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Dating mit Autismus: Thomas S. wundert sich über die Liebe | ZEIT ONLINE

Dating mit Autismus

Thomas S. wundert sich über die Liebe

Das Dating-Spiel ist schon schwierig genug, für Thomas S. ist es

noch ein bisschen komplizierter. Er ist Autist.

Von Linda Tutmann

Aktualisiert am 26. Dezember 2023, 18:57 Uhr / 11 Kommentare /

EXKLUSIV FÜR ABONNENTEN

Liebe kann für Autisten auch Stress bedeuten. © DigitalVision

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Getty Images/Getty
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Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende [https://www.zeit.de/we],

Ausgabe 51/2023.

Am Abend vor seinem letzten Versuch mit der Liebe lag Thomas S. auf dem Bett, in dem
 Zimmer, in dem er aufgewachsen ist, mit Sicht in den Himmel. Er mag, dass er vor
dem Einschlafen die Sterne sehen kann. Ein Blick auf die Uhr verriet, was er ahnte, so
erzählt er es später: Sein Puls war viel zu hoch, 125. Der Ruhepuls bei einem
erwachsenen Menschen liegt im Schnitt bei 60 bis 80 Schlägen pro Minute. Bei
Menschen mit Autismus kann er auch häufiger mal 90 oder 100 erreichen. Aber 125?
Er machte sich Sorgen um sein Herz.

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Mit 35

Thomas S. tippt seinen Namen in die Profilmaske von OkCupid. "Ich bin bereit",
sagt er, als würde er in einen Wettkampf ziehen, für den er lange trainiert hat. Er
blickt auf seine Uhr, sein Puls liegt bei 105. "Passt scho", sagt er. Er sitzt im
Café auf einem roten Samtstuhl, ein unscheinbarer Mann mit einem runden Gesicht
und weichen Zügen, vor sich den Laptop. Er rückt seine randlose Brille zurecht. Er brauche
unbedingt eine neue, findet er, mit der jetzigen sehe er aus wie 50, und die Welt
des Online-Datings sei oberflächlich, da mache er sich keine Illusionen.

OkCupid, eine Dating-App für hippe Großstädter, die viel verspricht, vor allem aber:
"Bessere Matches für alle!" Was S. bei OkCupid sucht? Die Liebe, sagt er. Ein
Gefühl, das er mit jeder Faser seines Körpers spüre. Nicht nur im Bauch oder im
Kopf. Sondern überall. Wie ein Stromschlag, so beschreibt er es.

DIE ZEIT
Das Geheimnis der
Engel

Dieser Artikel stammt aus der

ZEIT Nr. 54/2023. Hier

können Sie die
gesamte
 Ausgabe
lesen.

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premium.zeit.de/abo/

diezeit/
2023/54]
Die Liebe suchen viele, was ohnehin schon keine

einfache Sache ist - für Thomas S. ist es aber noch

einmal komplizierter. Denn da ist auch diese andere Seite:

Liebe sei für ihn oft Stress, sagt er. Wenn er sich mal drauf
einlasse, "gibt's die volle Breitseite". Wie ein Ertrinkender fühle er
sich dann, der verzweifelt versucht,

seinen Kopf über Wasser zu halten - und doch dauernd viel zu viel Wasser schluckt. Besonders
schwer bei der

Liebe: die vielen Grau- und Zwischentöne zu

entschlüsseln. "Ich bin da komplett blind", sagt er.

Thomas S. hat eine Autismus-Spektrum-Störung, das

weiß er seit acht Jahren. Vereinfacht könnte man sagen, dass in seinem Gehirn, etwa in der
Sehrinde, weniger inhibitorische Botenstoffe produziert werden. Dieser Mangel sorgt
dafür, dass S. Umweltreize, Geräusche, Stimmen, aber auch Gefühle nur schwer
ausblenden kann. Auch die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen
Gehirnregionen, das, was Experten als Konnektivität des Gehirns bezeichnen, ist
anders als bei neurotypischen Menschen: Sehr gut vernetzt sind die Regionen, die
für die sensorische Verarbeitung verantwortlich sind, wie die Seh- und Hörrinde. Das
sorgt dafür, dass S. alles, was um ihn herum passiert, sehr deutlich wahrnimmt.
Geräusche, Details. Es fällt ihm schwer, diese Eindrücke zu sortieren, sie zu priorisieren
und einzuordnen. Alles prasselt auf ihn ein. Deshalb ist er oft gestresst und
überfordert. Während Nichtautisten eine Situation, eine Aussage intuitiv interpretieren,
versteht S. vor allem die Fakten. Man kann über die Liebe viel sagen, aber meist nicht, dass
sie allein auf Fakten basiert.

