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ERLEUCHTUNG 

IST 
SELBSTERKENNTNIS 
Texte zur Nondualität
Advaita 1x1 

DIE  PHILOSOPHIE  DES  ADVAITA,  ODER  DES  VEDANTISCHEN 


Nondualismus,  ist  neben  dem  Buddhismus  zu  einem  der  populärsten 
spirituellen Wege geworden, dem heutzutage an Erleuchtung Interessierte 
folgen.  Durch  die  stetig  anwachsende  Popularität  von  Ramana  Maharshi, 
der  von  vielen  als  der  spirituelle  Gigant  des  modernen  Indien  betrachtet 
wird,  erlangte  Advaita  im  Westen  in  den  letzten  drei  Jahrzehnten  immer 
mehr Anerkennung. 

Zunächst kamen auch wir, wie so viele westliche spirituell Praktizierende, 
durch die Lehre des großen Ramana Maharshi in Kontakt mit der Advaita­ 
Philosophie, der Hindu­Philosophie der Nondualität (Einssein, oder präziser 
gesagt  Nicht­zwei­Sein).  In  dem  Bemühen,  ein  tieferes  Verständnis  für 
den  Hintergrund  und  philosophischen  Zusammenhang  dieser  tief 
gehenden und stetig an Einfluss gewinnenden Lehre zu erhalten, sind wir 
bis  zu  ihrer  Quelle  zurückgegangen,  zu  dem  Mann,  der  allgemein  als  ihr 
Begründer  angesehen  wird,  dem  Religionsphilosophen  und  Lehrmeister 
des  achten  Jahrhunderts  namens  Shankara.  Advaita  Vedanta  wird  als 
Kronjuwel  indischer  Philosophie  angesehen  und  Shankaras  mächtiger 
Einfluss  ist  in  den  meisten  modernen  Geistesschulen  Indiens  heute  noch 
präsent. Zunächst einmal glaubten wir, er sei diese legendäre Gestalt, wie 
sie in den traditionellen Texten beschrieben wird: der erleuchtete, geniale 
Einzelgänger,  der  nicht  nur  die  Vorrangstellung  des  Buddhismus  und  alle 
anderen,  sich  widersprechenden  religiösen  Ansichten  im  indischen 
Mittelalter  vernichtete,  sondern  auch  die  Glorie  und  Herrschaft  der 
traditionellen  vedantischen  Doktrin  im  Alleingang  wieder  herstellte.  Aber 
als  wir  uns  mit  der  populären  Interpretation  von  Shankaras  Leben  tiefer 
beschäftigten,  erwies  sich  vieles  von  dem,  was  man  über  ihn  sagt,  als 
Stoff,  aus  dem  Mythen  gewoben  werden  ­  und  tatsächlich  sind  die 
Kenntnisse  über  sein  Leben  bestenfalls  sehr  bruchstückhaft,  und  sogar 
Berichte  über  sein  Geburtsdatum  weichen  bis  zu  100  Jahre  voneinander 
ab.  Was  wir  aber  wissen,  ist,  dass  Shankara  ein  Meisterphilosoph  und 
Weiser  war,  der  großes  Gewicht  auf  eine  strenge  Auslegung  der 
vedantischen  Schriften  legte,  auf  genaue  Übereinstimmung  mit  der 
Doktrin  von  Advaita  oder  der  Nondualität.  In  der  traditionellen  Advaita­ 
Philosophie  (die  man  einfach  als  die  Aussage  aus  den  Upanishaden 
definieren  kann,  die  besagt:  Du  bist  jenes  unsterbliche  Absolute  Selbst!) 
wurde  spirituelles  Wissen  nicht  so  sehr  durch  yogische  Erfahrungen 
gesucht,  sondern  eher  durch  die  systematische  Übung,  zwischen  dem 
Echten  und  dem  Unechten  zu  unterscheiden,  was  durch  ein  Studium  der 
Schriften unterstützt wurde. 

Der  bekannte  Wissenschaftler  Georg  Feuerstein  fasst  die  Advaita­ 


Erkenntnis wie folgt zusammen: „Das vielfältige Universum ist in Wahrheit 
nur  eine  einzige  Realität.  Es  gibt  nur  ein  großes  Sein,  das  die  Weisen 
Brahman  nennen,  dem  all  die  unzähligen  Formen  der  Existenz

innewohnen.  Das  große  Sein  ist  höchstes  Bewusstsein  und  Es  ist  die 
wirkliche  Essenz,  oder  das  Selbst  (Atman),  aller  Lebewesen.“  Die 
besondere  Glorie  und  die  befreiende  Macht  dieser  außerordentlich 
wichtigen  Lehren  der  Nondualität  (die  als  der  direkteste  Weg  zur 
Erleuchtung  bekannt  sind)  resultieren  nicht  nur  aus  ihrem  Potenzial,  den 
Suchenden in diesem Leben zu erleuchten, sondern vielmehr daraus, dass 
sie  dem  reifen  Individuum  die  Möglichkeit  bieten,  sich  augenblicklich  von 
den  Fesseln  einer  konditionierten  Existenz  zu  befreien.  In  jüngerer  Zeit 
gab  es  beeindruckende  lebende  Beispiele  einer  solch  profunden 
Verwirklichung:  der  Weise  und  Heilige  Ramana  Maharshi,  dann  der 
beeindruckende,  Zigaretten  rauchende  Jnani  (ein  selbstverwirklichter 
Mensch) Nisargadatta Maharaj aus Bombay, dann der kürzlich verstorbene 
abtrünnige  Meister  und  „Löwe  von  Lucknow“  H.  W.  L.  Poonja  und  der 
bescheidene  Ajja,  der  mühelos  in  einem  intensiven  ununterbrochen 
glückseligen  Gewahrsein  des  Selbst  ruht  und  der  in  dieser  Ausgabe  von 
„Was  ist  Erleuchtung?“  der  westlichen  Welt  zum  ersten  Mal  vorgestellt 
wird. 

(Ich  bin)  das  Wesen  Reinen  Bewusstseins.  Ich  bin  immer 


dasselbe  für  die  Lebewesen,  eins  allein;  (ich  bin)  das 
höchste  Brahman,  das  wie  der  Himmel  alles  durchdringt, 
unvergänglich  ist,  gütig,  ungebrochen,  ungeteilt  und  aller 
Handlung  entbehrt.  Ich  gehöre  zu  nichts,  denn  ich  bin  frei 
von  jeder  Anhaftung.  (Ich  bin)  das  höchste  Brahman  ... 
immer­leuchtend,  ungeboren,  eins  allein,  unvergänglich, 
unbefleckt,  alles  durchdringend  und  nondual  ­  das  bin  ich, 
und ich bin auf immer befreit. 

Shankara, Die Upadesasahasri 

Die  profunde  Inspiration  und  befreiende  Macht  von  Advaita  ist 


unbestritten, doch ihre Weltsicht findet auch Kritik. Obwohl die „moderne“ 
Advaita­Lehre  die  unteilbare  Natur  von  Welt  und  Brahman,  oder  dem 
Absoluten  Selbst,  zu  betonen  scheint,  hat  die  traditionelle  Advaita­ 
Philosophie  ein  „tiefes  metaphysisches  Vorurteilgegen  die  Welt...“  zum 
Ausdruck  gebracht,  wie  der  bekannte  Religionswissenschaftler  Lance 
Nelson  betont.  „Letztlich  versagt  die  Advaita­Tradition  darin,  einen 
wirklichen  Nondualismus  von  der  Welt und  dem  Absoluten  zu  zeigen.  Sie 
ist eher ein a­kosmischer Monismus. Sie erreicht ihre Nondualität nicht auf 
einschließende,  sondern  auf  ausschließende  Weise.  Die  empirische 
Wirklichkeit  wird  auf  vorläufiger  Basis  zugelassen,  aber  letztendlich  wird 
sie  aus  dem  Absoluten,  aus  der  Existenz,  hinausgeworfen.  Aus  der 
höchsten  Perspektive  gesehen  ist  die  Welt  einfach  nicht  da.“ 
(Hervorhebungen d. Red.) Um es noch einmal zu sagen: Obwohl moderne 
Vertreter  von  Advaita  die  Welt  in  ihrer  Vision  von  Nondualität  scheinbar 
nicht  ausschließen,  wird  die  Welt  in  der  klassischen  Interpretation  ganz 
klar  entweder  als  völlig  irreal  oder  nur  teilweise  als  real  angesehen.  Und 
dafür  wurde  Advaita  im  Verlauf  der  Geschichte  immer  wieder  kritisiert.


Genau  wegen  ihrer  Betonung  der  letztendlichen  Unwirklichkeit  und 
illusorischen  Natur  jeder  körperlichen  Existenz  bietet  sie  überhaupt  keine 
Lehre,  die  sich  damit  befasst,  wie  man  in  der  Welt  leben  soll.  Noch 
genauer  gesagt,  wendet  sich  die  nonduale  Lehre  in  keiner  Weise  der 
ethischen  oder  moralischen  Dimension  des  Lebens  zu.  Und  obwohl  die 
moderne  Advaita­Lehre  in  ihrer  nondualen  Sichtweise  anscheinend  die 
Welt  nicht  ausschließt,  entbehrt  sie immer  noch  einer  Lehre,  die  sich  mit 
der Realität des menschlichen Lebens befasst. 

Interessanterweise  scheint  es,  dass  Advaita,  historisch  gesehen,  ethische 


oder moralische Fragen deswegen nicht anspricht, weil ­ so sagt Nelson ­ 
die  höchsten  nondualen  Lehren  „niemals  für  die  Allgemeinheit  bestimmt 
waren ­ oder eine Philosophie sein sollten“. Tatsächlich stellt er fest, dass 
sie  „von  und  für  eine  kleine  spirituelle  Elite  von  männlichen  Brahmins 
(Angehörige  der  höchsten  Priesterkaste)  formuliert  wurden,  die 
hauptsächlich  Sannyasi  (Entsagende)  waren,  die  man  für  qualifiziert 
genug  hielt,  sich  diese  Lehre  anzueignen.“  Das  bedeutet  praktisch,  dass 
derjenige,  dem  die  absolute  Lehre  offenbart  wurde,  bereits  die 
erforderliche  moralische  und  ethische  Eignung  für  eine  Schülerschaft 
besaß. Und nicht nur das ­ Shankara erklärt selbst, dass eine Eignung zur 
Schülerschaft  auch  noch  ein  ganz  außergewöhnliches  Maß  an  Loslösung 
und Transzendenz von weltlichen Begierden verlangt: 

Der  Schüler  muss  allen  sterblichen  Dingen  leidenschaftslos 


gegenüberstehen.  ...  (Er  hat  bereits)  den  Wunsch  nach 
Söhnen, Wohlstand und nach der Welt aufgegeben und ist mit 
Selbstkontrolle  (und)  Barmherzigkeit  ausgestattet,  er  ist  ein 
Brahmin,  der  innerlich  und  äußerlich  rein  ist,  dessen 
Gedanken  ruhig  sind,  der  Ruhe  gefunden  hat.  ...  (Deshalb) 
lass ihn zu einem spirituellen Lehrer gehen, der ein Gelehrter 
der Schrift ist und verwurzelt im Brahman. 

