Eia, popeia, was raschelt im Stroh« XxxXxxXxxX
(ohne Auftakt) »Du edler Brunnen du, / mit Rhu und Lust umbgeben« (Opitz)
»Was dieser heute baut, / reißt jener morgen ein« (Gryphius)
Anapäst: xxX, Wechsel von zwei Senkungen und
einer Hebung (wie in Paradíes, Zauberéi):
4.3.2.3 | Reimformen
»Alle blinken die Sterne mit zitterndem Schein« (Goethe) Das Zusammenspiel von Metrik und Rhythmus
xxXxxXxxXxxX wird zusätzlich geprägt von der Reimstruktur.
»Einen goldenen Becher gab!« (Goethe) xxXxxXxX Reime können nach der Stellung im Wort, im
Vers und in der Strophe bzw. im Gedicht differen-
In Freien Rhythmen variieren die metrischen ziert werden; sie werden darüber hinaus unter-
Grundformen, die Versmaße wechseln unregelmä- schieden nach Qualität (reiner bzw. unreiner
ßig; sie sind jedoch noch an klassischen Formen, Reim) und Quantität (Kadenz, Reimarten) sowie
z. B. der antiken Odendichtung, orientiert. der Anzahl der Silben.
Versschluss: Endet ein Vers mit einer Hebung und
beginnt der nächste Vers mit einer Senkung, liegt
ein synaphischer, gefugter Versschluss vor. Tref-

417
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrik

Definition ein heller Wellenschlag wie ohne Oberfläche


Verdeckt, was nichts ist als eine Gedächtnisschwäche,
Unter einem   Reim versteht man den ein schwimmendes Gesicht, schon innerhalb von mir.
Gleichklang aller Laute vom letzten beton- (Poschmann: »vage Aussichten«, Terzette)
ten Vokal an. Reime verstärken oder schwä-
chen das Metrum, sie knüpfen Klangverbin- Der Haufenreim (aaaa) signalisiert die Zusam-
dungen zwischen den Versen; unreine mengehörigkeit der Verse:
Reime lassen aufhorchen und heben die Chume, chume, geselle min,
Wörter hervor. Ih enbite harte din!
Ih enbite harte din,
Paarreime (aa bb) verknüpfen jeweils zwei aufei- chum, chum, geselle min! (Carmina Burana)
nanderfolgende Verse zu einer Einheit:
Beim Stabreim (Anfangsreim) alliterieren die
Betritt der alte Dichter den Raum, Stammsilben der bedeutungstragenden Wörter;
hat der junge Dichter den Traum: vor allem in der altgermanischen Dichtung wird
So zu werden wie der! diese Reimform verwendet:
So alt und berühmt wie er! (Robert Gernhardt)
»Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem« (Hildebrandslied)
Der Kreuzreim erzeugt eine chiastische Verbin- »Fischers Fritz fischt frische Fische«
dung (abab cdcd):
Beim Binnenreim reimen sich zwei Wörter in ei-
Mit Schneegewölken grau bekleidet, nem Vers:
Großschrittig kommt der Wintertag;
Das öde Thal bleibt unbeweidet Wann grauet, wann blauet der tagende Himmel
Wo sonst der Schäfer lauschend lag. Dann hallet, dann schallet das Freudengetümmel (Johann Klaj)

Der Klee, die Blumen sind gestorben, Beim Schlagreim reimen sich zwei unmittelbar
Und jeder Baum steht lockenlos, aufeinander folgende Wörter:
Die Birkenblätter sind verdorben
Und modern auf der Erde Schooß. »Ich minne, sinne, lange zît« (Walther von der Vogelweide)
(Anna Luisa Karsch)
Beim Kettenreim reimt der Versausgang einer Zeile
Der umarmende (auch: verschränkte oder Block-) mit einem Wort im Versinnern der nächsten Zeile:
Reim, die bevorzugte Reimform in den Quartetten Wenn langsam Welle sich an Welle schließet,
vieler Sonette, umschließt die Verse einer Strophe Im breiten Bette fließet still das Leben. (Friedrich Schlegel)
(abba abba):
du hast mir Quallen, hast mir Bullaugen gegeben, Waise/Körner: Versenden ohne korrespondieren-
zwei runde Fenster in das unscheinbarste Meer. de Reimpartner heißen Waise. Reimen sich Waisen
zu nah, daher zu fern. zu dicht. zu viel. zu sehr. strophenübergreifend, werden sie Körner genannt.
zu transparent. ich nahm nicht wahr, wie direkt neben
Reimarten können ergänzend unterschieden wer-
mir dieses Meer begann. ich sah die Quallen schweben,
den: Formen des erweiterten Reims bilden der rüh-
sah ihre Körper kaum, ein blasser Sack, nicht mehr
rende, reiche, identische und grammatische Reim.
erkennbar als ein Ding des Wassers. gläsern, leer
N Beim rührenden Reim (Weise – Waise) stim-
der blanke Hintergrund, an dem Gedanken kleben
men die Vokale und Konsonanten phonetisch
(Marion Poschmann: »vage Aussichten«, Quartette)
überein, die Wörter haben jedoch unterschied-
liche Bedeutung.
Der Schweifreim (aabccb) prägt die Reimfolge in N Beim reichen Reim besteht der Gleichklang
den Terzetten (dann: ccdeed):
schon ab dem vorletzten betonten Vokal (Wahr-
als käme Klarheit auf. als öffneten sich Fenster heit – Klarheit).
auf das, was war, auf nichts. Erinnerungsgespenster, N Beim identischen Reim werden die Reimwör-
zu ungreifbar, zu zart. die Blicke scheitern hier. ter wiederholt.

418
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Grundbegriffe
der Gedichtanalyse

N Der grammatische Reim verbindet Wörter des 4.3.2.4 | Versformen


selben Wortstamms (geht / gegangen).
N Der gebrochene Reim entsteht beim Verswech- In festen Versformen folgen Hebungen und Sen-
sel im Reimwort (»Hans Sachs ist Schuh- / ma- kungen nach festgelegten Regeln, für einige Vers-
cher und Poet dazu«). formen ist darüber hinaus die Anzahl der Silben
N Beim gespaltenen Reim besteht ein Reim aus wichtig. Die bekanntesten Versformen können
mehreren Wörtern (»Es gibt nichts Gutes / au- nach ihrer Herkunft unterschieden werden, vor al-
ßer: man tut es«, Kästner). lem antike und romanische Versformen wurden in
N Unreine Reime bilden Kombinationen von die deutsche Dichtung übernommen.
langem und kurzem Vokal sowie von Vokal Antike Versformen: Die Grundform des Hexa-
und Umlaut, unterschiedlichen Diphthongen meters ist ein daktylischer Sechsheber, der letzte
und konsonantischen Abweichungen (»Geschi- Versfuß ist verkürzt zu einem Trochäus. In der
cken« – »rücken«, Trakl). Das am häufigsten deutschen Dichtung können die ersten vier Dakty-
zitierte Beispiel für einen im Schriftbild unrei- len durch Trochäen ersetzt werden: Xx(x) / Xx(x)
nen, in der dialektalen Lautung reinen Reim / Xx(x) / Xx(x) / Xxx / Xx.
stammt aus Goethes Faust: »Ach neige / Du Obwohl das griechische Wort pente ›fünf‹ be-
Schmerzensreiche« (vgl. Burdorf 1997, S. 31). deutet, ist auch der Pentameter ein daktylischer
Klangfiguren: Die Klangfülle des Reims wird auch Sechsheber; da die dritte und vierte Hebung
von Anaphern und Epiphern, Alliterationen, Asso- unmittelbar aufeinandertreffen, entsteht ein He-
nanzen und weiteren Figuren unterstützt. bungsprall, der zugleich eine Zäsur markiert:
N Bei der Anapher wird ein Wort oder eine Wort- XxxXxxX / XxxXxxX. Hexameter und Pentameter
gruppe zu Beginn von Versen wiederholt: »Der bilden ein Distichon (s. 4.3.2.5).
Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr Romanische Versformen: Der Alexandriner,
kann gehen« (Shakespeare). benannt nach der Versform in den altfranzösi-
N Bei der Epipher wird ein Wort oder eine Wort- schen Alexander-Epen, ist ein Vers mit 12 bis 13
gruppe am Ende von Versen wiederholt: »Laß Silben, ein auftaktig alternierender jambischer
mich weinen, an deinem Herzen heiße Tränen Sechsheber mit einer Zäsur nach der dritten He-
weinen« (Schiller). bung: xXxXxX / xXxXxX(x).
N Bei der Alliteration kehrt derselbe Anlaut in ei-
ner – zuweilen unterbrochenen – Abfolge von Was itzund prächtig blüht, / soll bald zertreten werden.
Wörtern wieder: »Winterstürme wichen dem Was itzt so pocht und trotzt / ist morgen Asch‘ und Bein
Wonnemond« (Richard Wagner). (Gryphius)
N Als Assonanz wird die Übereinstimmung der
Vokale in zwei oder mehreren Wörtern in Ver- Der Vers commun ist eine gekürzte Version des
sen bezeichnet: »Als wir zusammen waren / da Alexandriners, die Zäsur steht nach der zweiten
sang die Nachtigall« (Brentano). Hebung: xXxX / xXxXxXx.
N Lautmalereien (Onomatopoesie) ahmen die
Laute oder Geräusche des Dargestellten nach: »Was ist die Welt / und ihr berühmtes Gläntzen?«
»ratschen, tratschen, / Klatschen, patschen, (Hoffmannswaldau)
watscheln, latschen, / Tuscheln, kuscheln, tau-
chen, fauchen« (Ringelnatz). Der Endecasillabo, der Elfsilbler, ist ein jambi-
N Auch die Figuren der variierten Wiederholung, scher Fünfheber und wird in der italienischen
die figura etymologica (»Gar schöne Spiele Dichtung mit weiblicher Kadenz gebraucht. In der
spiel ich mit dir«, Goethe), die Paronomasie deutschen Lyrik können die Kadenzen wechseln:
(heute – Häute) und das Polyptoton (das Beste xXxXxXxXxXx.
vom Besten) verstärken die Klangfülle.
Metrum und Reim sowie die Vielzahl von Klangfi- Es wechseln die Gestalten wie die Zeiten,
guren prägen die Lautgestalt von Gedichten; sie Sind sie euch Räthsel, müßt ihr ihn nur fragen,
werden vor allem beim lauten Lesen sinnfällig. Ewig bleibt stehn in seinem Lied gedichtet,
Was die Natur schafft und im Rausch vernichtet. (Tieck)

Weitere Versformen: Der Blankvers entstammt


der englischen Literatur und ist eine Nachbildung

419
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrik

des Vers commun, jedoch ohne Reime. Die Grund- Commedia eingeführt wurde. Die Versform bildet
form bildet ein jambischer Fünfheber ohne feste der Endecasillabo, der Elfsilbler. In der deutschen
Zäsur; er wurde vor allem als Dramenvers verwen- Literatur wird die Terzine meist mit 5-hebigen
det (Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller, Kleist): Jamben gebaut, das Reimschema – aba cbc – ver-
xXxXxXxXxX(x). bindet die einzelnen Terzinen. Die letzte Terzine
enthält einen zusätzlichen Vers und schließt die
Heraus in eure Schatten, rege Wipfel Reimfolge ab: ded d.
des alten, heil’gen, dichtbelaubten Haines
(Goethe: Iphigenie auf Tauris) Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage
Der Knittelvers, die von den Meistersingern im Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?
16. Jh. geprägte Bezeichnung für neuhochdeutsche
Dichtung vor Opitz, weist acht Silben bei männli- Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
chem, neun Silben bei weiblichem Ausgang auf. Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Paarreime verbinden die Verse, sie können auftak- Daß alles gleitet und vorüberrinnt.
tig oder auftaktlos beginnen. Beim freien Knittel- […]
vers dominiert die Füllungsfreiheit. Er wird bereits Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war
im späten 15. Jh. vor allem in dramatischen Wer- Und meine Ahnen, die im Totenhemd,
ken verwendet. Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,
So eins mit mir als wie mein eignes Haar. (Hofmannsthal)
Da steh ich nun, ich armer Tor! xXxXxXxX
Und bin so klug als wie zuvor (Goethe) xXxXxXxX Die Kanzone (auch Stollenstrophe) ist die in der
mittelhochdeutschen Lyrik am häufigsten verwen-
Der Liedvers ist meist drei- oder vierhebig, d. h., dete Strophenform mit zwei- oder dreiteiligem
Vierheber mit männlicher Kadenz wechseln mit Aufbau: Die beiden ersten Teile, die Stollen, sind
Dreihebern mit weiblicher Kadenz, die Verse alter- metrisch gleich gebaut und werden von derselben
nieren; es besteht jedoch Füllungsfreiheit (s. u., Melodie begleitet. Sie bilden den Aufgesang, dem
Volksliedstrophe). mit dem dritten Teil der Abgesang mit einer neuen
Melodie folgt. In den Stollen werden Verszahl, He-
bungen und Reime wiederholt:
4.3.2.5 | Strophenformen
Strophen bestehen aus mehreren Versen; sie werden Sô die bluomen ûz dem grase dringent,
durch Leerzeilen getrennt und haben innerhalb ei- same si lachen gegen der spilden sunnen,
nes Gedichts die gleiche Bauform. Sind alle Verse in einem meien an dem morgen fruo,
einer Strophe analog gebaut, wird dies als isome-
trisch bezeichnet, variiert die Versform in einer Stro- und diu kleinen vogellîn wol singent
phe, als heterometrisch. Wechseln Verszahl und in ir besten wîse die si kunnen,
Metrum unregelmäßig, spricht man von Abschnitt. waz wünne mac sich dâ gelîchen zuo?
Strophenformen können nach ihrer Herkunft oder
der Verszahl unterschieden werden. Zu den antiken ez ist wol halb ein hîmelrîche.
Strophenformen gehören Distichon und Odenstro- suln wir sprechen waz sich deme gelîche,
phe, zu den romanischen die Romanzenstrophe, sô sage ich waz mir dicke baz
Terzine, Stanze und Madrigalverse, der mittelalterli- in mînen ougen hât getân,
chen Dichtung entstammen Lied und Kanzone. und taete ouch noch, gesaehe ich daz.
Zweizeilige Strophenformen: Das Distichon (Walther von der Vogelweide)
wird aus Hexameter und Pentameter gebildet
(s. o., antike Versformen): Vierzeilige Strophenformen: Die Odenstrophen
weisen je nach Typus eine feststehende Anzahl der
Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest Hebungen/Silbenzahl pro Zeile auf. Unterschieden
Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl. (Schiller) wird nach der Herkunft zwischen sapphischer, as-
klepiadischer und alkäischer Odenstrophe.
Dreizeilige Strophenformen: Die Terzine ist eine Die sapphische Odenstrophe wählt August
dreizeilige Strophe, die von Dante in der Divina von Platen im Gedicht »Kassandra«. Die ersten drei

420
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Grundbegriffe
der Gedichtanalyse

Verse sind sapphische, der vierte Vers ist ein Ado- Das Fräulein stand am Meere xXxXxXx
neus, ein Fünfsilbler der antiken Dichtung: Und seufzte lang und bang, xXxXxX
Es rührte sie so sehre xXxXxXx
Deinem Los sei’n Klagen geweiht, Europa! XxXxXxxXxXx Der Sonnenuntergang. (Heine) xXxXxX
Aus dem Unheil schleudert in neues Schrecknis XxXxXxxXxXx
Dich ein Gott stets; ewig umsonst erflehst du XxXxXxxXxXx Die Chevy-Chase-Strophe ist nach einer engli-
Frieden und Freiheit! XxxXx schen Jagdballade des 16. Jh.s benannt. Der erste
und dritte Vers enthalten vier Hebungen, der zwei-
Die asklepiadische Odenstrophe ist das Vorbild te und vierte Vers drei Hebungen; alle Verse begin-
für Klopstocks Gedicht »Der Zürchersee«; die Verse nen mit Auftakt, es besteht Füllungsfreiheit. Die
beginnen ohne Auftakt, die beiden ersten Verse Kadenzen sind durchgängig männlich:
weisen eine Zäsur auf:
Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, xXxXxXxX
Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Ein Fischer saß daran xXxXxX
XxXxxX / XxxXxX Sah nach der Angel ruhevoll, xXxXxXxX
Kühl bis an’s Herz hinan. (Goethe) xXxXxX Heinrich Heine:
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,
Buch der Lieder (1827)
XxXxxX / XxxXxX
Achtzeilige Strophenform: Die Stanze, nach der
Das den großen Gedanken XxXxxXx Verszahl auch Oktave genannt, stammt aus der
italienischen Dichtung des Spätmittelalters. Sie be-
Deiner Schöpfung noch einmal denkt. XxXxxXxX steht aus acht Versen mit jambischen Fünfhebern,
die in der traditionellen Form Elfsilbler sind. Die
Die alkäische Odenstrophe weist in den beiden Reimfolge ist in den ersten sechs Versen der Kreuz-
ersten Versen alkäische Elfsilbler auf. Der dritte reim: ab ab ab; das letzte Verspaar ist mit einem
Vers ist ein jambischer Vierheber mit einer zusätz- Paarreim verbunden: cc. Mehrere Stanzenstrophen
lichen Senkung am Versende (alkäischer Neunsilb- können zu einem Gedicht verbunden werden:
ler); den vierten Vers bilden zwei Daktylen und
zwei Trochäen (alkäischer Zehnsilbler). Ihr steht so nüchtern da gleich Kräuterbeeten,
Und ihr gleich Fichten die zerspellt von Wettern, –
Du stiller Aether! Immer bewahrst du schön xXxXx / XxxXxX Haucht wie des Hauches Hauch in Syrinxflöten,
Die Seele mir im Schmerz, und es adelt sich xXxXx / XxxXxX Laßt wie Dragoner die Trompeten schmettern
Zur Tapferkeit von deinen Strahlen, xXxXxXxXx Der kann ein Schattenbild die Wange röten –
Helios! Oft die empörte Brust mir. (Hölderlin) XxxXxxXxXx Die wirft den Handschuh Zeus und allen Göttern;
Ward denn der Führer euch nicht angeboren
Die Romanzenstrophe entstammt der spanischen In eigner Brust, daß ihr den Pfad verloren? (Droste-Hülshoff)
Dichtung und wird in der deutschen Lyrik im 18.
und 19. Jh. zu einer der am häufigsten verwende-
4.3.2.6 | Syntaktische Strukturen
ten Strophenformen. Die Verse beginnen ohne
Auftakt, dem Kreuzreim entsprechen die alternie- Sätze bestehen aus Wortverbindungen, die in jeder
renden Kadenzen: Sprache nach bestimmten Regeln gebildet werden
(s. Kap. II.2.3). Die Verbindungen zusammenge-
Alles schwankt in’s Ungewisse, XxXxXxXx hörender Wortgruppen nennt man Syntagmen,
Nebel schleichen in die Höh’; XxXxXxX zum Beispiel Subjekt und Prädikat oder Artikel,
Schwarzvertiefte Finsternisse XxXxXxXx Adjektiv und Substantiv.
Widerspiegelnd, ruht der See. (Goethe) XxXxXxX Beim Enjambement wird ein Satz über das
Ende des Verses in den nächsten Vers fortgeführt,
Die Volksliedstrophe besteht aus vier, sechs oder beim Strophenenjambement überspringt der Satz
mehr Versen mit drei oder vier Hebungen mit oder die Strophenfuge. Vers- und Satzstruktur »geraten
ohne Auftakt, mit regelmäßiger Alternation oder […] in ein besonders gravierendes Spannungsver-
Füllungsfreiheit. Die Verse sind mit Kreuz- und hältnis« (Burdorf 1997, S. 64). Werden die Syntag-
Paarreim verbunden, weibliche und männliche men durch ein Enjambement getrennt, wird dies
Kadenz wechseln: als hartes Enjambement, werden die einzelnen

421
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrik

Syntagmen nicht getrennt, wird dies als glattes ten: Sie können als Sprechakte gelesen werden,
Enjambement bezeichnet. die semantische Bezüge generieren. Imperativsät-
ze werden zum Beispiel oft mit einer Apostrophe
was für ein mageres segnen, kastanien (s. 4.3.2.7) verbunden. Verben stiften Beziehungen
knospen auf autochrom, was zwischen Subjekten und Objekten, sie beschreiben
für ein mageres regnen, knallgelb Zustände, Vorgänge und Handlungen. Der Gebrauch
die forsythien, was für ein blättern (Draesner) des Tempus von Verben, der Aktiv- und Passiv-For-
men, der Modi Indikativ und Konjunktiv sowie der
In den Versen segmentieren drei harte Enjambe- Nominalformen präzisiert die Beziehungen.
ments die Naturbilder zu impressionistischen Mo- Syntaktische Figuren, auch Positionsfiguren
mentaufnahmen. Bezeichnet der Begriff ›Syntagma‹ genannt, prägen darüber hinaus das Profil eines
eine Sinneinheit, so wird mit dem Begriff des ›Ko- Gedichts. Metrische Vorgaben erfordern die Um-
lon‹ (Pl. Kola) eine Sprecheinheit benannt. Kola rei- stellung von Syntagmen, oder einzelne Wörter
chen nicht über die Versgrenze hinaus; harte En- oder Wortgruppen sollen hervorgehoben werden.
jambements trennen ein Syntagma in zwei Kola. Die Figuren können nach dem Prinzip der Anord-
In Gedichten stimmen Vers- und Satzstruktur nung, Wiederholung, Verknüpfung oder Störung
oft nicht überein. In hypotaktischen Satzgefügen, differenziert werden.
der Verbindung von Haupt- und Nebensätzen, N Bei der Inversion werden die Satzglieder in ei-
können die Satzglieder gegen die Regeln des Satz- nem Vers umgestellt: »Die ich rief, die Geister,
baus umgestellt werden: »Wenn die Abende sin- werd’ ich nun nicht los« (Goethe),
ken, / und wir schlafen ein, / gehen die Träume, N Die Anastrophe kann als Umstellung innerhalb
die schönen, / mit leichten Füßen herein« (Georg eines Syntagmas beschrieben werden: »Röslein
Heym). Solche Inversionen entstehen nicht nur, rot« (Goethe).
um ein metrisches Schema oder die Reimfolge ein- N Bei der Enallage (auch Hypallage) tauschen
zuhalten: Sie erzeugen auch neue semantische Be- die Wörter eines Syntagmas die Position: »das
züge, sie verstärken oder schwächen Beziehungen braune Lachen ihrer Augen« (Otto Ludwig).
zwischen den Satzgliedern. N Die Epanalepse charakterisiert die Wiederho-
Zeilenstil: Endet jeder Vers mit einem Punkt, lung zweier nicht unmittelbar aufeinanderfol-
spricht man von Zeilenstil, Satz- und Versende fal- gender Wörter oder Satzteile: »laß sausen,
len zusammen: Kind, laß sausen« (Bürger), im Unterschied zur
Geminatio, bei der unmittelbar aufeinanderfol-
Musik summt im Gehölz am Nachmittag. gende Wörter oder Satzteile wiederholt werden:
Im Korn sich ernste Vogelscheuchen drehn. »Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an«
Holunderbüsche sacht am Weg verwehn; (Goethe).
Ein Haus zerflimmert wunderlich und vag. (Trakl) N Der Begriff Parallelismus bezeichnet die Wie-
derholung syntaktischer Einheiten: »Lieblich
Die Satzstruktur von Vers 2 ist invertiert, das Sub- mit den weißen Händen, / Lieblich mit dem
jekt ist in die Mitte des Verses verschoben. Die para- schönen Blick« (Heine).
taktische Anordnung von Sätzen, oft unterstützt N Der Chiasmus bezeichnet die Überkreuzstel-
vom Paar- oder Kreuzreim, reiht Aussagen aneinan- lung zweier Wortgruppen: »Das schwarze Ge-
der, ohne explizite temporale, kausale oder adversa- heimnis ist hier, hier ist das schwarze Geheim-
tive Beziehungen festzulegen. Auch Satzzeichen nis« (Gomringer). Betont der Chiasmus die
strukturieren Sinneinheiten. Fehlen sie, sind die Le- antithetische Struktur einer Aussage, ist dies
ser/innen aufgefordert, die Bezüge zwischen den nicht nur eine syntaktische Umstellung, son-
einzelnen Syntagmen zu setzen: »Der Baum / dern auch eine semantische Operation: »Ihr Le-
größer als die Nacht / mit dem Atem der Talseen / ben ist dein Tod! Ihr Tod dein Leben« (Schiller).
mit dem Geflüster über / der Stille« (Johannes N Der Anakoluth ist eine Störung der syntakti-
Bobrowski). In diesen Versen fehlen auch Verben. schen Struktur, er simuliert Mündlichkeit und
Die Substantive sind durch einen Vergleich und die emotionale Erregung: »Korf erfindet eine Mit-
Präposition ›mit‹ verbunden; sie vertreten die Ver- tagszeitung, / welche, wenn man sie gelesen
ben atmen und flüstern. Auch die Satzarten – zum hat; / ist man satt« (Morgenstern).
Beispiel Aussage-, Frage-, Imperativsatz – prägen N Wird eine Aufzählung (Enumeratio) von Ein-
die syntaktisch-semantische Struktur von Gedich- zelwörtern, Wortgruppen oder Satzteilen mit

422
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Grundbegriffe
der Gedichtanalyse

Konjunktion verbunden, wird dies als Polysyn- Sprungtropen wird der antizipierte Wortsinn in
deton bezeichnet: »Einigkeit und Recht und einen anderen Bildbereich übertragen (s. auch
Freiheit« (Hoffmann von Fallersleben), »Ich Kap. III.1.4.3).
folgte nach und stand und blieb zurück« (Ger- Grenzverschiebungstropen: Synekdoche und
trud Kolmar). Metonymie dienen der Variation und der Vermei-
N Werden verwandte Begriffe aneinandergereiht, dung von wörtlichen Wiederholungen, sie können
spricht man von Accumulatio: »Nun ruhen alle die ersetzten Wörter auch kommentieren und po-
Wälder, Vieh, Menschen, Städte und Felder« sitiv oder negativ bewerten. Im Unterschied zur
(Gerhardt). Werden Aufzählungen durch Kom- Metapher, bei der ein Wort in ein neues Bedeu-
mata voneinander getrennt, liegt ein Asynde- tungsfeld ›springt‹, entstammen die Bildfelder se-
ton vor, die verbindenden Partikel fehlen: »Al- mantisch benachbarten Bereichen.
les rennet, rettet, flüchtet« (Schiller). Verstärkt N Die Synekdoche ersetzt den eigentlichen Be-
wird die Wirkung, wenn zugleich Alliteration griff durch einen semantisch engeren oder weite-
oder Klimax (s. u.) die Intensität steigern. ren. Die Beziehungen können nach dem Verhältnis
von Teil und Ganzem (pars pro toto) oder von Be-
sonderem und Allgemeinem, nach partikularisie-
4.3.2.7 | Figuren und Tropen
renden und generalisierenden Ersetzungen diffe-
Sinn- bzw. Gedankenfiguren: Neben den Klang- renziert werden.
und Positionsfiguren prägen Sinn- bzw. Gedanken- N Bei der Metonymie verschiebt sich die Bezeich-
figuren das semantische Profil eines Gedichts. nung in einen anderen Bildbereich, der zum ersetz-
N Als Apostrophe wird die Anrede von Figuren, ten Begriff in einer realen sachlichen, zeitlichen,
Sachen und Abstrakta bezeichnet. Im Minne- räumlichen oder logischen Beziehung steht, z. B.
sang werden zum Beispiel »Frau Minne« und Ort statt Institution (›Paris‹ statt ›die französische
»Frau Welt« apostrophiert, in vielen romanti- Regierung‹), Abstraktum statt Konkretum (›die Ju-
schen Gedichten personifiziert die Apostrophe gend‹ statt ›die jungen Leute‹) (s. Kap. II.3.4.1). Im
Naturphänomene: »Fließe, fließe, lieber Fluß« Sonett »Vergänglichkeit der Schönheit« von Hoff-
(Goethe), »O flammenleichte Zeit der dunklen mann von Hoffmannswaldau variiert im ersten Vers
Frühe!« (Mörike). die »kalte Hand« metonymisch den personifizierten
N Die Antithese stellt gegensätzliche Begriffe Tod; »brueste«, »haar«, »der wohl gesetzte fuß« und
oder Thesen gegenüber, oft in der Form des die »lieblichen gebärden« beschreiben als partikula-
syntaktischen Parallelismus: »Der Tod, das ist risierende Synekdochen den Frauenkörper.
die kühle Nacht, / Das Leben ist der schwüle N Die Periphase, die Umschreibung, dient der Va-
Tag« (Heine); »Kurz ist der Schmerz, und ewig riation eines Begriffs, sie kann beschönigen, ironi-
ist die Freude« (Schiller). sieren oder Tabuwörter vermeiden: »goldenes Naß«
N Das Hyperbaton trennt zwei syntaktisch zu- ersetzt Wein (Platen), »Augensaft« steht für Tränen.
sammengehörende Wörter: »Sanft ist im Mon- Bezieht sich die Periphase auf einen Eigennamen,
denscheine, / und süß die Ruh« (Claudius). wird sie zur Antonomasie: »Der alt böse feind / Mit
N Beim Hysteron proteron (griech. das Spätere ernst ers itzt meint / … Der Fürst dieser Welt …«
zuerst) wird die zeitliche Abfolge umgekehrt: (= der Teufel; Luther).
»Ihr Mann ist tot und läßt Sie grüßen« (Goethe); N Die Hyperbel stellt eine Übertreibung dar, mit
die syntaktisch-temporale Störung irritiert und der das Dargestellte entweder verkleinert oder ver-
baut Spannung auf. stärkt werden kann: »Die Nacht schuf tausend
Tropen – Substitutionsfiguren: Der antike Rhetori- Ungeheuer, / Doch tausendfacher war mein Mut«
ker Quintilian beschreibt in der Unterweisung in (Goethe).
der Redekunst den Tropus als »eine Redeweise, die N Die Litotes ist »der einzige Tropus, der an die
von ihrer natürlichen und ursprünglichen Bedeu- Form der Negation gebunden ist« (Groddeck 1995,
tung auf eine andere übertragen ist, um der Rede S. 224); das Gegenteil dessen, was gemeint ist,
zum Schmuck zu dienen« (IX 1,4). Der eigentliche wird verneint: »Das ist keine Kleinigkeit.«
Begriff wird durch einen anderen Begriff ersetzt N Mit dem Zeugma wird ein Satzteil auf mehrere
(substituiert), der in einem übertragenen, bildli- gleich geordnete Satzteile bezogen: »Der See kann
chen Sinn gebraucht wird. Bei den Grenzverschie- sich, der Landvogt nicht erbarmen« (Schiller).
bungstropen besteht eine sachliche Beziehung Sprungtropen insbesondere prägen die Bildlich-
zwischen Gesagtem und Gemeintem, bei den keit eines Gedichts: Sie können als Einzelwort,

423
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrik

Wortgruppe oder Text gebildet werden. Metonymi- Ungeweintem verstählt, / die feinste der Spin-
en, Synekdochen, Metaphern und Vergleiche kön- deln« (Celan).
nen zu Personifikationen und Allegorien zusam- Metaphern verweisen auf kulturelle Traditionen
mengeführt werden (vgl. Kurz 1997, S. 9). und Umbrüche, die mit tradierten oder innovati-
Der Vergleich bildet eine Zwischenform: Er ver- ven Metaphorisierungen reflektiert und kommen-
anschaulicht einen Begriff mit Verweis auf ein tiert werden. In vielen barocken Gedichten wird
neues Bildfeld und kann als Metonymie oder Syn- der Tod metaphorisch als »Knochenmann« und
ekdoche fungieren. Dabei werden zwei Begriffe »Schnitter« personifiziert oder als nahender »Port«,
aus unterschiedlichen Bildbereichen mit einem ter- der den Übergang vom irdischen zum himmli-
tium comparationis verbunden. In vielen romanti- schen Leben bildet, charakterisiert. In der »Todes-
schen Gedichten werden Naturbilder verglichen, fuge« beschreibt Paul Celan mit der viermaligen
um seelische Zustände zu beschreiben. Im Gedicht Wiederholung der metaphorischen Prädikation
»Die Nachtblume« von Eichendorff werden die bei- »der Tod ist ein Meister aus Deutschland« Deporta-
den Vergleiche »Nacht ist wie ein stilles Meer« tion und Ermordung der europäischen Juden. Im
(V. 1) und »Wünsche wie die Wolken sind« (V. 5) Zyklus »In hora mortis« parallelisiert Thomas
mit der metaphorischen Prädikation »Schiffen Bernhard den eigenen Tod und das Sterben der
durch die stillen Räume« (V. 6) verbunden. In po- Natur: »O Herr / schick’ einen Tod mir / daß mich
etologischen Gedichten charakterisieren Verglei- friert / und mir die Sprache kommt im Meer und
che die Sprache: »Zart Gedicht, wie Regenbogen« nah dem Feuer.« Viele Metaphern können nicht als
(Goethe) und »Worte sind reife Granatäpfel / sie Einzelfigur aufgelöst, sondern nur im Kontext des
fallen zur Erde / und öffnen sich« (Domin). Fehlt gesamten Textes gedeutet werden.
das tertium comparationis, kann er auch als Meta- Die Formen der Metaphorisierung können nach
pher gedeutet werden. der Art der Beziehungen, z. B. Personifikation und
Die Metapher »ist keine Abweichung vom nor- Synästhesie, und nach der syntaktischen Umset-
malen Sprachgebrauch, sie ist normaler Sprachge- zung unterschieden werden, z. B. Attribute/Adjek-
brauch. Genauer: Sie ist eine Abweichung vom tive, Substantive und Prädikate.
normalen Sprachgebrauch im normalen Sprachge- N Adjektivmetapher: Einem Substantiv wird ein
brauch« (Kurz 1997, S. 17). Auch die Alltagsspra- Adjektiv zugeordnet, das beide Begriffe in ein
che ist von vielen Metaphern geprägt, die als lexi- Spannungsverhältnis stellt: der »entschlossene
kalisierte und konventionalisierte Wortkombina- Abfall der Blätter« (Rilke), »ein geahntes ge-
tionen ihre metaphorische Herkunft verbergen: pfähltes Paradies« (Mayröcker), »in ihrem zel-
z. B. Hauptstadt, Vater Staat, Wissensdurst, graue tenden traum« (Draesner).
Theorie. Schon Aristoteles hebt die kognitive Leis- N Genitivmetaphern bilden in vielen barocken
tung der Metapher hervor, komplexe und abstrak- Gedichten Metaphernfelder, die zu emblemati-
te Sachverhalte anschaulich darzustellen. Er for- schen Allegorien verbunden werden: »Schnee
muliert die »Analogie«-Regel: »das Alter verhält der Wangen«, »der Herzen Demant-Stein« und
sich zum Leben wie der Abend zum Tag; der »meiner Röte Preis« (Lohenstein). In modernen
Dichter nennt also den Abend ›Alter des Tages‹, Gedichten werden disparate Bilder zusammen-
oder, wie Empedokles, das Alter ›Abend des Le- geführt, die nicht mehr auf tradierte Motive und
bens‹ oder ›Sonnenuntergang des Lebens‹« (Poe- Themen zurückgeführt werden können: »Das
tik, Kap. 21). In der Forschungsliteratur wird sein Aroma von neuen Schuhen« (Brinkmann), »Kö-
Konzept als Substitutions- bzw. Vergleichstheo- der entkernter Orte« (Poschmann).
rie bezeichnet. Die aufeinander bezogenen Berei- N Die metaphorische Prädikation präzisiert und
che werden auch als Bildspender und Bildemp- klassifiziert die Beziehung zwischen den Bild-
fänger bezeichnet (vgl. Weinrich 1967; zu sprach- bereichen: »Mein Gedicht ist mein Messer«
wissenschaftlichen Theorien s. Kap. II.3.4.2). Die (Hans Bender).
sog. kühne Metapher hebt die klassische Analo- N Die Verbindung von Substantiv und Verb er-
gie-Formel auf: Die metaphorische Verbindung zeugt komplexe metaphorische Bilder: »Der
kann nicht mehr auf Vergleiche oder plausible se- Himmel fließt in steinerne Kanäle« (Loerke),
mantische Interferenzen zurückgeführt werden; »Ich trete in die dunkelblaue Stunde« (Benn),
sie fordert dazu heraus, jeweils neu im Text- und »Im Meer gereift ist der Mund« (Celan), »in
Werkkontext gedeutet zu werden: »Es wird eine meine Hand / stütz ich des Schädels Wahn«
Wimper sein, einwärts gekehrt im Gestein, / von (Mayröcker).

424
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Grundbegriffe
der Gedichtanalyse

Sonderformen der Metapher: Die Synästhesie tungen« (Kurz 1997, S. 31). Der Text stellt eine ers-
(griech. Zusammenempfindung) verbindet mehre- te, wörtliche (literale) Bedeutungsebene vor, auf
re Sinnesbereiche in einem Bild: »Durch die Nacht, eine zweite, allegorische Ebene verweisen explizi-
die mich empfangen, blickt zu mir der Töne Licht« te und implizite Textsignale. Allegorien erzählen
(Brentano). Das Oxymoron fügt (scheinbar) wi- Geschichten oder beschreiben Situationen, Räu-
dersprüchliche Begriffe zusammen, ob als Einzel- me/Orte und Abstrakta. Kurz unterscheidet narra-
wort: »dunkelhellila« (Benn) und »Freudenelend« tive und deskriptive Formen sowie implikative
(Braun) oder in der Form der Contradictio in ad- und explikative Formen. In einer implikativen
jectio: »Offenbar Geheimnis« (Goethe) und »Sach- Allegorie verweisen textinterne Signale auf die al-
liche Romanze« (Kästner). Die Katachrese, der legorische Bedeutung, in einer explikativen Alle-
Bildbruch, verknüpft sprachlich unpassende Bild- gorie deutet meist schon der Titel auf die allegori-
elemente und erzeugt eine Bildirritation: »Die un- sche Lesart hin oder der Text gibt eindeutige
belaubten / Gedanken« (Hölderlin). Hinweise auf die zweite Bedeutungsschicht, die im
Metapher und Symbol: Was unterscheidet eine Prozess der Allegorese entschlüsselt wird (vgl.
Metapher von einem Symbol? Goethe deutete das Kurz 1997, S. 47–51; s. Kap. III.1.1.2).
Symbol als »aufschließende Kraft«, die »im Be- Das Hohelied Salomons, im Alten Testament
sonderen das Allgemeine (und im Allgemeinen den Lehrbüchern zugeordnet, kann als frühes em-
das Besondere) darzustellen vermag« (Maximen phatisches Liebesgedicht gelesen werden, das die
und Reflexionen, 1833). Symbole sind Sinnbilder, Liebe zwischen Sulamith und Salomon mit einer
die auf kulturellen Konventionen und Codes ba- Überfülle metaphorischer Bilder beschreibt: »SJhe
sieren. Mythologische, religiöse, politische Ding-, / meine Freundin / du bist schöne / schöne bistu
Zahlen- und Farbsymbole prägen Literatur- und / Deine augen sind wie Tauben augen. // Sihe
Bildtraditionen. Im barocken Sonett »An die Ster- mein Freund / du bist schön vnd lieblich / Vnser
nen« von Andreas Gryphius werden die Sterne im Bette grünet« (Übers. Martin Luther,). In der mit-
ersten Quartett als »Fackeln«, »Diamante« und telalterlichen Bibelhermeneutik wird das Liebes-
»Blumen« apostrophiert, klassische Symbole, die gedicht umgedeutet zur Allegorie der göttlichen
die Bildfelder Licht, Schmuck und Natur über- Liebe. Viele Lieder des Minnesangs sind als Alle-
blenden. Mit der Anrede »Ihr Wächter« im zwei- gorien auf das höfische Minnesystem oder als poe-
ten Quartett werden die Sterne darüber hinaus tische Formulierung ethischer Normen konzipiert.
personifiziert. Im ersten Terzett werden die Bilder Nicht nur mittelalterliche und barocke Gedichte,
zu Metaphern ausgeweitet: »Bürgen meiner Lust« auch moderne Gedichte stellen religiöse Reflexio-
und »Herolden dieser Zeit«. Zugleich verweisen nen, politische und soziale Ereignisse in Form der
die Symbole und Metaphern metonymisch-allego- Allegorie vor.
risch auf die Begrenztheit des irdischen Lebens,
formulieren ein »Memento mori«.
4.3.2.8 | Kommunikationsstrukturen
Die Personifikation weist abstrakten Begriffen,
Ereignissen und Naturphänomenen menschliche Die strikte Trennung von Autor und Erzähler ist
Eigenschaften zu. Sie kann punktuell als Metapher eine der Grundlagen der Erzähltheorie (s. Kap. III.4).
oder auf den gesamten Text bezogen als Allegorie Die Differenzierung von Autor und Textsubjekt
gelesen werden. In der mittelalterlichen Lyrik wer- in der Analyse von Gedichten wird hingegen in
den zum Beispiel Tugenden und Laster, die Sieben literaturwissenschaftlichen Beiträgen erst in den
Freien Künste, Frau Philosophie und Frau Mâze letzten Jahrzehnten mit Nachdruck gefordert
personifiziert, in vielen romantischen und expres- (vgl. Schönert 1999; Müller-Zettelmann 2002).
sionistischen Gedichten Naturphänomene: Hegels Beschreibung von Lyrik als Selbstausspra-
che des Dichters, der »seinem Inneren Worte
Die Lerche hat die Sonne gesehn leiht« (Hegel: Ästhetik, 1835-1838), hat die Inter-
Und sinkt nun wieder zu Tal, pretation von Gedichten als Ausdruck individuel-
Das hören die Morgenwinde und wehn, ler Befindlichkeit bis heute geprägt. Dieses Ver-
Froh glühn die Wölklein zumal. (Peter Hille) ständnis spiegelt sich auch in der Klassifizierung
von Lyrik als Erlebnisdichtung oder Gedankenly-
Allegorie  – Allegorese: In der antiken Rhetorik rik (vgl. Horn 1995).
wird die Allegorie als »erweiterte Metapher« defi- Mit dem »lyrischen Ich« führte Margarete Sus-
niert. Eine Allegorie ist »ein Text mit zwei Bedeu- mann bereits 1910 einen Begriff in die Literatur-

425
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrik

wissenschaft ein, der zwischen empirischem Au- sie führen Sprechakte vor. Heinz Schlaffer stellt
tor und dem im Text artikulierten Ich unterschied eine Typologie von Sprechakten, den »›Pathosfor-
(zur Forschungsgeschichte vgl. Schwarz 2007). Im meln‹ der Lyrik«, vor, z. B. »Klagen, Beten, Preisen,
dritten Vortrag der Frankfurter Poetik-Vorlesung Wünschen, Geloben, Segnen, Beschwören, Ban-
im Wintersemester 1959/60 – »Das schreibende nen, Danken« (2008, S. 25). Je nach Anlass und
Ich« – charakterisiert Ingeborg Bachmann die »In- Thema bestimmen sie die Beziehung zwischen Ge-
terferenzen zwischen Autor und Ich«: »[wir] wuß- dicht und Sprecher, Adressat und Zuhörer/Leser
ten […] von allen möglichen Ich in der Dichtung, (vgl. Schwarz 2007).
dem fingierten, verkappten, dem reduzierten, dem Resümee: Gedichte fordern dazu heraus, immer
absoluten lyrischen, dem Ich als Denkfigur, Hand- wieder analytisch gelesen zu werden. Die komple-
lungsfigur, einem Ich, stofflos oder in den Stoff xe Verschränkung von lautlicher Ebene, Syntax
gefahren« (Bachmann 1982, S. 221). Dieses »Ich und Semantik, von metrischen, syntaktischen und
ohne Gewähr« wird als poetologische Metapher rhetorischen Strategien erschließt sich in der Regel
präsentiert, die sich der eindeutigen Zuschreibung nicht bei der ersten Lektüre. Die Kenntnis der Fak-
entzieht. tur, der Machart eines Gedichts, ist Voraussetzung
Personal- und Possessivpronomina, Tätigkeits- für die Verortung in der literarischen Tradition und
verben, Imperativ- und Fragesätze verweisen auf für den Vergleich mit anderen zeitgenössischen
kommunikative Strukturen und Beziehungen. In- Texten. Analytische Kompetenz ist die Vorausset-
terjektionen (Ausrufe und Ausrufesätze) inszenie- zung für das produktive »Zerpflücken von Gedich-
ren Emotionalität; Apostrophen, auch in Form der ten«: »In der Anwendung von Kriterien liegt ein
Selbstanrede, eröffnen dialogische Partien. Ge- Hauptteil des Genusses. Zerpflücke eine Rose und
dichte haben einen performativen Charakter, d. h. jedes Blatt ist schön« (Brecht 1973, S. 393).

Beispiel Interpretationsskizze: »Geballte Sehnsucht« – Geballte Sehnsucht


ein Fußball-Gedicht von Ulla Hahn 1 Es sehnt sich ewig jeder Ball ins Weite
Das Sonett »Geballte Sehnsucht« von Ulla Hahn 2 und möchte vorwärts immer vorwärts streben
war zunächst auf Plakaten und in der Wochen- 3 von Fuß zu Fuß und nicht am Rasen kleben
zeitung DIE ZEIT zu lesen sowie im Radio zu hö- 4 nicht an die Hand und nicht hinaus zur Seite
ren, im März 2006 erschien pünktlich vor der
Fußball-Weltmeisterschaft eine Audio-CD mit 50 5 sich schlagen lassen; vielmehr schnell und leicht
neuen Fußballgedichten. Die Gedichte präsentie- 6 vom Mittelfeld mit spanngenauen Flanken
ren sich in klassischer Tradition als Gelegenheits- 7 mit Fallrückziehern und gefälschten Pässen zur
gedichte. Der thematische Titel des Sonetts ist 8 Steilvorlage in den Strafraum ranken. Dort reicht
von der sprachlich-semantischen Differenz des 9 dem Balle sich entgegen nun der Fuß
Adjektivs »geballt« und des Substantivs »Sehn- 10 der ihn verwandelt in die reine Lust. Der Ball
sucht« geprägt: Umgangssprache und Hochspra- 11 erbebt, stößt vor, zerreißt die Luft. Ein Schuß!
che bilden eine Adjektivmetapher. Schon auf den
ersten Blick stellt sich das Gedicht als Sonett vor, 12 Wer wüßte jeden Elfer stets zu fassen?
zwei Quartette und zwei Terzette bilden die vier 13 Es sehnt sich ewig jeder Ball ins Tor
Abschnitte. 14 und auch der Kahnste muß mitunter passen.

Metrische Formen: Welches Versmaß ist besser schaft! Vers 8 beginnt ohne Auftakt: »Steilvor-
für ein Fußballgedicht geeignet als der Elfsilbler? lage«. Das viersilbige Wort kann nicht in das jam-
Der klassische Endecasillabo ist das Versmaß in bische Metrum eingepasst werden. Im Übergang
den Versen 1–4, ein fünfhebiger Jambus mit vom letzten Wort des 7. Verses zum 8. Vers, be-
weiblicher Kadenz (xXxXxXxXxXx, wwww). In tont und zugleich überspielt durch ein hartes En-
den Versen 5–8 variiert die Silbenzahl: 10–11–12– jambement, entsteht ein Hebungsprall, der per-
12, ebenso in den Terzetten, Vers 9–11 : 10–12–10, formativ die »Steilvorlage« begleitet. Verbindet
Vers 12–14 : 11–10–11. Ab dem zweiten Quartett im ersten Quartett ein umarmender Reim die
wechseln auch die Kadenzen unregelmäßig: Verse, korrespondieren im zweiten Quartett nur
mwmm, mmm, wmw – eine gemischte Mann- die Reime »leicht« und »reicht« in Vers 5 und 8.

426
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Grundbegriffe
der Gedichtanalyse

Der Reimpartner von »Flanken« (V. 6) ist in den jambement in den zweiten Vers des ersten Ter-
8. Vers gerutscht (»ranken«), sie bilden einen zetts reicht: Ball-Annahme. Ein Aussagesatz folgt
Kettenreim. Die Reimstruktur im ersten Terzett mit asyndetischer Verbreihe, ein Dribbling vor
löst die klassischen Reimmuster der Sonett-Tradi- dem Tor: »Der Ball / erbebt, stößt vor, zerreißt
tion endgültig auf. »Fuß« (V. 9) und »Schuß« bil- die Luft.« Performativ inszenieren die Verse ei-
den einen unreinen Reim (langer und kurzer Vo- nen Spielzug, der mit dem Ausruf »Ein Schuß!«
kal); »Lust« und »Luft« alliterieren und assonieren seinen syntaktischen und spielerischen Höhe-
in den Versen 10 und 11, der »Ball« am Ende von punkt im Tor findet. Das erste Satzzeichen am
Vers 10 ist eine Waise wie auch das »Tor« in Vers Ende eines Verses erscheint in Vers 11: »Ein
13. Die Endreime »fassen« und »passen« (V. 12 Schuß!« Die emphatische Exclamatio übertrifft
und 14) bilden einen verkürzten umarmenden mit ihrem klanglichen Potential den Reimpartner
Reim. Das jambische Metrum mit einer kleinen »Fuß«, sie stoppt den hypotaktischen Satz und
Störung, die aufgebrochene Reimstruktur sowie markiert mit der Endposition den erfolgreichen
der unregelmäßige Wechsel von weiblichen und Abschluss des Spielzuges.
männlichen Kadenzen ab dem 5. Vers bringen Syntaktische Figuren begleiten den Ball durch
Unruhe und Dynamik in die ersten drei Ab- das Spiel: Die Inversion im ersten Vers versetzt
schnitte. Mit der Rückkehr zur weiblichen Ka- den Ball noch ins Versinnere, die Epanalepsen
denz im 12. und 14. Vers kehrt wieder Ruhe ein. »vorwärts immer vorwärts« (V. 2) sowie »Fuß
Auch der Satzbau der beiden letzten Verse unter- und Fuß« (V. 3), flankiert von den anaphori-
stützt diese Wirkung: Nach den syntaktischen schen Verbindungen und der dreifachen Vernei-
»Flanken« und »Fallrückziehern« prägen paratak- nung, beschleunigen sein Tempo. Die asyndeti-
tische Reihungen das letzte Terzett. sche Accumulatio in Vers 11, die auch als
Zahlreiche Klangfiguren unterstützen den Klimax gelesen werden kann, baut Spannung
Spielablauf: Der u-Assonanz im 3. Vers korres- auf. Das Subjekt »Ball« ist durch ein hartes En-
pondieren die Assonanzen im ersten Terzett: jambement abgetrennt, so dass die Wörter »Fuß«,
Fuß, Lust, Luft, Schuß, die zugleich als versteckte »Ball« und »Schuß« im ersten Terzett jeweils die
Klimax gelesen werden können. Die Epanalepse Endposition in den Versen einnehmen. Die Verse
»Fuß zu Fuß« (V. 3) alliteriert mit »Mittelfeld«, 1 und 13 sind parallel gebaut, nur das letzte Wort
Flanken«, »Fallrückziehern« und »gefälscht«. In variiert: Von der »Weite« (V. 1) des Spielfelds ge-
»Rasen«, »Hand« und »schlagen lassen« assoniert langt der Ball ins »Tor« (V. 13). Der vorletzte Vers
der klare Vokal ›a‹. Der »Ball« ist mit »geballt«, wiederholt mit der dem Ergebnis angemessenen
»schnell«, »Mittelfeld« und »Fallrückziehern« Variation »Tor« den ersten Vers; der letzte Vers
konsonantisch gekoppelt. Der Diphthong »ei« wird mit der Konjunktion ›und‹ eingebunden und
verbindet in Vers 8 die »Steilvorlage« mit »reicht«, formuliert auf die rhetorische Frage in Vers 12
das Verb wiederum alliteriert mit »ranken«. eine ironische Antwort.
Syntaktische Strukturen: Die Quartette bestehen Figuren und Tropen: Der Titel evoziert mit dem
aus zwei Satzhälften, die mit einem Semikolon romantischen Topos »Sehnsucht« einen Begriff,
verbunden bzw. getrennt werden. Der Satz führt der in Gedichten von Goethe, Schiller, Mörike,
den »Ball« über den ganzen Platz, er ahmt die Eichendorff und Heine aufgerufen wird. In der
Spielzüge nach. Ohne Pause erreicht der Ball den Zusammenfügung mit dem Adjektiv »geballt«
Strafraum (V. 8). Wird im ersten Quartett zu- verweist er darüber hinaus auf die Vorbilder »Se-
nächst das Spiel imaginiert und mit der dreifa- lige Sehnsucht« (Goethe) und »Gestillte Sehn-
chen Negation »nicht« (V. 3–4) in paradoxer Ver- sucht« (Rückert). In dieser ehrwürdigen Traditi-
kehrung zugleich die Strategie vorgestellt, onslinie stellt der Titel eine Katachrese dar,
entwickelt sich der Spielaufbau nach dem Semi- einen Bildbruch, der das kraftmeiernde Adjektiv
kolon im ersten Vers des zweiten Quartetts stür- »geballt« mit dem affektiven Substantiv »Sehn-
misch. Das Spiel nimmt eine Wende, die das sucht« verbindet.
Strophenenjambement einleitet: »schnell und Das Adjektiv »geballt« und das Substantiv »Ball«
leicht« erreicht der Ball den »Strafraum«. Am haben denselben Wortstamm: Auch die geballte
Ende des letzten Verses des zweiten Quartetts be- Faust des Torwarts, im Gedicht nur implizit ange-
ginnt der zweite Satz, der über ein Strophenen- deutet, prägt die ambivalente Semantik.

427
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrik

Das Gedicht inszeniert den Topos ›Sehnsucht‹ Danke ich brauche keine neuen
nicht als fernen Ort: Der Rasen bündelt metony- Formen ich stehe auf
misch die traditionellen Naturmotive und avan- festen Versfüßen und alten
ciert zum neuen Garten Eden. Die poetische For- Normen Reimen zu Hand
mel wird säkularisiert und auf die kulturelle zu Papier und zu euren
Praxis ›Fußball‹ übertragen. Die Sehnsucht gilt Ohren bring ich was klingen soll (V. 1-6)
nicht einer fernen Geliebten oder einem fernen
Ort, sondern erfüllt sich in der emotionalen Teil- Dieses Gedicht gibt implizit auch den Hinweis,
habe am Spiel. Verweist das Indefinitpronomen dass der spielerische Umgang mit den »festen
»jeder« in der Regel auf die Unbestimmtheit von Versfüßen und alten Normen« im Fußball-Sonett
Personen oder Dingen, unterläuft die Formulie- eine intertextuelle Basis haben könnte. Die pro-
rung »jeder Ball« in Vers 1 und 13 diese Unschärfe movierte Literaturwissenschaftlerin Hahn ist
und beansprucht Allgemeingültigkeit, bekräftigt eine gute Kennerin der Sonetttradition. Und
von der Hyperbel »ewig«. Auch die figura etymo- schnell wird man bei der Suche fündig. Das erste
logica »Sehnsucht« und »sehnt« verstärken die Quartett des Sonetts »Es sehnt sich ewig dieser
Personifikation des Balls. Geist ins Weite« (1826) von August von Platen
Die rhetorische Frage in Vers 12 leitet gattungsge- bildet die Vorlage für das erste Quartett des Fuß-
mäß den abschließenden Kommentar bzw. die ball-Sonetts:
Deutung ein. Die abschnittübergreifende Parono-
masie »Pässen« (V. 7) und »passen« (V. 14) unter- August von Platen
streicht die Unberechenbarkeit des Spiels. Der Es sehnt sich ewig dieser Geist ins Weite,
Superlativ »der Kahnste« irritiert zunächst als Und möchte fürder, immer fürder streben:
ironischer Kalauer und Verballhornung der Hy- Nie könnt’ ich lang an einer Scholle kleben,
perbel der »Kühnste«; er kann zugleich als Hom- Und hätt’ ein Eden ich an jeder Seite.
mage an einen Torwart gelesen werden, dessen
Name metonymisch für Erfolg steht. Mit der rhe- Ulla Hahn
torischen Figur der Antonomasie wird ein Name Es sehnt sich ewig jeder Ball ins Weite
oder ein Begriff durch ein Merkmal oder eine und möchte vorwärts immer vorwärts streben
charakteristische Eigenschaft ersetzt: Oliver von Fuß zu Fuß und nicht am Rasen kleben
Kahn wird in den Medien zum Beispiel zum »Ti- nicht an die Hand und nicht hinaus zur Seite
tan« ernannt oder als »Tier« kritisiert. Hahn spielt
mit der engen morphologischen Verwandtschaft Im ersten Vers hat Hahn den Ausdruck »dieser
von der »Kühnste« und der »Kahnste«; sie er- Geist«, der als Synekdoche das Ich vertritt, durch
zeugt eine umgekehrte Antonomasie, die den Ei- »jeder Ball« ersetzt; die Verse 3–4 aktualisieren
gennamen zum Typus befördert. die »Scholle« und das ferne »Eden«. Der umar-
Das Spiel mit der Versform Endecasillabo und die mende Reim wird beibehalten, das veraltete »für-
Kommentare im zweiten Terzett deuten an, dass der« modernisiert und dem Fußball-Thema ange-
das Gedicht auch als implikative, narrative Al- passt. Ein weiteres Platen-Sonett, »Wer wußte je
legorie gelesen werden kann. Die Beschreibung das Leben recht zu fassen« (1826), wird im zwei-
des Spiels auf dem Rasen bildet die erste, literale ten Terzett zitiert. Platen variiert mit einer vier
Ebene des Textes, seine wörtliche Bedeutung. Verse umfassenden rhetorischen Frage die traditi-
Schon der Titel kann im Rückblick auch als »ge- onelle Vanitas-Motivik:
ballte Sehnsucht« des Dichters gelesen werden,
seine Verse auf den richtigen Weg zu bringen. Wer wußte je das Leben recht zu fassen,
Mit diesem Fußball-Gedicht präsentiert Ulla Wer hat die Hälfte nicht davon verloren
Hahn wieder ein »anständiges« Sonett«, das zu- Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,
gleich ironisch mit der Einsicht des Dichters In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?
spielt, dass er nicht immer den richtigen Takt fin-
det, nicht finden will. Hahn verkürzt das Quartett auf einen Vers und
Ihre poetische Kompetenz hebt sie auch im Ge- ersetzt das »Leben« durch den »Elfer«. Die tem-
dicht »Ars poetica« hervor: porale Struktur wird angepasst: Aus dem Indika-

428
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrische Einzelgattungen

tiv Imperfekt wird der Konjunktiv II Präsens, der »sehnen« beschreibt zunächst ein psychisches
sowohl den Zweifel am sicheren Erfolg als auch Befinden, das Modalverb »möchte« begleitet die
die Hoffnung auf weitere Tore bzw. Elfer andeu- Tätigkeitsverben »streben«, »kleben«, »schlagen
tet. Warum montiert Ulla Hahn in ihr Fußball- lassen«, »ranken« durch die Quartette.
Sonett Zeilen aus den Gedichten Platens? Ist der Auch der Kasuswechsel bringt den Ball in Bezie-
Verweis nur eine »Bildungsbrosche« (Hans Jür- hung zum Spiel: Aus der Dativ-Position des Satz-
gen Heise, Stuttgarter Zeitung, 11.10.1983), die objektes in Vers 9, »dem Balle«, wechselt der Ball
sich eine gelehrte Autorin ansteckt? Die Anspie- zum Nominativ und wird zum Satzsubjekt in
lungen erkennt nur, wer den Prätext findet, Vor- Vers 10. Im Übergang vom zweiten Quartett zum
lage und Transformation als Palimpsest, d. h. als ersten Terzett wird der Ball zudem aktiviert. Eine
Montage verschiedener Texte identifizieren kann. Inversion verstärkt die Position des Balls, der an
Folgende Lesarten sind möglich: Hahn ›zitiert‹ den Versanfang rückt. Die Tätigkeitsverben »er-
die Sonette des für sein Formbewusstsein be- beben«, »vorstoßen«, »zerreißen« steigern die
kannten Dichters als architextuelle Hommage. Energie des Balls: Auf das schwache Verb »erbe-
Mit ›Architextualität‹ bezeichnet Genette den ben« folgen zwei starke Verben, die auf den er-
expliziten Gattungsbezug. Das Hahn-Sonett kann folgreichen Abschluss der Spielzüge vorausdeu-
aber auch als spielerisch-ironische Parodie oder ten. Mit der rhetorischen Frage in Vers 12 meldet
satirisch-polemische Travestie auf die klagenden sich das Textsubjekt zu Wort: »Wer wüßte jeden
Sonette des Außenseiters Platen gelesen werden Elfer stets zu fassen?« Die Einschränkung, die der
(vgl. Henel 1968, S. 154 ff.). Übertragen auf das Konjunktiv II andeutet, verstärkt das Unbere-
Thema ›Fußball‹ kann die intertextuelle Mon- chenbare des Spiels, sei es auf dem Rasen oder in
tage als impliziter ironischer Kommentar zum der poetischen Arbeit.
»leeren Zeitverprassen« gedeutet werden. Aus Resümee: Die Frage, was Fußball und Lyrik ver-
dem »Gespräch mit Toren« wird ein Gedicht über bindet, beantwortet das Sonett implizit: Spiel-
Tore. regeln. Wie auf dem Fußballplatz der Pulsschlag
Kommunikationsstrukturen: Das Sonett präsen- steigt, wenn die Spieler sich vor dem gegneri-
tiert keine personalisierte Sprechinstanz. Das schen Tor ballen, steigt die syntaktische Span-
Personalpronomen »es« übernimmt in Vers 1 nung von Quartett zu Quartett und findet am
und 13 die Stellvertretung des Balls, es wird zum Ende des ersten Terzetts ihren Höhepunkt mit der
Platzhalter des indefiniten Pronomens »jeder«. Exclamatio »Der Schuß!« Das Gedicht vollzieht
Die Verben stehen in den beiden Quartetten und performativ die Spielzüge auf dem Feld; das
im ersten Terzett im Präsens, sie bekräftigen das ›Spielende‹ in Vers 12, so auch der Titel des zwei-
aktuelle Fußball-Geschehen als wiederkehrendes ten Gedichtbandes (1983), imaginiert zwei Lesar-
und zeitlos-gültiges Ereignis. Mit der Personifika- ten: das Ende des Spiels und den spielenden Elf-
tion entwickelt der Ball ein Eigenleben: Das Verb silbler.