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Thomas S. trägt bei unserem ersten Treffen Anfang April ein schwarz-weiß kariertes
 Jackett und darunter einen grauen Merinopullover. Beides hat er sich erst vor
Kurzem gekauft. "Das wäre auch für ein Date okay", sagt er. "Aber es kommt auch ein
bisschen auf die Person an, da schaue ich schon nach." Glaubt er, die Person sei eher
sportlich, trage er ein Polohemd, sei sie eher elegant, greife er zu einem Hemd und
Jackett. Er kann jeder sein, so klingt das.

S. lebt seit ein paar Jahren wieder in seinem Elternhaus. Als sein Vater, inzwischen 76
Jahre alt, in den vergangenen Jahren immer gebrechlicher wurde und seine Mutter
starb, zog S. zu ihm. Warum auch nicht, sagt er, er war ja auch allein. In
Geiselhöring, einem kleinen bayerischen Ort, rund 40 Kilometer von Regensburg
entfernt, wo S. aufgewachsen ist, fand er schnell einen neuen Job als Entwickler bei
einem Internetanbieter, nur wenige Minuten von seinem neuen, alten Zuhause entfernt. An
Geiselhöring mag er die Ruhe und den Kuchen in der Konditorei Löw. Im hinteren
Teil der Konditorei sitzt S. jetzt zwischen Ölgemälden und
historischen Stichen und tippt.

Er füllt die Selbstbeschreibung bei OkCupid aus:

Ich liebe Natur, Spaziergänge im Wald, Wandern und Bergsteigen - sofern mein
voller Zeitplan es zulässt.

Webentwickler und Autist.

Thomas S. lädt ein Foto hoch: er beim Klettern in den Bergen. Er vor einem Pool im Garten
von Verwandten. Er neben einem Esel, beim Wandern in Frankreich. Er

mag sich eigentlich nicht auf Fotos, aber ohne geht es auch nicht, das ist ihm klar.

Er beantwortet Fragen:

Wie lange soll deine nächste Beziehung

halten?

Für den Rest meines Lebens.

Was wärst du lieber, weird oder

normal?

Weird.

Denkst du, es ist wichtig, eine emotionale Verbindung zu haben, bevor man
eine körperliche eingeht?
 Ja.

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Seine Strategie: radikale

Anpassung

Er ist müde an diesem Nachmittag. Gestern Abend ist es spät geworden, er konnte
nicht einschlafen, vielleicht lag es an seinem Herzen, das viel zu schnell schlug.
Dabei war er extra früh ins Bett gegangen. Er hatte noch seine Katze Pickerl
versorgt und etwas vom Braten gegessen, den sein Vater vom Abendessen übrig
gelassen hatte. Aber der Schlaf wollte nicht kommen.

Mit 5

Wann er seine Eltern am meisten geliebt habe? Er sagt: Die Liebe war immer da. Ob sie
das gewusst haben? Er glaubt schon. Sicher ist er sich nicht.

Und wann sie ihn am meisten geliebt haben? Nicht als Kind, sagt er. Er war nervig,
anstrengend, sonderbar. Und später? Er drückt es so aus: Ich gehe davon aus,
dass mein Vater mich mag. Und seine Mutter? Die auch, sagt er.

