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Universität Siegen

Philosophische Fakultät

Dr. Jan von Brevern


“Das Sichtbare und das Unerwartete: Quellentexte zur Fotografie des 19.
Jahrhunderts”
WS 2021/2022

Albert von Schrenck-Notzings Glitch-Spiritismus

Alex Reifenrath
Matr.-Nr. 1423125
7. Fachsemester
Kunstgeschichte Kernfach
Leistung Nr. 401079
Siegen, den 11.04.2022
Inhaltsverzeichnis

1 Der ‘Miroir’-Skandal im Fall des Mediums Eva Carriére 3

2 Albert von Schrenck-Notzings Glitch-Spiritsmus 4

2.1 Schrenck-Notzings Ektoplasma als


Rekapitulationstheorie des Kunstwollens 5

2.2 Okkulte Visualität: Wandlungen in der


Erfahrung von Spiritismus 7

2.3 Zur “wechselseitigen Anpassung von Optik


und Phänomenen” in zeitgenössischer Internet-Ästhetik 9

3 Ein totes Auge: der unbewusste Blick der Kamera 12

2
1 Der ‘Miroir’-Skandal im Fall des Mediums Eva Carriére

Marthe Béraud, besser bekannt als Eva Carrière, ist eines der bekannteren Medien, die
sich im spiritistischen Milieu des 20. Jahrhunderts auf die Praktik der Materialisierung –
der Produktion von dem, was als Ektoplasma bekannt ist – spezialisiert haben. Als
Angriffsziel zahlreicher Entlarvungen, über zwei ganze Identitäten hinweg, und einem
Ruf als neurotisch und freizügig, liefert sie ein hervorragendes Beispiel für den
transgressiven Limes eines ohnehin schon skandalösen Forschungsfeldes.
Es ist entsprechend vielleicht wenig verwunderlich, dass unter den diversen
Ermittlern, die sich mit ihr beschäftigt haben (und zu denen sich unter anderem Harry
Houdini und Arthur Conan Doyle zählten),1 gerade der einflussreiche Sexologe und
Pionier der Psychoanalyse Albert von Schrenck-Notzing im Jahr 1909 die
wohlwollendste Zusammenarbeit mit ihr anfing. Durch diese Beziehung sollten im Laufe
von 4 Jahren eine wahrhafte Fülle an Fotografien entstehen, die Carrière bei ihrer
mysteriösen Tätigkeit dokumentieren.
Eines dieser Bilder, aufgenommen am 27.11.1912, erweist sich rückblickend als
besonders interessant. Es zeigt das Medium bei einer unwillkürlichen Kopfzuckung, die
auch das von ihr ausgeschiedene Ektoplasma mit sich reißt (Abb. 1). Dadurch
offenbart sich eine sonderbare Aufschrift auf der paranormalen Masse: “Miroir”, das
französische Wort für den Spiegel, selber ein Objekt mit einer Jahrhunderte langen
Tradition gespenstisch angehauchtes Unbehagen in sämtlichen Kulturen auszulösen.
Unmittelbar nach Veröffentlichung dieses Bilds gelangen mehrere Kontrahenten der
spiritualistischen Bewegung zu einem fruchtbaren Vergleich des Schriftzugs mit dem
Logo des populären Pariser Magazins ‘La Miroir’.2 Zwischen den Seiten derjenigen
Ausgabe, die zum Zeitpunkt der relevanten Séance aktuell ist, werden daraufhin auch
tatsächlich mehrere Fotografien gefunden, die den geisterhaften Erscheinungen der
jeweiligen Sitzung eindeutig gleichen.3 Die ohnehin schon schief angelächelte
Zusammenarbeit zwischen dem Mediziner Schrenck-Notzing und Carrière wird von da
an gänzlich aus der respektablen Welt verdrängt.
Viel schockierender ist für viele gewesen, dass Schrenck-Notzing – allgemein als
primäres Opfer dieser Täuschung angesehen – dennoch, und sogar umso heftiger, das
Medium verteidigen würde. Überzeugt von einer Verwicklung des
Materialisierungs-Phänomens mit dem, was die Psychologie zu diesem Zeitpunkt
langsam als das Unbewusste ertastet, äußert Schrenck-Notzing eine Rechtfertigung,
die einen einzigartigen Schwellenbruch ausmacht: die Bilder der Zeitschrift hätten sich
nämlich als kommerzielle Objekte natürlicherweise in das Unterbewusstsein
eingebettet und wurden genau deswegen, und als solche, während der Séance
repliziert.4
Dieser Gedanke einer Verschaltung zwischen Ökonomie und dem Unbewussten
beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts an mehreren Stellen aufzutreten, deren Auflistung