4.3.3 | Lyrische Einzelgattungen asklepiadischer und alkäischer Odenstrophe, für


die vier Verse ist jeweils ein metrisches Schema
Gedichtgattungen unterscheiden sich nach der An- vorgeschrieben. Ab dem 17. Jh. wird der Begriff
zahl der Verse, der Gliederung in Abschnitte oder auch für Gedichte verwendet, die dem »genus
Strophen, nach dem Metrum der Einzelverse und grande«, dem hohen Stil, zuzuordnen sind (zur
den Reimschemata. Die Bezeichnung enthält oft Odenstrophe s. S. 420 f.).
Hinweise auf Herkunft und formale Struktur (vgl. Die Hymne (griech. Tongefüge) ist ursprüng-
Burdorf 1997, S. 114 ff.). lich ein Lob- und Preisgesang, der dem religiösen
Kultus entstammt; freie Rhythmen verdrängen den
Antike Gattungen: Hexameter als Versform. In der Dichtung wird sie
Die Ode (griech. Gesang) bezeichnet in der Antike vor allem im 18. und 19. Jh. variiert. Zunehmend
allgemein strophische Dichtungen. Unterschieden werden aktuelle Themen aufgenommen (vgl. »Das
wird nach ihrer Herkunft zwischen sapphischer, Lied der Deutschen« von Hoffmann von Fallersle-

429
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrik

ben). Rolf Dieter Brinkmann komponiert die Doch der Tote muß fort, und schweigend bringt ihn die ältere
»Hymne auf einen italienischen Platz« (1975) aus Klage bis an die Talschlucht,
einem Mosaik divergierender Beobachtungen: wo es schimmert im Mondschein:
»O Piazza Bologna in Rom! Banca Nazionale Del / die Quelle der Freude. In Ehrfurcht
Lavoro und Banco Di Santo Spirito, Pizza Mozza- nennt sie sie, sagt: – Bei den Menschen
rella«. ist sie ein tragender Strom. –
Der Psalm (griech. Saitenspiel) gehört ur- Stehn am Fuß des Gebirgs.
sprünglich zu den hymnischen Gesängen in der Und da umarmt sie ihn, weinend. (Rilke)
Bibel. Das »Buch der Psalmen« im Alten Testament
stellt Lieder zu Themen aus allen Lebensbereichen Romanische Gattungen:
zusammen, der Lobpreis Gottes, Klage- und Dan- Das Sonett (lat. sonare: klingen) stammt aus der
keslieder sind wichtige Subgattungen. Feste Form- italienischen Lyrik des 13. Jh.s (Petrarca) und wur-
vorgaben, die ihn als lyrische Gattung bestimmen, de in Deutschland ab dem 16. Jh. populär. Die 14
fehlen. Martin Luther und Johannes Calvin über- Verse sind in zwei Quartette (Oktett) und zwei
tragen Psalmen in gereimte Liedstrophen. In der Terzette (Sextett) aufgeteilt. Vor allem jambische
modernen Lyrik wird der Psalm zum Medium der Versformen, Endecasillabo, Alexandriner und Vers
Klage (Trakl, Brecht, Sachs, Bachmann, Celan): commun, werden verwendet. Die formale Kompo-
sition korrespondiert der thematischen Struktur:
Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat. Viele Sonette sind antithetisch aufgebaut. Im ers-
Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener ten Quartett wird die These, im zweiten Quartett
verläßt. die Antithese präsentiert; in den Terzetten folgt die
Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Synthese bzw. die Ausdeutung. In der Moderne
Spinnen. werden die strengen metrischen und formalen Vor-
Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben. gaben zunehmend aufgelöst (z. B. Rilke: Sonette
Der Wahnsinnige ist gestorben. Es ist eine Insel der Südsee, an Orpheus). Nach der Reimstruktur werden fol-
Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln. gende Sonett-Typen unterschieden:
Die Männer führen kriegerische Tänze auf. Italienische Sonettform (Petrarca-Sonett):
Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und
Feuerblumen, abab / abab / cdc / dcd
Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies. (Trakl) abba / abba / cdc / dcd,
Varianten der Terzette: cde / cde
Das Epigramm ist meist in Distichen verfasst;
kennzeichnend ist der antithetische Aufbau, der Französische Sonettform:
ein Ding oder einen Sachverhalt pointiert kom-
mentiert: abba / abba / ccd /eed
Variante der Terzette: ddc / ede
Sind meine Reime gleich nicht alle gut und richtig,
So sind die Leser auch nicht alle gleich und tüchtig. Shakespeare-Sonett (drei Quartette und ein Zwei-
(Friedrich von Logau) zeiler):

Die Elegie war in der Antike durch das Distichon abab / cdcd / efef / gg.
bestimmt, in der Regel wurde sie mit Musik beglei-
tet. Die thematische Verengung auf Gedichte mit Ein Sonettenkranz besteht aus 15 Sonetten: Die
klagendem Charakter prägte u. a. Johann Georg Schlusszeile eines Sonetts bildet die Anfangszeile
Sulzer in der Allgemeinen Theorie der Schönen des folgenden. Das 15. Sonett, das sog. Meisterso-
Künste (1771): »Der wahre Charakter derselben nett, besteht aus den Anfangszeilen bzw. Schluss-
scheint darin zu bestehen, daß der Dichter von ei- zeilen der anderen Sonette (vgl. Volker von Törne:
nem sanften Affekt der Traurigkeit oder einer sanf- »Halsüberkopf: Arkadische Tage«).
ten mit viel Zärtlichkeit vermischten Freude ganz Die Sestine besteht aus sechs Strophen mit je
eingenommen ist und sie auf eine einnehmende sechs Zeilen, die in der klassischen Form von Jam-
etwas schwatzhafte Art äußert.« Bekannte Zyklen ben gebildet werden. Den artifiziellen Charakter der
sind Goethes »Römische Elegien« (1795) und Ril- Gedichtform betont zum Beispiel Oskar Pastior im
kes Duineser Elegien (1923). Zyklus Eine kleine Kunstmaschine. 34 Sestinen

430
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrische Einzelgattungen

(1994). Im Gedicht »fortschreitender metabolismus Du kamst mit ihr und flohst mit ihr, und seit ich euch verlor
in einer sestine« wird die Abfolge der Wörter der Versehnt ich manchen trüben Tag in jenem Haine noch
Verse der ersten Strophe in den folgenden fünf Stro- Und fragte klagend mein Geschick: ›Bewahrst in deinem Schatz
phen variiert. Gattungsgemäß resümieren die drei So holde Stunde du für mich nicht eine, eine noch?‹
Schlussverse die Variationen der ersten Strophen: Dort mocht ich lauschen spät und früh; wohl flüstert’s im
Gezweig,
hier sechs es als sich sieht Doch immer schweigt noch mein Geschick – ich lausch und
sieht hier sechs es als sich weine noch.
es als sich sieht hier sechs (Nikolaus Lenau)
sich sieht hier sechs es als
als sich sieht hier sechs es Deutsche Tradition: Johann Gottfried Herder führ-
sechs es als sich sieht hier te den Begriff ›Volkslied‹ für die 1778/79 heraus-
gegebene Sammlung mündlich und schriftlich
sechs mal als sich sieht hier tradierter Lieder ein: »Es ist wohl nicht zu zwei-
hier sechs mal als sich sieht feln, daß Poesie und insonderheit Lied im Anfang
als sich sieht hier sechs mal ganz volksartig d.i. leicht, einfach, aus Gegen-
sieht hier sechs mal als sich ständen und in der Sprache der Menge, so wie der
sich sieht hier sechs mal als reichen und für alle fühlbaren Natur gewesen«
mal als sich sieht hier sechs (Einleitung zum Zweiten Teil der Stimmen der
[…] Völker in Liedern). 1805 erschien der erste Teil
sechs es als sich hier sieht der Sammlung »alte[r] deutscher Lieder«: Des
sieht hier sechs mal wie sich Knaben Wunderhorn, herausgegeben von Cle-
sechs mal wie mich fast fasst mens Brentano und Achim von Arnim, bis 1808
folgten zwei Bände. Viele Gedichte wurden über-
Orientalische Gattungen: Das Ghasel entstammt arbeitet und dem romantischen Verständnis von
der arabischen und islamischen Dichtung, es ist stimmungsvoller Dichtung angepasst. Die Verto-
metrisch ungebunden. Gattungsprägend ist die nung zahlreicher anonym überlieferter Volkslie-
Reimstruktur: aa xa xa xa xa. Es ist sowohl Stro- der trug entscheidend zur Rezeption bei. Das alte
phen- als auch Gedichtform. Volkslied »Muß i denn, muß i denn zum Städtele
hinaus« wurde 1824 von Heinrich Wagner um
Du, schöne Stunde, wirst mir hold, so hold wie keine noch; zwei Strophen erweitert und von Friedrich Silcher
Ich seh dein Angesicht erglühn im Rosenscheine noch; vertont. Die amerikanische Version von »Muß i
So sah den Engel Gottes einst mit Wangen freudenrot denn«, »Wooden Heart« von Elvis Presley, erreich-
Im Paradiese lächelnd nahn der Mensch, der reine noch te 1960 die Charts.

Literatur
Asmuth, Bernhard: Aspekte der Lyrik [1972]. Opladen 1984. Henel, Heinrich: »Nachwort«. In: August von Platen:
Bachmann, Ingeborg: »Frankfurt Vorlesungen: Probleme Gedichte. Auswahl und Nachwort von Heinrich Henel.
zeitgenössischer Dichtung«. In: Werke, Bd. 4. Hg. von Stuttgart 1968, S. 154–174.
Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Hinck, Walter: Magie und Tagtraum. Das Selbstbild des
Münster. München/Zürich 1982. Dichters in der deutschen Lyrik. Frankfurt a. M./Leipzig
Benn, Gottfried: »Probleme der Lyrik«. In: Ders.: Essays und 1994.
Reden in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einf., hg. Horn, Eva: »Subjektivität in der Lyrik: ›Erlebnis und
von Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 1989, S. 505–535. Dichtung‹, ›lyrisches Ich‹«. In: Miltos Pechlivanos u. a.
Brecht, Bertolt: »Über das Zerpflücken von Gedichten«. In: (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft.
Gesammelte Werke 19: Schriften zur Literatur und Stuttgart/Weimar 1995, S. 299–310.
Kunst 2. Frankfurt a. M. 1973, S. 392–393. Jakobson, Roman: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971.
Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. Frankfurt a. M. 1979.
Stuttgart/Weimar 21997. Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine
Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Einführung in die Literaturwissenschaft [1948]. Bern/
Buches. Frankfurt a. M. 1989. München 1978.
– : Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt Killy, Walther: Elemente der Lyrik. München 1972.
a. M. 1993. Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen
4
Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik 1997.
des Lesens. Basel/Frankfurt a. M. 1995. Lamping, Dieter: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu
Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 21993.

431
4.3
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Lyrik

– : »Moderne Lyrik als Herausforderung der Lyrik-Theorie«. – /Hühn, Peter/Stein, Malte: Lyrik und Narratologie.
In: Ernst Rohmer u. a. (Hg.): Texte, Bilder, Kontexte. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16.
Interdisziplinäre Beiträge zu Literatur, Kunst und bis zum 20. Jahrhundert. München 2007.
Ästhetik der Neuzeit. Heidelberg 2000, S. 229–242. Schwarz, Sandra: »Stimmen – Theorien lyrischen
– : Handbuch Lyrik. Theorie, Analysen, Geschichte. Sprechens«. In: Hans Vilmar Geppert/Hubert Zapf
Stuttgart/Weimar 2011. (Hg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspekti-
Moennighoff, Burkhard: Metrik. Stuttgart 2004. ven, Bd. III. Tübingen 2007, S. 90–123.
Müller-Zettelmann, Eva: »Lyrik und Narratologie«. In: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946.
Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.): Erzähltheorie Stierle, Karlheinz: »Lyrik – eine Gattung zweiter Ord-
transgenerisch, intermedial und interdisziplinär. Trier nung?« In: Klaus W. Hempfer (Hg.): Sprachen der Lyrik.
2002, S. 129–153. Von der Antike bis zur digitalen Poesie. Stuttgart 2008,
Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. S. 131–149.
Stuttgart 1991. Thalmayr, Andreas: Lyrik nervt. Erste Hilfe für gestreßte
Ottmers, Clemens: Rhetorik. Stuttgart/Weimar 22007. Leser. München/Wien 2004.
Schlaffer, Heinz: »Sprechakte der Lyrik«. In: Poetica 40 Völker, Ludwig (Hg.): Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur
(2008), S. 21–42. Gegenwart. Stuttgart 1990.
Scholler, Dietrich: »Digitale Poesie«. In: Klaus W. Hempfer Wagenknecht, Christian: Deutsche Metrik. Eine historische
(Hg.): Sprachen der Lyrik. Von der Antike bis zur digitalen Einführung. München 52007.
Poesie. Stuttgart 2008, S. 451–464. Weinrich, Harald: »Semantik der kühnen Metapher«. In:
Schönert, Jörg: »Empirischer Autor, Impliziter Autor und Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft
Lyrisches Ich«. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Die Rückkehr und Geistesgeschichte 37 (1967), S. 325–344.
des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Zymner, Rüdiger: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn
Tübingen 1999, S. 289–294. 2009.

Gabriele Rohowski

432
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Das aristotelische
Dramenmodell und
seine Strukturelemente

4.4 | Drama
Einteilung der Großgattungen: Traditionell wurde Handlungsaspekt stark zurücktritt, so dass das Dra-
das gesamte Spektrum literarischer Texte nach den ma als bloßes Rededuell erscheint. Im Hinblick auf
›Naturformen‹ Lyrik, Erzählliteratur (früher oft: das Redekriterium bildet das sogenannte Monodra-
›Epik‹) und Drama eingeteilt. Bei den Versuchen, ma (Einpersonenstück) einen Sonderfall, indem es
diese Großgattungen nach ihrem überzeitlichen zwar nicht die lautliche Äußerung, wohl aber den
›Wesen‹ zu bestimmen, wurde dem Drama gele- herkömmlichen Figurendialog ausschließt. Das Rol-
gentlich eine Zwischenstellung zugewiesen, so lenkriterium wiederum wird strapaziert, wenn Fi-
etwa von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der die guren die Handlungsebene verlassen – etwa bei der
Lyrik als ›subjektiv‹, die Epik als ›objektiv‹ und das Zuschaueransprache im epischen Theater – oder
Drama als ›subjektiv-objektiv‹ einstufte (Ästhetik, wenn Zwischeninstanzen wie beispielsweise ein
1835–1838). Heute geht man eher vom Prozess der ›Spielleiter‹ eingeführt werden.
Vermittlung aus und reflektiert insbesondere den Abgrenzungen und Sonderformen: Trotz dieser
Umstand, dass das Drama – die Bezeichnung wird Sonderfälle bleibt die Kombination der vier Kriteri-
synonym mit ›Schauspiel‹ oder ›(Theater)stück‹ en insgesamt überzeugend, so dass sich eine Ab-
gebraucht – grundsätzlich auf die Inszenierung grenzung gegenüber der Pantomime (keine Rede),
hin konzipiert ist. Die auf Platon zurückgehende dem szenischen Kabarett (keine zusammenhän-
Unterscheidung von Drama und Erzählliteratur gende Handlung) oder diversen Formen der Talk-
mittels der Basiskomponenten Darstellung (›Mi- und Spielshow (kein Rollenspiel) leicht vorneh-
mesis‹) bzw. Bericht (›Diegesis‹) trifft den Sach- men lässt. Eine Sonderform bildet hingegen das
verhalt im Ganzen gut (Aristoteles hingegen be- Musiktheater (Oper, Operette, Musical), wo die
nutzt die Bezeichnung ›Mimesis‹ für alle poetischen ›Rede‹ ganz oder teilweise durch Gesang ersetzt
Verfahren im Gegensatz zur Geschichtsschrei- wird. Das Hörspiel und der Film wiederum unter-
bung). Allerdings genügt es für eine überzeitliche scheiden sich allein in ihrer medialen Aufberei-
Definition des Dramas nicht, das dialogische Ele- tung vom Theaterstück.
ment oder den Verzicht auf narrative Instanzen
hervorzuheben: Ersteres findet sich etwa auch im
philosophischen Lehrdialog oder in der literari-
schen Gattung des Totengesprächs, die Ausblen- 4.4.1 | Das aristotelische Dramenmodell
dung des Narrativen hingegen wird spätestens bei und seine Strukturelemente
der Berücksichtigung des epischen Theaters zum
Problem. Typologisierung dramatischer Grundformen: Der
Versuch, die historischen Realisationsformen des
Definition Dramatischen auf einen Grundtypus zu beziehen,
führt meist auf den griechischen Philosophen Aris-
In eine umfassende Definition von   Drama toteles, der in seiner Poetik (nach 336 v. Chr.) eine
fließen die vier Kriterien Handlung, Figuren- Reihe von Kriterien entwickelte, die er empirisch
rede, Inszenierung und Rollenspiel zusam- aus der zeitgenössischen Tragödienproduktion ab-
men (Asmuth 2009, Kap. I): Ein Theater- leitete und in verbindliche Normen überführte. Die
stück konstituiert sich als ein Spiel von Angaben des Aristoteles erfassen zwar nicht alle
Personen, die vor einem Publikum in festge- Strukturelemente dramatischer Literatur, doch las-
legten Rollen – also nicht in eigener Person sen sie ein Modell erkennen, das als ›geschlosse-
sprechend – auftreten und, gestützt auf ne‹ Bauform beschrieben werden kann und in den
sprachliche Artikulation, eine kohärente ›klassischen‹ (oder klassizistischen) Perioden der
Handlung präsentieren. europäischen Nationalliteraturen bevorzugt ver-
wendet wurde. Die Bezeichnungen ›aristotelisch‹,
›klassisch‹, ›tektonisch‹ und ›geschlossen‹ werden
Flexible Handhabung der Definition: Die historische weitgehend synonym für Theaterstücke verwen-
Vielfalt der Dramenproduktion erfordert gewisse det, deren Struktur mit den Forderungen der klas-
Modifikationen im Verständnis des Dramenbegriffs. sischen (antiken) Poetik und Rhetorik konvergiert.
So gibt es Theaterstücke, bei denen – womöglich Unter ›nicht-aristotelischem‹, ›anti-klassischem‹
verstärkt durch Inszenierung und Bühnenbild – der bzw. ›modernem‹, ›atektonischem‹ oder ›offenem‹

433
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Drama

Drama versteht man ex negativo alle diejenigen log. Die Bevorzugung der geschlossenen Dramen-
Dramenkonzepte, die sich deutlich von der aristo- form in Zeiten, die ein politisch, konfessionell oder
telischen Norm abgrenzen (Klotz 1992). gesellschaftlich relativ stabiles Welt- und Men-
Orientierungsrahmen: Mit der Zuordnung zu schenbild ausgeprägt hatten, wurde von der For-
einem der beiden Typen ist aus wissenschaftlicher schung zuweilen konstatiert, allerdings dürfen
Perspektive kein Qualitätsurteil verbunden, außer- derlei verallgemeinernde Feststellungen nicht den
dem gibt es eine Reihe von Misch- und Übergangs- Blick auf konkrete Entwicklungen vor allem des
formen. Wenn im Folgenden der ›aristotelische‹ 19. Jh.s (z. B. Heinrich von Kleist, Friedrich Heb-
Typus als eine Art Norm vorgestellt wird, geschieht bel) verstellen.
das nur, weil die in der Antike eingeführten und Pluralität der Realisationsformen: Traditionell
Dramentheoretische diskutierten dramentheoretischen Begriffe der galt die Tragödie nächst dem Epos (das in der Neu-
Begriffe der Antike Handlung, des Dialogs, des Charakters usw. bis zeit dann kaum noch eine Rolle spielt) als ›erha-
heute entweder Basis oder Kontrastfolie jeder Be- benste‹ literarische Gattung, in der Gegenstände von
schäftigung mit dem Theater und seinen Texten überindividueller, ja universaler Relevanz verhan-
sind. Die strukturellen und konzeptionellen Merk- delt wurden. Die allmähliche Auflösung der stren-
male der geschlossenen Dramenform werden in gen Gattungsnormen und die Bewegung hin zu offe-
Kapitel 4.4.1, die der offenen Form zu Beginn von nen, anti-aristotelischen Dramenformen bedeutete
Kapitel 4.4.2 erläutert. freilich keine Abwertung des Theaters, vielmehr ist
Dramatische Illusion: Nicht analog zu der vor- seit dem 19. Jh. wie bei den Gattungen – der Roman
geführten Einteilung verläuft die Abgrenzung zwi- rückte als gleichwertig neben das Schauspiel – so
schen ›illusionistischem‹ und ›anti-illusionisti- auch bei den Ausprägungen des Dramas selbst eine
schem‹ Theater: Während das offene Drama der Pluralität zu konstatieren, die im Anspruch der Au-
Stürmer und Dränger gegen Ende des 18. Jh.s nicht toren auf individuelle künstlerische Entscheidun-
den Boden der dramatischen Illusion – mit dem gen begründet liegt und eine einfache Analogie von
Ziel der Identifikation des Zuschauers – verlässt, ›erhabener‹ Form und ›würdigem‹ Inhalt nicht mehr
enthält strenggenommen schon der Chor im klas- zulässt. Dies gilt nicht nur für die Beziehung zwi-
sischen griechischen Drama ein anti-illusionisti- schen tektonischer und atektonischer Bauform, son-
sches Moment, indem er das Bühnengeschehen dern mindestens ebenso sehr für den Dualismus
aus einer gewissen Distanz heraus kommentiert, von Tragödie und Komödie (s. unten): Die schwieri-
und bereits die griechische Komödie verstößt ge- ge Zuordnung von Texten insbesondere der neueren
gen das Prinzip der ›Wahrscheinlichkeit‹ des Ge- Zeit zum tragischen bzw. komischen Genre und das
schehens. Aufkommen zahlreicher Misch- und Übergangsfor-
Die zentralen Aspekte des aristotelischen Dra- men machen deutlich, wie problematisch jeder Ver-
menmodells, das man im Hinblick auf seine Domi- such einer strengen Klassifizierung von Bühnenstü-
nanz bis zur Schwelle der Moderne auch als ›alt- cken bleiben muss.
europäisches‹ bezeichnen könnte, werden in den
folgenden Abschnitten systematisch vorgeführt:
N Handlungsführung (s. 4.4.1.1) 4.4.1.1 | Handlungsführung
N Kommunikation (s. 4.4.1.2)
N Personendarstellung (s. 4.4.1.3) Definition
Dass es auch innerhalb dieses Typs historisch und
gattungsmäßig bedingte Abweichungen gibt, wird   ›Drei Einheiten‹: Aristoteles verlangte von
dabei nicht unterschlagen. Ein übergreifender Ge- der Tragödie, dass sie eine einzige, in sich
sichtspunkt ist jedoch, dass das aristotelische The- geschlossene Handlung präsentiere, die sich
ater – auch, aber nicht ausschließlich aufgrund innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs
seiner formalen Anlehnung an antike Muster – so- vollziehe. Aus den Gepflogenheiten des grie-
zial und charakterlich herausgehobene, im vollen chischen Theaterbetriebs ergab sich ferner,
Bewusstsein ihrer selbst handelnde Figuren in au- dass der Schauplatz im Verlauf der Dramen-
ßergewöhnlichen, zugleich exemplarischen Kon- handlung nicht wechselte. Auf diese Weise
fliktsituationen und in einem sprachlich wie struk- lassen sich die drei fundamentalen (aristote-
turell klar umrissenen Rahmen agieren lässt. Noch lischen) ›Einheiten‹, nämlich die der Hand-
kürzer gesagt: Im aristotelischen Theater verdich- lung, der Zeit und des Ortes bestimmen.
tet sich dramatische Interaktion zum reinen Dia-

434
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Das aristotelische
Dramenmodell und
seine Strukturelemente

Wahrscheinlichkeit: Mit dieser dramaturgischen die Handlung des geschlossenen Dramas sich auf
Forderung in Verbindung, zuweilen aber auch in eine kurze, für das Schicksal der Figuren entschei-
latentem Konflikt steht das Gebot der Wahrschein- dende Zeitspanne zusammendrängt. Im zweiten
lichkeit, womit gemeint ist, dass die auf der Bühne Akt entfaltet sich der Konflikt (›steigende Hand-
gezeigten Geschehnisse den Gesetzen der Plausi- lung‹), im dritten Akt kommt es zu einem Höhe-
bilität nicht widersprechen, und zwar nicht nur im punkt (Klimax). Dieser kann bereits mit der Peri-
Hinblick auf die dargestellte Welt, sondern auch petie – gegebenenfalls zugleich Anagnorisis – zu-
im Hinblick auf die Psychologie der Figuren. Um- sammenfallen (so etwa in Schillers Maria Stuart
gekehrt ermöglicht die Verpflichtung des Dichters [1800] 3,4, wo sich im zentralen Streit der Köni-
auf Wahrscheinlichkeit – im Gegensatz zu der des ginnen bereits das Schicksal der Heldin entschei-
Historikers, der verbürgte Wahrheiten zu überlie- det), es kann sich aber auch um eine thematisch
fern hat – auch das Auftreten mythischer Figuren oder dramaturgisch herausgehobene Passage han-
oder die Darstellung extremer Konfliktsituationen, deln (wie in Schillers Don Carlos, 1787, als Mar-
da es nur um die textinterne Widerspruchsfreiheit quis Posa vor dem König seine Vision der »Gedan-
des Geschehens geht. kenfreiheit« erläutert). Auf die Peripetie folgt oft
Wendepunkte: Mit diesem Prinzip der Wahr- noch ein ›retardierendes Moment‹, durch das –
scheinlichkeit, an das sich ganz generelle Überle- für die Figuren, oft auch für die Zuschauer – das
gungen zum aristotelischen Fiktionalitätsbegriff drohende (in der Tragödie: ›Katastrophe‹) oder
anschließen ließen, sind weitere Konsequenzen erwünschte Ende (in der Komödie) noch einmal in
für die Bauform des Dramas verknüpft: Die Hand- Frage gestellt wird.
lungsführung mit ihren Konflikten, mit dem Spiel Dramaturgische Notwendigkeiten: Die Fixierung
von Intrige und Gegenintrige, mit den weiteren der Dramenhandlung auf eine punktuelle Zuspit-
Verwicklungen bis hin zur Katastrophe (in der Tra- zung und Lösung des Konfliktes in engster räumli-
gödie) oder zum glücklichen Ende (in der Komö- cher und zeitlicher Begrenzung führt zu einigen
die) muss stringent angelegt sein. Aristoteles dramaturgischen Notwendigkeiten, die für die aris-
selbst hatte dabei seine Aufmerksamkeit vor allem totelische Form konstitutiv sind. Die zeitlichen Lü-
auf die Wendepunkte der Handlung gerichtet: cken zwischen den (meist fünf) Akten oder ›Aufzü-
N Als Peripetie bezeichnete er in der Tragödie gen‹ sind gering, wie überhaupt die ablaufende Zeit
den Umschlag von dem, was – aus der Sicht des keine handlungsbestimmende Qualität besitzt. In-
Helden – erreicht werden soll, in sein Gegenteil, nerhalb eines Aktes folgen die Szenen oder ›Auf-
N als Anagnorisis den Punkt, an dem der Held tritte‹ unmittelbar aufeinander, beim Szenenwech-
vom Zustand der Unkenntnis in den Zustand sel bleibt immer eine Figur auf der Bühne (›liaison
der Erkenntnis tritt. des scènes‹), damit der Eindruck der konstant fort-
In vielen Fällen treffen beide Punkte zusammen, schreitenden Handlung gewahrt wird. Die Konzen-
so auch in der von Aristoteles immer wieder her- tration des Geschehens auf wenige entscheidende
angezogenen Tragödie König Ödipus (um 426 Momente fordert eine gründliche Entfaltung der
v. Chr.) von Sophokles, wo der Held, der ein Ver- Vorgeschichte, die oft im Eröffnungsdialog vorge- Verlaufsmodell
brechen aufzuklären unternommen hat, plötzlich tragen wird. Zur Wiedergabe der sogenannten nach Gustav Freytag:
erkennt, dass er selbst der Täter ist, nach dem er ›verdeckten Handlung‹ gibt es die Möglichkeit des Die Technik des Dramas
sucht. Die Anagnorisis ist hier zugleich die Peripe- ›Botenberichts‹ und der Teichoskopie (1863)
tie, denn es war die Absicht des Ödipus, durch die oder ›Mauerschau‹ (beides Begriffe
Aufklärung des Verbrechens Unheil abzuwenden, aus dem antiken Epos): Vergangenes III Höhepunkt und Peripetie
doch für ihn selbst endet die Untersuchung fatal Geschehen wird durch berichtende
(Poetik, Kap. 11). Rede nachgetragen (Friedrich Schil- II Steigende IV Fallende
Verlaufskurven: Dramentheoretiker späterer Zei- ler: Wallensteins Tod [1799] 4,10), Handlung Handlung
mit erre- mit retar-
ten entwickelten schematisierte Verlaufskurven, gleichzeitiges Geschehen außerhalb gendem dierendem
um den idealtypischen Fortgang eines Theater- des Bühnenraums wird durch eine Moment Moment
stücks – vorzugsweise einer Tragödie – abzubil- am Bühnenrand platzierte Figur kom-
den. Nach Gustav Freytags Modell enthält der mentiert (Heinrich von Kleist: Der
erste Akt eines Dramas die Exposition, in der die Prinz von Homburg [1811] 2,2). Mo-
Hauptfiguren vorgestellt und ihre Positionen auf- dernere Alternativen sind der Brief
gezeigt werden. Häufig gilt es an dieser Stelle eine als Sonderfall des Botenberichts oder I Exposition V Katastrophe
relativ komplexe Vorgeschichte nachzutragen, da das Telefongespräch als Variante der

435
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Drama

Mauerschau (Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenauf- tität einer Hauptfigur) oder Kleists Zerbrochner
gang [1889], 3. Akt). Krug (1806; Ermittlung in einer Strafsache durch
Wissensunterschiede: Einige zentrale Hand- einen Richter, der sich selbst als Täter entlarvt).
lungsstrukturen des Dramas basieren auf den Wis-
sensunterschieden zwischen den Figuren einer-
4.4.1.2 | Kommunikation
seits sowie zwischen Figuren und Zuschauern
andererseits (Asmuth 2009, Kap. IX). Das Hand- Die verbale Kommunikation vollzieht sich im Dra-
lungsmuster der ›Intrige‹, die in der Tragödie ma bei szenischer Realisierung ausschließlich über
meist gegen die Absichten der positiv gezeichne- die Sprechpartien der auftretenden Figuren
ten Hauptfiguren gerichtet ist, in der Komödie das (›Haupttext‹). Beim Lesen eines gedruckten Wer-
gute Ende vorbereitet (häufig durch schlaue Die- kes werden zusätzliche Hinweise durch Personen-
nerfiguren), realisiert sich in der mutwilligen Täu- verzeichnis, Bühnen- und Regieanweisungen usw.
schung einiger Figuren durch andere. Hier sind die gegeben (›Nebentext‹), die etwa im Theater des
Wissensvorsprung Zuschauer gewöhnlich durch entsprechende Stra- Naturalismus außerordentlich präzise angelegt
der Zuschauer tegien wie das ›A-parte-Sprechen‹ des Intriganten sein können. Bei der Inszenierung müssen diese in
(s. unten) eingeweiht. Sie erkennen daher auch geeigneter Weise dem Zuschauer vermittelt wer-
die ›dramatische Ironie‹ in den Äußerungen der- den (Platz-Waury 1999, Kap. 1.3). Die sogenannte
jenigen, die aufgrund eines Wissensdefizits zum ›Bühnenrede‹ hat weiter reichende Funktionen als
Opfer der Intrige werden (z. B. Wallenstein in die in einem Erzähltext enthaltenen Dialoge. So
Schillers Trauerspiel Wallensteins Tod 5,5: »Ich vollzieht sich die Charakterisierung der Figuren,
denke einen langen Schlaf zu tun«, sagt Wallen- wenn man von Mimik, Gestik und Kostümierung
stein unmittelbar vor seiner Ermordung). Andere absieht, vor allem durch Aussagen des übrigen
Möglichkeiten, den Zuschauern Hinweise auf den Dramenpersonals (›direkte Charakterisierung‹)
weiteren Verlauf des Geschehens zu geben und ih- oder durch das (sprachliche) Verhalten der jeweili-
nen damit einen (begrenzten) Überblick über das gen Figur selbst (›indirekte Charakterisierung‹).
Ganze des Stückes zu verschaffen, sind mantische Aufführungsbedingte Äußerungsformen: In ei-
(Flüche, Orakel, auch Traumberichte) oder hand- nem Drama, das den Zuschauer über äußere und
lungslogische Verlautbarungen (Schwüre) sowie innere Handlung nicht im Unklaren lassen will,
der Einsatz non-verbaler Techniken wie die auffäl- müssen die Figuren vielfach ihr Auftreten gegen-
lige Einbeziehung symbolisch aufgeladener Requi- seitig ankündigen (Damis: »Himmel! ich höre mei-
siten. Zum Verständnis dieser teilweise konventio- nen Vater wiederkommen.« Lessing: Der junge
nalisierten Elemente ist beim Zuschauer eine Gelehrte [1748] 1,4) oder Teile des Geschehens, die
gewisse Theatererfahrung vonnöten. sich außerhalb der räumlich und zeitlich eng
Analytisches Drama: Mit dem Wissensdefizit begrenzten Bühnenhandlung vollziehen, in Form
eines Teils der Figuren operiert ebenfalls das ›ana- des Botenberichts (s. oben) vermitteln. Äußerungs-
lytische Drama‹, das – im Gegensatz zum dramati- formen, die den empirischen Bedingungen realer
schen Normalfall, dem ›Zieldrama‹ – strukturell Kommunikation zuwider laufen, sind das ›Beiseite-
der Aufklärung eines vor Beginn der Bühnenhand- sprechen‹ (auch: ›A-parte-Sprechen‹) zum Zweck
lung liegenden Geschehens dient. Zwar haben die der exklusiven Vermittlung von Gedanken der je-
Figuren auch hier Konflikte auszutragen und Ent- weiligen Figur an den Zuschauer – und deren Ver-
scheidungen zu treffen, doch richtet sich die Span- bergen gegenüber den übrigen Figuren – sowie die
nung auch der handelnden Personen auf die Vor- diversen Formen des Monologs, der überhaupt au-
geschichte. Während also die Exposition dazu ßerhalb jeder realistischen Kommunikationssitua-
dient, Wissensrückstände der Zuschauer auszu- tion angesiedelt ist. Fiktionsdurchbrechung im Be-
gleichen, vollzieht sich im analytischen Drama die reich der Bühnenrede ist nicht zwingend ein
Erhellung der Situation parallel vor den Handeln- Kennzeichen der offenen Dramenform. So findet
den und ihrem Publikum. Beispiele für diesen Dra- sich das Beiseitesprechen auch im klassischen In-
mentyp, der sein klassisches Vorbild im König Ödi- trigendrama, umgekehrt lehnten die Naturalisten
pus (um 426 v. Chr.) des Sophokles hat, sind im alle Formen monologischer Rede wegen der darin
Bereich der Tragödie Schillers Braut von Messina verletzten ›Naturwahrheit‹ ab und bevorzugten
(1803; fatale Aufdeckung einer Geschwisterbezie- stattdessen den (stummen) ›Gebärdenmonolog‹.
hung) und im Bereich der Komödie Lessings Ju- Der dramatische Monolog richtet sich, anders
genddrama Die Juden (1749; Aufklärung der Iden- als die vor anderen Figuren gehaltene Rede, nicht

436
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Das aristotelische
Dramenmodell und
seine Strukturelemente

an ein Publikum auf der Ebene der Dramenhand- nen, die zu übersichtlichen Strukturen der drama-
lung, er ist gewissermaßen ein Selbstgespräch. Als tischen Konstellation führt. Ziel der dialogischen
solches kann er dramaturgisch völlig unterschied- Auseinandersetzung ist in der Regel die Überzeu-
liche Funktionen aufweisen (Asmuth 2009, gung des Gegenübers. Für die dialogische (wie
Kap. VI): auch für die monologische) Kommunikation im
N Der Brücken- oder Übergangsmonolog (auch: Drama hat die Forschung sehr differenzierte struk- Arten des Monologs
technischer Monolog) dient dazu, dass das klassi- turalistische Modelle entwickelt (Pfister 2001, im Drama
zistische Verbot der leeren Bühne eingehalten wer- Kap. 4).
den kann; wenn ein Dialogpartner den Schauplatz Überzeugungsstrategien der Rhetorik: Im An-
verlässt, bleibt der andere kurz allein auf der schluss an ein Konzept, das die griechische Antike
Bühne und äußert einige Worte, bevor eine oder etwa zeitgleich mit der spezifischen Dramentheo-
mehrere neue Figuren auftreten (z. B. Claudia in rie entwickelte, unterscheidet man die sachorien-
Lessings Emilia Galotti [1772] 2,5). tierte (logos), die sprecherorientierte (ethos) und
N Der große Reflexions- oder Entscheidungsmo- die adressatenorientierte (pathos) Dialogführung,
nolog stellt im Gegensatz zu diesem funktionalen wobei sich die Bereiche überlagern können. In
Versatzstück oft einen Höhepunkt im Drama dar, Lessings Nathan der Weise dominiert der Sachas-
so beispielsweise in Schillers Maria Stuart, 4,10, pekt, da Nathan dezidiert an die Vernunft seiner
als Elisabeth das Todesurteil über Maria ausfertigt, Gesprächspartner appelliert, in Johann Christoph
oder in Goethes Torquato Tasso (1790), wo der Ti- Gottscheds Trauerspiel Sterbender Cato (1732) in-
telheld im 4. Akt gleich drei Monologe hält, die szeniert die Hauptfigur sich als stoischer Weiser
seine wachsende Isolation und Verblendung sze- und motiviert aus seinem Charakter heraus sein
nisch abbilden. gesamtes Handeln. Daniel Casper von Lohensteins
N Im epischen Monolog wendet sich ein Darstel- Cleopatra (1661) hingegen versucht, bei ihren
ler, aus seiner Rolle heraustretend, direkt an au- männlichen Gegenspielern wechselnde Leiden-
ßerfiktionale Adressaten, also an das Publikum schaften – Liebe, Mitleid, Verzweiflung – zu erre-
(daher auch: ›Ad-spectatores-Sprechen‹). Dieser gen; in einem planenden Entscheidungsmonolog
dritte Typ monologischen Sprechens ist allerdings entwirft sie selbst ihre Strategie: »Anton ist itzt im
für das Theater der offenen Form typisch, so be- Liben / Bis auf den höchsten Punct der blinden
gegnet er beispielsweise im Epilog von Bertolt Brunst getriben / Di ihn nach unserm Wunsch gar
Brechts Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan unschwer stürzen kann / Auf den Verzweiflungs-
(1943): »[…] Wir stehen selbst enttäuscht und Fels« (2. Akt, V. 317–320).
sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen Dramatisches Duell: Held und Gegenspieler be-
offen. […] Verehrtes Publikum, los, such dir selbst gegnen sich häufig in einer veritablen ›Duellsitua-
den Schluß! / Es muß ein guter da sein, muß, tion‹, die gelegentlich auch im Anschluss an die
muß, muß!« Praxis griechischer Redner als ›Agon‹ (Redewett-
Dialog: Die dominierende Form der dramatischen streit) bezeichnet wird (Klotz 1992, Kap. I.1).
Rede ist der Dialog, also die Kommunikation zwi- Kennzeichnend für diese Form der großen dialogi-
schen mehreren Personen (die Bezeichnung kann schen Auseinandersetzung ist eine klare Struktu-
synonym mit ›Figur‹ verwendet werden). In der rierung, zu der ein tastendes Vorgeplänkel ebenso
Antike und im französisch beeinflussten Theater gehört wie erkennbare Stufen der Konfliktsteige-
des Klassizismus galt die ›Dreipersonenregel‹, rung und eine Zuspitzung am Schluss. Ein gutes
wonach nicht mehr als drei redende Personen Beispiel liefert Goethes Torquato Tasso 2,3: Am
gleichzeitig auf der Bühne agieren durften. Diese Ende des Streitgesprächs mit Antonio, in dem es
Norm wurde nie konsequent eingehalten, schon um den Vorrang von höfischer Selbstbeherrschung
das barocke Schultheater verwendete Massensze- oder künstlerischer Impulsivität geht, zieht Tasso
nen, um eine möglichst große Anzahl von Schau- den Degen und verletzt damit das Gebot der
spielern auf die Bühne zu bringen. Seit dem späten Schicklichkeit, die gerade nur das verbale Duell
18. Jh. galt eine große und heterogene Besetzung duldet.
als dramaturgisch notwendig und zulässig (Goe- Verssprache: Im Drama der geschlossenen Form
the: Götz von Berlichingen, 1773; Schiller: Wilhelm ist die Figurenrede relativ streng reglementiert.
Tell, 1804; Georg Büchner: Dantons Tod, 1835). Traditionell, also von der griechischen und römi-
Symptomatisch für die geschlossene Dramenform schen Antike her, waren Tragödien wie Komödien
ist allerdings die Beschränkung auf wenige Perso- in Versen geschrieben, eine Gepflogenheit, die sich

437
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Drama

mit ganz wenigen Ausnahmen – vor allem im Be- (Anakoluth) wirken kalkuliert, und in allen La-
reich des Lustspiels – bis weit ins 18. Jh. hielt und gen – bevorzugt als ›letzte Worte‹ nach Mord- oder
nach gegenläufigen Tendenzen in der Aufklärung Selbstmordhandlungen – führen die Figuren allge-
und vor allem im Sturm und Drang auch in der mein verbindliche Sinnsprüche (Sentenzen) im
Klassik nochmals verbindlich wurde. Geläufigste Munde (Gottsched: Sterbender Cato: »Der Beste
Metren sind, wenn man von den lateinischen Ver- kann ja leicht vom Tugendpfade wanken«). Auch
sen der Humanistendramen absieht: die Komödie weist kunstvolle Formen der Dialog-
Dramenverse N der Knittelvers (vierhebiger Jambus mit freien führung auf, beispielsweise das konsequente An-
Füllungen) im Fastnachtsspiel und anderen vor- einander-vorbei-Reden aufgrund unterschiedlicher
barocken Formen, Wissensvoraussetzungen der Gesprächspartner
N der Alexandriner (sechshebiger Jambus mit (nicht zu verwechseln mit der modernen Sprach-
Mittelzäsur), der aus Frankreich übernommen skepsis auch im ernsten Drama) oder die schema-
wurde, in den Dramen der Barockzeit und der tischen Repliken lächerlicher Typenfiguren.
frühen Aufklärung sowie Stichomythie: Zur Veranschaulichung eines
N der Blankvers (fünfhebiger Jambus), der sich sich zuspitzenden Konflikts geeignet, in ihrer for-
an Shakespeares Stücken orientiert, und den malen Strenge aber gleichfalls artifiziell ist die
Autoren wie Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, ›Stichomythie‹ (wörtlich: Zeilenrede), mit der die
Grillparzer oder Hebbel – später noch verein- Kontrahenten auf dem Höhepunkt einer Ausein-
zelt z. B. Hugo von Hofmannsthal oder Heiner andersetzung sich Vers auf Vers entgegenschleu-
Müller – verwendeten. Nur der Blankvers ist dern. Vielfach nehmen sie dabei die Worte des
reimlos, in ihm wird bei aller versbedingten Ab- Gegners auf oder bedienen sich anderer rhetori-
weichung vom empirischen Redeverhalten scher Figuren wie der ›Paronomasie‹ (Wortgleich-
doch eine gewisse Nähe zur ›natürlichen‹ Spra- klang). In Goethes Torquato Tasso lauten die letz-
che angestrebt. ten Worte, bevor Tasso zum Degen greift (s. oben;
Einheitliche Sprache: Das Bestreben der Autoren V. 1399–1405):
aristotelischer Dramen, exemplarische Konfliktsi-
tuationen von allgemein menschlicher Relevanz in TASSO: Komm mit herab wo unsre Waffen gelten.
erhabener Form darzustellen (s. oben), bedingte ANTONIO: Wie du nicht fordern solltest, folg ich nicht.
nicht nur die Verwendung des Verses, sondern TASSO: Der Feigheit ist solch Hindernis willkommen.
auch eine sehr artifizielle, an den Gesetzen der ANTONIO: Der Feige droht nur wo er sicher ist.
klassischen Rhetorik orientierte Kunstsprache. TASSO: Mit Freuden kann ich diesem Schutz entsagen.
Besonders im ernsten Drama – dessen untragische ANTONIO: Vergib dir nur, dem Ort vergibst du nichts.
Variante man seit dem 18. Jh. ›Schauspiel‹ nann- TASSO: Verzeihe mir der Ort daß ich es litt.
te – fällt auf, dass alle Figuren sich einer korrek-
ten, klaren, situationsangemessenen Sprache be- Eine Art Gegenstück zur Stichomythie ist der ›Ha-
dienen; sogar ›Barbaren‹ wie der Taurier Thoas in kenstil‹, der durch häufigen Gebrauch von Enjam-
Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) oder kleine bements (Auseinanderfallen von Versende und
Kinder, wie in Andreas Gryphius’ Papinianus Satzende) entsteht. In Verbindung mit dem ohne-
(1659) oder in Lohensteins Cleopatra, machen da- hin zur natürlichen Diktion neigenden Blankvers
bei keine Ausnahme. Zugrunde liegt diesen Texten ergibt sich, häufig zu beobachten etwa in Lessings
die Vorstellung, dass zwischenmenschliche oder Nathan der Weise (1779), eine der gehobenen Um-
geschichtliche Probleme auch größten Ausmaßes gangssprache angenäherte Redeweise.
in luzider Sprache zu artikulieren sind, dass ein
Gelingen der Kommunikation also grundsätzlich
4.4.1.3 | Personendarstellung
möglich ist (Klotz 1992, Kap. I.6).
Rhetorische Figuren: Größere Redepartien sind Die Figuren oder Charaktere im Drama können
stets überlegt aufgebaut, und unter dem Eindruck mehr oder minder komplex gestaltet sein, bei redu-
starker Affekte bedienen sich die Dialogpartner im zierter Informationsvergabe durch den Bühnentext
äußersten Fall ausgefallener Stilfiguren oder drasti- erscheinen sie sogar als ambivalent, was vielfach –
scher Vergleiche, doch nie gerät – in der strengen nicht nur im modernen Drama – zu einer gewollten
Form des aristotelischen Dramas – der kunstvolle Verunsicherung des Zuschauers und zum Nach-
Goethe: Periodenbau ins Wanken. Selbst plötzliches Ver- denken über die Handlungs- und Entscheidungsal-
Torquato Tasso (1790) stummen (Aposiopese) oder Konstruktionsbrüche ternativen des Dramenpersonals führt. Aristoteles

438
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Das aristotelische
Dramenmodell und
seine Strukturelemente

forderte, dass der ›Held‹ (oder besser: Protagonist) Die Hauptfiguren sind, zumindest im ernsten
einer Tragödie in seinem Denken und Handeln den Drama, meist komplexer, zuweilen sogar außeror-
Gesetzen der Wahrscheinlichkeit folgen und in mo- dentlich vielschichtig gestaltet. Zwar beschränkt
ralischer Hinsicht überwiegend positiv, aber doch sich ihr konkretes Denken und Handeln ganz auf
mit einem entscheidenden Makel (griech.: hamar- die Auseinandersetzung im Rahmen der für das
tia) ausgestattet sein müsse (Poetik, Kap. 13). Stück zentralen Problematik, doch erscheinen sie
Wenn ein solcher Held scheitere, rufe das im Zu- als komplette Persönlichkeiten – im Gegensatz
schauer die gattungstypischen Affekte Mitleid und etwa zu den Figuren der Brecht’schen Parabelstü-
Furcht hervor (s. unten). cke, die einzig auf ihre lehrhafte Funktion hin kon-
Tragischer Held: Dieses Konzept des Helden, struiert sind. In den ›Ideendramen‹ der Klassik
das historisch aus der tragischen Weltsicht der und des Poetischen Realismus verhandeln die Fi-
Griechen – der Mensch als schuldlos-schuldiger guren ausschließlich über abstrakte Gegenstände
Spielball göttlicher Mächte – hervorging, erfuhr im wie Humanität (Goethe: Iphigenie auf Tauris),
Laufe der Geschichte zahlreiche Modifikationen: Identität (Kleist: Amphitryon, 1807) oder Selbstbe-
Beim eindimensional-fehlerlosen Märtyrer des ba- stimmung (Friedrich Hebbel: Herodes und Ma-
rocken Dramas (Gryphius: Catharina von Georgi- riamne, 1849).
en, 1650) stellt sich die Frage nach der Tragik Die Figurencharakterisierung kann auf unter-
ebenso wie im bürgerlichen Trauerspiel, wo die schiedliche Weise erfolgen. Einige Theoretiker Lessing: Emilia Galotti
gesellschaftliche Bedingtheit des zur Katastrophe (z. B. Pfister 2001, Kap. 5) benutzen eine von der (Titelkupfer von 1772)
führenden Geschehens in den Vordergrund rückt hier vorgestellten abweichende, komplexere Ter-
(Lessing: Emilia Galotti). Näher am antiken Tra- minologie.
gikbegriff stehen z. B. Ausprägungen des klassi- N Als ›direkte Charakterisierung‹ bezeichnet
schen Geschichtsdramas (Schiller: Wallenstein). man das Verfahren, eine Person von Dritten, oft
Das an manchen Texten zu beobachtende Prin- unmittelbar vor ihrem eigenen ersten Auftritt,
zip des moralisch motivierten Ausgleichs, das auf im Gespräch vorstellen zu lassen (Goethe: Tor-
die Belohnung der Tugendhaften und die Bestra- quato Tasso 1,1: Unterhaltung zwischen Leo-
fung der Bösen hinausläuft, ist im Grunde untra- nore und der Prinzessin über Tasso; 1,2: Al-
gisch, allerdings werden die Bösewichter doch phons gesellt sich hinzu; 1,3: Tasso tritt, auf
meist noch innerhalb der Handlung gerichtet diese Weise angekündigt, zu den Vorigen).
(Goethe: Götz von Berlichingen; Schiller: Kabale N ›Indirekte Charakterisierung‹ bedeutet hin-
und Liebe, 1784). Das aristotelische Drama ten- gegen, dass die Figur durch ihre eigenen Worte,
diert überdies dazu, dem Verzweifelnden eine Op- Handlungen, Gesten usw. etwas über ihre Ei-
tion zum Ertragen des Schicksals anzubieten (Goe- genschaften und Absichten verrät. Dies ge-
the: Torquato Tasso, V. 3432 f.: »Und wenn der schieht meist im Dialog, entweder in der Aus-
Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein einandersetzung mit einem Gegenspieler
Gott zu sagen, wie ich leide«). (Schiller: Maria Stuart 3,4: Streitgespräch zwi-
Charaktere und Typen: Wichtiger als die Eintei- schen Maria und Elisabeth) oder – oft zu Be-
lung der auftretenden Personen in ›gute‹ und ginn des Dramas – in der Unterhaltung mit ei-
›böse‹ – dies wäre ja kein dramenspezifisches Kri- ner vertrauten Person (›confident‹), die als
terium – sind jene Beschränkungen der Figuren- Stichwortgeber für Überlegungen der Hauptfi-
konzeption, die sich aus dem geringen Umfang des gur dient (Maria Stuart 1,4: Maria im Gespräch
Bühnentextes und dem Verzicht auf auktoriale Dar- mit ihrer Amme Hanna Kennedy).
bietungsinstanzen ergeben. Der Komplexität der N Der ›Auftrittsmonolog‹ wie in Goethes Iphige-
Charaktere sind grundsätzlich enge Grenzen ge- nie auf Tauris 1,1, wo die Titelfigur erste Einbli-
setzt. Eindimensional angelegt sind vielfach Intri- cke in ihre Situation und ihre Denkart gibt, ist
ganten und andere Negativfiguren, die vorrangig ein Sonderfall der Figurencharakterisierung, der
die Handlungen der Protagonisten auslösen (Mari- in pointierter Verwendung als Auftrittsarie in
nelli in Lessings Emilia Galotti), außerdem typi- der Oper wieder begegnet.
sierte Figuren der Komödie, deren Eigenschaften Ständeklausel: Die auf solche Weise klar kontu-
teilweise durch sprechende Namen vorab ange- rierten Figuren des aristotelischen Dramas reprä-
zeigt werden (Frau Glaubeleichtin, Magister sentieren bestimmte politische, gesellschaftliche,
Scheinfromm usw. in Luise Adelgunde Victorie ethisch-moralische oder weltanschauliche Positio-
Gottscheds Pietisterey im Fischbein-Rocke, 1736). nen. Dass das Personal der Tragödie bis um die

439
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Drama

Mitte des 18. Jh.s durchweg den höheren sozialen dings wenig hilfreich, da man bei einer Berück-
Rängen angehört (›Ständeklausel‹), hat nicht nur sichtigung des gesamten Textmaterials kaum über
mit der tragischen ›Fallhöhe‹ zu tun (Poetik, eine vage Unterscheidung der Wirkungskategori-
Kap. 13) – der tiefe Sturz eines Fürsten oder eines en hinauskommt. Nach Aristoteles will die Tragö-
mythischen Helden mag bewegender erscheinen die durch die erhabene Darstellung des Schick-
als der eines ›gemeinen Mannes‹ –, es spiegelt sals bedeutender Personen beim Zuschauer
auch das ständisch wertende Denken der alteuro- Mitleid und Furcht erzeugen, während die Komö-
päischen Gesellschaft wider. Erst Aufklärung und die lächerliche Figuren in untragischen Situatio-
Empfindsamkeit führten zu einer wachsenden nen auf die Bühne bringt und damit Lachen be-
Sensibilisierung der gebildeten Kreise für das Lei- wirkt (Poetik, Kap. 5 f.). Überblickt man die
den bürgerlicher (Lessing: Emilia Galotti), später Entwicklung des europäischen Theaters genauer,
auch unterbürgerlicher Schichten (Büchner: Woy- lassen sich freilich weitere Differenzkriterien he-
zeck, 1837). Umgekehrt zeigt die Komödie gemäß rausarbeiten, die auf mehrere Epochen und zahl-
der Forderung des Aristoteles zunächst ›schlechte- reiche Einzeltexte angewendet werden können
re‹ Menschen, also Angehörige der niedrigen Stän- und auch unseren heutigen, durch Trivialgenres
de, bevor seit dem 18. Jh. auch Adel, Großbürger- (Historienfilme, Boulevardtheater) geprägten Seh-
tum und Künstler zu Komödienfiguren avancieren gewohnheiten recht nahe kommen. Aufgrund ih-
(Lessing: Minna von Barnhelm, 1767; Hugo von rer historisch-funktionalen Beschränkung sind
Hofmannsthal: Der Schwierige, 1921; Thomas allerdings diese Kriterien, die beispielsweise die
Bernhard: Der Theatermacher, 1984). Herkunft des Stoffes oder den sozialen Status der
Mündigkeit: Nicht ganz deckungsgleich mit der Figuren berücksichtigen, mit großem Vorbehalt
Geltungsdauer der Ständeklausel ist das Festhalten anzuwenden.
des aristotelischen Dramas an dem Grundsatz, wo- Die fundamentale Unterscheidung von Tragödie
nach die Figuren sich ihrer Lage selbst unter dem (Trauerspiel) und Komödie (Lustspiel) versucht
Ansturm heftiger Affekte voll bewusst sind und man gelegentlich nach sechs traditionellen Diffe-
über die Fähigkeit verfügen, ihre Erkenntnisse bis renzkriterien vorzunehmen, was einen vorläufi-
in die Nuancen hinein klar zu artikulieren. Auch gen Hinweis auf die – im Einzelfall jeweils zu spe-
hier bringt allerdings bereits das 18. Jh. erste Ver- zifizierende – Zuschreibung ergibt. Das Schema
änderungen: Spätestens in den Dramen des Stür- unten (nach Asmuth 2009, Kap. III) bietet eine
mers und Drängers Jakob Michael Reinhold Lenz erste Orientierung.
(Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung, Zu den Spielarten der Tragödie, die das aristote-
1774; Die Soldaten, 1776) begegnen uns Gestalten, lische Modell in reiner oder in abgewandelter
die nicht über dasselbe Maß an Reflexions- und Form realisieren, gehören z. B.:
Ausdruckfähigkeit verfügen wie ihr – intendier- N das Märtyrerdrama, in dem der Protagonist
tes – Publikum. um eines religiösen oder politischen Bekennt-
nisses willen den Tod in Kauf nimmt (Gryphius:
Carolus Stuardus, 1657).
4.4.1.4 | Tragik und Komik N die Rachetragödie, die auf das Modell der eng-
Tragödie und Komödie: Seit Aristoteles wird das lischen revenge tragedy zurückgeht, und in der
Unterscheidung Tragödie/ Spektrum dramatischer Dichtungen grob nach die Geister von Ermordeten als Katalysatoren
Komödie nach sechs Tragödien (Trauerspielen) und Komödien (Lust- der dramatischen Handlung auftreten (Kaspar
Differenzkriterien spielen) differenziert. Diese Einteilung ist aller- Stieler: Bellemperie, 1680), sowie
N das Künstlerdrama, das die tragischen Kon-
Kriterium Tragödie/Trauerspiel Komödie/Lustspiel flikte exzeptioneller Persönlichkeiten mit den
Begrenzungen der menschlichen Existenz bzw.
Stoff Mythos, Geschichte fiktiver Gegenstand
der gesellschaftlichen Verhältnisse zeigt (Goe-
Historizität der verbürgt fiktiv the: Faust, 1808 [Teil 1] / 1832 [Teil 2]).
Figuren
Andere Ausprägungen der Tragödie lassen sich, je
sozialer Stand mythische Helden, Adlige Bürger, Handwerker, Bauern nach Gegenstand und Problemkonstellation, als
Charakter edel, doch mit Fehler schlicht, zuweilen auch lasterhaft ›Historisches Drama‹, ›Ideendrama‹ usw. bezeich-
Redestil erhaben umgangssprachlich bis vulgär
nen und sind nicht an die aristotelische Form ge-
bunden, was im Übrigen auch für das Künstlerdra-
Dramenausgang Katastrophe glückliches Ende
ma gilt (Brecht: Leben des Galilei, 1943).