In seiner Kindheit in den Neunzigern auf dem bayerischen Land kam keiner auf die
Idee, den Jungen, der sich so oft zurückzog und kaum mit Gleichaltrigen spielte, auf
eine Autismus-Spektrum-Störung zu testen. "Es war eine andere Zeit", sagt Thomas
S. Sein Vater sei viel unterwegs gewesen, als Lackierer und dann nach der Arbeit mit
seinen Wirtshausfreunden. Seinen Großeltern gehörte der Bahnhofskiosk, manchmal half er
seiner Mutter dort. Sie verkaufte Brötchen, Zeitungen und Zigaretten. Manchmal nahm
sie ihn mit, viel öfter war er aber bei den Großeltern. "Was ist mit dem Jungen los?",
fragten die Erzieher im Kindergarten. Am liebsten saß er in der Ecke, mit einem Buch in der
Hand. Auch dort gab es schon ein Mädchen, das ihm sehr gefiel. Sogar ein Foto hat
er von ihr aufgehoben. Eine Fünfjährige mit kinnlangen blonden Haaren, etwas älter
als er. "Der Inbegriff der Schönheit" sei sie für ihn gewesen.
 In der Schule gab es keine Ecke mehr, in die er sich flüchten konnte. Das Flackern des
Lichts, das Klackern der Heizung oder ein raschelndes Papier lenkten ihn ab. 30
Kinder in einer Klasse. Wenn ein Mitschüler einen Witz machte, war er der Einzige, der
nicht lachte. Auch er versuchte irgendwie lustig zu sein. Das kam gut bei Mädchen
an, das hatte er schnell verstanden. Sich die Witze zu merken, das fiel
ihm leicht. Manchmal wiederholte er einfach die Scherze seiner Mitschüler ein paar Wochen
später. Doch irgendwie lachte bei ihm keiner.

Er machte einen Realschulabschluss, obwohl sie später feststellten, dass sein IQ bei 142
liegt. Thomas S. ist hochbegabt. Er fiel in der Schule nicht auf mit guten Noten
oder brillanten Gedanken. Seine Begabung brauchte er, um irgendwie klarzukommen, um
das zu lernen, was seinen Mitschülern intuitiv gelang. Sich auf den Unterricht zu
konzentrieren, sich nicht ablenken zu lassen, weil irgendwo eine

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Uhr tickt. Er versuchte, seine Panik zu überspielen, wenn sich ein gewohnter
Ablauf änderte, ein Lehrer krank war oder eine Stunde verlegt wurde. Seine
Strategie: radikale Anpassung [https://www.zeit.de/zett/2020-07/masking-
menschen-im-autismus-spektrum-erzaehlen-vom-stress-sich-im-alltag-anpassen-
zu-muessen]. "Das ist wie eine Maske aufsetzen", sagt er.

Lange Zeit glaubten Forscher, dass Autisten kein großes Interesse an romantischen
Beziehungen oder Sex haben. Auch Thomas S. kennt das Vorurteil vom bindungsscheuen
Nerd mit den kauzigen Hobbys. Deshalb will er unbedingt von sich erzählen. Um zu
zeigen, wie wenig es manchmal zutrifft. In neueren Untersuchungen gaben im
Schnitt 90 Prozent der Autisten an, dass sie sich nach einer Partnerschaft sehnen.
Trotzdem, auch das belegen Studien, sind Menschen mit Autismus seltener in einer
Beziehung als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Mit Thomas S. über die Liebe zu sprechen, über Beziehungen und seine Suche, ist zu
Beginn schwer. Er antwortet knapp, wartet auf jede Frage, der Blick geht an
einem vorbei. Nach einer Weile aber redet und redet er. Ihm ist bewusst, dass ihm manchmal das
Maß fehlt, fürs Reden, für Details oder Pausen. Ich bin eine

Plaudertasche, sagt er dann.

 Die Wörter, die er braucht, um über die Liebe zu sprechen, klingen manchmal, als hätte er
sie irgendwo gelernt. Vielleicht aus Filmen, Hollywood, Vorabendserien. Da, wo die
Liebe immer übertreibt. Die Liebe, sagt er, sei das größte Geschenk, das man im Leben
bekommen könne.

Mit 16

Die erste Schwärmerei. Da war Theresa aus seiner Berufsschulklasse. Klein,

dunkelblonde Haare. Die er aus der Ferne bewunderte. Irgendwie bekam er ihre
Handynummer und schrieb ihr, wie sehr sie ihm gefalle. Danach sprachen sie kein
Wort mehr miteinander. Dann Sandra, die er erst nicht mochte. Die Freundin einer

Kollegin. Zu laut war sie ihm, zu extrovertiert. Später wurden sie beste Freunde, und er
dachte: So schlecht ist die nicht. Was ihm gefiel: Sandra und er konnten gut reden.
Und ihr Körper, schlank, aber nicht zu schlank. Das Gesamtbild, sagt er. Was ihm nicht
gefiel: dass sie rauchte. Zigaretten gehen gar nicht, sagt er. Auch ihr schrieb er
seine Gefühle. "Das war's dann." Sandra sah er danach nicht mehr oft.

