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Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft
Herausgegeben von
Werner Helsper, Jochen Kade, Christian Lüders, Frank-Olaf Radtke
und Werner Thole
Band 5
Pädagogisches Wissen
Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen
Verlag W. Kohlhammer
ISBN 978-3-17-021144-5
Auf Wissen über Erziehung, Bildung, Leh- selbst. So orientiert sich die wissenschaftliche
ren und Lernen basiert nicht nur das profes- Generierung und Weiterentwicklung des er-
sionelle Handeln in den verschiedenen insti- ziehungswissenschaftlichen Wissens an den
tutionalisierten pädagogischen Feldern, wie wahrheitsbezogenen theoretischen und me-
der Schule, der Sozialpädagogik, der Son- thodischen Standards des Wissenschaftssys-
derpädagogik und der Erwachsenenbildung. tems. Allerdings färben die mit der Qualifizie-
Auch das alltägliche, berufliche und politi- rungsaufgabe verbundenen Anforderungen,
sche Handeln rekurriert, bewusst oder unbe- die den Erziehungswissenschaften an den
wusst, auf pädagogisches Wissen. Die Erzie- Hochschulen abverlangt werden und die we-
hungswissenschaften sind der exponierte Ort sentlich zu ihrem rasanten Ausbau seit den
der Aufzeichnung, Tradierung, Generierung 1960er Jahren geführt haben, auch auf das er-
und Kommunikation dieses Wissens. Erzie- ziehungswissenschaftliche Wissen im Bereich
hungswissenschaftliches Wissen ist die do- der Erziehungswissenschaft als Disziplin ab.
minierende Ressource des in der Praxis ver- Erziehungswissenschaftliches Wissen steht da-
wendeten pädagogischen Wissens. Dennoch, mit durchgehend im Spannungsverhältnis von
und darauf weisen empirische Studien zu den Wissenschaft und Profession sowie von Theo-
verwendeten Wissensbereichen in den päda- rie und Praxis.
gogischen Handlungsfeldern und die Pro- Wie in allen anderen Wissenschaften so hat
fessionsforschung nachdrücklich hin, deckt die Wissensgenerierung auch in den Erzie-
sich das pädagogische Wissen nicht immer hungswissenschaften immer zwei Gesichter.
mit dem erziehungswissenschaftlich ausge- Mit der Beantwortung von Fragen entstehen
wiesenen Wissen. In modernen, inzwischen zugleich immer neue Fragen. Der wissen-
vielfach als Wissensgesellschaften charakteri- schaftliche Erkenntnisprozess bleibt inso-
sierten Gesellschaften ist eine Pluralisierung fern ein in die Zukunft hin offener Prozess,
der Orte der Wissensproduktion zu beob- auch wenn die Erfordernisse der Handlungs-
achten, ohne dass ein Bedeutungsverlust der praxis abgeschlossenes, kanonisiertes Wissen
Erziehungswissenschaft folgte. Die neu ent- verlangen. Mit der Erzeugung von Wissen
stehenden pluralen Formen pädagogischen wird unvermeidbar zugleich neues Nicht-
Wissens sind nicht einfach wissenschaftsfern: Wissen hervorgebracht. Dieser Erkenntnis-
Zum einen verdanken sie sich selbst zum Teil prozess führt indes nicht immer wieder auf
einer Veralltäglichung und Entgrenzung er- einen imaginären Nullpunkt des Nicht-Wis-
ziehungswissenschaftlicher Wissensbestände sens zurück. Man kommt vielmehr – um ein
und wirken zum anderen auch auf diese zu- Bild aus der Sprache der Computerspiele zu
rück. Zudem sind unterschiedliche Perspek- verwenden – auf ein neues Level des Nicht-
tiven auf Wissen in den professionellen Pra- Wissen-Wissens. In dem Maße, in dem die
xisfeldern und in den wissenschaftlichen Erziehungswissenschaften sich zu einer ‚nor-
Diskursen zu erkennen: Orientieren sich die mal science‘ entwickelt haben, haben diese
pädagogischen Praxen in den unterschiedli- ‚Levels‘ an Stabilität gewonnen, auch wenn
chen Handlungs- und Arbeitsfeldern, soweit ihr kanonischer Charakter prinzipiell immer
sie an der Aktualisierung des Wissens zur Ent- einen Zeitindex hat. Aber diese grundsätzli-
faltung ihrer Praxis interessiert sind, an den che Zeitlichkeit auch des jeweils gegenwärtig
Handlungserfordernissen eben dieser Praxen akkumulierten erziehungswissenschaftlichen
Wissens erstreckt sich auf größere Zeithori- stellen, und neben dem Unterricht als einer
zonte. zentralen pädagogischen Sozialform den zu-
Bei dem erziehungswissenschaftlichen Wis- nehmend an Gewicht gewinnenden Bereich
sen, das dieser Einführungsband vor allem der Medien erörtern. In der vierten, der größ-
Studierenden und Professionellen zugänglich ten Abteilung, stehen unter der Überschrift
macht, handelt es sich insofern um das gegen- ‚Praktiken‘ die Beiträge zum Lehren, Lernen,
wärtig vorliegende, gesicherte theoretische, Helfen, Beraten, Üben, zur Evaluation, zur
historische und empirische erziehungswis- Didaktik und Methodik, zum Disziplinieren
senschaftliche Wissen, das eine Grundlage und zur Aufmerksamkeit. Die letzte, unter
zur Beteiligung am erziehungswissenschaft- der Überschrift ‚Reflexionen‘ stehende Ab-
lichen Diskurs eröffnet und die Nutzung der teilung behandelt die Probleme eines pädago-
dort generierten Erkenntnisse für die Bewäl- gischen Ethos, von pädagogischer Profession
tigung von Aufgaben ermöglicht, die sich in und erziehungswissenschaftlicher Disziplin,
je besonderen beruflichen Situationen stellen. des Erziehungssystems, der Bildungspolitik,
Damit wird allerdings – um Missverständ- der erziehungswissenschaftlichen Forschung,
nissen vorzubeugen – nicht der Anspruch der Praxisreflexion und des wissenschaftli-
verbunden, dass das hier vorgestellte erzie- chen Arbeitens.