440
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Modifikationen
des aristotelischen
Dramenmodells

Dem Idealtypus der Komödie, die – bedingt Happy End (Heinrich von Kleist: Amphitryon; Carl
wohl auch durch das Fehlen einer der Tragödie Sternheim: Die Hose, 1911) schließt. Das an Ödön
entsprechenden theoretischen Grundlegung bei von Horváth (Geschichten aus dem Wienerwald,
Aristoteles – generell zu größerer Freiheit in der 1931) orientierte sogenannte Kritische Volksstück
formalen Gestaltung tendiert, entsprechen etwa setzt sich in satirischer Weise mit alltäglichen
die sächsische Typenkomödie (Johann Elias Missständen der jeweiligen Gegenwart auseinan-
Schlegel: Die stumme Schönheit, 1747), die Lokal- der. In den 1960er Jahren war das Fortwirken fa-
possen des 19. Jh.s (Johann Nestroy: Zu ebener schistoider Strukturen in der bundesrepublikani-
Erde und erster Stock, 1835) und diverse Ausprä- schen Gesellschaft ein bevorzugtes Thema (Martin
gungsformen des Boulevardtheaters. In sehr vie- Sperr: Jagdszenen aus Niederbayern, 1966).
len ›Komödien‹ der deutschen Literaturgeschichte Tragikomödie und Groteske: Während die
vom 18. Jh. bis zur Gegenwart ist insbesondere das Mischformen im Gefolge der Aufklärung noch dem
Happy End so sehr ironisiert, dass von einem Postulat der ›Natürlichkeit‹ des Dramengesche-
glücklichen Ausgang kaum gesprochen werden hens verpflichtet sind (Lenz: Der Hofmeister; Die
kann. Soldaten), gerät die Differenzierung der Kategori-
Überlagerung der Differenzkriterien: Die Krite- en in der Moderne (Gerhart Hauptmann: Die Rat-
rien, wonach das tragische und das komische Gen- ten, 1911; Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der
re bestimmt wurden, vermischten sich im Laufe alten Dame, 1956; Thomas Bernhard: Die Macht
der Geschichte schon früh, vielfach wurde die Gat- der Gewohnheit, 1974) allmählich aus den Fugen,
tungsbezeichnung auch einseitig verwendet. die Stücke entwickeln sich mehr und mehr zu Gro-
Wenn Hans Sachs seine Comedi von dem reichen tesken. Im Verzicht auf die klare Zuweisung eines
sterbenden Menschen (1549) mit dem Tod des Pro- Stückes zum tragischen oder zum komischen Gen-
tagonisten enden lässt, verweist der Titel auf das re zeigt sich bereits die Komplexität einer moder-
nach dem Verständnis der Humanisten glückselige nen Perspektive, die in den exemplarischen Struk-
Ende des bekehrten Sünders. turen des Bühnengeschehens beide Elemente des
N Das ›rührende Lustspiel‹ (comédie larmoyante) Weltverständnisses vereint (Guthke 1968).
der Empfindsamen geht in seiner Bezeichnung
auf die traditionelle Bindung von ›Lustspiel‹
und nicht-aristokratischer Herkunft der Prota-
gonisten zurück; es handelt sich dabei um ein 4.4.2 | Modifikationen des
nur wenig komisches Schauspiel mit begrenzt aristotelischen Dramenmodells
gutem Ausgang (Christian Fürchtegott Gellert:
Die zärtlichen Schwestern, 1747). Alternative Formen des Dramas entwickelten sich
N Im ›bürgerlichen Trauerspiel‹ des 18. und nicht erst in der offensiven Auseinandersetzung
19. Jh.s (s. 4.4.3) erleiden fiktive Figuren bür- mit den aristotelischen Normen, wie es in der Mo-
gerlichen Standes ein katastrophales Schicksal, derne – etwa bei Brecht – explizit geschah. Viel-
sie werden gewissermaßen ›tragikwürdig‹ (vgl. mehr hatten überhaupt erst die produktive Auf-
Guthke 2006). nahme der aristotelischen (und horazischen)
N Im ›sozialen Drama‹ der Naturalisten werden Poetik und die Adaptation des antiken Theaters
ganze ›Milieus‹ zu Orten tragischen Geschehens durch die Humanisten dazu geführt, dass sich im
(Gerhart Hauptmann: Die Weber, 1893), viel- 16. und vor allem im 17. Jh. jene Regeln etablier-
fach vermischen sich auch hier tragische und
komische Effekte. Definition
Tragikomische Mischformen: Im Grunde ließe sich
jede dramatische Mischform, die erkennbar Ele- Nach dem einflussreichen Modell von Volker Klotz (1960/1992) spricht
mente aus Komödie und Tragödie enthält, als Tra- man von   ›offener Form‹, wenn – idealtypisch – nicht nur die drei Ein-
gikomödie bezeichnen. Im engeren Sinne versteht heiten des Ortes, der Zeit und der Handlung aufgebrochen sind, son-
man darunter ein Stück, das bei (partiell) lächerli- dern sich auch die Einheitlichkeit bzw. Kohärenz von Struktur (Hierar-
cher Handlung bzw. komischem Figurenarsenal chie von Akt- und Szenenaufteilung, dramatische Verlaufskurve),
mit einer Katastrophe (Jakob Michael Reinhold Figurenarsenal (Ständeklausel, Korrespondenz von Eigenschaften und
Lenz: Die Soldaten; Max Frisch: Biedermann und sozialer Herkunft) und Sprache (›hoher‹ Stil in der Tragödie, zielführen-
die Brandstifter, 1958) oder mit einem unglaub- des Rededuell) gänzlich auflösen.
würdigen, zumindest für einige Figuren bitteren

441
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Drama

Zur Vertiefung unterschiedlichste Theatertraditionen der Renais-


sance kombinierte und damit ein Modell schuf,
Geschlossene und offene Form im Drama nach Volker Klotz das später – in Deutschland etwa seit Lessing – als
»Das Ganze des geschlossenen Dramas ist eine in sich selbst begrenzte Erschei- Alternative zum klassizistischen, französisch be-
nung, die überall, in allen ihren Teilen, auf sich selbst zurückdeutet. Es ist in einflussten Drama angesehen wurde. Auf einer
sich gerundet und abgeschlossen. Seine Teile – die engverschränkten Personen; noch früheren Entwicklungsstufe des Theaters ist
Raum und Zeit als Rahmen des Geschehens; die schlüssig verknüpften Szenen; die mittelalterliche Spieltradition zu verorten,
die hierarchisch geordneten Sätze und Satzteile usf. – haben Sinn und Wert nur die durch die Integration von Schauspielszenen in
in Bezug auf das Ganze, sie haben keine Eigenständigkeit. Einheitlichkeit und die kirchliche Liturgie bestimmt war und in keiner-
Auswahl – repräsentativer Ausschnitt – verbürgen ein geschlossenes Ganzes und lei Verbindung zur Überlieferung antiker Dramen
eine unverstellte Verwirklichung und Wirksamkeit der Idee. – Das offene Drama und Dramentheorien stand.
dagegen weist über sich hinaus, es will unbegrenzt wirken. Unbegrenzt ist die Vielfalt frühneuzeitlicher Theaterformen: Man
Handlung: weder Anfang noch Ende sind deutlich markiert; Zeit und Raum sind muss sich also klar machen, dass das aristoteli-
nicht eingefriedet, sondern entbunden, und die angerissenen Szenen und Sätze sche Illusionstheater, das auf Plausibilität und Ko-
weisen als Fragmente über sich hinaus« (Klotz 1992, S. 215 f.). härenz der Dramenhandlung setzt und auch sonst
allerlei formale Beschränkungen kennt, ein kultur-
und bildungshistorisch bedingtes Phänomen be-
ten, die später als ›klassizistisch‹ galten. Kulmina- stimmter Epochen bzw. literarischer Bewegungen
tionspunkt der Aristotelesrezeption war die fran- ist und keineswegs einem ›natürlichen‹ Konzept
zösische tragédie classique (Jean Racine, Pierre von Theaterspiel entspricht. Selbst im Zeitalter der
Corneille), an der sich allmählich, im Laufe des normativen Poetiken von Opitz bis Gottsched
18. Jh.s auch in Deutschland, eine Kritik entzünde- (s. Kap. III.3.3) und davor zeichnete sich das Dra-
te, die nach und nach die Verbindlichkeit der ge- ma durch formale Vielfalt von Textgestalt und In-
schlossenen Dramenform fragwürdig werden ließ. szenierungspraxis aus.
Die offene Dramenform als Gegenentwurf: Das Spieltradition und Schultheater: Den spätmit-
Drama der Stürmer und Dränger um Lenz und den telalterlichen Passionsspielen etwa ging es vor
jungen Goethe basiert – und dies gilt letztlich für allem um die anschauliche und lehrhafte Verge-
seine Nachfolger bis heute – auf einem konse- genwärtigung der biblischen Offenbarung. Zu die-
quent verfolgten Gegenkonzept zur geschlossenen sem Zweck war es naheliegend, die einzelnen Sze-
Dramenform. Gemeinsam ist den Vertretern dieser nen simultan in einem öffentlichen, von den
Form die Abwehr jedes normativen Konzepts, Zuschauern begehbaren Raum (Marktplatz oder
das die Verwirklichung eigenständiger Vorstellun- Kirche) zur Schau zu stellen, während die Illusion
gen behindert. Dabei ist nicht zwingend eine pa- einer chronologischen Geschehensabfolge nicht
thetische Haltung geboten, wie sie Goethe vertrat: erforderlich war (Frankfurter Passionsspiel, 1493).
»Ich zweifelte keinen Augenblick dem regelmäsi- Im Schultheater der Reformation (Paul Rebhun:
gen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit Susanna, 1536) und mehr noch im katholischen
des Orts so kerkermäsig ängstlich, die Einheiten Ordensdrama (besonders der Jesuiten) waren
der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer gleich mehrere ›außerliterarische‹ Aspekte zu be-
Einbildungskrafft« (Zum Schäkespears Tag, 1771). denken: Die geforderte Einbeziehung möglichst
Das Vorkommen solcher Dramen ist prinzipiell aller Schüler verlangte Massenszenen mit zahlrei-
nicht an bestimmte Epochen gebunden, wenn- chen, auch weniger anspruchsvollen Nebenrollen,
gleich es historisch gewisse Affinitäten zwischen dem rhetorisch fundierten Bildungskonzept der
Dramenform und allgemeiner literarischer Kultur Frühen Neuzeit musste durch eine entsprechende
gibt. Anlage der Dialoge Rechnung getragen werden,
und das Prinzip der Einbeziehung aller Sinne in
die Praxis religiöser Erbauung, wofür insbesonde-
4.4.2.1 | Entwicklungen jenseits
re das Jesuitentheater steht, machte eine multi-
der Aristotelesdiskussion
mediale Inszenierung mit musikalischen Darbie-
›Anti-aristotelisches‹ Theater: Schon vor der expli- tungen und aufwändigen technischen Effekten
zit geführten Auseinandersetzung mit Aristoteles notwendig.
gab es alternative Dramenformen: Der wirk- Gegen das Prinzip der Wahrscheinlichkeit ver-
mächtigste Vertreter dieser Ausprägungsform des stießen die Stücke der Frühen Neuzeit durch die
Dramas war um 1600 William Shakespeare, der Einbeziehung allegorischer Figuren (Thomas Nao-

442
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Modifikationen
des aristotelischen
Dramenmodells

georg: Pammachius, 1538: Auftritt des Teufels und yer für eine rational gesteuerte Kultur des Gefühls,
abstrakter Mächte) oder die Konfrontation von ein Konzept, das er in dem von ihm in Deutschland
Personen, die unterschiedlichen Zeitebenen ange- etablierten bürgerlichen Trauerspiel realisierte.
hörten (Nicodemus Frischlin: Julius Redivivus, Den ›Tragödiensatz‹ deutete Lessing folgender-
1582: Caesar und Cicero werden im humanisti- maßen:
schen Deutschland ›wieder geboren‹). Einem strin-
genten Handlungsaufbau stand die Tendenz zur »Er [Aristoteles] spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mit-
Szenenreihung, etwa im Fastnachtsspiel (Hans leid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die
Sachs: Das narren-schneyden, 1587), entgegen. Furcht, welche uns das bevorstehende Uebel eines andern, für die-
Auch andere Formen der Mittelbarkeit und Illusi- sen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer
onsdurchbrechung gab es lange vor Brechts epi- Aehnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es
schem Theater: Noch aus der Antike stammen die ist die Furcht, dass die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget
Prolog- und Epilogsprecher, die dem Publikum Tei- sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, dass wir der
le des Handlungsverlaufs skizzieren bzw. eine bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte:
Lehre (fabula docet) explizit vermitteln. Selbst das diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.« (Hamburgi-
simultane Geschehen auf Erden und vor dem sche Dramaturgie, 75. Stück, 1768).
himmlischen Gericht ließ sich dramatisch darstel-
len (Jacob Bidermann: Cenodoxus, 1602). Bei allen Unterschieden im Detail – Aristoteles sah
den idealen Tragödienhelden kaum »mit uns von
gleichem Schrot und Korne« (ebd.) – ist Lessing
4.4.2.2 | Die Auseinandersetzung mit
doch derjenige unter den deutschen Dramentheo-
Aristoteles seit dem 18. Jahrhundert
retikern, der den aristotelischen Vorstellungen am
Aristotelesrezeption: Wenn Brecht um die Mitte nächsten stand. Die fundamentale Frage, inwie-
des 20. Jh.s explizit ein ›anti-aristotelisches‹ Thea- weit das Theater überhaupt eine moralische Er-
ter forderte, bezog er sich auf das bis dato – jeden- ziehung bewirken solle, ist für Lessing eindeutig
falls in der theoretischen Debatte – weithin unange- zu beantworten; man sollte sich allerdings hüten,
fochtene Prinzip der dramatischen Illusion, die bei Aristoteles, Goethe oder Brecht – um nur drei Lessing: Hamburgische
eine Identifikation der Zuschauer mit dem Helden ganz prominente Namen zu nennen – eine morali- Dramaturgie (Titelkupfer)
auf der Bühne erzeugte oder zumindest ermöglich- sche Wirkungsabsicht grundsätzlich
te. Doch lange bevor dieses Prinzip in Frage gestellt zu leugnen.
wurde, hatten auf anderer Ebene Diskussionen um Abkehr von der Wirkungsästhetik:
das Dramenmodell des Aristoteles stattgefunden. Aufgrund eines epochalen Paradig-
Johann Christoph Gottsched, dessen Versuch einer menwechsels im Zeichen der Auto-
Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) nomieästhetik (s. Kap. III.3.3, III.3.4)
stark vom französischen Klassizismus beeinflusst ging in der Folgezeit die Bedeutung
war, sah in der aristotelischen Poetik eine Anleitung des Aristoteles allmählich zurück.
zum Verfassen normgerechter Tragödien; durch Seine Poetik genoss durchaus auch
den Traktat des griechischen Philosophen sollte das weiterhin große Wertschätzung, ge-
regelgeleitete Prinzip einer moraldidaktisch ausge- rade bei den Vertretern der Weima-
richteten Theaterkonzeption im Sinne der frühen rer Klassik um Goethe und Schiller,
Aufklärung legitimiert werden. doch verschoben sich mit der Zeit
In Lessings Trauerspielpoetik spielte der soge- die Akzente: Man zielte nicht mehr
nannte ›Tragödiensatz‹ aus dem 6. Kapitel der Poe- vorrangig wie Aristoteles auf die Er-
tik eine zentrale Rolle. Aristoteles hatte dort die regung der Affekte des Zuschauers,
beabsichtigte Wirkung des Trauerspiels – die be- sondern auf die Vermittlung eines
rühmte ›Katharsis‹ (›Reinigung‹) – mit etwas kryp- integralen Menschenbildes. Wenn
tischen Worten (hier nach der neuesten Überset- Schiller in seiner Schrift Vom Erhabe-
zung von Arbogast Schmitt) skizziert: »Durch nen (1793) den Gegensatz von Sinn-
Mitleid und Furcht bewirkt sie [die Tragödie] eine lichkeit und Sittlichkeit, von Natur
Reinigung eben dieser Gefühle.« Im Gegensatz zu und moralischer Verantwortung be-
den radikalen Aufklärern, die aus dieser Formulie- tont, hat er die Präsentation (»Dar-
rung eine grundsätzliche Geringschätzung der Af- stellung«) eines weltanschaulichen
fekte ableiteten, las Lessing die Passage als Plädo- Konzeptes vor Augen: »Aus diesem

443
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Drama

Grundsatz fließen die beiden Fundamentalgesetze die ›geschlossene‹ Dramenform Abbild eines ›ge-
aller tragischen Kunst. Diese sind erstlich: Darstel- schlossenen‹, also überschaubaren Weltkonzeptes
lung der leidenden Natur; zweitens: Darstellung sei. Anschaulich ist diese Gleichsetzung etwa im
der moralischen Selbständigkeit im Leiden.« Barockdrama, wo sich in der strengen Form der
Verabschiedung des aristotelischen Modells: Stücke ein nach klaren Regeln und Machtstruktu-
Aristoteles fand zwar im Laufe des 19. Jh.s noch ren organisiertes, vielfach ritualisiertes und somit
Eingang in Handbücher wie Gustav Freytags 1863 zu vorhersehbaren Ergebnissen führendes Prinzip
erschienenes Standardwerk Die Technik des Dra- des Kommunizierens und Handelns spiegelt. Erste
mas, doch die neuen Formen des ›engagierten‹ Brüche mit überkommenen Traditionen, wie
Theaters, die sich zeitgleich mit dem Ende der das Aufbegehren der bürgerlichen Stände gegen
›Kunstperiode‹ etwa bei Büchner ausbildeten, setz- die zunehmend in Frage gestellten Vorrechtsan-
ten sich – hierin Ansätze aus der Zeit des Sturm sprüche des Adels, zeigen sich entsprechend in
und Drang (Lenz) aufgreifend – in formaler Hin- den Abweichungen des bürgerlichen Trauerspiels
sicht von der durch Aristoteles geprägten Tradition von der geschlossenen Dramenform. Eine weiter-
ab. Zu einer expliziten Abkehr von der aristoteli- gehende Auflösung verbindlicher Handlungs-
schen Wirkungspoetik und den ihr zugrundelie- und Kommunikationsstrukturen, wie sie die
genden formalen Aspekten kam es dann verstärkt Moderne seit dem Ende des 19. Jh.s prägt, führt
im 20. Jh., vor allem in Brechts Konzeption des zu immer stärkerer Desintegration der Dramen-
epischen Theaters (s. unten). form bis hin zur Auflösung der Referenzialität
(Sinnbezug) des Bühnentextes im postmodernen
Theater.
4.4.2.3 | Ausbildung und Eigenschaften
Wenn vom Modell der geschlossenen Dramen-
der offenen Dramenform
form in speziellen Punkten Abstand genommen
Gryphius: Dramenmodelle und Weltkonzepte: Attraktiv, wird, ist noch nicht von einer programmatischen
Catharina von Georgien aber methodisch nicht ungefährlich ist bei der Absage an das aristotelische Theater zu sprechen.
(Bühnenbildentwurf Ermittlung und historischen Verortung der Dra- Schon im Barock gibt es Abweichungen von der
von 1655) mentypen ein gedankliches Experiment, wonach gängigen Dramenpoetik bis hin zu permanenten
Ortswechseln, Parallelhandlungen und Verstößen
gegen die Ständeklausel (Christian Weise: Masa-
niello, 1682). Die Einheit des Ortes, die ja der For-
derung nach Wahrscheinlichkeit des Geschehens
in vielen Fällen ohnehin entgegensteht, wird
auch bei Lessing oder in vielen Stücken der deut-
schen Klassik nicht streng eingehalten, eher fü-
gen sich die unterschiedlichen Schauplätze zu
einem ideellen Ort zusammen (Goethe: Torquato
Tasso: höfische Atmosphäre mit Garten, Saal und
Zimmer). Das bürgerliche Trauerspiel muss per
Definition die Ständeklausel verletzen (s. oben)
und verlangt konsequent die Verwendung der Pro-
sa, ohne dass der gewählte, bewusste Sprachge-
brauch der Figuren beeinträchtigt würde.
Ein dramentheoretischer Paradigmenwechsel
vollzog sich bei den Vertretern des Sturm und
Drang, als man das Fundamentalgesetz des aris-
totelischen Theaters, die drei Einheiten, mit Be-
rufung auf die Originalität und Freiheit des als
›Genie‹ begriffenen Dichters aus den Angeln hob.
›Einheit‹ wurde demnach als organisches, von
Einzelvorschriften nicht zu regulierendes Prinzip
verstanden. Jakob Michael Reinhold Lenz for-
muliert in seinen Anmerkungen übers Theater
(1774):

444
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Modifikationen
des aristotelischen
Dramenmodells

»Der Dichter und das Publikum müssen die eine Einheit fühlen, Zur Vertiefung
aber nicht klassifizieren. Gott ist nur Eins in allen seinen Wer-
ken, und der Dichter muß es auch sein […]. Fort mit dem Schul- Ein frühes Beispiel für die offene Dramenform
meister, der mit seinem Stäbchen einem Gott auf die Finger Ein ebenso früher wie exemplarischer Fall des offenen, anti-aristotelischen The-
schlägt.« aters ist Jakob Michael Reinhold Lenz’ Stück Der Hofmeister oder Vorteile der
Privaterziehung, das als Tragikomödie (s. oben) sogar die Gattungsgrenzen
Krise des Dramas? Bei den Autoren der Klassik und sprengt. Das Drama spielt an den unterschiedlichsten Schauplätzen über einen
des Poetischen Realismus stand das äußerlich Zeitraum von etwa einem Jahr, und es gibt mehrere miteinander nur locker ver-
noch – bzw. nach der Bewegung des Sturm und knüpfte Handlungsstränge. Die traditionelle Fünfaktigkeit dient kaum der Glie-
Drang eher: wieder – weitgehend unveränderte derung, dagegen besitzen die Einzelszenen eine gewisse Autonomie. Die Figu-
aristotelische Dramenmodell in einem komplexen ren gehören verschiedenen Ständen an, auch die Sprachgestaltung ist im
Spannungsverhältnis zu den sich wandelnden Verhältnis zum klassischen Drama sehr differenziert. Die Dramenhandlung, die
ästhetischen und literatursoziologischen Prämis- um das tradierte Motiv der verführten Jungfrau und des (gerade noch verhin-
sen. Gegen Ende des 19. Jh.s ließen die Verunsi- derten) Selbstmordes kreist, könnte prinzipiell auch im Rahmen der traditionel-
cherungen der beginnenden Moderne eine Orien- len Form realisiert werden. Die Struktur des offenen Dramas erlaubt allerdings,
tierung am geschlossenen Dramentyp, der für die die Darstellung einer zentralen Konfliktsituation mit einsträngiger Handlungs-
Prinzipien problembezogenen Handelns und er- folge und klarer funktionaler Zuordnung der Figuren zu einem Panorama auszu-
folgreicher dialogischer Kommunikation stand, weiten, das die Desorientierung junger Menschen – ein zentrales Thema des
kaum noch möglich erscheinen. Peter Szondi je- Sturm und Drang – auf mehreren Ebenen und in wechselnden Personenkonstel-
denfalls konstatiert in seiner Theorie des modernen lationen aufzeigt und die Möglichkeiten der textinternen Problemreflexion aus-
Dramas (1956) für die Zeit um 1900 eine »Krise weitet. So wird nicht nur die moralische Haltlosigkeit des gedemütigten Haus-
des Dramas«, der man teilweise mit »Rettungsver- lehrers und seiner naiven Schülerin aus adligem Hause vorgeführt, es zeigen
suchen« wie den sogenannten ›Konversationsstü- sich ebenso die Auswüchse eines zügellosen Studentenlebens und – auf Seiten
cken‹ zu begegnen versuchte. In Hugo von Hof- der älteren Generation – ein ganzes Konglomerat von Standesdünkel, Vorurtei-
mannsthals Komödie Der Schwierige werden die len und Ignoranz. Zugleich werden zwischen den Figuren zahlreiche Debatten
Probleme wirkungsvoller Artikulation gezielt the- geführt, die teils groteske Züge aufweisen, teils aber auch die Stimme der aufge-
matisiert. klärten Vernunft zu Gehör bringen und fast als textexterne Kommentare zum
In idealtypischer Ausprägung sind Dramen des zeitgenössischen Erziehungswesen aufgefasst werden können (so die Partien
geschlossenen wie des offenen Typs selten zu fin- des Geheimen Rats von Berg in 2,1).
den, tatsächlich können einzelne dominante Be-
funde den Bühneneindruck entscheidend beein-
flussen. In Schillers Räubern (1781) etwa wird die Fortgesetzte Innovation: Das offene Drama ten-
zugrundeliegende, traditionelle Duellstruktur da- diert bis in die Gegenwart zu vielfältigen Formen
durch konterkariert, dass sich die verfeindeten der Innovation. Während das klassische Drama
Brüder Karl und Franz Moor nie begegnen; in Kon- einerseits dem Prinzip der ›Wahrscheinlichkeit‹
sequenz daraus können sich unterschiedliche verpflichtet, andererseits durch die Bindung an be-
Handlungsräume und Beziehungsgefüge heraus- stimmte Stoffe und Darstellungsmuster vielfältigen
bilden. Einige Stücke des Naturalismus, etwa Der Beschränkungen unterworfen ist, sind die Stücke
Biberpelz (1893) von Gerhart Hauptmann, weisen der offenen Form sowohl zur präzisen Widerspie-
eine streng symmetrische Form auf, die zu den gelung der Realität als auch zu experimentellen,
anti-aristotelischen Dramenelementen (Ortswech- ja sogar die Gesetze der Empirie überschreiten-
sel, Personenvielfalt, unterschiedliche Sprachstile) den Präsentationsweisen geeignet. Schon bei Ge-
ein starkes Gegengewicht bildet und gleichfalls die org Büchner stehen das Milieudrama Woyzeck, das
Rezeption beeinflusst. Peter Hacks’ Drama Ein Ge- in der Vorführung eines Proletarierschicksals auf
spräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn den Naturalismus vorausweist, und die fast absur-
von Goethe (1976) entzieht sich als Einpersonen- de Komödie Leonce und Lena (1836) nebeneinan-
stück im Grunde jeder Klassifikation; durch tradi- der. In einem zeitgenössischen Stück wie Martin
tionelle Fünfaktigkeit, Spannungsaufbau und ›Ein- Heckmanns’ Kommt ein Mann zur Welt (2007)
heitlichkeit‹ des Personals (neben der Frau von lässt sich von Rekursen auf die Stofftradition (›Je-
Stein deren Gemahl als ausgestopfte Puppe sowie dermann‹) über episierende Kommentare bis zu
der »abwesende« Herr von Goethe) stellt sich aller- postmodernen Montagestrukturen ein ganzes Set
dings der Eindruck eines ›klassischen‹ Dramen- unterschiedlicher Gestaltungsmöglichkeiten be-
verlaufs ein. obachten.

445
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Drama

4.4.2.4 | Ausprägungsformen des anti- folgreich in der Komödie –, Vergangenes zu ver-


aristotelischen Dramas in der Moderne heimlichen.
Episches Theater: Mit seinem Konzept der ›epi-
Das ›moderne‹ Theater setzt nach Peter Szondi schen‹, also indirekten Präsentation der dramati-
etwa um 1880 mit der europäischen Bewegung des schen Handlung setzte sich Bertolt Brecht dezidiert
Naturalismus ein, stilprägend war hier das skan- vom naturalistischen Theater ab, das ihm kaum
dinavische Drama (Henrik Ibsen). Was einzelne mehr als das aristotelische Dramenmodell geeignet
Autoren in Ansätzen schon früher realisiert hatten, erschien, die kritische Distanz des Zuschauers zu
wurde nun in einer Gegenbewegung zum ›Poeti- wecken und ihn damit zu geschichtlich wirksa-
schen Realismus‹, der de facto ein klassizistisches mem Handeln zu befähigen. Besonders die Vorstel-
Programm der Harmonisierung verfolgt hatte, pro- lung von der dramatischen Illusion und der – damit
grammatisch umgesetzt: Es galt die Mechanismen verbundenen – Identifikation des Betrachters mit
menschlichen Handelns der ›Natur‹ getreu abzu- dem Helden erschien ihm kontraproduktiv (Platz-
bilden und damit durchschaubar zu machen. Ak- Waury 1999, Kap. 9). In seinem Arbeitsjournal fin-
tuelle gesellschafts- und naturwissenschaftliche det sich ein Schema (s. S. 447), in dem »naturalis-
Erkenntnisse wie die Milieu- oder Vererbungsthe- mus« und »realismus« (womit hier sein eigenes
orie (Determinismus) wurden dem dramaturgi- Modell gemeint ist!) gegenüber gestellt werden.
schen Konzept zugrunde gelegt. Die Figuren spre- Anstatt auf »mitgefühl« mit den leidenden Figuren,
chen Dialekt, werden bei alltäglichen Verrichtungen das der Naturalismus in der Tradition von Aristote-
gezeigt und sind vielfach in nicht durchschauten les und Lessing beim Zuschauer wecken will, setzt
Zwängen befangen. Das Elend von Alkoholismus, Brecht auf »kritik« der bestehenden Verhältnisse.
Prostitution oder Ausbeutung wird an drastischen So zielt er in Mutter Courage und ihre Kinder (1941)
Fällen vorgeführt, die Autoren selbst nennen ihre nicht auf Mitleid mit den Protagonisten, sondern
Texte soziale Dramen. auf die Einsicht, dass es im Krieg für die ›kleinen
Milieu: Bei Gerhart Hauptmann, dem wichtigs- Leute‹ nichts zu gewinnen gibt. Heißt es über den
ten Dramatiker des Naturalismus in Deutschland, Naturalismus, »die vorgänge sollen ›für sich selbst
wird das ›Milieu‹ der Kleinbürger bzw. Proletarier sprechen‹«, hält Brecht dem entgegen: »es wird ih-
in tragischer (Die Weber), komischer (Der Biber- nen zur verständlichkeit verholfen«.
pelz) oder tragikomischer Handlungsführung (Die V-Effekt: Brecht verfolgt also eine unverstellt
Ratten) ausgestellt. Die typische Figur des ›Boten didaktische Absicht, wozu er ›epische‹, d. h. das
Hugo von Hofmannsthal: aus der Fremde‹, der als Katalysator des Gesche- Geschehen präsentierende Vermittlungsinstanzen
Jedermann (Aufführung hens zugleich Beobachterfunktion einnimmt, ist einsetzt: Spruchbänder und Songs, das Heraustre-
bei den Salzburger in Vor Sonnenaufgang bezeichnenderweise durch ten der Figuren aus ihrer Rolle (Prolog, Zwischen-
Festspielen 2009 mit einen Wissenschaftler, den Soziologen Loth, reali- spiel, Epilog) oder – wie im Kaukasischen Kreide-
Sophie von Kessel, Ben siert. Formal folgen mehrere Texte dem Prinzip kreis (1945) – die Vorführung eines Lehrstücks vor
Becker und Peter des analytischen Dramas (s. oben), insofern die Publikum auf der Bühne (also ›Theater im Thea-
Simonischek) Figuren versuchen – erfolglos in der Tragödie, er- ter‹). Das Prinzip besteht jeweils darin, Vertrautes
in ungewohnter Weise darzustellen und ihm da-
durch den Anschein zwangsläufiger Konsequenz
zu nehmen. Durch diese und andere Verfrem-
dungseffekte (V-Effekte) will Brecht das Gesche-
hen »als gesellschaftliches Phänomen, das nicht
selbstverständlich ist«, vorführen; in der Folge da-
raus seien »auch die Verhältnisse […] anders vor-
stellbar, als sie sind« (Über experimentelles Thea-
ter, 1939).
Modernes und postmodernes Theater: Mit dem
epischen Theater hat das Modell der offenen Dra-
menform eine Dimension erreicht, die in mancher
Hinsicht – Auflösung der Aktstruktur, Verabschie-
dung der ›ganzen‹ Handlung, Verletzung des
Wahrscheinlichkeitsgebots – nur noch punktuell
weiterzuentwickeln ist. Das Theater des 20. Jh.s

446
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Modifikationen
des aristotelischen
Dramenmodells

hat hier verschiedene Ansätze unternommen: Im


der unterschied zwischen realismus und naturalismus ist immer noch nicht geklärt.
expressionistischen Stationendrama, dem zykli-
sche Formen wie Arthur Schnitzlers Reigen (1900) naturalismus realismus
oder die Wiederbelebung der spätmittelalterlichen
Moralität in Hugo von Hofmannsthals Jedermann die gesellschaft betrachtet als ein die gesellschaft geschichtlich
(1911) vorausgehen, steht die Verschiebung vom stück natur betrachtet
Spannungsbogen der Handlungsführung zur re- ausschnitte aus der gesellschaft die ›kleinen welten‹ sind front-
vueartigen Präsentation existenzieller Szenen im (familie, schule, militärische ein- abschnitte der großen kämpfe.
Zentrum (s. unten Interpretation zu Borcherts heit usw) sind ›kleine welten für
Draußen vor der Tür). Das Theater des Absurden, sich‹.
das vor allem in Frankreich (Eugène Ionesco, Sa- das milieu das system
muel Beckett) realisiert wurde, leugnet die Mög- reaktion der individuen gesellschaftliche kausalität
lichkeit sinnstiftenden Handelns und zielgerichte- atmosphäre soziale spannungen
ter Argumentation radikal. Im Dokumentartheater mitgefühl kritik
(s. 4.4.3) fällt mit der Grenze zwischen fiktionalem die vorgänge sollen ›für sich es wird ihnen zur verständlichkeit
und faktualem Text ein traditionelles Kriterium des selbst sprechen‹ verholfen
Literarischen. das detail als ›zug‹ gesetzt gegen das gesamte
Als ›postdramatisches Theater‹ können sowohl sozialer fortschritt empfohlen gelehrt
konkrete Texte als auch spezifische Formen der In- kopien stilisierungen
szenierung kanonischer Stücke (›Regietheater‹) der zuschauer als mitmensch der mitmensch als zuschauer
bezeichnet werden. Zusammenhängende Hand- das publikum als einheit die einheit wird gesprengt
lung (›Fabel‹), dialogisch-zielführende Kommuni- angesprochen
kation und integrale Figuren (›Charaktere‹) wer- diskretion indiskretion
den dekonstruiert bzw. sind im Stück selbst gar mensch und welt, vom stand-
nicht mehr angelegt (Lehmann 2005). Der Kunst- punkt des einzelnen der vielen
charakter der Aufführung ist so pointiert hervor-
der naturalismus ist ein realismus-ersatz.
gehoben, dass eine illusionistische Wirkung noch
weit konsequenter als bei Brecht negiert und der »Naturalismus und Realismus« aus Brechts Arbeitsjournal. 1942–1955
Zuschauer zur eigenständigen Re-Konstruktion (Eintrag vom 30.3.1947)
des Vorgeführten aufgefordert wird (Heiner Mül-
ler: Die Hamletmaschine, 1977).

Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür (1947), DER ANDERE: Halt! Beckmann! Interpretationsskizze
2. Szene BECKMANN: Wer ist da?
[…] DER ANDERE: Ich. Der Andere.
EINBEINIGER: Komm mit deinem Gesicht unter die Lampe. Ganz BECKMANN: Bist du schon wieder da?
nah. (dumpf) Beckmann! DER ANDERE: Immer noch, Beckmann. Immer, Beckmann.
BECKMANN: Ja. Ich. Beckmann. Ich dachte, du würdest mich nicht BECKMANN: Was willst du? Laß mich vorbei.
mehr kennen. DER ANDERE: Nein, Beckmann. Dieser Weg geht an die Elbe.
EINBEINIGER (leise, aber mit ungeheurem Vorwurf): Beckmann … Komm, die Straße ist hier oben.
Beckmann … Beckmann ! ! ! BECKMANN: Laß mich vorbei. Ich will zur Elbe.
BECKMANN (gefoltert): Hör auf, du. Sag den Namen nicht! Ich will DER ANDERE: Nein, Beckmann. Komm. Du willst diese Straße hier
diesen Namen nicht mehr haben! Hör auf, du. weitergehen.
EINBEINIGER (leiert): Beckmann. Beckmann. BECKMANN: Die Straße weitergehen! Leben soll ich? Ich soll wei-
BECKMANN (schreit auf): Das bin ich nicht! Das will ich nicht tergehen? Soll essen, schlafen, alles?
mehr sein. Ich will nicht mehr Beckmann sein! (Er läuft hinaus. DER ANDERE: Komm, Beckmann.
Eine Tür kreischt und schlägt zu. Dann hört man den Wind und […]
einen Menschen durch die stillen Straßen laufen)

447
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Drama

Heimkehrerdrama: Zwei Jahre nach (OBERST: Werden Sie erstmal wieder ein Mensch!!!
Ende des Zweiten Weltkrieges, kurz DIREKTOR: Aber der Krieg ist doch lange vorbei!
bevor er selbst an den Folgen einer Wir haben doch längst wieder das dickste Ziville-
durch den Krieg verursachten Krank- ben!), treten auch nicht-empirische Figuren auf:
heit starb, schrieb Wolfgang Borchert Der Tod erscheint zweimal, als Beerdigungsunter-
(1921–1947) das Heimkehrerdrama nehmer und als Straßenfeger, und in einer Traum-
Draußen vor der Tür. Das Stück han- vision (zwischen Vorspiel und 1. Szene) wird
delt – motivisch mit den frühen Beckmann mit der Elbe konfrontiert, einer resolu-
Kurzgeschichten von Heinrich Böll ten Flussallegorie, die dem Helden den versuch-
vergleichbar – vom Schicksal eines ten Selbstmord verwehrt (»Laß dir das von einer
Plakat zur Hamburger jungen Soldaten, der, an Körper und Seele ver- alten Frau sagen: Lebe erst mal.«).
Uraufführung von Draußen wundet, aus dem Krieg zurückkommt und in der Aufspaltung der Zentralfigur: Das auffälligste
vor der Tür am 21.11.1947 Heimat keine Aufnahme findet: Das Haus der in Strukturelement des Stückes ist die Aufspaltung
das NS-Regime verstrickten Eltern ist von frem- der Zentralfigur, eine Technik, die von August
den Menschen bewohnt, die Ehefrau hat ihn für Strindberg (Nach Damaskus, 1898) maßgeblich
tot gehalten und sich einen neuen Mann genom- geprägt wurde und im Expressionismus recht ver-
men. Weite Teile der Gesellschaft haben sich in breitet war. Dem verzagten Beckmann tritt bereits
der Nachkriegswelt bequem eingerichtet: Die zu Beginn der 1. Szene »Der Andere« an die Seite,
alten Eliten – hier vertreten von einen Wehr- der sich als die optimistische Stimme des Hel-
machtsoberst – verweigern sich jeder Verantwor- den vorstellt: »Ich bin der Andere, der immer da
tung für das Elend, das sie verursacht haben, ist. Der andere Mensch, der Antworter. Der lacht,
und selbst die Kultur – repräsentiert durch einen wenn du weinst […].« Dieser Andere reflektiert
Kabarettdirektor – verschließt sich der Aufarbei- gemeinsam mit Beckmann die ›Stationen‹ des Ge-
tung des Geschehenen. schehens und zieht jeweils die entgegengesetzten
Stationendrama: Draußen vor der Tür ist ein Konsequenzen, was sich deutlich auch an der
Stationendrama in der Tradition des Expressio- Leitmotivik zeigt: Will der psychisch und körper-
nismus, was sich zunächst sprachlich am para- lich erschöpfte Beckmann fortwährend »pennen«,
taktischen Satzbau, am Gestus des Schreiens ermahnt der Andere »Werd nicht müde«; versucht
(Ausrufezeichen), an der Fülle von Wiederho- Beckmann, den »Weg in die Elbe« einzuschlagen,
lungsfiguren und an einer provozierenden Bild- dekretiert der Andere: »Die Straße ist hier! Hier
lichkeit erkennen lässt. Die aristotelischen Struk- oben!« Am Ende des Stückes allerdings, nachdem
turen sind nicht gänzlich aufgelöst: Das Stück ist Beckmann in einer zweiten Traumszene das Ge-
räumlich (Hamburg) und zeitlich (unmittelbare schehen noch einmal durchlebt hat, ist der An-
Nachkriegszeit, geringer Zeitabstand zwischen dere plötzlich verschwunden: »Wo bist du, Ande-
den Szenen) genau fixiert, lehnt sich formal an rer? Du bist doch sonst immer da! Wo bist du
die gewohnte Aktstruktur an (Vorspiel und fünf jetzt, Jasager? Jetzt antworte mir! Jetzt brauche
»Szenen«) und hat eine zusammenhängende, al- ich dich, Antworter! […] Gibt keiner Antwort???
lerdings zyklisch, nicht linear verlaufende Hand- Gibt denn keiner, keiner Antwort???«
lung (die Suche des Helden nach Überlebensmög- In der 2. Szene, aus der wir hier einen Ausschnitt
lichkeiten im praktischen wie übertragenen Sinn). vorstellen, ist Beckmann einem »Mädchen« nach
In jeder Szene – außer im »Vorspiel«, in dem ein Hause gefolgt, nachdem er zuvor im Zwiege-
machtloser Gott und der Tod als sein überlegener spräch mit dem »Anderen« berichtet hat, dass er
Gegenspieler auftreten – wird die Zentralfigur in seinem eigenen Haus seine Frau mit ihrem
Beckmann mit einer weiteren Form von Ausgren- neuen Mann angetroffen hatte (»Drei Jahre sind
zung konfrontiert, leitmotivisch schlägt immer viel, weißt du. Beckmann – sagte meine Frau zu
wieder die Tür hinter ihm zu, er steht »Draußen mir. Einfach nur Beckmann.«) Nun wiederholt
vor der Tür«. sich das Geschehen in gespiegelter und gesteiger-
Verweisfunktion der Figuren: Neben den die ge- ter Form: Der Mann des Mädchens, der unerwar-
sellschaftlichen Gruppen repräsentierenden Per- tet aus dem Krieg zurückkehrt und Beckmann
sonen, die der empirischen Welt entstammen und bei seiner Frau findet, hat ein Bein verloren
sich teilweise in zynischen Platitüden ergehen (Beckmann hat ›nur‹ ein steifes Bein). Und er hat

448
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Modifikationen
des aristotelischen
Dramenmodells

seine Verwundung Beckmann zu verdanken, der Existenz über das Leitmotiv der schlagenden Tür
ihn – seinerseits auf Befehl des Obersten – im mit der Unbehaustheit des Kriegsheimkehrers ge-
Gefecht auf einen gefährlichen Posten gestellt koppelt. Der mit tragischer Schuld beladene Held
hatte. Anders als der Oberst ist Beckmann jedoch ist moralisch wie sozial orientierungslos, was
von seinem Gewissen gequält: Die Figur des Ein- sich im Dialog mit dem Anderen, seinem Alter
beinigen trägt surreale Züge und erscheint fast Ego, zeigt. Dieser Andere, der »Immer« da ist und
wie eine Imagination Beckmanns, sein Auftreten ihn »diese Straße hier weitergehen« heißt, steht
wird von Beckmann geradezu ›herbeigeredet‹. für den elementaren Überlebenswillen des Men-
Mit der »leiernden« Wiederholung des Aller- schen, aber auch für die Anpassungswilligkeit,
weltsnamens »Beckmann« erinnert die Szene an für das konsequente ›Weitergehen‹ (auch dies ein
die Stimmen in Hugo von Hofmannsthals Jeder- Leitmotiv) eines einmal eingeschlagenen Weges.
mann (1911), die den Sünder an den nahen Tod Somit ist er keineswegs eine eindeutig positive
und das bevorstehende Jüngste Gericht mahnen: Figur – aus der Perspektive Beckmanns nicht,
»Jedermann! Jedermann! Jedermann!« aber auch nicht aus der Perspektive, die der Text
Existenzielle Problematik: Vor dem Hintergrund selbst vorgibt. Dafür sorgen die sich wiederho-
dieser Reminiszenz ist Beckmanns Aufschrei »Ich lenden, inhaltsleeren Phrasen des Anderen, die
will nicht mehr Beckmann sein!« auch als ver- humanistische Losungen (»du darfst nicht ver-
zweifelter Protest gegen die menschliche Sün- zweifeln! Die Wahrheit lebt!«), Durchhalteparo-
denverfallenheit zu lesen, die sich in Extrem- len (»irgendwo steht immer eine Tür offen«), Ab-
situationen wie dem Krieg zwar besonders lenkungsversuche (»Hör nicht hin«) und billige
drastisch manifestiert, aber doch über diesen hi- Verheißungen (»das Leben wartet«) refrainartig
nausweist. Das Leben in Schuld erscheint uner- propagieren.
träglich und sinnlos, wie Beckmann wenig später Der Versuch einer Gesamtinterpretation des Stü-
konstatiert: »Ich soll weiterleben, wo es einen ckes wird immer von der Bewertung des Anderen
Menschen gibt, wo es einen Mann mit einem auszugehen haben. Seine Unverbindlichkeit wird
Bein gibt, der meinetwegen nur das eine Bein verständlich vor dem Hintergrund des Transzen-
hat?« Die Problematik wird in der darauf folgen- denzverlustes: Beckmann streitet mit Gott (»Ich
den Szene mit dem Oberst offenkundig, als Beck- bin der Gott, an den keiner mehr glaubt«) frucht-
mann sich mit bloß rhetorischen Mitteln – indem los um die Frage, ob Gott den Menschen ver-
er eine Metapher wörtlich nimmt – von der drü- pflichtet sei oder umgekehrt. Doch nicht nur die
ckenden Last befreien will: Frage nach der condition humaine bleibt im Stück
zur Disposition gestellt, auch die konkrete Situ-
Ich bringe Ihnen die Verantwortung zurück. Haben Sie das ganz
ation der Kriegsheimkehrer gerät durch die
vergessen, Herr Oberst? Den 14. Februar? Bei Gorodok. Es waren
harsche Gegenüberstellung der realitätsblinden
42 Grad Kälte. Da kamen Sie doch in unsere Stellung, […] dann
Mahnungen des Anderen und der vorgeführten
sagten Sie: Unteroffizier Beckmann, ich übergebe Ihnen die Ver-
Perspektivlosigkeit der Beckmann-Figur aus der
antwortung für die zwanzig Mann. […] Und ich – ich hatte die
Balance. Wenn der Kritiker einer Aufführung
Verantwortung. Dann haben wir die ganze Nacht erkundet, und
aus dem Jahr 1948 ironisch fragte, »Lieber Beck-
dann wurde geschossen, und als wir wieder in der Stellung wa-
mann, warum versuchst du es nicht mal beim Ar-
ren, da fehlten elf Mann. Und ich hatte die Verantwortung. Ja,
beitsamt?«, postulierte er den Vorrang einer
das ist alles, Herr Oberst. Aber nun ist der Krieg aus, nun will
(womöglich verfehlten) gesellschaftskritischen
ich pennen, nun gebe ich Ihnen die Verantwortung zurück […].
Positionierung des Textes gegenüber einer exis-
Wenn der Oberst darauf antwortet »So war das tenzialistischen Lesart, die mit der Vergeblich-
doch gar nicht gemeint«, ist das zwar zynisch keit alles menschlichen Handelns zumindest ge-
und zeigt die Unbekümmertheit des scheinbar danklich experimentiert. Dass Borchert seinen
unbeschadet im Nachkriegsdeutschland ange- Text dialektisch – also in bewusster Widersprüch-
kommenen Offiziers, doch hat die Replik inso- lichkeit – angelegt sah, beweist ein von ihm selbst
fern einen wahren Kern, als sich Verantwortung entworfenes Motto, das in der Druckfassung des
in der Tat nicht vollständig delegieren lässt. Stückes nicht enthalten ist. Es lautet: »Eine Injek-
Rhetorik der Figurensprache: In der Szene mit tion Nihilismus bewirkt oft, daß man aus lauter
dem Einbeinigen wird die Flucht vor der eigenen Angst wieder Mut zum Leben bekommt.«

449
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Drama

4.4.3 | Dramatische Einzelgattungen N Die Lokalposse der Biedermeierzeit führt die


Lächerlichkeit kleinstädtischer Gesellschafts-
Die Ausdifferenzierung dramatischer Einzelgattun- und Handlungsstrukturen dadurch vor, dass ein
gen ist problematisch und zeigt unterschiedliche ›Störenfried‹ von außen das labile System in
Resultate, je nachdem man typologische (formal- Aufruhr versetzt (sei es durch eine Intrige oder
strukturelle Unterscheidbarkeit) oder historische aus Zufall) und die Figuren zu grotesker Über-
Kriterien (traditionsbildendes Potenzial) in den treibung ihrer alltäglichen Handlungen provo-
Vordergrund stellt. Die folgende Übersicht konzen- ziert (August von Kotzebue: Die deutschen
triert sich auf ausgeprägte Formtypen und kann Kleinstädter, 1802).
auch hier nur eine gewisse Auswahl bieten. Eher N Der Schwank, ein Produkt der wilhelminischen
sachlich bedingte Nuancierungen innerhalb der Ära, zeigt die lächerlich scheiternden Aus-
klassischen Tragödien- und Komödienform finden bruchsversuche eines abenteuerlustigen Bieder-
sich in Kap. 4.4.1.4. manns, der durch die Gewalt des Systems – be-
Das bürgerliche Trauerspiel, das auf englische vorzugt in Gestalt der Ehefrau – in die Schranken
Vorbilder zurückgeht (George Lillo: The London bürgerlicher Wohlanständigkeit verwiesen wird
Merchant, 1731), erhält sein dramatisches Potenzi- (Franz und Paul von Schönthan: Der Raub der
al nur partiell aus der gesellschaftlichen Spannung Sabinerinnen, 1884).
zwischen tugendhaftem Bürgertum und amorali- Unter Stationendrama versteht man ein Stück, das
schem Adel (Lessing: Emilia Galotti; Schiller: Ka- die traditionelle Konfliktstruktur mit Exposition,
bale und Liebe). Den meisten Stücken, auch denje- Peripetie usw. durch den eher zyklisch als linear
nigen, die im Milieu des einfachen Landadels verlaufenden ›Weg‹ der Zentralfigur durch eine
(Lessing: Miß Sara Sampson, 1755) oder in einer Abfolge von Szenen ersetzt, in denen eine allge-
rein bürgerlichen Sphäre spielen (Hebbel: Maria mein menschliche oder zeitbedingte Problemsitua-
Magdalene, 1844, sowie die Mehrzahl der heute tion variiert bzw. ausdifferenziert wird (Stefanek,
unbekannten Dramen), sind übergreifende Merk- in: Keller 1976, S. 383–404). Handlungsführung
Brüche innerhalb male eigen, die auf Brüche innerhalb des ›mittle- und Figurenkonstellation folgen vielfach nicht
des ›mittleren‹ Standes ren‹ Standes verweisen: Einer gestörten (oder nicht dem aristotelischen Wahrscheinlichkeitspostulat,
bestehenden) Vater-Sohn-Beziehung steht bei- die Reihung schicksalsentscheidender Begeg-
spielsweise die extreme Bindung zwischen Vater nungen erscheint konstruiert und es kommt zu
und Tochter gegenüber, die einerseits dem Modell Aufspaltungen der Hauptfigur, wodurch eine
der empfindsamen Kleinfamilie entstammt, ande- existenzielle Krise bühnenwirksam veranschau-
rerseits aber auch einen Tugendrigorismus trans- licht wird (Arthur Schnitzler: Anatol, 1893; Wolf-
portiert, der in Konfliktsituationen den Blick auf gang Borchert: Draußen vor der Tür, dazu s. oben
Handlungsalternativen verstellt. Der von den über- Interpretationsskizze).
forderten Akteuren tragisch verschuldete Tod der Das Parabelstück ist, wie die analoge Erzählgat-
Tochter bildet in den heute bekannteren Stücken tung der Parabel, als ›uneigentliche Rede‹ konstru-
das traurige Ende. In anderen Texten kommt es zu iert. Ihm liegt eine abstrakte Idee zugrunde, die
unterschiedlichen Verflechtungen von tugend- und durch eine schematisierte, durchgängig auf den
lasterhaften Handlungen unter weitgehender Be- Sinn ›hinter‹ dem Geschehen verweisende Hand-
rücksichtigung der ›poetischen Gerechtigkeit‹ (Ro- lung versinnbildlicht wird. Die Figuren sind keine
chow 1999; Schößler 2011). Formal entsprechen voll ausgeführten Charaktere, sondern syntheti-
der Fixierung auf das Bürgertum (Durchbrechung sche Konstrukte ohne Eigenleben außerhalb der
der Ständeklausel) die Wahl ›bürgerlicher‹ Hand- jeweiligen Szene. Den lehrhaften Charakter des
lungsorte und die Verwendung der Prosa. Stückes unterstreichen Episierungstechniken wie
Komische Einzelgattungen: Stärker als im Falle Spruchbänder, Songs oder die Ansprache des Pu-
der Tragödie lassen sich bei der Komödie feste blikums durch aus der Handlung heraustretende
Strukturschemata historisch fixierter Untergattun- Figuren (Müller, in: Keller 1976, S. 432–461). Para-
gen ausmachen (Klotz 2007; Schulz 2007, Kap. I.3). bolische Strukturen finden sich ansatzweise schon
N Das frühneuzeitliche Fastnachtsspiel ist durch in früheren Epochen, z. B. im Fastnachtsspiel, doch
kurze, prägnante Knittelversdialoge, ein be- verbindet sich der Begriff meist mit dem epischen
grenztes Figurenarsenal und eine explizit for- Theater Brechts (Der gute Mensch von Sezuan; Der
mulierte Lehre gekennzeichnet (Hans Sachs: kaukasische Kreidekreis) und modernen Formen
Der farendt Schueler im Paradeiss, 1550). des Theaters generell (Max Frisch: Andorra, 1961).

450
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Dramatische
Einzelgattungen

Das Monodrama (›Einpersonenstück‹) ist for-


mal dadurch definiert, dass nur eine einzige Figur
auftritt, wodurch die Handlung extrem reduziert,
allerdings nicht völlig ausgeschaltet wird (Dem-
mer 1982). Während in seiner melodramatischen
Spielart des 18. Jh.s – einer Kombination aus ge-
sprochenem Wort und musikalischen Zwischen-
spielen – die (in der Regel weiblichen) Figuren in
lyrisierenden Monologen psychische Extremsitua-
tionen wie Verlassensein, Eifersucht usw. verarbei-
ten (Johann Christian Brandes: Ariadne auf Na-
xos, 1775; Goethe: Proserpina, 1778), gehen die
Ausprägungsformen der Gattung später weit aus-
einander: Vom Prototyp des das Stück konstituie-
renden Reflexionsmonologs weichen etwa die
Zuschaueransprache (Patrick Süskind: Der Kon-
trabaß, 1984) oder der Scheindialog deutlich ab
(Peter Hacks: Ein Gespräch im Hause Stein über
den abwesenden Herrn von Goethe; der Gatte der
Frau von Stein ist laut Regieanweisung »ausge-
stopft«).
Im Dokumentardrama werden großenteils, in Präsentation authentischen Materials setzen, die Peter Weiss:
der Reinform der Gattung sogar ausschließlich fak- dem Zuschauer eine eigenständige Bewertung ab- Die Ermittlung
tuale Texte wie Zeitungsberichte, Tagebucheinträ- verlangt (Carl, in: Keller 1976, S. 462–483; Barton (Uraufführung in
ge, Verhörprotokolle usw. in Montagetechnik 1987). Von Frühformen abgesehen (Karl Kraus: der Deutschen Akademie
kombiniert. Ziel ist – im Sinne der ›engagierten Die letzten Tage der Menschheit, 1919) ist das Do- der Künste, Ost-Berlin,
Literatur‹ – die Erhellung eines gesellschaftlichen kumentardrama eine Gattung, die in engem Zu- am 19.10.1965)
Zustandes oder historischen Sachverhaltes, wobei sammenhang mit der Aufarbeitung der jüngeren
Verfremdungstechniken wie die Kontrastierung di- deutschen Geschichte steht (Peter Weiss: Die Er-
vergenter Textsorten oder die Evokation eines Ge- mittlung, 1965; Heinar Kipphardt: Bruder Eich-
wirrs widerstreitender Stimmen auf eine Form der mann, 1983).

Literatur
Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. George, David E. R.: Deutsche Tragödientheorien vom
Stuttgart/Weimar 72009. Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare. Aus
Barton, Brian: Das Dokumentartheater. Stuttgart 1987. dem Englischen von Heinz Ludwig Arnold. München
Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des 1972.
europäischen Theaters. 6 Bde. Stuttgart/Weimar Guthke, Karl S.: Die moderne Tragikomödie. Theorie und
1993–2007. Gestalt. Göttingen 1968.
Demmer, Sybille: Untersuchungen zu Form und Geschichte – : Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. Stuttgart/Weimar
6
des Monodramas. Köln/Wien 1982. 2006.
Eckhardt, Juliane: Das epische Theater. Darmstadt 1983. Keller, Werner (Hg.): Beiträge zur Poetik des Dramas.
Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Epochen der Darmstadt 1976.
Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form im Drama
Gegenwart. 2 Bde. Tübingen/Basel 32010 [1960]. München 131992.
– u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/ – : Bürgerliches Lachtheater. Komödie – Posse – Schwank –
Weimar 2005. Operette. Heidelberg 42007.
Fuhrmann, Manfred: Die Dichtungstheorie der Antike. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt
Aristoteles, Horaz, ›Longin‹. Eine Einführung. Düssel- a. M. 32005.
dorf/Zürich 2003. Marx, Peter W. (Hg.): Handbuch Drama. Theorie – Ana-
Geiger, Heinz/Haarmann, Hermann: Aspekte des Dramas. lyse – Geschichte. Stuttgart/Weimar 2012.
Eine Einführung in die Theatergeschichte und Dramen- Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse.
analyse. Opladen 41996. Stuttgart 112001.
Gelfert, Hans-Dieter: Die Tragödie. Theorie und Geschichte. Platz-Waury, Elke: Drama und Theater. Eine Einführung.
Göttingen 1995. Tübingen 51999.

451
4.4
Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse
Drama

Rochow, Christian Erich: Das bürgerliche Trauerspiel. Schulz, Georg-Michael: Einführung in die deutsche
Stuttgart 1999. Komödie. Darmstadt 2007.
Scherer, Stefan: Einführung in die Dramen-Analyse. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas [1956].
Darmstadt 2010. Frankfurt a. M. 2010.
Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Turk, Horst (Hg.): Theater und Drama. Theoretische
Trauerspiel und das soziale Drama. Darmstadt 32011. Konzepte von Corneille bis Dürrenmatt. Tübingen 1992.
– : Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart/Weimar
Robert Seidel
2012.

452
5.1
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge

5 Literatur- und kulturtheoretische Zugänge


5.1 Einleitung
5.2 Zeichen: Semiologische Zugänge
5.3 Geschichte: Historiographische Zugänge
5.4 Kultur: Ethnologische Zugänge
5.5 Geschlecht: Gendertheoretische Zugänge

5.1 | Einleitung
Seit der kulturwissenschaftlichen Wende, die wert ist, dass literarischer Text und theoretisches
sich seit den 1990er Jahren in den Literaturwissen- Konzept in ein dialogisches Verhältnis zueinan-
schaften vollzog, werden literarische Texte zuneh- der treten. Im besten Fall ›lernt‹ nicht nur der Text
mend auch in ihrem kulturellen Kontext betrachtet etwas von der Theorie, sondern auch umgekehrt
und wird Kultur ihrerseits in einem erweiterten die Theorie vom Text, auf den sie angewendet
Sinn als Text verstanden. Seitdem gehört neben wird. Dabei ist es durchaus erlaubt, moderne The-
der Literaturtheorie und den Methoden der textna- orien auf vormoderne Texte zu beziehen, voraus-
hen Analyse (close reading) auch die Kulturtheorie gesetzt, dass man die historische Eigenart der be-
zum selbstverständlichen Handwerkszeug der Li- treffenden Texte respektiert.
teraturwissenschaft (vgl. Nünning 2008). Es ist Das folgende Kapitel führt in zentrale literatur-
nicht immer erforderlich, sich bei der Textinterpre- und kulturtheoretische Zugänge ein und illus-
tation auf eine bestimmte Theorie zu verpflichten, triert sie anhand von zwei konkreten Textbeispie-
sondern man kann unterschiedliche Aspekte des len, nämlich Johann Wolfgang Goethes Briefroman
Textes beleuchten, indem man ihn mithilfe unter- Die Leiden des jungen Werthers (1774) und Hein-
schiedlicher Theorieansätze befragt. Wünschens- rich von Kleists Novelle Der Findling (1811).

Übergreifende Literaturhinweise
Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns: Neuorientierun- Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und
gen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 42010. Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar 42008.
Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. – /Nünning, Vera (Hg.): Einführung in die Kulturwissen-
Stuttgart 2002. schaften. Stuttgart/Weimar 2008.
Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.): Methoden der
Stuttgart/Weimar 52012. literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse.
Keller, Johannes/Miklautsch, Lydia (Hg.): Walther von der Stuttgart/Weimar 2010.
Vogelweide und die Literaturtheorie. Neun Modellanaly- Schößler, Franziska: Literaturwissenschaft als Kulturwissen-
sen von »Nemt, frouwe, disen kranz«. Stuttgart 2008. schaft. Tübingen/Basel 2006.
Martínez, Matías/Scheffel, Michael (Hg.): Klassiker der
modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis
Judith Butler. München 2010.

Literarische Texte
Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werthers Kleist, Heinrich von: »Der Findling«. In: Ders.: Sämtliche
[1774]. Hg. von Matthias Luserke (Studienausgabe). Erzählungen und andere Prosa. Stuttgart 1986.
Stuttgart 1999.