Mit 17

Es ist nicht so, dass Autisten nur zu Hause bleiben, sagt Thomas S. Mit 17 begann
er auszugehen. Meistens trafen sie sich im Le Chapeau, das alle nur Chappi
nannten, oder in der Malztenne, die bei ihnen nur das Ten hieß. Sein erster Kuss

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schmeckte dann so wie so viele erste Küsse auf dem bayerischen Land und überhaupt.
Etwas zu süß sei er gewesen, aber auch bitter im Nachgang, nach zu viel
Alkohol, Wodka-Red-Bull. Aber egal. Eigentlich hätte er an diesem Abend im
Sommer 2004 nicht mehr fahren dürfen. Dann rief sie an: Kommst du noch

vorbei? Eigentlich sei sie gar nicht sein Typ gewesen, eine, die immer
Aufmerksamkeit gewollt habe. Aber er wollte endlich auch eine Freundin, um ihn
herum lasen alle Bravo und hatten Sex, so kam es ihm vor. Also nahm er seinen
Roller und fuhr zu ihr. Von Geiselhöring über die Landstraße, sechs Kilometer,
durch die Nacht. Sie trafen sich an der Bushaltestelle. Dort habe er nicht viel
 gedacht. Doch
machen müssen. Sie küssten sich sofort. Endlich habe ich auch mal Glück, habe er
das Glück hielt nicht lange. Am nächsten Tag wollte sie nichts mehr von ihm
wissen. Habe ich etwas falsch gemacht?, fragte er sich. Sie fragte er lieber
nicht.

In der Nacht: sein erstes Mal

Mit 21

Sie lernten sich im Shisha Café in Straubing kennen, sie war schwanger von einem
anderen, aber das störte ihn nicht. Er hatte ja keine Ahnung, was es bedeuten würde, ein
Kind zu haben. Und das Wichtigste: Sie war an ihm interessiert. "Sie war verfügbar
für mich", sagt Thomas S. Alles ging irgendwie schnell, zu schnell für ihn. Eine
Woche lang schrieben sie sich stundenlang Nachrichten, keine Ahnung, worüber.

Es lag ihm. "Ist leichter als Reden",

sagt er.

Schließlich lieh er sich das Auto von seinem Vater und fuhr mehr als 200

Kilometer bis nach Hof. Dort schüttelte er die Hände ihrer Eltern und Großeltern

und aß mit ihnen zu Abend. In der Nacht: sein erstes Mal.

Sechs Monate später kam das Kind. Er versuchte irgendwie ein Vater zu sein. Vier
Jahre lang waren die beiden zusammen. Er ging arbeiten, sie jobbte mal hier, mal
dort, fing eine Bäckerinnen-Ausbildung an, um sie dann wieder abzubrechen. Sie
feierte gerne und war oft unterwegs. Er blieb zu Hause beim Kind.

Jahrelang wollte Thomas S. sich trennen - und schaffte es doch nicht. Zu groß sei die
Angst vor der Einsamkeit gewesen, sagt er heute. Als er sie endlich rausschmiss,
war er ganz ruhig. Es klingt, als sei Einsamkeit wie der Scheinriese in Jim Knopf und
Lukas der Lokomotivführer. Von Weitem groß und angsteinflößend und von Nahem
betrachtet etwas, das man ruhigen Gewissens in sein Leben
lassen kann.

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 War das Liebe?
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Er sagt: Damals dachte ich, ja. Heute denke ich:

nein.

Mit 24

Das Kind sah er nie wieder. Ob er es vermisst? Er sagt: Ich war damals zu kaputt. Es sei
kein Platz gewesen für Sehnsucht nach dem Jungen. Er war einfach froh, sie
los zu sein. Heute denke er manchmal an ihn. Aber vermissen? Nein.