hungswissenschaftliche Wissen eine direkte Die Beiträge versuchen einen breiten Über-
Anleitung oder Anwendung in beruflichen blick über den jeweiligen Problemstand zu ge-
Feldern finden kann. Vielmehr bietet es Er- ben. Sie erschließen den Studierenden als wis-
kenntnisse, liefert Reflexions- und Denkan- senschaftlichen Novizen bei Beginn und im
stöße, um pädagogische Aufgaben, Kontexte, Verlauf des Studiums einen kompetenten Zu-
Orte und Praktiken auf der Höhe des gegen- gang zur Erziehungswissenschaft und dienen
wärtigen Wissenstandes besser verstehen und auch Professionellen zur kontinuierlichen the-
befragen zu können. oretischen Selbstvergewisserung und Selbst-
In diesem Band wird das erziehungswis- beobachtung im Kontext ihrer beruflichen
senschaftliche Wissen in fünf Abteilungen Arbeit. Alle Beiträge folgen, von individuel-
präsentiert, die insgesamt das Feld der Er- len, aus dem spezifischen Thema resultieren-
ziehungswissenschaft umfassend und sys- den Varianzen abgesehen, einem durchge-
tematisch abdecken. In der ersten Abteilung henden Schema: Ausgangspunkt ist die Frage,
werden unter der Überschrift ‚Aufgaben‘ die welches Thema mit dem jeweiligen Begriff
Leistungen behandelt, die vom pädagogi- angesprochen ist. Anschließend wird seine
schen Feld erwartet werden. Es handelt sich historische Dimension erhellt, es werden die
hierbei um die erziehungswissenschaftli- mit dem Begriff verknüpften theoretischen
ches Denken und pädagogisches Handeln Konzepte entfaltet und die wesentlichen em-
leitenden Grundorientierungen. Im Einzel- pirischen Befunde zum jeweils angesproche-
nen geht es um Bildung, um Erziehung, um nen Thema referiert. Ein Ausblick auf aktuel-
Sozialisation, um Wissenskommunikation, le Problemlagen schließt die Beiträge jeweils
um Prävention und Selektion. In der zwei- ab. Insgesamt bemühen sich die Beiträge da-
ten Abteilung werden unter der Überschrift bei, den Stand des erziehungswissenschaft-
‚Bezüge‘ als wesentliche Kontexte der Reali- lichen Wissens zum jeweiligen Thema in
sierung dieser Aufgaben die Komplexe Ge- knapper, aber ausreichend differenzierter
neration, Geschlecht und Migration behan- und insofern wissenschaftlich durchaus an-
delt. In der dritten Abteilung sind unter der spruchsvoller Gestalt zu präsentieren. Die Li-
Überschrift ‚Orte‘ jene Beiträge versammelt, teraturverweise haben die Aufgabe, für eine
die einen Einblick in das breite Spektrum pä- intensivere Beschäftigung die Spuren zu le-
dagogischer Felder geben, die organisationale gen, die nach dem ersten Überblick, den die
Einbindung von Erziehung und Bildung dar- Beiträge geben, weiter zu verfolgen wären.
Dieser Fortführung dienen auch die Hinweise Erziehungswissenschaft“ ist zunächst den
auf zentrale Forschungs- und Serviceeinrich- Autorinnen und Autoren zu danken, die in
tungen, auf Fachgesellschaften und auf weite- ihrem inzwischen ja äußerst eng geworde-
re nützliche Internetadressen. Ein Verzeich- nen inner- und außeruniversitären wissen-
nis der Autorinnen und Autoren schließt die schaftlichen Berufsalltag noch genügend Zeit
Einführung ab. für die, zum Teil unerwartet aufwendige Ar-
Die Darstellung des erziehungswissen- beiten an den Beiträgen freimachen konnten.
schaftlichen Grundwissens geschieht in der Insbesondere ist aber Herrn Dr. Klaus-Peter
Weise, dass dreißig Begriffe ausgewählt wur- Burkarth im Lektorat des Kohlhammer Ver-
den, in denen die zentralen Probleme erzie- lags zu danken, ohne dessen publikationser-
hungswissenschaftlicher Reflexionen ver- fahrenen Blick die Orientierung dieses Ban-
dichtet dargestellt und erörtert werden. Mit des an den Erwartungen der zukünftigen
dieser Auswahl sind der Umfang und die Tie- Leserinnen und Leser nicht die nun vorlie-
fe des erziehungswissenschaftlichen Wissens gende Gestalt gewonnen hätte.
indes keineswegs vollständig abgedeckt. So
könnte etwa auf das Fehlen von Beiträgen un- Jochen Kade
ter den Stichworten Familie, Arbeit und Be- Werner Helsper
ruf, Biographie, Geschichte und Gesundheit Christian Lüders
verwiesen werden. Der Band ist – entspre- Birte Egloff
chend der Offenheit des Wissens – nicht ge- Frank-Olaf Radtke
schlossen, sondern offen. Er kann und wird Werner Thole
sicher fortgeschrieben werden.