453
5.2
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Zeichen:
Semiologische Zugänge

5.2 | Zeichen: Semiologische Zugänge


Die erste Gruppe der ausgewählten literatur- und
kulturtheoretischen Zugänge lässt sich unter dem Beispiel: Wahrheit(en) in Kleists Findling
Schlagwort des Zeichens zusammenfassen. Es Kleists Novelle reflektiert dieses Problem, in-
handelt sich um jene Zugänge, die im weitesten dem die Novelle Wahrheit als solche in Frage
Sinne mit semiologischen, d. h. zeichentheoreti- stellt. Dauernd werden im Findling Türen auf-
schen Fragen zu tun haben. und abgeschlossen und Geheimnisse erraten
oder verborgen, aber die vermeintlichen Wahr-
Definition heiten, die der Blick durch Schlüsselloch und
Türspalt gewährt, sind Trugschlüsse mit fata-
Komplexe Zeichentheorien gibt es bereits in len Konsequenzen für alle Beteiligten. Die
der antiken Philosophie und in der mittelal- Wahrheit der Geschichte ist in Kleists Novelle
terlichen Theologie.   Semiotik/Semiologie bestenfalls die Wahrheitsbehauptung des Er-
(griech. semeion: Zeichen), die moderne zählers.
Zeichentheorie, basiert auf den Modellen
von Charles S. Peirce und Ferdinand de Saus-
sure. Eine grundlegende Unterscheidung ist lische Wahrheit ist freilich eine Wahrheit zweiter
die zwischen Signifikant (bezeichnender Ordnung, die der Annahme der grundsätzlichen
Ausdruck) und Signifikat (bezeichnete Lügenhaftigkeit der Literatur keinen Abbruch tut.
Bedeutung). Realitätshaltigkeit der Literatur: Das Reale der
Dichtung besteht zum einen darin, dass der Litera-
turbetrieb selbst Teil der empirischen Lebenswelt
ist. Zum anderen ist festzustellen, dass auch die
fiktive Literatur in bestimmter Weise welthaltig ist
5.2.1 | Das Fiktive und das Imaginäre und daher nicht in Opposition zur Lebenswelt ge-
sehen werden kann. In Isers dreistelligem Modell
Wolfgang Iser (1926–2007) plädiert dafür, die tra- ist das Fiktive der Umschlagplatz zwischen Rea-
ditionelle Opposition von Realität und Fiktionali- lem und Imaginärem. Das Fiktive partizipiert am
tät, die sich am Gegensatz von Wahrheit und Lüge Realen, insofern es Elemente der Lebenswelt aus-
orientiert, durch ein triadisches Modell zu erset- wählt, neu zusammensetzt und mit einer Signatur
zen (Iser 2010, S. 229–248). Dieses umfasst folgen- versieht, die den fiktionalen Charakter des Textes
de Ebenen: markiert. Zu den Elementen der Lebenswelt ge-
Isers triadisches N das Imaginäre: Ebene der Ideen und Vorstel- hört auch die jeweils bereits verfügbare Literatur
Modell lungen (s. Kap. III.1.3).
N das Fiktive: Ebene der erzählten Welt Drei Akte des Fingierens werden von Iser unter-
N das Reale: Ebene der empirischen Lebenswelt schieden:
(incl. Literatur) N Selektion: Auswahl von Elementen aus der re-
Die antithetische Gegenüberstellung von Fiktiona- alen Welt
lität (›Lüge‹) und Realität (›Wahrheit‹) verdankt N Kombination: Zusammensetzung der Elemente
sich antiken und mittelalterlichen Traditionen. Be- zu einer fiktiven Welt
reits Platon hatte die Dichtung als unnütz verwor- N Selbstanzeige: Markierung des fiktionalen
fen, weil sie Lüge sei. Der mittelalterliche Didakti- Textstatus (z. B. durch den Zusatz ›Roman‹)
ker Thomasin von Zerklaere (s. Kap. III.2.3.5) wies Im Zusammenspiel erzeugen diese Akte eine An-
darauf hin, dass die Ritterromane seiner Zeit erlo- schaulichkeit, die der empirischen Welt entliehen
gen seien (vgl. Haug 2009). Allein die biblischen ist. Die Anschaulichkeit des Fiktiven ist einerseits
Geschichten könnten Wahrheit für sich beanspru- weniger als die Anschaulichkeit des Realen, weil
chen, da Gott selbst sich in ihnen offenbare. Eines sie nicht mehr auf Gegenständliches verweist. Die
gesteht Thomasin den Rittergeschichten dennoch Anschaulichkeit des Fiktiven ist andererseits aber
zu: dass sie eine moralische Wahrheit zu trans- auch mehr als die Anschaulichkeit des Realen,
portieren vermöchten, nämlich immer dann, wenn weil sie ein Imaginäres zur Anschauung bringt,
sie den Leser/innen am Beispiel des Helden tu- das sich selbst – eben weil es imaginär ist – jegli-
gendhaftes Verhalten vor Augen stellen. Die mora- cher Anschaulichkeit entzieht. Das Fiktive ist so-

454
5.2
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Kultursemiotische
Perspektiven

seines primären Inhalts entleert wird, kann es mit


Beispiel: Fiktives und Reales einem sekundären Inhalt gefüllt werden. Fiktiona-
Dieser Zusammenhang lässt sich am Findling lität ist nun weder Form noch Inhalt, sondern bei-
illustrieren. Die Namen, Orte und Handlungen, des zugleich: Form, insofern sie entkernte Realität
die Kleist in nüchternem Erzählstil präsentiert, ist, Inhalt, insofern sie die Leerstelle mit imaginä-
sind allesamt der Lebenswelt entnommen; man ren Vorstellungen füllt.
kann auch in der Realität Antonio oder Elvira
heißen, in Rom oder Genua wohnen und Söhne
adoptieren oder töten. Auch die Affekte, an de- Beispiel: Mythos Familie
nen es der Erzählung nicht mangelt, sind schon Der Findling hinterfragt einen Alltagsmythos,
einmal von historischen Personen erlebt wor- nämlich das bürgerliche Familienideal des
den, gewiss auch vom Dichter und seinen Le- 19. Jh.s. Kleist erzählt die Vorstellungen, auf de-
ser/innen selbst. Doch wenn Kleist diese Na- nen das bürgerliche Familienideal beruht, auf
men, Orte, Handlungen und Affekte erzählt, beiden Ebenen des Textes mit. Auf der Ebene
bezeichnen sie nicht empirische Personen, son- der Geschichte (dem ›Was‹ des Erzählten) be-
dern verweisen auf imaginäre Figuren, die ihre richtet er von einer bürgerlichen Familie, die an
Vorstellbarkeit und Anschaulichkeit von Na- sich selbst scheitert; auf der Ebene des Diskur-
men, Orten, Handlungen und Affekten realer ses (dem ›Wie‹ des Erzählens) schreibt er jene
Menschen ausborgen. widersprüchlichen Vorstellungen ein, auf die
sich die bürgerliche Familienordnung gründet.
Das Scheitern der Familie ist nicht singulär,
mit die vom Realen geliehene Evidenz des Imagi- sondern exemplarisch. Kleist führt, so könnte
nären. man sagen, eine absurde Welt ad absurdum; er
Der entscheidende Sachverhalt besteht darin, nimmt die Vorstellungen, auf denen sie beruht,
dass im Übergang vom Realen zum Fiktiven der ernst, indem er sie als Handlungen und Bilder
Status des Signifkanten (des bezeichnenden Aus- erzählt.
drucks) verändert wird. Das primäre Signifikat
(die bezeichnete Sache) wird gestrichen und somit
Platz geschaffen für ein Signifikat zweiter Ord-
nung (die imaginäre Vorstellung). Der fiktive Signi-
fikant zielt also nicht mehr ›nach unten‹ auf das 5.2.2 | Kultursemiotische Perspektiven
Reale, sondern ›nach oben‹ auf das Imaginäre und
bringt beide Ebenen in einer Wechselbewegung Insofern fiktionale Literatur ihre Elemente dem Re-
zusammen, die Iser als ›Kippspiel‹ bezeichnet. pertoire der Lebenswelt (und der Literatur) ent-
Roland Barthes: Isers Fiktionalitätskonzept lehnt, gründet sie auf deren kulturellen Bedingun-
wird verständlicher, wenn man es auf jenen kul- gen und Gegebenheiten. Indem sie diese Elemente
tursemiotischen Ansatz zurückbezieht, den der nicht nur zitiert, sondern auch in einem Text neu
französische Philosoph und Literaturwissenschaft- zusammensetzt, verleiht sie ihnen einen zeichen-
ler Roland Barthes (1915–1980) in seinem Buch haften Charakter zweiter Ordnung. Diese spezifi-
Mythen des Alltags entwickelt hat. Nach Barthes sche Qualität des fiktionalen Textes ist der Ansatz-
basiert die bürgerliche Weltanschauung auf All- punkt kultursemiotischer Analysen. Wer einen Text
tagsmythen. Alltagsmythen werden von den Bil- aus kultursemiotischer Perspektive liest, der fragt
dern der Werbung, Magazine und Filme produ- nach dem Zeichencharakter der Dinge, die der Text Zeichencharakter
ziert, die jene Dinge, die sie darstellen, zu aus der empirischen in die erzählte Welt erhebt. der Dinge
ideologischen Zeichen machen. Sie tun dies, in- Einer kultursemiotisch orientierten Literaturwis-
dem sie die abgebildeten Dinge ihrer ursprüngli- senschaft geht es somit um die Lektüre des literari-
chen Bedeutung berauben, um sie aufnahmefähig schen Textes als kulturelles Zeichensystem.
zu machen für eine neue Bedeutung, nämlich die Barthes’ Codebegriff: Roland Barthes spricht
Gedankenfiguren der bürgerlichen Weltanschau- von Codes (d. h. Zeichenebenen), die sich im Ge-
ung. Barthes beschreibt diesen Prozess in der Me- webe des Textes verschränken. In seinem Buch
tapher des Gefäßes. Das Zeichen – das abgebildete S/Z arbeitet er am Beispiel von Balzacs Erzählung
und somit nicht mehr materielle, sondern semioti- Sarrasine modellhaft fünf Codes heraus, die er als
sche Ding – besteht aus Form und Inhalt. Indem es ›Stimmen des Textes‹ bezeichnet:

455
5.2
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Zeichen:
Semiologische Zugänge

Barthes’ N hermeneutischer Code: Stimme der Wahrheit graphischen Gegensatz von Burg und Wald insze-
fünf Codes N konnotativer Code: Stimme der Person nieren, verknüpft sich die topologische Opposition
N proaïretischer Code: Stimme der Empirie innen/außen mit der semantischen Opposition ei-
N symbolischer Code: Stimme des Symbols gen/fremd.
N kultureller Code: Stimme der Wissenschaft
In seiner textnahen Analyse führt Barthes detail-
liert vor, wie sich der literarische Text als Zeichen- Beispiel: Topographien
komplex konstituiert, dessen Ebenen oder Stim- Wenn zu Beginn des Findlings von einer Stadt,
men sich in jedem Satz, ja in jedem Wort einem Krankenhaus, einem Stadttor und einer
überkreuzen. ins Freie führenden Landstraße erzählt wird, so
ist dies mehr als eine topographische Schilde-
rung. Die Stadt, in der die Pest wütet, steht für
Beispiel: Stimmen des Textes Krankheit, Tod und Gefangenschaft; das Land
Die Stimme der Wahrheit gilt dem zentralen steht für Leben, Gesundheit und Freiheit. Die in
Rätsel der Novelle: im Falle des Findlings der die Stadt führende Landstraße bezeichnet die
Frage, wohin die Ersetzung des leiblichen durch Bewegung vom Leben in den Tod, von der Ge-
einen Adoptivsohn am Ende führen mag. Die sundheit in die Krankheit, von der Freiheit in
Stimme der Person und die Stimme der Empirie die Gefangenschaft. Das bald geöffnete, bald
versammeln unter dem Namen der erzählten geschlossene Stadttor markiert die Schwelle
Figur (zum Beispiel Antonio, Elvire oder Ni- zwischen diesen Sinnräumen.
colo) bestimmte Eigenschaften und Handlun-
gen, die in der Imagination des Lesers gemäß
dem Vorbild einer empirischen Person zusam- Nach Lotman unterscheidet sich die Haupt- von
mengefügt werden. Die Stimme des Symbols der Nebenfigur durch ihre Mobilität. Während die
strukturiert die Sinnbezirke des Textes (im Nebenfiguren statisch in ihren angestammten Räu-
Findling beispielsweise die in der Stadt wü- men verharren, vermag die Hauptfigur, von einem
tende Pest als Chiffre der sozialen Krise), die Raum in den anderen hinüberzutreten. Die Über-
Stimme der Wissenschaft den Horizont kultu- schreitung der topographischen Grenze ist zu-
rellen Wissens, in dem sich die Erzählung be- gleich eine semantische Grenzüberschreitung.
wegt (im Findling beispielsweise Kenntnisse Sie generiert Bedeutung und stiftet das ›Sujet‹ des
über italienische Städte und Gebräuche). literarischen Textes. Entsprechend versteht Lot-
man unter einem Ereignis nicht die kleinste Ein-
heit der Handlung, sondern den sinnträchtigen
Lotmans Raumsemantik: Einen weiteren Zugang Akt der Grenzüberschreitung, der nur dem Hel-
zur semiotischen Struktur des Textes bietet das den der Geschichte zukommt.
von dem russischen Literaturwissenschaftler Jurij Bachtins Karnevalskonzept: Eine weitere kul-
Lotman (1922–1993) entwickelte Konzept der tursemiotische Perspektive ist das von dem russi-
Raumsemantik. Lotman geht von der Annahme schen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin
aus, dass sich die Sinnstruktur literarischer Texte (1895–1975) entwickelte Konzept der karnevales-
in räumlichen Konstellationen abbildet. Lotman ken Literatur (Bachtin 2000). Damit meint er nicht
unterscheidet zwischen folgenden Oppositionen: nur komische Erzählungen aus dem Milieu des
Lotmans räumliche N Topologische Opposition: z. B. oben vs. unten; Karnevals, sondern vielmehr solche Texte, die
Konstellationen innen vs. außen grundsätzlich die Überschreitung, Vermischung
N Topographische Opposition: z. B. Himmel vs. und Verkehrung semantischer Oppositionen insze-
Hölle; Burg vs. Wald nieren. Bachtin unterscheidet vier karnevaleske
N Raumsemantische Opposition: z. B. Sphäre Strategien, die im Grunde als verschiedene Aspek-
des Guten vs. Bösen; des Eigenen vs. Fremden te desselben Phänomens zu verstehen sind:
In legendenhafter Literatur wird der topologische N Mesalliance der Stände
Gegensatz oben/unten oftmals mit der semanti- N Profanierung des Heiligen
schen Besetzung gut/böse versehen und topogra- N Familiarisierung der Hierarchie
phisch auf die Räume Himmel/Hölle projiziert. In N Dezentrierung des Subjekts
höfischen Dichtungen des Mittelalters, die aus der Hinzu kommt das Motiv des grotesken Leibes,
Perspektive der ritterlichen Gesellschaft den topo- dessen Konturen durchlässig sind für die ihn um-

456
5.2
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Kultursemiotische
Perspektiven

Grenzüberschreitungen stirbt, der Findling überlebt und wird von Anto- Beispiel
Wenn Antonio die Grenze zwischen Land und nio an Sohnes statt angenommen. Die Fahrt ins
Stadt überschreitet, so ist dies ein Ereignis in Freie, von der Kleist dann erzählt, ist nur schein-
mehrfacher Hinsicht: als Schritt in der Hand- bar eine solche; tatsächlich bringt Antonio mit
lungsfolge, als novellentypisches ›unerhörtes Er- dem Adoptivsohn Tod und Verderben ins eigene
eignis‹ und als Begründung eines Sujets im Sinne Haus. Die räumliche Konstellation, mit der Kleist
Lotmans. Doch ist Antonio ein Protagonist wider seine Erzählung beginnt, ist zugleich die Exposi-
Willen, darin liegt die Tragik seiner Geschichte. tion eines Themas, das weit über die erzählte
Als er noch vor der Stadt kehrtmachen will, um Handlung hinausweist. Sie nimmt die Katastro-
sich und seinen Sohn vor der Pestgefahr zu phe symbolisch vorweg, die durch die Substitu-
schützen, wird er von einem hilfesuchenden tion des eigenen mit dem fremden Kind ange-
Knaben berührt, was die erzwungene Einwei- bahnt wird.
sung aller ins Hospital zur Folge hat. Der Sohn

Karnevaleskes guren zu ersetzen und zu vertreten vermag. Er ist Beispiel


Im Findling spielt der Karneval eine zweifache ein Totentänzer, der die Rolle jener übernimmt,
Rolle: als erzählte Szene und als poetisches Prin- die sterben (wie Paolo, den er als Sohn ersetzt),
zip. Nicolo, der ohne Zustimmung seiner Eltern gestorben sind (wie Colino, den er als Bräutigam
»auf dem Karneval gewesen« ist, trifft zufällig auf ersetzt) und sterben werden (wie Antonio, den er
Elvire, die, als sie ihn »in der Maske eines genue- als Kaufmann ersetzt).
sischen Ritters« (S. 234) erblickt, in Ohnmacht Auch an einer komödiantischen Variante des ma-
fällt. Wie Nicolo später gewahr wird, glaubte sie kabren Rollenspiels fehlt es nicht, wenn sich Ni-
in ihm ihrer verstorbenen Jugendliebe Colino colo als Vater des Kindes offenbart, das ein Bi-
wiederbegegnet zu sein, dessen gemaltes Portrait schof mit seiner Mätresse gezeugt zu haben
sie seitdem kultisch verehrt. Nicolo wiederholt meint: »wahrhaftig, liebste Klara, das Bild [Coli-
die Szene absichtlich, um seine Adoptivmutter nos] gleicht mir, wie du demjenigen, der sich dei-
zu verführen: »Er besorgte sich genau denselben nen Vater glaubt« (S. 240). Nicolo ist eine karne-
Anzug wieder, in welchem er, vor wenigen Mo- valeske Figur, die sich durch ihre Fähigkeit zur
naten, da er zur Nachtzeit heimlich vom Karne- Substitution, durch ihre Konvertierbarkeit in die
val zurückkehrte, Elviren erschienen war«. verschiedensten Richtungen auszeichnet.
Dass die Maskierung nicht nur als erzählte Hand- Weitere karnevaleske Elemente, die Kleists No-
lung, sondern auch als poetisches Prinzip rele- velle zu bieten hat, sind die Familiarisierung der
vant ist, markiert Kleist mit einem Anagramm Gegensätze, die sich in der Adoption des fremden
(d. h. einer Buchstabenvertauschung): Nicolo/ Kindes buchstäblich ereignet, und die Profanie-
Colino. Dies ist eine Überkodierung der Maske- rung des Heiligen, die sich in der Karikatur des
rade: Die Ähnlichkeit der Kleidung wiederholt Bischofs und, in umgekehrter Richtung, in der
sich in der Ähnlichkeit der Namen. Nicolo ist in- kultischen Verehrung eines profanen Andachts-
sofern eine karnevaleske Figur, als er andere Fi- bildes vollzieht.

gebende Welt. Wie sich der groteske Leib bei- Fressgelage Speisen gegessen, erbrochen und er-
spielsweise in Form einer überlangen Nase in die neut verzehrt werden.
Umwelt ausstülpt, so kann sich diese umgekehrt Girards Sündenbockkonzept: Der französische
durch die Körperöffnungen in den grotesken Leib Literaturwissenschaftler und Philosoph René
einstülpen. Im Karneval verfügen Körper und Welt Girard (geb. 1923) beschreibt einen Mechanismus
gewissermaßen über einen gemeinsamen Stoff- der Verfolgung, der sich in literarischen Texten, die
wechsel. So erzählt der spätmittelalterliche Dich- von Sündenböcken handeln, als Erzählmuster wi-
ter Heinrich Wittenwiler in seinem Schwankro- derspiegelt (Girard 1988). Dieser ›Sündenbockme-
man Der Ring (um 1410), wie in einem bäuerlichen chanismus‹ umfasst vier Elemente:

457
5.2
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Zeichen:
Semiologische Zugänge

Beispiel Verfolgung und Sündenbock füllt mit Verdächtigungen, die sich gegen seine
Kleists Novelle ist ein Beispiel für einen Verfol- Person richten. Denn Nicolo ist durchaus nicht
gungstext. Die Rolle des Sündenbocks kommt die eindeutige Ursache allen Unheils, Antonio
Nicolo zu. Die Krise besteht in den zerstöreri- und Elvire sind nicht minder daran beteiligt. Wie
schen Folgen der Pest, die zugleich ein Sinnbild der Sündenbock ist Nicolo eine Stellvertreterfi-
für den Zerfall der Familie ist. Der Sündenbock gur: Antonio setzt das Waisenkind freiwillig als
wird für die Katastrophe verantwortlich ge- Sohn und Erben ein; Elvire ermöglicht mit ihrem
macht; die Wahl fällt auf ihn, weil er ein be- sinistren Totenkult, dass der herangewachsene
stimmtes Opferzeichen aufweist, das in rationa- Nicolo den Part des Bräutigams übernimmt. Die
ler Weltsicht nichts, in magischer Weltsicht aber Ermordung Nicolos, der selbst niemanden getö-
alles mit der Krise zu tun hat. In Kleists Novelle tet hat, lässt sich als gewaltsame Hinrichtung
ist das Opferzeichen, wie der Titel schon sagt, des Sündenbocks lesen. Damit wird der Text
die fragwürdige Herkunft Nicolos. Er ist ein sehr viel ambivalenter, als er bei der ersten Lek-
Findling; die Leerstelle seiner Herkunft wird ge- türe wirken mag.

Girards ›Sündenbock- N Krise: Auflösung sozialer Hierarchien und Dif- N Ein System, als eine Menge an Elementen (ein-
mechanismus‹ ferenzen aufgrund von Katastrophen zelnen Bestandteilen) und deren Relationen
N Selektion: Benennung eines Verantwortlichen verstanden, funktioniert nach Gesetzmäßigkei-
aufgrund eines ›Opferzeichens‹ ten, die sich über eine Strukturanalyse – als
N Anschuldigung: Projektion der Krisenursache Rekonstruktion des regelhaften Funktionszu-
auf den ausgewählten Sündenbock sammenhangs seiner Bausteine – ermitteln
N Vertreibung: Gewaltsame Ausgrenzung des lassen.
Sündenbocks aus dem Sozialverband
Girard unterscheidet zwischen zwei Textgruppen. Definition
Solche Texte, die die Perspektive des Verfolgers ein-
nehmen und den Sündenbockmechanismus als im- Als   Strukturalismus wird eine interdiszi-
plizite Struktur aufweisen, bezeichnet er als Verfol- plinäre theoretisch-methodische Ausrich-
gungstexte. Solche Texte, die die Perspektive des tung der geistes- bzw. kulturwissenschaftli-
Opfers einnehmen und den Sündenbockmechanis- chen Disziplinen (z. B. Linguistik, Psycholo-
mus als explizites Thema verhandeln, lassen sich gie, Ethnologie, Literaturwissenschaften)
als Opfertexte bezeichnen. Um diese Differenz zu gefasst, die sich analog zu naturwissen-
markieren, spricht Girard auch vom ›Sündenbock schaftlichen Verfahrensweisen um ein ter-
des Textes‹ (Verfolgungstexte) einerseits und dem minologisch präzises Instrumentarium der
›Sündenbock im Text‹ (Opfertexte) andererseits. systematischen Beschreibung ihrer
Untersuchungsobjekte bemüht, um zu
objektiven Analyseergebnissen zu kommen,
die einer empirischen Überprüfbarkeit
5.2.3 | Strukturalismus standhalten. Der Name dieser wissenschaft-
und Dekonstruktion lichen Methode ist insofern Programm, als
sich die Aufmerksamkeit auf Strukturen der
Der Systemgedanke: Der Strukturalismus unter- analysierten Objekte richtet, d. h. auf rekon-
sucht und deutet seine Gegenstände als Systeme, struierbare Regeln und Gesetzmäßigkeiten.
die als relativ abgeschlossene, autonome Größen Der theoretische Ursprung des Strukturalis-
betrachtet werden. Als System können also jeweils mus ist in der strukturalen Linguistik des
vollkommen unterschiedliche Untersuchungsob- Genfer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de
jekte verstanden werden (z. B. die Sprache, die Saussure (1857–1913) zu suchen. Seine inter-
Kultur, ein Mythos, ein Ölgemälde, eine literari- disziplinäre Anwendung beruht auf der
sche Gattung, eine Epoche, ein einzelner literari- Übertragung der linguistischen Theorie auf
scher Text, die Figurenkonstellation eines literari- kulturelle Phänomene, die als Zeichensys-
schen Textes). Folgende Annahmen sind dabei teme fassbar sind.
grundlegend:

458
5.2
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Strukturalismus
und Dekonstruktion

N Relationen können qualitativ unterschiedliche N Syntagma: den Bezug zu den Elementen, mit
Beziehungen zwischen den Elementen sein denen es zu einer größeren Einheit kombiniert
(z. B. Oppositionen, Äquivalenzen). wird, in deren Kontext es rückt (Achse der
Strukturale Linguistik und Literaturwissenschaft: Kombination) (s. Kap. III.4.2; vgl. Saussure
Ferdinand de Saussures strukturale Linguistik 2001, S. 147–159; Köppe/Winko 2007, S. 292)
(Cours de linguistique générale, posthum 1916) hat Der strukturalistischen literaturwissenschaftlichen
vor allem den literaturwissenschaftlichen Struktu- Analyse geht es darum, Relationen und Gesetzmä-
ralismus geprägt. Saussure untersucht die Sprache ßigkeiten zu ermitteln, mit denen die Zeichen in
als ein Zeichensystem, dessen Elemente (die einem Text Bedeutung stiften und diesen als einen
sprachlichen Zeichen) nach analysierbaren Relati- komplexen Zusammenhang semantischer Struk-
onen und Verknüpfungsregeln funktionieren. Un- turen ausweisen. Mit der Grundannahme der
tersuchungsgegenstand ist mithin die Sprache als sprachlichen Vermitteltheit von Erkenntnis lässt
ein abstraktes Regelsystem (langue), das vom sich nun strukturalistisch fragen: Wie, mit wel-
konkreten individuellen Sprechakt (parole) unter- chen Verfahren und Strukturen, erzeugt ein litera-
schieden wird. Wichtig für den literaturwissen- rischer Text im Zusammenwirken seiner Textele-
schaftlichen Strukturalismus, der Texte als Zei- mente Bedeutung?
chensysteme analysiert, sind die in Saussures Nach Roland Barthes (1915–1980) zeichnet
Zeichenmodell (s. Kap. II.1) formulierten Grund- sich die »strukturalistische Tätigkeit« dadurch aus,
überlegungen: dass das zu untersuchende Objekt (der literarische
N Differenzialität des Zeichens: Das sprachliche Text) zuerst einmal in seine Bestandteile zerlegt
Zeichen gewinnt seine Bedeutung nicht im un- wird, um es dann »derart zu rekonstituieren, daß
mittelbaren Verweis auf die außersprachliche in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen
Welt, sondern erst durch seine relative Position Regeln es funktioniert (welches seine ›Funktionen‹
im Zeichensystem, also durch seine Differenz sind)« (Barthes 1996, S. 217). Die Strukturen eines
und die Relationen zu den anderen sprachli- Textes sind, so Barthes, über analytische Zerle-
chen Zeichen. gung und das erneute, synthetische Arrangement
N Die Arbitrarität des Zeichens steht für die seiner sprachlichen Elemente erst sichtbar zu ma-
willkürliche Verbindung seiner beiden Bestand- chen, um den Sinn zu ermitteln, der sich aus der
teile, des Signifikanten (materielle Seite des Differenz und den Relationen der Elemente konsti-
Zeichens, das Bezeichnende, das ›Wie‹) und tuiert. Die modellhafte Rekonstruktion soll das Modellhafte
des Signifikats (inhaltliche Seite, das Bezeich- »zum Vorschein« bringen, was auf den ersten Blick Rekonstruktion
nete, das ›Was‹, die Bedeutung). im Text »unsichtbar« oder gar »unverständlich
N Die Unterscheidung des Signifikats vom au- blieb« (ebd.).
ßersprachlichen Referenten (dem bezeichne- Dementsprechend verdankt sich die zu rekon-
ten Gegenstand) ist wichtig, da dieser immer struierende Bedeutung eines Textes seiner deskrip-
erst sprachlich vermittelt für uns Bedeutung tiv nachweisbaren regelhaften Konstruktion. Das
erlangt. Der Bezug zwischen Signifikat und Re- theoretische Interesse gilt dem Text (als einem
ferent ist durch Konventionen der Sprachge- sprachlichen Konstrukt), nicht seiner Referenz auf
meinschaft geregelt. einen historischen Kontext oder gar der vermeint-
Text als Zeichensystem: Was bei Saussure für die lichen Autorintention. Insofern ist die strukturalis-
Sprache als System gilt – ihr Zeicheninventar ge- tische Methode in erster Linie auf textimmanente,
horcht bestimmten Verknüpfungsregeln sprachli- ahistorische Aspekte konzentriert. Zu einem domi-
cher Elemente zu größeren Einheiten –, das sucht nanten Feld des literaturwissenschaftlichen Struk-
die strukturalistische Methode in der Literaturwis- turalismus wurde diesbezüglich die Erzähltheorie
senschaft analog auf den einzelnen literarischen (s. Kap. III.4.2), in deren Kontext auch Jurij Lot-
Text (als Zeichensystem) zu übertragen. Von Saus- mans Konzept der Raumsemantik (s. 5.2.2) ge-
sure inspiriert unterscheidet sie zwei »grundlegen- hört.
de[] Operationen« (Jakobson 1979, S. 94) jeder Literatur als besonderes Zeichensystem: Ob-
sprachlichen Äußerung, Auswahl und Kombina- gleich sich der Gegenstandsbereich des literatur-
tion von Wortmaterial: wissenschaftlichen Strukturalismus – als einer
N Paradigma: den Bezug zu einem Repertoire, dem Selbstverständnis nach »strengen Wissen-
aus dem das Element (das Wort) ausgewählt schaft von Zeichensystemen« (Titzmann 2007,
wird (Achse der Selektion) S. 537) – ausweitet, spielt die Besonderheit literari-

459
5.2
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Zeichen:
Semiologische Zugänge

scher Texte ebenso eine Rolle. So kann die Litera- pretationsleistungen« darstellen, die »niemals veri-
tur nach Jurij Lotman als ein »sekundäres« (Lot- fizierbar sind« (Jahraus 2004, S. 289). Ein weiteres
man 1993, S. 22) semiotisches System verstanden Problem zeigt sich darin, dass die strukturalisti-
werden, das sich auf der Basis der Alltagssprache sche Analyse den Text als eine kohärente Ganz-
als eigengesetzliches konstituiert und die alltags- heit, als ein geschlossenes System betrachtet.
sprachlichen Zeichen für neue Bedeutungen öff- Der Poststrukturalismus, der auf diese Proble-
net. Der russische Linguist und Philologe Roman me reagiert, ist in diesem Sinn als eine selbstrefle-
Jakobson (1896–1982) erörtert auf linguistischer xive Weiterentwicklung des Strukturalismus und
Grundlage dementsprechend die Dominanz der als dessen kritische Überwindung zugleich zu
»poetische[n] Funktion der Sprache« in literari- betrachten:
schen Texten, die selbstreferentiell »das Augen-
merk auf die Spürbarkeit der Zeichen« (Jakobson »Strukturalisten nehmen die Linguistik als Modell und ver-
suchen, ›Grammatiken‹ zu entwickeln, – systematische
1979, S. 92 f.), das ›Wie‹, d. h. auf die sprachlichen Inventarien von Elementen und ihrer Kombinationsmög-
Strukturen selbst richtet und als Merkmal soge- lichkeiten –, aus denen Form und Bedeutung literarischer
nannter ›Literarizität‹ bzw. ›Poetizität‹ gilt Werke ableitbar ist; Poststrukturalisten untersuchen die
(s. Kap. III.1.2). Sie ist nach Jakobson in ihrer Dif- Art, wie ein solches Projekt durch die Arbeit der Texte
selbst subvertiert wird. Strukturalisten sind davon über-
ferenz zu anderen Funktionen sprachlicher Äuße- zeugt, daß systematisches Wissen möglich ist; Poststruk-
rungen zu beschreiben: turalisten behaupten die Unmöglichkeit eines solchen
Die poetische N referentiell (Bezug auf das Mitgeteilte) Wissens« (Culler 1999, S. 21).
Funktion der Sprache N emotiv (emotionale Einstellung des Sprechers
zum Mitgeteilten) Definition
N konativ (ein im Mitgeteilten enthaltener Ap-
pell)   Poststrukturalismus ist ein interdiszipli-
N phatisch (Herstellung, Gewährleistung der närer Sammelbegriff für unterschiedliche
Kommunikation) theoretische Strömungen in den kulturwis-
N metasprachlich (erläuternd, Verständigung über senschaftlichen Disziplinen, die an die struk-
die Bedeutung verwendeter Begriffe) turalistische Zeichentheorie anschließen
An den Grenzen des Strukturalismus: Die Analyse und zugleich kritisch auf sie reagieren. Darin
der sprachlichen Strukturen mit dem Ziel, die artikuliert sich eine grundsätzliche Kritik an
Erzeugung von Sinn in einem Text zu rekonstru- tradierten Wissenskonzepten im abendlän-
ieren, verfährt zwangsläufig hermeneutisch dischen philosophischen Denken sowie an
(s. Kap. III.1.1), da immer eine Interpretation der essentialistischen Konzepten von z. B. Reali-
Befunde notwendig ist, die einen Sinn konstruie- tät, Geschichte, Kultur, Nation, Geschlech-
ren muss. Damit ist der wissenschaftlich objektive terdifferenz, Subjekt und Identität.
Anspruch aber nicht einzulösen, weil Sinnzuwei-
sungen »subjektive und mithin historische Inter-

Zur Vertiefung

Das literarische Kunstwerk als Produkt regelhafter formaler Verfahren


Die »unabdingbare Eigenschaft eines Dichtwerks« sieht Jakobson in der Auswahl und Kombination des Wort-
materials und erläutert das am Beispiel lyrischer Texte: »Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äqui-
valenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination« (Jakobson 1979, S. 94). Beziehungen der
Äquivalenz sind also im Unterschied zur nicht-poetischen Sprache nicht nur auf der Achse der Selektion (zwi-
schen dem ausgewählten Element und dem Repertoire der Auswahl), sondern auch auf der syntagmatischen
Ebene (im fortlaufenden Satz- bzw. Textzusammenhang) zu finden, u. a. etwa Reime, Assonanzen, Parallelis-
men. Die poetische Sprachfunktion produziert nach Jakobson Mehrdeutigkeit(en) des Gegenstandsbezugs. Als
ein nach beschreibbaren formalen Regeln funktionierendes, besonderes sprachliches Konstrukt galt der literari-
sche Text schon dem Russischen Formalismus, einem ebenfalls von der strukturalen Linguistik beeinflussten,
unmittelbaren Vorläufer des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus. Er wirkte hauptsächlich zwischen 1915
und 1930. Roman Jakobson entwickelte als ein wichtiger Repräsentant dieser literaturtheoretischen Ausrichtung
die formalistischen Ansätze ab den 1920er Jahren weiter.

460
5.2
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Strukturalismus
und Dekonstruktion

Zu den poststrukturalistischen Theorieansätzen ge- wiederum ist ›Nicht-Kirsche‹ usw. Die Bedeutung
hören u. a. die Diskursanalyse (Foucault, s. 5.3.2), eines Zeichens ist folglich immer nur im Unter-
die Intertextualitätstheorie (Kristeva, s. Kap. III.1.3) schied zu allen anderen Zeichen zu ermitteln –
die postkoloniale Theorie (s. 5.4.3) sowie die Gen- ein nicht endender Prozess.
der- und Queer Studies (s. 5.5.2 und 5.5.3).
»Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verwei-
sender Signifikanten entkäme, welches die Sprache kon-
Definition stituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder an-
heimzufallen« (Derrida 1983, S. 17 f.).
Als   Dekonstruktion wird ein auf die Arbei-
ten des Philosophen Jacques Derrida (1930– Derridas différance: Hat Saussure schon die Bedeu-
2004) zurückgehendes poststrukturalisti- tung eines Zeichens über die Differenz zu anderen
sches Analyseverfahren bezeichnet, das sich Zeichen erklärt, so radikalisiert Derrida das inso-
aus der Kritik an einem Denken in binären fern, als bei ihm das Zeichen selbst keine stabile,
Oppositionen speist (z. B. Natur/Kultur, Kör- positiv zu fassende Einheit mehr ist. Derrida fasst
per/Geist, Subjekt/Objekt, Frau/Mann, sein Zeichenkonzept mit dem Neologismus dif-
eigen/fremd) und diese als diskursive Kon- férance (als markierte Abweichung von franz. dif-
strukte bzw. metaphysische Setzungen ent- férence: Differenz), was impliziert, dass die »Zei-
larvt. Als ein Lektüreverfahren stellt es die chen nie ganz mit sich identisch« sind und somit
Unmöglichkeit eines hermeneutischen Ver- »die Annahme einer ursprünglichen, einfachen
stehens wie der strukturalistischen Rekon- Präsenz von Bedeutung hinfällig« ist (Lüdeke 2010, Endlose Bedeutungs-
struktion des Sinns in einem Text heraus. S. 159). Die Zeichen haben die Eigenschaft, die Be- verschiebung
deutung endlos zu verschieben, weil sie an sich
keinen Wert haben und weil sich ihre Bedeutung
Im Unterschied zum Strukturalismus werden we- auch nicht im Bezug auf die außersprachliche
der die Sprache noch ein Text als geschlossene Wirklichkeit sichern lässt, denn das Zeichen ver-
Systeme verstanden. Ein Text gilt mithin nicht als tritt nicht das bezeichnete (abwesende) Objekt,
ein kohärentes, gleichsam fertiges Ganzes. Viel- sondern ist eigenständig. Der Sprache eignet somit
mehr wird seine Struktur insofern als eine offene das Prinzip der Differenz statt der Identität: Kein
und dynamische begriffen, als man davon aus- Wort, keine sprachliche Aussage, kein Text ist das,
geht, dass seine sprachlichen Zeichen nicht nur »was es ist, sondern ist, was es eben gerade nicht
intern voneinander abhängig sind, sondern stets ist« (Jahraus 2004, S. 321).
auch über seine vermeintlichen Grenzen hinaus Für Derrida ist die Bedeutungsoffenheit wesent-
die unkontrollierbare Eigendynamik der Sprache lich an Schrift gebunden. Der Begriff der différance
und folglich die Verknüpfung mit anderen Texten ist insofern auch ein neuer Schriftbegriff, der sich
bezeugen. Der poststrukturalistischen Zeichen- von der abendländischen Tradition einer Unter-
theorie zufolge verweisen Zeichen nicht auf au- scheidung von mündlicher Rede und Schrift, in
ßersprachliche Referenten, sondern immer auf der erstere als ursprüngliches, zuverlässigeres Me-
andere Zeichen, womit die Zeichen nicht auf eine dium (Präsenz des/der Sprechenden) gilt, aus-
Bezeichnungsfunktion zu reduzieren sind. Indem drücklich absetzt und stattdessen die Produktivität
das »Abbildungsverhältnis zwischen sprachli- der Schrift betont (vgl. Derrida 1983, S. 26). Sie
chen Zeichen und der Welt« (Köppe/Winko 2007, kann, je nach Kontext, immer neu und anders ge-
S. 299) bezweifelt wird, tritt die Annahme einer lesen werden, da sie sich in einem anderen Kon-
Vervielfachung und Unabschließbarkeit der text neuen Bedeutungen öffnet (vgl. Lüdeke 2010,
sprachlichen Produktion von Bedeutungen an S. 157). Das gilt z. B. für intertextuelle Bezüge.
dessen Stelle. In diesem Sinne kritisiert Jacques Grundsätzlich ist damit auf die Vervielfältigung
Derrida Saussures Zeichenmodell und bestreitet von Sinn sowie auf die Unmöglichkeit verwiesen,
die feste Verbindung aus Signifikant und Signi- an Textstrukturen eine Sinn produzierende Ord-
fikat. Die Bedeutung eines Zeichens ist mithin nie nung abzulesen. Somit wird Abschied genommen
zu fixieren, denn auch das Signifikat ist für Der- von einem ›Autor‹, der den Sinn seines Textes kon-
rida eigentlich ein Signifikant, da es in einer un- trolliert, sowie einem ›Leser‹, der versucht, ihn zu
endlichen Kette von Verweisungen, in einer nicht verstehen, da wir dieser Sprachtheorie zufolge oh-
endenden Bewegung von Differenzen gesehen nehin nicht über die Sprache als Werkzeug der Be-
werden muss: z. B. ›Apfel‹ ist ›Nicht-Birne‹, ›Birne‹ deutungszuweisung verfügen können. Darin be-

461
5.2
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Zeichen:
Semiologische Zugänge

Beispiel Identität und Differenz Erzählung gleich eine ganze Reihe wechselnder
Bereits der Titel der Kleist’schen Novelle, Der Positionen besetzt (u. a. als Vertreter des Sohnes,
Findling, bezeichnet etwas, was im Blick auf Antonios selbst sowie als Vertreter eines Toten,
Herkunft bzw. Ursprung nicht ›dingfest‹ zu ma- des ehemaligen Geliebten Elvires), ohne je eine
chen ist und auf jeden Fall nicht dort hingehört, Identität zu bestätigen. Das jedoch ist die verviel-
wo es ist. Damit wird schon auf ein Verweisungs- fältigte Regel, da alle Figuren in wechselnden,
spiel der Zeichen in diesem Text hingewiesen, in wechselseitigen wie gleichzeitig mehrfachen
dem ebenfalls nichts das ist, was es vorgibt zu Stellvertretungen agieren und nicht nur Her-
sein, und nichts im Blick auf einen stabilen Sinn künfte und Identitäten eine Leerstelle bleiben.
festzustellen ist. Das betrifft nicht allein das Auch die Grenzen zwischen ›fremd‹ und ›eigen‹,
fremde Kind Nicolo, das zu Beginn gleichsam als ›gut‹ und ›böse‹ lösen sich in der Kette der Ver-
Findling, als »Gottes Sohn«, vorgestellt wird, wo- weisungen auf. Mithin werden ebenso die sinn-
mit bereits eine soziale (Elternlosigkeit) und eine gebenden Fundamente dieser Welt (z. B. soziale
religiöse Zuschreibung miteinander konkurrie- und religiöse Ordnung) dekonstruiert. Die Worte
ren. An die Stelle von Eindeutigkeit und Identität der Erzählinstanz lassen folglich besonders dann
tritt hier die unauflösbare Differenz. Der »an sei- aufhorchen, wenn eindeutige moralische Urteile
nes Sohnes Statt« (S. 230) von Antonio aufge- gefällt werden, wie z. B. über Elvire als »Muster
nommene Nicolo ist von Anfang an als Substitu- der Tugend« (240) oder über Nicolos »verwilder-
tionsfigur eingeführt, die im weiteren Verlauf der tes Herz« (S. 241).

gründet sich auch Derridas Kritik am sogenannten zu können. Als Lektüreverfahren konzentriert sich
›logozentrischen‹ (griech. logos: Wort, Vernunft) die Dekonstruktion auf die Mechanismen, die in
abendländischen Denken, das im Glauben an einem Text fortwährend einen feststellbaren Sinn
›Wahrheit‹ und ›Identität‹ den Anspruch erhebt, verschieben, unterlaufen bzw. zersetzen und so-
die Wirklichkeit sprachlich repräsentieren und auf mit gleichermaßen die Rekonstruktion seines
den Begriff bringen zu können. Sinns wie auch ein hermeneutisches Textverste-
Dekonstruktion statt Rekonstruktion: Der Be- hen ad absurdum führen. Die Aufmerksamkeit
griff ›Dekonstruktion‹ vereint auf widersprüchli- dekonstruktiver Lektüre gilt der Vieldeutigkeit,
che Weise Destruktion wie Konstruktion und ent- den Widersprüchen, Brüchen und Paradoxien,
zieht sich jeder eindeutigen Bestimmung, womit die die vermeintliche Geschlossenheit des Textes
er schon selbstreflexiv auf seine Methode weist als eines Bedeutungszusammenhangs untermi-
(vgl. Wegmann 2007): Als kritische Destruktion nieren. Prinzipiell lassen sich alle Texte dekon-
lässt diese die überkommenen Begrifflichkeiten struieren. Manche legen es jedoch nahe, weil sie
als Konstruktionen sichtbar werden, überschreibt selbst dekonstruktiv verfahren (z. B. Texte von
sie gleichsam und verbindet das mit der Einsicht, Kafka oder Kleist).
aus diesem Sprachkosmos letztlich nicht austreten

Literatur
Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval. Zur Romanthe- Girard, René: Der Sündenbock. Zürich 1988.
orie und Lachkultur. Frankfurt a. M. 2000. Haug, Walter: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter.
Barthes, Roland: »Die strukturalistische Tätigkeit« [1966]. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts.
In: Dorothee Kimmich u. a. (Hg.): Texte zur Literaturthe- Darmstadt 32009.
orie der Gegenwart. Stuttgart 1996, S. 215–223. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven
– : S/Z [1970]. Frankfurt a. M. 52007. literarischer Anthropologie. Berlin 42010.
– : Mythen des Alltags [1957]. Berlin 2010. Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Tübingen/Basel 2004.
Bossinade, Johanna: Poststrukturalistische Literaturtheorie. Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik«. In: Ders.:
Stuttgart/Weimar 2000. Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar
Culler, Jonathan: Dekonstruktion. Derrida und die Holenstein/Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979,
poststrukturalistische Literaturtheorie [1982]. Reinbek S. 83–121.
bei Hamburg 1999. Köppe, Tilmann/Winko, Simone: »Theorien und Metho-
Derrida, Jacques: Grammatologie [1967]. Frankfurt a. M. 1983. den der Literaturwissenschaft«. In: Thomas Anz (Hg.):
Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 2: Methoden und
Darmstadt 2003. Theorien. Stuttgart/Weimar 2007, S. 285–371.

462
5.3
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Kulturelle Erinnerung

Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte. München Titzmann, Michael: »Struktur«/»Strukturalismus«. In:
4
1993. Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen
Lüdeke, Roger: »Methode der Dekonstruktion«. In: Vera Literaturwissenschaft, Bd. 3. Berlin/New York 2007,
Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Methoden der S. 532–539.
literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Wegmann, Nikolaus: »Dekonstruktion«. In: Klaus Weimar
Stuttgart/Weimar 2010, S. 155–175. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft,
Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Bd. 1. Berlin/New York 2007, S. 334–337.
Sprachwissenschaft [1916]. Hg. von Charles Bally/Albert
Sechehaye. Berlin/New York 32001.

5.3 | Geschichte: Historiographische Zugänge


Text und Kontext: Will man literarische Texte in ganzes Netz kultureller Intertextualität bilden
ihrer historisch-kulturellen Umgebung verorten, (s. Kap. III.1.3), in dem auch die Grenzen zwi-
literarische Phänomene in ihrer Geschichtlichkeit schen Literatur und Nicht-Literatur verschwim-
untersuchen, nach der sozialen Funktion literari- men. Der je einzelne literarische Text wird in die-
scher Texte in verschiedenen historischen Epochen ser Perspektive dann gleichsam zum Archiv des
fragen, sind bestimmte theoretische Vorentschei- kulturellen Wissens bzw. der Wissensordnungen
dungen wichtig, da sie auch das jeweilige Ergebnis seiner Zeit. Umgekehrt stellt sich die Frage, wie die
beeinflussen: Literatur in ihre historisch-kulturelle Umgebung
N Welchen Status schreibt man der historisch- hineinwirkt und sie auch konstituiert. Bei der Ana-
kulturellen Umgebung, also dem Kontext des lyse dieser Austauschprozesse und Wechselwir-
jeweiligen literarischen Textes, zu? kungen »wächst die Zuständigkeit« (Baßler 1995,
N Welche Text-Kontext-Beziehung nimmt man S. 12) der Literaturwissenschaft in dem Maße, in
an? dem sie zugleich ebenso von anderen Disziplinen
Sozialgeschichtliche Ansätze waren in der Lite- profitiert.
raturwissenschaft vor allem in den 1970er und
1980er Jahren dominant und beeinflussen immer
noch die Literaturgeschichtsschreibung in Form
von Sozialgeschichten (vgl. Huber 2010; Grimmin- 5.3.1 | Kulturelle Erinnerung
ger 1980–2009). Sie nehmen in der Regel einen
faktisch gegebenen Hintergrund für literarische Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien ge-
Texte an, der diese bedingt und vor dem sich spe- hen davon aus, dass sich Individuen wie auch so-
zielle Aspekte erschließen lassen (inwiefern re- ziale Gruppen oder Nationen bzw. Kulturen eine
agieren die Texte formal und inhaltlich auf Pro- Identität über die erinnernde Vergegenwärtigung
blemstellungen bzw. soziale Umbrüche ihrer einer Vergangenheit verleihen. Die Vergangenheit
Zeit?). Die hier vorgestellten Ansätze gehen dage- ist nicht an sich verfügbar und bedarf immer eines
gen von einer wechselseitigen »Durchdringung Erinnerungsaktes, der sie, von einem bestimmten
von Literatur und außerliterarischer, historisch- Interesse geleitet, erst konstruiert: »Erinnerung ist
kultureller Realität« (Huber 2010, S. 229) aus. ein Akt der Semiotisierung« (Assmann 2000,
Das bedeutet wiederum, dass die Hierarchie – erst S. 77), also der Sinnstiftung, die selbst keine dau-
die Basis historisch-kultureller Realität, dann der erhafte Gültigkeit besitzt, sondern immer wieder
literarische Text als Reflex darauf – sich auflöst, auszuhandeln ist. Sowohl das individuelle (als
indem eben auch der historische Hintergrund kulturelles Phänomen) wie auch das Gedächtnis
»selbst zum Interpretandum« (Kaes 1995, S. 255) von Gruppen oder Kulturen bzw. Nationen sind
wird, da auch er nur »mittels überlieferter Texte medial geprägt (vgl. Erll 2011; Gudehus u. a. 2010).
zugänglich ist« (ebd.), sich über Texte konstitu- Maurice Halbwachs’ Konzept des kollektiven
iert und folglich auch mit jedem Textzeugnis neu Gedächtnisses: Die sozialen Voraussetzungen des
formiert. Von dieser Wechselbewegung geht im Erinnerns jenseits des psychologischen Interesses
Übrigen ja auch schon der sogenannte ›Hermeneu- an individuellen Vorgängen (etwa bei Sigmund
tische Zirkel‹ aus (s. Kap. III.1.1.2). Text und Kon- Freud) erörterte in den 1920er Jahren der franzö-
text sind im Grunde nicht zu trennen, da sie ein sische Soziologe Maurice Halbwachs (1877–1945).

463
5.3
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Geschichte: Historio-
graphische Zugänge

Halbwachs setzt die stets kollektive Bedingtheit mann 1988, S. 12) einer Gruppe von Zeitgenossen
des individuellen Gedächtnisses voraus (ein befindet.
Kaspar Hauser wäre dementsprechend ohne Erin-
Kollektives Gedächtnis nerung). Insofern spricht er auch vom kollektiven Definition
Gedächtnis, das von den Mitgliedern einer sozia-
len Gruppe geteilt wird und eine konstitutive, Jan Assmann selbst hat eine immer wieder
identitätsstiftende Rolle für deren sozialen Zusam- zitierte, prägnante Erklärung gegeben:
menhang spielt. Nach Halbwachs funktionieren »Unter dem Begriff   kulturelles Gedächt-
auch persönlichste Erinnerungen nur auf der Ba- nis fassen wir den jeder Gesellschaft und
sis von Kommunikation und sozialer Interaktion, jeder Epoche eigentümlichen Bestand an
indem das für diese soziale Lebenswelt Relevan- Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und
te, deren Werte und deren Erfahrungszusammen- -Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr
hang Gegenstand des Erinnerns sind: Jede indi- Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kol-
viduelle Erinnerung wird mithin immer schon lektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber
von einem Gruppengedächtnis gerahmt, das ihr nicht ausschließlich) über die Vergangen-
erst Bedeutung zuschreibt (vgl. Halbwachs 1985, heit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein
S. 121). Im Interesse der Sicherung der Gruppen- von Einheit und Eigenheit stützt« (Assmann
identität ist demzufolge die Vergangenheit im 1988, S. 15).
kollektiven Gedächtnis eher eine konstruierte als
eine bloß rekonstruierte. Indem das Erinnern auf
Auswahlkriterien beruht, setzt es stets ein Ver- Das kulturelle Gedächtnis wird bei Aleida und Jan
gessen voraus, auch dann, wenn sich der soziale Assmann von einem sogenannten kommunikati-
Bezugsrahmen verändert, in den die Erinnerun- ven Gedächtnis der Alltagskommunikation und
gen eingebunden sind, die dann eben infolge des einer Zeitgenossenschaft unterschieden, die maxi-
Wandels nicht mehr mit Bedeutung versehen mal drei bis vier Generationen (80–100 Jahre) um-
werden können. Die Träger des kollektiven Ge- fasst.
dächtnisses sind als eine historisch und räumlich N Kommunikatives Gedächtnis: Dessen Inhalte
eingegrenzte Gruppe vorgestellt, die sich durch speisen sich als kaum geformte, bewegliche und
den lebendigen Erinnerungsaustausch auszeich- durch alltägliche Interaktionen veränderliche
net; im Fall eines Generationsgedächtnisses en- u. a. aus individuellen Erfahrungen und soge-
det das bei den Ältesten. Was darüber hinaus in nanntem Hörensagen. Deren Träger sind ent-
die Vergangenheit reicht, ist für Halbwachs Ge- sprechend unspezifisch »Zeitzeugen einer Erin-
genstand der Geschichte bzw. der Geschichts- nerungsgemeinschaft« (Assmann 2000, S. 56).
schreibung. N Das kulturelle Gedächtnis hingegen sorgt für
Das Konzept des kulturellen Gedächtnisses: Im einen Fortbestand des kollektiven Wissens und
Anschluss an Halbwachs haben in den 1980er Jah- einer kulturellen Identität jenseits dessen, was
ren die Anglistin Aleida Assmann und der Ägyp- Zeitzeugen als lebendige Erfahrung miteinan-
tologe Jan Assmann dieses Konzept entwickelt, der teilen.
das seitdem in der kulturwissenschaftlichen Ge- Im Unterschied zu den herkömmlichen Begriffen
dächtnisforschung einen prominenten Platz ein- wie ›Tradition‹, ›Überlieferung‹ und ›kulturelles
nimmt. Die Grundannahme ist, dass sich Kultu- Erbe‹ soll der Terminus des kulturellen Gedächt-
ren generell in ihrer Identität wesentlich über nisses die unauflösbare Beziehung zwischen
Gedächtnisarbeit formieren, was eine institutio- Erinnern und Vergessen markieren, d. h. die Tat-
nalisierte Bezugnahme auf die Vergangenheit im- sache, dass jede Sicherung des kulturellen Be-
Kultur als »Komplex pliziert. Kultur wird als ein »Komplex identitäts- standes immer auf Ausschlussverfahren basiert
identitätssichernden sichernden Wissens« (Assmann 2000, S. 89) (vgl. Assmann 2006, S. 52 f.) und entsprechend
Wissens« verstanden und somit ganz wesentlich über den von ideologischen bzw. politischen Interessen ge-
Begriff des Gedächtnisses fassbar. Diese Dimensi- leitet ist (ein kulturpolitischer Akt der radikalen
on reicht weit über das Konzept des kollektiven als Löschung von Überlieferungsbeständen waren
eines gesellschaftlichen Kurzzeitgedächtnisses bei etwa die nationalsozialistischen Bücherverbren-
Halbwachs hinaus, da sie sich auch auf das be- nungen 1933). Zwischen Tradieren und Verges-
zieht, was sich jenseits des lebendigen Erinne- sen entscheiden z. B. kulturpolitische Praktiken
rungsaustausches und der »Alltagsnähe« (Ass- der Kanonisierung eines bestimmten Textkorpus

464
5.3
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Kulturelle Erinnerung

und der Zensur (vgl. Pethes 2008, S. 127–130; Erll im digitalen Zeitalter (und des Internet als eines
2011). weltumspannenden digitalen Speicher- und Kom-
munikationsmediums): Die Menge des tatsäch-
Zur Vertiefung lich Archivierten und der Anteil des im Funkti-
onsgedächtnis kommunikativ genutzten Wissens
Signifikante Merkmale des kulturellen klaffen immer weiter auseinander (vgl. Pethes
Gedächtnisses nach Jan Assmann 2008, S. 113 f.).
N Identitätskonkretheit: Das kulturelle Gedächt- Antike Mnemotechnik und kulturelles Gedächt-
nis bewahrt nicht den Wissensbestand aller Mit- nis: In der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis-
glieder einer Gesellschaft, sondern einer forschung wird Erinnerung vor allem mit Räum-
Gruppe, die über kulturelle Tradierung ihre lichkeit in Verbindung gebracht. Darin zeigt sich
Identität sichert. das wirkmächtige Nachleben der Mnemotechnik,
N Rekonstruktivität: Das kulturelle Gedächtnis ist einer Erinnerungsmethode der antiken Rhetorik
nicht einfach nur ein Speicher für die Vergan- (s. Kap. III.1.4.1), die durch die Jahrhunderte hin-
genheit, vielmehr wird das Vergangene immer durch »selbst ein stabilisierender Rahmen« (Pethes
im Kontext einer jeweiligen Gegenwart neu, 2008, S. 100) des Gedächtnisses der abendländi-
d. h. aktualisierend, angeeignet. schen Kultur wurde, in topographischen Ordnun-
N Geformtheit: Die dauerhafte Überlieferung ei- gen des Wissens wie auch in Erinnerungsverfah-
nes kollektiven Wissens und seines Sinns sind ren der Literatur.
von Ausdrucksformen und Medien abhängig.
N Organisiertheit: Das kulturelle Gedächtnis ist Definition
institutionalisiert und verfügt über eine speziali-
sierte Trägerschaft. Die   Mnemotechnik (lat. ars memoriae) ist
N Reflexivität: Es ist in dreifachem Sinn reflexiv, eine in antiken Rhetorik-Lehrbüchern ver-
indem es die Funktionen der Deutung, der Kri- zeichnete Technik zur Erleichterung des
tik und der Kontrolle im Blick auf die Lebens- Auswendiglernens, die dem Redner emp-
welt, das Selbstbild der Gruppe und sich selbst fiehlt, für die einzelnen Teile der Rede Orte
erfüllt (vgl. Assmann 1988, S. 13–15). (griech. tópoi; lat. loci) innerhalb eines
räumlich strukturierten Gebildes, z. B. eines
Hauses, zu imaginieren, an denen man
Sind orale Kulturen nach Jan Assmann für die diese einzelnen Inhalte in Form von Vorstel-
gesicherte kulturelle Überlieferung auf genaue lungsbildern (griech. eikónes; lat. imagines)
Wiederholungen ihrer Mythen angewiesen und deponiert, um sie in der Rede als gedankli-
sorgen so für eine »rituelle Kohärenz«, so ist es ches Abschreiten der imaginären Räume
bei Schriftkulturen die »textuelle Kohärenz« abrufen zu können.
(Assmann 2000, S. 87–103), die den Spielraum
der Variation, der Modifikation, Innovation und
Kritik zulässt, da das Medium Schrift über eine Gedächtnis und Literatur/Gedächtnis der Literatur:
fast unbegrenzte Speicherkapazität verfügt: Jede Literatur ist eine »kulturelle Artikulationsform«
Gegenwart kann sich das Tradierte neu aneignen, (Pethes 2008, S. 141), sie ist Teil des kulturellen
es anders deuten und dabei ebenso auswählen Gedächtnisses und insofern auch eine kulturelle
wie vergessen. Aleida Assmann unterscheidet Gedächtnishandlung.
diesbezüglich ein Speicher- von einem Funkti- N Das betrifft zunächst die Intertextualität als Literatur als »kulturelle
onsgedächtnis in modernen Schriftkulturen. Das Gedächtnisraum der Literatur (s. Kap. III.1.3). Da- Artikulationsform«
nur konservierende Speichergedächtnis stellt das zu gehört z. B. die Bezugnahme auf andere Texte,
umfassende Archiv einer Kultur (den Gesamtbe- auf Gattungen (s. Kap. III.4.1), Formen, Symbole
stand ihrer Speichermedien, z. B. in Bibliothe- und Topoi (im Sinne von Gemeinplätzen, d. h.
ken und Museen) dar, eine »Ressource der Er- standardisierten Bildern und Motiven).
neuerung kulturellen Wissens« (Assmann 1999, N Die Literatur ist nun aber selbst auch Gegen-
S. 140), aus der das Funktionsgedächtnis einer stand kulturellen Erinnerns in institutionalisier-
jeweiligen Gegenwart selektiv aktualisierend ter Form, d. h. über Literaturgeschichtsschreibung,
schöpft. Was sich im Zeitalter des Buchdrucks Jahrestage, Preisverleihungen, Werkausgaben etc.
bereits zeigt, wird noch einmal umso deutlicher Sie ist mithin Gegenstand der Kanonisierung und

465
5.3
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Geschichte: Historio-
graphische Zugänge

Zensur, die kulturpolitisch über Erinnern und Ver- 5.3.2 | Diskursgeschichte


gessen entscheiden.
N Der einzelne literarische Text kann ebenfalls Unter dem Begriff des Diskurses kann Verschiede-
im Blick auf seine Thematisierung und Inszenie- nes verstanden werden. In der Erzähltheorie wird
rung von Erinnerung untersucht werden, sei es im der Diskurs (discours) von der Geschichte (his-
Bezug auf die Darstellung individuellen Erinnerns toire) abgegrenzt: Geschichte zielt darauf, was er-
oder die »Repräsentation des kollektiven Gedächt- zählt wird; Diskurs darauf, wie sie erzählt wird
nisses bzw. gesellschaftlicher Erinnerungskultu- (s. Kap. III.4.2). In diskursgeschichtlicher Perspek-
ren« (Erll/Nünning 2005, S. 4). Das betrifft etwa tive meint der Begriff hingegen etwas anderes.
die Frage, wie der literarische Text sich als ein Er- N Narratologie: Diskurs als Gestalt der Geschichte
innerungsmedium neben anderen in seine zeitge- N Diskursgeschichte: Diskurs als Gestalter der
nössischen erinnerungspolitischen Kontexte ein- Wirklichkeit
schreibt und sich in die Verhandlungen um
Gegenstände und Deutungen des kulturellen Ge- Definition
dächtnisses einschaltet (indem er etwa als Erinne-
rungskonkurrenz an das offiziell nicht Tradierte Die   Diskursgeschichte beruht auf der
erinnert). Erkenntnis, dass Sprache die Phänomene,
N Darüber hinaus ist für eine literaturwissen- auf die sie sich bezieht, nicht nur repräsen-
schaftliche Perspektive in der interdisziplinären tiert, sondern auch konstituiert. Die Wahr-
Gedächtnisforschung die Frage nach der Bedeu- nehmung eines Phänomens ist abhängig
tung und der kulturellen Funktion von Literatur von der Art und Weise, wie in einer be-
als Gedächtnismedium zu stellen (vgl. ebd., S. 5), stimmten Epoche und in einem bestimmten
z. B. nach den Spielräumen und Wirkungsmöglich- kulturellen und sozialen Milieu von ihm
keiten einer literarischen Poetik des Erinnerns im gesprochen wird. In der Betonung des ›Wie‹
Vergleich etwa mit der historiografischen (s. 5.3.3). stimmen der erzähltheoretische und der dis-
kursgeschichtliche Diskursbegriff überein.