—Die Upadesasahasri 

Es  gibt  heute  auf  dem  postmodernen  spirituellen  Markt  ein 


ungewöhnliches  Phänomen,  das  es  niemals  zuvor  in  der  Geschichte 
gegeben  hat. Das,  was früher  als höchste  esoterische  Lehre  galt,  die  nur 
denjenigen  offenbart  wurde,  die  sich  vorbereitet  und  der  unvorstellbaren 
Tiefe  und  Differenziertheit  als  würdig  erwiesen  hatten,  steht  jetzt  für 
jedermann  zur  Verfügung,  der  durch  einen  esoterischen  Buchladen 
schlendert.  Eine  wichtige  Frage  scheint  hier  zu  sein:  Sind  die  meisten 
Suchenden  wirklich  auf  den  psychologischen  Umbruch  und  die  Welten 
zerschmetternde  Veränderung  der  Wahrnehmung  vorbereitet,  die  ein 
Vordringen  in  das  Absolute  entfesselt?  Die  Betonung  der  illusorischen 
Natur aller körperlichen Existenz bei Advaita könnte möglicherweise einen 
Freibrief  für  menschliche  Schwäche  und  Genuss­Sucht  bieten,  wenn  das


Individuum  noch  nicht  in  einer  fundamental  gesunden  Beziehung  zum 
Leben  verankert  ist.  Die  ungesunden  Tendenzen,  die  sich  durch 
narzisstische,  neurotische  und  heute  weit  verbreitete,  zutiefst  zynische 
Überzeugungen  auszeichnen,  schaffen  ein  gefährlich  schwaches 
Fundament  für  eine  nonduale  Perspektive,  die  alle  Gegensatzpaare 
transzendiert,  „richtig“  und  „falsch“  eingeschlossen.  Während  die  große 
Stärke  von  Advaita  darin  liegt,  dass  sie  einen  einzigartigen 
unerschütterlichen  Nachdruck  auf  die  Absolute  Dimension  der  Existenz 
legt,  wird  zugleich  ihre  Schwäche  durch  den  begrenzten  Rahmen  ihrer 
Einzigartigkeit deutlich. Und obwohl natürlich jede absolute Sichtweise per 
definitionem  jegliche  Unterscheidung  transzendieren  muss,  besitzt 
Advaita,  oder  der  Nondualismus,  ein  enorm  hohes  Potenzial,  zu  einer 
Weltsicht  anzuregen,  die  in  gefährlicher  Weise  von  jeglichen  Werten 
entleert  ist.  In  einer  solch  absoluten  Lehre  ist  die  Möglichkeit 
davonzulaufen,  anstatt  sich  einer  echten  Transformation  zu  unterziehen, 
potenziell  sehr  groß.  Es  ist  nämlich  eine  Sache,  vom  Absoluten 
angenommen, aufgesogen und völlig ausgelöscht zu werden ­ es ist aber 
eine  völlig  andere,  vor  der  ursprünglichen  Komplexität  des  Lebens  zu 
fliehen,  um  dem  überwältigenden  Anspruch  wahrer  Hingabe 
auszuweichen. 

W er I st Ajja? 
Eine Begegnung mit dem Absoluten 
von Andrew Cohen 

Im  Vivekananda  Kendra  Ashram in  der  Nähe von  Bangalore,  Indien, wird 


jedes  zweite  Jahr  eine  Konferenz  mit  dem  Titel  „Grenzgebiete  der  Yoga­ 
Forschung  und  ihre  Anwendung“  abgehalten.  Das  Thema  ist  immer  die 
Beziehung  zwischen  Wissenschaft  und  Spiritualität,  Bewusstseins­ 
forschung  und  medizinischer  Anwendung  von  Yoga.  Bei  meinem  ersten 
Besuch  wusste  ich  nicht,  was  mich  erwarten  würde,  aber  als  ich  zum 
zweiten Mal dort war, als eingeladener Redner, um über „Erleuchtung“ zu 
sprechen, war mir bereits klar, dass bei dieser Konferenz alles möglich ist. 
Bei diesem Ereignis, wo sich das Weltliche und das Spirituelle treffen und 
gleichzeitig  auf  so  vielen  Niveaus  vermischen,  findet  sich  eine  überaus 
ungewöhnliche Schar von Menschentypen in einer Art Eintopf zusammen, 
wie  ihn  nur  Mutter  Indien  zubereiten  kann.  Aber  obwohl  ich  das  wusste,


ahnte ich noch  nicht,  als ich im letzten  Dezember  wieder  nach  Südindien 
kam,  dass  ich  die  seltene  Gelegenheit  haben  würde,  etwas  Zeit  mit 
diesem  so  kostbaren  Juwel  zu  verbringen  –  mit  einem  voll  erleuchteten 
Jnani, einem Menschen, der das ABSOLUTE SELBST verwirklicht. hat. 
Ajja,  „Großvater“,  wie  ihn  alle,  die  ihn  kennen,  liebevoll  nennen,  ist  ein 
lebendiges  Beispiel  für  das  sagenhafte  spirituelle  Vermächtnis  Indiens, 
und  seine  persönliche  Geschichte  ist  ebenso  seltsam  und  mysteriös  wie 
wunderbar.  Ramachandra,  geboren  1916,  war  ein  wohlhabender  Bauer 
und  Grundbesitzer,  von  dem  es  hieß,  dass  er  von  Natur  aus  eine 
ungewöhnliche  Reinheit  des  Herzens  und  eine  sehr  seltene  Schlichtheit 
des  Wesens  besaß;  trotzdem  zeigte  er  kein  besonderes  Interesse  an 
spirituellen  Dingen.  Eines  Tages,  er  war  damals  sechsunddreißig,  spürte 
Ramachandra  ohne  ersichtlichen  Grund  einen  sehr  heftigen  Schmerz  im 
Herzen,  der  allmählich  von  seinem  gesamten Körper  Besitz  ergriff.  Sechs 
Monate lang litt er, wie er sagt, unerträgliche physische Schmerzen, wobei 
seine  Familie  die  ganze  Zeit  verzweifelt  versuchte  herauszufinden,  was 
ihm solches Leiden verursachte. Ihre Bemühungen blieben erfolglos, denn 
niemand  konnte  die  Ursache  seiner  Qualen  feststellen.  Und  dann 
verschwand  der  Schmerz  so  plötzlich,  wie  er  aufgetaucht  war,  und 
hinterließ  keinerlei  Spuren.  Während  er  zuvor  nicht  das  war,  was  man 
einen  tiefen  Denker  nennen  würde,  löste  diese  Erfahrung  in  ihm  jedoch 
eine  intensive  Nachdenklichkeit  aus,  die,  wie  man  uns  berichtet, 
monatelang  andauerte.  „Was  war  dieser  Schmerz,  der  meinen  Körper 
gequält  hat?“  fragte  er  sich.  „Was  ist  Gefangensein?  Was  ist  Befreiung?“ 
Dank  seines  schlichten  Wesens  und  der  Reinheit  seines  Geistes  gelangte 
er  in  kürzester  Zeit  an  die  Wurzel  dieser  Fragen.  In  seinen 
Nachforschungen stellte er fest, dass Schmerz Gefangensein ist und dass 
die tiefere Ursache von Gefangensein Karma ist. Der Verstand schafft das 
Karma, erkannte er, und der Verstand ist die Summe aller Gedanken, die 
sich  mit  dem  kleinen  Selbst  beschäftigen.  Am  letzten  Abend  seiner  nach 
innen  gerichteten  Erforschung  fragte  er  sich:  Was  ist  die  Wurzel  von 
weltlichem Besitz? Von Geld? Geld, so schloss er, ist das Wichtigste in der 
Welt, und alle Angst und Unsicherheit basiert auf der Verhaftung damit. 

In  dem  Moment  hatte  er  eine  sehr  kraftvolle  Vision,  die  großartig  und 
erschreckend  zugleich  war.  Vor  seinen  Augen  erschien  eine 
außergewöhnlich  schöne  Frau,  deren  Körper  ganz  rot  war  und  aus  deren 
Mund sich zu seinem Entsetzen ein Strom von Blut ergoss. Er erkannte sie 
als  die  Verkörperung  des  Todes.  Er  betrachtete  sie  eine  Weile,  wobei ihn 
eine tief greifende Einsicht überkam. Die Wurzel des Geldes, so erkannte 
er,  war  Besitz.  Und  Besitz,  so  erkannte  er,  bedeutete  Tod.  Dann 
verschwand  die  Frauengestalt  und  eine  Tür  erschien;  an  diesem  Punkt 
begann ein letztes Nachforschen in ihm. „Wer bin ich?“ fragte er sich. Da 
öffnete sich die Tür und er verließ seinen Körper durch den Scheitelpunkt 
seines Kopfes. „Göttliche Wesenheiten“ begrüßten ihn und begleiteten ihn 
weiter auf seiner Reise zu dem, was er „die dritte Ebene“ nennt. Während 
dieses ganzen Vorgangs, der mitten in der Nacht stattfand, lag er auf dem 
Boden  seines  Zimmers  und  war  allem  Anschein  nach  physisch  tot.  Die


ganze  Zeit  über  saß  Ishmael,  ein  muslimischer  Bauer,  der  sein  engster 
Schüler  werden  sollte,  neben  ihm;  er  wurde,  so  erzählte  man  uns,  von 
etwas  Unbekanntem  angewiesen,  sich  um  seinen  Körper  zu  kümmern. 
Dann tauchte eine Lichtkugel auf, kauerte sich neben seine leblose Gestalt 
und trat dann in ihn ein. 

Sobald das Licht Ajjas Körper betreten hatte, öffnete er seine Augen, und 
die ersten Worte, die er sprach, waren: „Der, der vorher da war, ist jetzt 
weg  ein  anderer  ist  gekommen.“  Er  sprach  weiter:  „  Ich  bin  nicht  der 
Körper,  ich  habe  keine  Mutter,  ich  habe  keinen  Vater.  Ich  bin  dieses 
Strahlen.“ 

Die nächsten drei Monate saß er ruhig in seinem Haus, während eine tiefe 
Stille  in  ihm  immer  intensiver  wurde.  Sein  Geist  stellte  sich  langsam  auf 
seinen  neuen  Zustand  ein,  und  er  wurde  so  empfindlich,  dass  ihm  schon 
das leiseste Geräusch absolut unerträglich war. 