1
Polidoro 1998, S. 42
2
Fischer 2005, S. 180
3
Ebd.
4
Ebd.

3
den Horizont dieser Arbeit überschreiten würde. Dieses Gefüge jedoch darüber hinaus
mit der spiritistischen Gleichsetzung von Unbewusstem und Jeinseitigem in Kontakt zu
bringen, macht eine transsystemische Verschaltung aus, welche auffallend prophetisch
sein sollte, und eine besondere Relevanz für die Fotografie als Medium aufweist.

©️
Abb. 1: Juliette Alexandre-Bisson / Albert von Schrenck-Notzing, The Medium Eva C.
With a Materialization Phenomenon, 1912, Institut für Grenzgebiete der
Psychologie und Psychohygiene, Freiburg im Breisgau.

2 Albert von Schrenck-Notzings Glitch-Spiritsmus

Schrenck-Notzing ist unfassbar modern. Nicht nur sieht sein Verwischen der Grenze
zwischen industriellen Werbekanälen und den Katakomben des Unbewussten das
dominante Rahmenwerk der aktuellsten Stränge des Okkultismus seit 1980 hervor,5
sondern macht als solches einen Angriff auf das aufklärerische Weltbild aus, der von
größter Bedeutung für den gegenwärtigen Moment ist. Dieser geschieht dabei auf zwei
Fronten: einmal wird die zentrale Figur des Menschen durch Einbettung dessen in eine
Welt mechanischer Informationsströme ihrer Handlungsfähigkeit als Person auflösend
entzogen, zum Anderen werden solche anorganischen Naturgewalten mit einer
Souveränität ausgestattet, die den Horizont rationaler Verständlichkeit überschreitet,

5
Breit gefasst als Chaosmagie bezeichnet, eine immanente Kontextualisierung findet sich in
Hine 1996.

4
da sie diese erst von Außerhalb begründet. Grob könnte man das als eine irrationale
Wendung im Materialismus beschreiben.
Ein Begriff, der wohl definierend für einen solchen Irrationalismus nach der
Industrialisierung ist, ist der des Glitches. Tatsächlich abgeleitet von dem deutschen
“glitschig” (so wie es zum Beispiel Ektoplasma wäre), hat sich das Wort über
yiddisch-sprechende Immigranten und der Assoziation des Ausrutschens in der
Anglosphäre des 20. Jahrhunderts etabliert, um Wortfehler in Radioansagen zu
beschreiben.6 Versprecher haben dabei natürlich bereits seit Freud eine eigene
psychoanalytische Signifikanz, da sie als unbewusst verabschiedete Kommunikationen
– und damit auch Kommunikationen mit dem Unbewussten – fungieren.7 Seitdessen
hat sich dieser Terminus des Glitches mittlerweile zu einem stark informatisch
behafteten Wort für jegliche Art von technologischem Fehler entwickelt, welcher als
solcher auch von unterschiedlichen künstlerischen und philosophischen Strömungen
aufgegriffen wurde.8,9
Damit ausgestattet, soll im Verlauf dieser Arbeit eine gewisse Dynamik, die bei
den Fotografien Schrenck-Notzings auftaucht, rund um diese herum als
wiederholendes Muster verdeutlicht werden. Es scheint bei einem Untersuchungsobjekt,
welches so viel mit spontanem Versehen zu tun hat, strikt idiotisch eine Provenienz
oder Argumentationsstruktur ausfindig machen zu wollen. Es wird entsprechend
zunächst darauf eingegangen wie Schrenck-Notzing implizit einen gewaltigen
Fortgang in der Psycho-Ästhetik formuliert hat, bevor die Medialität seines Wirkens als
von seinem religionsgeschichtlichen Kontext konditioniert betrachtet wird, und zuletzt
eine unbewusste Entwicklung seiner psychoanalytischen Perspektive auf das
Paranormale in gegenwärtiger Netz-Ästhetik besprochen wird. Diese
grundverschiedenen Themenfelder sollen dabei in den Parallelen ihrer Entwicklung
entsprechend besonders auffallen, um schlussendlich ein zeitlich übergreifendes Bild
der Fotografie als radikalen Einfluss auf das Verständnis von Lebendigkeit und Tod in
der ästhetischen Moderne zu kommunizieren