Beispiel Literatur und Gedächtnis


Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Michel Foucault (1926–1984), französischer Philo-
Werthers stellt Literatur als eine kulturelle Ge- soph, definiert Diskurse als Teile eines Disposi-
dächtnishandlung geradezu offensiv aus, in- tivs, das heißt einer strategischen Konstellation
dem nicht nur fortlaufend an literarische Vor- von Diskursen, Praktiken und Institutionen. Ein
gängertexte (z. B. Homer, Ossian, Lessing, Dispositiv ist somit eine ›Anordnung‹ im doppel-
Klopstock) erinnert wird, sondern auch litera- ten Sinne: ein diskursives Gefüge wie auch eine
risch vorgezeichnete Figurenkonstellationen diskursive Verfügung (Foucault 2010).
(eine Dreiecksgeschichte mit tragischem Ende, Das Dispositiv der Sexualität, das Foucault in
Doppelgänger-Motiv, ›verlorener Sohn‹), christ- seinem dreibändigen Werk Sexualität und Wahr-
liche Metaphorik und einschlägige Topoi der heit untersucht, bietet eines der eindrücklichsten
Empfindsamkeit (wie ›Herz‹ und ›Seele‹ als Beispiele. Die Vorstellungen, die sich heute mit
unmittelbare, authentische Orte des Selbst) diesem Begriff verknüpfen, basieren auf der se-
wiederkehren. Wenn Werther zu Beginn als xualwissenschaftlichen Forschung, die sich in
Lebensentwurf verkündet: »Ich will das Ge- der zweiten Hälfte des 19. Jh.s formierte und die
genwärtige genießen, und das Vergangene soll erstmals das, was man heute Sexualität nennt,
mir vergangen seyn« (S. 8), so demonstriert nicht mehr als Praktik, sondern als persönlich-
der Text darüber hinaus den unmöglichen Aus- keitsbestimmendes Merkmal, als individualpsy-
tritt aus einem kollektiven Gedächtnis, da chologische Identität definierte. Bestimmte sexu-
Werthers Selbst- und Weltbezug sich fortlau- elle Akte wurden nicht mehr im Sinne der
fend erst über die Erinnerung an kulturell vor- Theologie als Sünde oder im Sinne des Rechts als
geprägte Muster (das Medium Literatur, die si- Verbrechen, sondern im Sinne der Medizin als
gnifikanten Topoi der Empfindsamkeitskultur) Krankheit, als psychopathologisches Symptom
stiftet. gewertet.
Wie unerlässlich es ist, die diskursgeschichtli-
che Position eines Textes zu berücksichtigen, um

466
5.3
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Diskursgeschichte

Das Sexualitätsdispositiv tresse eine Tochter zeugt und seine Adoptivmut- Beispiel
In Kleists Findling ist Elvire Prototyp der hysteri- ter zu verführen bzw. zu vergewaltigen versucht.
schen Frau. Ihr bizarrer Totenkult, ihr empfind- Am Beispiel der Familie lässt sich ferner die Ver-
liches Gemüt und ihre Neigung zu Ohnmachts- flechtung von Diskursen zeigen. Wenn im Find-
und Fieberanfällen sind Merkmale einer ling von Familie die Rede ist, so überkreuzen sich
Überspanntheit, die sich mit Freud sexualpsycho- rechtliche (Adoption, Erbrecht), religiöse (Ideal
logisch deuten ließe. Kleist selbst legt dies nahe, der Heiligen Familie, s. 5.5.3) und erotische (In-
wenn er Elvire als junge Frau charakterisiert, die zest zwischen Mutter und Sohn, s. 5.5.1) Dis-
einerseits um ihre Sexualität gebracht wird, inso- kurse. Insofern die Erzählung jene Familiendis-
fern der väterliche Gatte nicht mit ihr verkehrt, kurse versammelt, die den Institutionen einer
und andererseits von sexuellem Begehren durch- bestimmten Epoche entstammen, fungiert sie als
drungen ist, das sie freilich nur in sublimierter Archiv, das nicht nur dem Regelwerk eines Dis-
Form, nämlich in der kultischen Verehrung eines positivs folgt, sondern dieses auch erbarmungs-
verstorbenen Jünglings, leben kann. Schwindel los analysiert und dekonstruiert. Dabei erweist
und Hitze packen sie immer dann, wenn sie in sich Nicolo als Knotenpunkt der Diskursfäden. In
Nicolo das Objekt des verdrängten Begehrens schillernder Weise partizipiert er am Allianzdis-
erblickt, wenn also ein realer Körper die Verdrän- positiv, wenn er als Sohn Antonios (statt Paolo),
gungsdynamik blockiert. als Gatte Elvires (statt Colino) und als Vater Kla-
Nicolo ist Prototyp des sexuell aktiven Kindes, ras (statt des Bischofs) figuriert. Als Substituti-
dem Elvire einen »früh […] sich regenden Hang onsfigur vermag er sämtliche familiäre Leerstel-
zum weiblichen Geschlecht« nachsagt; bereits als len in dem Maße zu füllen, wie er selbst eine
Fünfzehnjähriger unterhält er eine Beziehung zur Leerstelle bleibt. Zugleich partizipiert er am Se-
Mätresse des Bischofs, die ihm zwar untersagt xualitätsdispositiv, und zwar nicht nur in der
wird, ohne dass dies aber zur »Enthaltsamkeit auf Rolle des Objekts, auf das sich das Begehren
diesem gefährlichen Felde« (S. 232) führte. richtet, sondern auch in der Rolle des Subjekts,
Antonio schließlich verkörpert andeutungs- dessen Begehren auf andere Objekte zielt. Als
weise den Prototyp des perversen Erwachse- Findling und Fremder dient Nicolo als Projekti-
nen, wenn es heißt, dass er nicht mit seiner onsfläche der sexuellen Wünsche und Ängste,
Gattin verkehrt, wohl aber von der »besondern, die andere auf ihn richten. Indem er sich diese zu
etwas starren Schönheit« (S. 231) seines künfti- eigen macht und die ihm zugemuteten Rollen
gen Adoptivsohns fasziniert ist. Die Rolle des spielt, führt er den fragwürdigen Status des neu-
perversen Erwachsenen wird dann aber von Ni- zeitlichen Subjekts vor: als fragiles Produkt je-
colo übernommen, der, als Zwanzigjähriger, ner Wissens- und Begehrensordnung, der es un-
seine Gattin betrügt, mit der bischöflichen Mä- terworfen (subiectum) ist.

ihn recht zu verstehen, zeigt nicht nur das Beispiel


der Sexualität, sondern auch das der Familie. Fou- Beispiel: Macht und Gegenmacht
cault spricht, wenn es um Familie und Verwandt- So vermag Antonio als Familienoberhaupt die
schaft geht, vom Dispositiv der Allianz. Er zeigt, patriarchalische Position, die ihm der wider-
wie das Allianzdispositiv seit dem 19. Jh. zuneh- spenstige Sohn zunehmend streitig macht,
mend vom Sexualitätsdispositiv überlagert wird. letztlich nur in der Weise zu behaupten, dass er
Die Überlagerung der Dispositive, die sich in der ihn gewaltsam tötet, auf diese Weise aber auch
Sexualisierung der bürgerlichen Familie – Foucault sein eigenes Schicksal besiegelt und mit päpst-
nennt die hysterische Frau, das onanierende Kind, licher Zustimmung am Galgen endet. Auch die
den perversen Erwachsenen und das familienpla- väterliche Autorität der Kirche entthront der
nende Paar – abzeichnet, ist schon im Findling zu Text, wenn er jenen Diskurs, der den Papst als
greifen (s. oben). Herrn über Leben und Tod einsetzt, mit einem
Foucaults dynamischer Machtbegriff ist ein wei- Diskurs konterkariert, der den Bischof als Lieb-
terer Aspekt der Diskursanalyse, der sich am Find- haber einer Kurtisane und vermeintlichen Vater
ling illustrieren lässt. Macht ist demnach nicht die eines Bastards diskreditiert.
Macht einzelner, sondern stets ein Wechselspiel

467
5.3
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Geschichte: Historio-
graphische Zugänge

von Macht und Gegenmacht, eine Formation von Kunst. Damit bleibt letztlich die sich im 19. Jh.
Diskurs und Gegendiskurs, ein Widerstreit von zen- herausbildende moderne Geschichtswissenschaft
traler Gewalt und dezentralem Widerstand. von Anfang an auf einen scheinbaren Widerspruch
verwiesen, den etwa schon Friedrich Schlegel for-
muliert:

5.3.3 | Literatur und Historiographie »Insofern die Historie auf Erkenntnis und Wahrheit aus-
geht, nähert sie sich der Wissenschaft, insofern sie aber
auch Darstellung und Sage ist, steht sie in Beziehung auf
Als eine Textwissenschaft, die sprachliche Struktu- die Kunst« (Schlegel: Wissenschaft der europäischen Lite-
ren und deren Funktionen untersucht, verfügt die ratur).
Literaturwissenschaft über Kompetenzen, die sie
nicht nur zur Analyse literarischer Texte, sondern Hayden White, der amerikanische Geschichtstheo-
ebenso anderer kultureller Textzeugnisse, z. B. retiker und Literaturwissenschaftler, thematisiert
eben historiographischer Texte, befähigt. Dabei seit den 1970er Jahren ästhetische Verfahren der
geht es immer auch um die Frage, welche Gemein- Geschichtsschreibung und hat in verschiedenen
samkeiten literarische Texte mit diesen teilen und Beiträgen über eine Poetik der Geschichte nach-
in welcher Hinsicht sie sich unterscheiden. Inwie- gedacht. Er vertritt vor allem die These, dass der
fern können also Texte, die Historiker/innen historiographische Text insofern wie ein literari-
schreiben, als Forschungsgegenstand für Literatur- scher Erzähltext funktioniere, als auch er an die
wissenschaftler/innen interessant sein, inwiefern Logik und Gesetze des Erzählens gebunden, durch
die literaturwissenschaftliche Analyse ästhetischer poetologische Strukturen und rhetorische Figuren
Verfahren für Historiker/innen? (Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie) ge-
Poetik der Geschichte: Dass auch die Ge- prägt sei. Die Möglichkeiten zur »narrativen Mo-
schichtsschreibung erzählt und wie das historio- dellierung geschichtlicher Ereignissequenzen«
grafische Erzählen als Sinnzuweisung an seinen (Nünning 1999, S. 360) folgen nach White den
Gegenstand funktioniert, inwiefern es durch ästhe- vorgezeichneten Mustern literarischer Gattun-
tische Verfahren geprägt ist und literarischem Er- gen (z. B. Komödie, Tragödie). Die Entscheidung
zählen strukturell ähnelt, diskutieren seit einiger über die gewählte sprachliche Form der Darstel-
Zeit sowohl die Geschichts- (vgl. Hardtwig 1998) lung ist also zugleich schon eine Entscheidung für
als auch die Literaturwissenschaft (vgl. Fulda/Ma- eine bestimmte Interpretation von Vergangenheit
tuschek 2009). Der Geschichte wird in dem Sinn (narrative Strukturen sind ja immer semantisiert,
der Status eines Textes zugeschrieben. Das mag im d. h. mit Bedeutung versehen). Zugespitzt gesagt:
Blick auf Textquellen und die historiographische Am Anfang der Geschichte stehen in Whites Über-
Geschichte als Text Darstellung sofort einleuchten, gilt aber auch für legungen die narrativen Darstellungsformen, nicht
das, was wir ganz allgemein als ›Geschichte‹ ver- die faktischen historischen Ereignisse, und so lau-
stehen: Auch diese ist nämlich eine sprachliche tet bezeichnenderweise ein Titel: Auch Klio dichtet
Konstruktion und verdankt sich einer ordnungs- oder die Fiktion des Faktischen (White 1991). In-
stiftenden Darstellung, die bloßes Geschehen in dem White sie solchermaßen als »literarisches
einen wie auch immer gedeuteten Zusammen- Kunstwerk« (ebd., S. 101) versteht, entfernt sich
hang bringt. Was wir als historische Darstellung die Geschichtsschreibung vom wissenschaftlichen
lesen, ist also geschriebene und nicht beschriebe- Objektivitäts- und Rationalitätsanspruch. Zugleich
ne Geschichte. Das heißt jedoch keinesfalls, dass wird aber ihr Erklärungsanspruch nicht außer
ein faktisches Geschehen damit in Frage gestellt Kraft gesetzt, da White davon ausgeht, dass im
wird (s. Kap. III.4.2.1). Vielmehr wird uns dieses Prinzip jede Erkenntnis unserer Wirklichkeit eine
erst zugänglich über sinnstiftende Formen der Frage der sprachlichen Form ist, um das Unbe-
Darstellung. kannte (die Vergangenheit) vertraut zu machen.
Dass sich ein erklärender Zugang zum histori- Hayden Whites radikale Auflösung der Grenze
schen Geschehen der sprachlichen Form verdankt, zwischen Historiographie und Literatur hat
ist eigentlich eine gar nicht so neue Sichtweise, auch berechtigte Kritik mit dem Hinweis auf den
denn um 1800 sorgte sie schon einmal für die Auf- unterschiedlichen kulturellen Status und die jewei-
lösung der Grenzen zwischen Literatur und Ge- lige soziale Funktion provoziert, u. a. die, dass die
schichtsschreibung, zwischen »Poetik und Histo- Geschichtsschreibung aufgrund ihres Erkenntnis-
rik« (Koselleck 1975, S. 661), Wissenschaft und anspruchs eben nicht – wie die Literatur – die »Li-

468
5.3
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Literatur und
Historiographie

zenz zum Spiel mit Referentialität« (Fulda/ versus niedere Kultur) nicht gelten und prinzipiell
Matuschek 2009, S. 211) habe. alle Lebensbereiche als gleichrangige kulturelle
New Historicism: Die Beobachtung, dass auch Zeichensysteme aufgefasst werden, die einerseits
außerhalb der Literatur ästhetische Verfahren voneinander abgegrenzt sind, andererseits sich
wirksam sind, leitet, wesentlich inspiriert durch wechselseitig berühren und beeinflussen. Das be-
Foucaults Diskursanalyse und die neuere Ethnolo- trifft so unterschiedliche Bereiche wie Kunst bzw.
gie (s. 5.4.1), auch den in den 1980er Jahren in Literatur, Religion, Ökonomie, Politik, Medizin
den USA vor allem durch den Shakespeare-For- etc., auch soziale Beziehungen, Rituale und Prak-
scher Stephen Greenblatt begründeten kulturwis- tiken (vgl. Bachmann-Medick 2010, S. 85). Kultur
senschaftlichen Ansatz des sogenannten ›New ist in dem Sinne nicht als etwas Statisches, son-
Historicism‹. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem dern als ein komplexes, dynamisches »Netzwerk
historisch-kulturellen Kontext, in dem sich literari- von Verhandlungen« (Greenblatt 1995, S. 55),
sche Texte verorten lassen und mit dem sie auf d. h. des Austausches kultureller Werte, Normen
vielfältige Weise verschränkt sind: (literarischer) und Praktiken gedacht.
›Text‹ und kultureller ›Kontext‹ werden in einem N Literarische Texte sind nicht nur dadurch auf
wechselseitigen Austausch gesehen, miteinander ihre historisch-kulturelle Umgebung bezogen, dass
verwoben in einem Netzwerk kultureller Intertex- sie lediglich auf die Lebenswelt referieren, »sie
tualität. In dem Sinne hat die folgende Leitformel sind kulturbezogen vermöge der sozialen Werte
der »Geschichtlichkeit von Texten und der Tex- und Kontexte, die sie selbst erfolgreich in sich auf-
tualität von Geschichte« (Montrose 1995, S. 67) genommen haben« (ebd., S. 51). Sie sind somit als
programmatische Bedeutung. Der New Histori- höchst offene Gebilde, als vielstimmige Begeg-
cism arbeitet nämlich mit einem Kulturbegriff, nungsstätten unterschiedlicher Diskurse gedacht
der »nicht nur hochkulturelle Texte, sondern die und tragen selbst zur Konstituierung ihrer histo-
Kulturen selbst« als »komplexe textuelle Geflechte, risch-kulturellen Umgebung bei, indem sie das,
symbolische Systeme« (Baßler 2005, S. 32) be- was sie aus dieser aufnehmen, verarbeiten und
trachtet. Daraus ergeben sich verschiedene Konse- sozusagen umgewandelt (neu codiert) wieder in
quenzen für die Beziehung zwischen Literatur und Umlauf bringen.
Geschichte: N ›Zirkulation‹ und ›Austausch‹: Diese Begriffe
N Der Kulturbegriff ist dadurch gekennzeichnet, treten bei Greenblatt in Konkurrenz zu herkömm-
dass hierarchische Unterscheidungen (Hochkultur lichen Termini, die das Verhältnis zwischen litera-

Text und Kontext und medizinische Debatten zum Selbstmord ein, Beispiel
Goethes Briefroman Die Leiden des jungen indem er deren Wissen aufnimmt und verarbei-
Werthers ist nicht nur eine Reaktion auf das zeit- tet, etwa wenn Werther gegen die theologische
genössische empfindsame Liebeskonzept oder Verurteilung des Suizids als Sünde von einer
den Genie-Diskurs, sondern hat sozusagen aktiv »Krankheit zum Todte« (S. 98), einem Übermaß
an deren Programmen mitgeschrieben. Zudem physischen Leidens spricht und gewissermaßen
hat er das Phänomen der sogenannten Werther- soziale Befunde und medizinisches Wissen ge-
Mode (u. a. Kleidung, Sammeltassen, Tapeten- gen theologisches ausspielt und wenn der Roman
muster) ausgelöst und wurde in seiner Rezep- so wiederum als eine Art Skandaltext auf seine
tionsgeschichte auch für eine Welle von Selbst- zeitgenössische Umgebung zurückstrahlt. Das
morden verantwortlich gemacht (der Begriff des sind nur einige, wenige Spuren eines vielstimmi-
›Werther-Fiebers‹ kursierte), was zu einem zeit- gen Systems von Texten, kollektiven Praktiken,
weiligen Verbot des Romans führte. Dass der Text Werten und Normen, als deren Ausschnitt dieser
wie ein Gewebe zu lesen ist, das gleichsam Fä- literarische Text lesbar gemacht werden kann – je
den anderer Texte aufgenommen hat, wird nicht nach Archivwissen des/der Lesenden. Was dabei
nur im Blick auf seine intertextuellen Beziehun- an historisch-kulturellen Bezügen des Werther
gen zu literarischen Texten deutlich (s. 5.3.1). zutage gefördert werden kann, ist eine potentiell
Denn der Roman schaltet sich z. B. auch als unüberschaubare, unendliche Menge und des-
eine literarische ›Verhandlung‹ in zeitgenössi- halb eine Frage der Auswahl.
sche theologische, philosophische, juristische

469
5.3
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Geschichte: Historio-
graphische Zugänge

rischem Text und ›Wirklichkeit‹ zu erfassen su- Das ist nicht als einseitige Einflussnahme des sozi-
chen, wie z. B. Symbolisierung; denn das Material alen auf den ästhetischen Bereich zu verstehen,
der ›Wirklichkeit‹ gilt nun selbst bereits als ein denn ästhetische Strategien werden auch außer-
symbolisch geladenes. Mit ›Zirkulation‹ und ›Aus- halb von Kunst und Literatur wirksam (wie es ja
tausch‹ sollen die dynamischen Wechselwirkun- auch Hayden White ähnlich für die Historiogra-
gen zwischen einem (literarischen) Text und sei- phie reklamiert), und deshalb ist nicht nur ein lite-
nem vielstimmigen historischen Kontext zum rarischer Text, sondern auch prinzipiell jedes kul-
Ausdruck kommen (Greenblatts Formel lautet: turelle Wissen, jede kulturelle Praktik im Blick auf
›Zirkulation sozialer Energien‹), d. h. die gesell- die Bedeutung erzeugenden Darstellungsverfahren
schaftlichen Konstellationen, als deren kollektives zu analysieren. Kunst bzw. Literatur gilt nicht als
Produkt der Text letztlich wirkt: privilegierter, autonomer Bereich des Ästheti-
schen. Analog zu Whites Rede von einer Poetik
»Begriffe, […] mit denen wir darlegen können, wie Mate- der Geschichte interessiert sich der New Histori-
rial – […] [etwa] amtliche Dokumente, private Papiere,
Zeitungsausschnitte usw. – von einem Bereich des Diskur-
cism dementsprechend für eine Poetik der Kultur.
ses in einen anderen übersetzt und damit ästhetisches Ei-
gentum wird« (Greenblatt 1991, S. 119).

Literatur
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Gudehus, Christian u. a. (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung.
Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar
1999. 2010.
– : Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskul- Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen
tur und Geschichtspolitik. München 2006. Bedingungen [1925]. Frankfurt a. M. 1985.
Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle – : Das kollektive Gedächtnis [1950]. Stuttgart 1967.
Identität«. In: Ders./Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Hardtwig, Wolfgang: »Formen der Geschichtsschreibung.
Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19. Varianten des historischen Erzählens.« In: Hans-Jürgen
– : Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und Goertz (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek 1998,
politische Identität in frühen Hochkulturen. München S. 169–188.
3
2000. Huber, Martin: »Methoden sozialgeschichtlicher und
Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns: Neuorientierun- gesellschaftstheoretischer Ansätze«. In: Nünning/
gen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 42010. Nünning 2010, S. 201–223.
Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Münster 42009.
als Poetik der Kultur. Frankfurt a. M. 1995. Kaes, Anton: »New Historicism: Literaturgeschichte im
– : Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine Zeichen der Postmoderne?« In: Baßler 1995, S. 251–267.
literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Koselleck, Reinhart: Art. »Geschichte«. In: Otto Brunner
Tübingen 2005. u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultu- Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.
ren. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 22011. Stuttgart 1975, S. 593–718.
– /Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Frankfurt
Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und a. M./New York 32008.
Anwendungsperspektiven. Berlin 2005. Montrose, Louis: »Die Renaissance behaupten. Poetik und
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Politik der Kultur«. In: Baßler 1995, S. 60–93.
Wahrheit, Bd. 1 [1976]. Berlin 182010. Nünning, Ansgar: »›Verbal Fictions?‹ Kritische Überlegun-
Fulda, Daniel/Matuschek, Stefan: »Literarische Formen in gen und narratologische Alternativen zu Hayden
anderen Diskursformationen: Philosophie und Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen
Geschichtsschreibung«. In: Simone Winko u. a. (Hg.): Historiographie und Literatur«. In: Literaturwissen-
Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des schaftliches Jahrbuch 40 (1999), S. 351–380.
Literarischen. Berlin/New York 2009, S. 188–219. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.): Methoden der
Greenblatt, Stephen: »Grundzüge einer Poetik der Kultur«. literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse.
In: Ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Stuttgart/Weimar 2010.
Weltbildern [1990]. Berlin 1991, S. 107–122. Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheo-
– : »Kultur«. In: Baßler 1995, S. 48–59. rien. Zur Einführung. Hamburg 2008.
Grimminger, Rolf (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der White, Hayden: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des
deutschen Literatur. München 1980–2009. Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen
Diskurses [1986]. Stuttgart 1991.

470
5.4
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Literaturwissenschaft
und Ethnographie

5.4 | Kultur: Ethnologische Zugänge


In diesem Kapitel werden interdisziplinäre Ansät- 5.4.1 | Literaturwissenschaft
ze der Kulturforschung vorgestellt, die sich zwi- und Ethnographie
schen der Literaturwissenschaft und der Ethnolo-
gie ergeben. Es geht einerseits um die Frage, Kultur als Text und das Verstehen von Kultur: Ein-
inwiefern die literaturwissenschaftliche Texter- flussreich für ein kulturwissenschaftliches Ver-
schließung von einer Erweiterung ihres Horizonts ständnis von ›Kultur als Text‹, dem wir u. a. schon
durch ethnologische Perspektiven profitiert, und im Zusammenhang mit dem New Historicism
andererseits darum, inwiefern das literaturwissen- (s. 5.3.3) begegneten, sind die Arbeiten des ameri-
schaftliche Instrumentarium für die Erforschung kanischen Ethnologen Clifford Geertz (1926–
von (fremden) Kulturen eine wichtige Rolle spie- 2006). Sein ethnologischer Kulturbegriff und seine
len und für Fragen kultureller Identität und Methode der Beschreibung kultureller Phänomene
Fremdheit produktiv gemacht werden kann, wenn haben den New Historicism wesentlich beein-
man davon ausgeht, dass kulturelle Identität und flusst. Geertz arbeitet mit einem semiotischen Kul-
Fremdheit nicht einfach etwas voraussetzungslos turbegriff, d. h. eine Kultur gilt ihm als ein durch
Gegebenes sind, sondern selbst kulturelle Kon- Zeichen bzw. Symbole vermitteltes Bedeutungs-
struktionen. system und wird somit auch im Blick auf ihre
Selbstdeutungen lesbar, etwa in jenen »Ausdrucks-
Definition formen […], in denen sie sich selbst interpretiert,
[…] wie Kunst, Theater, Rituale, Feste« (Bach-
  Ethnologie, auch Kulturanthropologie – mann-Medick 2010, S. 37); sie gelten als ähnlich
die Begriffe sind nicht klar zu trennen und deutbar wie ein Text. Kultur begreift Geertz in dem
werden oft synonym verwendet (vgl. Bach- Sinne als ein »selbstgesponnene[s] Bedeutungsge-
mann-Medick 2004, S. 56) – geht als eine webe« (Geertz 1995, S. 9), in dem sich auch sozia-
inzwischen zentrale Disziplin der neueren le Handlungen bewegen, die ebenso wie beispiels-
Kulturwissenschaften auf die ursprünglich weise literarische Texte immer schon Bedeutung
von Franz Boas (1858–1942) in den 1920er und kulturelle Selbstdeutung produzieren, denn
Jahren begründete amerikanische cultural sie kommentieren – so Geertz – »mehr als nur sich
anthropology zurück. Im Fokus steht nicht selbst« und sind damit in ihren symbolischen Di-
(mehr) allein die Erforschung fremder Kultu- mensionen wahrzunehmen (ebd., S. 34). Dem Eth-
ren, sondern auch die der eigenen Kultur nologen kommt somit die Aufgabe einer herme-
sowie die Herausforderung durch die Globa- neutischen Lektüre zu. Für das Verstehen einer
lisierung, Kulturen generell nicht mehr als (fremden) Kultur formuliert Geertz die folgende
feste abgeschlossene Größen zu denken, Grundüberlegung:
sondern als prozessuale, sich vielfach über-
lagernde und vermischende. »Als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen
[…] ist Kultur keine Instanz, der gesellschaftliche Ereig-
nisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kau-
sal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein
Literarische Texte stehen als Formen kultureller Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – be-
Repräsentation und »Medien kultureller Selbstaus- schreibbar sind« (ebd., S. 21).
legung, deren Horizont die Auseinandersetzung
mit Fremdheit bildet« (Bachmann-Medick 2004, Dichte Beschreibung: Die Bedeutung eines kultu-
S. 9), in vielfältigen Austauschprozessen mit ihrer rellen Zeichens ist immer von seinem Kontext ab-
historisch-kulturellen Umgebung (s. 5.3) und bie- hängig, der als ein vielschichtiges Gewebe von
ten einen Verhandlungsraum für Fragen der Iden- Bedeutungsmöglichkeiten betrachtet wird. Die
tität, der Differenz und der Fremdheitserfahrung. Methode der ›dichten Beschreibung‹ (thick descrip-
Die Öffnung literaturwissenschaftlicher hin zu eth- tion) soll dementsprechend der Komplexität des
nologischen Perspektiven kann entsprechend auch Untersuchungsgegenstandes, der »semantische[n]
diese Dimensionen in den literarischen Texten Dichte des Materials« (Bachmann-Medick 2010,
selbst beschreibbar machen. S. 68) in seiner kulturellen Situation Rechnung tra-
gen. Sie konzentriert sich auf den jeweiligen Rah-
men, in dem kulturelle Akte produziert, interpre-

471
5.4
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Kultur: Ethnologische
Zugänge

tiert und verstanden werden (vgl. Geertz 1995,


S. 12). Ähnlich wie der New Historicism Texte als Beispiel: Kulturell bedeutsame Zeichen
vielstimmige kulturelle Begegnungsstätten unter- Inwiefern die literaturwissenschaftliche Text-
sucht, werden hier auch kulturelle Akte und Arte- lektüre von Geertz’ mikroskopischem Verfahren
fakte in ihrer kontextbezogenen Vielschichtigkeit profitieren kann, sei noch an einem unserer
in den Blick genommen. Ganz alltägliche Ereignis- Beispiele kurz erläutert: Wenn es in Goethes
se und Handlungen dienen dem Ethnologen in Briefroman Die Leiden des jungen Werthers
dem Sinne schon als kulturelle Zeichen, die es zu über eine Begegnung Werthers mit Lotte heißt:
deuten gilt. »ich sah ihr Auge thränenvoll« (S. 52), so kön-
nen die Tränen an dieser Stelle im Blick auf ein
Zur Vertiefung komplexes Feld ihrer zeitgenössischen kulturel-
len Zeichenhaftigkeit lesbar gemacht werden,
»Dichte Beschreibung«: das mehr als den körperlichen Gefühlsausdruck
Was ist kulturell bedeutsam? des Weinens signalisiert, zieht man u. a. etwa
Clifford Geertz erläutert die »dichte Beschreibung« andere Textzeugnisse der sogenannten ›Emp-
als Methode zur Unterscheidung von kulturell be- findsamkeit‹ heran. So zirkuliert die Träne im
deutsamen Zeichen und kulturell Bedeutungslo- Empfindsamkeitsdiskurs als vermeintlich un-
sem u. a. am Beispiel des Augenzwinkerns in fol- mittelbares Medium der Seelenbegegnung so-
gendem Szenario: Zwei Jungen begegnen sich, wie als Zeichen der Aufrichtigkeit, Transparenz
»die blitzschnell das Lid des rechten Auges bewe- und Natürlichkeit. Sie wird so auch zum Zei-
gen. Beim einen ist es ein ungewolltes Zucken, chen eines Versagens der verbalen Sprache und
beim anderen ein heimliches Zeichen an seinen ihrer ethischen Überbietung zugleich, indem
Freund. Als Bewegungen sind die beiden Bewe- sie für ein Sprechen jenseits jeder strategisch
gungen identisch […].« Der zufällige, unwillkürli- kontrollierenden Rhetorik einsteht.
che Reflex ist »vom Standpunkt einer photographi-
schen […] Wahrnehmung« (Geertz 1995, S. 10),
also auf der Ebene reiner Beobachtung nicht von rer zeitgenössischen kulturellen Bedeutungen zu
einem absichtlich adressierten, geheimen Zeichen rekonstruieren. Insofern hat sich der New Histo-
zu unterscheiden, vom Zwinkern, das als kulturell ricism von Geertz’ ethnologischen Forschungen
festgelegter Code eine öffentlich kommunikative inspirieren lassen.
Funktion besitzt. Das gilt ebenso für eine bloß täu- Ethnographie und/als Literatur: Die ethnogra-
schende Parodie des Augenzwinkerns: »Man kann phische Darstellung in Form der ›dichten Beschrei-
nicht zwinkern (oder jemanden parodieren) ohne bung‹ betrachtet Geertz – ähnlich wie Hayden
zu wissen, was man unter Zwinkern versteht oder White die Geschichtsschreibung (s. 5.3.3) – als »et-
wie man – physisch – das Augenlid bewegt« (ebd., was Gemachtes«, als Fiktion (Geertz 1995, S. 23),
S. 18). Ob Zeichen oder bloßer Reflex: Erst die als Beschreibung und Interpretation zugleich. Eth-
»dichte Beschreibung« kann Geertz zufolge im Ge- nologie ist dann mehr als nur eine empirische Wis-
gensatz zur »dünnen Beschreibung«, die nur die senschaft, die sich auf Beobachtung stützt; sie ist
Bewegung des Auges registriert, die kulturelle nach Geertz immer schon auf Interpretation (in
Vielschichtigkeit hinsichtlich der Bedeutung dieser diesem Fall lebensweltlicher Phänomene, die als
Geste erfassen. Deren symbolische Dimensionen kulturelle Zeichen betrachtet werden) verwiesen.
erschließen sich nicht der einfachen empirischen In dem Sinne ist auch der »Anthropologe als
Beobachtung und sind Resultat der deutenden Per- Schriftsteller« (vgl. Geertz 1993) und in der Rolle
spektive. des Literaturwissenschaftlers für Geertz bedeut-
sam, der die ethnologische Erforschung der (frem-
den) Kultur als einen Versuch betreibt, »ein Manu-
›Dichte Beschreibung‹ versucht sich nicht an ei- skript zu lesen« (Geertz 1995, S. 15).
ner umfassenden Kulturinterpretation, sondern Unter dem Stichwort Writing Culture wurde in
konzentriert sich »mikroskopisch« (Geertz 1995, den 1980er Jahren dann – ganz ähnlich wie in der
S. 30) auf ein Phänomen. Mit dieser Methode Geschichtswissenschaft – die Narrativität der Eth-
kann ebenso die Lektüre eines literarischen Tex- nographie diskutiert und die Ethnologie auch als
tes einzelne Details gleichsam wie Fenster öffnen eine interpretierende Textwissenschaft betrachtet
(vgl. Baßler 1995, S. 21), um die Komplexität ih- (vgl. Clifford/Marcus 1986). So stellt sich – wie in

472
5.4
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Übergangsriten
und Liminalität

der Literaturwissenschaft für literarische Texte – Zustand zwischen vergangener und künftiger Da-
auch für ethnographische Darstellungen die Frage seinsform symbolisiert; und eine Angliederungs-
nach der Bedeutung erzeugenden Funktion von phase, die seine Rückkehr in die Gemeinschaft auf
Textverfahren und Schreibweisen. höherem sozialem Niveau markiert.
Einen solchen Initiations- oder Übergangsritus
stellt beispielsweise die Taufe dar, wobei die Zei-
chen des Taufkleids, des Taufwassers und der
5.4.2 | Übergangsriten und Liminalität Taufsalbe den vorweggenommenen Zustand der
Gnadenfülle markieren, den die Gläubigen nach
Rituale sind kulturelle Zeichenhandlungen, die sich ihrem Tod auf Dauer erhoffen. So umfasst z. B. die
als Abfolge einzelner Phasen und Akte beschreiben frühkirchliche Erwachsenentaufe folgende Phasen
lassen, z. B. eine Taufe (Dücker 2007). Auch erzäh- der Liminalität:
lende Texte verfügen über eine prozessuale Dimen- N Trennungsphase: Entkleidung Phasen der Liminalität
sion, die mit der Linearität des Lektüreakts korres- N Schwellenphase: Untertauchen im Wasser bei der Taufe
pondiert. Ritual und Text lassen sich dann besonders N Angliederungsphase: Einkleidung und Sal-
eng aufeinander beziehen, wenn ein biographisches bung
Prinzip ins Spiel kommt – wenn es also um Rituale Nach Turner ist der Übergang von einem sozialen
geht, die den Übergang von einer Lebensphase in Status zum anderen oftmals mit einem Raum-
die andere markieren, und wenn es um Texte geht, wechsel, mit der Überwindung einer Grenze ver-
die einen narrativen, das Leben einer oder mehrerer bunden, die zwei gegensätzliche Sphären vonein-
Figuren erzählenden Duktus haben. Dies gilt ins- ander trennt.
besondere für jene Rituale, die der französische Wenn von Feuer und Wasser, Himmel und Erde
Ethnologe Arnold van Gennep (1873–1957) als die Rede ist, so dienen die Oppositionen zweifellos
Übergangsriten (rites de passage) bezeichnet und der Dramatisierung des Geschehens. Doch es geht
untersucht hat (Gennep 2005). um mehr. Wie Turner ausführt, bringen Über-
Turners Theorie der Liminalität: Der schottische gangsriten die Initianden, »da sie zunächst in ih-
Ethnologe Victor Turner (1920–1983) hat aus van rem früheren Leben und in ihrer früheren sozialen
Genneps Untersuchungen eine Theorie der Limi- Position sterben müssen, um dann wiedergeboren
nalität abgeleitet, die für literaturwissenschaftliche werden zu können, mit Gegensätzen solch allge-
Analysen sehr ergiebig sein kann (Turner 2009). meiner Art wie Leben/Tod, männlich/weiblich,
Als ›Liminalität‹ bezeichnet er jenen Grenz- und […] in Verbindung« (Turner 2009, S. 36).
Schwellenzustand, den eine Person durchläuft,
wenn sie eine Initiation erfährt. Turner unterschei-
det bei derartigen Übergangsritualen drei Phasen:
eine Trennungsphase, die die Loslösung des Men-
schen aus seinem früheren sozialen Status dar-
stellt; eine Schwellenphase, die seinen liminalen

Übergangsritus und Schwellenphase chen die gefärbten Tücher aufgehängt wurden, Beispiel
Als Übergangsritus lässt sich auch eine Schlüssel- liefen, mehrere Ellen weit, über die See hinaus«
szene des Findlings beschreiben, nämlich die im (S. 232). Eines Tages fängt das Haus Feuer, und
Rückblick erzählte Befreiung der dreizehnjährigen Elvire flüchtet sich auf einen der über das Wasser
Elvire aus Todesgefahr. Ein Sprung ins Wasser ret- ragenden Balken. Dort, »zwischen Himmel und
tet sie aus einer Flammenhölle – ein Ereignis, das Erde schwebend«, muss sie sich entscheiden, ob
mit religiösen Konnotationen erzählt wird. Das sie sich den Flammen des brennenden Hauses
Elternhaus der jungen Elvire steht auf der Grenze oder den Wellen des tosenden Meeres überant-
zwischen Land und Meer, denn es handelt sich wortet. In dieser ausweglosen Lage tritt ein junger
um das Haus eines genuesischen Tuchfärbers. Das Patriziersohn auf, der das Mädchen ergreift und
Gebäude stößt »mit der hinteren Seite hart an den, sich mit ihm an einem der aufgehängten Tücher
mit Quadersteinen eingefaßten, Rand des Meeres ins Meer hinabhangelt, wo sie von Gondeln aufge-
[…]; große, am Giebel eingefugte Balken, an wel- nommen werden.

473
5.4
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Kultur: Ethnologische
Zugänge

Nun steht Elvire mit ihren dreizehn Jahren vor und Elvire von der Hand der einen in die Hand
dem Eintritt in die Geschlechtsreife. Sie befindet der anderen Vaterfigur weitergereicht wird.
sich auf der Schwelle vom Kind, das noch dem Der Tod des jungen Mannes hat zur Folge, dass
Vater überantwortet ist, zur jungen Frau, die ins die Gerettete das Leben an der Seite eines »Alten«
heiratsfähige Alter gelangt. Der »junge Held«, der führt, von dem sie »keine Kinder mehr zu erhal-
ihr das Leben rettet, ist, auch aufgrund seines ten hoffen konnte«. Elvire beginnt einen heimli-
sozialen Standes, ein geeigneter Bräutigam. Er chen Totenkult; sie stilisiert ihren Retter zur
könnte um die Hand des Mädchens anhalten, sie Christusfigur. Colino, der ihr in der Todesgefahr
also aus der väterlichen Hand übernehmen. Das »erschien«, stirbt nach der Passion eines »dreijäh-
steinerne Haus am Meer, aus dem Elvire durch rigen höchst schmerzvollen Krankenlager[s]«,
einen beherzten Sprung ins Wasser gerettet wird, aus dem er nur selten »erstand«. Indem Elvire
bezeichnet der Erzähler ausdrücklich als Haus den »Jüngling«, der »für sie litt und starb«, als
des Vaters. Doch geht die Geschichte anders aus. ihren verhinderten Heiland verehrt, verharrt sie
Der Jüngling hat sich bei der Rettungsaktion am in der liminalen Phase. Äußerlich führt sie mit
Kopf verletzt; Elvire pflegt den Kranken, der nach ihrem Gatten eine Josephsehe, innerlich weiht
drei Jahren, in denen sie zur jungen Frau heran- sie ihr Leben dem toten Bräutigam. Elvire kon-
wächst, stirbt. In dieser Zeit lernt sie Antonio, serviert den Schwellenzustand; in der Erwartung
den väterlichen Freund kennen, der sie schließ- der Wiederkehr ihres toten Erlösers ist sie emp-
lich heiratet. Die Schwellensituation zwischen fänglich für Nicolos Betrugsmanöver. Als er ihr
Feuer und Wasser, Himmel und Erde bezeichnet in der Rolle Colinos gegenübertritt, revitalisiert er
somit zugleich den Rollenwechsel vom Mädchen die Schwellenphase und setzt ihr zugleich ein ge-
zur Frau, von der Tochter zur Braut. Die Tragik waltsames Ende. Elvire kann das falsche Leben
besteht darin, dass die Emanzipation misslingt nicht weiterführen und stirbt.

5.4.3 | Fremdheit und Inter-/ Damit ist einerseits die Konsequenz verbunden,
Transkulturalität dass das ›Fremde‹ nicht mehr irgendwo außerhalb
des ›Eigenen‹ lokalisiert, nicht mehr als das ›Ande-
In unserem gegenwärtigen Zeitalter beschleunigter re‹ von ihm getrennt werden kann, weil es gleich-
Globalisierung, transnationaler Prozesse und welt- sam in der eigenen Mitte erscheint. Andererseits
weiter Migrationen, in dem sich mit den Menschen können Herkunft und kulturelle Identität vielfach
und Dingen auch kulturelle Zeichen um den Glo- nicht mehr eindeutig behauptet werden. An die
bus bewegen, sind die Kategorien kultureller Iden- Stelle von Ursprung und Einheit tritt die Erfah-
tität und Heimat, die Unterscheidung von ›fremd‹ rung von Bruch und Übergang (vgl. Bachmann-
Kulturelle und ›eigen‹ grundsätzlich zu überdenken, da Kul- Medick 2010, S. 206). So gilt es, interne kulturelle
Austauschprozesse turen in vielfältigen Austauschprozessen mitein- Widersprüchlichkeiten, wechselseitige Überlage-
ander stehen und nicht (mehr) als homogene Ein- rungen sowie mehrfache Zugehörigkeiten in den
heiten bzw. abgeschlossene Zeichensysteme zu Blick zu nehmen und essentialistische Konzepte
begreifen sind. Vielmehr sind sie in einer unab- von Kultur, Nation, Heimat und Identität grund-
schließbaren Offenheit und Prozesshaftigkeit zu sätzlich kritisch zu hinterfragen, da sie etwas als
betrachten. Was der Soziologe und Philosoph Ge- ein Wesenhaftes ausgeben, was aber ein kulturel-
org Simmel (1858–1918) 1908 als modernes Phä- les Konstrukt ist: »Es gibt keine Welt, in der wir je
nomen der Migration beschreibt, scheint heute in völlig zu Hause sind, und es gibt kein Subjekt, das
zunehmendem Maße nicht mehr nur Ausnahme, je Herr im eigenen Hause wäre« (Waldenfels 1997,
sondern eher die Regel zu sein: »Es ist hier also der S. 11).
Fremde nicht in dem […] Sinn gemeint, als der Fremdheit als ein relationaler Begriff: Dass das
Wandernde, der heute kommt und morgen geht, Fremde wie auch das Eigene nicht als gegebene
sondern als der, der heute kommt und morgen Eigenschaften, sondern als (kulturelle) Zuschrei-
bleibt« (Simmel 1992, S. 764). bungen und somit als relationale Begriffe zu wer-
ten sind, die wechselseitig aufeinander verweisen,

474
5.4
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Fremdheit und Inter-/
Transkulturalität

ist in der kulturwissenschaftlichen Fremdheitsfor- Die kulturellen Verhältnisse sind heute weithin durch
schung wiederholt thematisiert worden (vgl. u. a. Mischungen und Durchdringungen gezeichnet« (ebd.,
S. 71).
Kohl 1993; Waldenfels 1997). Denn in dem Maße,
in dem »alles Außerordentliche […] auf bestimmte Auch wenn sich diese Diagnose auf aktuelle Ver-
Ordnungen, über die es hinausgeht« (Waldenfels hältnisse bzw. moderne Gesellschaften bezieht, ist
1997, S. 37), bezogen bleibt, kann auch die Konsti- dennoch anzunehmen, dass Kulturen nie homo-
tution eines ›Eigenen‹ nicht vom ›Fremden‹ gelöst gen und geschlossen waren. Welsch sieht Trans-
werden. kulturalität als ein Phänomen der Komplexität und
An den Grenzen der Nationalliteratur: Vor dem inneren Differenzierung von Kulturen sowie ih-
Hintergrund, dass Deutschland zum Einwande- rer vielfältigen externen Vernetzungen durch Mi-
rungsland geworden ist und inzwischen sehr grationen, ökonomische Verflechtungen und Ab-
sichtbar deutschsprachige Literaturen (der Plu- hängigkeiten, weltumspannende Verkehrs- und
ral ist angemessener) existieren, deren Autor/in- Kommunikationssysteme. Die interne Differenzie-
nen sich zwischen den Kulturen bzw. jenseits rung moderner Gesellschaften verdanke sich einer
kultureller Verortungen bewegen, wird auch ein »Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen und Le-
Konzept von Nationalliteratur unweigerlich mit bensformen« (ebd., S. 68). Auch die Individuen
seinen Grenzen konfrontiert (vgl. Chiellino 2000). und ihre Biographien sind in zunehmendem Maße
Vielmehr sind diese deutschsprachigen Literatu- durch »mehrere kulturelle Herkünfte und Verbin-
ren als intertextuelle Räume vielfacher kulturel- dungen« (ebd., S. 72) geprägt.
ler Kontakte, Übersetzungen und Aushandlungen Postkoloniale Kulturtheorie: Das Paradigma der
wahrzunehmen. Transkulturalität spielt bereits in der angloameri-
Kulturtheoretische Ansätze, die sich mit den kanischen postkolonialen Kulturtheorie eine zen-
Aspekten von Fremdheit, kultureller Identität trale Rolle, noch bevor Welsch den Begriff am
und Differenz sowie mit Phänomenen des Kultur- Ende der 1990er Jahre in Deutschland etabliert.
kontakts befassen, sind insofern ein wichtiges
Bezugsfeld für die literaturwissenschaftliche Text-
analyse, als sie die Frage nahelegen, wie literari- Zur Vertiefung
sche Texte diese Aspekte verhandeln. »Denn mit
der symbolischen Formung von Sprache vermag Transkulturalität, Interkulturalität oder Multikulturalität?
Literatur nicht nur kulturelle Ausdrucksfomen Der Begriff ›Transkulturalität‹ (lat. trans-: durch, hindurch), der permanenten
der Selbstvergewisserung und Repräsentanz zu Wandel, Offenheit und wechselseitige Durchdringung bzw. Vernetzung von Kul-
erzeugen, sondern auch zu reflektieren« (Gutjahr turen jenseits der Unterscheidung von ›fremd‹ und ›eigen‹ markiert, funktioniert
2002, S. 364). bei Welsch als ein Kontrastbegriff zu ›Interkulturalität‹ und ›Multikulturalität‹.
Seit dem Ende der 1980er Jahre hat sich dem- Es handelt sich dabei um im kulturwissenschaftlichen Feld konkurrierende
entsprechend in der germanistischen Literaturwis- Termini zur Beschreibung von Kulturkontakten, die im Blick auf den jeweili-
senschaft ein Schwerpunkt interkultureller Ger- gen Kulturbegriff jedoch nicht immer klar unterschieden sind (vgl. u. a. Schöß-
manistik profiliert (vgl. u. a. Chiellino 2000; ler 2006). Für Welsch garantiert allein der Begriff ›Transkulturalität‹ ein Konzept
Gutjahr 2002; Wierlacher/Bogner 2003; Hofmann von Kultur, das nicht auf Homogenisierung und »äußerer Abgrenzung zugleich«
2006). beruht (Welsch 1997, S. 69). Ortrud Gutjahr reklamiert hingegen für den Begriff
Wolfgang Welschs Konzept der Transkulturali- ›Interkulturalität‹ ein Verständnis von Kultur, das eine »nicht fest umgrenzte
tät: Der Philosoph Wolfgang Welsch hat den Be- Entität« voraussetzt und von »Interaktionsprozessen« ausgeht, »bei denen die
griff im deutschsprachigen kulturwissenschaftli- kulturelle Differenz zwischen […] Werten, Sitten, Gebräuchen und Praktiken
chen Kontext etabliert. Er markiert damit ein nicht als kulturkonstitutiv verhandelt wird« (Gutjahr 2002, S. 353; vgl. auch Hofmann
mehr mit einem traditionellen Verständnis der 2006, S. 9–14). Ebenso umstritten ist der Begriff ›Multikulturalität‹ (vgl. Bron-
»Einzelkulturen« (Welsch 1997, S. 67) zu vereinba- fen/Marius 1997). Er setzt zwar die Vielfalt »unterschiedlicher Kulturen inner-
rendes Kulturkonzept, das »soziale Homogenisie- halb ein und derselben Gesellschaft« (Welsch 1997, S. 69) voraus, löst sich je-
rung, ethnische Fundierung und interkulturelle doch Welsch zufolge nicht von einem homogenisierenden Kulturkonzept, das
Abgrenzung« (ebd., S. 68) voraussetzt. auf Teilkulturen übertragen wird. In der postkolonialen Kulturtheorie gibt es in-
sofern ähnliche Vorbehalte, als gegen das Multikulturalismuskonzept der Diver-
»Unsere Kulturen haben de facto längst nicht mehr die sität (Vielfalt) das Prinzip der kulturellen Differenz behauptet wird, das Ambi-
Form der Homogenität und Separiertheit. Sie haben
vielmehr eine neuartige Form angenommen, die ich als valenzen und Widersprüchen Rechnung trägt (vgl. Bhabha 2000, S. 51 f.;
transkulturell bezeichne, weil sie durch die traditionel- Bachmann-Medick 2010, S. 199).
len Kulturgrenzen wie selbstverständlich hindurchgeht.

475
5.4
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Kultur: Ethnologische
Zugänge

Definition binären Gegensätzen (eigen/fremd, postkoloni-


ales Zentrum/Peripherie) arbeitet.
Der Begriff   ›postkolonial‹ hat im Kontext Hybride Kulturen: Die postkoloniale Kulturtheorie
der angloamerikanischen Postcolonial Stu- verabschiedet ein Konzept kultureller Identität
dies verschiedene Bedeutungen. Er bezieht und setzt zur Beschreibung kultureller Konstellati-
sich einerseits kritisch auf eine »nachhaltige onen stattdessen auf das poststrukturalistische
Prägung der globalen Situation durch Kolo- Konzept der Differenz (s. 5.2.3), um das »wech-
nialismus, Dekolonisierung und neokolonia- selseitige Ineinanderwirken verschiedener, auch
listische Tendenzen« (Bachmann-Medick antagonistischer Kulturen und Teilkulturen«
2010, S. 84). Andererseits begründet sich dar- (Bachmann-Medick 2010, S. 198) zu betonen. Kul-
über hinaus die postkoloniale Kulturtheorie tur ist in dem Sinn als Übersetzungsprozess begrif-
als eine Kritik am eurozentrischen Denken fen. Zum kulturtheoretischen Leitbegriff wird ›Hy-
und als Instrument zur Analyse von Kultur- bridität‹.
kontakten und kulturellen Konstellationen
in der globalisierten Welt. Definition

  Hybridität (lat. hybrida: Mischling, Bas-


Die europäische Erfindung des Orients: Der palästi- tard) ist ursprünglich ein problematischer,
nensische Literaturwissenschaftler Edward Said weil rassistisch konnotierter Terminus aus
(1935–2003) hat mit seiner Studie zum Orientalis- der Biologie des 19. Jh.s, der sich auf die Kreu-
mus 1978 eine Art Gründungstext der postkolo- zung verschiedener Arten bezieht (das
nialen Kulturtheorie verfasst, der unabhängig Ergebnis ist ein Hybrid). Zu einem positiv
von seinem Gegenstand – das Bild, das der Westen gewendeten Schlüsselbegriff postkolonialer
sich seit dem 18. Jh. vom ›Orient‹ gemacht hat – Kulturtheorie wurde er in den 1980er Jahren.
die Opposition von ›eigen‹ und ›fremd‹ sowie die Im Gegensatz zu einem essentialistischen
Annahme eines objektiven Wissens als Konstrukti- Verständnis kultureller Reinheit bezeichnet
on, als einen Diskurs im Sinne Foucaults (s. 5.3.2) er die wechselseitigen Überlagerungen und
entlarvt, in dem Macht und Wissen eine Allianz Durchdringungen unterschiedlicher, u. a.
eingehen. Gemeinsam entwerfen sie den Orient als antagonistischer Kulturen. »Hybrid ist alles,
das ›Andere‹, um das ›Eigene‹, die Identität des was sich einer Vermischung von Traditionsli-
Westens, zu konstituieren, was mehr über den nien oder von Signifikantenketten verdankt,
westlichen Diskurs aussagt als über eine vermeint- was unterschiedliche Diskurse und Technolo-
liche Realität des Orients. Den ›Orient‹ gibt es mit- gien verknüpft, was durch Techniken der col-
hin nur als Produkt eines hegemonialen Herr- lage, des samplings, des Bastelns zustande-
schaftsdiskurses »europäische[r] Kultur«, der gekommen ist« (Bronfen/Marius 1997, S. 14).
»den Orient politisch, soziologisch, militärisch,
ideologisch, wissenschaftlich und imaginativ«
(Said 1981, S. 8) erst produziert, und zwar auch in Das kulturtheoretische Hybriditätskonzept wurde
literarischen, philosophischen und historischen wesentlich durch den indisch-amerikanischen Li-
Texten. In Saids Überlegungen sind insbesondere teraturwissenschaftler Homi Bhabha (1909–1966)
zwei Momente für die postkoloniale Kulturtheorie entwickelt. Hybridität lässt sich nicht auf eine blo-
wichtig geworden: ße Vermischung heterogener kultureller Einflüsse
E. Said: Wesentliche N Die binäre Opposition von ›eigen‹ und ›fremd‹ reduzieren. Vielmehr ist sie als ein kulturell viel-
Punkte für die post- beruht nicht auf Wesensunterschieden, sondern stimmiges, permanentes Aushandeln und Über-
koloniale Kulturtheorie ist eine von Machtinteressen geleitete kulturelle setzen kultureller Zeichen in einem Zwischen-
Konstruktion, da sich die Identität des ›Eigenen‹ raum (in-between-space) gedacht. Das ›Zwischen‹
erst mit dem (gewaltsamen) Ausschluss des ist nicht externe Grenze zwischen zwei Kultu-
›Anderen‹ begründet. ren, sondern immer schon interne kulturelle Dif-
N Der Fokus ist nicht mehr nur historisch auf den ferenz. In dem Sinn fasst Bhabha Hybridität auch
Kolonialismus oder auf sein ökonomisches als einen sogenannten Dritten Raum (third
Nachleben im Neo-Kolonialismus gerichtet, space), der nicht als Synthese zwischen zwei fes-
sondern fordert grundsätzlich die selbstkriti- ten kulturellen Räumen zu verstehen ist, sondern
sche Revision einer Theoriebildung, die mit als ein »Dazwischentreten«, das die »Auffassung

476
5.4
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Fremdheit und Inter-/
Transkulturalität

von der historischen Identität von Kultur als einer


homogenisierenden, vereinheitlichenden Kraft« Beispiel: Das Eigene und das Fremde
(Bhabha 2000, S. 56) in Frage stellt. Der Dritte In Goethes Briefroman Die Leiden des jungen
Raum wird so zum Ort der »Auseinandersetzung Werthers werden die Lektüren von Texten Ho-
in und zwischen Kulturen« (Bachmann-Medick mers und Ossians, die konstitutiv für Werthers
2010, S. 205), und zwar quer zu einer Grenze zwi- Selbstentwürfe sind, nicht allein als intertextu-
schen vermeintlich Eigenem und Fremdem und elle Beziehungen analysierbar, sondern ebenso
jenseits eines dominanten kulturellen Zentrums. in kulturtheoretischer Perspektive als kulturelle
Dieses wird vielmehr im Blick auf seine in hege- Übersetzungen, die diese Texte in einem neuen
monialen Identitätsbehauptungen verdeckten Wi- kulturellen Kontext mit neuen Bedeutungen
dersprüche und Brüche ausgelotet, womit der Drit- aufladen. In umgekehrter Blickrichtung ist auch
te Raum zugleich ein subversives Potential erhält. Werthers vermeintliche Authentizität und Iden-
Da Hybridität nicht nur zwischen den Kulturen, tität von einer unhintergehbaren (kulturellen)
sondern schon als interne Differenz des Eigenen Differenz gezeichnet, da sich das ›Eigene‹ erst
gedacht wird, stehen damit auch Kategorien wie über das ›Andere‹ konstituiert.
ethnische Zugehörigkeit, soziale Klasse und Ge-
schlecht zur Disposition. Von Mehrfachzugehörig-
keiten ist ebenso das einzelne Subjekt gezeichnet, risches hinsichtlich der zahlreichen Einflüsse und
als »Knoten- und Kreuzungspunkt der Sprachen, Wechselwirkungen mit anderen Literaturen und
Ordnungen, Diskurse, Systeme wie auch der Wahr- Kulturen erforscht werden kann und die »Entde-
nehmungen, Begehren, Emotionen, Bewußtseins- ckung auch historischer Formen von kultureller
prozesse, die es durchziehen« (Bronfen/Marius Hybridisierung« erlaubt (Bachmann-Medick 2010,
1997, S. 4). S. 209; vgl. Duncker 2005). Über die Erweiterung
Perspektiven für die germanistische Literatur- des Gegenstandsbereichs hinaus lassen sich auch
wissenschaft: Mit dem Paradigma der Transkultu- für die Analyse literarischer Verfahren neue Ka-
ralität und den Impulsen postkolonialer Theorie ist tegorien gewinnen, etwa für die Erzähltheorie
der germanistischen Literaturwissenschaft nicht (vgl. Birk/Neumann 2002). Postkoloniale Litera-
nur ein Instrument zur Erschließung einer Gegen- turtheorie kann in dem Sinn als »kontextbewusste
wartsliteratur an die Hand gegeben, die auf vielfäl- Literaturanalyse« (Neumann 2010, S. 272) frucht-
tige Weise kulturelle Grenzen überschreitet. Das bar gemacht werden, da sie das Augenmerk auf
gilt im Prinzip ebenso für das gesamte historische literarische Entwürfe, Reflexionen und Transfor-
Textcorpus deutschsprachiger Literatur, das jen- mationen kultureller Repräsentationen richtet (vgl.
seits eines verkürzenden Blicks auf Nationallitera- ebd.).