Für das zügige Zustandekommens dieses Frankfurt am Main/Halle/München/Kassel, im
Bandes 5 in der Reihe „Grundriss Pädagogik/ September 2010
mativ als dessen Bestimmung, als Sinn und Sie braucht zweitens Geschichte und zwar in
Zweck menschlichen Daseins verstanden. individueller wie in sozialer oder politischer
Unter Bildung lassen sich sowohl die Pro- Perspektive, die je nach Interpretation als
zesse selbst, darüber hinaus die Resultate Fortschritts- oder Verfallsgeschichte gelesen
dieser Prozesse, aber auch spezifische Bil- werden kann. Bildung braucht drittens sozi-
dungsstoffe (Bildungsinhalte, Bildungsge- ale Zustimmung, d. h. die Anerkennung von
halte) sowie bestimmte notwendige Voraus- pädagogischen, sozialen, moralischen oder
setzungen von Fähigkeiten und Vermögen wissenschaftlichen Standards, die in jeder
verstehen. Bildungsresultate sind spezifische Generation neu ausgehandelt werden müssen.
soziale bzw. individuelle habituelle Prägun- Sie braucht viertens wissenschaftliche Erfor-
gen, die über Erfahrungen und mimetische schung, was meint, dass differenziert werden
Prozesse erworben worden sind. Bildungspro- muss zwischen der praktischen Bildungsre-
zesse kennzeichnen eine strukturelle transfor- flexion und der theoretischen Analyse von
matorische Differenz, die sowohl in zeitlicher, Bildung, zwischen Bildung und Bildsamkeit.
identifikatorischer, institutioneller oder sozi- Und schließlich braucht Bildung fünftens in-
aler Hinsicht bestehen kann. Die Frage nach dividuelle Selbstbeschreibung, da die Diffe-
den Bildungsstoffen (Bildungsinhalte und Bil- renz zwischen den kulturellen Mustern und
dungsgehalte) ist durch Curricula- und Ka- den individuellen, autobiographischen Bear-
nondebatte geläufig. Als Bildungsvorausset- beitungen für sie konstitutiv ist.
zungen werden kulturelle, ökonomische oder Unter strukturellen Gesichtspunkten wer-
soziale Voraussetzungen bezeichnet, die wie- den mehrere Dimensionen zur Bildung ge-
derum die Bedingung der Möglichkeit für ge- rechnet: erstens spezifische Fähigkeiten,
lingende Bildungsprozesse und Bildungsre- Verfahren, Fertigkeiten, Kompetenzen, Schlüs-
sultate darstellen. selqualifikationen (formale Bildung), zwei-
Oftmals differenziert man zwischen the- tens spezifische, oftmals kanonisierte oder als
oretischer, praktischer und ästhetischer Bil- klassisch bezeichnete (Wissens-)Kenntnisse
dung: Während die theoretische Bildung auf (materiale Bildung), drittens die Dialektik
die wissenschaftliche Betrachtung, definito- von Können und Wissen, Ich und Welt, An-
rische Gliederung bzw. Klassifizierung und eignung und Kritik (kategoriale Bildung),
gesetzmäßige Erfassung der Dinge und ih- viertens ein lebenslanger, unabschließbarer,
rer Zusammenhänge abzielt, richtet sich biographischer oder institutioneller Lernpro-
die praktische Bildung auf die Zwecke und zess (biographische oder institutionelle Bil-
Mittel menschlichen Handelns, auf die mo- dung) und schließlich fünftens die Idee einer
ralische Betrachtung und Umsetzung von humanen, für alle lebenswerten Gesellschaft
Regeln, Institutionen und Werken. Die äs- (utopische Bildung).
thetische Bildung schließlich hebt auf Fra- Sodann muss darauf hingewiesen werden,
gen der Wahrnehmung, des reflektierten dass mit „Bildung“ im Kontext der sich eta-
Geschmacksurteils, der performativen Dar- blierenden und saturierenden bürgerlichen
stellung oder des Umgangs mit kunstförmi- Gesellschaft spätestens seit der Mitte des
gen Gegenständen ab. 19. Jahrhunderts auch Statussignale und Dis-
Eine andere Gliederung des Bildungsbe- tinktionssysteme verbunden sind. Die „Gebil-
griffs schlägt Langewand (1994) vor, wenn er deten“ verstehen sich als eigene, von anderen
sachliche, temporale, soziale, wissenschaftli- abgehobene und anderen überlegene Gruppe,
che und autobiographische Dimensionen aus- die ihre eigenen Privilegien quasi von Natur
differenziert. Das heißt: Bildung braucht ers- aus mit dem Besitz von Bildung legitimiert.
tens Stoffe, d. h. Inhalte, mit denen sich der Bildung fungiert hier als soziale Abgrenzung.