2.1 Schrenck-Notzings Ektoplasma als Rekapitulationstheorie des Kunstwollens

Albert von Schrenck-Notzings Verwicklung mit der Fotografiegeschichte ist, wie zuvor
angedeutet, vor allem einem Interesse an dem parapsychologischen Phänomen des
Ektoplasmas zu verdanken. Ektoplasma ist dabei ein Begriff, der einen mehrfachen
Pakt mit Abstraktion eingeht. Zunächst setzt sich der Name lose aus den jeweiligen
griechischen Wörtern für Außenseiten und Formen zusammen, ohne dabei zu
präzisieren, ob es sich um die Äußerung einer Form, um die Form eines Äußeren, oder
das handelt, was außerhalb von Form steht. Im Geiste dieser Unschärfe, bezeichnet er
im Spiritismus so ziemlich jedwede Substanz – vorzugsweise jedoch amorpher Art und

6
Vespe 2019
7
Freud 2012 (1904)
8
Eine generelle Kunsttheorie der Glitch-Art findet sich in Betancourt 2016.
9
Eine jüngste Aufgreifung des Glitchs an der Schnittstelle Afrofuturismus/Cyberfeminismus
findet sich in Russell 2020.

5
ohne ersichtlichen kausalen Grund – die von einem Medium ausgeschieden wird.10
Darüber hinaus tritt die Bezeichnung auch in der Biologie auf, wo sie den Teil der
Zellflüssigkeit kennzeichnet, welcher der Außenseite der Zellmembran am nächsten
steht. Durch die psychologische Linse, die Schrenck-Notzing ausrüstet, muss
Ektoplasma jedoch stark nach dem manifest gewordenen Unbewussten ausgesehen
haben. Es scheint sich offensichtlich um die Außenseite der nüchternen Psyche zu
handeln, deren besondere Affinität dafür, durch die Technik der Fotografie abgebildet
zu werden, Schrenck-Notzings Interesse nicht näher stehen musste, als die Spezifika
der Mikroskopie einem Biologen. Schrenck-Notzings Beschreibungen des Materials
ranken sich um diverse Themenkomplexe – darunter Arbeit, Wehen, und Spastik.11 Von
besonderer Wichtigkeit für mich sind jedoch die der Evolution und der Kunst, welche
jeweils implizit auf zwei theoretische Rahmenwerke verweisen.
Wenn dieser davon redet, dass jede Formung von Carriéres Ektoplasma einen
Prozess der Gerinnung aus Dampf bis hin zu Membranen und Fühlern durchläuft,12
handelt es sich dabei zum Einen um die berüchtigte Rekapitulationstheorie. Aus der
Welt ernst genommener Biologie mittlerweile verstoßen, die Psychologie jedoch immer
wieder heimsuchend,13 geht diese Behauptung des Naturforschers Ernst Haeckel davon
aus, dass die Entwicklung eines individuellen Lebewesens die Evolutionsgeschichte
seiner Spezies im Schnelldurchlauf wiederholt.14 Schrenck-Notzing scheint sich nie
explizit auf Haeckel bezogen zu haben. Dass aber die Formen früher Lebewesen und
geophysischer Prozesse in seinen Beschreibungen auftauchen, kommuniziert wohl
mindestens, dass ihm ein dadurch evozierter Gedanke wichtig genug schien, um ihn
weiterzugeben. Versucht man diesen Gedanken möglichst selbstverständlich zu
formulieren, so scheint dieser zu sein, dass eine unbewusste Dynamik bereits bei