Am Ende dieser Phase trat er gänzlich verändert aus seinem Haus. Völlig 
berauscht  ging  er  nackt  umher,  manchmal  sang  und  tanzte  er 
stundenlang im  Regen,  und  manchmal starrte  er  endlos  in  die  Sonne.  Er 
schlief auf Felsen und unter Bäumen. Seine Familie dachte, er sei verrückt 
geworden, und brachte ihn schließlich in einem Heim unter. Wenn ihn die 
Ärzte  nach  seinem  Namen  fragten,  antwortete  er:  „Ich  habe  keinen 
Namen.“ Wenn sie ihn fragten, wo er lebte, antwortete er: „Überall.“ Nach 
zwei Monaten erklärten die Ärzte, dass er nicht verrückt sei, und entließen 
ihn. 

Die  nächsten  zwanzig  Jahre  zog  er  als  Avadhuta  (ein  Wesen,  das  alle 
Sorgen  abgelegt hat) umher  und  war  so  tief im  Bewusstsein  des  SELBST 
absorbiert, dass er sich den überwiegenden Teil der Zeit der Welt um ihn 
herum  nicht  bewusst  zu  sein  schien.  Ishmael,  jetzt  sein  ständiger 
Begleiter,  kümmerte  sich  um  seine  körperlichen  Bedürfnisse.  Als  er  sich 
1961  in  Rishikesh  in  Nordindien  befand,  hörte  er  eine  Stimme,  die  ihm 
zurief:  „Komm  zu  mir.  Du  sollst  zu  mir  kommen.  Ich  bin  hier  in 
Ganeshpuri.“ Er reagierte sofort darauf und ging nach Ganeshpuri, um den 
legendären  Swami  Nityananda  zu  treffen,  mit  dem  er  nur  fünf  Minuten 
verbrachte. Es fiel kein Wort, während sie sich fest in die Augen schauten. 
Diese  Begegnung  versetzte  Ajja  in  die  Lage,  wieder  „zur  Erde 
zurückzukommen“,  und  kurz  darauf  begann  er  wieder  Kleider  zu  tragen 
und mit anderen zu sprechen. 

Wieder  zurück  in  seinem  kleinen  Dorf,  verbrachte  er  weiterhin  den 
Großteil  seiner  Zeit  in  völligem  Schweigen.  Vor  sieben  Jahren  hielt  der 
berühmte Pandit Bannanje Govindacharya in Ajjas Dorf einen Vortrag über 
Vedanta, worin er die Menschen aufforderte, „nach innen zu gehen.“ Ajja, 
der dem Vortrag  zuhörte, folgte seinen Anweisungen auf den Buchstaben 
genau.  Da  bemerkte  ihn  der  Pandit,  denn  Ajja  war  plötzlich  in  einer 
mystischen Trance und fiel um. Als der Pandit zu ihm hinging und fragte:


„Was ist mit dir?“ antwortete er unschuldig: „Du hast gesagt, ich soll nach 
innen gehen; ich bin nach innen gegangen.“ 

Govindacharya erkannte die Erfahrung Ajjas als übereinstimmend mit den 
Upanishaden  (den  klassischen  Schriften  über  Vedanta)  an,  und  als 
Ergebnis  ihrer  Begegnung,  die  sich  zu  einer  warmen  Freundschaft 
entwickelte,  begann  sich  Ajjas  Ruf  als  lebendiger  Meister  von  Advaita, 
Nondualität, im ganzen südindischen Staat Karnataka zu verbreiten. 

Es  war  ein  früher  Abend  während  der  Konferenz,  als  Ajja  einfach  und 
unprätentiös  zu  einem  größtenteils  indischen  Publikum  über  das  Wesen 
unserer  wahren  Identität  zu  sprechen  begann.  Seine  überaus  große 
Verletzlichkeit  war  fast  schmerzhaft  anzusehen,  er  schien  sich  unwohl  zu 
fühlen und an der Rolle, in die er hineingedrängt worden war, nämlich vor 
einer großen Menschenmenge zu sitzen, geradezu zu ersticken. Er sprach 
langsam und bedächtig, seine Worte waren einfach und von dem Kern des 
Seins durchdrungen. Er sprach von unvorstellbarer Glückseligkeit und vom 
vollständigen  Transzendieren  des  Verstandes.  Er  beschrieb  eine 
ungeheure  Energie,  die  sich  in  seiner  Wirbelsäule  bewegte,  und  davon, 
wie wichtig es wäre, den ungeteilten Wunsch nach Moksha, Befreiung, zu 
verspüren.  Immer  wieder  betonte  er, wie  absolut  unerlässlich  es ist,  den 
Verstand zur Ruhe zu bringen, um das, was jenseits davon liegt, direkt zu 
erfahren. Während er sprach, wurde seine Echtheit eher dadurch deutlich, 
wie er war, als durch das, was er sagte. Da saß ein Mann, der kein Gesicht 
zu  haben  schien,  der  keinen  Namen,  und,  was  vor  allem  anderen  am 
beeindruckendsten  war,  allem  Anschein  nach  keinen  Verstand  und  keine 
Persönlichkeit  im  normalen  Sinn  hatte.  Sein  Unbehagen  angesichts  des 
gesprochenen  Wortes  war  offensichtlich,  und  er  wiederholte  immer 
wieder, dass „man über diese Dinge nicht sprechen kann!“ sie könnten nur 
durch  direkte  Erfahrung  verstanden  werden.  Zu  meiner  Überraschung 
schienen  nicht  viele  Zuhörer  zu  begreifen,  wer  Ajja  war,  denn  einige 
verlangten  durchaus  aggressiv  Echtheitsbeweise  von  diesem  sanften 
Mann. Alles wurde noch schlimmer, als einige seiner glühenden Anhänger 
anfingen, in eindeutigen Worten lautstark zu verkünden, dass ihr Guru ein 
lebendes  Beispiel  für  die  höchste  Errungenschaft  ist,  wie  sie  in  den 
Upanishaden  beschrieben  wird.  Es  breitete  sich  in  der  Menge  bald  eine 
Atmosphäre wie im Zirkus aus. Inmitten des ganzen Chaos zog Ajja es vor 
zu schweigen. 

Später  am  Abend  ging  ich  mit  einigen  meiner  Schüler  zu  Ajja,  um  mich 
mit  ihm  in  seinem  Zimmer  zu  treffen.  Als  wir  ankamen,  war  er  gerade 
Zielscheibe  scharfer  Fragen  seitens  des  bekannten  Physikers  George 
Surdashan,  der,  abgesehen  davon,  dass  er  für  den  Nobelpreis  nominiert 
gewesen  war,  auch  engen  Kontakt  mit  dem  Maharishi  Mahesh  Yogi  und 
dem  großen  J.  Krishnamurti  gehabt  hatte.  „Ajja“,  fragte  der  Physiker, 
„wenn zwei Menschen nebeneinander stehen und den Mond hoch oben am 
Nachthimmel  ansehen,  warum  empfindet  dann  der  eine  eine  starke 
Neugier  zu  wissen,  warum  die  Dinge  so  sind,  wie  sie  sind,  und  warum 
interessiert  es  den  anderen  gar  nicht?“  Ajja  antwortete  so,  wie  er  viele


Fragen  beantwortet:  „Man  muss  selbst  die  Erfahrung  haben.  Erst  dann 
wird  man  verstehen  können.“  Der  Physiker  wollte  Ajjas  Antwort  nicht 
akzeptieren und behauptete, dass das wohl jeder sagen könnte, dass Ajja 
der Frage ausweiche und dass das ganz einfach keine akzeptable Antwort 
sei. Ich stellte fest, dass hinsichtlich des Geschehens, das hier ablief, zwei 
absolut  unterschiedliche  Empfindungen  wechselweise  in  mir  Gestalt 
annahmen.  Auf  der  einen  Seite  beeindruckte  mich  die  mutige  Ablehnung 
des  Physikers,  etwas  anderes  als  eine  direkte  Antwort  von  einem 
erleuchteten Menschen zu akzeptieren. Andererseits konnte ich aber auch 
nicht  anders,  als  von  dem  bemerkenswerten  Gleichmut  Ajjas  genauso 
beeindruckt  zu  sein.  Auch  wenn  Ajja  scheinbar  nicht  in  der  Lage  war, 
direkt  auf  die  Fragen  zu  antworten,  war  ich  doch  von  der  tiefen 
Sensibilität  seines  Wesens  einfach  berührt.  Es  erschien  mir  wie  Ironie, 
dass auf der einen Seite der Physiker anscheinend die Größe des Mannes 
nicht  erkannte,  der  ihm  gegenüber  saß,  und  dass  auf  der  anderen  Seite 
Ajja nicht verstehen konnte, warum seine Antwort für den Physiker keinen 
vernünftigen Sinn zu ergeben schien. 

Ich  besuchte  Ajja  noch  zweimal  und  fuhr  dazu  von  dem  eine  halbe 
Autostunde  von  Bangalore  entfernten  Ashram  in  die  Stadt,  wo  er  sich  in 
der  Wohnung  eines  seiner  Anhänger  aufhielt.  Die  Aufgabe,  Ajja  für  diese 
Ausgabe von Was ist Erleuchtung? zu interviewen, stellte sich als eine weit 
größere  Herausforderung  heraus,  als  wir  im  Vorhinein  angenommen 
hatten. Da dieser Mann so tief und absolut in der nondualen Natur seines 
eigenen  Selbst  absorbiert  ist,  ist  es  ihm  fast  unmöglich,  eine  Frage  zu 
verstehen,  die  es  notwendig  macht,  eine  Subjekt­Objekt­Beziehung  in 
Betracht zu ziehen. 

Nachdem wir Bangalore nach unserem ersten Drei­Stunden­Interview mit 
Ajja  verließen,  waren  wir  erstaunt,  berührt,  aber  auch  etwas  verwirrt.  In 
unseren  Köpfen  bestand  kein  Zweifel  darüber,  dass  wir  uns  gerade  in 
Gesellschaft  eines  tief  erleuchteten  Menschen  befunden  hatten,  dessen 
„Zustand“  oder  „das,  was  er  erreicht  hatte“  fraglos  eine  große  Seltenheit 
war.  In  näherem  Kontakt  mit  Ajja  wurde  uns  sehr  schnell  klar,  dass  er 
jemand  war,  der  diese  Welt,  und  alle  Menschen  darin,  bereits  vor  langer 
Zeit  weit  hinter  sich  gelassen  hatte.  Aber  es  gab  da  eigenartige  Berichte 
von  Seiten  seiner  Anhänger:  Einer  behauptete,  Ajja  sei  tatsächlich  die 
Reinkarnation  von  Mahatma  Gandhi.  Man  sagte  uns,  dass  der  große 
Heilige  und  Pazifist,  die  revolutionäre  Seele,  Ramachandras  leere  Hülle 
betreten  hatte,  als  dieser  seinen  Körper  durch  den  Scheitel  verließ. 
„Typisch Indien!“ dachte ich bei mir. Man erzählte uns auch, dass Ajja die 
hellsichtige  Fähigkeit  hatte,  anderen  zu  offenbaren,  wer  sie  in  früheren 
Inkarnationen  gewesen  waren  wenn  er  es  aber  tat,  dann  stellte  sich 
praktisch  immer  heraus,  dass  es  sich  um  Gefolgsmänner  in  Gandhis 
Revolution  handelte.  Also  zwang  ich  mich  bei  unserem  zweiten  Besuch 
dazu,  ihn  zu  fragen,  ob  das,  was  wir  von  einigen  seiner  Schüler  gehört 
hatten,  wahr  wäre.  War  er  die  Reinkarnation  von  Mahatma  Gandhi? 
Darauf  antwortete  er:  „Ich  habe  die  Universelle  Seele  erfahren.“  Aber 
diese  Frage  wurde  nie  völlig  geklärt,  denn  Ajja  ließ  auch  die  Möglichkeit

offen,  dass  es  wahr  sei,  wenn  auch  nur  in  der  Vorstellung  von  anderen. 
„Wir  können  nicht  unser  eigenes  Gesicht  sehen“,  sagte  er  auch.  „Das 
bleibt anderen überlassen.“ 

Letztlich  war  ich  vor  allem  von  dem  völligen  Fehlen  eines  persönlichen 
Selbst  in  diesem  außerordentlichen  Mann  zutiefst  berührt.  In  der  Tat 
scheint er buchstäblich ein Beispiel für jemanden zu sein, dessen Verstand 
und Körper wahrhaftig ein leeres Gefäß geworden sind, durch das das Eine 
ohne ein Zweites hindurchstrahlt, ohne den Makel der geringsten Spur von 
Individualität. 