Literatur
Bachmann-Medick, Doris: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in
Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart/Weimar 2000.
Literaturwissenschaft. Tübingen/Basel 22004, S. 7–64. Clifford, James/Marcus, George M. (Hg.): Writing Culture.
– : Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissen- The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley/Los
schaften. Reinbek 42010. Angeles/London 1986.
Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte Dücker, Burckhard: Rituale. Formen – Funktionen – Ge-
als Poetik der Kultur. Frankfurt a. M. 1995. schichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft.
Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): Ritualtheorien. Ein Stuttgart/Weimar 2007.
einführendes Handbuch. Wiesbaden 42008. Duncker, Axel (Hg.): (Post-)Kolonialismus und Deutsche
Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur [1994]. Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur-
Tübingen 2000. und Kulturtheorie. Bielefeld 2005.
Birk, Hanne/Neumann, Birgit: »Go-between: Postkoloni- Geertz, Clifford: Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe
ale Erzähltheorie«. In: Ansgar Nünning/Vera Nünning als Schriftsteller [1988]. Frankfurt a. M. 1993.
(Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, – : Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller
S. 115–152. Systeme [1973]. Frankfurt a. M.41995.
Böhme, Hartmut (Hg.): Topographien der Literatur. Gennep, Arnold van: Übergangsriten. Frankfurt a. M./New
Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. York 2005.
Stuttgart/Weimar 2005. Gutjahr, Ortrud: »Alterität und Interkulturalität. Neuere
Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin (Hg.): Hybride deutsche Literatur«. In: Claudia Benthien/Hans Rudolf
Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikul- Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine
turalismusdebatte. Tübingen 1997.

477
5.5
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Geschlecht: Gender-
theoretische Zugänge

Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek 2002, Said, Edward: Orientalismus [1978]. Frankfurt a. M./Berlin/
S. 345–369. Wien 1981 (engl. 1978).
Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Simmel, Georg: »Exkurs über den Fremden« [1908]. In:
Eine Einführung. München 2006. Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der
Kohl, Karl-Heinz: Ethnologie – Die Wissenschaft vom Vergesellschaftung (Gesamtausgabe Bd. 11). Hg. von
kulturell Fremden. München 1993. Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1992.
Neumann, Birgit: »Methoden postkolonialer Literaturkri- Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des
tik und anderer ideologiekritischer Ansätze«. In: Vera menschlichen Spiels. Frankfurt a. M./New York 2009.
Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Methoden der Waldenfels, Bernhard: Topographien des Fremden. Studien
literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M. 1997.
Stuttgart/Weimar 2010, S. 271–292. Welsch, Wolfgang: »Transkulturalität. Zur veränderten
Neumann, Gerhard/Weigel, Sigrid (Hg.): Lesbarkeit der Verfassung heutiger Kulturen«. In: Irmela Schneider/
Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik Christian W. Thomsen (Hg.): Hybridkultur. Medien,
und Ethnographie. München 2000. Netze, Künste. Köln 1997, S. 67–90.
Schößler, Franziska: Literaturwissenschaft als Kulturwissen- Wierlacher, Alois/Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch
schaft. Tübingen/Basel 2006. interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar 2003.

5.5 | Geschlecht: Gendertheoretische Zugänge


Inzwischen haben sich die Ansätze der Geschlech- Angst erwächst aus der Entdeckung, dass die
terforschung (Gender Studies) im Kanon der Lite- Mutter keinen Phallus besitzt und er selbst ihn
ratur- und Kulturtheorien fest etabliert. Eine Text- ebenfalls verlieren könnte. Wenn der Knabe den
analyse, die den Faktor der Geschlechterdifferenz Konflikt erfolgreich löst, identifiziert er sich mit
unberücksichtigt lässt, muss sich fragen lassen, ob seinem Vater und verschiebt das Begehren nach
sie nicht – oft im Einverständnis mit dem analy- seiner Mutter auf eine andere Frau. Das Zusam-
sierten Text – stillschweigend an einer patriarcha- menspiel von gleichgeschlechtlicher Identifikation
lischen Ideologie festhält. Zentrale Grundlagen und gegengeschlechtlichem Begehren konstituiert
der Geschlechterforschung bietet die Psychoanaly- die männliche Geschlechtsidentität des Kindes.
se. Zu den neuesten Ansätzen der Geschlechterfor- Eine analoge Entwicklung durchläuft das weibli-
schung gehört die kritische Heteronormativitäts- che Kind, wenn es mit der Mutter um den Vater
forschung (Queer Studies). rivalisiert. Das Mädchen identifiziert sich mit der
Mutter und verschiebt das Begehren nach dem
Vater auf einen anderen Mann. Auf diese Weise
prägt das Mädchen seine weibliche Geschlechts-
5.5.1 | Psychoanalytische Grundlagen identität aus.
Freuds Traumdeutung: Freud beruft sich in sei-
Freuds Konzept des Ödipuskonflikts: Nach psy- ner Analyse des Ödipuskonflikts auf die Träume
choanalytischer Auffassung prägt der Mensch sei- seiner Patient/innen. Er geht davon aus, dass ver-
ne Geschlechtsidentität im Rahmen des früh- drängte Wünsche – und dazu zählen auch das in-
kindlichen Ödipuskonflikts aus. Der österreichische zestuöse Begehren nach der Mutter und der Tö-
Arzt und Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856– tungswunsch gegen den Vater – im Traum
1939), der diesen Konflikt erstmals beschrieb, il- wiederkehren. Wie Freud in seiner Traumdeutung
lustriert ihn anhand eines literarischen Textes, (1900) dargelegt hat, finden im Traum symboli-
nämlich Sophokles’ Drama König Ödipus (Loh- sche Prozesse der Verdichtung und Verschiebung
mann/Pfeiffer 2006; Schönau/Pfeiffer 2003). Ödi- statt, die den poetischen Figuren der Metonymie
pus tötet, ohne es zu wissen, seinen Vater und und der Metapher vergleichbar sind:
heiratet seine Mutter. Diese unbewussten Wün- N Verdichtung: metaphorischer Prozess
sche prägen den Knaben während seiner ödipalen N Verschiebung: metonymischer Prozess
Phase, d. h. im Alter von drei bis sechs Jahren, Wie bei der Interpretation literarischer Texte be-
wenn er sein Geschlechtsorgan entdeckt. Er rich- darf es auch beim Traum eines hermeneutischen
tet sein Begehren auf die Mutter, wird aber vom Akts, der vom manifesten Inhalt (dem Symboli-
Vater am inzestuösen Wunsch gehindert. Der schen) zum latenten Inhalt (das Symbolisierte)
Knabe gibt die Rivalität um die Mutter auf, weil er führt.
die Kastration durch den Vater befürchtet. Diese

478
5.5
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Geschlechterforschung
(Gender Studies)

Psychoanalyse und Literaturwissenschaft: Die In psychoanalytisch orientierten Textlektüren


Nachbarschaft von Traum und Fiktion legt es geht es keineswegs um die Pathologisierung er-
nahe, bei der Analyse fiktionaler Texte psychoana- zählter Figuren. Es soll nicht behauptet werden,
lytische Konzepte und Modelle in Betracht zu zie- dass Nicolo an einem Ödipuskomplex leide, dass
hen. So kann die Kenntnis des ödipalen Dreiecks es ihm also nicht gelungen sei, den frühkindlichen
helfen, die Figurenkonstellationen eines literari- ödipalen Konflikt erfolgreich zu bewältigen. Eine
schen Textes zu ermitteln, und so kann die Ein- derartige Deutung verbietet sich schon deswegen,
sicht in elementare psychische Prozesse helfen, weil es sich nicht um eine empirische Person, son-
die Struktur des Begehrens zu erschließen, die sich dern um eine fiktive Figur handelt. Gleichwohl ist
in der Figurenkonstellation eines literarischen Tex- die Anwendung psychoanalytischer Konzepte me-
tes abbildet (vgl. Schönau/Pfeiffer 2003, Loh- thodisch ergiebig, wenn diese als poetologische
mann/Pfeiffer 2006). Modelle verstanden werden. Die Vergleichbarkeit
Lacans Konzept der symbolischen Ordnung: und wechselseitige Übersetzbarkeit von Psycholo-
Diese Herangehensweise wird umso plausibler, gie und Poetologie ergibt sich aus der Tatsache,
wenn man den Begriff der symbolischen Ordnung dass es sich in beiden Fällen um symbolische Ord-
hinzunimmt, den der französische Psychoanalyti- nungen handelt.
ker Jacques Lacan (1901–1981) in die Diskussion
eingebracht hat. Lacan betont, dass der ödipale
Konflikt insofern symbolisch zu verstehen sei, als
beispielsweise die Position des Vaters nicht not- 5.5.2 | Geschlechterforschung
wendig an das betreffende Familienmitglied ge- (Gender Studies)
bunden ist, sondern durchaus auch von anderen
Personen und Institutionen repräsentiert werden Innerhalb der Geschlechterforschung sind grund-
kann, die eine entsprechende autoritative Rolle sätzlich zwei Ansätze zu unterscheiden. Der ältere
einnehmen. Ansatz ist essentialistisch, der neuere konstrukti-
vistisch geprägt (Kroll 2002).
N essentialistischer Ansatz: Geschlecht als Na- Zwei Ansätze der
tur Geschlechterforschung
Beispiel: Ödipuskomplex N konstruktivistischer Ansatz: Geschlecht als
Auch die Figurenkonstellationen und Begeh- Kultur
rensstrukturen in Kleists Findling lassen sich Das essentialistische Verständnis der Geschlech-
mit einem psychoanalytischen Zugang genauer terordnung geht von der Prämisse aus, dass das
bestimmen. In der Familie Piachi liegt eine ödi- Geschlecht eine natürliche Wesenseigenschaft
pale Dreiecksbeziehung vor, wobei Antonio die des Menschen sei. Verbindet sich der essentialisti-
Position des Vaters, Elvire die Position der Mut- sche Ansatz mit einem feministischen Anspruch,
ter und Nicolo die Position des Sohnes ein- so zielt er eher auf die Gleichberechtigung der we-
nimmt. Nicolo richtet insofern einen inzestuö- sensmäßig unterschiedlichen Geschlechter als auf
sen Wunsch auf Elvire, als er sie in der Rolle die Kritik der Geschlechterdifferenz als solcher.
Colinos zu verführen sucht; und er rivalisiert Der konstruktivistische Ansatz beruht hingegen
insofern mit Antonio, als er ihn nach dem ent- auf der Prämisse, dass die Geschlechterordnung
deckten Betrug zu enteignen sucht. Die Kastra- keine biologische Tatsache, sondern ein soziales
tionsgeste wird umgekehrt: Als der Vater nach und kulturelles Konstrukt sei. Demnach ist das
einer Peitsche greift, um den Sohn für den Geschlecht eine erlernte, gemäß den sozialen Er-
Übergriff auf die Mutter zu züchtigen, pariert wartungen einer bestimmten Epoche und einer
dieser die Drohung so frech, dass der Vater, bestimmten Kultur ausgeprägte Rolle.
»wie entwaffnet«, »die Peitsche weg[legte]« In der Terminologie der neueren Geschlechter-
(S. 246). Die Machtverhältnisse drehen sich ein forschung lässt sich der Unterschied dieser Ansät-
weiteres Mal, wenn am Ende nicht der Sohn ze daran verdeutlichen, wie anatomisches (sex)
den Vater, sondern der Vater den Sohn tötet. Zu und soziales Geschlecht (gender) einander zuge-
diesem Zeitpunkt ist Antonio längst erledigt, ordnet werden. Nach essentialistischer Vorstellung
und mit der Ermordung Nicolos besiegelt er geht aus dem anatomischen Geschlecht die soziale
sein eigenes Schicksal. Geschlechterrolle hervor; nach konstruktivisti-
scher Vorstellung ist umgekehrt das anatomische

479
5.5
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Geschlecht: Gender-
theoretische Zugänge

Geschlecht die Projektionsfläche für die soziale


Geschlechterrolle. Beispiel: Geschlechterrollen
N sex: anatomisches/biologisches Geschlecht Kleists Novelle präsentiert in der Figur der El-
N gender: soziale/kulturelle Geschlechtsidentität vire eine idealtypische Geschlechterrolle. Der
Das Verhältnis von sex und gender kehrt sich somit Erzähler lobt an der »als ein Muster der Tugend
um; nach konstruktivistischer Auffassung erfolgt umwandelnden Frau« (S. 240) »ihr mildes, von
der Blick auf den Körper, der die Geschlechtsiden- Affekten nur selten bewegtes Antlitz« (237) und
tität begründen und beweisen soll, immer schon zeigt sich beeindruckt von »Elvirens reiner
durch die Brille der sozialen Erwartungen und kul- Seele« (244). Auch ihr Talent für Textilarbeiten
turellen Zuschreibungen. Literaturwissenschaft- weist sie als mustergültige Frau aus; man liest,
lich formuliert, ist der Körper eine Allegorie des wie sie »mit einer kleinen, weiblichen Arbeit
Geschlechts. Auch diesem Ansatz wohnt ein femi- beschäftigt« (241) ist und »ihre Handarbeit weg-
nistischer Impetus inne, denn der Hinweis auf die legt[]« (243), als Nicolo den Raum betritt. Ob-
Soziale Gemachtheit soziale Gemachtheit der Geschlechterrollen kann gleich als junge Frau zur Mutterschaft bereit,
von Geschlechterrollen als Argument für ihre Veränderbarkeit dienen. Die muss Elvire, »welche von dem Alten keine Kin-
einen begründen die Forderung nach Gleichbe- der mehr zu erhalten hoffen konnte« (231), ih-
rechtigung mit der Gleichwertigkeit der (von Natur rer Bestimmung unfreiwillig entsagen. Sie ver-
aus verschiedenartigen) Geschlechter, die anderen wandelt die Not in eine Tugend und hat fortan
begründen sie mit der grundsätzlichen Gleichheit nur »wenige Wünsche in der Welt« (232). El-
der (erst durch gesellschaftliche Prozesse differen- vire, der die Rolle der Mutter versagt bleibt,
zierten) Geschlechter. Dem Einwand gegen die glänzt in der Rolle der Jungfrau.
neuere Geschlechterforschung, dass die körperli-
che Differenz der Geschlechter nicht zu bestreiten
sei, ist entgegenzuhalten, dass aus genitaler Diffe- die abgebildet würde, sondern sie wird auf dem
renz nicht notwendig eine soziale Differenz und Weg der Beschreibung konstituiert. Um derartige
eine ungleiche Machtverteilung abzuleiten ist. Zuschreibungen handelt es sich auch bei den le-
Judith Butler (geb. 1956), eine der Hauptvertre- bensweltlich anzutreffenden Geschlechterrollen,
ter/innen der konstruktivistischen Geschlechter- nur dass in ihrem Falle kein Blatt Papier, sondern
theorie, hat die zentrale, aber häufig missverstan-
dene These der Performativität des Geschlechts
aufgestellt (Butler 2009). Gemeint ist damit der Beispiel: Dekonstruktion von Geschlechterrollen
grundsätzliche Aufführungscharakter der Ge- Kleists Novelle geht weit über solche literari-
schlechterrolle. Diese wird im Lauf eines Lebens schen Konstruktionen von Geschlechterrollen
so oft wiederholt und so beharrlich eingeübt, dass hinaus, wenn sie diese zugleich dekonstruiert
am Ende der Eindruck von Natürlichkeit und Nor- und ad absurdum führt. Elvire ist ja nicht nur
malität entsteht. Butler wird oft mit dem Vorwurf Inbegriff weiblicher Tugendhaftigkeit, sondern
der postmodernen Beliebigkeit bedacht, weil ihr auch aufgrund ihres sexuellen Notstandes emp-
Beispiel der Drag Queen – also des Mannes, der fänglich für die Verführungskünste des Zieh-
auf der Bühne eine weibliche Rolle aufführt – fehl- sohnes. Diese sind in dem Maße wirksam, wie
gedeutet wird. Butler argumentiert nicht, dass das es Nicolo gelingt, das Bild des strahlenden
Geschlecht wie ein Kleidungsstück sei, das man Jünglings Colino zum Leben zu erwecken, das
nach Belieben wählen könne, sondern eher wie Elvire seit dem Tod ihres Retters in sich trägt.
eine Zwangsjacke, die einem von Geburt an aufge- Der strahlende Held gehört ebenfalls zum Re-
nötigt wird. Butler verbindet mit ihrer Analyse pertoire der traditionellen Geschlechterrollen.
eine politische Perspektive. Wenn das Geschlecht Am Ende der Novelle sind alle Mitglieder der
eine endlose Wiederholungsschleife ist, so kann Familie Piachi tot, und sie gehen nicht zuletzt
diese Schleife auf lange Sicht gelöst werden, in- an ihrem Unvermögen zugrunde, den traditio-
dem man die Wiederholungen jeweils mit einer nellen Geschlechterrollen zu entsprechen. Nur
Differenz versieht. Nicolo gelingt das Spiel, wenn er die Helden-
Schon der fiktive Charakter eines literarischen rolle Colinos aufführt; aber es ist ein böses
Textes stellt die Konstruiertheit der am Beispiel er- Spiel, dem Elvire und schließlich auch er selbst
zählter Figuren vorgeführten Geschlechterrollen zum Opfer fallen.
aus. Hinter einer Figur steht keine lebende Person,

480
5.5
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Kritische Hetero-
normativitätsforschung
(Queer Studies)

ein Körper aus Fleisch und Blut »beschrieben« Definition


wird – nicht zuletzt mit jenen Rollenbildern, die in
der Literatur angeboten werden. Die   Queer Studies, wie die kritische Heteronormativitätsforschung
im englischen Sprachraum genannt wird, entstanden in den 1990er
Jahren. Das Wort queer ist ein umgangssprachlicher, abwertend ge-
meinter Ausdruck für Homosexuelle, den die Queer Studies aufgegrif-
5.5.3 | Kritische Heteronormativitäts- fen und in eine affirmative Selbstbezeichnung umgemünzt haben. Wie
forschung (Queer Studies) die Geschlechterforschung (Gender Studies) die Geschlechterdifferenz
(Mann vs. Frau) hinterfragt, so stellt die kritische Heteronormativitäts-
Die kritische Heteronormativitätsforschung (Queer forschung die sexuelle Differenz (hetero vs. homo/bi/inter/trans) auf
Studies) knüpft an die Geschlechterforschung an. den Prüfstand.
Ihr Ziel ist die kritische Analyse des heteronor-
mativen Denkens, d. h. eines Denkens, das auf
den Oppositionen der Geschlechter (Mann vs. häufige Gleichsetzung von Geschlechter- und Frau-
Frau) und der Sexualität (Hetero- vs. Homosexuali- enforschung, als wenn das männliche Geschlecht
tät) beruht (Kraß 2005, 2009). Traditionell gilt das nicht ebenfalls der Untersuchung bedürfte. Die kri-
männliche Geschlecht als Normalfall, der sich ver- tische Heteronormativitätsforschung setzt bei die-
allgemeinern lässt (in der Linguistik spricht man sen Überlegungen an und verschiebt den Akzent
vom generischen Maskulinum), während das vom Geschlecht auf die Sexualität. Weniger hält
weibliche als das markierte Geschlecht angesehen sie die Homosexualität für erklärungsbedürftig als
wird. Ein aussagekräftiges Beispiel hierfür ist die vielmehr die Heterosexualität und die Paradoxien

Erotisches Dreieck sent. »Weniger direkt [als im Falle der Marquise Beispiel
Auch in Kleists Findling liegt ein erotisches von O …] sind solche Allusionen in der Erzäh-
Dreieck vor, das, wie bereits dargelegt, ödipal lung ›Der Findling‹, wo es, wie häufiger bei
strukturiert ist. In der Rivalität von Antonio und Kleist, um die Ersetzung des natürlichen um ein
Nicolo um dieselbe Frau zeichnet sich das homo- Adoptivkind geht – um das Verhältnis der nicht-
soziale Begehren ab, das die Männer miteinander biologischen Elternschaft« (Koschorke 2011,
verbindet. Daraus ist nicht schon der Schluss zu S. 195 f.). Antonio spielt insofern Josephs Rolle,
ziehen, dass ihre Beziehung erotisch getönt als er nicht leiblicher Vater seines Sohnes ist. El-
wäre; doch deutet der Erzähler an, dass Antonio vire spielt insofern die Rolle Marias, als sie er-
einerseits nicht mit seiner jungen Frau verkehre, heblich jünger als ihr Gatte ist, von dem sie keine
andererseits aber für die exotische Attraktivität Kinder zu erwarten hat, und ein tugendhaft-ent-
des Jünglings durchaus empfänglich sei: »Auf der sagungsvolles Leben führt. Auch die Überschrei-
Straße, vor den Toren der Stadt, sah sich der bung der Beziehung von Mutter und Sohn (El-
Landmäkler den Jungen erst recht an. Er war von vire/Nicolo) mit der Beziehung von Braut und
einer besondern, etwas starren Schönheit, seine Bräutigam (Elvire/Colino) gemahnt an Maria, die
schwarzen Haare hingen ihm, in schlichten Spit- nicht nur Mutter, sondern auch Braut Christi ist.
zen, von der Stirn herab, ein Gesicht beschat- Die für das Jesuskind vorgesehene Rolle des
tend, das, ernst und klug, seine Mienen niemals Heilsbringers wird auch Nicolo abverlangt, wenn
veränderte« (S. 231). Es ist eben diese Schönheit, er die genealogische und ökonomische Zukunft
die später Elvire zum Verhängnis wird, wenn sie der Familie sichern soll. Und der brutale Mord
in Nicolo den vergötterten Helden ihrer Jugend des Vaters am eigenen Sohn, mit dem die Novelle
wiederzuerkennen glaubt. endet, hat ein gewisses Vorbild in der biblischen
Man kann noch einen Schritt weitergehen und in Passionsgeschichte, die von der Opferung des
der paradoxen Familienkonstellation, die Anto- Gottessohns durch Gottvater erzählt. Das Modell
nio, Elvire und Nicolo bilden, eine Profanierung der Heiligen Familie, das als Grundmuster der
der Heiligen Familie erkennen. Wie Albrecht heteronormativen Kleinfamilie gilt, führt zu-
Koschorke gezeigt hat, ist die symbolische Figu- gleich die paradoxe Logik des Begehrens vor Au-
ration der Heiligen Familie als Modell der bürger- gen, auf der sie basiert.
lichen Familie in der westlichen Kultur omniprä-

481
5.5
Literatur- und kulturtheoretische Zugänge
Geschlecht: Gender-
theoretische Zugänge

der Logik, mit der sich die Heterosexualität ihrer 1993). Diese Verschränkung bildet sich in literari-
Normalität vergewissert. Zu den heteronormativen schen Texten häufig als Dreiecksbeziehung ab.
Denkfiguren gehört das von der postkolonialen Sedgwick prägt den Begriff des homosozialen Be-
Forschung beschriebene Phänomen, dass eine Kul- gehrens (homosocial desire), um das virtuelle
tur, die sich der eigenen Überlegenheit versichern Kontinuum affektiver Beziehungen zwischen Per-
will, einen ›Anderen‹ erfindet, um sich von diesem sonen desselben Geschlechts zu bezeichnen. Ihre
vorteilhaft abzugrenzen. These lautet, dass in der erotischen Rivalität zwei-
Eve Kosofsky Sedgwick (1950–2009), amerika- er Männer um eine Frau das Begehren, das zwi-
nische Literaturwissenschaftlerin, zählt neben schen den Männern zirkuliert, nicht weniger in-
Foucault und Butler zu den bedeutendsten Vor- tensiv sei als das Begehren, das sie auf die Frau
denkerinnen der Queer Studies. In ihrer Studie richten. Die Frau fungiert in solchen triangulären
Between Men: English Literature and Male Homo- Konstellationen, die Sedgwick als erotisches Drei-
social Desire zeigt sie die Verschränkung von Hete- eck (erotic triangle) bezeichnet, als Medium des
rosexualität und Homosozialität (d. h. sozialen homosozialen Begehrens, das die rivalisierenden
Verbindungen zwischen Personen desselben Ge- Männer miteinander verbindet.
schlechts wie z. B. male bonding) auf (Sedgwick

Literatur
Braun, Christina von/Stephan, Inge (Hg.): Gender Studien. Kroll, Renate (Hg.): Metzler Lexikon Gender Studies – Ge-
Eine Einführung. Tübingen 22006. schlechterforschung. Ansätze, Personen, Grundbegriffe.
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt Stuttgart/Weimar 2002.
a. M. 142009. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse.
– : Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Das Seminar, Buch XI. Berlin/Weinheim 31987.
Geschlechts. Frankfurt a. M. 62009. Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hg.): Freud-
– : Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar
Menschlichen. Berlin 2011. 2006.
Degele, Nina: Gender/Queer Studies. Eine Einführung. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg
5
München 2008. 2007.
Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Frankfurt a. M. 132005. Schönau, Walter/Pfeiffer, Joachim: Einführung in die
Jagose, Annamarie: Queer Theory. Eine Einführung. Berlin psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart/
2001. Weimar 2003.
Koschorke, Albrecht: Die heilige Familie und ihre Folgen. Schößler, Franziska: Einführung in die Gender Studies.
Frankfurt a. M. 2011. Berlin 2008.
Kraß, Andreas (Hg.): Queer denken. Gegen die Ordnung der Sedgwick, Eve Kosofsky: Between Men. English Literature
Sexualität. Frankfurt a. M. 22005. and Male Homosocial Desire. New York 21993.
– (Hg.): Queer Studies in Deutschland. Interdisziplinäre Villa, Paula-Irene: Judith Butler. Eine Einführung. Frankfurt
Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung a. M./New York 22011.
(Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge 8). Berlin Susanne Komfort-Hein
2009.
– : »Kritische Heteronormativitätsforschung. Der queer
(5.1; 5.2.3; 5.3.1; 5.3.3; 5.4.1; 5.4.3)
turn in der germanistischen Mediävistik«. In: Zeitschrift Andreas Kraß
für deutsche Philologie 128 (2009), S. 95–106. (5.1; 5.2.1; 5.2.2; 5.3.2; 5.4.2; 5.5)

482
IV. Anhang
1.1
Literaturverzeichnis

1 Literaturverzeichnis

1.1 | Sprachwissenschaft

Allgemeine Einführungen Radford, Andrew/Atkinson, Martin/Britain, David/


Clahsen, Harald/Spencer, Andrew (1999): Linguistics.
Adamzik, Kirsten (32010): Sprache: Wege zum Verstehen. An Introduction. Cambridge.
Tübingen/Basel. Schmid, Hans Ulrich (2009): Einführung in die deutsche
Aitchison, Jean (52000): Linguistics: An Introduction. Sprachgeschichte. Stuttgart/Weimar.
London. Trask, Robert Lawrence (21999): Language: The Basics.
Bergmann, Rolf/Pauly, Peter/Stricker, Stefanie (52010): London.
Einführung in die deutsche Sprachwissenschaft. Vater, Heinz (42002): Einführung in die Sprachwissenschaft.
Heidelberg. München.
Brandt, Patrick/Dettmer, Daniel/Dietrich, Rolf-Albert/ Weisler, Steven E./Milekix, Slavko (1999): Theory of
Schön, Georg (22006): Sprachwissenschaft. Ein roter Language. Cambridge, Mass.
Faden für das Studium. Köln/Weimar/Wien. Widdowson, Henri George (2000): Linguistics.
Campbell, Lyle (22004): Historical Linguistics. An Intro- Oxford.
duction. Edinburgh. Yule, George (21999): The Study of Language.
Crystal, David (1993): Die Cambridge-Enzyklopädie der Cambridge.
Sprache. Übers. und Bearb. der dt. Ausg. von Stefan
Röhrich, Ariane Böckler und Manfred Jansen. Frankfurt
a. M. Lexika, Nachschlagewerke
Dürr, Michael/Schlobinski, Peter (21994): Einführung in die
deskriptive Linguistik. Opladen. Abraham, Werner (21988): Terminologie zur neueren
Dürscheid, Christa/Kircher, Hartmut/Sowinski, Bernhard Linguistik. 2 Bände. Tübingen.
(21995): Germanistik: eine Einführung. Köln/Weimar/ Althaus, Hans Peter/Henne, Helmut/Wiegand, Herbert
Wien. Ernst (Hg.) (21980): Lexikon der Germanistischen
Fanselow, Gisbert/Felix, Sascha (1987): Sprachtheorie. Eine Linguistik. Tübingen.
Einführung in die Generative Grammatik. 2 Bände. Asher, Ronald E./Simpson, J. M.Y. (Hg.) (1994): The
Tübingen. Encyclopedia of Language and Linguistics. 10 Bände.
Fromkin, Victoria A. (Hg.) (2000): Linguistics. An Intro- Oxford/New York.
duction to Linguistic Theory. Oxford. Bright, William (Hg.) (1992): International Encyclopedia of
Grewendorf, Günther/Hamm, Fritz/Sternefeld, Wolfgang Linguistics. 4 Bände. New York/Oxford.
(111999): Sprachliches Wissen. Eine Einführung in Bußmann, Hadumod (1998): Routledge Dictionary of
moderne Theorien der grammatischen Beschreibung. Language and Linguistics. Übers. und hg. von Gregory P.
Frankfurt a. M. Trauth and Kerstin Kazzazi. London/New York.
Hoffmann, Ludger (Hg.) (32010): Sprachwissenschaft: ein – (32008): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart.
Reader. Berlin/New York. Collinge, Neville E. (Hg.) (1990): An Encyclopedia of
Keller, Jörg/Leuninger, Helen (22004): Grammatische Language. London/New York.
Strukturen & kognitive Prozesse: ein Arbeitsbuch. Conrad, Rudi (21988): Lexikon sprachwissenschaftlicher
Tübingen. Termini. Leipzig.
Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann, Paul R. Crystal, David (22000): The Penguin Dictionary of
(52004): Studienbuch Linguistik. Tübingen. Language. London.
Lühr, Rosemarie (62000): Neuhochdeutsch. Eine Einführung – (52002): A Dictionary of Linguistics and Phonetics. Oxford.
in die Sprachwissenschaft. München. Franke, Ulrike (82008): Logopädisches Handlexikon.
Meibauer, Jörg u. a. (22007): Einführung in die germanisti- München/Basel.
sche Linguistik. Stuttgart/Weimar. Glück, Helmut (Hg.) (42010): Metzler Lexikon Sprache.
Müller, Horst M. (Hg.) (22009): Arbeitsbuch Linguistik. Stuttgart/Weimar.
Paderborn. König, Werner (1994): dtv-Atlas zur deutschen Sprache.
Nübling, Damaris u. a. (22007): Historische Sprachwissen- Tafeln und Texte. München.
schaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien Kürschner, Wilfried (62008): Grammatisches Kompendium.
des Sprachwandels. Tübingen. Systematisches Verzeichnis grammatischer Grundbe-
O’Grady, William u. a. (Hg.) (2001): Contemporary griffe. Tübingen.
Linguistics. An Introduction. St. Martin’s/Boston/New Lewandowski, Theodor (61994): Linguistisches Wörterbuch.
York. 3 Bände. Heidelberg.
Pelz, Heidrun (1996): Linguistik: eine Einführung. Malmkjær, Kirsten (Hg.) (22002): The Linguistics Ency-
Hamburg. clopedia. London.
Pinker, Steven (2000): Wörter und Regeln. Die Natur der Trask, Robert Lawrence (1993): A Dictionary of Grammati-
Sprache. Heidelberg. cal Terms in Linguistics. London.
– (1995): A Dictionary of Phonetics and Phonology. London.

485
1.1
Literaturverzeichnis
Sprachwissenschaft

– (1997): A Student’s Dictionary of Language and Linguis- Goldsmith, John A. (Hg.) (1996): The Handbook of
tics. London. Phonological Theory. Oxford.
– (1999): Key Concepts in Language and Linguistics. Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hg.) (1994/96): Schrift
London. und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch
internationaler Forschung. 2 Bände. Berlin/New York.
Hardcastle, William/Laver, John (Hg.) (1999): The
Handbücher Handbook of Phonetic Science. Oxford.
Haspelmath, Martin u. a. (Hg.) (2001): Sprachtypologie und
Ágel, Vilmos u. a. (Hg.) (2003/06): Dependenz und Valenz. sprachliche Universalien. Ein internationales Handbuch.
Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen 2 Bände. Berlin/New York.
Forschung. 2 Bände. Berlin/New York. Hausmann, Franz Josef u. a. (Hg.) (1989–91): Wörterbücher.
Ammon, Ulrich/Dittmar, Norbert/Mattheier, Klaus J. (Hg.) Ein internationales Handbuch zur Lexikographie.
(1987/88): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch 3 Bände. Berlin/New York.
zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2 Bände. Helbig, Gernhard u. a. (Hg.) (2001): Deutsch als Fremdspra-
Berlin/New York. che. Ein internationales Handbuch. 2 Bände. Berlin/New
Aronoff, Mark/Rees-Miller, Janie (Hg.) (2000): The York.
Handbook of Linguistics. Oxford. Hoff, Erika/Marilyn Shatz (2006): Blackwell Handbook of
Auroux, Sylvain u. a. (Hg.) (2000/01): Geschichte der Language Development. Malden, Mass.
Sprachwissenschaft. 2 Bände. Berlin/New York. Hoffmann, Lothar/Kalverkämper, Hartwig/Wiegand,
Baltin, Mark/Collins, Chris (Hg.) (2000): The Handbook of Herbert Ernst (Hg.) (1998/99): Fachsprachen. Ein
Contemporary Syntactic Theory. Oxford. internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung
Besch, Werner u. a. (Hg.) (22003): Sprachgeschichte. Ein und Terminologiewissenschaft. 2 Bände. Berlin/New
Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und York.
ihrer Erforschung. 2 Bände. Berlin/New York. Jacobs, Joachim u. a. (Hg.) (1993/95): Syntax. Ein inter-
Birbauer, Niels/Frey, Dieter/Kuhl, Julius/Hermann, Theo/ nationales Handbuch zeitgenössischer Forschung.
Grabowski, Joachim (Hg.) (2002): Enzyklopädie der 2 Bände. Berlin/New York.
Psychologie. Sprache Band 1: Sprachproduktion. Joseph, Brian D./Janda, Richard D. (Hg.) (2002): The
Göttingen. Handbook of Historical Linguistics. Oxford.
Birbauer, Niels/Frey, Dieter/Kuhl, Julius/Friederici, Angela Köhler, Reinhard/Amman, Gabriel/Piotrowski, Rajmund G.
D. (Hg.) (1999): Enzyklopädie der Psychologie. Sprache (Hg.) (2005): Quantitative Linguistik. Ein internationales
Band 2: Sprachrezeption. Göttingen. Handbuch. Berlin/New York.
Birbauer, Niels/Frey, Dieter/Kuhl, Julius/Grimm, Lacy, Paul de (Hg.) (2007): The Cambridge Handbook of
Hannelore (Hg.) (2000): Enzyklopädie der Psychologie. Phonology. Cambridge.
Sprache Band 3: Sprachentwicklung. Göttingen. Lappin, Shalom (Hg.) (1997): The Handbook of Contem-
Booij, Geert E. u. a. (Hg.) (2000): Morphologie. Ein porary Semantic Theory. Oxford.
internationales Handbuch zur Flexion und Wortbildung. Newmeyer, Frederick J. (Hg.) (1988): Linguistics. The
Berlin/New York. Cambridge Survey. 4 Bände. Cambridge.
Brinker, Klaus u. a. (Hg.) (2000/01): Text- und Gesprächslin- Posner, Roland/Robering, Klaus/Sebeok, Thomas A. (Hg.)
guistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer (1997/98): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichen-
Forschung. 2 Bände. Berlin/New York. theoretischen Grundlagen von Natur und Kultur.
Chamber, J. K./Trudgill, Peter/Schilling-Estes, Natalie (Hg.) 2 Bände. Berlin/New York.
(2001): The Handbook of Language Variation and Ritchie, William C. /Bhatia, Tej K. (1999): Handbook of
Change. Oxford. Child Language Acquisition. San Diego.
Comrie, Bernard (Hg.) (1990): The World’s Major Langua- Schwartz, Richard G. (2009): The Handbook of Child
ges. Oxford. Language Disorders. New York.
Coulmas, Florian (Hg.) (1998): The Handbook of Sociolingu- Schwarze, Christoph/Wunderlich, Dieter (Hg.) (1985):
istics. Oxford. Handbuch der Lexikologie. Königstein, Ts.
Cruse, Alan u. a. (Hg.) (2002): Lexikologie. Ein internatio- Spencer, Andrew/Zwicky, Arnold (Hg.) (2001): The
nales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern Handbook of Morphology. Oxford.
und Wortschätzen. Berlin/New York. Stechow, Arnim von/Wunderlich, Dieter (Hg.) (1991):
Dascal, Marcelo u. a. (Hg.) (1992/96): Sprachphilosophie. Semantik. Ein internationales Handbuch der zeitgenössi-
Ein internationales Handbuch zeitgenössischer schen Forschung. Berlin/New York.
Forschung. 2 Bände. Berlin/New York. Verschueren, Jef/Östman, Jan-Ola/Blommaert, Jan/
Dryer, Matthew u. a. (Hg.) (2003): The World Atlas of Bulcaen, Chris (Hg.) (1995 ff.): Handbook of Pragmatics.
Language Structures. Oxford. Amsterdam/Philadelphia.
Fleischer, Wolfgang/Helbig, Gerhard/Lerchner, Gotthard
(Hg.) (2002): Kleine Enzyklopädie. Deutsche Sprache.
Frankfurt a. M. Grammatiken des Deutschen
Genesee, Fred/Paradis, Johanne/Crago, Martha B. (2006):
Dual Language Development and Disorders: A Dudenredaktion (Hg.) (82009): Duden. Die Grammatik
Handbook on Bilingualism and Second Language (= Duden 4). Mannheim.
Learning. Baltimore. Eisenberg, Peter (32006): Grundriss der deutschen
Goebl, Hans u. a. (Hg.) (1996/97): Kontaktlinguistik. Ein Grammatik. Band 1: Das Wort. Stuttgart/Weimar.
internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. – (32006): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 2:
2 Bände. Berlin/New York. Der Satz. Stuttgart/Weimar.
Engel, Ulrich (31996): Deutsche Grammatik. Heidelberg.

486
1.2
Literaturverzeichnis
Literaturwissenschaft

Gallmann, Peter/Sitta, Horst (62007): Deutsche Gram- CLL. Currents Contents Linguistik. Inhaltsverzeichnisse
matik. Zürich. linguistischer Fachzeitschriften. 1976 ff. Frankfurt a. M.
Glinz, Hans (1952): Die innere Form des Deutschen: Eine Eisenberg, Peter/Gusovius, Alexander (21988):
neue deutsche Grammatik. Bern. Bibliographie zur deutschen Grammatik 1984–1994.
Grimm, Jacob (1819–1837): Deutsche Grammatik. 4 Bände. Tübingen.
Göttingen. Frosch, Helmut/Schneider, Roman/Strecker, Bruno (Hg.)
Heringer, Hans Jürgen (1988): Lesen – lehren – lernen: Eine (2008): Bibliographie zur deutschen Grammatik
rezeptive Grammatik des Deutschen. Tübingen. 2003–2007. Tübingen.
Heidolph, Karl-Erich u. a. (Hg.) (1981): Grundzüge einer GERMANISTIK. Internationales Referateorgan mit
deutschen Grammatik. Berlin. bibliographischen Hinweisen. 1960 ff. Tübingen.
Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (2008): Deutsche Kürschner, Wilfried (Hg.) (1994): »Basisliteratur«. In: Ders.:
Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Taschenbuch Linguistik. Berlin, S. 68–111.
Leipzig. – (Hg.) (1994): Linguisten Handbuch. Biographischen und
Hentschel, Elke/Weydt, Harald (32003): Handbuch der bibliographischen Daten deutschsprachiger Sprach-
deutschen Grammatik. Berlin/New York. wissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler der
Paul, Hermann (1916–1920): Deutsche Grammatik. Gegenwart. 2 Bände. Tübingen.
5 Bände. Halle (Nachdruck Tübingen 1968). LA. Linguistics Abstracts. 1985 ff. London.
Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen LLBA. Linguistics and Language Behavior Abstracts. 1966 ff.
Sprache. Mannheim. San Diego, Calif.
Welke, Klaus (2011): Valenzgrammatik des Deutschen: Eine Munske, Horst Haider (31999): Erlanger Bibliographie zur
Einführung. Berlin/New York. germanistischen Sprachwissenschaft. Erlangen.
Zifonun, Gisela/Hoffmann, Ludger/Strecker, Bruno u. a. Nuyts, Jan/Verschueren, Jef (1987): A Comprehensive
(1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bände. Bibliography of Pragmatics. 4 Bände. Amsterdam/
Berlin/New York. Philadelphia.

Wörterbücher des Deutschen Zentrale Internet-Ressourcen


Duden (31999): Das große Wörterbuch der deutschen Childes: http://childes.psy.cmu.edu
Sprache. 10 Bände. Mannheim. Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS):
Duden (72011): Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim. http://www.dgfs-home.de/
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1854–1971): Deutsches Einführung in die germanistische Linguistik: http://www.
Wörterbuch. 16 Bände. Leipzig. egli-online.de
Kluge, Friedrich (252011): Etymologisches Wörterbuch der Gesellschaft für Angewandte Linguistik: http://www.
deutschen Sprache. Berlin/New York. gal-ev.de/
Paul, Hermann (102002): Deutsches Wörterbuch. Tübingen. Gesprächsforschung: http://www.gespraechsforschung.de
Wahrig-Burfeind, Renate (Hg.) (92011): Deutsches Institut für Deutsche Sprache (IDS): http://www.
Wörterbuch. Gütersloh/München. ids-mannheim.de/
Linguist List: http://www.sfs.nfil.uni-tuebingen.de/
linguist.index.html
Bibliographien Max-Planck-Institut für Psycholinguistik: http://www.mpi.
nl/world/index.htm
BL. Bibliographie Linguistique/Linguistic Bibliography. Max-Planck-Institut für Neurolinguistik: http://www.cns.
1939 ff. (jetzt:) Dordrecht/Boston/London. mpg.de/index.xml
BLL. Bibliographie linguistischer Literatur. Bearbeitet von Max-Planck-Institut für Anthropologie: http://www.eva.
Elke Suchan. 1976 ff. Frankfurt a. M. mpg.de

1.2 | Literaturwissenschaft
Lexika, Nachschlagewerke und Handbücher Brinker-Gabler, Gisela (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen.
2 Bände. München 1988.
Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. – /Ludwig, Karola/Wöffen, Angela: Lexikon deutsch-
3 Bände. Stuttgart/Weimar 2007. sprachiger Schriftstellerinnen von 1800 bis 1945.
Barck, Karlheinz u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. München 1986.
Historisches Wörterbuch. 7 Bände. Stuttgart/Weimar Brunner, Horst/Moritz, Rainer (Hg.): Literaturwissen-
2000–2005; Studienausgabe 2010. schaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik.
Best, Otto F.: Handbuch literarischer Fachbegriffe. Berlin 22006.
Definitionen und Beispiele. Frankfurt a. M. 1994. Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/Moennighoff,
Borchmeyer, Dieter/Žmegač, Viktor (Hg.): Moderne Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und
Literatur in Grundbegriffen. Tübingen 21994. Definitionen. Begründet von Günther und Irmgard
Brauneck, Manfred (Hg.): Autorenlexikon deutsch- Schweikle Stuttgart/Weimar 32007.
sprachiger Literatur des 20. Jahrhunderts. Reinbek bei Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in
Hamburg 1995. Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart/Weimar 2000.

487
1.2
Literaturverzeichnis
Literaturwissenschaft

Daemmrich, Horst S. und Ingrid G.: Themen und Motive in Wierlacher, Alois/Bogner, Andrea (Hg.): Handbuch
der Literatur. Ein Handbuch. Tübingen/Basel 21995. interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar 2003.
Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Wiese, Benno von (Hg.): Deutsche Dichter des 18. Jahr-
Hg. von Franz Josef Worstbrock. Berlin/New York 2009 ff. hunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1977.
Deutschsprachige Literatur des Mittelalters. Studien- – (Hg.): Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und Werk.
auswahl aus dem Verfasserlexikon. Hg. von Burghart Berlin 21983.
Wachinger. Berlin/New York 22000. – (Hg.): Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts. Ihr Leben
Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literatur- und Werk. Berlin 21979.
wissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm – (Hg.): Deutsche Dichter der Moderne. Ihr Leben und Werk.
Kühlmann u. a. Berlin/New York. 2011 ff. Berlin 31975.
Füssel, Stephan (Hg.): Deutsche Dichter der frühen Neuzeit – (Hg.): Deutsche Dichter der Gegenwart. Ihr Leben und
(1450–1600). Ihr Leben und Werk. Berlin 1993. Werk. Berlin 1973.
Gfrereis, Heike (Hg.): Grundbegriffe der Literaturwissen- Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart
8
schaft. Stuttgart/Weimar 1999. 2001.
Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. – : Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren. Biogra-
32 Bände. Leipzig 1854–1961. Taschenbuchausgabe phisch-bibliographisches Handwörterbuch nach Autoren
München 1999. Online: http://www.dwb.uni-trier.de A – Z. Stuttgart 42004.
Hechtfischer, Ute u. a. (Hg.): Metzler Autorinnen Lexikon. – : Lexikon der Weltliteratur. Fremdsprachige Autoren.
Stuttgart/Weimar 1998. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch nach
Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Autoren A – Z. Stuttgart 42004.
9 Bände. Tübingen 1992–2009. Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie.
Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschspra- Stuttgart/Weimar 2011.
chigen Kulturraums. Hg. von Wilhelm Kühlmann.
12 Bände. Berlin/Boston 2008–2011.
Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearbeitete Literaturgeschichten
Auflage. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. 17 Bände und
ein Registerband. Stuttgart/Weimar 2009. Online: Bahr, Ehrhard (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur.
http://www.kll-online.de Kontinuität und Veränderung. Vom Mittelalter bis zur
Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwarts- Gegenwart. 3 Bände. Tübingen 1987–88.
literatur (KLG). Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München Beutin, Wolfgang u. a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von
1978 ff. (Loseblattausgabe). CD-ROM-Ausgabe 1999 ff. den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar
7
Online: http://www.KLGonline.de/ 2008.
Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch der literarischen Brenner, Peter J.: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom
Gattungen. Stuttgart 2009. ›Ackermann‹ zu Günter Grass. Tübingen 22004.
Lexikon des Mittelalters. Hg. von Robert-Henri Bautier u. a. De Boor, Helmut/Newald, Richard (Hg.): Geschichte der
10 Bände. München/Zürich 1980–1999. deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegen-
Lücke, Hans-Karl und Susanne: Antike Mythologie. wart. München 1949 ff. [angelegt auf 12 Bände,
Ein Handbuch. Der Mythos und seine Überlieferung in teilweise bereits in mehreren Auflagen bzw. Neu-
Literatur und bildender Kunst. Wiesbaden 2005. bearbeitungen erschienen].
Lutz, Bernd/Jeßing, Benedikt (Hg.): Metzler Autoren Brunner, Horst: Geschichte der deutschen Literatur des
Lexikon. Deutschsprachige Schriftsteller vom Mittelalter Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Überblick.
bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 42010. Stuttgart 2010.
Meid, Volker (Hg.): Sachlexikon der Literatur. München Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft
2000. im hohen Mittelalter. München 112005.
– : Reclams Lexikon der deutschsprachigen Autoren. – /Cramer, Thomas/Kartschoke, Dieter: Geschichte der
Stuttgart 22006. CD-ROM-Ausgabe 2002. deutschen Literatur im Mittelalter. 3 Bände. München
3/4
– : Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Stuttgart 2000.
2
2001. CD-ROM-Ausgabe 2000. Glaser, Horst Albert (Hg.): Deutsche Literatur. Eine
Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Sozialgeschichte. 10 Bände. Reinbek bei Hamburg
Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 1980 ff.
Stuttgart/Weimar 42008. Gnüg, Hiltrud/Möhrmann, Renate (Hg.): Frauen Literatur
Opitz, Michael/Hofmann, Michael (Hg.): Metzler Lexikon Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur
DDR-Literatur. Stuttgart/Weimar 2009. Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003.
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Grimminger, Rolf (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der
Klaus Weimar. 3 Bände. Berlin u. a. 1997–2003. Text- deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur
identische Taschenbuchausgabe Berlin u. a. 2007. Gegenwart. 12 Bände. München 1980–2009.
Ricklefs, Ulfert (Hg.): Das Fischer Lexikon Literatur. 3 Bände. Heinzle, Joachim (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur
Frankfurt a. M. 1996. von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. 8 Bände.
Steinecke, Hartmut (Hg.): Deutsche Dichter des 20. Jahr- Tübingen 1984–2004.
hunderts. Berlin 1994. – (Hg.): Das Mittelalter in Daten. Literatur, Kunst,
Steinhagen, Harald/Wiese, Benno von (Hg.): Deutsche Geschichte 750–1520. Stuttgart 2002.
Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin Meid, Volker: Metzler Literatur-Chronik. Werke deutsch-
1984. sprachiger Autoren. Stuttgart/Weimar 32006.
Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Rusterholz, Peter/Solbach, Andreas (Hg.): Schweizer
Hg. von Kurt Ruh u. a. 14 Bände. Berlin/New York Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar 2007.
2
1978–2008. Unveränderter Nachdruck 2010.

488
1.2
Literaturverzeichnis
Literaturwissenschaft

Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Renner, Ursula/Bosse, Heinrich (Hg.): Literaturwissen-
Literatur. München / Wien 2002. schaft. Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg/Berlin/
Schlosser, Horst Dieter: dtv-Atlas Deutsche Literatur. Wien 22010.
München 112010. Schneider, Jost: Einführung in die moderne Literaturwissen-
Schnell, Ralf: Geschichte der deutschsprachigen Literatur schaft. Bielefeld 32001.
nach 1945. Stuttgart/Weimar 22003. Schnell, Ralf: Orientierung Germanistik. Was sie kann, was
Sørensen, Bengt Algot: Geschichte der deutschen Literatur. sie will. Reinbek bei Hamburg 2000.
2 Bände. Band 1: Vom Mittelalter bis zur Romantik. Schumacher, Meinolf: Einführung in die deutsche Literatur
München 32011; Band 2: Vom 19. Jahrhundert bis zur des Mittelalters. Darmstadt 2010.
Gegenwart. München 22002. Vogt, Jochen: Einladung zur Literaturwissenschaft. Mit
Wehrli, Max: Geschichte der deutschen Literatur im einem Vertiefungsprogramm im Internet. Paderborn
6
Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 2008.
16. Jahrhunderts. Stuttgart 31997. Weddige, Hilkert: Einführung in die germanistische
Wellbery, David E. (Hg.): Eine Neue Geschichte der Mediävistik. München 72008.
deutschen Literatur. Berlin 2007. Weimar, Klaus: Enzyklopädie der Literaturwissenschaft.
Žmegač, Viktor (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur Tübingen/Basel 21993.
vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3 Bände. in Zymner, Rüdiger (Hg.): Allgemeine Literaturwissenschaft.
4 Teilbänden. Königstein 1979–1985. Taschenbuch- Grundfragen einer besonderen Disziplin. Berlin 22001.
ausgabe Königstein 1984/85. CD-ROM-Ausgabe 1999.
– (Hg.): Kleine Geschichte der deutschen Literatur.
Weinheim 31993. Textanalyse und -interpretation
Andreotti, Mario: Die Struktur der modernen Literatur.
Allgemeine Einführungen Neue Wege in der Textinterpretation. Erzählprosa und
Lyrik. Bern/Stuttgart/Wien 42009.
Allkemper, Alo/Eke, Norbert Otto: Literaturwissenschaft. Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse.
Paderborn 32010. Stuttgart/Weimar 72009.
Arnold, Heinz Ludwig/Detering, Heinrich (Hg.): Grundzüge Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse.
der Literaturwissenschaft. München 31999. Stuttgart/Weimar 21997.
Becker, Sabina/Hummel, Christine/Sander, Gabriele: Eicher, Thomas/Wiemann, Volker: Arbeitsbuch: Literatur-
Grundkurs Literaturwissenschaft. Stuttgart 2006. wissenschaft. Paderborn 32001.
Bein, Thomas: Germanistische Mediävistik. Eine Einfüh- Felsner, Kristin/Helbig, Holger/Manz, Therese: Arbeits-
rung. Berlin 22005. buch Lyrik. Berlin 2009.
Bogdal, Klaus-Michael/Kauffmann, Kai/Mein, Georg: Fricke, Harald/Zymner, Rüdiger: Einübung in die
BA-Studium Germanistik. Ein Lehrbuch. Reinbek bei Literaturwissenschaft. Parodieren geht über Studieren.
Hamburg 2008. Paderborn 52007.
Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn (Hg.): Literatur- Hoffmann-Maxis, Angelika: Die Analyse literarischer Texte.
wissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg Einführung und Anleitung. Tübingen/Basel 2002.
7
2001. Lahn, Silke/Meister, Jan Christoph: Einführung in die
Grübel, Rainer Georg/Grüttemeier, Ralf/Lethen, Helmut: Erzähltextanalyse. Stuttgart/Weimar 2008.
BA-Studium Literaturwissenschaft. Ein Lehrbuch. Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse,
Reinbek bei Hamburg 2005. Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011.
Hübner, Gerd: Ältere deutsche Literatur. Eine Einführung. Martinez, Matias (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie,
Tübingen/Basel 2006. Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011.
Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph: Einführung in die Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die
Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Stuttgart/ Erzähltheorie. München 72007.
Weimar 22007. Marx, Peter W. (Hg.): Handbuch Drama. Theorie, Analyse,
Klausnitzer, Ralf: Literaturwissenschaft. Begriffe – Ver- Geschichte. Stuttgart/Weimar 2012.
fahren – Arbeitstechniken. Berlin/New York 2004. Müller, Oliver: Einführung in die Lyrikanalyse. Darmstadt
Klein, Dorothea: Mittelalter. Stuttgart/Weimar 2006. 2010.
Koch, Hans-Albrecht: Neuere deutsche Literaturwissen- Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.): Methoden der
schaft. Eine praxisorientierte Einführung für Anfänger. literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse.
Darmstadt 2004. Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen. Stuttgart/
Kocher, Ursula/Krehl, Carolin: Literaturwissenschaft. Weimar 2010.
Studium – Wissenschaft – Beruf. Berlin 2008. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse.
Köhnen, Ralf (Hg.): Einführung in die Deutschdidaktik. München 112001.
Stuttgart/Weimar 2011. Scherer, Stefan: Einführung in die Dramenanalyse.
Kössinger, Norbert/Müller, Stefan: Germanistische Darmstadt 2010.
Mediävistik. Deutsche Sprache und Literatur des Schneider, Jost: Einführung in die Roman-Analyse. Berlin
2
Mittelalters. Stuttgart 2011. 2006.
Pechlivanos, Miltos/Rieger, Stefan/Struck, Wolfgang/ Schößler, Franziska: Einführung in die Dramenanalyse.
Weitz, Michael (Hg.): Einführung in die Literaturwissen- Stuttgart/Weimar 2012.
schaft. Stuttgart/Weimar 1995. Schutte, Jürgen: Einführung in die Literaturinterpretation.
Petersen, Jürgen H./Wagner-Egelhaaf, Martina: Ein- Stuttgart/Weimar 52005.
führung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft.
Ein Arbeitsbuch. Berlin 82009.

489
1.2
Literaturverzeichnis
Literaturwissenschaft

Literatur- und Kulturtheorie Renner, Rolf Günter/Habekost, Engelbert (Hg.): Lexikon


literaturtheoretischer Werke. Stuttgart 1995.
Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Schmid, Ulrich (Hg.): Literaturtheorien des 20. Jahr-
Grundbegriffe – Themen – Fragestellungen. Berlin hunderts. Stuttgart 2010.
3
2001. Schößler, Franziska: Literaturwissenschaft als Kulturwissen-
Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die schaft. Eine Einführung. Tübingen/Basel 2006.
anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. – : Einführung in die Gender Studies. Berlin 2008.
Tübingen/Basel 22004. Simons, Oliver: Literaturtheorien zur Einführung. Hamburg
– : Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissen- 2009.
schaften. Reinbek bei Hamburg 42010. Wehrli, Max: Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poeto-
Becker, Sabina: Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre logische Einführung. Stuttgart 1986.
Methoden und Theorien. Reinbek bei Hamburg 2007.
Benthien, Claudia/Velten, Hans Rudolf (Hg.): Germanistik
als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue
Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg 2002. Bibliographien
Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine
Einführung. Göttingen 32005.
Bossinade, Johanna: Poststrukturalistische Literaturtheorie. Kaum ein Arbeitsbereich der Germanistik hat sich
Stuttgart/Weimar 2000. im Zeitalter des Internet so entscheidend verän-
Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. dert wie die Technik des Bibliographierens, also
Stuttgart 2002. des Ermittelns von Fachliteratur. Zwischen den
Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien –
Praxis – Schlüsselwörter. Frankfurt a. M. 2001. beiden Polen der umfassenden Online-Recherche
Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. und der raschen, sehr selektiven Orientierung in
Stuttgart 52012. Einführungsbänden gab es früher vielfältige Hilfs-
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungs- mittel wie abgeschlossene Personal- und Gattungs-
kulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 22011.
Fauser, Markus: Einführung in die Kulturwissenschaft. bibliographien, die heute meist nur noch für sehr
Darmstadt 52011. spezielle Forschungsvorhaben genutzt werden.
Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Aus diesem Grund sind hier nur die wichtigsten
Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft. periodisch erscheinenden Bibliographien genannt.
Darmstadt 52010.
Haug, Walter: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter Im Übrigen ist auf die Liste der Internet-Ressour-
von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. cen und auf die Einführung von Benedikt Jeßing
Darmstadt 32009. zu verweisen.
Hawthorn, Jeremy: Grundbegriffe moderner Literatur-
theorie. Ein Handbuch. Tübingen 1994. Bibliographie der deutschen [Sprach- und] Literaturwissen-
Jaeger, Friedrich/Liebsch, Burkhard/Rüsen, Jörn (Hg.): schaft. Begründet von Hanns Wilhelm Eppelsheimer,
Handbuch der Kulturwissenschaften. 3 Bände. fortgeführt von Clemens Köttelwesch und Bernhard
Stuttgart/Weimar 2011. Koßmann […]. Frankfurt a. M. 1971 ff. Online [für den
Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und Berichtszeitraum seit 1985]: http://www.bdsl-online
methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliogra-
Tübingen 2004. phischen Hinweisen. Tübingen 1960 ff. [Erscheint
Keller, Johannes/Miklautsch, Lydia (Hg.): Walther von der dreimal jährlich].
Vogelweide und die Literaturtheorie. Neun Modellanaly- MLA (Modern Language Association). International
sen von »Nemt, Frouwe, disen kranz«. Stuttgart 2008. Bibliography of Books and Articles on the Modern
Klawitter, Arne/Ostheimer, Michael: Literaturtheorie. Languages and Literatures. New York 1921 ff. Online:
Ansätze und Anwendungen. Göttingen 2008. http://www.mla.org/bibliograhpy
Köppe, Tilmann/Winko, Simone: Neuere Literaturtheorien. Blinn, Hansjürgen: Informationshandbuch deutsche
Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2008. Literaturwissenschaft. Mit Internet- und CD-ROM-
Kroll, Renate (Hg.): Metzler Lexikon Gender Studies – Ge- Recherche. Frankfurt a. M. 42001.
schlechterforschung. Ansätze, Personen, Grundbegriffe. Jeßing, Benedikt: Bibliographieren für Literaturwissen-
Stuttgart/Weimar 2002. schaftler. Stuttgart 22010.
Martinez, Matias/Scheffel, Michael (Hg.): Klassiker der
modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis
Judith Butler. München 2010.
Nünning, Ansgar (Hg.): Grundbegriffe der Literaturtheorie.
Zentrale Internet-Ressourcen
Stuttgart/Weimar 2004. DigiZeitschriften (Das deutsche digitale Zeitschriften-
– (Hg.): Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. archiv): http://www.digizeitschriften.de/
Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar Einladung zur Literaturwissenschaft: http://www.uni-due.
4
2008. de/einladung/
– /Nünning, Vera (Hg.): Einführung in die Kulturwissen- Erlanger Liste: http://erlangerliste.de/ressourc/liste.html
schaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspek- Germanistische Fachinformationen im WWW: http://
tiven. Stuttgart/Weimar 2008. www.ub.fu-berlin.de/internetquellen/fachinforma-
Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnis- tion/germanistik/
theorien zur Einführung. Hamburg 2008. H-Germanistik: http://www.h-germanistik.de/

490
1.3
Literaturverzeichnis
Schlüsselkompetenzen
und Praxis

Schreibzentrum der Goethe-Universität Frankfurt am Rezensionen literatur- und kulturwissenschaftlicher


Main: http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/IDLD/ Neuerscheinungen (IASL online): http://www.
kompetenzzentrum_schreiben/index.html iaslonline.de
Literaturtheorien im Netz: http://www.literaturtheorien. Rezensionsforum Literaturkritik: http//www.literatur-
de/ kritik.de
Literaturwissenschaft online: http://www.literaturwissen- Studienbibliographie zur Germanistik: http://www.
schaft-online.uni-kiel.de/ fingerhut.de/geisteswissenschaften/germanistik.
Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe online (LiGo): htm
http://www.li-go.de Virtuelle Fachbibliothek Germanistik – Germanistik im
Lyriktheorie: http://www.uni-due.de/lyriktheorie/ Netz (GIN): http://www.germanistik-im-netz.de/
beiwerk/projekt.html/ Zentrales Verzeichnis digitalisierter Drucke (ZVDD-Portal):
Mediaevum.de – Das Internetportal zur deutschen und http://www.zvdd.de/
lateinischen Literatur des Mittelalters: http://www.
mediaevum.de/

1.3 | Schlüsselkompetenzen und Praxis


Boeglin, Martha: Wissenschaftlich Arbeiten Schritt für Ludwig, Hans-Werner/Rommel, Thomas: Studium
Schritt. Gelassen und effektiv studieren. Paderborn 22011. Literaturwissenschaft. Arbeitstechniken und Neue
Delabar, Walter: Literaturwissenschaftliche Arbeitstechni- Medien. Tübingen/Basel 2003.
ken. Eine Einführung. Darmstadt 2009. Meyer-Krentler, Eckhardt/Moennighoff, Burkhard:
Esselborn-Krumbiegel, Helga: Richtig wissenschaftlich Arbeitstechniken Literaturwissenschaft. Paderborn
schreiben. Paderborn 22011. 15
2011.
Finkele, Simone/Scherer, Stefan: Germanistik studieren. Nünning, Ansgar/Sommer, Roy (Hg.): Handbuch
Eine praxisorientierte Einführung. Darmstadt 2011. Promotion. Forschung – Förderung – Finanzierung.
Frank, Andrea/Haacke, Stefanie/Lahm, Swantje: Stuttgart/Weimar 2007.
Schlüsselkompetenzen. Schreiben in Studium und Beruf. Nünning, Vera (Hg.): Schlüsselqualifikationen. Qualifikatio-
Stuttgart/Weimar 2007. nen für Studium und Beruf. Stuttgart/Weimar 2008.
Franke, Fabian/Klein, Annette/Schüller-Zwierlein, André: Rathmann, Thomas (Hg.): Texte, Wissen, Qualifikationen.
Schlüsselkompetenzen: Literatur recherchieren in Ein Wegweiser für Germanisten. Berlin 2000.
Bibliotheken und Internet. Stuttgart/Weimar 2010. Schönherr, Hartmut/Tiedemann, Paul: Internet für
Girgensohn, Katrin/Sennewald, Nadja: Schreiben lehren, Germanisten. Eine praxisorientierte Einführung.
schreiben lernen. Darmstadt 2012. Darmstadt 1999.
Göttert, Karl-Heinz: Kleine Schreibschule für Studierende. Sittig, Claudius: Arbeitstechniken Germanistik. Stuttgart
München 1999. 2008.
Händel, Daniel/Kresimon, Andrea/Schneider, Jost: Stary, Joachim/Kretschmer, Horst: Umgang mit wissen-
Schlüsselkompetenzen: Reden – Argumentieren – Über- schaftlicher Literatur. Eine Arbeitshilfe für das sozial-
zeugen. Stuttgart/Weimar 2007. und geisteswissenschaftliche Studium. Frankfurt a. M.
Jeßing, Benedikt: Arbeitstechniken des literaturwissen- 2004.
schaftlichen Studiums. Stuttgart 22005.