Einzellern und Geysiren am Werk ist. Wechselseitig zu dieser Aussage lässt sich jedoch
auch entsprechend sagen, dass die unbewussten Fundamente des menschlichen
Subjekts von den selben Kräften getrieben sind wie ein Erdbeben oder die erste
Zellbildung – ein Konzept, welches für die Psychologie als Wissenschaft gravierend ist.
Zweitens, aber letztendlich mit vorigem verbunden, handelt es sich um eine
gewisse Tradition der deutschen Kunstgeschichte: das Kunstwollen. In erster Linie mit
dem Namen Alois Riegl verknüpft, lässt sich dieses Gebilde schlussendlich auf eine
philosophische Genealogie zurückführen, die in ihrer modernen Form von Arthur
Schopenhauer ausgeht. Diese ist vor allem dadurch gekennzeichnet, einen abstrakten
Trieb als Bedingung jedes Phänomens vorauszusetzen. Mit einer ungewöhnlichen
Flüssigkeit ausgestattet, schlägt sie auch über solche Figuren wie Friedrich Nietzsche
und Sigmund Freud aus, und weist eine offensichtliche Anziehungskraft für die
Kunsttheorie auf, wo zum Beispiel selbiger Riegl und Wilhelm Worringer eine Rolle
spielen. Für Letztere ist mit dem Trieb zur Kunst folglich eine wesentlich dynamische

10
Blom 2010, S. 168
11
Fischer 2005, S. 178
12
Ebd.
13
So baute Granville Stanley Hall seine Theorie der kognitiven Entwicklung auf Haeckel auf,
abgeschwächt auch bei Jean Piaget und Freud vorzufinden.
14
Richards 2008, S. 136–142

6
Grundlage angesprochen, die einer Epoche gleichzeitig die Motivation verleiht, alles vor
ihr Dagewesene zu überwinden, sie aber im Zug dieser Identifizierung mit Nichts außer
ewiger Übertreffung auch einen Pakt eingehen lässt, von der Zukunft genauso
abgeschüttet zu werden.
Schrenck-Notzing sagt dabei sogar explizit, dass er von einem Kunstwollen
ausgeht, welches sich relativ ungehemmt in den Dynamiken des Unbewussten
ausdrückt. Was diese Aussage gleichzeitig veranlasst und bekräftigt, ist genau dieselbe
Beobachtung, die ihn und Carriére in den Augen ihrer Kritiker jeglicher Seriösität
beraubt hatten: fotografiertes Ektoplasma ähnelt erstaunlich den basalen Materialien
des Kunsthandwerks.15 Es ist nicht so, dass dieser Fakt kein Misstrauen bei ihm wecken
würde. Aber viel mehr als um Naivität handelt es sich hier um eine unheimliche Skepsis,
die akzeptiert, dass das definitiv Unbekannte immer verdächtig gegenüber den
etablierten Mitteln der Empirie erscheinen muss. Auf dem Kontinuum, auf dem
Schrenck-Notzing die Verbindung zwischen dem Ektoplasma-Phänomen und dem
Reich des Toten zu sehen scheint – über dasselbe Unbewusste, welches auch die
grundlegendste Kunst antreibt – ist es so ziemlich irrelevant, ob es sich nun um
Pappmaché oder “wahres” Ektoplasma handelt. Dass ein Schwindel von den selben
Gezeiten unpersönlicher Kreativität getrieben ist wie die Entstehung des irdischen
Lebens aus der Ursuppe scheint mir sogar die klar tiefgreifendere Einsicht für die
Kunstpsychologie zu sein.