Die Partner autistischer Menschen glauben oft, dass sie nicht geliebt werden. Es kann
vorkommen, dass Autisten sich zurückziehen, dass ihnen die Energie fehlt, sich auf ihr
Gegenüber einzulassen. Auch auf Freunde, auf die Familie. Einigen fällt es schwer,
Wärme zu zeigen. Manche Partner beklagen, sie hätten das Gefühl, sie seien mit einem
Eisblock zusammen. Du bist so unemotional, das warf Thomas S. Ex-Freundin ihm im Streit
oft vor. Bin eben kein gefühlsduseliger Mensch, sagt er.

Nach der Trennung dachte er, er habe was mit dem Herzen. Sein Büro war im Erdgeschoss,
die Kaffeemaschine einen Stock höher. Irgendwann kam er nicht mehr die Treppe hoch,
weil sein Herz so raste. Er wies sich selbst in eine psychosomatische Klinik ein. Das
volle Programm, sagt er, Maltherapie, Qi-Gong, Bewegungstherapie, Gespräche in
der Gruppe und alleine mit dem Therapeuten. Die Ärzte diagnostizierten eine
Belastungsdepression - und eine abhängige Persönlichkeitsstruktur. Von
Autismus war nie die Rede. Stattdessen sprachen sie über seine Beziehung. Dass
er nur der Finanzierer gewesen sei und der Babysitter. "Ich habe weit über meine
Verhältnisse gelebt", sagt Thomas S., als hätte er ständig viel zu viel ausgegeben,
aber er meint nicht Geld.

Mit 25

Auszug aus dem testpsychologischen Befund des Bezirksklinikums Regensburg

vom 20. November 2015:

Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion: Schwierigkeiten im

Gebrauch nonverbaler Verhaltensweisen, Mangel an Beziehungen zu
Gleichaltrigen, geringes Bedürfnis, anderen zu gefallen, Mangel an
 Einfühlungsvermögen, Verständnismangel für soziale Situationen und Gedanken
und Gefühle anderer.

Mit 24

Ist er ein guter Partner? Ich wäre ja selber nicht gerne mit mir zusammen, sagt er.

Eine Zeit lang habe er es nur mit Sex versucht. Mit Ramona und einer Sandra, die er bei
spin.de, einer Chat-Community, kennenlernte.

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Vor einem Date macht er sich einen Zettel mit Stichpunkten

"Auf die Zwölf ist hier kein Problem", sagt er. Es ist klar, worum es geht. Er kann
einfach Fragen stellen: Wie stellst du dir unser Treffen vor? Was wünschst du dir? Wenn
er über das Anbahnen von Sex spricht, wirkt er, als spräche er über eine Technik,
die er perfektioniert hat.

Die Sache sei am Ende nur nicht so einfach: Oft verliebe er sich dann doch ein

bisschen.

Mit 26

Nach der Diagnose ging es ihm besser. Er machte einen neuen Versuch. Er meldete
sich wieder bei spin.de an. Dort schrieb er mit ein paar Frauen. Nicht sehr viele
traf er auch. Sara zum Beispiel. Er erzählte ihr von seinem Autismus. Dass ihn die Welt oft
überfordere. So sehr, dass er manchmal kein Wort mehr herausbekomme. Sie
sagte: Kein Problem - und hatte am Ende doch eins. Oder vielleicht auch einfach eins
mit seiner Person. Wer weiß das schon, sagt er.

Musst doch nicht immer so damit hausieren gehen, sagten seine Freunde, wenn er
ihnen erzählte, dass er seinen Dates von seinem Autismus erzählt. S. sagt: Ein
Rollstuhlfahrer lädt bei einer Dating-Plattform ja auch kein Foto hoch, auf dem man nur den
Kopf sieht. Seine Behinderung sei unsichtbar. Vor ein paar Jahren hatte er extra geklagt,
dass er einen Grad der Behinderung, kurz: GdB, von 50 bekommt. Doch der Arzt, der
mit ihm für das richterliche Gutachten sprach, kannte sich mit Autismus nicht aus, und weil
 S. keine riesigen Probleme im Job und in der Schule hatte, bekam er nur einen GdB 30.
50 hätten ihm geholfen, er hätte einen richtigen Schwerbehindertenausweis
bekommen und ein paar Urlaubstage mehr, um sich zu erholen.

Thomas S. sagt: In der Beziehung komme es ja eh raus. Da sei die Zahl und ob
er einen Ausweis habe oder nicht, egal. Seine zukünftige Freundin müsste ziemlich viel
ertragen.

Was denn?