Mensch auseinandersetzt; diese Inhalte ha- Und schließlich wird in den jüngeren Ent-
ben einen unterschiedlichen Bildungsgehalt. wicklungen der Kommerzialisierung und Pri-
vatisierung der Bildungssysteme durch diver- gen bzw. der Bildsamkeit des Zöglings, kurz:
se Bildungsanbieter (Stichwort: Public Private auf den sog. Pädagogischen Ternar von An-
Partnership) auch der Aspekt der Bildung als lage, Übung und Belehrung. Der Begriff der
„Marke“ oder „Ware“ bedeutsam. „cultura animi“ stellt in der römischen An-
tike den Kernaspekt der Bildung dar. In An-
lehnung an die agrarische Tätigkeit der Bo-
denkultivierung, der „cultura agri“, wird hier
2 Historische Dimensionen das Bild der Kultivierung des Geistes bzw. der
Seele gebraucht. Der Inbegriff des Gebildeten
wird für die Griechen durch den Begriff ka-
Das Wort Bildung, ahd. bildunga, mhd. bil- lokagathia und für die Römer durch den des
dunge, hat zunächst den Bedeutungsumfang vir bonus benannt, die jeweils in einem en-
von Bild, Ebenbild, Nachbild, Nachahmung; gen Zusammenhang mit den Begriffen are-
später kommen dann Gestalt, Gestaltung, te bzw. virtus stehen. Als Ziel menschlichen
Schöpfung und Verfertigung hinzu. Zunächst Lebens bezeichnen sie die vollkommene
bezieht sich der Begriff auf die äußere Gestalt Übereinstimmung von Schönheit und Güte,
von Menschen, Tieren und Pflanzen; seit dem die bestmögliche Verfassung des Menschen.
18. Jahrhundert wird er in immer größer wer- In ihnen gehen das Soziale, das Ethische
dendem Umfang für deren innere Gestalt und und das Ästhetische eine enge Verbindung
die innere Formung verwendet. Bildung gilt ein.
als typisch deutsches Deutungsmuster, das in Aus der jüdisch-christlichen Tradition
andere Sprachen nur unzureichend übersetzt stammt der an vielen Stellen des Alten wie
werden kann (vgl. Bollenbeck 1996). des Neuen Testaments belegbare Zusammen-
Während das Wort „Bildung“ seine päda- hang der göttlichen mit der menschlichen
gogische Karriere im 18. Jahrhundert beginnt, Welt durch den Bildbegriff, etwa in der Vor-
ist der Begriff wesentlich älter (vgl. Benner/ stellung, dass Gott den Menschen „nach sei-
Brüggen 2004). Historisch betrachtet hat der nem Bild geschaffen habe“ (1 Mose 1, 26–27).
Begriff mehrere, mit der humanistischen Tra- Das hiermit verbundene Bildungsideal be-
dition des Abendlandes verbundene Wurzeln. steht darin, zum Ebenbild Gottes (imago dei)
Dabei steht in der Antike die Theorie und Re- zu werden. Das bedeutete im spätmittelalter-
flexion von Bildung im Mittelpunkt, im Mit- lich-mystischen Denken, sich von Mensch-
telalter die Wortgeschichte und in der Neu- lichem zu „entbilden“, damit man sich das
zeit die Modellgeschichte. Mit den jeweiligen Göttliche „ein-“ und „überbilden“ konnte.
Bildungsbegriffen gehen jeweils unterschied- Bis ins 17. Jahrhundert hinein war Bildung
liche anthropologische Bildungsideale und als Versuch, Gottähnlichkeit durch die Wie-
Leitbilder einher. derherstellung der einst als unschuldig gel-
In der griechisch-hellenischen Antike wird tenden menschlichen Natur zu erreichen, für
unter dem Wort „plattein“ die Möglichkeit die christliche Pädagogik das vorrangige Bil-
verstanden, die Seele analog dem Körper zu dungsideal.
bilden. Der Ausdruck „paideia“, der nicht nur Mit dem Humanismus und der Renais-
die Bedeutungsdimensionen von Bildung, Er- sance setzte sich bereits ein neues, elitär-aris-
ziehung, Unterricht, Lehre und Züchtigung, tokratisches Bildungsideal durch, das den
sondern auch diejenigen von Wissenschaft, uomo universale, später den honnête homme
Geschmack, Kindheit und Jugend umfasst, oder den Gentleman in den Mittelpunkt
verweist zum einen auf ein bestimmtes Wis- rückte. Dieses Ideal zielte weniger auf eine
sen, einen Bildungskanon, zum anderen auf moralische, politische oder religiöse, sondern
die Frage nach der Vermittlung und Lehrbar- vielmehr auf eine dezidiert kulturelle Bildung
keit und drittens auf die Frage nach den Anla- durch die Beschäftigung mit den Künsten.