2.2 Okkulte Visualität: Wandlungen in der Erfahrung von Spiritismus

Zu sagen, dass die Moderne von Wandlung gekennzeichnet ist, ist natürlich die
Untertreibung des Jahrtausends. Viel akkurater ist, davon zu sprechen, dass es sich bei
ihr um das Wegfallen von all demjenigen handelt, welches zuvor die Illusion aufrecht
erhalten konnte, es gäbe irgendetwas außer Wandel. Die zuvor besprochene
Willensphilosophie ist genau wegen ihrem Verschmieren von Konstanten und Essenzen
so unerträglich modern. Die techno-ökonomische Dimension dieser Haltlosigkeit ist
mittlerweile allseits bekannt, und mit Gefügen wie dem Mooreschen Gesetz auch
informatisch formalisiert.16 Es steht ihr allerdings auch, sogar doppelt, eine religiöse
Rolle zu. Einmal ist das natürlich, dass Theismus als eine weitere Konstante wegfällt –
was Nietzsche bekannterweise den Tod Gottes tauft. Daneben geht dieselbe Triebkraft
jedoch mit einer ewigen Wiederkunft eschatologischer Erregung einher, und belebt
damit den Brandkern heidnischer Mysterienkulte und Schamanismen wieder: das
Opfer, dessen größtes Ausmaß das Ende der Welt ausmacht.
Alles, was an Schrenck-Notzing von Interesse für die Fotografiegeschichte ist,
wird durch seine Situation in dieser Maschinerie bedingt. Darin enthalten ist das
drastische Ereignis, dass plötzlich Dinge sinnlich wurden, die es zuvor nicht waren (man
denke nur an Röntgenaufnahmen), und damit einen unsichtbaren Exzess an Realität
über das, was buchstäblich Sinn ergibt hinweg, für immer versichert. Genauso aber

15
Fischer 2005, S. 179f.
16
Erstmals von U.S.-amerikanischem Ingenieur Gordon Moore formulierte Beobachtung, dass
Microchip-Rechenkraft exponentiell und selbstverstärkend ansteigt.