I nterview  

Ajja:  Wir  sollten  uns  einander  zuerst  vorstellen,  um  eine  Basis  für 
Verstehen  und  Harmonie  zu  schaffen.  Dann  können  wir  mit  unserem 
Gespräch  beginnen.  Nur  dann  wird  dieses  Gespräch  sinnvoll  sein. 
Andernfalls bleiben die Worte nichts als Worte. Als wir uns neulich trafen, 
beschrieben  Sie  die  Erfahrung  ihres  Erwachens,  aber  die  anderen  Leute 
hier  waren  damals  nicht  dabei;  könnten  Sie  es  bitte  noch  einmal 
beschreiben? 

Andrew  Cohen: Ich war sechzehn. 

Ajja: Wer war sechzehn? 

AC:  Das  Individuum, der junge  Mann, der davon  überzeugt  war, dass  es 


ein Problem gab, dass etwas nicht in Ordnung war. 

Ajja: Sie können weitersprechen. 

AC:  Plötzlich  öffneten  sich  die  Tore  der  Wahrnehmung.  Es  war  so,  als 
wären  die  Mauern  des  Raumes  verschwunden  und  als  wäre  da  plötzlich 
unendlicher  Raum.  Und  dieser  unendliche  Raum  war  voller  Energie.  Und 
diese Energie besaß Bewusstsein, sie war sich ihrer selbst bewusst. 

Ajja: Und das, was Sie jetzt sind ­ ist das dieses Gewahrsein selbst? 

AC: Ja.. 

Ajja:  Also  meinen  Sie  nicht  diesen  Körper,  wenn  Sie  sagen  „Ich“.  Das 
Gewahrsein, das sie damals erfuhren, ist das das „Ich“, das Sie auch jetzt 
spüren? 

AC: Ja, es ist dasselbe. 

Ajja: Es ist nicht dieser Körper?

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AC: Es gibt nur ein „Ich“. 

Ajja: Und was geschah danach? 

AC:  Dann  erkannte  ich, dass diese  Energie,  die  sich  ihrer selbst  bewusst 


war,  Intelligenz  besaß  ­  da  war  Intelligenz  ­  und  dass  ihr  Wesen  Liebe 
war. Unerträgliche Liebe. Beängstigend heftige Liebe. Und es wurde auch 
deutlich,  dass  alles  das,  was  im  manifesten  Universum  existiert,  von 
derselben  Substanz  war,  nämlich  dieses  Bewusstein.  Und  es  wurde  mir 
dabei klar, dass jeder Punkt im Raum genau derselbe Punkt war wie jeder 
andere.  Wir  sind  zum  Beispiel  jetzt  hier  in  diesem  Zimmer.  Wir  sind 
gerade aus Prashanti gekommen. Davor war ich in Europa. Davor war ich 
in Amerika. All das scheinen verschiedene Orte zu sein, aber das, was ich 
in jenem Moment erkannte, war, dass jeder Ort, wo auch immer ich hätte 
sein  können,  derselbe  Punkt  ist,  buchstäblich  und  tatsächlich.  Und  dann 
waren  da  auch  Tränen,  aber  ich  habe  nicht  geweint.  Und  meine  Kehle 
schloss und öffnete sich. 

Schließlich  wurde  diese  Erfahrung  schwächer.  Aber  dann,  sechs  Jahre 


später,  als  ich  zweiundzwanzig  war,  begann  ich  wieder  nach  dieser 
Erfahrung zu suchen, denn wenn ich in der Zwischenzeit auch das Gefühl 
hatte,  dass sie  sehr  weit von  mir  weg war, wusste  ich  doch,  dass  sie  die 
realste  Erfahrung  meines  Lebens  gewesen  war.  Ich  begann  Sadhana 
(spirituelle  Praxis)  zu  machen,  hatte  mehrere  Erfahrungen  und  war  bei 
vielen verschiedenen Lehrern. Und als ich dann schließlich meinen letzten 
Lehrer  traf,  erzählte  ich  ihm  davon.  Im  Laufe  der  Jahre  hatte  ich  vielen 
Menschen  von  dieser  Erfahrung erzählt,  und  sie  hatten  nie  gewusst,  was 
sie dazu sagen sollten, als ich es aber ihm erzählte, sagte er: „Dann hast 
du  alles  erfahren.“  Und  als  er  das  sagte,  begann  es  zurückzukommen. 
Dann erlebte ich mehrere Wochen lang diese überwältigende Liebe und die 
Hitze und das Brennen. Nachdem das geschehen war, stellte ich fest, dass 
ich spontan über das Absolute sprach ­ ich konnte nichts dagegen tun; ich 
begann  davon  zu  sprechen,  und  dann  kam  es  in  den  Raum.  Und  mein 
Körper  füllte  sich  mit  Glückseligkeit,  und  andere  Menschen  spürten  diese 
Glückseligkeit und wurden in die Erfahrung hineingezogen. 

Ajja: Was ist Ihr augenblicklicher Zustand? 

AC:  Das  ist  die  Erfahrung,  die  ich  jetzt  habe.  Es  geschieht,  wenn  ich 
Vorträge  halte,  wenn  ich  über  das  Absolute  spreche.  Dann  kommt  diese 
Erfahrung,  und  wenn  ich  aufhöre,  davon  zu  sprechen,  dann  gehe  ich 
wieder in einen etwas normaleren Zustand. Aber der Unterschied ist jetzt, 
dass ich keinen Zweifel mehr habe ­ die Beschäftigung mit mir selbst und 
die  Sorgen  sind  verschwunden  ­,  und  diese  Liebe,  der  ich  damals 
begegnet bin, ist mein ganzes Leben. 

Ajja:  Zuerst  war  „Ich“  ein  eingeschränktes  „Ich“.  Später  begann  es  sich 
auszudehnen,  und  dann  erreichte  es  einen  Zustand,  wo  es  weder  Raum

11 
noch Zeit gibt, sogar jenseits von Emotionen. Darin werden „Du“ und „Ich“ 
eins, das höchste Göttliche. Wir gebrauchen nur das Wort „Ich“. Alles, was 
in diesem Körper ist, dafür sagen wir „Ich“ als eine einfache Beschreibung. 
Wir sagen, das bin „Ich“, aber ich bin nichts. Ich bin nicht der Körper. Ich 
bin nicht  einmal  eine  Energie.  Das,  was  wirklich  existiert,  ist  das  Es,  das 
seinem  Wesen  nach  Licht  ist,  sein  Wesen  ist  Satya  (die  letztendliche 
Wirklichkeit). Es ist Wahrheit, es ist Glückseligkeit, es ist Frieden, und das 
ist das wirkliche Sein. 

Wer ist diese Energie, diese Kraft? Was ist die Quelle davon? Wer bin ich? 
Was ist meine Quelle? Ich bin diese Energie. Ich bin diese Kraft, die meine 
Quelle ist. Wenn ich mich also auf die Suche mache nach der Quelle dieses 
„Ich“,  dann  erreiche  ich  diese  Erleuchtung  meines  Selbsts.  Dann  erhebt 
sich  diese  Energie,  die  in  diesem  Körper  existiert,  die  diesen  Körper 
bewohnt,  auch  selbst  aus  dieser  Erleuchtung  des  Selbsts.  Und  sie  besitzt 
alle Eigenschaften und das Wesen von diesem Es. Wenn ich das also weiß, 
beginne  ich  mich  zu  entwickeln.  Dieses  „Ich“  beginnt  sich  zu  entwickeln, 
um  „Es“  selbst  zu  werden.  Das  ist  sein  Wesen.  Die  totale  Expansion  ist 
sein natürliches Wesen. 

Was  ist  also  dieses  „Ich“,  das  wir  „Ich“  nannten?  Dieser  Körper  ist  nicht 
„Ich“.  Derjenige,  der  den  Körper  bewohnt,  ist  das  wahre  „Ich“.  Diese 
Kraft, diese Shakti, ist Ich. Wenn ein Mensch in diesen selbst­erleuchteten 
Zustand gelangt und erkennt, dass das sein wahres Wesen ist, dann wird 
er  auch  feststellen,  dass  es  ihn  mit  den  Eigenschaften  der  Erleuchtung, 
nämlich Ausdehnung und Mitgefühl, versehen hat. Das individuelle Selbst 
ist  eins  mit  Dem  geworden.  Alles,  was  er  um  sich  herum  sieht,  woher 
kommt es? Es ist klar, dass es immer aus dem Inneren kommt; in jedem 
Moment scheint es einfach aus dem Inneren zu entspringen. So sieht die 
ganze uns umgebende Welt für eine verwirklichte Seele aus. 

Alles  ist  aus  diesem  „Ich“  entstanden.  Die  wichtigsten  Antworten,  wie 
entstehen  sie?  Es  ist  nicht  so,  dass  sie  irgendwo  niedergeschrieben 
worden  wären.  Diese  Antworten  sind  einfach  gekommen.  Nicht  aus  dem 
individuellen Selbst, sondern aus diesem Zustand sind sie gekommen. Es 
gibt also kein kleines Selbst! Es taucht einfach nur spontan auf. 