Dadurch wird der Gedanke des Individualis- Bildungsmedien sind vor allem Spiele und
mus gestärkt. künstlerische Betätigungen, die die unver-
Im 17. Jahrhundert wird von Comenius wechselbaren Eigenheiten und die individu-
eine Bildung (eruditio) eingefordert, die alle, ellen Entwicklungsprozesse am ehesten zur
alles, allumfassend belehrt: Alle Menschen Geltung bringen können. Durch diese Form
sind Adressaten von Bildung, die wiederum der Bildung sollen das Paradies der Kindheit
alles menschliche Wissen in einer allumfas- erhalten und kindliche Potentiale gefördert
senden (= strukturierten) Form betrifft. An- werden.
dererseits wird mit Leibniz und seiner Mo- Seit der Aufklärung ist Bildung schließ-
nadenlehre der Gedanke der Individualität lich auch mit einem Emanzipationsverspre-
endgültig im Bildungsdenken verankert. chen versehen, das einerseits darauf zielt, das
Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts (Bildungs-)Bürgertum als neue Klasse gegen-
wird dann mit den Philanthropen einerseits über den feudalen und klerikalen Kräften aus
der bis heute gebräuchliche Kompetenz-Be- dem traditionellen Ständedenken freizuset-
griff von Bildung wichtig, der auf bestimm- zen und das andererseits in seiner marxisti-
te, für die Gesellschaft bedeutsame utilitaris- schen Variante auf die Bildung einer huma-
tische Qualifikationen abhebt; andererseits nen Gesellschaft zielt, in der die Verhältnisse
wird, z. B. von Kant, der Mündigkeitsaspekt überwunden werden sollen, die die Menschen
von Bildung betont, die die Menschen zur entmündigen und entwürdigen. Dafür steht
Vernunft und zur Moral führen soll. Wäh- als Bildungsideal auf der einen Seite der durch
rend in ersterem (philanthropischen) Bil- Kunst, Kultur und Wissenschaft gebildete Bil-
dungsmodell betont wird, dass der Mensch dungsbürger, auf der anderen Seite die durch
sich zum Bürger zu bilden habe, so wird im die polytechnische Bildung allseitig gebildete
zweiten darauf abgezielt, dass der Bürger sozialistische Persönlichkeit.
sich zum Menschen bilden soll. Und wird im Eine eindeutige Akzentuierung des Bil-
ersten Modell der Gedanke betont, dass das dungsbegriffs im 20. Jahrhundert erscheint
Leben bildet, so im zweiten, dass die Selbst- schwierig, auch wenn sich grosso modo im re-
bildung die entscheidende Grundlage für Bil- formpädagogischen Diskurs starke Anklän-
dungsprozesse darstellt. ge an die romantische Tradition der Bildung
In der Klassik und im Neuhumanismus als Entfaltung, in der geisteswissenschaft-
wird bei Herder, Schiller und Humboldt, und lichen und kritischen Pädagogik die Tradi-
literarisiert im klassischen Bildungsroman tionen der Aufklärung und des Neuhuma-
z. B. bei Goethe oder Moritz, das Wechsel- nismus mit Bildung als Mündigkeit bzw. als
verhältnis von Ich und Welt zum zentralen Wechselwirkung von Ich und Welt und in der
Thema der Bildung. Bildung wird hier mit empirischen Erziehungswissenschaft die auf-
sprachlicher, kultureller, ästhetischer und klärerisch-utilitaristische Akzentuierung von
philosophischer Bildung in Verbindung ge- Bildung als Qualifikation wieder finden las-
bracht und gegen die praktische und techni- sen.
sche Ausbildung abgegrenzt. Der Gebildete Zusammenfassend lässt sich konstatieren,
zeichnet sich vor allem durch seine sprachli- dass das Ziel der älteren Modelle von Bildung
che, historische und kosmopolitische Kulti- darin bestand, den Menschen zu einem Bild
viertheit aus. von etwas Vorgegebenen zu machen (affir-
In der Romantik dominiert – etwa bei mative Theorie), während das der modernen
Rousseau oder Fröbel – das Modell der Bil- Theorien darin zu sehen ist, den Menschen zu
dung als organische Entfaltung von natürli- seinem Bild werden zu lassen (nicht affirma-
chen Anlagen. Bildung ist dabei stark kind- tive Theorie).
zentriert, gegenwartsbezogen und gesteht
jeder Entwicklungsstufe einen Eigenwert zu.
batten standen u. a. im Kontext der Frage nach wiederum das Selektionsrisiko erhöht und
struktureller Chancengleichheit bzw. nach Bil- zugleich legitimiert. In einem gerechten Bil-
dungsbenachteiligung im Bildungssystem. So dungssystem müssen aber alle gleich und alle
ist nicht nur von Gutachtern der OECD, son- ungleich behandelt werden, so dass Durchläs-
dern auch von der EU und einer ganzen Rei- sigkeit im System im umfassenden Sinne ge-
he von deutschen Erziehungswissenschaftlern währleistet sein sollte.
hervorgehoben worden, dass es für die Systeme
der allgemeinen und beruflichen Bildung in
Europa und speziell in Deutschland nicht nur Literatur
bedeutsam sei, dass sie effektiv und effizient
zu funktionieren hätten, sondern auch, dass Benner, D./Brüggen, F. (2004): Bildsamkeit/Bildung.
In: Benner, D./Oelkers, J. (Hrsg.): Historisches
sie die Chancengleichheit gewährleisten müs-
Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel, 174–
sen, damit sich die sozialen Benachteiligungen 215
im Bildungssystem nicht noch vergrößern. Da- Bollenbeck, G. (1996): Bildung und Kultur. Glanz
mit die allgemeinen und beruflichen Systeme und Elend eines deutschen Deutungsmusters.
der Bildung die erforderliche Qualität errei- Frankfurt a. M.
chen, die zur Schaffung von mehr Wachstum, Deutsches PISA-Konsortium (2001): PISA. Basiskom-
mehr Beschäftigung und mehr sozialer Kohä- petenzen von Schülerinnen und Schülern im inter-
nationalen Vergleich. Opladen
sion beiträgt, gelte es daher, diese Systeme u. a.