7
auch, dass die gesamte spiritistische Bewegung sich überhaupt erstmal etablierte, und
zwar als partielle Rückfindung zu vorchristlichen Praktiken der Geisterbeschwörung mit
gleichzeitiger Spekulation, wo es keine direkte Überlieferung dieser gab oder diese
gesellschaftlich weiterhin zu große Tabus ausmachten. Gewisser Weise steht
Schrenck-Notzing hier auch als eine, eigentlich recht beliebige, Instanz für die
Psychoanalyse als solche ein, als dass sie beide dieser Felder – Technologie und
Religion – dadurch miteinander überbrückt, dass es bei ihr schon immer und auch
weiterhin (trotz aller Anstrengungen, die Disziplin zu sterilisieren) um das sensorische
Ertasten von Geistern handelte.
Das Fortschreiten der Moderne ist auch eine Eskalation des Sichtfeldes. Damit
verbunden ist die wiederkehrende Dynamik eines irrationalen Realismus: je genauer die
Auflösungen unserer Sensoren werden, desto undeutlicher ihre Resultate. Die Bezüge zu
Quantenphysik und Poststrukturalismus sind mittlerweile klar abgedroschen, aber wohl
nicht mehr wegzudenken. Das Auftauchen der Psychoanalyse geht historisch mit
diesen einher, und ist entsprechend von einer ephemeren Glitschigkeit gekennzeichnet.
Vor allem im Moment ihres Aufkeimens hat die Psychoanalyse einen radikalen Mut
dazu, Fehler zu machen. Ihr bevorzugtes Objekt, das Unbewusste, ist von besonderer
Wichtigkeit hier. In derselben Flut mitgerissen, die alles Standhafte in Unsicherheit
liquidiert, lässt sich die Lage des bereits zuvor Unklaren vielleicht mit einer ähnlich
materiellen Isomorphie denken: der Prozess, eine bereits verflüssigte Probe weiter
aufzulösen, wird in der Chemie als Verflüchtigung bezeichnet, und geht durchweg
damit einher, dass die betroffene Substanz extrem anfällig dafür wird, Bindungen mit
anderen Stoffen in ihrer Umgebung einzugehen. Ähnlich kontaktfreudig scheint auch
das weiter verdunkelte Okkulte, führt man sich den Boom esoterischer Rahmenwerke
zu Beginn der Moderne vor Augen.
Der Spiritismus ist nur eine unter unzähligen neuen Religionen, die gegen
Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Anfang finden. Wie zuvor angedeutet, hat dieser
dabei mehr gemein mit schamanischen Praktiken des Beschwichtigens von
Ahnengeistern als mit irgendeinem Christentum – was nicht bedeutet, dass die
stilistischen Ressourcen des Letzteren nicht weiter von ihm ausgeschöpft werden.
Spiritismus verhält sich in dieser Angelegenheit ähnlich wie die sämtlichen Traditionen
des Voodoo, welche sich währenddessen auch in angrenzenden Milieus entwickeln.17 In
seliger Ungewissheit gegenüber theologischer Doktrin bildet der Spiritismus eine
dezentralisierte Bewegung, die verstreut und in immer neueren Variationen aufblüht.18
Korrespondenzen mit verschiedenen subversiven Ideologien seiner Zeit ist zahlreich:
darunter berühmterweise die Suffragetten und Zivilrechtler,19 besonders aber ein
genereller Individualismus, der von dem Spiritisten Andrew Jackson Davis erstmals
artikuliert wird, und – als das nächste, was der Spiritismus an einem Kanon besaß – die
Möglichkeit auf eine vereinte Doktrin von vornherein ausschließen sollte.20

17
Bilinsky 2014, S. 14
18
Meintel 2007, S. 150
19
Ebd.
20
Braude 2001, 296

8
Von diesem heidnischen Individualismus ausgehend, wird eine primitive Empirie
geradezu exzessiv im Spiritismus betont. Das Spektakel, die rohe Reizüberflutung,
welche das Versprechen mit dem Totenreich direkt in Kontakt zu treten mit sich bringt,
ist hierbei genau das, was die experimentellen Religionen der Frühmoderne, über die
hypnotischen Vorführungen Franz Mesmers, mit der frühen Psychoanalyse verbindet.
Visualität kommt dabei als Erfahrungskanal wiederholt kurz. Für den Großteil der
spiritistischen Geschichte treten Geister als Berührungen und Geräusche in dunklen
Zimmern auf. Es ist tatsächlich erst die Fotografie, vielleicht gerade wegen der
gleichzeitigen Topoi als billige Unterhaltung und Instrument der radikalsten
Objektivität, welche ihre Vermarktung vereinte, die ein visuelles Medium spiritistisch
attraktiv macht.21

2.3 ​Zur “wechselseitigen Anpassung von Optik und Phänomenen” in


zeitgenössischer Internet-Ästhetik

Die Experimente Schrenck-Notzings sind davon gekennzeichnet, dass er sich technisch


