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Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft

Herausgegeben von
Werner Helsper, Jochen Kade, Christian Lüders, Frank-Olaf Radtke
und Werner Thole

Band 5

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Jochen Kade/Werner Helsper/Christian Lüders/
Birte Egloff/Frank-Olaf Radtke/Werner Thole (Hrsg.)

Pädagogisches Wissen

Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen

Verlag W. Kohlhammer

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© 2011 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart
Gesamtherstellung:
W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart
Printed in Germany

ISBN 978-3-17-021144-5

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Die Erziehungswissenschaft in dreißig Grundbegriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7


1 Aufgaben
Bildung (Jörg Zirfas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Erziehung (Roland Reichenbach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Sozialisation und Entwicklung (Matthias Grundmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Wissenskommunikation (Jochen Kade) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Prävention (Christian Lüders) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
Selektion (Johannes Bellmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
2 Bezüge
Generation (Jutta Ecarius) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Geschlecht (Barbara Rendtorff ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Migration (Isabell Diehm/Frank-Olaf Radtke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
3 Orte
Pädagogische Felder (Wolfgang Seitter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Institutionen und Organisationen (Michael Göhlich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Unterricht (Wolfgang Meseth/Matthias Proske) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Medien (Sigrid Nolda) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Lebenslanges Lernen (Christiane Hof ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
4 Praktiken
Lehren (Werner Helsper). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Lernen (Jörg Dinkelaker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Üben (Malte Brinkmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Helfen (Werner Thole/Martin Hunold) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Beraten (Volker Kraft) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Disziplinieren (Frank-Olaf Radtke). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
Evaluieren (Harm Kuper) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Aufmerksamkeit (Jörg Dinkelaker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Didaktik und Methodik (Klaus Prange) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
5 Reflexionen
Pädagogisches Ethos (Sabine Seichter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Disziplin und Profession (Edwin Keiner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Praxisreflexion (Birte Egloff ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Erziehungssystem (Jochen Kade/Frank-Olaf Radtke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Bildungspolitik (S. Karin Amos) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Forschen (Rudolf Tippelt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
Wissenschaftliches Arbeiten (Friedrich Rost) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
6 Support . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

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Einleitung: Die Erziehungswissenschaft in
dreißig Grundbegriffen

Auf Wissen über Erziehung, Bildung, Leh- selbst. So orientiert sich die wissenschaftliche
ren und Lernen basiert nicht nur das profes- Generierung und Weiterentwicklung des er-
sionelle Handeln in den verschiedenen insti- ziehungswissenschaftlichen Wissens an den
tutionalisierten pädagogischen Feldern, wie wahrheitsbezogenen theoretischen und me-
der Schule, der Sozialpädagogik, der Son- thodischen Standards des Wissenschaftssys-
derpädagogik und der Erwachsenenbildung. tems. Allerdings färben die mit der Qualifizie-
Auch das alltägliche, berufliche und politi- rungsaufgabe verbundenen Anforderungen,
sche Handeln rekurriert, bewusst oder unbe- die den Erziehungswissenschaften an den
wusst, auf pädagogisches Wissen. Die Erzie- Hochschulen abverlangt werden und die we-
hungswissenschaften sind der exponierte Ort sentlich zu ihrem rasanten Ausbau seit den
der Aufzeichnung, Tradierung, Generierung 1960er Jahren geführt haben, auch auf das er-
und Kommunikation dieses Wissens. Erzie- ziehungswissenschaftliche Wissen im Bereich
hungswissenschaftliches Wissen ist die do- der Erziehungswissenschaft als Disziplin ab.
minierende Ressource des in der Praxis ver- Erziehungswissenschaftliches Wissen steht da-
wendeten pädagogischen Wissens. Dennoch, mit durchgehend im Spannungsverhältnis von
und darauf weisen empirische Studien zu den Wissenschaft und Profession sowie von Theo-
verwendeten Wissensbereichen in den päda- rie und Praxis.
gogischen Handlungsfeldern und die Pro- Wie in allen anderen Wissenschaften so hat
fessionsforschung nachdrücklich hin, deckt die Wissensgenerierung auch in den Erzie-
sich das pädagogische Wissen nicht immer hungswissenschaften immer zwei Gesichter.
mit dem erziehungswissenschaftlich ausge- Mit der Beantwortung von Fragen entstehen
wiesenen Wissen. In modernen, inzwischen zugleich immer neue Fragen. Der wissen-
vielfach als Wissensgesellschaften charakteri- schaftliche Erkenntnisprozess bleibt inso-
sierten Gesellschaften ist eine Pluralisierung fern ein in die Zukunft hin offener Prozess,
der Orte der Wissensproduktion zu beob- auch wenn die Erfordernisse der Handlungs-
achten, ohne dass ein Bedeutungsverlust der praxis abgeschlossenes, kanonisiertes Wissen
Erziehungswissenschaft folgte. Die neu ent- verlangen. Mit der Erzeugung von Wissen
stehenden pluralen Formen pädagogischen wird unvermeidbar zugleich neues Nicht-
Wissens sind nicht einfach wissenschaftsfern: Wissen hervorgebracht. Dieser Erkenntnis-
Zum einen verdanken sie sich selbst zum Teil prozess führt indes nicht immer wieder auf
einer Veralltäglichung und Entgrenzung er- einen imaginären Nullpunkt des Nicht-Wis-
ziehungswissenschaftlicher Wissensbestände sens zurück. Man kommt vielmehr – um ein
und wirken zum anderen auch auf diese zu- Bild aus der Sprache der Computerspiele zu
rück. Zudem sind unterschiedliche Perspek- verwenden – auf ein neues Level des Nicht-
tiven auf Wissen in den professionellen Pra- Wissen-Wissens. In dem Maße, in dem die
xisfeldern und in den wissenschaftlichen Erziehungswissenschaften sich zu einer ‚nor-
Diskursen zu erkennen: Orientieren sich die mal science‘ entwickelt haben, haben diese
pädagogischen Praxen in den unterschiedli- ‚Levels‘ an Stabilität gewonnen, auch wenn
chen Handlungs- und Arbeitsfeldern, soweit ihr kanonischer Charakter prinzipiell immer
sie an der Aktualisierung des Wissens zur Ent- einen Zeitindex hat. Aber diese grundsätzli-
faltung ihrer Praxis interessiert sind, an den che Zeitlichkeit auch des jeweils gegenwärtig
Handlungserfordernissen eben dieser Praxen akkumulierten erziehungswissenschaftlichen

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8 Einleitung

Wissens erstreckt sich auf größere Zeithori- stellen, und neben dem Unterricht als einer
zonte. zentralen pädagogischen Sozialform den zu-
Bei dem erziehungswissenschaftlichen Wis- nehmend an Gewicht gewinnenden Bereich
sen, das dieser Einführungsband vor allem der Medien erörtern. In der vierten, der größ-
Studierenden und Professionellen zugänglich ten Abteilung, stehen unter der Überschrift
macht, handelt es sich insofern um das gegen- ‚Praktiken‘ die Beiträge zum Lehren, Lernen,
wärtig vorliegende, gesicherte theoretische, Helfen, Beraten, Üben, zur Evaluation, zur
historische und empirische erziehungswis- Didaktik und Methodik, zum Disziplinieren
senschaftliche Wissen, das eine Grundlage und zur Aufmerksamkeit. Die letzte, unter
zur Beteiligung am erziehungswissenschaft- der Überschrift ‚Reflexionen‘ stehende Ab-
lichen Diskurs eröffnet und die Nutzung der teilung behandelt die Probleme eines pädago-
dort generierten Erkenntnisse für die Bewäl- gischen Ethos, von pädagogischer Profession
tigung von Aufgaben ermöglicht, die sich in und erziehungswissenschaftlicher Disziplin,
je besonderen beruflichen Situationen stellen. des Erziehungssystems, der Bildungspolitik,
Damit wird allerdings – um Missverständ- der erziehungswissenschaftlichen Forschung,
nissen vorzubeugen – nicht der Anspruch der Praxisreflexion und des wissenschaftli-
verbunden, dass das hier vorgestellte erzie- chen Arbeitens.
hungswissenschaftliche Wissen eine direkte Die Beiträge versuchen einen breiten Über-
Anleitung oder Anwendung in beruflichen blick über den jeweiligen Problemstand zu ge-
Feldern finden kann. Vielmehr bietet es Er- ben. Sie erschließen den Studierenden als wis-
kenntnisse, liefert Reflexions- und Denkan- senschaftlichen Novizen bei Beginn und im
stöße, um pädagogische Aufgaben, Kontexte, Verlauf des Studiums einen kompetenten Zu-
Orte und Praktiken auf der Höhe des gegen- gang zur Erziehungswissenschaft und dienen
wärtigen Wissenstandes besser verstehen und auch Professionellen zur kontinuierlichen the-
befragen zu können. oretischen Selbstvergewisserung und Selbst-
In diesem Band wird das erziehungswis- beobachtung im Kontext ihrer beruflichen
senschaftliche Wissen in fünf Abteilungen Arbeit. Alle Beiträge folgen, von individuel-
präsentiert, die insgesamt das Feld der Er- len, aus dem spezifischen Thema resultieren-
ziehungswissenschaft umfassend und sys- den Varianzen abgesehen, einem durchge-
tematisch abdecken. In der ersten Abteilung henden Schema: Ausgangspunkt ist die Frage,
werden unter der Überschrift ‚Aufgaben‘ die welches Thema mit dem jeweiligen Begriff
Leistungen behandelt, die vom pädagogi- angesprochen ist. Anschließend wird seine
schen Feld erwartet werden. Es handelt sich historische Dimension erhellt, es werden die
hierbei um die erziehungswissenschaftli- mit dem Begriff verknüpften theoretischen
ches Denken und pädagogisches Handeln Konzepte entfaltet und die wesentlichen em-
leitenden Grundorientierungen. Im Einzel- pirischen Befunde zum jeweils angesproche-
nen geht es um Bildung, um Erziehung, um nen Thema referiert. Ein Ausblick auf aktuel-
Sozialisation, um Wissenskommunikation, le Problemlagen schließt die Beiträge jeweils
um Prävention und Selektion. In der zwei- ab. Insgesamt bemühen sich die Beiträge da-
ten Abteilung werden unter der Überschrift bei, den Stand des erziehungswissenschaft-
‚Bezüge‘ als wesentliche Kontexte der Reali- lichen Wissens zum jeweiligen Thema in
sierung dieser Aufgaben die Komplexe Ge- knapper, aber ausreichend differenzierter
neration, Geschlecht und Migration behan- und insofern wissenschaftlich durchaus an-
delt. In der dritten Abteilung sind unter der spruchsvoller Gestalt zu präsentieren. Die Li-
Überschrift ‚Orte‘ jene Beiträge versammelt, teraturverweise haben die Aufgabe, für eine
die einen Einblick in das breite Spektrum pä- intensivere Beschäftigung die Spuren zu le-
dagogischer Felder geben, die organisationale gen, die nach dem ersten Überblick, den die
Einbindung von Erziehung und Bildung dar- Beiträge geben, weiter zu verfolgen wären.