491
2
Abkürzungen

2 Abkürzungen

Allgemeine Abkürzungen
ebd. ebenda Jh. Jahrhundert
dt. deutsch lat. lateinisch
ED Erstdruck s. Kap. siehe Kapitel
engl. englisch schwed. schwedisch
franz. französisch span. spanisch
griech. griechisch UA Uraufführung
ital. italienisch vgl. vergleiche

Abkürzungen in den sprachwissenschaftlichen Kapiteln


aengl. altenglisch mhd. mittelhochdeutsch
ahd. althochdeutsch ndt. niederdeutsch
Akk. Akkusativ Neg. Negation
anord. altnordisch nhd. neuhochdeutsch
as. Altsächsisch Nom. Nominativ
bair. bairisch Pl. Plural
Dat. Dativ Präs. Präsens
fnhd. frühneuhochdeutsch Prät. Präteritum
frk. fränkisch Sg. Singular
Gen. Genitiv sth. stimmhaft
germ. germanisch stl. stimmlos
got. gotisch stV starkes Verb
idg. indogermanisch swV schwaches Verb
IPA International Phonetic Alphabet ugs. umgangssprachlich
kelt. keltisch

Abkürzungen in den Literaturangaben


Aufl. Auflage
Hg. Herausgeber
Ders. Derselbe
Dies. Dieselbe
Bd./Bde. Band/Bände

492
3
Die Autorinnen und Autoren

3 Die Autorinnen und Autoren

Heinz Drügh ist Professor für Neuere deutsche Literatur- Zugänge; III.5.2.1 Das Fiktive und das Imaginäre;
wissenschaft (Literaturgeschichte des 18. und III.5.2.2 Kultursemiotische Perspektiven;
19. Jahrhunderts/Ästhetik) am Institut für Deutsche III.5.3.2 Diskursgeschichte; III.5.5 Geschlecht:
Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Geschlechtertheoretische Zugänge).
Frankfurt am Main (III.1.1 Text und Textverstehen; Cécile Meier, Dr., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am
III.3.4 Klassik und Romantik; III.4.2 Erzählende Institut für Linguistik an der Goethe-Universität
Literatur; III.3.6.3 Literatur nach 1989/Popliteratur). Frankfurt am Main (II.1 Einleitung – Sprachwissen-
Hans-Heino Ewers ist Professor für Germanistik/ schaft; II.3 Semantik und Pragmatik).
Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Kinder- Christian Metz, Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
und Jugendliteratur an der Goethe-Universität Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der
Frankfurt am Main (III.3.7 Kurze Geschichte der Goethe-Universität Frankfurt am Main (III. 2.2 Literatur
Kinder- und Jugendliteratur). und Schriftmedien).
Eric Fuß, PD Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Gabriele Rohowski, Dr., ist Akademische Rätin am Institut
Institut für Linguistik an der Goethe-Universität für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-
Frankfurt am Main (II.2.2 Morphologie). Universität Frankfurt am Main (I. Zur Praxis des Germa-
Angela Grimm ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am nistikstudiums; III. 2.3 Literatur und Bildmedien;
Lehrstuhl für Deutsch als Zweitsprache am Institut für III.3.6.2 Nachkriegsliteratur/Literatur nach 1968;
Psycholinguistik und Didaktik der deutschen Sprache III.3.6.3 Literatur nach 1989/Popliteratur; III.4.3 Lyrik).
der Goethe-Universität Frankfurt am Main (II.5 Sprach- Petra Schulz ist Professorin für Deutsch als Zweitsprache –
erwerb). Theorie und Didaktik des Zweitspracherwerbs am
Agnes Jäger, Dr., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psycholinguistik und Didaktik der
Lehrstuhl für Historische Sprachwissenschaft am deutschen Sprache der Goethe-Universität Frankfurt
Institut für Linguistik der Goethe-Universität Frankfurt am Main (II.1 Einleitung – Sprachwissenschaft;
am Main (II.2.1 Phonetik und Phonologie; II.2.3 Syntax). II.5 Spracherwerb).
Susanne Komfort-Hein ist Professorin für Neuere deutsche Robert Seidel ist Professor für Neuere deutsche Literatur-
Literaturwissenschaft (Literaturgeschichte des 20. Jh.s/ wissenschaft (Frühe Neuzeit und Rhetorik) am Institut
Gegenwartsliteratur/Literaturtheorie) am Institut für für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-
Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Uni- Universität Frankfurt am Main (III.1.4 Rhetorik und
versität Frankfurt am Main (III.1.2 Literatur/Literari- Poetik; III.3.1 Einleitung – Literaturgeschichte;
zität und Fiktionalität; III.1.3 Intertextualität; III.3.3 Frühe Neuzeit; III.4.4 Drama).
III.3.5.3 Naturalismus und Jahrhundertwende; Regina Toepfer, PD Dr., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin
III.3.6.1 Avantgarde und Moderne; III.4.1 Einleitung – in der Abteilung für Ältere deutsche Literaturwissen-
Gattungen; III.5.1 Einleitung – Literatur- und kultur- schaft am Institut für Deutsche Literatur und ihre
theoretische Zugänge; III.5.2.3 Strukturalismus und Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Dekonstruktion; III.5.3.1 Kulturelle Erinnerung; (III.2.1 Literatur und auditive Medien).
III.5.3.3 Literatur und Historiographie; III.5.4.1 Literatur- Helmut Weiß ist Professor für Historische Sprachwissen-
wissenschaft und Ethnographie; III.5.4.3 Fremdheit und schaft am Institut für Linguistik der Goethe-Universität
Inter-/Transkulturalität). Frankfurt am Main (II.1 Einleitung – Sprachwissen-
Andreas Kraß ist Professor für Ältere deutsche Literatur- schaft; II.4 Sprachgeschichte).
wissenschaft am Institut für Deutsche Literatur und Bernd Zegowitz, PD Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter
ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt am am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik
Main (III.1.1 Text und Textverstehen; 3.2 Mittelalter; der Goethe-Universität Frankfurt am Main
III.5.1 Einleitung – Literatur- und kulturtheoretische (III.3.5.1 Vormärz; III.3.5.2 Realismus).

493
4
Abbildungsnachweis

4 Abbildungsnachweis

Akademie der Künste, Berlin, Peter-Weiss-Archiv, Sign. Universitätsbibliothek Heidelberg, Codex Manesse, fol. 6r,
2787–20, S. 451 S. 235; fol. 63r, S. 239; fol. 124r, S. 240; fol. 184v,
picture-alliance/dpa (Fotograf: epa apa Barbara Gindl), S. 241; fol. 273r, S. 246
S. 446 Universitätsbibliothek Heidelberg, Otfried von Weißen-
Staatsgalerie Stuttgart © Foto: Staatsgalerie Stuttgart, S. 298 burg: Evangelienbuch, fol. 17v, S. 228
© Succession Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2012,
S. 184

494
5
Personenregister

5 Personenregister
A Bahr, Hermann 333, 334, 335, Birch-Pfeiffer, Charlotte 313 Brussig, Thomas 369
Abbott, H. Porter 388 337 Bismarck, Otto von 320 Bubis, Ignatz 368
Adelung, Johann Christoph 372 Balde, Jacob 268 Blanckenburg, Friedrich Büchner, Georg 311, 313, 314,
Adorno, Theodor W. 202, 298, Ball, Hugo 346, 347 von 278, 294, 301, 392 315, 316, 318, 437, 440, 444,
305, 308, 363 Balzac, Honoré de 455 Bleibtreu, Karl 329, 330 445
Agnes von Loon-Rieneck Balzer, Bernd 322 Bligger von Steinach 238 Bühler, Karl 86
(Gräfin) 242 Barclay, John 272 Bloch, Ernst 360 Bunzel, Wolfgang 329
Aichinger, Ilse 199, 361, 363 Barlach, Ernst 343 Blüthgen, Victor 375 Burdorf, Dieter 414, 416, 421
Alberti, Conrad 331 Barth, John 369 Boas, Franz 471 Bürger, Gottfried August 277,
Albertus Magnus 225 Barthes, Roland 179, 188, 194, Bobrowski, Johannes 362, 422 280, 281, 305, 422
Albrecht von Johansdorf 238 213, 364, 389, 390, 394, 408, Boccaccio, Giovanni 303, 393 Burger, Heinz Otto 414
Alkuin 224, 228 409, 455, 456, 459 Bode, Christoph 370, 392, 399 Busch, Wilhelm 376
Altenberg, Peter 334, 336 Basedow, Johann Bernhard 372 Bodel, Jean 240 Busta, Christine 378
Altmann, Robert 369 Bassewitz, Gerdt von 376 Bodin, Jean 256 Butler, Judith 453, 480, 482
Ambrosius 224 Baßler, Moritz 5, 179, 368, 463, Bodmer, Johann Jakob 194, 243,
Amelunxen, Herbert von 213 469 244, 278 C
Améry, Jean 357 Baudelaire, Charles 414 Boehm, Gottfried 210 Calderón de la Barca, Pedro 288
Andersch, Alfred 360, 361, 362 Baumann, Hans 379 Boethius 128, 229 Calvin, Johannes 430
Andersen, Hans Christian 375 Baumgarten, Alexander Gott- Bogner, Ralf Georg 344 Campe, Joachim Heinrich 373
Angelus Silesius 268, 269 lieb 194, 293 Bohnenkamp-Renken, Anne 7, Canetti, Elias 350
Anno II. (Erzbischof von Bebel, Heinrich 261 213 Carl August (Herzog von
Köln) 230, 232 Becher, Johannes R. 344, 348, Boie, Kirsten 380 Weimar) 294
Anton Ulrich, Herzog von 360 Boileau, Nicolas 267 Carnap, Rudolf 85
Braunschweig-Lüneburg 272 Bechstein, Ludwig 375 Böll, Heinrich 8, 360, 361, 363, Carrell, Rudi 288
Anz, Thomas 345 Becker, Jurek 362, 363, 369 365, 448 Carver, Raymond 369
Anzengruber, Ludwig 324 Becker, Sabina 356 Bölsche, Wilhelm 329, 330, 337 Cassirer, Ernst 390
Apuleius 391 Beckett, Samuel 447 Boner, Ulrich 251 Catull 304
Arendt, Hannah 359 Beda Venerabilis 228 Bopp, Franz 121, 125 Celan, Paul 201, 364, 366, 416,
Arent, Wilhelm 331 Beer, Johann 272 Borchers, Elisabeth 378 424, 430
Ariost 391 Beer-Hofmann, Richard 336 Borchert, Wolfgang 361, 362, Celtis, Conrad 256, 257, 258,
Aristoteles 190, 193, 194, 209, Beethoven, Ludwig van 199 364, 447, 448, 449, 450 263, 264, 265
278, 281, 388, 389, 391, 392, Belting, Hans 209 Born, Nicolas 366 Cervantes, Miguel de 266, 284,
411, 413, 424, 433, 434, 435, Bender, Hans 424 Börne, Ludwig 313 392
438, 440, 441, 442, 443, 444, Benjamin, Walter 23, 199, 213, Bourget, Paul 334, 335 Cezanne, Paul 213
445, 446 341, 343, 348, 349, 350, 355, Brahms, Johannes 416 Chatman, Seymour 388
Armer Hartmann 232 377, 392, 393 Brandes, Johann Christian 451 Chidolue, Dagmar 381
Arnim, Achim von 288, 297, Benn, Gottfried 212, 288, 344, Brant, Sebastian 233, 257, 258, Chiellino, Gino 367
302, 306, 373, 431 346, 352, 363, 366, 414, 424, 259, 281 Chodowiecki, Daniel 372
Arp, Hans 346 425 Braun, Volker 425 Chomsky, Noam 67, 74, 124, 156
Arthur (römischer Heerführer, 5. Berg, Alban 316 Brecht, Bertolt 13, 193, 199, 341, Chrétien de Troyes 241
Jh.) 241 Berg, Lorenz 376 348, 349, 350, 352, 354, 355, Cicero, Marcus Tullius 190, 191,
Asmuth, Bernhard 440 Berg, Sibylle 364 356, 357, 360, 361, 362, 364, 229, 236
Äsop 258 Bergengruen, Werner 359 366, 377, 384, 385, 413, 416, Claudius, Matthias 207, 417
Assmann, Aleida 464, 465 Bergson, Henri 329 426, 430, 437, 439, 440, 441, Cochläus, Johannes 284
Assmann, Jan 463, 464, 465 Berliner, Emil 329 443, 444, 446, 447, 450 Comenius, Johann Amos 382
Augustinus, Aurelius 176, 178, Bernger von Horheim 238 Breitinger, Johann Jakob 194, Comte, Auguste 328
224, 262 Bernhard, Thomas 212, 362, 363, 278 Conrad, Joseph 325
Aust, Hugo 320, 324 405, 416, 424, 431, 440, 441 Brentano, Clemens 288, 292, Cook, James 292
Auster, Paul 13 Bernhard von Clairvaux 230 297, 299, 302, 305, 306, 374, Corneille, Pierre 288, 442
Austin, John L. 86, 108, 114, 115 Bernstein, Elsa 331 416, 419, 425, 431 Cotta, Johann Friedrich 206, 208
Axel, Katrin 147 Bernstein, F.W. 213 Breuer, Josef 335 Cotten, Ann 415
Béroul (normannischer Dichter, Brinkmann, Rolf Dieter 366, 368, Cresswell, Maxwell J. 85
B 12. Jh.) 242 424, 430 Creuzer, Friedrich 290
Baader, Andreas 365 Bertold von Regensburg 128 Brion, Friederike 280 Culler, Jonathan 306, 389, 407,
Baader, Johannes 346 Bertuch, Friedrich Justin 372 Broch, Hermann 350, 363 460
Bachmann, Ingeborg 200, 361, Bhabha, Homi K. 475, 476 Brockes, Barthold Heinrich 279 Czepko, Daniel 269
362, 364, 365, 366, 414, 426, Bidermann, Jacob 259, 260, 443 Brod, Max 8
430 Bierbaum, Otto Julius 376 Broich, Ulrich 189 D
Bachmann-Medick, Doris 471, Biermann, Wolf 362, 415 Bronfen, Elisabeth 355, 476, 477 Daguerre, Louis 328
476, 477 Bierwisch, Manfred 86, 96, 97, Bronnen, Arnolt 344 Dahn, Felix 323
Bachtin, Michail 188, 456 100 Brugmann, Karl 122 d’Annunzio, Gabriele 325
Biondi, Franco 367 Bruner, Jerome 156 Danton, Georges 292

495
5
Personenregister

Darwin, Charles 320, 328 Euripides 300 Fröhlich, Susanne 214 Gottsched, Luise Adelgunde
Dauthendey, Max 335, 336 Ezzo (Kleriker) 232 Frühwald, Wolfgang 308 Victorie 281
Defoe, Daniel 283, 384 Fuhrmann, Manfred 223 Grabbe, Christian Dietrich 311,
Dehmel, Paula 376 F Fulda, Daniel 469 314
Dehmel, Richard 335, 336, 376 Fähnders, Walter 327, 333, 347, Fussenegger, Gertrud 359 Gracián, Baltasar 266
Delius, F.C. 365 348, 349, 352, 353 Grafton, Anthony 18
Denneborg, Heinrich M. 379 Falke, Gustav 376 G Grass, Günter 212, 361, 363, 392
Derrida, Jacques 179, 384, 461 Fallada, Hans 350, 351, 360 Gadamer, Hans-Georg 179 Graßmann, Hermann 130
Descartes, René 276, 277 Fallersleben, Hoffmann von 375 Galfrid von Vinsauf 236, 237 Greenblatt, Stephen 469, 470
Detering, Heinrich 370 Fassbinder, Rainer Werner 214 Gansberg, Fritz 376 Gregor I. der Große (Papst) 224
Diederichsen, Dietrich 368 Fassmann, David 283 Gauss, Carl Friedrich 369 Gregor VII. (Papst) 229, 230
Dietmar von Eist 237, 238 Feuchtwanger, Lion 350, 352, Geertz, Clifford 179, 471, 472 Greif, Stefan 298
Dietrich von der Glesse 250 357, 362 Gehlen, Arnold 390 Greiffenberg, Catharina Regina
Dilthey, Wilhelm 218, 329 Fichte, Hubert 368 Geiger-Gog, Anni 377 von 211
Döblin, Alfred 183, 187, 199, Fichte, Johann Gottlieb 292, 295, Gelernter, David 175 Greiner, Ulrich 368
214, 288, 343, 346, 348, 349, 296, 301 Gellert, Christian Fürchtegott 279, Grillparzer, Franz 311, 313, 314,
350, 351, 357, 360, 361, 384, Ficino, Marsilio 257 281, 283, 392, 441 438
389 Fiedler, Leslie 364, 366 Genette, Gérard 189, 204, 302, Grimm, Jacob 121, 132
Domin, Hilde 424 Fischart, Johann 261 394, 397, 398, 429 Grimm, Jacob und Wilhelm 288,
Dörr, Volker C. 303 Fischer, Gottfried Bermann 360 Gennep, Arnold van 473 297, 311, 320, 374, 375
Downes, Daragh 326 Fleck, Konrad 247, 248 Geoffrey von Monmouth 241 Grimm, Reinhold 414
Draesner, Ulrike 213, 366, 415, Fleißer, Marieluise 350, 351, 353, George, Heinrich 214 Grimmelshausen, Hans Jakob
422, 424 354 George, Stefan 334, 335, 336, Christoffel von 271, 272, 392
Droste-Hülshoff, Annette Fleming, Ian 408 339, 352 Grimminger, Rolf 221
von 313, 315, 421 Fleming, Paul 193, 268 Gerhardt, Paul 268, 269, 417, 423 Groddeck, Wolfram 423
Duchamp, Marcel 184, 347 Flesch, Hans 355 Gernhardt, Robert 213, 366, 418, Grönemeyer, Herbert 415
Duden, Anne 366 Fludernik, Monika 405 422 Grosz, George 346, 347
Dujardin, Édouard 401 Folz, Hans 250, 260 Gervinus, Georg Gottfried 217, Grün, Max von der 365
Dürer, Albrecht 212 Fontane, Theodor 319, 321, 322, 218, 221, 289 Grünbein, Durs 362, 366
Durian, Wolf 377 323, 324, 325, 326, 327 Gessner, Salomon 283 Gryphius, Andreas 211, 266, 268,
Dürrenmatt, Friedrich 199, 212, Forster, Georg 292 Girard, René 457, 458 270, 271, 274, 275, 417, 419,
359, 361, 362, 363, 364, 441 Foucault, Michel 364, 391, 461, Glattauer, Daniel 199 425, 438, 439, 440
466, 467, 476, 482 Gleim, Johann Wilhelm Lud- Guggenmos, Josef 378
E Fowles, John 369 wig 280 Guido von Arezzo 201
Eagleton, Terry 410 Frank, Manfred 176 Gnapheus, Wilhelm 260 Güll, Friedrich 375
Ebert, Friedrich 341 Frappan, Ilse 376 Gockel, Heinz 296 Gumbrecht, Hans Ulrich 390
Eco, Umberto 20, 186 Frau Ava (Dichterin, 12. Jh.) 229, Goethe, Johann Wolfgang 7, 9, Gutenberg, Johannes 175, 204,
Edison, Thomas Alva 329 230, 232 49, 178, 187, 194, 199, 207, 205, 223
Edschmid, Kasimir 342, 343 Frauenlob, Heinrich (d. i. Heinrich 208, 212, 243, 259, 262, 276, Gutevrunt, Heinrich 249
Egger, Oswald 415 von Meißen) 246 278, 279, 280, 281, 282, 283, Gutjahr, Ortrud 475
Ehrenstein, Albert 346 Frauenstädt, Julius 321 288, 289, 290, 291, 293, 294, Gutzkow, Karl 311, 313, 316
Ehrhardt, Heinz 288 Frege, Gottlob 85, 91, 103, 114 295, 296, 298, 299, 300, 301,
Eich, Günter 192, 199, 353, 361, Freiligrath, Ferdinand 315 302, 303, 304, 305, 306, 313, H
362, 364, 366 Freud, Sigmund 304, 329, 335, 314, 322, 369, 373, 384, 387, Habermas, Jürgen 390
Eichendorff, Joseph von 288, 386, 453, 463, 467, 478 391, 392, 393, 399, 413, 414, Hacks, Peter 363, 364, 445
297, 303, 306, 307, 309, 417, Freund, Winfried 323 416, 417, 419, 420, 421, 422, Haeckel, Ernst 328
424, 427 Frevert, Ute 340 423, 424, 425, 427, 430, 437, Hagedorn, Friedrich von 280
Eichmann, Adolf 359 Frey, Jakob 261 438, 439, 440, 442, 443, 444, Hahn, Ulla 213, 366, 426, 428, 429
Eilhart von Oberg 241, 242 Freyhold, Karl F. E. von 376 445, 451, 453, 466, 469, 472, Halbe, Max 331
Einhard 197 Freytag, Gustav 321, 323, 327, 477 Halbey, Hans A. 379
Einstein, Albert 329 435, 444 Goetz, Rainald 289, 368 Halbwachs, Maurice 463, 464
Einstein, Carl 343, 346 Fried, Erich 185, 360 Goeze, Johann Melchior 284 Haller, Albrecht von 279
Eisler, Hanns 352 Friedrich I. Barbarossa Goldschmidt, Georges- Hamburger, Käte 400
Eke, Norbert Otto 311, 313 (Kaiser) 234, 235, 315 Arthur 356 Handke, Peter 213, 361, 363,
El Greco 288 Friedrich II. (Kaiser) 235, 240, Goltzius, Hendrik 211 364, 366, 368, 415
Elisabeth von Lothringen 249 245, 249 Gomringer, Eugen 211 Hart, Heinrich und Julius 329
Ende, Michael 379, 381 Friedrich II. (König von Preu- Görres, Joseph 208 Hartlaub, Gustav F. 348
Engels, Friedrich 311, 320 ßen) 276 Gottfried von Neifen 246 Hartlieb, Johannes 249
Enikel, Jans 249 Friedrich von Hausen 236, 238, Gottfried von Straßburg 128, Härtling, Peter 379, 380
Ensslin, Gudrun 365 239 177, 236, 237, 238, 241, 242, Hartmann von Aue 128, 177,
Enzensberger, Hans Magnus 9, Fries, Fritz Rudolf 368 246, 247, 391 178, 213, 224, 225, 236, 237,
363, 365, 366, 384, 413, 415 Frisch, Max 361, 363, 364, 441, Gotthelf, Jeremias 313 238, 241, 242, 243, 244, 247
Erb, Elke 415 450 Gottschall, Rudolf 321 Hašek, Jaroslav 392
Erhart, Walter 342 Frischlin, Nicodemus 259, 260, Gottsched, Johann Christoph 194, Hasenclever, Walter 344, 345
Erll, Astrid 466 443 267, 270, 277, 278, 281, 284, Hassenmüller, Heidi 380
Ernst, Max 346 Fröhlich, Gerhard 19 437, 438, 439, 442, 443 Hatvani, Paul 342, 343

496
5
Personenregister

Hauff, Wilhelm 375 Hille, Peter 425 Jahraus, Oliver 460, 461 Kling, Thomas 366
Haugen, Tormod 379 Hindemith, Paul 355 Jakobson, Roman 184, 459, 460 Klinger, Friedrich Maximi-
Hauptmann, Gerhart 331, 339, Hitchcock, Alfred 288 James, William 401 lian 276, 282
384, 436, 441, 445, 446 Hitler, Adolf 355, 357 Jandl, Ernst 200, 211, 362, 366, Klopstock, Friedrich Gott-
Hausmann, Leander 369 Hobbes, Thomas 266 414, 415 lieb 207, 279, 280, 282, 304,
Hausmann, Raoul 346, 347 Höch, Hannah 346 Jaspers, Karl 340 391, 416, 421, 466
Heartfield, John 346 Hochhuth, Rolf 361, 363, 364 Jaumann, Herbert 265 Klotz, Volker 434, 441, 442
Hebbel, Friedrich 244, 314, 324, Hoddis, Jakob van (d.i. Hans Jean Paul 297 Kluge, Alexander 365, 391
434, 438, 439, 450 Davidsohn) 344 Jelinek, Elfriede 362, 364, 369, Klussmann, Paul Gerhard 305
Heckmanns, Martin 445 Hofer, Carl 376 370 Knapp, Gerhard P. 316
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Hoffmann, E.T.A. 202, 213, 288, Jespersen, Otto 49, 146 Koeppen, Wolfgang 359, 360,
178, 292, 297, 301, 302, 307, 297, 302, 303, 304, 374, 375 Jodl, Alfred 359 361, 363
323, 391, 413, 425, 433 Hoffmann, Franz 376 Johann von Würzburg 247, 248 Kolb, Gustav 312
Hegemann, Helene 187 Hoffmann, Friedrich 378 Johannes von Tepl 251 Kollwitz, Käthe 318
Hein, Christoph 362 Hoffmann, Heinrich 212, 376 Johnson, Uwe 360, 361, 363 Kolmar, Gertrud 423
Heine, Heinrich 297, 305, 307, Hoffmannswaldau, Christian Jones, William 125 Kolumbus, Christoph 255, 256
311, 312, 313, 315, 317, 318, Hoffmann von 267, 268, 269, Joyce, James 189, 325, 351, 402, König, Friedrich 205
355, 414, 417, 421, 422, 423, 419, 423 403 Konrad II. (Kaiser) 230
427 Hoffmann von Fallersleben, August Jung-Stilling, Johann Heinrich 283 Konrad III. (König) 230, 234
Heinrich (Autor der Litanei, Heinrich 315, 423, 430 Jünger, Ernst 352, 359 Konrad IV. (König) 245
12. Jh.) 232, 233 Hofmannsthal, Hugo von 334, Jutzi, Phil 214 Konrad von Megenberg 128, 251
Heinrich II. Plantagenêt (König 335, 336, 337, 338, 353, 354, Konrad von Stoffeln 247
von England) 235 384, 420, 438, 440, 445, 446, K Konrad von Würzburg 245, 246,
Heinrich III. (Kaiser) 230 447, 449 Kaes, Anton 463 247, 248, 249, 250
Heinrich IV. (Kaiser) 229, 230, Hölderlin, Friedrich 297, 305, Kafka, Franz 13, 214, 288, 346, Kopernikus, Nikolaus 256, 266
231, 235, 238 421, 425 350, 357, 462 Köppe, Tilmann 461
Heinrich V. (Kaiser) 230 Hölty, Ludwig Christoph Kaiser, Georg 344, 345, 353, 354 Korte, Hermann 352
Heinrich VI. (Kaiser) 235 Heinrich 279, 280 Kaiser, Gerhard 304, 306, 308 Koschorke, Albrecht 11, 481
Heinrich von dem Türlin 247 Holz, Arno 330, 331, 332, 337, Kaléko, Mascha 352, 356 Koselleck, Reinhart 289, 468
Heinrich von Morungen 128, 238 338, 343, 398, 399 Kandinsky, Wassily 343, 344 Kottaner, Helene 145
Heinrich von Mügeln 246 Homer 189, 213, 244, 302, 391, Kanehl, Oskar 352 Kotzebue, August von 312, 313,
Heinrich von München 249 466, 477 Kant, Immanuel 276, 277, 292, 450
Heinrich von Veldeke 235, 236, Honigmann, Barbara 356 294, 295, 296, 299 Kracauer, Siegfried 349, 350
238, 240, 241, 242 Horaz 4, 193, 209, 236, 257, 263, Karl der Große 197, 224, 234, Kracht, Christian 369
Heise, Hans Jürgen 429 264, 265, 284, 295, 305, 386, 235, 242, 243 Kraus, Karl 354, 451
Held, Kurt 377 441 Karl I. (König von England) 266 Kreidolf, Ernst 376
Helwig, Johann 269 Horkheimer, Max 298 Karl II. der Kahle (Kaiser) 224 Kreidt, Dietrich 353
Henckell, Karl 330, 331 Horváth, Ödön von 350, 353, Karl IV. (Kaiser) 225, 245 Kremer, Detlef 297, 308
Hennings, Emmy 346 354, 441 Karl V. (Kaiser) 254 Kretzer, Max 331
Herbort von Fritzlar 245 Hosemann, Theodor 376 Karsch, Anna Luisa 418 Kristeva, Julia 187, 188, 190, 461
Herder, Johann Gottfried 207, Hrabanus Maurus 224, 227, 228 Kaschnitz, Marie Luise 361 Krüger, Anna 378
218, 278, 293, 294, 301, 306, Hrotsvit von Gandersheim 229 Kästner, Erich 350, 351, 352, Krüss, James 379
373, 431 Huber, Martin 463 359, 377, 378, 382, 419, 425 Kühn, Dieter 252
Herger 238 Huch, Ricarda 336, 359 Kaufringer, Heinrich 250 Kuijer, Guus 379
Hermann von Reichenau Huchel, Peter 353, 362 Kehlmann, Daniel 4, 212, 363, Kunert, Günter 362
(Mönch) 233 Huebner, Friedrich Markus 340 369, 370 Kürenberger, Der 128, 178, 236,
Herrad von Landsberg 210 Huelsenbeck, Richard 346 Keller, Gottfried 212, 320, 321, 237, 238, 239, 243
Herwegh, Georg 315 Huet, Abbé Pierre Daniel 392 322, 323, 324, 375 Kurz, Gerhard 178, 424, 425
Herz, Joachim 325 Hugo von St. Viktor 176, 177 Kempowski, Walter 365
Herzfelde, Wieland 346 Hugo von Trimberg 251 Keun, Irmgard 350, 351, 385 L
Hesiod 307 Huizinga, Johan 12 Kiaulehn, Walther 352 Labov, William 122
Hess, Gilbert 211 Humboldt, Alexander von 369 Kiesel, Helmuth 329 Lacan, Jacques 479
Hesse, Hermann 10, 336, 350, Hus, Jan 245 Kilian, Susanne 380 Lachmann, Renate 186, 189
362, 414 Kimmich, Dorothee 328, 333, Lampel, Peter Martin 353, 354
Hessel, Franz 349, 350 I 336, 337 Lamping, Dieter 414
Hesselt von Maastricht (Kleri- Ibsen, Henrik 320, 329, 331, 446 Kipphardt, Heinar 363, 364, 451 Lange, Wolfgang 293
ker) 242 Ignatius von Loyola 256, 260 Kirsch, Sarah 362, 366 Langgässer, Elisabeth 353
Hessus, Eobanus 257 Immermann, Karl 313 Kisch, Egon Erwin 348, 349, 350 La Roche, Sophie von 283, 392
Hey, Wilhelm 375 Innozenz III. (Papst) 235 Kittler, Friedrich A. 304 Lasker-Schüler, Else 212, 336,
Heym, Georg 344, 422 Ionesco, Eugène 447 Klaj, Johann 418 343, 344, 350, 352, 414
Heym, Stefan 360, 362 Iser, Wolfgang 454, 455 Kleist, Heinrich von 11, 292, 294, Laube, Heinrich 289, 311, 313
Heyse, Paul 321, 323 Isidor von Sevilla 128, 144 300, 305, 397, 420, 434, 435, Laubers, Diebold 204
Hieronymus 224 436, 438, 439, 441, 453, 454, Laufenberg, Heinrich 246
Hilbig, Wolfgang 362 J 455, 457, 458, 462, 467, 479, Ledig, Gert 363
Hildegard von Bingen 232 Jackendoff, Raz 93 480, 481 Lefler, Heinrich 376
Hildesheimer, Wolfgang 361 Jacobsson, Anders 381 Klibansky, Raymond 212 Lehmann, Hans-Thies 447

497
5
Personenregister

Lehr, Thomas 403 Luther, Martin 252, 255, 256, Morgenstern, Karl 301 Otfrid von Weißenburg 128, 145,
Leibniz, Gottfried Wilhelm 276, 257, 258, 259, 263, 269, 274, Morgner, Irmtraud 367 147, 177, 224, 225, 226, 227,
277 275, 284, 425, 430 Mörike, Eduard 201, 212, 313, 228, 230, 232
Lemnius, Simon 284 315, 375, 416, 417, 423, 427 Ottheinrich, Kurfürst von der
Lenau, Nikolaus 431 M Moritz, Karl Philipp 207, 293, Pfalz 262
Lentz, Michael 356 Mach, Ernst 329, 333, 335 294, 295, 303, 392 Otto IV. (Gegenkönig, Kai-
Lenz, Jakob Michael Rein- Machiavelli, Niccolò 256 Morris, Charles 81 ser) 235, 240
hold 278, 279, 281, 282, 384, Macropedius, Georg 259 Morus, Thomas 256, 283 Otto von Botenlouben 246
440, 441, 442, 444, 445 Mair, Hans 249 Moscherosch, Johann Mi- Overbeck, Christian Adolf 373
Lenz, Siegfried 361, 363 Mallarmé, Stéphane 335 chael 271, 272 Ovid 257, 304
Leonardo da Vinci 209 Mann, Heinrich 336, 343, 350, Mühsam, Erich 353 Özdamar, Emine Sevgi 367
Lepman, Jella 378 357, 360 Mülder-Bach, Inka 294
Lessing, Gotthold Ephraim 193, Mann, Klaus 350, 356 Müller, Heiner 362, 363, 364, P
194, 207, 209, 212, 278, 279, Mann, Thomas 192, 201, 325, 414, 438, 447, 450 Pander, Oswald 342, 343
281, 282, 284, 285, 294, 314, 336, 350, 356, 359, 360, 361, Müller, Herta 363, 367, 371 Pankau, Johannes G. 340, 349,
436, 437, 438, 439, 440, 442, 363, 369, 392 Müller, Klaus-Detlef 357 351, 353
443, 444, 446, 450, 466 Manz, Hans 380 Mundt, Theodor 311, 313, 324 Panofsky, Erwin 212
Lévi-Strauss, Claude 407 Mao Tse-Tung 365 Murillo, José Sánchez de 360 Paquet, Alfons 353
Lewis, David 85 Marinetti, Filippo Tommaso 339, Musil, Robert 336, 350, 360, 396, Pastior, Oskar 371, 430
Lichtenberg, Georg Chris- 343 398, 400, 406, 407, 408, 410, Paul, Hermann 122, 132
toph 283 Marius, Benjamin 476, 477 411 Pauli, Johannes 261
Lichtenstein, Alfred 344 Marner, Der 246 Muskatblut 246 Peirce, Charles S. 454
Liebermann, Max 326 Maron, Monika 362 Muybridge, Eadweard 329 Peltzer, Thomas 370
Liebknecht, Karl 341 Martial 269 Myller, Christoph Heinrich 243 Pethes, Nicolas 465
Liliencron, Detlev von 336 Martínez, Matías 388, 389, 394, Petrarca, Francesco 254, 268,
Lillo, George 282, 450 406 N 315, 430
Lindgren, Astrid 378 Marx, Karl 311, 320 Nadler, Josef 218 Petron 391
Lippe, Jürgen von der 214 Matthießen, Wilhelm 377 Naogeorg, Thomas 259, 443 Petrus Comestor 249
Lipsius, Justus 270 Matuschek, Stefan 469 Napoléon I. Bonaparte 292, 311 Peymann, Claus 366
Locke, John 276, 372 Mauthner, Fritz 334, 335 Naumann, Michael 371 Pfaffe Konrad 236, 241, 243
Loerke, Oskar 352, 353, 359 Maximilian I. 212 Neidhart 246, 248 Pfemfert, Franz 342
Logau, Friedrich von 269, 430 May, Karl 376 Nestroy, Johann 314, 324, 441 Pfister, Manfred 189
Lohenstein, Daniel Casper von Mayröcker, Friederike 362, 424 Neuber, Friederike Caroline 281 Philipp von Schwaben
266, 267, 270, 271, 272, 424, McLuhan, Marshall 175, 210 Neukirch, Benjamin 267 (König) 235, 240
437, 438 Meb, Gudrun 380 Neukrantz, Klaus 351 Piaget, Jean 156
Loher, Dea 364 Mechthild von Magdeburg 251 Neumann, Birgit 477 Pindar 305
Lombroso, Cesare 328 Mehring, Walter 352 Neumann, Gerhard 203, 291, 303 Pinthus, Kurt 343, 344
Longobardi, Giuseppe 121 Meichel, Joachim 260 Newton, Isaac 276, 304 Pippin (König der Franken) 242
Lope de Vega 288 Meid, Volker 218 Nicolai, Friedrich 283, 285, 385, Piscator, Erwin 348, 353, 354
Lothar I. (Kaiser) 224 Meinecke, Thomas 187, 368 417 Platen, August von 315, 420,
Lotichius Secundus, Petrus 257, Meinhof, Ulrike 365 Nieritz, Gustav 376 423, 428, 429, 431
258, 262, 263 Meinloh von Sevelingen 237, 238 Nietzsche, Friedrich 201, 320, Platon 12, 176, 193, 305, 388,
Lotman, Jurij 456, 459, 460 Meißner, Der 246 329, 333, 334, 335, 337, 342 454
Lüdeke, Roger 461 Meister Eckhart 128, 251 Nilsson, Ulf 381 Platter, Thomas 262
Ludwig, Fürst von Anhalt-Kö- Melanchthon, Philipp 255, 262 Noack, Hans Georg 379 Plautus 259
then 273 Melchinger, Ulrich 325 Noker (Abt Notker von Zwiefal- Pleier 247
Ludwig II. der Deutsche (König) Melissus, Paul 258 ten?) 232 Plenzdorf, Ulrich 362
224, 228 Menninghaus, Winfried 305 Nordau, Max 328 Pocci, Franz 376
Ludwig III. (König) 224, 229 Metzler, August 206 Nöstlinger, Christine 379, 380 Polyklet 289
Ludwig IV. der Bayer (Kaiser) 245 Meyer, Conrad Ferdinand 323 Notker III. von St. Gallen 128, Poschmann, Marion 416, 418,
Ludwig VII. (König von Frank- Michel, Karl Markus 365 134, 224, 229 424
reich) 235 Michelangelo Buonarotti 212 Novalis (d.i. Friedrich von Presley, Elvis 431
Ludwig XIV. (König von Frank- Miller, Johann Peter 372 Hardenberg) 209, 288, 290, Preußler, Otfried 379
reich) 266 Milton, John 271 291, 296, 297, 302, 306 Priester Arnolt 232
Ludwig XVI. (König von Frank- Mitchell, W.J.T. 210 Nünning, Ansgar 466, 468 Priester Wernher 232, 233
reich) 292 Mitscherlich, Alexander 364 Properz 304
Ludwig der Fromme (Kaiser) 224 Mitscherlich, Margarete 364 O Proust, Marcel 325
Ludwig, Otto 321, 422 Mitterer, Erika 359 Olsson, Sören 381 Psammeticus (ägyptischer
Lukács, Georg 290, 349, 355, 393 Moníková, Libuše 367 Opitz, Martin 193, 194, 195, 232, Pharao) 156
Lukrez 304 Montague, Richard 85, 103 255, 256, 257, 265, 267, 268, Pullman, Philip 381
Lumière, Auguste Marie Louis Montaigne, Michel de 15 270, 272, 273, 274, 413, 416, Pynchon, Thomas 369
Nicolas und Louis Jean 328, Montesquieu, Charles de 276 417, 420, 442
329 Montrose, Louis 469 Ostermaier, Albert 364 Q
Lütgen, Kurt 379 Mora, Terézia 367 Osthoff, Hermann 122 Quevedo, Francisco de 288
Morel, Bénédict Augustin 328 Oswald von Wolkenstein 246, Quine, Willard V.O. 160
Morgenstern, Christian 336, 376 248, 251, 252 Quintilian 190, 217, 305, 423

498
5
Personenregister

R Sallust 192 Sedgwick, Eve Kosofsky 482 Sulzer, Johann Georg 430
Raabe, Wilhelm 319, 321, 322, Salzmann, Christian Gotthilf 373 Seel, Martin 308 Sundvall, Viveca 381
323 Sand, Karl Ludwig 312 Seeßlen, Georg 212 Süskind, Patrick 187, 363, 451
Rabener, Gottlieb Wilhelm 283 Santorini, Beatrice 148 Segeberg, Harro 328 Susmann, Margarete 425
Racine, Jean 288, 442 Sappho 305 Segebrecht, Wulf 5 Szondi, Peter 290, 336, 354, 445,
Radisch, Iris 371 Saussure, Ferdinand de 84, 87, Seghers, Anna 348, 350, 355, 446
Raimund, Ferdinand 314 121, 125, 454, 458, 459, 461 356, 357, 360, 361, 363
Rakusa, Ilma 367 Saxl, Fritz 212 Seneca 229, 259, 270 T
Ramelli, Agostino 10 Scaliger, Julius Ceasar 256, 257 Serner, Walter 347 Tabori, George 363, 364
Ransmayr, Christoph 359, 363 Schadewaldt, Wolfgang 299 Seume, Johann Gottfried 300 Taine, Hippolyte 330
Rask, Rasmus 121 Schahadat, Schamma 189 Seuse, Heinrich 128, 252 Tatian (Theologe) 128, 227
Raupach, Ernst 313, 314 Scharrelmann, Heinrich 376 Shaftesbury, Anthony Ashley Tauler, Johannes 252
Rebhun, Paul 259, 260, 442 Scheffel, Michael 388, 389, 394, Cooper, 3. Earl of 285 Tawada, Yoko 367
Reger, Erik 350, 351 406 Shakespeare, William 278, 419, Tellkamp, Uwe 363, 369
Reich-Ranicki, Marcel 361, 368 Scheffel, Viktor von 321 420, 430, 438, 442 Terenz 259
Reimarus, Hermann Samuel 284 Scheidemann, Philipp 341 Shami, Rafik 367 Tetzner, Lisa 377
Reinbot von Durne 247, 248 Schelling, Friedrich Wilhelm Shaw, George Bernhard 324 Theoderich der Große (König der
Reinhardt, Carl August 376 Joseph 290, 297 Silcher, Friedrich 431 Ostgoten) 247
Reinick, Robert 375 Schenzinger, Karl Aloys 377 Simmel, Georg 328, 474 Thiess, Frank 360
Reinmar der Alte 128, 238, 246 Scherer, Wilhelm 218, 289 Simon, Ralf 300 Thomas von Bretagne 242
Reinmar von Zweter 246 Scheuchzer, Johann Jakob 279 Simonides 209 Thomas von Cantimpré 251
Reisch, Gregor 210 Schiller, Friedrich 199, 208, 276, Sinclair, Upton 354 Thomasin von Zerklaere 243,
Reitz, Edgar 365 281, 282, 285, 288, 289, 290, Snow, Catherine 156 454
Remarque, Erich Maria 350, 351 292, 293, 294, 298, 299, 301, Sokrates 12, 176 Thomasius, Christian 266, 276,
Reuchlin, Johannes 259 303, 304, 305, 306, 314, 393, Solger, Karl Wilhelm Ferdi- 277
Reuter, Bjarne 381 417, 419, 420, 422, 423, 427, nand 296 Thörne, Volker von 430
Reuter, Christian 270, 271, 272 435, 436, 437, 438, 439, 443, Sonntag, Susan 365 Thüring von Ringoltingen 249,
Richard von St. Viktor 177 445, 450 Sophokles 299, 300, 435, 436, 261
Richardson, Samuel 283, 392 Schlaf, Johannes 330, 331, 332, 478 Tibull 263, 304
Richelieu, Armand-Jean du 384, 399 Sorge, Reinhard Johannes 344 Tieck, Ludwig 202, 212, 288,
Plessis, duc de (Kardinal) 266 Schlaffer, Heinz 219, 426 Speckter, Otto 376 291, 293, 297, 300, 302, 303,
Richter, Hans Peter 379 Schlechta, Karl 302 Spee, Friedrich 268, 269 306, 374, 375, 416, 419
Richter, Hans Werner 360, 361 Schlegel, August Wilhelm 208, Spener, Philipp Jacob 266 Timotheos von Milet 203
Richter, Ludwig 376 288, 295, 413 Sperr, Martin 441 Titzmann, Michael 459
Rilke, Rainer Maria 335, 336, Schlegel, Friedrich 178, 208, 288, Spervogel 236, 238 Toller, Ernst 344, 345, 353, 354
352, 413, 424, 430 290, 291, 292, 295, 296, 297, Spiegelman, Art 212 Tolstoi, Lev 329
Ringelnatz, Joachim 352, 419 300, 302, 308, 418, 468 Spielhagen, Friedrich 321 Tomaševskij, Boris 408
Rinser, Luise 359 Schlegel, Johann Elias 278, 279, Spies, Bernhard 355 Trakl, Georg 344, 419, 422, 430
Ritzsch, Thimotheus 207 441 Spohn, Jürgen 379 Trubetzkoy, Nikolaj S. 124
Robespierre, Maximilien de 292 Schleiermacher, Friedrich Daniel Sprengel, Peter 337, 352 Tucholsky, Kurt 352
Röntgen, Conrad 329 Ernst 178, 179, 194 Staiger, Emil 414 Turner, Victor 473
Rösch, Gertrud Maria 314 Schmidt, Arno 5, 294, 359, 360, Stanzel, Franz 398, 399 Tzara, Tristan 346, 347
Rosenplüt, Hans 250, 260 361 Stauf, Renate 317
Roth, Joseph 350, 351 Schmidt, Wilhelm 124 Stefan, Verena 367 U
Rousseau, Jean-Jacques 276, Schnabel, Johann Gottfried 283 Stein, Peter 312 Ulfilas (Bischof) 204
283, 372, 373, 392 Schneider, Peter 368 Steinhöwel, Heinrich 257 Ulrich von Gutenburg 238
Rowling, Joanne K. 381 Schneider, Sabine M. 290, 293, Stern, Clara und Wilhelm 156 Ulrich von Liechtenstein 246
Rowohlt, Ernst 360 294 Sternheim, Carl 344, 345, 441 Ulrich von Pottenstein 251
Rubiner, Ludwig 344 Schneider-Lengyel, Ilse 361 Stieler, Kaspar 440 Ulrich von Zatzikhofen 241
Rückert, Friedrich 315, 375 Schnitzler, Arthur 200, 334, 336, Stierle, Karlheinz 407, 411, 416 Updike, John 404
Rudolf von Ems 247, 248, 249 337, 350, 402, 405, 447, 450 Stifter, Adalbert 311, 322, 323 Urban, Joseph 376
Rudolf von Habsburg Scholler, Dietrich 416 Storm, Theodor 323, 324, 375, Uriagereka, Juan 124
(König) 245 Schönthan, Franz von 450 376, 393
Rühm, Gerhard 211 Schönthan, Paul von 450 Stramm, August 344, 345 V
Rühmkorf, Peter 366, 414 Schottelius, Justus Georg 273 Strauß, Botho 364, 368 Velázquez, Diego Rodríguez de
Runge, Erika 365 Schubart, Christian Friedrich Streim, Gregor 340, 348, 349, Silva y 288
Daniel 280, 281, 416 350, 351 Vergil 189, 195, 240
S Schubert, Franz 199 Stricker, Der 247, 248, 250, 251 Verlaine, Paul 325, 335
Sachs, Hans 257, 258, 259, 260, Schulze, Ingo 363, 369 Strindberg, August 329 Verner, Karl 123, 131, 132, 139
262, 263, 430, 441, 443, 450 Schumacher, Eckhard 368 Strohschneider-Kohrs, Ingrid 300 Viebig, Clara 331
Sachs, Nelly 356, 360, 363, 364, Schwitters, Kurt 180, 200, 211, Stromer, Ulman 204, 245 Vogl, Joseph 386
366 212, 346, 347, 355 Struck, Karin 367 Vogt, Jochen 400
Said, Edward 476 Searle, John 86, 108, 114, 115, Stuckrad-Barre, Benjamin Voß, Johann Heinrich 280
Sakowski, Helmut 380 116, 117, 118 von 368 Voßkamp, Wilhelm 210
Saladin (Sultan von Ägyp- Sebald, W.G. 213, 356, 363, 368, Suchensinn 246
ten) 235 399 Suhrkamp, Peter 360

499
5
Personenregister

W Warbeck, Veit 261 Weyrauch, Wolfgang 361 Wolfram von Eschenbach 128,
Wace (normannischer Dichter, Warburg, Aby 212 Wezel, Johann Karl 283, 301, 392 238, 241, 247, 248, 391
12. Jh.) 241 Wassermann, Jakob 336 White, Hayden 468, 470, 472 Wood, James 404, 406, 409
Wächter, F.K. 213 Waterhouse, Peter 415 Wickram, Jörg 261 Woolf, Virginia 325, 401
Wagenknecht, Christian 415 Wedding, Alex 377 Wiegler, Paul 360 Wörishöffer, Sophie 376
Wagner, Cosima 325 Wedekind, Frank 337 Wieland, Christoph Martin 207, Worringer, Wilhelm 342, 343
Wagner, Heinrich 431 Weerth, Georg 313 283, 284, 391, 401 Wulfila (Bischof) 126, 143
Wagner, Heinrich Leopold 281, Wegmann, Nikolaus 11 Wienbarg, Ludolf 311, 312, 313 Wyle, Niklas von 257
282 Wehler, Hans-Ulrich 291, 340 Wilder Mann (Kleriker) 232, 234
Wagner, Richard 202, 244, 258, Weill, Kurt 355 Wilhelm II. (König von Preußen, Z
324, 325, 419 Weinert, Erich 352 Kaiser) 329 Zahl, Peter-Paul 365
Walden, Herwarth (d.i. Georg Weingart, Brigitte 210 Wilke, Tobias 328, 333, 336, 337 Zaimoğlu, Feridun 363
Lewin) 342, 343, 344, 345 Weise, Christian 195, 267, 270, Williram von Ebersberg 230, 231 Zeh, Juli 363
Waldenfels, Bernhard 474, 475 271, 272, 444 Winckelmann, Johann Joachim Zeller, Felicia 364
Waldis, Burkard 260 Weiß, Helmut 128 218, 288, 289, 293, 294 Zenge, Wilhelmine von 292
Wallraff, Günter 365 Weiss, Peter 356, 357, 359, 360, Winko, Simone 461 Zesen, Philipp von 272
Walser, Martin 361, 362, 363, 363, 364, 403, 404, 451 Wirnt von Grafenberg 241 Zigler und Kliphausen, Heinrich
365, 368 Weiße, Christian Felix 372 Wittenwiler, Heinrich 247, 248, Anshelm von 272
Walser, Robert 336 Wellbery, David E. 219, 294, 302, 251, 457 Zola, Émile 320, 329, 330, 331
Walser, Theresia 364 304, 407, 409, 410 Wittgenstein, Ludwig 64 Zuckmayer, Carl 353, 354, 360,
Walther von der Vogelweide 128, Welsch, Wolfgang 475 Wittmann, Reinhard 320 361, 364
151, 200, 235, 236, 238, 240, Welsh, Renate 380 Wolf, Christa 362, 363, 368, 369 Zur Mühlen, Hermynia 377
243, 246, 247, 418, 420 Werfel, Franz 344, 354, 357 Wolf, Friedrich 353, 354, 360 Zurbarán, Francisco de 288
Walzel, Oskar 209 Wernher der Gartenaere 213, 250 Wölfel, Ursula 379 Zweig, Arnold 360
Wandhoff, Haiko 213 Wernicke, Christian 269 Wolff, Christian 277 Zweig, Stefan 350, 362
Wapnewski, Peter 325 Weyergraf, Bernhard 340 Wolfger von Erla (Bischof) 243 Zymner, Rüdiger 386, 414

500
6
Sachregister

6 Sachregister

Die fett geschriebenen Seitenzah- Alltagslyrik 366 Argumentatio (Beweis- B


len weisen auf Definitionen Alltagsmythen 455 führung) 11, 192 Bairisch 43, 127, 130, 131, 137,
oder auf (Teil-)Kapitel zu einem Alltagssprache 414, 424 Argumentieren/Argumentations- 140, 146, 493
Thema/Begriff. Alphabet 197 theorie 21, 23 Ballade 305, 315, 324, 416
Alphabetisierung 175 Armenbibel 210 Barbarismus 195
A Alternation 416, 421 Ars memoriae 465 Barock 254, 255, 265–276
Abbreviatio (Kürzung) 237 Althochdeutsch (Ahd.) 31, 43, Ars poetica 386 Barockdrama 314
Abenteuer 376, 379 122, 123, 125, 127, 128, Ars versificandi 256 Basis 48, 51–53, 58–60, 124, 143,
Abenteuerroman 248, 283 130–149, 223–229, 247 Artes liberales 210, 224, 225, 146, 147
Abgesang 238, 420 Althochdeutsche Literatur 223– 255, 262 Bedeutung 81–108
Ablaut 52–56, 126, 136, 139, 140 229 Artikel 49, 54, 55, 57, 68, 69, 82, – expressive 95
Absolutismus 254, 255, 277 Alveolar 37–39, 43, 44, 129 90, 91, 126, 147, 160, 161, 166, – wörtliche 96
Absorption 188 Ambiguität 415, s. auch 167 Bedeutungserweiterung 149–151
Abstract 14 Mehrdeutigkeit Artikulation 37, 38 Bedeutungsunterschiede 94
Abstraktion 336, 339, 342, 343, Ambiguitätstest 100 Artusroman 234, 240, 241, 242, Bedeutungsverbesserung 150
344 Ambivalenz 188 244, 247 Bedeutungsverengung 150
Absurdes Theater 447 Amerikanismus 341, 352 Assimilation 43, 129, 137, 147 Bedeutungsverschlechte-
Abvers 228 Amplificatio (Erweiterung) 237 Assonanz 232, 419, 427 rung 150, 151
Accumulatio 423, 427 Anachronie 395 Ästhetik 194, 201, 291, 293, 339, Bedeutungswandel 149–151
Actio 191 Anagnorisis 435 343 Begehren 478, 479, 481
Adaption von Literatur 214 Anakoluth 422, 438 Ästhetik des Hässlichen 344 Behaviorismus 86, 155
Adaptionen, mediale Anakreontik 280 Ästhetik, experimentelle 351 Beichtlied 252
(der Kinder- und Jugend- Analepse 395 Ästhetizismus 334, 339, 342, 349 Beiseitesprechen 436
literatur) 382 Analogie, proportionale 140 Asyndeton 423 Belles-lettres 217
Adel 271, 282 Analogischer Ausgleich 138, Atonalität 201 Berliner Moderne 334
Adjektiv 49, 55, 57, 65, 70, 95, 139, 140, 141 Attribut 34, 61, 67, 68–69, 74, Berufsfelder 24–26
99, 105, 112, 149, 160 analytisch 55, 146, 148–149 77, 78, 91, 95, 102, 136, 137, Beschreibung (descriptio) 237
Adjektivphrase 65, 68, 70 Analytisches Drama 436, 446 149 Bestseller 362
Adoneus 421 Anapäst 46, 417 Aufbaustudiengang 25 Betroffenheitslyrik 366
Adverb 49, 64–78, 94, 95, 102, Anapher 419 Aufführung 198, 433 Bewegung, syntaktische
105, 144–147 Anaphorik 90, 163 Aufgesang 238, 420 (Move-D) 74–76, 78, 103, 157
Adverbial 65–67, 71–73, 77, 78, Anastrophe 422 Aufklärung 221, 254, 276–287, Bewerben/Bewerbung 26
102, 147, 233 Anfangsreim 418 290, 355, 373 Bewusstseinsbericht 400
Adverbphrase 65, 69 Animationsfilm 214 Auftakt 417, 421, 426 Bibel 255, 430
Aemulatio 186, 254 Anmut 298 Auftrittsmonolog 439 Bibeldichtung 223, 226, 227,
Affekte 193 Anrede (apostrophatio) 237 Augsburger Religionsfriede 256 230, 261, 283
Affektsteuerung 259 Anspielung 187, 189 Auschwitz 359, 363 Bibelepos 272, 280
Affrikate 39, 45–46, 128, 133, Anthologie 415, 416 Ausdrucksbedeutung 86, 87, 88 Bibelkommentar 231
134 Anthropologie 390, 472 Ausgabe letzter Hand 7, 8 Bibelkritik 277
Afrikaans 125, 126 Antike 190, 191, 192, 211, 255, Äußerungsbedeutung 86, 89, 90 Bibelübersetzung 226, 227, 228,
Agitprop-Theater 353 256, 299 Auswendiglernen (memoria) 236 274
Aisthesis 293 Antikenroman 240, 245, 247, Authentizität 187, 190, 331 Bibliographie 8, 16
Akt 435 248, 249 Autobiographie 212, 255, 261, Bibliographieren 16, 17
Aktionskunst 347 Antimodernismus 352 262, 283, 389 Bibliothek 16, 204, 224
akustische Poesie 181 Antisemitismus 341, 355 Autobiographischer Pakt 389 Bibliothekswesen 25
Akzent 46–47 Antithese 269, 423 Autobiographischer Roman 286 Biedermeier 311, 375, 376, 378
Akzentuierend-alternierendes Antonomasie 423, 428 Autonomie 187, 276, 291, 294, Bilabial 39
Verssystem 194, 267, 416 Antonymie 104, 105 295, 339 Bildbeschreibung 201
Alamode-Wesen 273 Anvers 228 Autonomieästhetik 334, 443 Bildempfänger 424
Alemannisch 127 A-parte-Sprechen 436 Autopsie 17 Bildende Kunst 209
Alexandriner 270, 279, 417, 419, Aphorismus 386 Autor 186, 188, 302 Bilderenzyklopädie 372
430, 438 Aposiopese 195, 438 Autorbegriff 226 Bildergeschichte 212
Allegorese 177, 211, 223, 425 Apostrophatio (Anrede) 237 Autorenlesung 199 Bildgedicht 211
Allegorie 177, 178, 211, 237, 246, Apostrophe 422, 423, 426 Autorenlexikon 218 Bildmedien 209–214
266, 270, 324, 344, 424, 425, Aptum 195, 254, 268 Autorinstanz 178, 186 Bildspender 424
428, 448 Äquivalenz 107 Autorintention 178 Bildungsroman 283, 301–302,
Allianzdispositiv 467 Arbitrarität 459 Autorschaft 194, 230, 236 313, 321, 322, 350, 392–393
Alliteration 239, 419, 423 Architextualität 189, 429 Auxiliar 49, 138, 140, 149, 160 Bildzeichen 294
Allomorph 53, 136, 138, 139 Archiv 25, 26, 187, 204, 368, Avantgarde 327, 339–357, 385 Bilinguität 223
Allophon 42, 43, 53, 129, 139 385, 463, 467, 469 Binär 42, 67