Zum Beispiel die Panikattacken. Wie neulich, als im Zug neben ihm Frauen auf
einem Junggesellinnenabschied Schnäpse herumreichten und Schlager spielten.
Meist hat er sich im Griff, im besten Fall wechselt er das Abteil. Setzt seine Noise- Cancelling-
Kopfhörer auf.

Oder dass er aus Situationen manchmal schnell rausmuss, wenn er beginnt, die
Geräusche auf seinem Körper wahrzunehmen. Wie durch Gelatine bewege er sich
dann.

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Manchmal bricht er auch komplett zusammen. Einmal, seine damalige Freundin mit dem
Kind und er kamen gerade vom Ausgehen, er war eh völlig überreizt, die Musik, die
Leute, alles zu viel. Dann Streit, worüber, weiß er nicht mehr. Vielleicht hatte er wieder
einmal dumm geguckt, spekuliert er. Plötzlich konnte er nicht mehr sprechen, sich
kaum noch bewegen, schaffte es irgendwie ins Schlafzimmer und legte sich im
Dunkeln aufs Bett. Sein Körpergefühl war in diesem Moment komplett weg.
"Shutdown", sagt er.

Oft wirkt er ruppig, ohne es zu wollen. Wie findest du meine Rouladen, fragte ihn vor
Kurzem seine Nichte. Was hast du denn mit denen gemacht? Die sind ja ganz
grau, antwortete er. Seine Nichte flippte aus, dann geh doch einfach, schrie sie.
Einmal fing seine Schwester an zu weinen. Sie schon wieder mit ihrem Schmarrn,
hatte er gesagt. Gar nicht bös gemeint. Seine Mutter war da noch nicht sehr lange
tot. Ob es daran lag? Er rätselt bis heute.

Mit 27

Um ein Date gut über die Bühne zu bringen, hat sich S. Regeln
gegeben.

1. Er schreibt nur weiter, wenn sie antwortet. Dann weiß er, dass es in Ordnung ist zu
schreiben.

2. Im Kopf geht er das Date am Vortag zigmal durch, überlegt, wo sie sich treffen könnten
(möglichst ruhig, nicht zu viele Menschen) und was gute Einstiegsfragen
wären.

3. Vor einem ersten Treffen macht er sich dafür einen Zettel mit Stichpunkten, mit Themen,
über die sie reden könnten:

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 War sie vor Kurzem im Urlaub, krank oder hat ihren Bruder besucht?

Was hat sie studiert? Oder macht sie eine Ausbildung?

Wofür interessiert sie sich? Hat sie Hobbys?

Hat sie ein Haustier?

(Dann kann er von Pickerl erzählen.)

Im Small Talk sei er mittlerweile richtig gut. Es koste so viel Kraft, dass er sich
nach einem Date erst einmal tagelang erholen müsse. Leider geht das in der
Realität nicht, weil er ja arbeiten maschi komplet wird es aber erst danach,
sagt er. Dann, wenn es darum geht, Nuancen zu verstehen, "die Vibes", sagt er. Er
verzieht seinen Mund. Auch das hat er gelernt. An den richtigen Stellen lachen.
Nicht zu früh, nicht zu spät. Das Lachen ist mit das Schwierigste. "Auf das Timing
kommt es an", sagt er.

Autist ist nicht gleich Autist

Einmal habe er nach dem ersten Date gefragt, wohin das Ganze gehe, Beziehung
oder eher Freundschaft. Nur Sex? Er erzählt das, als habe er ganz normale
Fakten abgefragt. "Die war weg", sagt er.

Mit 32

Ein anderes Mal, da sei er sich sicher, habe er sich richtig fallen lassen. Jedenfalls
einen Abend lang. Drei Jahre sei das her. Sie lagen auf einer Decke, schauten in die
Sterne, aẞen Chips. Er trug eine kurze Hose und ein T-Shirt, am Ende des Abends fror er.
Aber auch hier ging nach dem ersten Kuss etwas schief. Er schiebt sein Handy über den
Tisch. Ihre SMS von damals hat er noch gespeichert.

Er: Ausschlafen kann ich erst wieder am

Wochenende.

Sie: Na gut, dann wünsche ich dir eine genehme

Nacht.

Fühl Dich geküsst bis

morgen.
 Ein paar Tage später schrieb
er:

Alles klar bei Dir?