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Einleitung 9

Dieser Fortführung dienen auch die Hinweise Erziehungswissenschaft“ ist zunächst den
auf zentrale Forschungs- und Serviceeinrich- Autorinnen und Autoren zu danken, die in
tungen, auf Fachgesellschaften und auf weite- ihrem inzwischen ja äußerst eng geworde-
re nützliche Internetadressen. Ein Verzeich- nen inner- und außeruniversitären wissen-
nis der Autorinnen und Autoren schließt die schaftlichen Berufsalltag noch genügend Zeit
Einführung ab. für die, zum Teil unerwartet aufwendige Ar-
Die Darstellung des erziehungswissen- beiten an den Beiträgen freimachen konnten.
schaftlichen Grundwissens geschieht in der Insbesondere ist aber Herrn Dr. Klaus-Peter
Weise, dass dreißig Begriffe ausgewählt wur- Burkarth im Lektorat des Kohlhammer Ver-
den, in denen die zentralen Probleme erzie- lags zu danken, ohne dessen publikationser-
hungswissenschaftlicher Reflexionen ver- fahrenen Blick die Orientierung dieses Ban-
dichtet dargestellt und erörtert werden. Mit des an den Erwartungen der zukünftigen
dieser Auswahl sind der Umfang und die Tie- Leserinnen und Leser nicht die nun vorlie-
fe des erziehungswissenschaftlichen Wissens gende Gestalt gewonnen hätte.
indes keineswegs vollständig abgedeckt. So
könnte etwa auf das Fehlen von Beiträgen un- Jochen Kade
ter den Stichworten Familie, Arbeit und Be- Werner Helsper
ruf, Biographie, Geschichte und Gesundheit Christian Lüders
verwiesen werden. Der Band ist – entspre- Birte Egloff
chend der Offenheit des Wissens – nicht ge- Frank-Olaf Radtke
schlossen, sondern offen. Er kann und wird Werner Thole
sicher fortgeschrieben werden.
Für das zügige Zustandekommens dieses Frankfurt am Main/Halle/München/Kassel, im
Bandes 5 in der Reihe „Grundriss Pädagogik/ September 2010

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1 Aufgaben

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Bildung
Jörg Zirfas

1 Was meint Bildung? Jahren durch Begriffe wie Selbstorganisation,


Lernen, Identität u. a. m. (die den Bildungs-
begriff ersetzen sollten) scheinbar obsolet
Obwohl Bildung als einer der zentralen geworden, ist der Bildungsbegriff für die pä-
Grundbegriffe der Pädagogik gilt, fällt seine dagogische Diskursbildung nach wie vor un-
genauere pädagogische Bestimmung schwer, verzichtbar. Denn in ihm bündeln sich päda-
da es keine allgemeingültige Definition von gogische Fragestellungen und Dimensionen
Bildung gibt. Bildung ist einerseits ein alltags- wie in einem Brennpunkt.
sprachlicher Begriff mit einer Fülle von Kon- Im Fokus des Bildungsbegriffs steht eine
notationen, andererseits eine in vielen (geis- spezifische Problemlage, die als – abstrakt
tes- wie natur-)wissenschaftlichen Disziplinen formuliert – Subjektivierung objektiver Sach-
gebräuchliche Kategorie mit je unterschiedli- verhalte und als Objektivierung subjektiver
chen Traditionen und schließlich auch in der Gegebenheiten verstanden werden kann. In
Pädagogik selbst ein Konzept, das je nach pä- diesem Sinne kann man formulieren, dass der
dagogischer Richtung bzw. Schule verschie- Bildungsbegriff ein Wechselverhältnis zwi-
dene Bedeutungen aufweist. Das heißt, dass schen einem Einzelnen und einem Allgemei-
sich die Bedeutung von Bildung nur vor dem nen enthält, das – im Unterschied zum Erzie-
Hintergrund von spezifischen Bildungsthe- hungsbegriff – die Seite des Einzelnen betont.
orien bestimmten lässt (vgl. Hansmann/Ma- Bildung beschreibt die Auseinandersetzung
rotzki 1988/1989): So versteht etwa die geis- des Einzelnen mit als allgemein oder univer-
teswissenschaftliche Pädagogik unter Bildung sell geltenden Bestimmungen von Welt, Ver-
die wechselseitige Erschließung von Ich und nunft, Sittlichkeit oder Humanität. In der Re-
Welt, die kritische Erziehungswissenschaft gel wird mit Bildung daher die Verschränkung
identifiziert Bildung mit Emanzipation, die von Individualität und Kultur, von Eigenheit
empirische Erziehungswissenschaft übersetzt und Humanität, von Selbst und Welt verstan-
Bildung in messbare Kompetenzmodelle und den, wobei Kultur, Humanität und Welt als
eine phänomenologische Pädagogik setzt auf objektive Seite, Individualität, Eigenheit und
Bildung als Entfaltung von Sinnlichkeit. Selbst als subjektive Seite der Bildung gelten.
Als pädagogischer Begriff ist Bildung seit Bildung meint einen differenzierten, intensi-
der Aufklärung und dem Neuhumanismus ven und reflektierten Umgang mit sich und
ein Indikator für zentrale Fragestellungen der Welt, der zur Ausformung eines selbst-
und Problemhorizonte der Erziehungswis- bestimmten kultivierten Lebensstils führt.
senschaft, wie die Debatten um selbstzweck- Sie ereignet sich als Antwort des Subjekts auf
hafte oder utilitaristische, klassische oder Fremdheits- und Krisenerfahrungen.
moderne, humanistische oder realistische, Generell wird der Bildungsbegriff dabei ge-
grundlegende oder weiterführende, allge- prägt durch eine Dichotomie von Deskription,
meine oder berufliche, individuelle oder kol- etwa in Bezug auf die Entwicklung von Re-
lektive, schulische oder außerschulische etc. flexivität oder Sozialität, und von Normativi-
Bildung bis heute beweisen. Vielfach wegen tät, der kontrafaktischen Unterstellung eben
seiner semantischen Uneindeutigkeit und jener Entwicklungen. So wird der Begriff der
Unbestimmbarkeit kritisiert und nach der so- Bildung sowohl deskriptiv als (Selbst-)For-
zialwissenschaftliche Wende in den 1960er mungsprozess des Menschen als auch nor-