501
6
Sachregister

Binnenreim 418 Contradictio in adjectio 425 Disposition/Gliederung (disposi- Edition/Editionswissenschaft 7, 8


Biographie 360, 475 Creative Writing 194 tio) 14, 20, 21, 191, 192, 236 Effet de réel 409
Bispel 251 Cultural turn 371 Dispositiv 467 Eigene, das 474
Bitterfelder Weg 362 Dissertation 7, 25 Eigenname 88
Blankvers 417, 419, 438 D Dissimilation 43, 130 Einakter 336
Blockreim 418 Dadaismus 200, 339, 342, Dissonanz 188, 201 Einfühlung 178, 354
Botenbericht 435, 436 346–348 Distanz 397–402 Einheit der Handlung 442
Boulevardtheater 441 Daguerreotypie 311 Distichon 304, 419, 420, 430 Einheit der Zeit 442
Brautwerbungsgeschichte 242, Daktylus 46, 417, 419 Distinktive Merkmale Einheit des Ortes 442, 444
243, 244, 248 Darstellungs-/Schreibkompe- (Semantik) 106 Einheiten/drei Einheiten 270,
Brevitas (Kürze) 196 tenz 3 Distributionsapparat 355 278, 435, 441, 444
Brief 12, 195, 283, 334, 365 Datenbank 16, 17 Divisio 192, 193, 274 Einleitung (exordium) 20, 21,
Briefroman 199, 277, 283 Dauer 395 Doctrina 191, 257 192
Brückenmonolog 437 DDR-Literatur 362–364 Dokumentarische Literatur 365 Einpersonenstück 445, 451
Buchdruck 8, 175, 204, 209, 212, Decorum 195 Dokumentartheater 359 363, Einstrophigkeit 238
223, 254, 255 Dehnung 397 451, 447 Eintonigkeit 238
Buchepos 197 Deixis 89 Domschule 225 Ekloge 195
Buchgemeinschaft 360 Dekadenz 329, 334, 335, 336 Dorfgeschichte 313 Ekphrasis 213
Buchhandel/Buchmarkt 205– Deklarativsatz/Aussagesatz 47, Drama 193, 245, 248, 250, E-Learning 4, 9
207, 312 64, 76, 84, 87, 137, 143, 145 259–260, 270–271, 278, Elegie 256, 264, 304, 430
Buchmesse 16, 206, 214, 360 Deklination 50, 52, 54, 56, 134, 281–283, 298–300, 313–315, Eleos (Mitleid) 193, 285, 299
Buchstabenbilder 210 136, 141 323, 331, 336, 353, 433–452 Elfsilbler 419
Buchstabengedicht 347 Dekomposition 106, 107 – Bürgerliches Trauerspiel 279, Elision (Tilgung) 44, 43, 130,
Bühnenbild 433 Dekonstruktion 458–462, 480 282, 284, 314, 439, 441, 443, 134, 402
Bund proletarisch-revolutionärer Dental 37–39, 130, 131, 139, 149 450 Ellipse 397
Schriftsteller (BPRS) 348 Derivation 58–60, 43, 53, 54, 57, – Comédie larmoyante 282, 441 Elocutio 191, 193, 194, 236
Bürgerliches Trauerspiel 279, 138, 142, – Dokumentartheater 359 363, E-Mail 199
282, 284, 314, 439, 441, 443, Descriptio (Beschreibung) 237 451, 447 Emblem 211, 266
450 Detektivgeschichte 377 – Episches Theater 193, 354, Emblematik 181, 211
Bürgertum 271, 277, 282 Determination 330 362, 384, 433, 444, 446, 450 Empfindsamkeit 194, 276–287
Determinativkomposita 61, 62 – Fastnachtspiel 248, 250, 259, Enallage 422
C Determiniererphrase 68 260, 262, 438, 443, 450 Endecasillabo 417, 419, 426, 430
Camera eye 398 Determinismus 446 – Komödie 281, 284, 300, 353, Endsilbenreim 232
Capriccio 213 Deutlichkeit (perspicuitas) 195 434, 440–441 Engagiertes Theater 444
Captatio benevolentiae 192 Deutsch-deutscher Literatur- – Lustspiel 195, 271, 440 Englisch 72, 124–126, 132, 138,
Carmen figuratum 269 streit 368 – Rührendes Lustspiel 282, 441 141, 145, 147–150, 156
Chanson 352 Dezentrierung 456 – Tragikomödie 282, 384, 441 Enjambement 421, 422, 426,
Chanson de geste 243 Diachronie/diachron 34, 121, 34, – Tragödie 193, 194, 195, 270, 427, 438
Charaktere 278, 439, 447 148 281, 298, 299, 363, 434, Entelechie 299
Charakterisierung, direkte 436, Dialekt 133, 314, 446 440–441 Entfremdung 343
439 Dialektik 190, 225 – Volksstück 314, 353, 441 Entlehnung 48, 141, 142, 149
Charakterisierung, indirekte 436, Dialog 437 Dramatik 383, 385, 413 Entscheidungsmonolog 437
439 Dialogizität 187, 188 Dramenform, geschlossene 433, Entwicklungsroman 242, 313,
Chat 199 Diaspora 357 442, 444 321, 322
Chevy-Chase-Strophe 421 Dichte Beschreibung 471, 472 Dramenform, offene 433, 441, Enumeratio 422
Chiasmus 422 Dichtersozietäten 272 442, 444, 445 Enzyklopädie 7, 210, 272
Chiffre 456 Dichtertopik 413 Dramenmodell, aristoteli- Epanalepse 422, 427
Chor 299, 434 Didaktische Großdichtung 251 sches 433–441 Epenthese 43, 46, 130, 131, 137
Christianität 223 Diegese/Diegesis 300, 433 Dramenvers 420 Epigramm 196, 256, 269, 285,
Chronik 210, 249 Dietrichepik 247, 248 Drei Einheiten 278, 435, 441, 304, 430
Chroniknovelle 323 Différance 461 444 Epik 240–243, 247–250, 279,
Close reading 10, 453 Differenz 461, 471, 475, 476, Dreiheber 420 383, 385, 388, 413
Code 411, 455, 456 477, 480 Dreipersonenregel 437 Epilog 443, 446
– hermeneutischer 456 Digitale Poesie 416 Dreisilbler 417 Epipher 419
– konnotativer 456 Digitalisierte Texte/Ausgaben 18 Dreißigjähriger Krieg 255, 256, Epische Kleinformen 336
– kultureller 456 Digitalisierung 205, 207 274 Episches Präteritum 400
– proaïretischer 456 Digressio (Exkurs) 237 Dreistillehre 195 Episches Theater 193, 354, 362,
– symbolischer 456 Dilatatio (Erweiterung) 237 Dritter Raum (third space) 476, 384, 433, 444, 446, 450
Collage 214, 347, 365, 366 Dinggedicht 335 477 Epistolographie 256
Collatio (Vergleich) 237 Dingsymbol 326 Druck/Drucktechnik 205, 206, Epoche 219–221, 383
Comédie larmoyante 282, 441 Diphthong 41, 45, 46, 129, 130, 312 Epochenbewusstsein 220
Comic 212, 365 419, 132, 142 Duellsituation 437 Epochenschwelle 219
Complementizerphrase (CP) 74– Discours 370, 394, 407 Epos 195, 256, 301, 388, 392, 434
78, 144, 148 Diskurs 455, 466–468, 469 E Ereignis 407, 408
Conclusio 11 Diskursanalyse 188, 467, 469 E-Book 175, 207 Erhabene, das 299
Constantia (Standhaftigkeit) 270 Diskursgeschichte 466–468 Echogedicht 269 Erinnerung s. Gedächtnis

502
6
Sachregister

Erkenntniskrise 333, 336, 349 Expressionismusdebatte 355 Folklore, nationale 374 Gedichtzyklus 315
Erlebnislyrik 237, 279, 280, 425 Expressionistisches Drama 344 Formale Semantik 85, 107 Gegendiskurs 468
Erlebte Rede 400 Extension 85, 149, 150 Formulieren 21, 23 Gegenwartsliteratur 362,
Erotisches Dreieck 481, 482 Externe Referenz 186 Forschungsliteratur 5, 6, 12, 14, 364–371
Erstdruck 8 Extradiegetisch 404 20, 21 Geistesgeschichte 218
Erster Weltkrieg 339, 342, 346, Exzerpieren/Exzerpt 14, 23 Fotografie 209, 210, 213, 214, 348 Geistliche Dichtung 240
351 Fotomontage 366 Geistliche Lyrik 256, 269
Erstspracherwerb 31, 122, 147, F Fragment 8, 295, 297 Geistliches Spiel 198, 250, 259
157–163 Fabel 251, 261, 278, 280, 285, Fränkisch 127, 225 Gelegenheitsdichtung 256, 257,
Erwerbstyp 30, 157, 170 388, 393, 447 Französische Revolution 254, 268, 413
Erzählen 468 Fachbibliographie 17 276, 291, 292, 311, 316 Gelegenheitsgedicht 192, 426
Erzählende Literatur/Prosa 226, Fachprosa 255 Frauenforschung 481 Geminatio 422
231, 260–262, 271–272, 283, Fachsprache 6, 7 Frauenlied 239 Gender 479, 480
284, 312–313, 321–323, 331, Faksimile 8 Frauenliteratur 366 Gender Studies 478–482
336, 345, 349–352, 388–411 Faktizität 182 Freie Künste 224, 225 Genera elocutionis 195
– Autobiographischer Faktuale Texte 190 Freie Rhythmen 279, 280, 417, Generationsgedächtnis 464
Roman 286 Fallhöhe 440 429 Generisches Maskulinum 481
– Bildungsroman 283, 301–302, Familiarisierung 456 Fremdheit 471, 474–477 Genie 191, 268, 280, 444
313, 321, 322, 350, 392–393 Familiendrama 314 Frequenz 397 Genie-Ästhetik 330, 384, 387
– Briefroman 199, 277, 283 Familienzeitschrift 321 Friesisch 125, 126 Genie-Poetik 186
– Fabel 251, 261, 278, 280, 285, Fantastische, das 182 Frikativ 38, 39, 45, 127, 131–134 Genus deliberativum (beratende
388, 393, 447 Fantasy 381 Fruchtbringende Gesell- Rede) 191
– Historischer Roman 321, Faschismus 362 schaft 266, 272, 273, 274 Genus demonstrativum (Gelegen-
322/323, 350, 357 Fastnachtspiel 248, 250, 259, Frühe Neuzeit 254–287 heitsrede) 191
– Kurzgeschichte 361, 393, 448 260, 262, 438, 443, 450 Frühmittelhochdeutsche Genus grande (erhabener
– Legende 229, 233, 388, 393 Feldermodell, toplogisches 14, Literatur 223, 229–234 Stil) 195, 429
– Märchen 374, 382, 388, 393 70, 71, 74, 75, 78, 161, 166 Frühneuhochdeutsch Genus humile (schlichter
– Novelle 193, 235, 241, 245, Feministische Literatur- (Fnhd.) 128 Stil) 195
260, 303, 346, 388, 393 wissenschaft 366 Frühromantik 288 Genus iudiciale (Gerichts-
– Parabel 393, 450 Fernsehen 214, 370 Fugenmorphem 61 rede) 191
– Roman 241, 248, 271, 278, Feuilleton 284 Fugentechnik 201 Genus medium (mittlerer
283, 301, 346, 349, 350, Feuilletonroman 313 Füllungsfreiheit 306, 417, 420 Stil) 195
391–393 Fibel 212 Fünfheber 419, 420 Geräusch 198, 199
– Sage 374, 393 Figur, allegorische 442 Funktionsgedächtnis 465 Germanisch 57, 121, 124–128,
– Schelmenroman/Picaroro- Figura etymologica 419, 428 Funktionswörter 82, 142 130–133, 139, 141, 143, 149,
man 266, 272, 369, 392 Figuren 196, 423–425, 439–440 Furcht und Mitleid s. Mitleid 224
– Versepos 391 Figurengedicht 211, 269 und Furcht Gesamtkunstwerk 324, 343, 344
Erzählmuster 457 Figurenpsychologie 350 Fürstenpreis 229 Gesang 198
Erzählstil 455 Figurenrede 398, 433 Fürstenspiegel 272 Geschichtsdichtung 234
Erzählte Rede 399, 400 – autonome 398 Fußnote 18, 19 Geschichtsdrama 314, 439
Erzählte Zeit 330, 394–397 – direkte 398 Futurismus 339 Geschichtsphilosophie 218
Erzähltheorie 459 – transponierte 399 Geschlecht 340, 477, 478–482
Erzählzeit 330, 394–397 Fiktion 190, 194, 300, 302, 349, G – anatomisches (sex) 479, 480
Essay 12, 15, 295, 297 389 Galante Dichtung 280 – soziales (gender) 479, 480
Essentialismus 479 Fiktionalität 182, 183, 185, 193, Gastarbeiterliteratur 367 Geschlechterbeziehung 328
Ethnographie 471, 472 388, 454, 455 Gattung 219, 383–387, 468 Geschlechterdifferenz 460, 478,
Ethnologie 471–477 Fiktive, das 454 Gattungskonvention 385 481
Ethos 191, 437 Film 209, 210, 213, 348, 351, 370, Gattungsmischungen 385 Geschlechterforschung 478–482
Etymologie 88, 99 433 Gattungstheorie 187, 386 Geschlechterkonflikt 351
Examen/Examensphase 10, 15 Fin de Siècle 335 Gattungstradition 384 Geschlechterrolle/Geschlecht-
Exclamatio 427, 429 Fingieren 454 Gattungstrias 385 sidentität 478,480, 481
Exegese 176 Flexion 52, 53, 54–56, 57, 58, Gebet 197 Geschmack 194, 267
Exempel 237 61, 73, 123, 125–128, 134, 135, Gebrauchsliteratur 225 Gesellschaftsroman 321, 322
Exercitatio 191, 257 137, 139, 140, 141, 148, 161, Gebrauchstext 185, 226, 415, 416 Gestik 198
Exerzitien 260 166, 168, 169 Gedächtnis 186, 189, 463 Ghasel 315, 431
Exilliteratur 355–357, 360, 370 Flexionsmorphologie 135, 161, – individuelles 464 Glaubensdichtung 230
Exilroman 356 166, 168 – kollektives 463, 464 Gleichberechtigung 479, 480
Existenzialismus 449 Flugblatt/Flugschrift 212, 316, – kommunikatives 464 Gleichzeitiges Erzählen 403, 404
Exkurs (digressio) 237 349 – kulturelles 203, 464, 465, 466 Gleitlaut 38, 39
Exordium (Einleitung) 11, 192, Fokalisierung 336, 397, 397–402 Gedächtnismedium 466 Gliedern/Gliederung (disposi-
193 – externe 398 Gedächtnistheorie 463 tio) 20, 21, 192
Experiment 329, 337 – interne 398 Gedankenfigur 423 Globalisierung 371
Exposé 15, 16, 17 Fokus 93, 94 Gedankenlyrik 425 Glossar/Glosse 226
Exposition 193, 435, 436, 450 Fokus-Hintergrund-Gliederung 94 Gedicht s. Lyrik Glossierung 223
Expressionismus 339, 342–346, Fokuspartikel 94, 160, 163 Gedichtanalyse 415–429 Glottal 37–39
347, 348, 349, 448 Fokusprojektion 93 Gedichtform 413 Goethezeit 220, 313

503
6
Sachregister

Gotisch 125–127, 131, 141, 143 Heterometrisch 420 Illusionstheater 353 Isländisch 125, 126
Göttinger Hain 281 Heteronormativitätsforschung, Illustration 210 Isometrisch 420
Göttinger Sieben 311, 312 kritische 478, 481 Imaginäre, das 454 Iudicium (Urteil) 191, 268
Grammatik 21, 190, 225 Heteronymie 99 Imagination 219 i-Umlaut 129, 131, 132
– generative 6, 29, 31, 35, 67, Heterosexualität 481, 482 Imago (Bild des Emblems) 211
103, 107, 122, 124, 144, 146, Hethitisch 125 Imitatio (Nachahmung) 186, J
156, 164 Hexameter 231, 303, 304, 391, 189, 193, 254, 293, 389 Jahrhundertwende 327, 339,
– mentale 33 419, 420 Implikation 107 342, 348, 349, 352
Grammatikalisierung 121, 137, Histoire 407–411 Implikatur 81, 95, 96, 108–113, Jambus 46, 417, 426
138, 146–148 Historia litteraria 218 115, 117, 118, 148, 151, 152, 163 Jesuitendrama 259, 260, 442
Grammatikwandel 122 Historiographie 463–470 – konversationelle 94, 109, 110 Jesuitenorden 256
Grammatischer Wechsel 139 Historischer Roman 321, – skalare (Qualitäts-, Relevanz-, Jugendstil 335, 376
Grenzüberschreitung 456 322–323, 350, 357 Modalitäts-) 111 Junges Deutschland 311, 315
Grenzverschiebungstropen 423 Historisches Drama 314, 440 Impressionismus 334, 335, 342
Griechensehnsucht 298 Historisch-kritische Ausgabe 7, Indirekte Rede 399, 400 K
Griechisch 125, 130, 156, 175, 8, 18 Indogermanisch/Indoeuropä- Kabarett 433
201, 224, 115, 255 Historizität 385 isch 55, 121, 124, 125, 126, Kadenz 417, 419, 420, 426
Großstadt 328, 330, 340, 343, Hochkultur 181, 214 131, 132, 135, 141, 143, 149 – klingende 417
345, 351, 354 Hochmittelalter 141, 223, 230, Industrialisierung 317, 319 – männliche 417
Groteske, das 343, 456 240 Inflectionphrase/IP 73–78 – stumpfe 417
Gruppe 47 360, 361, 362 Hochromantik 288 Informationskompetenz 4 – weibliche 417
Gruppe 61 365 Hochzeitsgedicht 257 Informationsstruktur 93 Kahlschlag-Literatur 360, 361
Gruppengedächtnis 464 Höfische Epik 237, 240–243 Ingenium (Begabung) 191 Kalter Krieg 359
Gruppenreferat 12 Höfische Lyrik 201, 223, 234, Inhaltsverzeichnis 20, 21 Kanon 5, 8, 219, 365
Guckkastenbühne 353 237–240 Inhaltswörter 82, 142, 160 Kanonisierung 180, 386, 465
Gutenberg-Bibel 205 Höfischer Roman 234, 235, 238, Initiale 210 Kanzone 420
243, 245, 266, 267, 272 Initiation 473 Kanzonenstrophe 238, 239
H Höflichkeitsform 95 Inkompatibilität 105 Karikatur 457
Habilitation 7, 25 Holocaust 341, 355, 359 Inkunabeln 9 Karikaturenstreit 209, 210
Hagiographie 223 Homiletik 256 Innere Emigration 359 Karlsbader Beschlüsse 311, 312
Hakenstil 438 Homodiegetisch 404 Innerer Monolog 214, 336, Karnevaleske Literatur 245, 248,
Hamartia 439 Homographie 99 400–402 456, 457
Hambacher Fest 311 Homonymie 99–101, 152 Inquit-Formel 398, 400 Kasperltheater 382
Handbuch 6, 7 Homophonie 99 Inscriptio (Motto des Emb- Kastration 478, 479
Handlung (dramatische) 433, Homosexualität 481, 482 lems) 211, 266 Kasualdichtung 257
434–436, 442 Homosocial desire 482 Inspiration 257 Kasus 49–51, 54–56, 62, 65, 69,
– steigende 435 Hörbuch 10, 199, 206, 365 Inszenierung/Aufführung 198, 71, 73, 74, 123, 126, 135, 136,
– verdeckte 435 Hornskalen 112 433 148, 161, 166, 169, 170, 429
Handlungsorientierte Seman- Hörspiel 199, 354, 362, 433 Intelligenzblatt 207, 277 Katachrese 425, 427
tik 86 Humanismus 193, 254–265, 276 Intension 85, 149, 151 Katalyse 408, 409
Handlungsrolle 218 Humanistendrama 259, 260 Interaktionismus 156 Katastrophe 435, 439, 458
Handout 12 Humanität 219 Interjektion 51, 426 Katharsis 193, 443
Handschrift 8, 9, 204, 210, 415 Hybridität 476, 477 Interkulturalität 474–477 Kennzeichnung 91
Handwerkerdichtung 256 Hymne 280, 305, 429, 430 Interkulturelle Germanistik 475 Kern s. Katalyse
Happy End 441 Hypallage 422 Interkulturelle Kompetenz 24 Kettenreim 418, 427
Hässliche, das 343 Hyperbaton 423 Interkulturelle Literatur 359, 367 Kinder- und Jugendliteratur 212,
Haufenreim 418 Hyperbel 22, 111, 423, 428 Interlinearglosse/Interlinear- 372–382
Hauptsatz 74, 76, 77, 91, 113, Hyperonymie 104 version 226 Kinderlied 374
143, 148, 163, 166, 168, 422 Hypertextualität 189 Intermedialität 186, 209, 386 Kinderliteratur, antiautori-
Haupttext 436 Hyponymie 104 Internet 6, 175, 209, 210, 365, 415 täre 379
Hausarbeit 14, 16 Hypotaktisches Satzgefüge 422 Interpretatio 237 Kinderlyrik 375, 378, 382
Hebung 232, 416 Hypothese 21 Interpretation 178, 182, 460, 468 Kinderzeitschrift 372
Hebungsprall 417, 419, 426 Hysteron proteron 423 Intertextualität 186–190, 194, Kirche 224
Heiligenlegende 230, 245, 259 385, 386, 411, 463, 465, 469 Kirchenlied 258, 269
Heiligenlieder 227 I Intertextuelle Referenz 186 Klangexperiment 306
Heilsgeschichte 223 Ich-Origo 400 Interview 365 Klangfiguren 419, 423, 427
Heimatkunst 335, 351 Iconic turn 210 Intonation 46–47 Klassifikation 180, 383
Heimkehrerdrama 448 Idealismus 342 Intradiegetisch 404 Klassik 288–310, 445
Held, tragischer 439 Ideendrama 439, 440 Intrige 282, 435, 436 Klassiker 5, 8, 9, 11
Heldendichtung 197, 227 Identität 460, 461, 462, 471, 474, Intrigendrama 260 Klassizismus 266, 268, 270, 281,
Heldenepik 232, 234, 235, 475, 476, 477 Introspektion 31, 82 288, 300, 305, 437, 442, 443
240–243, 244, 245, 247, 248 Idylle 283 Inventio 21, 191, 192, 236 Klassizistisch 293, 393
Heldensage 197 Ikonographie/Ikonologie 212 Inversion 422, 427, 429 Klausur 13
Hermeneutik 175, 176–179, 194 Illokution 114, 115 Ironie 111, 152, 291, 296, 297, Klimax 423, 427, 435
Hermeneutischer Zirkel 179, 463 Illusion 294 300, 352, 436 Kloster 203, 223, 224, 229
Heterodiegetisch 404, 405 – dramatische 434, 443, 446 – dramatische 436 Klosterschule 224

504
6
Sachregister

Knittelvers 260, 262, 420, 438, Kunstautonomie 295 Lexikographie 100 – Epigramm 196, 256, 269,
450 Kunstemphase 297 Lexikon (Sprachwissen- 285, 304, 430
Kodex 204 Künstlerbiographie 213 schaft) 33, 43, 50, 54, 59, 62, – Ghasel 315, 431
Kodikologie 9 Künstlerdrama 440 66, 84, 98, 105, 106, 125, 140, – Hymne 280, 305, 429–430
Kognitive Semantik 84 Künstlernovelle 212–213 160, 161, 168 – Kanzone 420
Kohärenz 175 Künstlerroman 212–213, 302 Lexikon/Nachschlagewerk 6, 7, – Ode 256, 263, 280, 305, 420,
Kola 421 Kunstmärchen 303, 304 210 429
Kollokation 108 Kurzgeschichte 361, 393, 448 Liaison des scènes 435 – Psalm 430
Kolon 421 Libretto 200 – Sestine 430
Komik 416 L Licentia poetica 193, 254, 267 – Sonett 268, 269, 274, 275,
Kommunikation 94, 95, 436–438 L’art pour l’art 335 Liebeslyrik 315 413, 423, 426, 430
Kommunikationsapparat 355 Labial 37–39, 129 Liebesroman 242, 245, 247, 248 – Volkslied 305, 306, 431
Kommunikativer Sinn 86, 94–95 Langue 459 Lied 197, 199, 258, 416, 420 Lyriktheorie 414
Komödie 281, 284, 300, 353, 434, Langvers 232 Lieddichtung 315 Lyrisches Drama 336
440–441 Langzeile 238 Liedhaftigkeit 414 Lyrisches Ich 425
Komplementärer Gegensatz 105 Langzeilenstrophe 237, 239, 242 Liedvers 420
Komposition 54, 57, 60–63, 106, Laryngale 125 Liminalität 473 M
161, 200 Latein 39, 52, 100, 122, 125, 127, Linguistic turn 210 Macht 480
Kompositionalitätsprinzip 85, 89 128, 141, 149, 156, 184, 192, Linguistik (allgemein)/Sprach- Madrigalvers 420
Konfessionsgeschichte 218 193, 197, 205, 206, 223–229, wissenschaft 6, 7, 13, 14, 17, Male bonding 482
Kongruenz 54, 55, 73, 74, 146, 231–234, 241, 246, 249–251, 20, 21, 25, 29–35, 37, 39, 48, Manifest 347
161, 166, 168 255–267, 270, 273, 289, 302, 52, 64, 72, 81, 84, 121, 124, Märchen 374, 375, 377, 382,
Konjugation 50, 54, 56, 139 392, 438 125, 132, 458 388, 393
Konjunktion 49, 70, 71, 77, 126, Lateral 38, 39, 130 Liquid 39, 42, 45, 131–134, 200 Märe 248, 250
147, 148, 152, 160, 161, 163, 168 Lautgedicht 200, 347 Literalität 197, 198 Marginalglossen 226
Konkrete Poesie 200, 211, 269 Lautgesetz 122, 123, 131, 132, Literarizität 180, 182, 183–185, Mariendichtung 230, 234, 238
Konnotation 95, 150 138 415, 460 Marienlegende 233
Konsonant 38, 39 Lautmalerei 332, 419 Literatur der Arbeitswelt 365 Marienleich 240
Konstituente 35, 44, 64–68, Lautproduktion 37, 159, 165 Literatur- und Kulturmanage- Mariensequenz 233, 246
73–75, 93, 136, 144, 147, 163 Lautverschiebung, erste 123, ment 25 Marionettentheater 382
Konstruktivismus 479, 480 126, 131, 132 Literaturangabe 16 Markiertheit/markiert 52, 56, 57,
Kontaktdauer 164, 165, 170 Lautverschiebung, zweite 45, Literaturbegriff 180–182, 186, 70, 123, 131, 135, 136, 147,
Kontext 181, 183, 219, 469 123, 127, 132, 133, 142, 224 194, 348, 365, 385 161, 166, 168, 169
Kontextabhängigkeit 101 Lautwandel 129–123, 135 Literaturbetrieb 16, 218, 320 Märtyrerdrama 440
Kontradiktion 108 Lebensbeichte 262 Literaturgeschichte 217–221, 385 Massenmedien 340, 348, 386
Kontrapunkt 200 Lebensphilosophie 329, 342 Literaturgeschichtsschrei- Massenszenen 437
Kontrarietät 105 Leerstelle 455, 458, 467 bung 217–219 Material 347
Kontrast, phonetischer 41, 44, Legende 229, 233, 388, 393 Literaturkomödie 317 Materialität 175
158, 159, 167 Legendenepik 242 Literaturkritik 5, 194, 214, 277, Matière de Bretagne 240
Konversationsmaximen 110 Legendenroman 245, 247, 248 284, 366, 369 Matière de France 240
Konverse 105 Lehnprägung 142 Literatursatire 282 Matière de Rome 240
Konversion 58, 161 Lehnwort 141, 142, 152, 233 Literatursuche 16 Mauerschau/Teichoskopie 435,
Kooperationsprinzip 110 Lehrbuch 7 Literaturtheorie 194, 453–482 436
Kopf 58, 60, 62, 65, 66, 67, 68, Lehrdichtung 243–244, 248, Literaturverfilmung 214 Medialität 414
70, 73, 74 250–252, 279, 304 Literaturverwaltungspro- Medias in res 237
– syntaktischer 65–68, 70, 73, Lehrgedicht 195, 232, 243 gamm 16 Medien 25, 181, 199, 254, 277
74, 137, 146–147 Lehrstück 285, 286, 354, 362, Literaturverzeichnis 12, 16–18 Medienkompetenz 4, 10
Kopulativkomposita 61 363, 446 Litotes 22, 111, 423 Medienkonkurrenz 353
Körner/Waise 418 Leich 240, 245 Litterata pietas 256 Medienreflexivität 294
Körper 480 Leihbibliothek 206, 277, 312, 321 Loci 192 Medientheorie 197–214
Korpuslinguistik 82 Leitmotiv 200, 202, 448, 449 Logik 190, 225 Medienverbundangebote 382
Korrekturlesen 22, 23 Lektorat 26 Logos 191, 437 Medienwechsel 209
Kreativität 330 Lektürepraxis 6, 9 Lokalposse 441, 450 Mehrdeutigkeit 96–103, 182, 185
Kreuzreim 418, 421 Lenisierung 130 Lokution/lokutionärer As- – lexikalische 98, 99
Kreuzzugslyrik 240 Lese- und Rezeptions- pekt 115 – Skopusmehrdeutigkeit 102
Kriminalgeschichte 377 kompetenz 12, 22 Longue durée 220 – strukturelle 88, 102, 103
Krise 458 Leseausgabe 7 Lüge 89, 110, 116 Mehrsprachigkeit 356
Kultur 453 Lesedrama 229 Lustspiel 195, 271, 440 Meilensteine, syntaktische 161,
Kulturanthropologie 471 Lesegesellschaft 206, 277, 312 Lyra 201 166, 168
Kulturbegriff 340, 469, 471 Leseliste 5 Lyrik 185, 201, 237–240, Meistergesang 198, 246, 258,
Kulturgeschichte 218 Lesen 4–11, 23 246–248, 257–259, 268–270, 262, 415
Kulturkritik 363 Leser 186, 188 279–281, 304–309, 324, 330, Meistersinger 258, 262
Kulturpatriotismus 264, 273 Lesetechniken 10 335, 344, 352, 383, 385, Meistersonett 430
Kultursemiotik 455 Lesewut 206 413–431 Melodie 198, 201
Kulturtheorie/Kulturwissen- Lexem 43, 50, 52, 53, 54 – Ballade 305, 324, 416 Melodrama 451
schaften 179, 453–482 Lexikalische Semantik 81 – Elegie 256, 264, 304, 430 Melopoetik 200, 201

505
6
Sachregister

Memento mori 265, 268, 269 Montage 214, 343, 347, 348, 352, Negation 48, 92, 102, 103, 107, Oktett 430
Memoria (Auswendig- 365, 415, 429, 445, 451 108, 124, 127, 145–146, 411, Online-Chat 199
lernen) 191, 236 Montageroman/Montagetechnik 423, 427, 493 Online-Katalog 16
Mentalitätsgeschichte 218, 220 330, 351, 354 Negationstest 92 Online-Portal 16
Merkmalssemantik 107 Moral sense 285 Negative concord 146 Onomatopoesie 419
Mesalliance 456 Moraldidaxe 254 Neidhartschwank 250 OPAC (Online Public Access
Metadiegetisch 404, 405 Moralische Wochenschriften 277, Neidhartspiel 248, 250 Catalogue) 17
Metalepse 302 283 Neologismus (Neuschöp- Oper 199, 266
Metametadiegetisch 404 Moralität 447 fung) 48, 185, 345, 461 Operative Literatur 315, 318
Metapher 22, 89, 97–98, 111, Morallehre 234 Neostoizismus 270 Opitz’sche Versreform 267
151, 210, 212, 225, 228, 231, Morph 33, 53, 59 Nervenkunst 333 Oppositio 237
233, 328, 355, 361, 406, 413, Morphem 33–35, 51–53 62, 88, Nervosität 328, 336 Oral poetry 197
423, 424–426, 449, 455, 468, 136, 137, 138, 142 Netzwerktechnik 20 Oralität 197, 306
478 – frei 51, 52, 136, 138 Neubildung 48, 54, 58, 59, 142 Oratorium 266
Metasprache 32 – gebunden 51, 52, 54, 57, 58, Neue Frau 340 Ordensdrama 270, 442
Metatextualität 189 138 Neue Mythologie 291 Ordo artificialis 237
Methoden, experimentelle 157, Morphologie 48–63 Neue Sachlichkeit 347–355 Ordo naturalis 237
158 Morphologische Blockierung 59 Neue Subjektivität 366 Ordo-Denken 265, 266
Methodik 20 Multikulturalität 475 Neuer Mensch 343, 344, 346 Original 213
Metonymie 97, 99, 111, 151, 423, Multiple-Choice-Klausur 13 Neuerscheinung 16 Originalität 186, 187, 276, 387
424, 468, 478 Mündlichkeit 197–199, 236, 244 Neuhochdeutsch (Nhd.) 13, 14, Ornatus (Redeschmuck) 11, 196
Metrik 413, 416–417 Musik 199, 200–202, 209 34, 123, 128, 132, 134, 135, Orthographie 4, 8, 22
Metrum 200, 418, 420 Musikbeschreibungen 201 140, 142–145, 148–151, 248, Osterspiel 259
Migrantenliteratur 367 Musikdrama 324 420 Oxymoron 425
Migration 370, 371, 474, 475 Musiktheater 316, 433 Neuhumanismus 255
Milieu 332, 357, 441, 446 Muttersprache 361 Neulateinische Lyrik 258 P
Milieutheorie 330, 331 Mystik 251, 252, 265 Neuplatonismus 257 Paarreim 418, 420
Mimesis (Nachahmung) 193, Mythisierung 344 Neuromantik 335 Palatal 37–40, 129
209, 329, 330, 333, 344, 351, Neuschöpfung 48, 161 Palimpsest 204, 429
Mythologie 268, 291, 294
389, 433 New Historicism 469, 470, 471, Palinodie 275
Mythos 388, 407, 458
Mimik 198 472 Pantomime 433
Mind-Map 20 Newe Zeytung 212 Papier 204, 210
N
Minimalpaar 41–43 Niederländisch 125–128 Papyrus 9, 203
Nachahmung (imitatio) 186,
Minnesang 198, 235, 237, 238, Nihilismus 342, 352, 363 Parabel 393, 450
193, 254, 293, 389
240, 243, 245, 415 Nomen 49, 50, 53, 55, 59, 65, Paradigma 33, 46, 50, 55, 56,
Nachfeld 70, 71, 78, 145
– früher 237, 238, 239 68, 74, 165 132, 138, 140, 409, 410, 459
Nachkriegsliteratur 359–367
– hoher 237, 238, 239 – schwach 56 Paradigmatische Relationen
Naivität/das Naive 290, 291,
Mischgattung 384 – stark 56 s. Synonymie, Homonymie,
301, 307 Nominalphrase 65, 68–69, 74,
Mise en abyme 302 Heteronymie, Antonymie,
Mitleid und Furcht 193, 278, Napoleonische Kriege 292, 311 90, 102, 136, 163 Polysemie
285, 439, 440, 443 Narratio (Stoffdarbietung) 11, Nonsense 376, 379 Paradigmenwechsel 218
Mittelalter 176–177, 191, 193, 192 Normalität 482 Paragone 209
197, 198, 201, 203, 204, Narrativität 472 Normativität 387 Parallelismus 228, 239, 422, 423
223–253 Narratologie 388–401, 406–409, Normierung 386 Paraphrase 82, 83
Mittelfeld 70, 71, 78 466 Notation 198 Parataktisches Satzgefüge 422
Mittelhochdeutsch (Mhd.) 6, 13, Narrensatire 259, 281 Notenschrift 201 Paratext/Paratextualität 183, 189,
123, 125, 128, 130, 132, 134, Nasal 38–45, 129–134, 200 Novelization 382 416
135, 137, 141, 145, 148, 150, Nation 474 Novelle 193, 235, 241, 245, 260, Parekbase 300, 301
223, 224, 229, 231–235, 238, Nationalliteratur 475, 477 303, 346, 388, 393 Parodie 385, 429
241–243, 245–251, 420 Nationalsozialismus 335, 355, Nullfokalisierung 398, 405 Parole 459, 462
Mittelhochdeutsche Litera- 357 Paronomasie 419, 428, 438
tur 223, 229–233, 234–245 Nationaltheater 285 O Pars pro toto 423
Mnemotechnik 465 Nationalversammlung 312 Objekt 30, 50, 61, 65–67, 72–75, Partikel 50, 81, 92
Moderationskompetenz 3, 24 Nativismus 156, 164 77, 78, 124, 136, 137, 143–148, Partitur 200
Moderne 187, 288, 290, 291, Natura 191, 257 156, 162, 163, 166, 169, 236 Passionsspiel 259, 442
293, 329, 333, 339–357, 444, Naturalismus 316, 327, 329–333, Objektsprache 32 Pastiche 189
446–449 339, 342, 343, 445, 446 Objet trouvé 347 Pathologisierung 479
Modernität 290, 294, 297, 307 Naturdeutung 231 Obstruent 38 Pathos 191, 437
Modularität 157 Naturform 387, 413, 433 Ode 256, 263, 280, 305, 420, 429 Pause 397
Modus 394, 397–402 Naturlyrik 221, 353, 378 Odenstrophe 305, 420, 421, 429 Pentameter 419, 420
Monodrama 433, 451 Nebensatz 49, 71, 72, 76–78, – alkäische 305, 421, 429 Performance 347
Monographie 7, 16, 17 143–145, 147, 148, 161–163, – asklepiadeische 305, 421, 429 Performanz 198, 199
Monolog 331, 436, 437 166, 168, 170, 399, 422 – sapphische 264, 420, 429 Performativ (Verb) 113, 114
– epischer 437 Nebensilbenabschwächung 128, Oedipuskomplex 478, 479 Performativhypothese 114
– innerer 214, 336, 400–402 130, 131, 134, 135 Officia oratoris 191, 194 Performativität 480
Monologizität 188 Nebentext 436 Oktave 421 Pergament 9, 204, 210

506
6
Sachregister

Periodisierung 219 Possessivkomposita 61 Psalm 430 Religiöse Dichtung 238, 240


Peripetie 435, 450 Postcolonial turn 371 Psychoanalyse 329, 336, 478, Religiöse Gebrauchstexte 226, 230
Periphrase (Umschreibung) 237, Postdramatisches Theater 447 479 Renaissance 254, 260
423 Postkoloniale Kulturtheorie 475, Publikum 198 Reportage 349, 365
Perlokution/perlokutionärer 476 Puritas 195 Repräsentation 471, 477
Aspekt 115 Postkolonialismus 476, 482 Reproduktion 213
Peroratio 11, 192 Postmoderne 194, 369 Q Restauration 311, 314
Persiflage 189 Postmodernes Theater 444 Quadrivium 225 Resümee 20, 21
Personendarstellung 438–440 Poststrukturalismus 179, 187, Qualifikationsschrift 7 Retardierendes Moment 435
Personenverzeichnis 436 460 Quantor 102–103, 105, 109, 162, Revolutionsdrama 291
Personifikation 237, 345, 424, Prädikat 65 166 Reyen 270
425, 428, 429 Prädikativ 65, 66, 71, 74, 77 Quartett 274, 430 Rezension 16
Perspicuitas 195 Präfix 48, 47, 52 Queer Studies 478, 481–482 Rezeption 182, 197, 386
Phallus 478 Pragmatik 34, 35, 81–118, 162, Querelle des anciens et des Rezeptionssituation 198
Phantasie 194 163, 166 modernes 218, 288 Rheinischer Fächer 133
Phantastik 303–304, 374, 375, 378 Praktikum 24, 25 Rhetorik 21, 187, 190–196, 209,
Philanthropismus 372, 373 Präludium 233 R 225, 236, 255, 256, 386, 406,
Philologie 10, 17 Präposition 49, 50, 65, 69, 74, Rachetragödie 440 425, 438, 472
Phobos (Furcht) 193, 299 160 Rad des Vergil 195 Rhetorische Kompetenz 22
Phon 38 Präpositionalphrase 65, 69, 102, Radioästhetik 354 Rhythmus/Rhythmik 184, 197,
Phonem 33, 34, 41, 43–46, 51, 145, 162 Raffung 395, 403 198, 416
53, 106, 124, 129, 130, 134, Präsentieren/Präsentations- Rationalismus 276, 277 Right-Hand-Head-Rule 58, 60
159, 169 techniken 3, 11–13 Raumsemantik 456, 459 Ritterakademie 267
Phonetik 37–41 Präsupposition 81, 91, 92, 96, Ready-made 184, 347 Ritterdrama 313
Phonologie 41–47, 125, 164, 165 109, 113, 163 Reale, das 454 Ritual 473
Phrasenkomposita 62 Präsuppositionsauslöser 91, 92 Realismus 311, 319–326, 349, Rokoko 280
Phrasenstruktur 67–68, 73–76 Präsuppositionstest 92 370 Rollenlyrik 237
Phraseologismen 89 Prätext 270, 416, 429 Realismusdebatte 355 Rollenspiel 433
Physikotheologie 279 Predigt 196, 256 Reanalyse 137, 146–148 Roman 241, 248, 271, 278, 283,
Picaroroman/Schelmenro- Pressefreiheit 312 Recherchieren/Recherche 16, 20 301, 346, 349, 350, 391–393
man 266, 272, 369, 392 Primitivismus 342 Redaktion 26 Romantik 277, 288–310, 373,
Pictorial turn 210 Produktionsstufen 21 Rededuell 433 374, 375
Pictura (Abbildung des Emb- Produktivität 58 Redekriterium 386 Romanze 289, 416
lems) 211, 266 Profanierung 456, 457, 481 Reden 11–13 Romanzenstrophe 420, 421
Plagiat 19, 189 Professur 25 Redeschmuck (ornatus) 11, 196 Rotationspresse 320
Plosiv 38–45, 129–134 Programmmusik 199 Redeteile 11 Rührendes Lustspiel 282, 441
Podcast 199, 214 Progressive/romantische Refektorium 224 Rundfunk 199, 348, 355
Poesie 294–197, 306, 309, Universalpoesie 290, 291, 302 Referat 12, 13, 14, 17 Runen 126, 143
413–415 Projektmanagement 16 Referentialität 469 Russischer Formalismus 460
Poeta doctus 262, 413 Prolepse 395 Referentielle Funktion 184
Poetik 187, 190–196, 236, 257, Prolog 236, 443, 446 Referenz 182 S
361, 386, 413 Pronomen 55, 56, 57, 69, 75, 77, Reformation 254, 255, 274, 442 Sächsische Typenkomödie 441
– der Geschichte/der Kul- 90, 123, 162, 165 Reformpädagogik 376, 378 Sachtexte 383
tur 468, 470 – anaphorische 90 Regelpoetik 194, 267 Sage 374, 393
– des Erinnerns 466 – deiktische 89 Regieanweisung 198, 436 Sagenkreis 240
Poetische Funktion 184, 460 – demonstrative 90 Regietheater 447 Säkularisierung 254
Poetischer Realismus 329, 445, – deskriptive 90 Register 17 Sangbarkeit 414
446 pronominale Flexion 57 Reim 184, 413, 417–419 Sangspruchdichtung 198, 235,
Poetizität 183, 185, 460 Pronuntiatio (Vortrag) 236 – gebrochener 419 238, 240, 243, 245, 246
Poetologie 256, 257, 267, 278, Proposition 89, 90, 114, 115, 116 – gespaltener 419 Sanskrit 125, 130, 132
293, 324, 329 Prosa s. auch Erzählende – grammatischer 419 Satire 272, 283, 316
Poetry Slam 199, 415 Literatur 226, 231, 260–262, – identischer 418 Satirischer Roman 284
Politische Lyrik 315 312–313, 321–323, 349–352, – reicher 418 Satz s. Hauptsatz, Nebensatz
Politische Rede 196 388–411 – reiner 417 Satzakzent 47
Politisches Theater 353 Prosagedicht 384, 388, 414, 415 – rührender 418 Satzart 94
Polyphonie 297, 302 Prosaroman 245, 249, 261 – umarmender 418, 426, 428 Satzbedeutung 34, 85, 112
Polyptoton 419 Prosopopoeia 237 – unreiner 239, 417, 419, 427 Satzglied 14, 65–68, 70–78,
Polysemie 99–101, 108, 152 Protagonist 439 – verschränkter 418 143–145, 162, 422
Polysyndeton 423 Protokollieren/Protokoll 15, 365 Reimarten/Reimformen 417, 418 Satzklammer/verbale Klam-
Pop-Kultur 365 Prototyp 106, 384 Reimpaardichtung 234, 243, 248 mer 70–72, 74, 75, 77, 78,
Pop-Literatur 365, 366, 368–371 Prozess, phonologischer 41, Reimpaarvers 232, 242, 251 143–145, 147, 166
Populärkultur 340, 385 43–44, 46, 129, 136, 137, 160, Reimstruktur 416, 431 Satzmodus 113
Positionsfigur 422, 423 165, 168 Reisebericht/Reiseroman 283 Schauerroman 302, 303
Positivismus 218 Prudentia (Klugheit) 270 Reiseliteratur 313 Schauspiel s. Drama
Posse 314 Prüfung/Prüfungsphase 14, 15, Rektionskomposita 61 Schelmenroman/Picaroro-
Possessiver Dativ 69 16 rekursiv 33, 34, 67, 68, 77 man 266, 272, 369, 392

507
6
Sachregister

Schicksalsdrama 313 Singspiel 416 Sprungtropen 423 Synekdoche 423, 428


Schlagreim 418 Sinnfigur 423 Stabreim (Anfangsreim) 227, Synkretismus 56, 135, 136, 138
Schlesische Schule (Zweite) 267 Skopus 103 228, 418 Synonym/Synonymie 21, 104, 228
Schlüsselkompetenzen 3–23, 24, Skopusmehrdeutigkeit 103 Stabreimdichtung 228 Syntagma 202, 408, 421, 422,
26 Skriptorium 224 Stamm 47, 52, 53, 54, 55, 58 459
Schöne Seele 299 SMS 199 Stammsilbe 416, 417 syntaktische Kategorie 14, 49,
Schönheit 293 Soft Skills 24 Ständeklausel 195, 282, 439, 50, 55, 58–61, 65, 66, 82
Schreibblockade 15, 23 Soloecismus 195 440, 441, 444, 450 Syntax 35, 64–79, 202
Schreiben/Schreibpraxis 13–23 Sonett 268, 269, 274, 275, 413, Ständekritik 234 synthetisch 55, 146, 148–149
Schreibkompetenz 3, 13–23 423, 426, 430 Ständesatire 258 System 458
Schreibstrategie 21 Song 352, 366, 450 Stanze 420, 421 Systemreferenz 189
Schreibstube 204 Sonorität(shierarchie) 45, 46, Stationendrama 344, 447, 448, 450 Szene 435
Schreibweise 180, 383 130, 134 Staufische Klassik 223, 235
Schreibzentrum 23 Soziale Kompetenz 24 Stellenausschreibung 26 T
Schrift 175, 176, 197–199 Soziale Lyrik 318 Stellenkommentar 8 Tagebuch 365
Schriftlichkeit 178, 197, 236, 244 Sozialer Roman 331 Stichomythie 438 Tagelied 238
Schriftmedien 203–207 Soziales Drama 441, 446 Stil 175, 193, 194–196, 406 Tanz 201
Schriftsinn, mehrfacher 176, Sozialgeschichte 463 Stilart 193, 194, 195 Taschenbuch 360
177, 229 Soziolekt 30, 104 Stilfigur 193, 196, 438 Teichoskopie/Mauerschau 435
Schriftzeichen 294 Spätaufklärung 284 Stilgeschichte 218 Tertium comparationis 424
Schuldrama 256, 259 Spätbarock 195 Stilistik 194–196 Terzett 274, 427, 430
Schultheater 270, 285, 437, 442 Später Sprechbeginner 167 Stilkompetenz 22 Terzine 420
Schwank 256, 261, 374, 450 Späthumanismus 255, 265 Stilpluralismus 327 Text- und Analysekompetenz 3
Schwankroman 247, 248 Spatial turn 371 Stimme 197–199, 394, 402–406 Text/Textbegriff 175–179, 186
Schweifreim 418 Spätmittelalter 223, 254 stimmhaft/-los 38, 39, 41, 42, Texte, faktuale 389
Schwellenphase 473 Spätmittelhochdeutsche Litera- 44, 127, 130, 131, 133, 159, Textentstehung 8
Schwulst 195, 266, 267, 268 tur 245–251 493 Textsorte 3, 14, 23, 24, 383, 415
Schwulstkritik 276 Spätromantik 288 Stipendium 15 Textsortenkompetenz 22
Science-Fiction 365 Speichergedächtnis 465 Stoff 220 Textverarbeitung 13
Scripteur 188 Spielmannsepik 241, 242 Stoffkreis 240 Textverstehen 175–179
Segmentierung 407 Spondeus 417, 419 Stollen 238, 420 Theater s. Drama
Sekundenstil 330, 331, 332 Sprachähnlichkeit der Musik 202 Stollenstrophe 420 Theatrum mundi 266
Selbstbezüglichkeit 296 Sprachentwicklungsstörung, Stream of consciousness 401–403 Themenstellung/Themenwahl 19,
Selbstreferentiell/Selbstreferenzia- spezifische (SSES) 167, 168, Streitgespräch 251, 263 20, 23
lität 183, 185, 193, 257, 295 169–170 Strophenformen 420–421 Thesenpapier 12, 14, 15
Selbstreflexion/Selbstreflexivi- Spracherwerb 155–172 Strukturale Linguistik 458, 459 Theta-Rolle/thematische
tät 185, 186, 296, 385, 414 Sprachgeschichte 121–153 Strukturalismus 407, 458–462 Rolle 66, 75
Selbststudium 11 Sprachgesellschaft 267, 272–274 Strukturanalyse 458 Tiergedicht 263
Selektion 454 Sprachkontakt 123, 124, 127, Strukturbedeutung 88 Titel/Titelblatt 20, 22
Semantik 81–119, 202 141, 142, 146, 149 Strukturieren/Gliedern 20, 23 Tod des Autors 188, 364
Semantik, formale 85 Sprachkrise 333, 349 Studia humanitatis 254 Toleranz 281, 285
Semantische Felder 105 Sprachkritik 342 Studienausgabe 7, 8, 18 Ton 240
Seminar 12, 16 Sprachkunstwerk 182 ›Stunde Null‹ 359, 364 Tonbeugung 417
Semiologie 454 Sprachskepsis 334 Sturm und Drang 191, 254, Topik 192
Semiotik 294, 411, 454 Sprachwandel 35, 122–124, 144, 276–287, 330, 444, 445 Topographie 456
Senkung 416 147, 149 Subjekt 30, 49, 54, 55, 65–67, Topos 192, 274, 427, 428
Sensualismus 276, 293 Sprachwissenschaft/Linguistik 72–75, 77, 78, 93, 126, 137, Totengespräch 283, 433
Sentenz 237, 269, 438 (allgemein) 6, 7, 13, 14, 17, 143, 145, 148, 155, 161–163, Totum pro partem 423
Sentimentalische, das 290, 291, 20, 21, 25, 29–35, 37, 39, 48, 166, 168–170, 467 Tradition 464
301, 306 52, 64, 72, 81, 84, 121, 124, Subjektivität 291, 414 Tragédie classique 442
Sestine 430 125, 132, 458 Subjektkrise 333, 336 Tragikomödie 282, 384, 441
Sex/Sexualität 479, 480, 481 Sprachwissenschaft, genera- Subscriptio 211, 266 Tragischer Held 439
Sextett 430 tive s. Grammatik, generative Suffix 48, 52 Tragödie 193, 194, 195, 270, 271,
Sexualitätsdispositiv 467 Sprachwissenschaft, historisch- Sukzessivität 209 281, 298, 299, 363, 434,
Siebenjähriger Krieg 276 vergleichend (Indogermanis- ›Sündenbockmechanismus‹ 458 440–441
Signifikant 179, 209, 394, 454, tik) 121, 125, 132 Superlativ 428 Transformation 188, 189, 190
455, 459, 461 Sprechakt 108, 113–118, 422 Suppletion 55 Transkulturalität 474–477
Signifikat 209, 394, 454, 455, – assertiver 116 Surrealismus 339 Translatio artium 257
459, 461 – deklarativer 117 Syllogismus 269 Transzendentalphilosophie 296,
Silbe 44–47, 40–44, 48, 51, 53, – direktiver 116 Symbol 22, 177, 212, 293, 294, 297
62, 93, 99, 128–135, 155, 159, – expressiver 117 425, 456, 470, 479 Transzendentalpoesie 296
160, 165, 168, 194, 232, 267, – indirekter 117, 118 Symbolische Ordnung 479 Trauergedicht 257
416–421, 426 – kommissiver 117 Symbolismus 334, 335 Trauerspiel s. Tragödie
Simultanbühne 259 Sprechinstanz 429 Synästhesie 335, 344, 424, 425 Traumdeutung 478
Simultaneität 201, 209, 343 Sprossvokal 130 Synchronie/synchron 34, 55, Travestie 429
Simultangedicht 344 Spruchdichtung 262 121, 140 Tristanroman 234, 242

508
6
Sachregister

Trivialliteratur 365, 369 Verbformen, infinit 51, 55, 65, W Wortsemantik 81, 82, 85, 87, 88,
Trivium 225 70, 72, 77, 168, 143, 144, 168 Wahrheitsbedingung 85 106, 151
Trochäus 46, 211, 417, 419 Verbum dicendi 398 Wahrnehmungsästhetik 343 Wortstruktur 59, 60
Tropen 196, 423–425 Verbzweit(-satz/-sprache) 71, 72, Wahrscheinlichkeit 194, 278, Writing Culture 472
Trümmerliteratur 360, 361 75–77, 122, 126, 143, 144, 161, 388, 434, 445, 446 Wunderbare, das 194, 278
Typen 438, 439 166, 168, 170 Waise/Körner 418, 427 Wurzel 52, 53, 54, -55, 58, 60,
Typikalität 101, 106 Verfremdung 334, 354, 451 Wandertruppe 281 99, 126, 130, 139, 141, 142
Typoskript 8 Verfremdungseffekt/V-Effekt 446 Wandlungsdrama 344
Vergessen 464 Ware ›Buch‹ 206 X
U Vergleich (collatio) 237, 424 Wartburgfest 311 X-bar-Theorie 68, 75
Überarbeiten 22, 23 Verklärung 320, 324 w-Bewegung 75, 76, 157 Xenion 304
Überdeterminiertheit 266 Verlag 24, 204, 206, 360 Weimarer Klassik 277, 289, 314,
Übergangsmonolog 437 Verner’sches Gesetz 123, 131, 443 Y
Übergangsritus 473 132, 139 Weimarer Republik 339, 340, Youtube 214
Überlieferung 8, 198, 201, 236, Vers commun 417, 419, 420, 430 376
464 Versakzent 416 Weltchronik, spätmittelhoch- Z
Übersetzen/Übersetzung 6, 15, Versdichtung 227–230, 232–235, deutsche 249 Zäsur 417, 419, 420, 421
475, 476 250 Weltende 343 Zaubersprüche 197, 227
Umlaut 43, 53, 55, 129–132, 138, Versepik 388 Weltliches Spiel 250 Zeichen 175, 176, 184, 454, 455,
166, 419 Versepos 190, 261, 271, 283, Wenderoman 368, 369 456
Umschreibung (periphrase) 237 302–303, 391 Werkausgabe 8 Zeichenbegriff 32
Ungleichzeitigkeit des Gleich- Verserzählung 284 Werklexikon 218 Zeichensystem 179, 187, 458,
zeitigen 220 Versformen 419–421 Werktreue 214 459, 469, 474
Unio mystica 269 Verslegende 229 Wettstreit der Künste 201, 202 Zeichentheorie 188, 453, 460,
Univerbierung 136, 137 Versmaß 197, 416, 426 W-Fragen 64, 93, 143, 157, 161, 461
Universalgrammatik 147, 156, Versnovelle 242, 248, 249 162, 166, 167, 169 Zeichentrickfilm 214
164 – spätmittelhochdeutsche 250 Widerspruch s. Kontradiktion Zeilenbruch 414
Universalkunstwerk 209 Versroman 247, 248, 260 Wiedervereinigung 359 Zeilenstil 344, 422
Universalpoesie, progressive/ Verssatire 258, 280 Wiegendruck 9 Zeit (in der Erzählung) 394–397
romantische 290, 291, 302 Versschluss 417 Wiener Kongress 311 Zeitdeckendes Erzählen 395
Universität 225 Verssystem, akzentuierend-alter- Wiener Moderne 334, 335 Zeitgedicht 317, 318
Universitätsbibliothek 16 nierendes 194, 267, 416 Wiener Volkstheater 314 Zeitklage 258
Unsinn 346 Vertonung 431 Wikipedia 11, 18 Zeitplan 15
Unverständlichkeit 346 Vibrant 38, 39, 43 Wirkung/Wirkungs- Zeitroman 321, 350
Urheberrecht 19, 26 Videoclip 214 ästhetik 193,285, 443 Zeitschrift 6, 16, 254, 277, 284
Urschöpfung 48 Vierfacher Schriftsinn 176, 177, Wissen, kollektives 197 – literarische 360
Utopie 283, 364 229 Wissenschaftliche/r Mitarbeiter/ Zeitschriftenaufsatz 7
Utopische Literatur 261 Vierheber 420 in 25 Zeitstück 353
Uvular 37–39, 43 Virgel 417 Wissenschaftsgeschichte 6 Zeitung 16, 207–208, 254
Virtuelle Fachbibliothek 11 Wissenschaftssprache 22 Zensur 209, 337, 341, 362, 465,
V Virtutes dicendi (Stilquali- Wissensmanagement 16 466
Vagheit 100 täten) 195 Wochenschrift 207 Zeugma 423
Valenz 14, 66 Visuelle Poesie 181, 211 Wortakzent 46, 47, 62, 99, 416 Zieldrama 436
Vanitas (Eitelkeit) 268, 270 Vokal 39–41 Wortart s. syntaktische Kategorie Zirkulation 469
Vatermorddrama 345 Vokalität 198 Wortbedeutung s. Wortsemantik Zirkumfix 52
Velar 37–39, 43, 129 Vokaltrapez/-dreieck 40–41 Wortbegriff 49, 50 Zitieren/Zitat 18, 19, 187, 188,
Verb 29, 30, 43, 48, 49–56, 58–61 Volksaufklärung 277 Wortbildung 54, 57–62 189
Verbal music 201 Volksbuch 261 Wörterbuch 6 Zivilisationsbruch 357
Verbalphrase 73–78, 144, 147, Volkslied 305, 306, 431 Wortfeld s. semantische Felder Zufall 347
156 Volksliedstrophe 421 Wortform 50, 54–56, 70, 100, Zusammenfassung 21
Verbcluster 144, 147 Volkspoesie 221 104, 130, 168 Zweisilbler 417
Verben, schwach 52, 55, 56, 57, Volksstück 314, 353, 441 Wortkunst 343, 347 Zweiter Weltkrieg 360
139, 140, 149, 429, 493 Volkstheater 324 Wortmusik 200, 202 Zweitspracherwerb 157,
Verben, stark 52, 55, 56, 57, 127, Vollreim 232 Wortschatz 46, 49, 56, 105, 106, 164–166, 168, 170
136, 137, 139, 140, 429, 493 Vorfeld 51, 70, 71, 74–78, 122, 128, 141, 159, 160, 165, Zwölftontechnik 201
Verberstsatz 71, 75, 77, 143, 144, 144–145 167, 168 Zyklisches Handlungsmodell 242
168 Vormärz 311–318 – aktiver 49, 160, 165, 168 Zyklus 430
Verbformen, finit 52, 55, 64, 65, Vortrag (pronuntiatio) 236 – passiver 49, 159, 160, 165,
70, 71, 72–75, 77, 126, 137, 168
143–145, 161

509

Das könnte Ihnen auch gefallen