Was  ist  also  für  die  individuelle  Seele,  die  die  totale  Befreiung  anstrebt, 
der  einfachste  und  direkteste  Weg  zur  Befreiung  aus  dem  Zyklus  von 
Geburt  und  Tod?  Die  Antwort  auf  diese  Frage  kommt  dann,  wenn  der 
Verstand  ganz  still  geworden  ist.  Daher  sind  nicht  meine  Worte  wichtig. 
Wir müssen diese Antworten selbst finden, und das können wir nur dann, 
wenn  wir  unseren  Verstand  zur  Ruhe  bringen.  Jeder  von  uns  hat  die 
Fähigkeit, diese Antworten zu finden, denn jede Frage hat eine Antwort in 
der Stille. Wenn der Verstand einen Zustand der Ruhe erreicht hat, dann 
kommt  die  Antwort.  Das  geschieht  nicht  in  ein,  zwei  Tagen,  aber  es  ist 
absolut sicher, dass wir die Antwort in der Stille finden werden.

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AC:  Ich verstehe Sie also so, dass es dann, wenn der Verstand ruhig ist, 
kein Problem gibt, und dass es daher auch nicht notwendig ist, nach einer 
Lösung zu suchen. Ich hätte aber doch einige Fragen, die ich Ihnen gerne 
stellen würde, um der vielen Menschen willen, die das hier lesen werden. 

Ajja: Egal, welche Fragen Sie stellen, die Antwort, die hier herauskommt, 
ist:  „Bringe  den  Verstand  zur  Ruhe.“  Zuerst  muss  der  Verstand  auf  sich 
selbst  konzentriert  werden.  Wenn  Sie  dann  noch  immer  eine  perfekte 
Antwort  brauchen,  dann  ist  mein  Leben  selbst  die  Antwort.  Wenn  Sie 
sehen,  wie  ich  handle,  können  Sie  es  verstehen,  können  Sie  Es 
verwirklichen. Das ist meine Botschaft. Das ist meine Antwort. 

AC: Darf ich Ihnen trotzdem eine Frage stellen? Es ist eine gute Frage. 

Ajja:  Wenn  ich  eine  Antwort  gebe,  dann  sollte  das  auch  zu  etwas  nütze 
sein. Worauf es ankommt, ist das Handeln. Wenn die Botschaft überbracht 
worden ist, werden die Menschen sie dann auch in die Tat umsetzen? 

AC:  Eben  darauf  bezieht  sich  meine  Frage:  Was  ist  die  Beziehung 
zwischen Nicht­Existenz und Handeln in Raum und Zeit? 

Ajja:  Man  verliert  seine  Existenz  durch  Erkenntnis  und  Handeln.  Durch 
diese  beiden  wird  man  frei.  Dann  ist  man  selbst  ein  Jivan  Mukta  (ein 
Befreiter). Aber wenn dieses „Ich“ weg ist, was bleibt dann? Wo ist dann 
die  Frage? 

AC:  Aber drückt nicht der Jnani (das selbstverwirklichte Individuum), der 
Jivan Mukta, auch wenn er frei ist, noch immer etwas durch sein Handeln 
aus? 

Ajja: Ich habe nicht das Bewusstsein, „Ich bin ein Jnani“oder „Ich bin ein 
Jivan Mukta“ Ich habe gar nichts. Wenn das „Ich“ verschwunden ist, dann 
entsteht  im  Bewusstsein  nicht  einmal  das  Gefühl  von  „Ich“.  Es  ist  total 
weg.  Für  einen  Jnani  stellt  sich  also  diese  Frage  nicht  einmal.  Wenn  von 
Denken  gar  nicht  die  Rede  ist,  dann  findet  kein  normales  Alltagshandeln 
statt.  Unsere  Gedanken  haben  sich  in  Kontemplation  verwandelt.  Dann 
werden  unsere  routinemäßigen  Interaktionen  im  Alltag  spirituell.  So  wird 
dann  die  normale  Routine  selbst  zum  spirituellen  Leben.  Das ist  dann  an 
und für sich das yogische Leben. Das ist an und für sich göttliches Leben. 

AC:  Es  gibt  da  ein  Mysterium,  das  mich  nicht  loslässt.  Aus  nichts  wurde 
etwas; es ist buchstäblich der Beginn von allem. So ist es auch beim Jivan 
Mukta: er ist nichts, er ist in nichts. Und doch entsteht aus nichts etwas: 
Worte, Handlungen usw. Darüber würde ich gerne mehr wissen. 

Ajja:  Ich  habe  bereits  beschrieben,  wie  die  Alltagshandlungen  selbst  in 
spirituelle Handlungen verwandelt werden können. Wenn ein Mensch, der 
mit  Alltagshandlungen  und  ­pflichten  befasst  ist,  diese  Absicht  hat,  dann

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verändert er sich. In dem Maße, in dem er auf dem Pfad der Entwicklung 
voranschreitet, durch Kontemplation über den Gedanken „Wer bin ich?“ ­ 
wer ist diese individuelle Seele? ­ findet er vollständige Befreiung aus dem 
Kreislauf von Geburt und Tod, auch wenn er noch in diesem Körper ist. Er 
wird das Selbst an sich, und das Selbst ist absolute Freiheit. Das ist wahre 
Freiheit.  Diese  Verwirklichung  ist  der  Sinn  der  menschlichen  Geburt.  Nur 
aus  diesem  einzigen  Grund  wird  eine  menschliche  Geburt  genommen. 
Wenn  dieser  Zweck  erfüllt  ist,  dann  ist  unser  Leben  erfüllt.  Es  ist  ein 
Zustand, der keine weitere Geburt mehr nach sich zieht. Es ist ein Leben 
frei  von  Dualität  und  jenseits  des  Todes.  Das  kann  überall  auf  der  Welt 
geschehen.  Das  gilt  für  die  gesamte  Menschheit.  Wenn  die  gesamte 
Menschheit das versteht und in die Tat umsetzt, wo ist dann die Frage? 

AC: Es wird keinen Unterschied zwischen Leben und Tod geben. 

Ajja: Ja. Nur wo es Geburt gibt, kann es Tod geben. Wo ist da die Geburt? 
Wir  denken:  „Ich  bin  dieser  Körper.  Alle  Sinnesobjekte,  die  mit  dem 
Körper in Beziehung stehen, gehören mir.“ Mit einem so eingeschränkten 
Empfinden wird ein Mensch, der in Handlung verstrickt ist und die Freuden 
und  Leiden  erlebt,  die  aus  diesem  Handeln  entstehen,  immer  wieder  in 
dieser  Welt  geboren  werden.  Seine  Leben  gehen  also  gemäß  seinen 
Handlungen  weiter.  Das  ist  das  Geheimnis  von  Geburt,  Leben  und  Tod. 
Wenn  das  individuelle  Selbst  aber  von  den  Banden  der  Handlungen  und 
auch  von  der  Bindung  durch  seinen  Körper  befreit  ist,  dann  wird  es  eins 
mit dem höchsten Selbst. Wenn das Individuum durch Kontemplation über 
die Frage „Wer bin ich?“ frei von Karma wird, dann entwickelt es sich, es 
wird  selbst  das  aus  sich  heraus  strahlende  Höchste.  Das  an  sich  ist  das 
Selbst.  Das  an  sich  ist  Glückseligkeit.  Das  an  sich  ist  Satya,  die 
letztendliche  Realität.  Das  an  sich  ist  Leben.  Das  an  sich  ist 
Selbstverwirklichung. 

Selbstverwirklichung ist also für das Wohl des Ganzen. Sie verheißt Glück 
und Gutes für das gesamte Universum. Das ist der Sinn des menschlichen 
Lebens.  Wenn  wir  das  Geheimnis  verstehen,  das  darin  liegt,  werden  wir 
wirklich  die  Beziehung  zwischen  der  individuellen  Seele,  der  höchsten 
Seele  und  dem  Universum  verstehen.  Der  einzelne  Mensch  ist  Teil  des 
Kosmos.  Dieser  Körper,  dieses  „Ich“,  ist  nichts  anderes  als  ein 
Mikrokosmos  dieses  makrokosmischen  Universums.  Wenn  wir  die  Mikro­ 
Ebene  verstehen,  dann  müssen  wir  notwendigerweise  auch  das  Makro­ 
Universum  verstehen.  Jeder,  der  hier  sucht,  muss  notwendigerweise 
dorthin  kommen,  denn  diese  Individualität  ist  Teil  von  Dem.  Und  es 
enthält auch alles. Alle Geheimnisse von Dem enthält es auch. Durch das 
Erforschen  des  Individuums ­  sogar  des  Atoms  ­  kann  die  Grundlage  des 
gesamten Universums verstanden werden. 

Wie  wird  diese  Freiheit  verwirklicht?  Allein  durch  Handeln  kommt 


Verwirklichung. Das ist Jnana, das ist Freiheit, das ist Moksha (Befreiung). 
Wir  müssen  verstehen,  wie  wir  durch  Handeln  diesen  Zustand  erreichen

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können.  Welche  Art  der  Handlung  wird  uns  dabei  helfen,  Befreiung  zu 
finden?  Das  Singen  von  Gottes  Namen,  Kontemplation,  Hingabe, 
Wahrhaftigkeit,  Gewaltlosigkeit,  unverhaftetes  Handeln.  Ein  Mensch,  der 
in seiner Lebensspanne die Selbsterkenntnis in Handlung umsetzen kann, 
verdient  es,  diesen  erhabenen  glückseligen  Zustand  zu  verwirklichen. 
Nicht  nur  das,  er  wird  Glückseligkeit  an  sich.  „Wer  bin  ich?  Was  ist  das 
Geheimnis  meines  Lebens,  meiner  Geburt?“  Wenn  er  das  versteht,  wenn 
er das durch seine Suche verwirklicht, auch wenn er mit Handlungen und 
Pflichten  beschäftigt  ist,  dann  gelangt  er  zu  seiner  ursprünglichen  Natur, 
die Glückseligkeit ist. Also wird er durch Handeln transformiert. 

AC:  Wenn  Sie  über  Karma  Yoga  sprechen,  über  das  ungebundene 
Handeln, meinen Sie dann spezifisch die spirituelle Praxis? Oder jede Form 
von ungebundenem Handeln? 

Ajja: Jede Handlung, die als Pflicht ausgeführt wird, ohne Erwartung eines 
Ergebnisses.  Jede  Handlung  verwandelt  sich  in  Pflicht,  wenn  sie  ohne 
Erwartungen  und  Selbstsucht  ausgeführt  wird.  Das  führt  zu  einem 
Zustand,  in  dem  es  keine  Emotionen  mehr  gibt.  Man  handelt,  aber  man 
tut  nicht.  Es  herrscht  nicht  das  Gefühl:  „Ich  tue  etwas.“  Was  ist  mit 
diesem „Ich“ geschehen? 