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14 Bildung

mativ als dessen Bestimmung, als Sinn und Sie braucht zweitens Geschichte und zwar in
Zweck menschlichen Daseins verstanden. individueller wie in sozialer oder politischer
Unter Bildung lassen sich sowohl die Pro- Perspektive, die je nach Interpretation als
zesse selbst, darüber hinaus die Resultate Fortschritts- oder Verfallsgeschichte gelesen
dieser Prozesse, aber auch spezifische Bil- werden kann. Bildung braucht drittens sozi-
dungsstoffe (Bildungsinhalte, Bildungsge- ale Zustimmung, d. h. die Anerkennung von
halte) sowie bestimmte notwendige Voraus- pädagogischen, sozialen, moralischen oder
setzungen von Fähigkeiten und Vermögen wissenschaftlichen Standards, die in jeder
verstehen. Bildungsresultate sind spezifische Generation neu ausgehandelt werden müssen.
soziale bzw. individuelle habituelle Prägun- Sie braucht viertens wissenschaftliche Erfor-
gen, die über Erfahrungen und mimetische schung, was meint, dass differenziert werden
Prozesse erworben worden sind. Bildungspro- muss zwischen der praktischen Bildungsre-
zesse kennzeichnen eine strukturelle transfor- flexion und der theoretischen Analyse von
matorische Differenz, die sowohl in zeitlicher, Bildung, zwischen Bildung und Bildsamkeit.
identifikatorischer, institutioneller oder sozi- Und schließlich braucht Bildung fünftens in-
aler Hinsicht bestehen kann. Die Frage nach dividuelle Selbstbeschreibung, da die Diffe-
den Bildungsstoffen (Bildungsinhalte und Bil- renz zwischen den kulturellen Mustern und
dungsgehalte) ist durch Curricula- und Ka- den individuellen, autobiographischen Bear-
nondebatte geläufig. Als Bildungsvorausset- beitungen für sie konstitutiv ist.
zungen werden kulturelle, ökonomische oder Unter strukturellen Gesichtspunkten wer-
soziale Voraussetzungen bezeichnet, die wie- den mehrere Dimensionen zur Bildung ge-
derum die Bedingung der Möglichkeit für ge- rechnet: erstens spezifische Fähigkeiten,
lingende Bildungsprozesse und Bildungsre- Verfahren, Fertigkeiten, Kompetenzen, Schlüs-
sultate darstellen. selqualifikationen (formale Bildung), zwei-
Oftmals differenziert man zwischen the- tens spezifische, oftmals kanonisierte oder als
oretischer, praktischer und ästhetischer Bil- klassisch bezeichnete (Wissens-)Kenntnisse
dung: Während die theoretische Bildung auf (materiale Bildung), drittens die Dialektik
die wissenschaftliche Betrachtung, definito- von Können und Wissen, Ich und Welt, An-
rische Gliederung bzw. Klassifizierung und eignung und Kritik (kategoriale Bildung),
gesetzmäßige Erfassung der Dinge und ih- viertens ein lebenslanger, unabschließbarer,
rer Zusammenhänge abzielt, richtet sich biographischer oder institutioneller Lernpro-
die praktische Bildung auf die Zwecke und zess (biographische oder institutionelle Bil-
Mittel menschlichen Handelns, auf die mo- dung) und schließlich fünftens die Idee einer
ralische Betrachtung und Umsetzung von humanen, für alle lebenswerten Gesellschaft
Regeln, Institutionen und Werken. Die äs- (utopische Bildung).
thetische Bildung schließlich hebt auf Fra- Sodann muss darauf hingewiesen werden,
gen der Wahrnehmung, des reflektierten dass mit „Bildung“ im Kontext der sich eta-
Geschmacksurteils, der performativen Dar- blierenden und saturierenden bürgerlichen
stellung oder des Umgangs mit kunstförmi- Gesellschaft spätestens seit der Mitte des
gen Gegenständen ab. 19. Jahrhunderts auch Statussignale und Dis-
Eine andere Gliederung des Bildungsbe- tinktionssysteme verbunden sind. Die „Gebil-
griffs schlägt Langewand (1994) vor, wenn er deten“ verstehen sich als eigene, von anderen
sachliche, temporale, soziale, wissenschaftli- abgehobene und anderen überlegene Gruppe,
che und autobiographische Dimensionen aus- die ihre eigenen Privilegien quasi von Natur
differenziert. Das heißt: Bildung braucht ers- aus mit dem Besitz von Bildung legitimiert.
tens Stoffe, d. h. Inhalte, mit denen sich der Bildung fungiert hier als soziale Abgrenzung.
Mensch auseinandersetzt; diese Inhalte ha- Und schließlich wird in den jüngeren Ent-
ben einen unterschiedlichen Bildungsgehalt. wicklungen der Kommerzialisierung und Pri-

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Historische Dimensionen 15

vatisierung der Bildungssysteme durch diver- gen bzw. der Bildsamkeit des Zöglings, kurz:
se Bildungsanbieter (Stichwort: Public Private auf den sog. Pädagogischen Ternar von An-
Partnership) auch der Aspekt der Bildung als lage, Übung und Belehrung. Der Begriff der
„Marke“ oder „Ware“ bedeutsam. „cultura animi“ stellt in der römischen An-
tike den Kernaspekt der Bildung dar. In An-
lehnung an die agrarische Tätigkeit der Bo-
denkultivierung, der „cultura agri“, wird hier
2 Historische Dimensionen das Bild der Kultivierung des Geistes bzw. der
Seele gebraucht. Der Inbegriff des Gebildeten
wird für die Griechen durch den Begriff ka-
Das Wort Bildung, ahd. bildunga, mhd. bil- lokagathia und für die Römer durch den des
dunge, hat zunächst den Bedeutungsumfang vir bonus benannt, die jeweils in einem en-
von Bild, Ebenbild, Nachbild, Nachahmung; gen Zusammenhang mit den Begriffen are-
später kommen dann Gestalt, Gestaltung, te bzw. virtus stehen. Als Ziel menschlichen
Schöpfung und Verfertigung hinzu. Zunächst Lebens bezeichnen sie die vollkommene
bezieht sich der Begriff auf die äußere Gestalt Übereinstimmung von Schönheit und Güte,
von Menschen, Tieren und Pflanzen; seit dem die bestmögliche Verfassung des Menschen.
18. Jahrhundert wird er in immer größer wer- In ihnen gehen das Soziale, das Ethische
dendem Umfang für deren innere Gestalt und und das Ästhetische eine enge Verbindung
die innere Formung verwendet. Bildung gilt ein.
als typisch deutsches Deutungsmuster, das in Aus der jüdisch-christlichen Tradition
andere Sprachen nur unzureichend übersetzt stammt der an vielen Stellen des Alten wie
werden kann (vgl. Bollenbeck 1996). des Neuen Testaments belegbare Zusammen-
Während das Wort „Bildung“ seine päda- hang der göttlichen mit der menschlichen
gogische Karriere im 18. Jahrhundert beginnt, Welt durch den Bildbegriff, etwa in der Vor-
ist der Begriff wesentlich älter (vgl. Benner/ stellung, dass Gott den Menschen „nach sei-
Brüggen 2004). Historisch betrachtet hat der nem Bild geschaffen habe“ (1 Mose 1, 26–27).
Begriff mehrere, mit der humanistischen Tra- Das hiermit verbundene Bildungsideal be-
dition des Abendlandes verbundene Wurzeln. steht darin, zum Ebenbild Gottes (imago dei)
Dabei steht in der Antike die Theorie und Re- zu werden. Das bedeutete im spätmittelalter-
flexion von Bildung im Mittelpunkt, im Mit- lich-mystischen Denken, sich von Mensch-
telalter die Wortgeschichte und in der Neu- lichem zu „entbilden“, damit man sich das
zeit die Modellgeschichte. Mit den jeweiligen Göttliche „ein-“ und „überbilden“ konnte.
Bildungsbegriffen gehen jeweils unterschied- Bis ins 17. Jahrhundert hinein war Bildung
liche anthropologische Bildungsideale und als Versuch, Gottähnlichkeit durch die Wie-
Leitbilder einher. derherstellung der einst als unschuldig gel-
In der griechisch-hellenischen Antike wird tenden menschlichen Natur zu erreichen, für
unter dem Wort „plattein“ die Möglichkeit die christliche Pädagogik das vorrangige Bil-
verstanden, die Seele analog dem Körper zu dungsideal.
bilden. Der Ausdruck „paideia“, der nicht nur Mit dem Humanismus und der Renais-
die Bedeutungsdimensionen von Bildung, Er- sance setzte sich bereits ein neues, elitär-aris-
ziehung, Unterricht, Lehre und Züchtigung, tokratisches Bildungsideal durch, das den
sondern auch diejenigen von Wissenschaft, uomo universale, später den honnête homme
Geschmack, Kindheit und Jugend umfasst, oder den Gentleman in den Mittelpunkt
verweist zum einen auf ein bestimmtes Wis- rückte. Dieses Ideal zielte weniger auf eine
sen, einen Bildungskanon, zum anderen auf moralische, politische oder religiöse, sondern
die Frage nach der Vermittlung und Lehrbar- vielmehr auf eine dezidiert kulturelle Bildung
keit und drittens auf die Frage nach den Anla- durch die Beschäftigung mit den Künsten.