kontinuierlich an die Praktik Carriéres angleicht. Überhaupt sind sie von einem Ethos
durchzogen, dass die Fotografie der Psychoanalyse darin folgt, eine gegenseitige
Optimierung der wissenschaftlichen Methode und des spiritistischen Rituals zu
erlauben.22 Seine eigene Bezeichnung dafür ist die “wechselseitige Anpassung von
Optik und Phänomenen”,23 welche Aufrufe zur Entwicklung neuer Sensoren genauso
beinhaltete wie Versuche, die Esoteriker in den Grundlagen des Naturalismus
auszubilden. Während Vorige bekannterweise, und selbstverständlich, eintraf, fanden
es die Medien immer schwieriger sich zu akklimatisieren, und mit dem Veralten der
Frühmoderne klingt auch der Spiritismus langsam ab.
Spätestens seit Entflammen des Summer of Love in Punk ist das Konzept neuer
Religion endgültig passé. Stattdessen sind Geister das Sujet von Reality TV oder online
gestreamten Miniserien geworden: billige Jahrmarktsattraktionen der Neuzeit. Von der
Kunstgeschichte und Medienwissenschaft werden sie selbstverständlich nicht ernst
genommen. Mit solcher konzeptuellen Maschinerie wie der Hauntologie, einer durch die
Kybernetik immer durchlässiger werdenden Grenze zwischen Lebendigkeit und ihrer
Abwesenheit, populären Analogien zwischen der Globalisierung Kapitals und den Fress-
und Vermehrungstaktiken von Zombies (so wie ihren Vorgängern in der Marxschen
Formulierung desselben als Vampir, beziehungsweise des Kommunismus als
Gespenst),24 aber auch schlicht dem inhärent Gespenstischen an Medien per se als
anwesende Dinge, die idealerweise abwesend wären, scheinen wir entgegen jeglicher
Hoffnung auf rationale Entzauberung der Welt viel mehr förmlich vom Untoten
heimgesucht zu sein.
Ganz konkret zeichnet sich dieser Spuk auf der ästhetischen Blogosphäre ab.
Nachdem die Gothic-Subkultur nach Punk erneut das Irrationale aus seinem Grab holt,

21
Fischer 2005, S. 171f.
22
Ebd., S. 178f.
23
Ebd., S. 182f.
24
Zuletzt in Zelik 2020 zusammengefasst.

9
wird diese im Rahmen einer 2010er-Bewegung, die als “Witch House” bekannt ist,
digitalisiert und mit Stilen der Net- und Glitch-Art hybridisiert. Auf einer Plattform wie
Tumblr wimmeln sich so bis heute Hunderte von Blogs, die sich der Dokumentation
eines ganz charakteristischen Stils widmen, der unbeabsichtigt in der digitalen
Geisterfotografie der frühen 2000er auftaucht (Abb. 2). Von amateurhaften
Zeitmarken und grellen Kamerablitzen besetzt, handelt es sich hierbei um subtilere
Bilder. Häufig sind Anstelle von Personen und Ektoplasma nur sogenannte Orbs an
verwahrlosten Schwellenräumen vertreten. Gewisserweise ist damit auch
Schrenck-Notzings fundamentale Annahme belegt: dass die Erkundung des
Übernatürlichen, in ihrer Identität mit einer Untersuchung des maschinellen
Unbewussten, weniger mit geistlichem Diskurs als mit Urban Exploration zu tun hat.
Darüber hinaus wird diese indirekte Sympathie auch überraschend direkt bestärkt:
Schrenck-Notzings Fotografien werden wiederholt benutzt, um die Musik zu illustrieren,
die sich auf selbigen Blogs finden lässt. (Abb. 3, 4)

Abb. 2: Nähere Daten unbekannt, 2021 von Tumblr-Microblog “orb-s” gepostete


Digitalfotografie.

10
Abb. 3: Nähere Daten unbekannt, Cover des Albums Totem von White Suns (nach dem
1913er Silbergelatineabzug The medium Stanislawa P.: emission and resorption of an
ectoplasmic substance through the mouth von Albert von Schrenck-Notzing), 2014.

Abb. 4: Nähere Daten unbekannt, Cover des Albums I Saw the Sine von LAKE R▲DIO,
(nach dem 1913er Silbergelatineabzug The medium Stanislawa P.: emission and
resorption of an ectoplasmic substance through the mouth von Albert von
Schrenck-Notzing), 2021.