Diese  Entwicklung  erfolgt  schrittweise.  Sie  geschieht  nicht  plötzlich.  Sie 


muss verschiedene Phasen durchmachen. Auf jeden Fall ist allerdings auch 
der  elementarste  Zustand  von  Glückseligkeit  bereits  Glückseligkeit.  Das 
Wesen von Glückseligkeit ist Glückseligkeit an sich. Glückseligkeit an sich 
ist das Wesen von Glückseligkeit. Glückseligkeit ist Glückseligkeit an sich. 
Glückseligkeit  ist  Glückseligkeit.  Diese  Glückseligkeit  ist  ewige 
Wirklichkeit. Diese Glückseligkeit ist ewige Wahrheit. Diese Glückseligkeit, 
die  ewige  Wirklichkeit  ist,  ist  die  ewige  Glückseligkeit.  Das  ist  höchste 
Glückseligkeit.  Das  ist  die  Glückseligkeit  Brahmans  (des  Absoluten).  Und 
das  an  sich  ist  Ananda  (spirituelle  Glückseligkeit).  Da  gibt  es  nichts  ­ 
keinen Zustand. Erfahrungen und Worte reichen dort nicht hin. Das wahre 
Wesen  des  individuellen  Selbst  an  und  für  sich  ist  diese  Glückseligkeit. 
Und  der  einfachste  und  kürzeste  Weg  ist  es,  immer  in  Sahaja  (im 
natürlichen Zustand) zu verweilen, der unser ursprüngliches Wesen ist. 

Es  könnte  sich  die  Frage  stellen:  „Wo  ist  diese  Glückseligkeit?“  Diese 
Glückseligkeit  ist  hier  und  jetzt,  stets  gegenwärtig.  Wenn  dieser  Jivatma 
(das  individuelle  Selbst)  abgeworfen  worden  ist,  dann  ist  diese 
Glückseligkeit  da,  sie  existiert  bereits.  Die  individuelle  Seele  ist  durch 
Handlungen gefesselt, das Höchste aber nicht. Es gibt für das Selbst auch 
keine  Geburt.  Gehen  wir  also  über  diese  dualistische  Welt  des  Handelns 
hinaus,  entwickeln  wir  uns  und  erreichen  den  Paramatma  (das  höchste 
Selbst). 
Für all das ist Meditation der Ausgangspunkt. Zu Beginn sollte man sitzen. 
Man sollte diese innere Vorbereitung haben. Man sollte sich disziplinieren. 
Aber  es  genügt  nicht,  nur  zu  sitzen.  Nicht  nur  der  Körper  muss  sitzen;

15 
auch der Verstand muss sitzen. Der Verstand sollte nicht umherwandern. 
Solange  der  Verstand  nicht  beherrscht  wird,  gibt  es  keine  Meditation.  Es 
ist das Wandern des Verstandes selbst, das die Welt ausmacht. 

AC: Ja. Der Verstand ist die Welt. 

Ajja: Der Verstand muss also zuerst ruhig werden. Der Verstand wandert 
herum,  und  das  muss  aufhören.  Durch  Meditation  richtet  sich  der  Geist 
nach  innen.  Und  das  sollte  nicht  nur  in  der  Meditation  so  sein,  sondern 
auch inmitten von Aktivität. 

Nichts  von  dem,  was  wir  in  dieser  Welt  für  real  halten,  ist  es  auch 
tatsächlich.  Wenn  diese  Welt  für  dich  unwirklich  wird,  dann  enthüllt  sich 
die  wahre  Wirklichkeit.  Das  ist  der  Anfang.  Da  erkennen  wir,  dass  es 
keinen  Tod  gibt,  dass  es  kein  Leben  gibt,  dass  es  nur  die  Existenz  gibt. 
Früher oder später muss jeder von uns sterben. Aber ich meine nicht den 
Tod dieses Körpers. Es gibt eine andere Art von Tod ­ einen Tod, aus dem 
es  keine  Wiedergeburt  gibt.  Wenn  das  stirbt,  was  immer  wieder  zur 
Reinkarnation  zurückkommt,  dann  ist  das  der  wirkliche  Tod  ­  so  wie  in 
meinem  Fall,  wo  alle  Erfahrungen  vergangen  sind.  Nun,  hier  in  diesem 
Zustand, gibt es gar nichts. 

AC: Wenn Sie sagen, dass es hier gar nichts gibt, meinen Sie dann damit, 
dass  Sie  eben  in  diesem  Moment  keine  Erfahrung  haben?  Sie  scheinen 
eine ganze Menge zum Ausdruck zu bringen. 

Ajja:  Wessen  Erfahrung?  Es  kommen  Worte,  das  stimmt.  Durch  dieses 
Vehikel handelt irgendeine unbekannte Kraft, irgendeine Energie arbeitet, 
die  diesen  Körper  als  Werkzeug  verwendet.  Nicht  dieser  Körper  hier 
spricht.  Eine  Energie  inspiriert  diesen  Körper,  Verstand  und  Intellekt. 
Dasselbe  geschieht in  jedem  von  uns, aber  oft  sagen  wir:  „Ich  spreche.“ 
Hier  geschieht  das  nicht.  Die  Worte  kommen  einfach.  Das  ist  der 
Unterschied. Ich sage nicht: „Ich sage, ich spreche.“ 

AC:  Meiner  eigenen  Erfahrung  zufolge  scheint  die  Beziehung  zwischen 


diesem  Zustand  der  Glückseligkeit,  in  dem  es  kein  „Ich“  gibt,  und  der 
vollkommenen  Handlung  in  der  Welt  von  Raum  und  Zeit  eine  sehr 
geheimnisvolle  zu  sein.  Ich  würde  immer  noch  gerne  mehr  darüber 
wissen, wie Sie diese Beziehung für das Wesen definieren, das tatsächlich 
in  diesem  Bewusstsein  von  Glückseligkeit  ruht,  in  dem  es  keinen  Begriff 
von  „Ich“  gibt.  Wie  drücken  die  Handlungen  dieses  Individuums  in  der 
Welt  die  Vollkommenheit  seines  Zustands  aus?  Was  ist  die  Beziehung 
zwischen diesem Zustand und dem Ausdruck perfekten Handelns in dieser 
Welt der Illusion? 

Ajja:  Ich  befinde  mich  auf  einer  völlig  anderen  Ebene  der  Interaktion. 
Zwischen  diesen  beiden  besteht  in  meinen  Handlungen  keine  Beziehung. 
Wie verstehen Sie vollkommenes Handeln in der Welt?

16 
AC: Vollkommenes Handeln ist ein Handeln, das aus reiner Liebe entsteht, 
in der es kein Empfinden von Individualität gibt und keinerlei Eigennutzen. 
Es  gibt  keinen  Stolz,  es  gibt  keine Gier, es  gibt  keinen  Egoismus, es  gibt 
keine  Selbstbezogenheit.  Und  es  ist  auch  der  Ausdruck  reiner  Liebe,  der 
keine Wahrnehmung von sich selbst als getrenntes Wesen hat. Aber diese 
Handlung  findet  statt.  Alle  verwirklichten  Seelen  bringen  das  zum 
Ausdruck. 

Ajja: Das ist schwer zu erklären oder in Worte zu fassen, aber wenn man 
eine  Weile  mit  einem  Menschen  zusammenlebt,  der  sich  in  einem  so 
glückseligen  Bewusstsein  befindet,  dann  besteht  die  Möglichkeit,  es  zu 
verstehen.  Ein  solcher  Mensch  wird  gar  nichts  sagen.  Er  wird  nur  durch 
Schweigen  kommunizieren.  Aber  durch  den  Kontakt  mit  ihm  kann  ein 
Verstehen  stattfinden.  Das  kann  man  nur  durch  die  Erfahrung  kennen 
lernen. 

Was  ist  Liebe?  Sprechen  wir  über  eine  Liebe,  die  in  Beziehung  zu  den 
Sinnen steht? Oder liegt sie jenseits der Sinne? Es gibt Menschen, die die 
Verkörperung  von  Liebe  sind,  aber  das  Wesen  ihrer  Liebe  geht  über  die 
Sinne hinaus. Man kann es nicht mit den Augen sehen. Man kann es nicht 
mit Worten beschreiben. Sie sind die verkörperte Liebe. Diese Liebe kann 
nicht nach außen gezeigt werden. Sie ist ihr ursprüngliches Wesen. Sie ist 
nicht  etwas,  das  sie nur  zum  Ausdruck  bringen.  Sie ist  stets  und ständig 
ihr Wesen. 

AC: Sie sind diese Liebe. 

Ajja: Sie existieren in dieser Welt, aber sie sind nicht diese Welt. Sie sind 
es, und sie sind es nicht. Das ist Erleuchtung. Das an sich ist Atman (das 
Selbst).  Das  an  sich  ist  Glückseligkeit.  Das  an  sich  ist  Wahrheit.  Das  an 
sich ist Leben. Welches Leben ist das? Es ist nicht das weltliche Leben. Es 
ist Leben jenseits von Dualität und Tod. 

AC: So, wie sie sind, ist dann also die Antwort auf die Frage. Wie sie sind, 
ist  die  Antwort  auf  die  Frage,  was  die  Beziehung  zwischen  Nichts  und 
Etwas ist. 

Ajja: Diese Dinge gehen über eine Beschreibung hinaus. Wir können das 
nicht  erklären.  Das  kann  man  nur  sehen  und  verstehen.  Sie  sprechen 
nicht,  weil  sie  etwas  zu  sagen  hätten.  Glückseligkeit  kann  nicht 
beschrieben werden. Wenn man von Glückseligkeit erfüllt ist, dann ist das 
eine Erfahrung, aber da ist niemand, um darüber zu sprechen. Die Worte 
kommen, aber zwischen den Worten, die kommen, und der letztendlichen 
Wirklichkeit  besteht  keine  Beziehung.  Der  wirkliche  Zustand  und  die 
Worte,  die  ihn  beschreiben,  haben  nichts  miteinander  zu  tun.  Dieses 
existiert nur als „Es“ selbst. Die Worte zeigen „Es“, sie manifestieren „Es“, 
aber sie sind „Es“ nicht. Die Existenz dieses Höchsten wird durch das Wort

17 
„Ich“  angezeigt,  nur  um  der  Möglichkeit  des  zwischenmenschlichen 
Kontakts  in  der  Welt  willen  ­  der  Welt  zuliebe,  aber  nicht  diesem  „Es“ 
zuliebe. 

Ich habe nur die Erfahrung der universellen Seele, die Energie, Licht und 
Kraft ist ­ das aus sich selbst strahlende höchste Universelle. Es kam um 
der  Evolution  willen,  und  es  hat  sich  weiterentwickelt.  Das  Universelle 
Licht kommt um der Entwicklung willen, und es entwickelt sich. 

AC: Das Licht entwickelt sich? 

Ajja:  Es  kamen  Licht  und  Kraft,  aber  jetzt  blieb  nur  das  Licht  in  seiner 
entwickelten  Form  zurück.  Es  gibt  keine  Kraft.  Die  Seele  weilt  in  diesem 
physischen  Körper,  und  sie  ist  nichts  anderes  als  aus  sich  selbst 
strahlendes  Licht  und  Kraft.  Und  in  der  Evolution  löst  sich  die  Kraft  auf 
und lässt nur das Licht zurück. 

AC: Können Sie das noch einmal sagen? 