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16 Bildung

Dadurch wird der Gedanke des Individualis- Bildungsmedien sind vor allem Spiele und
mus gestärkt. künstlerische Betätigungen, die die unver-
Im 17. Jahrhundert wird von Comenius wechselbaren Eigenheiten und die individu-
eine Bildung (eruditio) eingefordert, die alle, ellen Entwicklungsprozesse am ehesten zur
alles, allumfassend belehrt: Alle Menschen Geltung bringen können. Durch diese Form
sind Adressaten von Bildung, die wiederum der Bildung sollen das Paradies der Kindheit
alles menschliche Wissen in einer allumfas- erhalten und kindliche Potentiale gefördert
senden (= strukturierten) Form betrifft. An- werden.
dererseits wird mit Leibniz und seiner Mo- Seit der Aufklärung ist Bildung schließ-
nadenlehre der Gedanke der Individualität lich auch mit einem Emanzipationsverspre-
endgültig im Bildungsdenken verankert. chen versehen, das einerseits darauf zielt, das
Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts (Bildungs-)Bürgertum als neue Klasse gegen-
wird dann mit den Philanthropen einerseits über den feudalen und klerikalen Kräften aus
der bis heute gebräuchliche Kompetenz-Be- dem traditionellen Ständedenken freizuset-
griff von Bildung wichtig, der auf bestimm- zen und das andererseits in seiner marxisti-
te, für die Gesellschaft bedeutsame utilitaris- schen Variante auf die Bildung einer huma-
tische Qualifikationen abhebt; andererseits nen Gesellschaft zielt, in der die Verhältnisse
wird, z. B. von Kant, der Mündigkeitsaspekt überwunden werden sollen, die die Menschen
von Bildung betont, die die Menschen zur entmündigen und entwürdigen. Dafür steht
Vernunft und zur Moral führen soll. Wäh- als Bildungsideal auf der einen Seite der durch
rend in ersterem (philanthropischen) Bil- Kunst, Kultur und Wissenschaft gebildete Bil-
dungsmodell betont wird, dass der Mensch dungsbürger, auf der anderen Seite die durch
sich zum Bürger zu bilden habe, so wird im die polytechnische Bildung allseitig gebildete
zweiten darauf abgezielt, dass der Bürger sozialistische Persönlichkeit.
sich zum Menschen bilden soll. Und wird im Eine eindeutige Akzentuierung des Bil-
ersten Modell der Gedanke betont, dass das dungsbegriffs im 20. Jahrhundert erscheint
Leben bildet, so im zweiten, dass die Selbst- schwierig, auch wenn sich grosso modo im re-
bildung die entscheidende Grundlage für Bil- formpädagogischen Diskurs starke Anklän-
dungsprozesse darstellt. ge an die romantische Tradition der Bildung
In der Klassik und im Neuhumanismus als Entfaltung, in der geisteswissenschaft-
wird bei Herder, Schiller und Humboldt, und lichen und kritischen Pädagogik die Tradi-
literarisiert im klassischen Bildungsroman tionen der Aufklärung und des Neuhuma-
z. B. bei Goethe oder Moritz, das Wechsel- nismus mit Bildung als Mündigkeit bzw. als
verhältnis von Ich und Welt zum zentralen Wechselwirkung von Ich und Welt und in der
Thema der Bildung. Bildung wird hier mit empirischen Erziehungswissenschaft die auf-
sprachlicher, kultureller, ästhetischer und klärerisch-utilitaristische Akzentuierung von
philosophischer Bildung in Verbindung ge- Bildung als Qualifikation wieder finden las-
bracht und gegen die praktische und techni- sen.
sche Ausbildung abgegrenzt. Der Gebildete Zusammenfassend lässt sich konstatieren,
zeichnet sich vor allem durch seine sprachli- dass das Ziel der älteren Modelle von Bildung
che, historische und kosmopolitische Kulti- darin bestand, den Menschen zu einem Bild
viertheit aus. von etwas Vorgegebenen zu machen (affir-
In der Romantik dominiert – etwa bei mative Theorie), während das der modernen
Rousseau oder Fröbel – das Modell der Bil- Theorien darin zu sehen ist, den Menschen zu
dung als organische Entfaltung von natürli- seinem Bild werden zu lassen (nicht affirma-
chen Anlagen. Bildung ist dabei stark kind- tive Theorie).
zentriert, gegenwartsbezogen und gesteht
jeder Entwicklungsstufe einen Eigenwert zu.

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Theoretische Konzepte 17

3 Theoretische Konzepte kritische Potentiale enthält, werden folgende


Grundelemente von Bildung identifiziert: Ers-
tens die Befähigung des Individuums zu ver-
Im Folgenden sollen drei Modelle von Bildung nünftiger Selbstbestimmung in Lebensbezie-
vorgestellt werden, die für das moderne Bil- hungen und Sinndimensionen, zweitens die
dungsdenken in der Pädagogik eine große Re- Befähigung des Individuums zur vernünfti-
levanz besitzen. gen Mitbestimmung, Partizipation und Ver-
Der zentrale Gedanke von Wilhelm von antwortung und drittens die Befähigung zur
Humboldt (1767–1835) zielt auf die Grund- Solidarität, zum Eintreten für andere Men-
sätzlichkeit von Bildung: Bildung ist, so könnte schen. Unter dem Blickwinkel der Allgemein-
man überspitzt formulieren, der Ursprung des bildung erscheinen bei Klafki wiederum drei
Menschen. Nicht die spätere Berufstätigkeit, Aspekte, die schon von Comenius in ähnlicher
nicht das Sozialwerden, nicht die Enkultura- Form bekannt sind: Erstens Bildung für alle
tion oder die Qualifizierung, nicht Erziehung als demokratisches Bürgerrecht der Selbstbe-
oder Moralisierung, sondern Bildung ist kon- stimmung, zweitens Bildung in allen Grund-
stitutiv wie regulativ für den Menschen. Diese dimensionen menschlicher Fähigkeiten (kog-
grundlegende Menschenbildung ist die Basis nitive, technische, emotionale etc.) im Sinne
seiner Schulpläne für Königsberg und Litauen. der freien Interessen- und Persönlichkeitsent-
Bildung bedeutet (formal) die eigenen Kräfte faltung und schließlich drittens Bildung im
möglichst weitreichend und harmonisch zu Medium des Allgemeinen als Aneignung von
entfalten, damit der in der Menschheit ange- Frage- und Problemhorizonten, die als epo-
legte innere Reichtum bei einer möglichst gro- chaltypische Schlüsselprobleme Gegenwart
ßen Zahl von Individuen so weit wie möglich und Zukunft der Menschen zentral beeinflus-
realisiert wird. Die mit dieser Realisierung sen (Krieg, Frieden, Ökologie, Ökonomie etc.).
verbundene humanistische Würde lässt sich Hartmut von Hentig (geb. 1925) schließlich
dadurch erlangen, dass man sich (materiell) hat ein sehr eigenwilliges Konzept von Bildung
am Vorbild des klassischen Griechentums ori- vorgelegt, das er nicht – wie Klafki – in rekon-
entiert, das sich nach Humboldt für alle Le- struktiver Manier erarbeitet hat, sondern das
bens- und Kulturbereiche geöffnet hatte. Für in reformpädagogischer Tradition der Kri-
Bildung braucht es Freiheit und Mannigfal- tik an Schulbildung der Frage nachgeht, wel-
tigkeit der Eindrücke, die für Humboldt vor che Form von Bildung die Schule den Kindern
allem sprachlicher, kultureller und geselliger und Jugendlichen heute vermitteln soll (vgl.
Natur sind. Bildung ist ein lebenslanger, nicht Hentig 1999). Hentig benennt diesbezüglich
abschließbarer Prozess, der im Kontakt mit sechs Maßstäbe: Erstens Abscheu und Abwehr
dem Anderen (Kultur, Sprache etc.) und in der von Unmenschlichkeit, zweitens die Wahr-
Rückkehr zu sich selbst gewonnen wird: Der nehmung von Glück, drittens die Fähigkeit
Mensch wird im Bildungsprozess gebildeter, und den Willen, sich zu verständigen, viertens
weil er sich für die Welt aufgeschlossen hat, ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der
und auch die Welt wird gebildeter, weil sie für eigenen Existenz, fünftens Wachheit für letz-
den Menschen aufgeschlossen wurde. te Fragen und sechstens die Bereitschaft zur
Wolfgang Klafki (geb. 1927) hat in seiner Selbstverantwortung und zur Verantwortung
Rekonstruktion der Pädagogik der Aufklä- in der res publica. Diese Bildungsmaßstäbe
rung und des Neuhumanismus den Bildungs- sollen Anlässe für Einsicht und Freude sein,
begriff als Antwort auf die und als Chance für die als Bildungsmedien die Selbstbildung der
die mit der Moderne verbundenen Probleme einzelnen Schüler ermöglichen sollen.
konzipiert (Klafki 1996). In seiner Zusam- Ingesamt wird in dieser knappen Darstel-
menfassung des klassischen Bildungsgedan- lung deutlich, dass der Bildungsbegriff immer
kens, der humanistische, aufklärerische und auch eine kritische Funktion hat, die vielen