Hansmann, O./Marotzki, W. (Hrsg.) (1988/1989):
auch gerechter zu gestalten (vgl. Liebau/Zirfas Diskurs Bildungstheorie I: Systematische Markie-
2008). rungen; II: Problemgeschichtliche Orientierungen.
War es in den 1960er Jahren das sprich- Weinheim
wörtlich gewordene „katholische Arbeiter- Hentig, H. v. (1999): Bildung. Ein Essay. Weinheim/
Mädchen vom Lande“, das aufgrund seiner Basel
Konfession, seiner Schicht, seines Geschlechts Humboldt, W. v. (41985): Bildung und Sprache. Hrsg.
v. C. Menze. Paderborn
und seiner Wohnlage zu den Bildungsbenach-
Klafki, W. (51996): Neue Studien zur Bildungstheorie
teiligten gehörte, so muss man heute von einer und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und
anderen negativen Bildungsfigur ausgehen: kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim/Basel
dem „Migrantensohn aus der bildungsfernen Langewand, A. (1994): Bildung. In: Lenzen, D. (Hrsg.):
Familie in der Stadt“. Die Bildungsbenachtei- Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek
ligungen in sozialer, ökonomischer und kul- bei Hamburg, 69–98
tureller Hinsicht gelten als Begrenzungen von Liebau, E./Zirfas, J. (Hrsg.) (2008): Ungerechtigkeit
der Bildung – Bildung der Ungerechtigkeit. Opla-
Chancengleichheit. Über die Idee der Bil- den
dungschancengleichheit in Form von Start- Tenorth, H.-E. (1994): „Alle alles zu lehren“. Mög-
chancen, aber vor allem in Form von Auf- lichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung.
stiegs- und Wettbewerbsmöglichkeiten wird Darmstadt
Vielleicht ist es nicht unpassend, die relevan- ge Handeln, in dem die Älteren (Erzieher)
ten Tätigkeiten in diesen Situationen in der (1) den Jüngeren (Edukanden) im Rahmen ge-
Aufforderung bzw. dem Bitten oder Appellie- wisser Lebensvorstellungen (Erziehungsnor-
ren, (2) der Fürsorge bzw. dem fürsorglichen men) und unter konkreten Umständen (Er-
Verhalten (Trösten), (3) dem Ver- oder Aus- ziehungsbedingungen) sowie mit bestimmten
handeln, (4) der Beratung, (5) der Bestrafung Aufgaben (Erziehungsgehalten) und Maß-
und (6) der Selbstvergewisserung bzw. Selbst- nahmen (Erziehungsmethoden) in der Ab-
erkenntnis zu sehen. Nur, um das erste Bei- sicht einer Veränderung (Erziehungswirkun-
spiel aufzugreifen, wann oder inwiefern ist die gen) zur eigenen Lebensführung verhelfen,
Aufforderung, dieses Blatt vom Boden aufzu- und zwar so, dass die Jüngeren das Handeln
heben, pädagogisch bedeutungsvoll bzw. eine der Älteren als notwendigen Beistand für ihr
erzieherischere Handlung? Worauf kommt es eigenes Dasein erfahren, kritisch zu beur-
an? Was ist, wenn Johann nicht sechs, son- teilen und selbst fortzuführen lernen“ (Bo-
dern beispielsweise 18 Jahre alt ist? Ergibt sich kelmann 1970, 185). Nur, über nahezu jedes
dadurch eine Veränderung der Beurteilung? dieser Merkmale lässt es sich auf begründe-
Macht es einen Unterschied, ob das Blatt Jo- te Weise streiten. In demokratischen Gesell-
hann gehört oder jemandem anders? Ob es schaften hat auch die Wissenschaft nicht das
sich um eine schöne Zeichnung, ein wichti- letzte Wort bei der Bestimmung von Begrif-
ges Arbeitsblatt handelt oder bloß um beschä- fen, aber die Wissenschaft hat die Aufgabe,
digtes Notizpapier? Ob die Lehrerin will, dass Begriffe zu erhellen, vorzuschlagen und zu
dieses Blatt nicht auf dem Boden herum liegt, kritisieren. Dabei sind Unterscheidungen von
weil es beschädigt werden könnte oder einfach fundamentaler Bedeutung. Eine traditions-
weil es stört? Ob sie meint, Johann mit ihrer und folgenreiche Unterscheidung ist in der
Aufforderung beim Aufbau seines Sinnes für deutschsprachigen Pädagogik jene zwischen
Ordnung zu helfen? Und wenn dies so wäre: intentionaler und funktionaler Erziehung.
muss sie diesen Glauben artikulieren, ihre Er-
wartung für Johann wahrnehmbar machen?
Und muss Johann diese Intention verstehen?