Ajja:  Das  dem  Körper  Innewohnende  ist  die  universelle  Kraft  und 
universelles Licht. Und im Prozess der Evolution löst sich die Kraft auf und 
das Licht bleibt da. Aber die Wahrheit, die darin liegt, kann nicht wirklich 
mitgeteilt werden. Nur durch den Kontakt, dadurch, dass man sich in der 
Nähe einer verwirklichten Seele aufhält, kann man verstehen. Das ist eine 
dieser Fragen, deren Antwort man nur finden kann, wenn man in der Stille 
danach sucht. Sonst wird es zu einem bloßen Lehrvortrag, von dem keiner 
von uns etwas hat. 

AC:  Ich  verstehe,  dass  die  wichtigste  Antwort  nicht  in  Worten  gegeben 
werden  kann,  dass  sie  nur  vom  Individuum  selbst  in  der  Stille  gefunden 
werden kann. Und doch ist es meine Erfahrung, dass manchmal dadurch, 
dass  man  diese  Art  von  Fragen  stellt,  magische  und  außergewöhnliche 
Dinge geschehen können. 

Ajja:  Auch  wenn  die  Wahrheit  herauskommt  oder  wenn  sich,  wie  Sie 
sagen,  magische  und  wunderbare  Dinge  ereignen  ­  wenn  die  Worte 
kommen, sind sie doch nichts weiter als Worte. 

AC:  Aber  die  Worte,  die  von  einem  Jnani  kommen,  haben  die  Kraft  zu 
erleuchten. 

Ajja:  Soviel  zum  Jnani.  Aber  wo  sind  die  Jnanis?  Wer  ist  ein  Jnani?  Und 
wer erkennt den Jnani? 

AC: Der Jnani und der, der den Jnani erkennt, sind ein und dasselbe. 

Ajja: Ist das Ihre Erfahrung?

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AC: Ja. 

Ajja:  Ich  stelle  diese  Erfahrung  nicht  in  Abrede.  Aber  ein  Jnani  wird  nie 
die Erfahrung haben: „Ich bin ein Jnani.“ Er ist einfach das, was er ist. Es 
ist  sein  Urzustand.  Wenn  ein  unnatürlicher  Zustand  kommt,  wird  er 
darüber  erstaunt  sein.  Das  ist  der  ursprüngliche  natürliche  Zustand  für 
einen  Jnani.  Es  gibt  nur  Glückseligkeit.  Niemand  ist  da,  um  diese 
Glückseligkeit zu erleben. Der Mensch, der sieht, ist nicht mehr da. Das ist 
Evolution.  Was  also  in  diesem  Fall  ist,  ist  ein  Zustand,  der  kein  Zustand 
ist. Das ist der ursprüngliche Zustand eines jeden Individuums. Aber man 
muss bereit sein, zu diesem ursprünglichen Zustand zu gehen. 

AC:  Einer  Ihrer  Schüler  sagte  mir,  dass  Sie  die  früheren  Leben  von 
Menschen sehen können, wenn Sie sie näher kennen lernen. Stimmt das? 

Ajja:  Ich  bin  kein  Astrologe.  Ich  lese  in  niemandes  Geist.  Das  wäre  ein 
Widerspruch  zu  Spiritualität.  Die  Befreiung  sollte  in  diesem  Leben 
stattfinden. Manchmal sagt man uns, dass es aus irgendwelchen Gründen 
in  diesem  Leben  nicht  möglich  ist,  dass  wir  auf  zukünftige  Inkarnationen 
warten müssen. Aber wir wissen nicht, ob das wahr ist oder nicht, deshalb 
sollten wir hier und jetzt Befreiung finden. 

AC:  Ich  bin  ganz  Ihrer  Meinung,  und  meine  Frage  beruht  nur  auf  dem, 
was  ich  von  anderen  Menschen  hier  gehört  habe.  Ich  persönlich  bin  der 
Ansicht, dass es sich dabei um eine reine Zeitverschwendung handelt und 
auch, dass der Mensch in die andere Richtung schauen sollte, wenn er frei 
sein  möchte.  Wenn  man  frei  sein  möchte,  möchte  man  das  Selbst 
erkennen,  das  man  ist,  wenn  es  keine  Zeit  und  keine  Geschichte  gibt. 
Etwas  über  frühere  Leben  zu  erfahren,  könnte  einem  niemals  Auskunft 
über das geben, was nie passiert ist. 

Ajja:  Ja.  Lassen  Sie  uns  doch  dieses  Leben  verstehen.  Wenn  man  das 
kennt, weiß man alles, was man wissen muss. Wir sind jetzt hier. Darum 
geht  es  jetzt.  Warum  sollten  wir  zurückgehen?  Es  gibt  weder  Gegenwart 
noch  Zukunft.  Wir  sind  hierher  gekommen.  Wir  sind  hier.  Was  ist  das? 
Wer  sind  wir?  Wer  bin  ich?  Wer  ist  der,  der  gekommen  ist?  Das,  was 
gekommen ist, ist aus sich selbst strahlende Kraft mit Licht. Das ist in sich 
schon  das  Fundament.  Es  gibt  Ingenieure,  die  das  Gebäude  errichten, 
aber  wir  müssen  uns  nur  das  Fundament  anschauen,  uns  kümmert  nur 
das Fundament. „Wer bin ich?“ ­ dieses Fragen ist das Fundament. Wenn 
man sich auf die Suche nach Dem macht, ist es möglich, die Antwort auf 
jede Frage dieser Welt zu finden. Wenn man sich auf die Suche nach „Wer 
bin  ich?“  macht,  wird  man  einen  Zustand  erreichen,  in  dem  nichts  ist. 
„Ich“ bedeutet den Zustand, wo es nichts gibt. Es ist vorbei. Dazu bedarf 
es keiner Sadhanas ­ nur der Suche. 

AC: Der direkten Suche.

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Ajja: Ja, der direkten Erforschung. Wenn sich der Suchende auf die Suche 
nach Dem macht, dann gibt es den Suchenden nicht mehr. Dieser Zustand 
ist  Atman,  und  das  ist  Glückseligkeit,  die  aus  sich  selbst  heraus  strahlt, 
Stille. Bis dahin besteht Ego. Dann ist es nicht mehr da. 

Manchmal geschieht es im Leben, dass auf Grund irgendeines Ereignisses 
eine  vollständige  Transformation  stattfindet.  Im  Leben  von  vielen 
Menschen kommt es bedingt durch einen einzigen Vorfall zu einer totalen 
Transformation. Das finden wir in den Biografien aller großen südindischen 
Heiligen  ­  Valmiki,  Tulsi  Das,  Ramana  Maharshi,  J.  Krishnamurti.  Es  war 
ihr Karma, dass sie sich auf Grund kleiner Ereignisse verändert haben. Ein 
roter  Faden  zieht  sich  durch  all  diese  Geschichten.  In  meinem  Fall  zum 
Beispiel  waren  das  sechs  Monate  lang  andauernde  Schmerzen,  und  dann 
keine Schmerzen mehr. Damit begann die Kontemplation; Sorge wurde zu 
Kontemplation.  Das  Unwahre  wurde  zur  Wahrheit.  Die  Dunkelheit  wurde 
zu  Licht.  Wie  bei  der  Frucht:  unreif ist  sie  bitter.  Sobald  sie  reif  wird,  ist 
sie  süß.  Aber  diese  Süße  war  immer  da.  Das  Bittere  hat  sich  in  Süße 
verwandelt. 

Ebenso  sollte  Sorge  zu  Kontemplation  werden.  Nur  aus  diesem  Grund 
sollten wir den Gedanken eine Bedeutung beimessen. Wir sollten uns nicht 
aufregen oder verloren fühlen, wenn wir Sorgen oder Probleme haben. Wir 
sollten sie erleben. Dann kommt es zu einer Explosion. 

AC: Meinen Sie, wir müssen uns ihnen voll und ganz stellen? 

Ajja:  Ja.  Es  erleben.  Und  wie  sollte  der  Verstand  sein,  wenn  man  das 
erlebt?  Während  dieser  Zeit  sollte  der  Verstand  konzentriert  sein,  der 
Verstand  sollte  darüber  kontemplieren.  Und  wenn  der  Verstand  darauf 
fixiert ist, dann – 

AC:  Sie  meinen,  man  sollte  der  Erfahrung  keinen  Widerstand 


entgegensetzen? 

Ajja:  Keinen  Widerstand.  Auf  diese  Weise  geht  derselbe  Verstand,  der 
alles  andere  erlebt,  in  Kontemplation.  Jenseits  davon  gibt  es  gar  keinen 
Verstand.  Der  Verstand  selbst  ist  also  sowohl  die  Ursache  des 
Gefangenseins  als  auch  das  Mittel  zur  Befreiung.  Diese  Welt  ist  nichts 
anderes  als  das  Getöse  des  Verstandes.  Wenn  die  Arbeit  des  Verstandes 
getan  ist,  gibt  es  keinen  Verstand  mehr.  Dann  sind  alle  Wünsche 
verschwunden ­ Wünsche, die eine Vorstellung des Verstandes sind. Alles 
ist  nur  eine  Vorstellung;  alles  das  ist  Verstand.  Der  Verstand  muss  sich 
also  zurückziehen.  Alle  Wünsche  müssen  verschwinden.  Wenn  auch  nur 
ein  einziger  Wunsch  vorhanden  ist,  kann  man  den  Verstand  nicht  nach 
innen richten. Der Verstand muss sich ins Herz zurückziehen und mit der 
Suche beginnen. „Wer bin ich? Wer bin ich? Ich bin hier in diesem Körper. 
Wer bin ich?“ So müssen wir suchen. Wenn man auf der Suche ist, ist der

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Verstand  auch  schon  weg.  Wir  haben  Angst  davor,  diesen  Ort  zu 
berühren.  Aber  der  Verstand  muss  vollständig  weg  sein.  Geben  Sie  ihn 
auf. 

AC:  Sie  sagten  vorher,  dass  das  universell  anwendbar  ist  und  die 
Menschheit in ihrer Gesamtheit betrifft. 

Ajja:  Ja,  das  ist  eine  Frage,  die  die  gesamte  Menschheit  betrifft.  Wir 
brauchen Freiheit. Niemand möchte gefangen sein. Jeder möchte frei sein. 
Meine  Botschaft  für  das  ganze  Universum  ist  nicht,  dass  nur  ein  einziger 
Befreiung  finden  soll.  Auch  die  anderen  sollten  befreit  werden.  Die  ganze 
Welt sollte frei werden. Das ist meine Botschaft. 