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18 Bildung

seiner Ersatzbegriffe fehlt. Gleichwohl wird es sierten Leistungsmessungen vollzieht. Der


in der Moderne aufgrund der Pluralität von hierin deutlich werdenden theoretischen
Bildungsmodellen und ihren Begründungen Auffassung eines funktionalen, kompetenz-
zunehmend schwieriger, (formale und inhalt- orientierten Bildungsbegriffs korrespondiert
liche) Kriterien eines allgemeingültigen Bil- eine Hinwendung der Forschung zu Output
dungsbegriffs angeben zu können. orientierten Bildungsauffassungen. Bildung
wird in diesen Diskussionen häufig mit litera-
cy gleichgesetzt. Mit Literalität wird vor allem
auf die Fähigkeiten der Informationsgewin-
4 Empirische Befunde nung und -nutzung, die Teilhabe an schrift-
basierten Kulturen, soziale, mediale und
wissenschaftliche Lese- und Schriftpraxen,
Je mehr Bildung, wie in der Moderne, als po- Möglichkeiten eines erfolgreichen persönli-
litischer und sozialer Anspruch an den Ein- chen, ökonomischen und gesellschaftlichen
zelnen herangetragen wird, desto weniger Lebens, die Fähigkeiten zu logischem Den-
wird Bildung als radikal individuelle, norma- ken, historischem Bewusstsein und kritischer
tive oder ideologische Figur verstanden wer- Einschätzung sowie auf Voraussetzungen zur
den können. Bildung als soziale Forderung Weiterbildung und Entwicklung abgehoben.
muss dann durch (vor allem empirische) Bil- In diesem Sinne wird insgesamt eine mit
dungsforschung operationalisierbar und über- den PISA-Diskussionen verbundene Fixierung
prüfbar gemacht werden, damit das Bildungs- auf einen (angelsächsischen) qualifikations-
minimum garantiert und die Lernfähigkeit relevanten, wissenschaftsorientierten, funk-
kultiviert werden kann (vgl. Tenorth 1994). tionalistischen und produktorientierten Bil-
Hierbei spielen Bildungsstandards als Mini- dungsbegriff deutlich. Anders formuliert: Die
mal-, Regel- oder Idealstandards eine ent- PISA-Tests messen nur die Qualifikations-
scheidende Rolle. Diese in Deutschland als merkmale von Bildung, die sie überprüfen
Regelstandards konzipierten Normen kön- können; allerdings lässt sich stark bezweifeln,
nen dann zu spezifischen Zeitpunkten im Bil- ob mit den verwendeten überwiegend quan-
dungsgang (etwa nach der 4. und 9. Jahrgangs- titativ-empirischen Verfahren spezifische,
stufe der Schule) gemessen werden. außerordentliche, reflexive oder konjunkti-
Die PISA-Studie stellt eine solche Überprü- ve Bildungsprozesse in den Blick genommen
fung von Bildungsstandards im 9. Schuljahr werden können. Dienen doch die Bildungs-
dar (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001). standards nicht primär der individuellen
Zwei für Deutschland wenig erfreuliche Er- Leistungsmessung, sondern der Überprüfung
gebnisse bestanden darin, dass ein Viertel al- der jeweiligen Bildungssysteme. Zudem bleibt
ler 15- oder 16-Jährigen mit sehr dürftigen die Unterstellung fraglich, ob die in diesen
Kompetenzen in Lesen und Mathematik die Tests in den Blick geratenden Bildungskom-
Schule verlässt und dass die soziale Schicht petenzen sowohl dem Umfang als auch der
in hohem Maße mit dem Bildungserfolg kor- Nachhaltigkeit nach auf ein Leben in moder-
reliert. Zusammengefasst lautet der Befund, nen Gesellschaften vorbereiten.
dass das deutsche Bildungssystem wenig in-
tegrierend und fördernd, dafür aber äußerst
selektiv funktioniert.
Ungeachtet dieser ernüchternden Ergeb- 5 Aktuelle Problemlagen
nisse lässt sich eine Konzentration auf Bildung
als einen Qualifizierungsbegriff feststellen,
dessen Erhebung sich vor allem im Rahmen Die sich an diese empirischen Studien (vor al-
quantitativer Lernforschung mit standardi- lem an TIMSS und PISA) anschließenden De-

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Literatur 19

batten standen u. a. im Kontext der Frage nach wiederum das Selektionsrisiko erhöht und
struktureller Chancengleichheit bzw. nach Bil- zugleich legitimiert. In einem gerechten Bil-
dungsbenachteiligung im Bildungssystem. So dungssystem müssen aber alle gleich und alle
ist nicht nur von Gutachtern der OECD, son- ungleich behandelt werden, so dass Durchläs-
dern auch von der EU und einer ganzen Rei- sigkeit im System im umfassenden Sinne ge-
he von deutschen Erziehungswissenschaftlern währleistet sein sollte.
hervorgehoben worden, dass es für die Systeme
der allgemeinen und beruflichen Bildung in
Europa und speziell in Deutschland nicht nur Literatur
bedeutsam sei, dass sie effektiv und effizient
zu funktionieren hätten, sondern auch, dass Benner, D./Brüggen, F. (2004): Bildsamkeit/Bildung.
In: Benner, D./Oelkers, J. (Hrsg.): Historisches
sie die Chancengleichheit gewährleisten müs-
Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel, 174–
sen, damit sich die sozialen Benachteiligungen 215
im Bildungssystem nicht noch vergrößern. Da- Bollenbeck, G. (1996): Bildung und Kultur. Glanz
mit die allgemeinen und beruflichen Systeme und Elend eines deutschen Deutungsmusters.
der Bildung die erforderliche Qualität errei- Frankfurt a. M.
chen, die zur Schaffung von mehr Wachstum, Deutsches PISA-Konsortium (2001): PISA. Basiskom-
mehr Beschäftigung und mehr sozialer Kohä- petenzen von Schülerinnen und Schülern im inter-
nationalen Vergleich. Opladen
sion beiträgt, gelte es daher, diese Systeme u. a.
Hansmann, O./Marotzki, W. (Hrsg.) (1988/1989):
auch gerechter zu gestalten (vgl. Liebau/Zirfas Diskurs Bildungstheorie I: Systematische Markie-
2008). rungen; II: Problemgeschichtliche Orientierungen.
War es in den 1960er Jahren das sprich- Weinheim
wörtlich gewordene „katholische Arbeiter- Hentig, H. v. (1999): Bildung. Ein Essay. Weinheim/
Mädchen vom Lande“, das aufgrund seiner Basel
Konfession, seiner Schicht, seines Geschlechts Humboldt, W. v. (41985): Bildung und Sprache. Hrsg.
v. C. Menze. Paderborn
und seiner Wohnlage zu den Bildungsbenach-
Klafki, W. (51996): Neue Studien zur Bildungstheorie
teiligten gehörte, so muss man heute von einer und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und
anderen negativen Bildungsfigur ausgehen: kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim/Basel
dem „Migrantensohn aus der bildungsfernen Langewand, A. (1994): Bildung. In: Lenzen, D. (Hrsg.):
Familie in der Stadt“. Die Bildungsbenachtei- Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek
ligungen in sozialer, ökonomischer und kul- bei Hamburg, 69–98
tureller Hinsicht gelten als Begrenzungen von Liebau, E./Zirfas, J. (Hrsg.) (2008): Ungerechtigkeit
der Bildung – Bildung der Ungerechtigkeit. Opla-
Chancengleichheit. Über die Idee der Bil- den
dungschancengleichheit in Form von Start- Tenorth, H.-E. (1994): „Alle alles zu lehren“. Mög-
chancen, aber vor allem in Form von Auf- lichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung.
stiegs- und Wettbewerbsmöglichkeiten wird Darmstadt

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Erziehung
Roland Reichenbach