11
3 Ein totes Auge: der unbewusste Blick der Kamera

Das spontane Auftauchen von Schrenck-Notzings Fotografien, ihr Nachleben, oder ihre
offenkundige Relevanz, ist eine Zelebration dessen, was sie verkünden: dass sich die
Anhänger eines Todes, der in Ruhe und Frieden steril abgeschieden ist, zu früh gefreut
haben – stattdessen ist das Jenseits nicht nur materiell kontaktierbar, sondern sogar
kontaktfreudig, besitzt seine eigene Beweglichkeit, und eine eigene Ästhetik in der
Form technischer Spontanität, in der Form des Glitches.
Was durch die Fotografie letztendlich sichtbar gemacht wird, ist alles das, was
das Sehen, mit all seinen kontingenten Eigenheiten, noch hätte sein können, über die
menschliche Phänomenologie hinaus. Ob es wissenschaftlich oder künstlerisch
gedeutet wird, entsteht mit der Technik der Kamera ein geradezu unheimlicher Zugriff
auf die Windungen toter Materie, welche die Grenzen und Gesetzmäßigkeiten des
Sehens erst veranlasst haben, auf das Infravisuelle einer atheistischen Welt. Das
einzige Sujet, welches die Fotografie je hätte haben können, ist maximal sündhaft: ein
nekrophiler Voyeurismus.
Das Foto wird geschichtlich genau dort entwickelt, wo sich Automatismus – die
Herstellung im Modus des Unbewussten – mit Wirtschaft verschaltet. Sie macht eine
Schaltfläche aus, auf der sich jede Form von definitiv exzessiver, übernatürlicher
Produktivität ausbreitet. Entsprechend kann alles, was sich auf ihm ablichtet, gar
nichts anderes sein, als eine detaillierte Erfassung des Totenreichs oder des
Unterbewussten. Es geht in dieser Arbeit entsprechend um einen Kreislauf, und wie sich
eine Beschreibung dessen beenden lassen soll, ist mir persönlich ein Rätsel.

Bibliographie

Betancourt 2016
Michael Betancourt, Glitch Art in Theory and Practice: Critical Failures and
Post-Digital Aesthetics, Routledge, London 2016.

Bilinsky 2016
Stephanie Bilinsky, The Voodoo Spiritual Temple: A Case Study of New Orleans’
Spiritual Churches, Arizona State University, Arizona 2016.

Blom 2010
Jan Dirk Blom, A Dictionary of Hallucinations, Springer, Berlin 2010.

Braude 2001
Ann Braude Radical Spirits: Spiritualism and Women's Rights in Nineteenth-Century
America, Indiana University Press, Indiana 2001.

Fischer 2005
Andreas Fischer, “The Reciprocal Adaptation of Optics and Phenomena: The
photographic recording of materializations”, in: The Perfect Medium: Photography

12
and the Occult (Hrsg. Chéroux et al.), Yale University Press, Connecticut 2005. S.
171–217.

Freud 2012 (1904)


Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens. (Über Vergessen,
Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum), Outlook Verlagsgesellschaft,
Bremen 2012. (Ursprünglich: S. Karger, Berlin 1904.)

Hine 1996
Phil Hine, Condensed Chaos, New Falcon Publications, Arizona 1996.

Meintel 2007
Deirdre Meintel, “When there is no conversion: Spiritualists and personal religious
change”, in: Anthropologica, University of Toronto Press, Toronto 2007. S. 149–162.

Polidoro 1998
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Inquiry, New York 1998.

Richards 2008
Robert J. Richards, The Tragic Sense of Life: Ernst Haeckel and the Struggle Over
Evolutionary Thought, University of Chicago Press, Chicago 2008.

Russell 2020
Legacy Russell, Glitch Feminism: A Manifesto, Verso Books, London 2020.

Vespe 2019
Jim Vespe, “It Was John Glenn Who Popularized the Word ‘Glitch’”, auf
smithsonianmag.com, 2019.
[archiviert auf archive.org unter:
https://web.archive.org/web/20220206170517/https://www.smithsonianmag.com/air-
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Zelik 2020
Raul Zelik, Wir Untoten des Kapitals, Suhrkamp, Berlin 2020.

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