Du bist seit gestern so kurz angebunden und wirkst

distanziert.

Echt?, schrieb sie zurück.

Alles klar, geht mir

gut.

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Irgendwas war zwischen den beiden SMS passiert, und S. hatte keine Ahnung,
was.

Liebe ist schwer für alle, keine Frage, aber für ihn ist sie noch sehr viel schwerer, denkt er.

Mit 33

Vor gut drei Jahren, da habe er eine Frau mit Autismus gedatet. Er habe gedacht,
vielleicht passt das ja. Aber Autist ist nicht gleich Autist, sagt er. Manche sind so
überfordert mit ihren Eindrücken, dass sie nie gelernt haben zu sprechen, andere, wie er,
funktionieren irgendwie. Einmal habe sie ihm 20 Nachrichten geschrieben, ohne
dass er reagierte. Am 16. Februar 2020 schrieb sie ihm:

Da man es mir eh an der Stirn ablesen kann: Ich bin total verliebt in Dich.

Später dann kam eine weitere Nachricht:

Meine Freundin hat einen Freund, der auch sieben Jahre

jünger ist.

Und noch später:

Ich habe übrigens mit niemandem darüber gesprochen, auch wenn ich denke,
 dass es einige bemerkt haben.

Für mich war das zu viel, sagt Thomas S.

Mit 35

Bei OkCupid, wo er sich vor sechs Wochen ein letztes Mal angemeldet hat, ist nicht
viel passiert. Keine einzige Nachricht habe er bekommen. Ein paar Matches,
mehr nicht. Dabei hatte er gewischt und gewischt, sich Frauen angeschaut,
Profile gelesen und durch Fotos geklickt. War demütigend, sagt er.

Wenn man Thomas S. für diese Recherche trifft, mit ihm telefoniert, whatsappt, ihn
wieder trifft, dann erlebt man einen, der für den Menschen, den er liebt, bereit

wäre, wirklich alles zu geben. Der fürsorglich sein will, aufmerksam - wenn seine Kraft es
zulässt. Der über sich und seine Eigenarten lachen kann. Dem man wünscht, dass er
jemanden findet, der das alles annimmt.

Vielleicht wäre eine stumme Frau perfekt, überlegt er einmal, aber so was dürfe
man ja nicht sagen. Dann könnten sie einfach zusammen sein. Ohne das ganze
Reden, das Zwischen-den-Zeilen-Hören, ohne die ganzen Missverständnisse,
einfach ohne Worte Zeit verbringen, sich ab und zu umarmen. Er kennt eine
Mutter, die kommuniziert mit ihrem autistischen Sohn über Gebärdensprache.

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Gebärdensprache sei viel zielgerichteter, nicht so "wischiwaschi", sagt er. Thomas

S. fand das so interessant, dass er vergangenen Sommer einen Kurs in
Gebärdensprache besucht hat. "Man weiß ja nie", sagt er.

Z+

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 [https://www.zeit.de/2023/45/restaurants-hamburg-alster-elbe-gehobene-
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Mit 36

Eine Nachricht von Thomas S. Er habe alle Dating-Apps gelöscht. Er hatte sich noch bei
Bumble und Tinder angemeldet. Aber auch hier: keine Nachrichten. Auch beim Single-
Wandern hatte er noch mal mitgemacht. Als er da ankam, dachte er erst, er habe sich
vertan und es sei eine Wanderung für Homosexuelle. Später kamen doch noch drei
Frauen. War nett, sagt er. Aber auch nicht mehr. "Es gibt eben nicht immer ein
Happy End", schreibt er noch. "War zu viel", sagt er später am Telefon. Er hatte
wieder angefangen zu rätseln, woran es liegen könnte. An seinem Aussehen, seinem
Gesicht oder daran, dass er autistisch ist? Er dachte, er
sei weiter.

Hat er etwas aus seinen Beziehungen

gelernt?

Schmerz, sagt S.

Sein Leben stellt er sich so vor: Er wird das Haus renovieren. Sich noch eine Weile

um seinen Vater kümmern. Vielleicht wird er irgendwann allein reisen und durch die
schottischen Highlands wandern. Er werde das Beste rausholen, sagt er.
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Was ist der Sinn des Lebens?

Die Liebe, sagt S.

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