1 Reden über Erziehung achtbare, konkrete Verhaltensweisen, die als


„Erziehung“ (= Konstrukt) betrachten werden
können. Dazu müssten allerdings kognitive
„Erziehung“ ist sicher der Kern- oder Grund- Konzepte beansprucht werden, die nicht aus
begriff der Erziehungswissenschaft, würde der vorliegenden Wahrnehmung bzw. Situati-
man meinen. Aber ist es überhaupt möglich, onsbeurteilung folgen („Das ist – gute, schlech-
Erziehung wissenschaftlich zu untersuchen? te, eigenartige – Erziehung!“), sondern densel-
Und ist das, was Erziehungswissenschaftler/ ben vielmehr vorausgehen, sie strukturieren
innen vornehmlich tun, tatsächlich die wissen- und ermöglichen helfen.
schaftliche Erforschung von Erziehung, d. h.
die Erforschung von Erziehungsprozessen, Er-
ziehungsmitteln und -zielen, Diskursen über
Erziehung, Wirkungen von und Grenzen der 2 Was ist eine
Erziehung? Diese Fragen können kaum sinn- Erziehungssituation?
voll beantwortet werden, solange nicht ge-
klärt ist, was denn „Erziehung“ sei. Sucht man
Man betrachte folgende sechs minimale Si-
aber nach konkreten Bestimmungen, welche
tuationsbeschreibungen und frage sich, ob es
menschlichen Tätigkeiten als erzieherisches
sich hier jeweils um eine pädagogische Situa-
Handeln auszuweisen wären, so zeigt sich, dass
tion bzw. Erziehungssituation handele. Wor-
„Erziehung“ kein Beobachtungsbegriff dar-
an lässt sich dies erkennen? Welche Zusatzin-
stellt. Dies bedeutet erstens, dass (pädagogisch
formationen würden die Beantwortung dieser
einschlägiges oder interessierendes) soziales
Frage aus welchen Gründen in der einen oder
Handeln immer nur als Erziehung interpretiert
anderen Richtung erleichtern oder eindeutig
oder rekonstruiert werden kann, und zweitens,
machen?
dass die Rede über Erziehung im Grunde im-
mer nur eine Rede über die Rede der Erziehung 1. Die Lehrerin bittet Johann in der Pause, das
darstellt – und vielleicht „schlimmer“ noch –, Arbeitsblatt vom Boden aufzuheben.
dass nicht-metaphorisches Reden über Erzie- 2. Die Mutter tröstet den kleinen Janusz,
hung gar nicht möglich zu sein scheint. Israel nachdem er sich beim Raufen mit anderen
Scheffler (1971/1960) vertrat noch die Ansicht, verletzt hat.
das Reden über Erziehung könne in drei Grup- 3. Maria streitet mit ihren Eltern, welche da-
pen aufgeteilt werden, namentlich in Definiti- rauf beharren, dass ihre Tochter noch vor
onen, Metaphern und Slogans, so dass nicht- Mitternacht wieder zu Hause sein müsse.
metaphorisches Reden über Erziehung zwar 4. In der Lehrerkonferenz wird beraten, ob
unwahrscheinlich, aber doch nicht unmöglich Peter für die Versetzung zur nächst höhe-
sei. Aus sprachanalytischer Perspektive würde ren Schule empfohlen werden soll.
diese Möglichkeit heute noch kritischer einge- 5. Der Vater streicht Johns Taschengeld für
schätzt werden. In den Sozialwissenschaften zwei Wochen, weil dieser wiederum sein
wird gerne formuliert, es handele sich wie bei Zimmer nicht aufgeräumt hat.
anderen Begriffen auch bei der „Erziehung“ 6. Alice fragt sich, welchen Beruf sie ergrei-
um ein „Konstrukt“, d. h. Erziehung sei nicht fen soll; sie merkt, dass Sängerin zu werden
direkt beobachtbar, wohl aber gäbe es beob- wohl „bloß“ ein „Mädchentraum“ ist.

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Intentionale und funktionale Erziehung 21

Vielleicht ist es nicht unpassend, die relevan- ge Handeln, in dem die Älteren (Erzieher)
ten Tätigkeiten in diesen Situationen in der (1) den Jüngeren (Edukanden) im Rahmen ge-
Aufforderung bzw. dem Bitten oder Appellie- wisser Lebensvorstellungen (Erziehungsnor-
ren, (2) der Fürsorge bzw. dem fürsorglichen men) und unter konkreten Umständen (Er-
Verhalten (Trösten), (3) dem Ver- oder Aus- ziehungsbedingungen) sowie mit bestimmten
handeln, (4) der Beratung, (5) der Bestrafung Aufgaben (Erziehungsgehalten) und Maß-
und (6) der Selbstvergewisserung bzw. Selbst- nahmen (Erziehungsmethoden) in der Ab-
erkenntnis zu sehen. Nur, um das erste Bei- sicht einer Veränderung (Erziehungswirkun-
spiel aufzugreifen, wann oder inwiefern ist die gen) zur eigenen Lebensführung verhelfen,
Aufforderung, dieses Blatt vom Boden aufzu- und zwar so, dass die Jüngeren das Handeln
heben, pädagogisch bedeutungsvoll bzw. eine der Älteren als notwendigen Beistand für ihr
erzieherischere Handlung? Worauf kommt es eigenes Dasein erfahren, kritisch zu beur-
an? Was ist, wenn Johann nicht sechs, son- teilen und selbst fortzuführen lernen“ (Bo-
dern beispielsweise 18 Jahre alt ist? Ergibt sich kelmann 1970, 185). Nur, über nahezu jedes
dadurch eine Veränderung der Beurteilung? dieser Merkmale lässt es sich auf begründe-
Macht es einen Unterschied, ob das Blatt Jo- te Weise streiten. In demokratischen Gesell-
hann gehört oder jemandem anders? Ob es schaften hat auch die Wissenschaft nicht das
sich um eine schöne Zeichnung, ein wichti- letzte Wort bei der Bestimmung von Begrif-
ges Arbeitsblatt handelt oder bloß um beschä- fen, aber die Wissenschaft hat die Aufgabe,
digtes Notizpapier? Ob die Lehrerin will, dass Begriffe zu erhellen, vorzuschlagen und zu
dieses Blatt nicht auf dem Boden herum liegt, kritisieren. Dabei sind Unterscheidungen von
weil es beschädigt werden könnte oder einfach fundamentaler Bedeutung. Eine traditions-
weil es stört? Ob sie meint, Johann mit ihrer und folgenreiche Unterscheidung ist in der
Aufforderung beim Aufbau seines Sinnes für deutschsprachigen Pädagogik jene zwischen
Ordnung zu helfen? Und wenn dies so wäre: intentionaler und funktionaler Erziehung.
muss sie diesen Glauben artikulieren, ihre Er-
wartung für Johann wahrnehmbar machen?
Und muss Johann diese Intention verstehen?
Und wenn er sie nicht verstehen würde, wäre 3 Intentionale und funktionale
es dann keine Erziehung? Und was wäre, wenn Erziehung
Johann kein Kind, sondern ein Mitarbeiter in
einer Firma wäre, und sein Vorgesetzter die
Bitte formulierte: „Johann, darf ich Sie bitten, Formal betrachtet kann Erziehung als soziales
dieses Blatt aufzuheben?“ Wäre dies auch Er- Handeln von Erwachsenen bestimmt werden,
ziehung? welches sich auf das Lernen im Allgemeinen
Wie jeder gesellschaftlich zentrale Begriff bzw. auf dauerhafte Verhaltensveränderun-
(z. B. Identität, Gerechtigkeit, Liebe) ist auch gen (Auf- und Abbau von Verhaltensdisposi-
der Begriff der Erziehung strittig. „Strit- tionen) und die Förderung von Handlungs-
tig“ heißt nicht „schwammig“, sondern eben und Urteilsfähigkeit der heranwachsenden
„strittig“ (!), d. h. man kann durchaus auf Generation im Besonderen richtet. Während
kohärente Weise über Fragen der Erziehung der Handlungsbegriff intentionales und be-
diskutieren, wiewohl man sich schließlich wusstes menschliches Tun impliziert und Er-
vielleicht dennoch nicht darüber einig wird, ziehung demzufolge meist als „intentionale“
was nun Erziehung „wirklich“ und welches Tätigkeit verstanden wird, bezieht sich die so
jetzt günstiges oder das richtige Erziehungs- genannte „funktionale“ Erziehung auf ande-
handeln sei. Zwar wird eine Definition von re sozialisatorische Einflüsse, welche das Ler-
Hans Bokelmann zu Recht immer wieder nen und die Entwicklung der Kinder und Ju-
neu zitiert. Danach ist Erziehung „dasjeni- gendlichen in fast jeder Hinsicht (moralisch,