Und wenn er sie nicht verstehen würde, wäre 3 Intentionale und funktionale
es dann keine Erziehung? Und was wäre, wenn Erziehung
Johann kein Kind, sondern ein Mitarbeiter in
einer Firma wäre, und sein Vorgesetzter die
Bitte formulierte: „Johann, darf ich Sie bitten, Formal betrachtet kann Erziehung als soziales
dieses Blatt aufzuheben?“ Wäre dies auch Er- Handeln von Erwachsenen bestimmt werden,
ziehung? welches sich auf das Lernen im Allgemeinen
Wie jeder gesellschaftlich zentrale Begriff bzw. auf dauerhafte Verhaltensveränderun-
(z. B. Identität, Gerechtigkeit, Liebe) ist auch gen (Auf- und Abbau von Verhaltensdisposi-
der Begriff der Erziehung strittig. „Strit- tionen) und die Förderung von Handlungs-
tig“ heißt nicht „schwammig“, sondern eben und Urteilsfähigkeit der heranwachsenden
„strittig“ (!), d. h. man kann durchaus auf Generation im Besonderen richtet. Während
kohärente Weise über Fragen der Erziehung der Handlungsbegriff intentionales und be-
diskutieren, wiewohl man sich schließlich wusstes menschliches Tun impliziert und Er-
vielleicht dennoch nicht darüber einig wird, ziehung demzufolge meist als „intentionale“
was nun Erziehung „wirklich“ und welches Tätigkeit verstanden wird, bezieht sich die so
jetzt günstiges oder das richtige Erziehungs- genannte „funktionale“ Erziehung auf ande-
handeln sei. Zwar wird eine Definition von re sozialisatorische Einflüsse, welche das Ler-
Hans Bokelmann zu Recht immer wieder nen und die Entwicklung der Kinder und Ju-
neu zitiert. Danach ist Erziehung „dasjeni- gendlichen in fast jeder Hinsicht (moralisch,
politisch, religiös, ästhetisch …) prägen. Die dingungen bemühen sollte? Die Erwartung
Begrifflichkeit der „funktionalen Erziehung“ der Wirkung von intentionaler Erziehung
wurde von Ernst Krieck in „Philosophie der mag von Ohnmachtsphantasien (Erziehung
Erziehung“ (1930) eingeführt. Krieck mauser- bewirkt letztlich nichts oder ihre Wirkungen
te sich später zu einem der zentralen pädago- sind sowieso nicht voraussagbar…) bis hin zu
gischen Ideologen des nationalsozialistischen Allmachtsphantasien (der „neue“ und besse-
Regimes. Allerdings erörterte Krieck die Dif- re Mensch kann willentlich geformt werden,
ferenzierung zwischen funktionalen und in- die Menschheit kann als ganze durch Erzie-
tentionalen Aspekten der Erziehung noch in hung verbessert werden…) geprägt sein. Die
einem Werk, das sich grundlegenden pädago- Annahmen und Hoffnungen der Wirkung
gischen Fragen stellte. Darin wird die erziehe- erzieherischen Handelns können sicher auch
rische Wirkung auch der Gleichaltrigen und teilweise als Reaktionen auf die gesellschaftli-
der sozialen Gemeinschaft, der Gruppen und che und politische Situation und wahrgenom-
Generationen hervorgehoben. Nicht allein die menen Interventionsnotwendigkeiten und
ältere Generation erziehe die jüngere, sondern -möglichkeiten interpretiert werden. Als sol-
die Tatsache, dass Menschen – unvermeid- che stehen sie mit der Erziehungswirklichkeit
bar – Mitglieder von Generationen, Gruppen u. U. nicht in engem Kontakt. Giesecke hat in
und Gemeinschaften sind, habe erzieherische seinem Pamphlet „Das Ende der Erziehung“
Implikationen. Diese meist unbeabsichtigten (1985) beispielsweise die Thesen vertreten,
Einflüsse auf das Lernen und die Entwicklung dass man sich in der Erziehung nicht mehr
der Menschen werden heute vornehmlich so- um die Zukunft des Kindes kümmere, son-
zialisationstheoretisch analysiert, wobei der dern zunehmend nur noch um seine gegen-
Fokus eben nicht auf die intentionalen, prä- wärtigen Bedürfnisse, dass das Generationen-
skriptiven, reflexiv begründeten und normativ verhältnis diffundieren bzw. verschwimmen
legitimierten, sondern auf mehr oder weniger würde, die dominanten Sozialisationserfah-
unbeabsichtigte Einwirkungen gerichtet wird. rungen vor allem gegenwartszentriert sei-
Mit der begrifflichen Differenz von intentio- en, d. h. sich vorwiegend auf Konsum und
naler und funktionaler Erziehung bahnte sich Freizeit bezögen, und die Erziehungswissen-
an, was später die „realistische Wende“ in der schaft schließlich nicht mehr Erziehungspro-
pädagogischen Forschung heißen sollte (Roth zesse, sondern allein noch Sozialisationspro-
1962). So untersucht Sozialisationsforschung zesse beschreiben bzw. untersuchen würde.
heute im pädagogischen Bereich kaum noch Ein Vierteljahrhundert später bestätigen sich
die konkreten Formen und Tätigkeiten des Er- nicht alle, aber doch zentrale Aspekte der ge-
ziehungsprozesses, sondern – wohl weil wis- nannten Thesen. Dies wird u. a. im Diskurs
senschaftlich leichter, wenn auch immer noch über Kindheit und Jugend im Wandel deut-
nicht leicht zugänglich – familiäre, schulische lich (vgl. 6).
und außerschulische Sozialisationsbedingun-
gen, insbesondere auch in ihrem Wandel.