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22 Erziehung

politisch, religiös, ästhetisch …) prägen. Die dingungen bemühen sollte? Die Erwartung
Begrifflichkeit der „funktionalen Erziehung“ der Wirkung von intentionaler Erziehung
wurde von Ernst Krieck in „Philosophie der mag von Ohnmachtsphantasien (Erziehung
Erziehung“ (1930) eingeführt. Krieck mauser- bewirkt letztlich nichts oder ihre Wirkungen
te sich später zu einem der zentralen pädago- sind sowieso nicht voraussagbar…) bis hin zu
gischen Ideologen des nationalsozialistischen Allmachtsphantasien (der „neue“ und besse-
Regimes. Allerdings erörterte Krieck die Dif- re Mensch kann willentlich geformt werden,
ferenzierung zwischen funktionalen und in- die Menschheit kann als ganze durch Erzie-
tentionalen Aspekten der Erziehung noch in hung verbessert werden…) geprägt sein. Die
einem Werk, das sich grundlegenden pädago- Annahmen und Hoffnungen der Wirkung
gischen Fragen stellte. Darin wird die erziehe- erzieherischen Handelns können sicher auch
rische Wirkung auch der Gleichaltrigen und teilweise als Reaktionen auf die gesellschaftli-
der sozialen Gemeinschaft, der Gruppen und che und politische Situation und wahrgenom-
Generationen hervorgehoben. Nicht allein die menen Interventionsnotwendigkeiten und
ältere Generation erziehe die jüngere, sondern -möglichkeiten interpretiert werden. Als sol-
die Tatsache, dass Menschen – unvermeid- che stehen sie mit der Erziehungswirklichkeit
bar – Mitglieder von Generationen, Gruppen u. U. nicht in engem Kontakt. Giesecke hat in
und Gemeinschaften sind, habe erzieherische seinem Pamphlet „Das Ende der Erziehung“
Implikationen. Diese meist unbeabsichtigten (1985) beispielsweise die Thesen vertreten,
Einflüsse auf das Lernen und die Entwicklung dass man sich in der Erziehung nicht mehr
der Menschen werden heute vornehmlich so- um die Zukunft des Kindes kümmere, son-
zialisationstheoretisch analysiert, wobei der dern zunehmend nur noch um seine gegen-
Fokus eben nicht auf die intentionalen, prä- wärtigen Bedürfnisse, dass das Generationen-
skriptiven, reflexiv begründeten und normativ verhältnis diffundieren bzw. verschwimmen
legitimierten, sondern auf mehr oder weniger würde, die dominanten Sozialisationserfah-
unbeabsichtigte Einwirkungen gerichtet wird. rungen vor allem gegenwartszentriert sei-
Mit der begrifflichen Differenz von intentio- en, d. h. sich vorwiegend auf Konsum und
naler und funktionaler Erziehung bahnte sich Freizeit bezögen, und die Erziehungswissen-
an, was später die „realistische Wende“ in der schaft schließlich nicht mehr Erziehungspro-
pädagogischen Forschung heißen sollte (Roth zesse, sondern allein noch Sozialisationspro-
1962). So untersucht Sozialisationsforschung zesse beschreiben bzw. untersuchen würde.
heute im pädagogischen Bereich kaum noch Ein Vierteljahrhundert später bestätigen sich
die konkreten Formen und Tätigkeiten des Er- nicht alle, aber doch zentrale Aspekte der ge-
ziehungsprozesses, sondern – wohl weil wis- nannten Thesen. Dies wird u. a. im Diskurs
senschaftlich leichter, wenn auch immer noch über Kindheit und Jugend im Wandel deut-
nicht leicht zugänglich – familiäre, schulische lich (vgl. 6).
und außerschulische Sozialisationsbedingun-
gen, insbesondere auch in ihrem Wandel.
Interessant und bedeutsam ist nun die Fra-
ge, welche Wirkungsunterschiede wissen- 4 Erziehung im Kontext der
schaftlich belegt werden können: Ist die Wir- sozio-kulturellen Entwicklung
kung von intentionalem Erziehungshandeln
gegenüber den vielfältigen, Lebensphasen
und Lebensbereiche übergreifenden Soziali- Treml (1987) hat die Unterscheidung von
sationseinflüssen nicht letztlich zu vernach- funktionaler und intentionaler Erziehung in
lässigen? Oder sollte man davon ausgehen, den Kontext der sozio-kulturellen Evolution
dass das pädagogische Handeln sich gerade gestellt und grob zwischen drei Phasen der
um die Verbesserung der Sozialisationsbe- Menschheitsgeschichte unterschieden: archa-

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Erziehung im Kontext der sozio-kulturellen Entwicklung 23

ische Gesellschaften, Hochkulturen (seit ca. geschichtlichen Ausprägungsformen muss


5000 Jahren) und Moderne (seit 400–200 Jah- festgehalten werden, dass die Geschichte der
ren). Treml zufolge ist Erziehung in archa- Kindheit und Erziehung vor allem eindrück-
ischen Gesellschaften primär als Imitation lich und erschütternd ist (vgl. Ariès 1977; de-
(Nachahmung/Sozialisation), also funktional Mause 1992; Tenorth 1988). Bei der Bewertung
zu verstehen. Die damalige Familienerziehung der – aus heutiger Sichtweise – dramatischen
sei als Imitation und die Stammeserziehung Behandlung und teilweise leider auch Miss-
als Initiation zu begreifen. Erziehung dien- handlung der Kinder muss aus menschheits-
te vorwiegend der Traditionsbewahrung. In geschichtlicher Perspektive mitbedacht wer-
Hochkulturen tritt zur funktionalen auch die den, dass es bis vor wenigen Jahrhunderten
intentionale Erziehung hinzu, d. h. die Erzie- die Ausnahme war, als Neugeborenes oder
hungskultur differenziert sich. So gibt es für Kleinkind überhaupt einmal das Erwachse-
kleine Minderheiten absichtvolles erzieheri- nenalter zu erreichen: die Großzahl der Men-
sches Handeln und auch planvollen Unterricht schen ist in den meisten bisherigen Epochen
(beispielsweise für die Elite im alten Ägypten). als Kind gestorben (vgl. Dekkers 2001). Die
Im Unterschied zu den segmentären Ordnun- starke emotionale Bindung der Eltern an das
gen archaischer Gesellschaften – in denen eine Neugeborene und das aufwachsende Kind,
Vielfalt von gleichrangigen und gleichartigen die wir heute als normal und notwendig be-
„Segmenten“ (z. B. „Stämmen“, „Clans“) vor- trachten, ist insofern auch in der Funktion be-
kommen, die aber als Gesamtgefüge nicht zen- stimmter kultureller Bedingungen zu sehen,
tral organisiert sind – sind Gesellschaften in und keineswegs bloss „natürlich“. Damit deu-
den Hochkulturen stärker stratifikatorisch ge- tet sich an, dass wer über das „Wesen“ oder
prägt, also von sozialen Schichtungen; die Er- „Phänomen“ der Erziehung nachdenkt, wo-
ziehungspraxis zeigt sich dort für die obersten möglich besser bedient ist, von der Kultur der
sozialen Schichten wesentlich differenzierter, Erziehung statt von der Natur der Erziehung
bewusst und geplant, während nun das Lernen zu sprechen.
entsprechend nicht nur als mimetisch zu deu- Der Anspruch einer universellen – d. h.
ten ist. Mit der Moderne entsteht, um Treml kulturunabhängigen bzw. kulturübergreifen-
in seiner groben Unterscheidung weiter zu fol- den – Begriffsbestimmung von Erziehung ist
gen, das Ideal der intentionalen Erziehung für nur um den Preis der Abstraktheit bzw. In-
alle. Kulturelle Voraussetzung dazu ist u. a. die haltsleere aufrechtzuerhalten. Doch bis weit
Entmoralisierung und Desakralisierung der in das 20. Jahrhundert hinein gab es Bemü-
Natur bzw. der „natürlichen Ordnung“ (der hungen um eine allgemeine Bestimmung des
sozialen Unterschiede). Moderne Gesellschaf- „Wesens“ der Erziehung. Zu den bedeutsame-
ten zeichnen sich durch funktionale Differen- ren Versuchen im deutschen Sprachraum ist
zierungen aus; einerseits müssen und können sicher Wilhelm Flitners Vorschlag zu zählen.
nicht alle Gesellschaftsmitglieder alles lernen, In seiner Allgemeinen Pädagogik (1950/1997)
andererseits macht die Ausdifferenzierung der unterscheidet er vier Betrachtungsweisen, die
gesellschaftlichen Systeme sowie die damit als ein „Gefüge“ eines „umfassenden Erzie-
einhergehende Arbeitsteilung differenziertes hungsbegriffes“ (55) verstanden werden sollen.
schulisches Lernen nötig (a. a. O., 120). Das Neben der biologischen Betrachtungsweise
heißt aber natürlich nicht, dass der Einfluss (die „hilfsbedürftige Brut durch instinktmä-
der funktionalen Erziehung und anderer sozi- ßige Pflege und Hilfe der Alten […] am Leben
alisatorischer Einflüsse nun insgesamt gerin- erhalten“ (30) und der geschichtlich-gesell-
ger geworden wären. schaftlichen Betrachtungsweise, wonach Er-
Unabhängig von der Unterscheidung zwi- ziehung der bewussten kulturellen Überliefe-
schen funktionalen und intentionalen Aspek- rung und gesellschaftlichen Eingliederung zu
ten der Erziehung und ihren menschheits- dienen habe (im Sinne der oft zitierten Frage