Interessant und bedeutsam ist nun die Fra-
ge, welche Wirkungsunterschiede wissen- 4 Erziehung im Kontext der
schaftlich belegt werden können: Ist die Wir- sozio-kulturellen Entwicklung
kung von intentionalem Erziehungshandeln
gegenüber den vielfältigen, Lebensphasen
und Lebensbereiche übergreifenden Soziali- Treml (1987) hat die Unterscheidung von
sationseinflüssen nicht letztlich zu vernach- funktionaler und intentionaler Erziehung in
lässigen? Oder sollte man davon ausgehen, den Kontext der sozio-kulturellen Evolution
dass das pädagogische Handeln sich gerade gestellt und grob zwischen drei Phasen der
um die Verbesserung der Sozialisationsbe- Menschheitsgeschichte unterschieden: archa-
von Friedrich Schleichermacher, was denn die meinwesen, sicher aber nicht für den Ein-
erwachsene Generation von der jüngeren ei- zelmenschen gebraucht worden ist (zur
gentlich wolle), schlägt Flitner mit der dritten Selbstbeschreibung des Menschen als „auto-
Betrachtungsweise vor, Erziehung auch als nom“ vgl. Meyer-Drawe 1991). Wie (und ob)
„geistige Erweckung“ zu verstehen. Das „er- aber Autonomie durch Erziehung zu erreichen
zieherische Verhältnis“ entstehe zwischen den sei, da scheiden sich die Pädagogen und die mit
Menschen „hinsichtlich ihrer Zuwendung ihnen transportierten Bilder teilweise funda-
zu einem Ideellen“ (45). Die vierte Betrach- mental. Zu den klassischen Bildern bzw. Meta-
tungsweise ist die „personale“, mit welcher die phern der Erziehung gehören Wachsenlassen,
Existenz und das Selbstverhältnis des Einzel- Führung, Erweckung, Regierung, Zucht, An-
menschen in den Mittelpunkt gestellt werden. passung, Lebenhelfen, Begleiten (vgl. Scheuerl
Wiewohl die einzelnen Perspektiven auch aus 1959). Auch mit neueren erziehungstheoreti-
heutiger Sicht berechtigt und dem Gegen- schen Vorschlägen (Erziehung als Verhand-
stand der Erziehung angemessen scheinen, lung [Bruner 1995] oder Erziehung als Zeigen
sind solche jeweils als „System“ vorgeschlage- [Prange 2005]) wird das Konzept der Erzie-
nen Gesamtgebilde von Erziehungsbegriffen hung begrifflich nicht verbindlicher bestimmt
aus wissenschaftstheoretischen und empiri- werden können; sie sind als interessante
schen Gründen kaum noch überzeugend. Transformationen der pädagogischen Meta-
Entscheidend ist aber, dass am Ende ei- phorik wahrzunehmen. Gemeinsam ist vielen
ner langen Geschichte der Kindheit und Er- Metaphern der Erziehung – eben weil Erzie-
ziehung die Personalität bzw. Personwerdung hung im engeren Sinne als intentional verstan-
des Menschen für viele Pädagogiken im Mit- den wird – eine direkte oder aber indirekte
telpunkt steht. So schrieb (selbst) der System- (vgl. Rousseaus „éducation négative“) tech-
theoretiker Niklas Luhmann zur Funktion nologische Vorstellung, wie sie freilich in be-
der Erziehung: „Menschen werden geboren. havoristischen Konzepten pointiert vertreten
Personen entstehen durch Sozialisation und worden ist und auch heute in der „populären
Erziehung. Wenn man diesen Unterschied vor Pädagogik-Kultur“ vertreten wird (zu „Triple
Augen hat, liegt es nahe, die Funktion der Er- P“ oder „Super Nanny“ vgl. den folgenden Ab-
ziehung auf das Personwerden von Menschen schnitt). Der Grad der vorgestellten Technolo-
zu beziehen. Besonders in komplexen Gesell- giesierbarkeit von Erziehung unterscheidet die
schaften kann man dies nicht nur der Soziali- Erziehungstheorien bzw. Pädagogiken. Anton
sation überlassen“ (Luhmann 2002, 38). Hügli (1999) hat zwischen „Autonomiepäda-
gogiken“ und „Kontrollpädagogiken“ unter-
schieden. Auf der einen Seite zielen erzieheri-
schen Strategien von Kontrollpädagogiken auf
5 Moderne: Erziehung zur Verhaltensveränderungen, deren Wirksamkeit
Autonomie nicht vom Wollen und der Einsicht des Kin-
des abhängig gemacht wird bzw. werden kann
(und insofern kann eingeräumt werden, dass
Das Ziel der Erziehung wird im modernen, wohl keine Erziehung des Einzelmenschen
kontinentaleuropäischen Verständnis vor al- ganz ohne solche Verhaltensveränderungs-
lem mit Jean-Jacques Rousseau (1983/1762) strategien auskommt, welche einen technolo-
und Immanuel Kant (1984/1803) in der „Au- gischen Charakter aufweisen und Ausdruck
tonomie“ und „Mündigkeit“ des Einzelmen- nomothetischen Wissens sein können). Auto-
schen gesehen. Das ist eine nicht selbstver- nomiepädagogiken auf der anderen Seite sind
ständliche Wendung des Autonomiebegriffs, Ausdruck einer modernen Perspektive auf die
der vormodern, insbesondere in der griechi- Legitimität und soziale Erwünschtheit erzie-
schen Antike, als eine Beschreibung für Ge- herischer Mittel und Ziele, insbesondere des