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24 Erziehung

von Friedrich Schleichermacher, was denn die meinwesen, sicher aber nicht für den Ein-
erwachsene Generation von der jüngeren ei- zelmenschen gebraucht worden ist (zur
gentlich wolle), schlägt Flitner mit der dritten Selbstbeschreibung des Menschen als „auto-
Betrachtungsweise vor, Erziehung auch als nom“ vgl. Meyer-Drawe 1991). Wie (und ob)
„geistige Erweckung“ zu verstehen. Das „er- aber Autonomie durch Erziehung zu erreichen
zieherische Verhältnis“ entstehe zwischen den sei, da scheiden sich die Pädagogen und die mit
Menschen „hinsichtlich ihrer Zuwendung ihnen transportierten Bilder teilweise funda-
zu einem Ideellen“ (45). Die vierte Betrach- mental. Zu den klassischen Bildern bzw. Meta-
tungsweise ist die „personale“, mit welcher die phern der Erziehung gehören Wachsenlassen,
Existenz und das Selbstverhältnis des Einzel- Führung, Erweckung, Regierung, Zucht, An-
menschen in den Mittelpunkt gestellt werden. passung, Lebenhelfen, Begleiten (vgl. Scheuerl
Wiewohl die einzelnen Perspektiven auch aus 1959). Auch mit neueren erziehungstheoreti-
heutiger Sicht berechtigt und dem Gegen- schen Vorschlägen (Erziehung als Verhand-
stand der Erziehung angemessen scheinen, lung [Bruner 1995] oder Erziehung als Zeigen
sind solche jeweils als „System“ vorgeschlage- [Prange 2005]) wird das Konzept der Erzie-
nen Gesamtgebilde von Erziehungsbegriffen hung begrifflich nicht verbindlicher bestimmt
aus wissenschaftstheoretischen und empiri- werden können; sie sind als interessante
schen Gründen kaum noch überzeugend. Transformationen der pädagogischen Meta-
Entscheidend ist aber, dass am Ende ei- phorik wahrzunehmen. Gemeinsam ist vielen
ner langen Geschichte der Kindheit und Er- Metaphern der Erziehung – eben weil Erzie-
ziehung die Personalität bzw. Personwerdung hung im engeren Sinne als intentional verstan-
des Menschen für viele Pädagogiken im Mit- den wird – eine direkte oder aber indirekte
telpunkt steht. So schrieb (selbst) der System- (vgl. Rousseaus „éducation négative“) tech-
theoretiker Niklas Luhmann zur Funktion nologische Vorstellung, wie sie freilich in be-
der Erziehung: „Menschen werden geboren. havoristischen Konzepten pointiert vertreten
Personen entstehen durch Sozialisation und worden ist und auch heute in der „populären
Erziehung. Wenn man diesen Unterschied vor Pädagogik-Kultur“ vertreten wird (zu „Triple
Augen hat, liegt es nahe, die Funktion der Er- P“ oder „Super Nanny“ vgl. den folgenden Ab-
ziehung auf das Personwerden von Menschen schnitt). Der Grad der vorgestellten Technolo-
zu beziehen. Besonders in komplexen Gesell- giesierbarkeit von Erziehung unterscheidet die
schaften kann man dies nicht nur der Soziali- Erziehungstheorien bzw. Pädagogiken. Anton
sation überlassen“ (Luhmann 2002, 38). Hügli (1999) hat zwischen „Autonomiepäda-
gogiken“ und „Kontrollpädagogiken“ unter-
schieden. Auf der einen Seite zielen erzieheri-
schen Strategien von Kontrollpädagogiken auf
5 Moderne: Erziehung zur Verhaltensveränderungen, deren Wirksamkeit
Autonomie nicht vom Wollen und der Einsicht des Kin-
des abhängig gemacht wird bzw. werden kann
(und insofern kann eingeräumt werden, dass
Das Ziel der Erziehung wird im modernen, wohl keine Erziehung des Einzelmenschen
kontinentaleuropäischen Verständnis vor al- ganz ohne solche Verhaltensveränderungs-
lem mit Jean-Jacques Rousseau (1983/1762) strategien auskommt, welche einen technolo-
und Immanuel Kant (1984/1803) in der „Au- gischen Charakter aufweisen und Ausdruck
tonomie“ und „Mündigkeit“ des Einzelmen- nomothetischen Wissens sein können). Auto-
schen gesehen. Das ist eine nicht selbstver- nomiepädagogiken auf der anderen Seite sind
ständliche Wendung des Autonomiebegriffs, Ausdruck einer modernen Perspektive auf die
der vormodern, insbesondere in der griechi- Legitimität und soziale Erwünschtheit erzie-
schen Antike, als eine Beschreibung für Ge- herischer Mittel und Ziele, insbesondere des

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Erziehung als Verhaltenstechnologie 25

Zieles der „moralischen Autonomie“. Die Er- 6 Erziehung als


ziehungsmittel haben sich aus dieser Perspek-
Verhaltenstechnologie
tive am Ziel der Autonomie zu orientieren, al-
lerdings werden Kinder und Jugendliche auch
hier als „Personen“ angesprochen, die erst Der Wunsch nach effizienter Erziehung ist
noch (moralisch) autonom werden sollen (zu verbreitet und verständlich. Die erfolgreiche
dieser Entwicklung aber auch fähig sind). In Fernsehserie „Super Nanny“ ist Ausdruck ei-
der Ausbildung der Fähigkeit, Wünsche zwei- ner zugespitzten Form einer verhaltensthe-
ter Ordnung zu generieren (vgl. Frankfurt rapeutisch gefassten und wirksamen Erzie-
1971), d. h. der Fähigkeit, die Wünschenswer- hungstechnologie, die auch etwa durch die
tigkeit der eigenen Wünsche zu befragen, kann Elternschulungen des so genannten „Positi-
ein Kriterium der Zielerreichung von Autono- ve Parenting Programs“ (Sanders 1999), kurz
miepädagogiken gesehen werden. Das richtige „Triple P“ genannt, bekannt und im psycho-
bzw. sozial erwünschte Verhalten ist hier nur pädagogischen Markt ein durch Lizenzen ge-
nachgeschaltet. Diese Fähigkeit steht nicht ge- schütztes Verkaufsprodukt geworden ist. Im
gen das Ziel von Kontrollpädagogiken. Aber „Triple P“-Ansatz wird davon ausgegangen,
erzieherische Verhaltensmodifikationen, die dass sich Eltern problematisches Erziehungs-
ohne das Ziel der Autonomie realisiert wer- verhalten angewöhnt haben, welches kaum
den sollen, sind aus der Perspektive von Au- die erwünschten Wirkungen zeigt und für das
tonomiepädagogiken nicht legitim, auch wenn Kind und die Eltern selbst belastend und des-
damit die Internalisierung der moralischen halb zu korrigieren ist. Außer Frage steht, dass
Regeln und Prinzipien erreicht (oder effizi- „Triple P“ „wirksam“ ist, d. h. Eltern können
enter und effektiver erreicht) würde. Beiden durch verändertes Erziehungsverhalten das
Gruppen von Erziehungsvorstellungen geht es Verhalten der Kinder – zumindest der jün-
letztlich um erwünschtes Verhalten, während geren Kinder – in die gewünschte Richtung
in der Frage der Möglichkeit und Notwendig- beeinflussen. Erstaunlich ist aber, dass eine
keit der Einsicht in die Gründe für das rich- „hochentwickelte“ Kultur in Erziehungsfragen
tige Verhalten Differenzen bestehen. Erzie- und -kompetenzen offenbar derart verunsi-
herische Verhaltensmodifikationsstrategien chert ist, dass „Triple P“ überhaupt erfolgreich
sind aber vor allem bei kleinen Kindern wirk- werden konnte/musste. Das Programm basiert
sam und verlieren spätestens dann an Bedeu- auf den Prinzipien Gestaltung einer sicheren
tung, wenn das Kind in die Pubertät kommt und interessanten Umgebung, das Kind zum
bzw. wenn es (oft in dieser Lebensphase) das Lernen anregen, konsequentes Verhalten, an-
Kriterium des Berechtigseins der Gründe von gemessene Erwartungen an das Kind haben
Handlungsanweisungen (freilich implizit) er- und die eigenen Bedürfnisse nicht vernachläs-
kennt. Wenn Erziehung ohne Gewöhnung, sigen. Gegen diese Prinzipien kann vernünfti-
ohne Sanktionen und ohne positive Verstär- gerweise nichts eingewendet werden. Es gehört
kung auch unwahrscheinlich ist, so zeigt sich zum Wesen einer effizienten und effektiven
die zentrale erzieherische Strategie von Au- Verhaltensmodifikation, dass sie konsequent
tonomiepädagogiken doch im – „bloßen“ – sein muss. Dieser Aspekt erscheint unproble-
Auffordern, insbesondere im „Auffordern zur matisch zu sein. Die Frage, die sich vielmehr
Selbsttätigkeit“ (vgl. Benner 1994). Ob aber stellt, lautet, ob Erziehung mehr ist als Verhal-
der Aufforderung in der konkreten Situation tensmodifikation. Aus der pädagogischen Tra-
auch tatsächlich Folge geleistet wird, hängt dition ist die Frage klar zu beantworten: Erzie-
u. a. von der Anerkennung der Autorität der hung ist wesentlich mehr – der technologische
Erziehungsperson durch das Kind oder den Aspekt der Verhaltensmodifikation entspricht
Jugendlichen ab. bloß der fundamentalen, wenn auch leicht ver-
nachlässigten, da verunglimpften Aufgabe der

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