Was  ist  der  Weg  zur  Freiheit?  Wenn  Sie  ein  klares  Bild  von  den 
Erfahrungen  haben,  die  ich  im  Laufe  meines  Lebens  gemacht  habe  ­ 
Freuden und Sorgen, Triumphe und Niederlagen, Ehre und Schmach, und 
wie ich darauf reagiert habe ­ dann kann Ihnen das vielleicht helfen, Ihren 
eigenen Weg zu finden. Wie ich diesen Erfahrungen begegnet bin, wie ich 
mich in meinem Leben bewegt habe, wie ich den Tod akzeptiert habe. Wie 
Handlung  ausgeführt  wurde  und  wie  Transformation  stattgefunden  hat. 
Mein  ganzes  Leben  gibt,  wenn  es  verstanden  wird,  ein  klares  Bild  von 
diesem  Weg.  Wenn  wir  alle  diese  Dinge  verstanden  haben,  dann  müssen 
wir  dieses  Verstehen in  unser  praktisches  Leben  umsetzen. Dann  werden 
wir  frei.  Wenn  ein  einziger  Mensch  auf  diese  Art  und  Weise  Befreiung 
findet,  dann  ist  die  Mission  meines  Lebens  erfüllt.  Deshalb  sage  ich  das 
alles  ­  damit  es  den  Zuhörern  helfen  möge.  Deshalb  habe  ich  mich  zu 
diesem  Interview  bereit  erklärt.  Ansonsten  würde  ich  in  vollständigem 
Schweigen verharren. 

Das  Gesamtbild  ist  die  integrierte  Evolution  des  Individuums  und  dieser 
Kraft.  Erst  wenn  wir  in  unserem  Handeln  vollständig  frei  werden,  ist 
unsere  Geburt  fruchtbringend.  Dann  ist  unser  Leben  wirklich  erfüllt. 
Freiheit ist das Ziel. Jeder muss frei werden. Und alle sind nur aus diesem 
einzigen  Grund  ins  Leben  gekommen  ­  diese  Freiheit  an  sich  ist 
Glückseligkeit  für  alle,  für  jeden  Einzelnen.  Jeder  Mensch  sollte  aus  der 
Gefangenschaft  erlöst  werden.  Wenn  nur  ich  alleine  frei  werde,  dann 
genügt  das  nicht,  um  mich  glücklich  zu  machen.  Jede  Seele  muss  frei 
werden. Ich hatte einen kurzen Einblick in diese Möglichkeit, und wenn wir 
alle frei wären, dann wäre das die wahre Glückseligkeit für mich. 

AC: Dann geschieht dies also zum Wohle der Menschheit. 

Ajja: Ja. Diese Botschaft richtet sich an die Menschheit als Ganzes. Wenn 
Reinheit  im  Inneren  ist,  dann  müssen  Handlung,  Verstand  und  Herz  eins 
sein.  Verstand  und  Herz  müssen  rein  sein  und  unser  Handeln  ebenfalls. 
Wir  alle  müssen  über  das  Denken  hinausgehen,  bis  zu  dem  Zustand,  wo 
es  keinerlei  Hindernisse  mehr  gibt.  Nur  allein  durch  dieses  wirkliche 
Suchen  wird  der  Mensch  eine  universelle  Seele.  Und  diese  Fähigkeit  hat

21 
jeder.  Nicht  nur  einer.  Jeder  Mensch  hat  in  sich  die  Fähigkeit,  Das  zu 
werden. 

Ich  bin  überhaupt  nicht  im  Verstand.  Ich  bin  in  einem  Zustand  jenseits 
aller Gedanken und Emotionen. Ich spreche, aber ich weiß gar nichts. Ich 
denke  nicht;  ich  lese  keine  Bücher.  Für  die  wahre  Erkenntnis  ist  nichts 
davon  notwendig.  Für  die  intellektuelle  Debatte  sind  Bücher  notwendig, 
aber  für  die  Erfahrung  des  Selbst  braucht  man  nichts.  Auch  wenn  ich  in 
irgendeinem abgelegenen Winkel bin, hört es nicht auf. Es breitet sich im 
gesamten  Universum  aus,  sickert  in  das  gesamte  Universum  ein.  Wenn 
ein  Mensch  diesen  Zustand  von  Ananda  erreicht,  wird  es  sich  einfach 
verbreiten, auch wenn er sich in einem abgelegenen Winkel befindet. Auch 
wenn  er  sich  zu  verstecken  versucht,  strahlt  es  einfach  von  ihm  aus.  Es 
reicht überall hin in das ganze Universum, in den gesamten Kosmos. 

Nun? Was werden Sie mit Ihren Aufzeichnungen machen? 

AC: Sie werden Teil eines Artikels über Sie sein ­ über Ihre Erfahrung und 
über das, was Sie sagen ­ das wird Menschen in Amerika und an anderen 
Orten helfen, von dem zu profitieren, was Sie entdeckt haben. 

Ajja:  Ich  habe  das  Gefühl,  als  ob  wir  uns  gut  kennen.  Ich  empfinde  Sie 
nicht als Fremden. 

AC: Ja, mir geht es genauso. 

Ajja:  Es  gibt  kein  Amerika  und  kein  Indien.  Es  gibt  nur  das  ganze 
Universum.

22 
I ntime Begegnungen der A DVA I TA Art: 

der euphorische Nihilismus des Ramesh Bals ekar 
von Chris Parish 

Einleitung 

Versuchen Sie sich bitte vorzustellen, Sie erwachen in einer anderen Welt. 
Sie  reiben  sich  die  Augen, um  sich  an die  intensive  Sonne  zu  gewöhnen, 
und  sehen,  dass  diese  andere  Welt  der  Welt  hier  in  vielerlei  Hinsicht  gar 
nicht unähnlich ist. Sie sind von Geschöpfen umgeben, die für Ihre Augen 
absolut  genauso  aussehen  wie  die  Menschen,  mit  denen  Sie  gewöhnlich 
die  Welt  teilen.  Sie  beobachten,  wie  sie  ihren  Alltagsgeschäften 
nachgehen,  ihr  Leben  leben,  mit  anderen  sprechen  und  die  zahllosen 
Entscheidungen  treffen,  die  das  Leben  nun  einmal  verlangt.  Es  ist  ein  in 
beruhigender Weise bekanntes und normales Bild. 

Aber bald stellen Sie fest, dass in dieser Welt die Dinge nicht unbedingt so 
sind,  wie  sie  zu  sein  scheinen.  Denn  das  sind  keine  Menschen.  Nein,  es 
sind  „Körper­Geist­Organismen“,  die  im  Unterschied  zu  ihren 
menschlichen  Ebenbildern  nicht  die  Fähigkeit  zur  Wahl  zwischen 
verschiedenen  Optionen  haben  und  auch  keine  Entscheidungen  treffen 
können.  In  der  Tat  besitzen  diese  Organismen  absolut  nichts,  was  dem 
entsprechen würde, was wir den freien Willen nennen. Die Drehbücher zu 
ihren  Leben  waren  bereits  lange,  bevor  sie  geboren  wurden,  in  Stein 
gemeißelt,  und  es  bleibt  ihnen  nichts  anderes  zu  tun  als  mechanisch  die 
Schritte  zu  tun,  die  ihre  Programmierung  vorgibt.  Diese  scheinbar 
menschlichen  Wesen,  so  könnte  man  meinen,  sind  Maschinen  nicht 
unähnlich.  Während  sie  sich  allem  Anschein  nach  wie  normale  frei 
denkende  Wesen verhalten, die  eifrig  ihren  Alltagsgeschäften nachgehen, 
sagen sie allerdings, wenn man sie danach fragt, immer wieder beharrlich, 
dass  sie  gar  nichts  tun.  In  dieser  eigenartigen  Welt,  so  sagen  sie 
tatsächlich,  gibt  es  „keinen  Handelnden“.  Außerdem  kann  in  dieser  Welt 
auch  niemand  jemals  für  irgendetwas  verantwortlich  gemacht  werden. 
Selbst wenn es so aussieht, als würde eines dieser Wesen einem anderen 
Schaden zufügen, wird keine Reue empfunden und niemandem wird dafür 
die  Schuld  gegeben.  Würde  man  einen  dieser  Körper­Geist­Organismen 
dazu  befragen,  wäre  die  Antwort,  dass  es  niemanden  gibt,  der  etwas

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getan  hat.  Ethik  ist  hier  ein  unbekannter  Begriff.  Die  Naturgesetze 
scheinen  in  dieser schönen  neuen  Welt  außer  Kraft  gesetzt  zu  sein. Oder 
sie wurden hier vielleicht neu formuliert, denn die Wesen scheinen einige 
seltsame  Gesetze  einzuhalten.  Sie  fragen  sich,  wo  in  aller  Welt  sie  sich 
wohl  befinden.  Aber  Sie  sind  nicht  auf  dieser  Welt.  Sie  sind  auf  dem 
Planeten Advaita gelandet. 

Ich  war  nach  Bombay  gekommen,  um  Ramesh  Balsekar,  einen  der 
bekanntesten  heute  lebenden  Lehrer  der  Advaita­Vedanta­Lehre,  zu 
interviewen. Er lebt im Herzen dieser riesigen chaotischen Stadt in einem 
ex­clusiven  Wohngebiet  direkt  am  Meer,  das,  wie  mich  mein  Taxifahrer 
informierte,  Wohnsitz  zahlreicher  VIPs ist.  Der  Portier  seiner  Wohnanlage 
zeigte  mir  mit  der  automatischen  Annahme,  dass  ich  als  Westler  wohl 
gekommen war, um Ramesh Balsekar zu sehen, den Weg zu einer oberen 
Etage, wo Balsekar in einer sehr geräumigen und gediegen eingerichteten 
Wohnung  residiert.  Balsekar  war  ein  sehr  höflicher  Gastgeber  und 
begrüßte mich herzlich in traditioneller indischer Manier. Er war strahlend 
und lebhaft und ich konnte nur schwer glauben, dass er achtzig Jahre alt 
sein sollte. 

Ramesh  Balsekar  hat  einen  ungewöhnlichen  Background  für  einen 


indischen Guru. Er ist im Westen erzogen und ausgebildet worden, machte 
dann  eine  äußerst  erfolgreiche  Karriere  in  leitender  Position  und  ging  im 
Alter von sechzig Jahren als Präsident der Bank of India in den Ruhestand. 
Er  sagte,  dass  er  immer  zum  Fatalismus  tendiert  hätte;  seine  spirituelle 
Suche  begann  jedoch  erst,  nachdem  er  sich  in  den  Ruhestand 
zurückgezogen  hatte,  eine  Suche,  die  ihn  auf  raschem  Wege  zu  seinem 
Guru  dem  bekannten  Advaita­Meister  Sri  Nisargadatta  Maharaj  führte. 
Nisargadatta war ein leidenschaftlicher Lehrer, der in den 70­er Jahren im 
Westen  Berühmtheit  erlangte,  als  eine  englische  Übersetzung  seiner 
Gespräche mit dem Titel I am That – erschien ein Buch, das ein moderner 
spiritueller  Klassiker  wurde.  In  weniger  als  einem  Jahr  nach  seiner 
Begegnung  mit  Nisargadatta  gelangte  Balsekar  spontan  zu  dem,  was  er 
„das letztendliche Verstehen“ nennt – Erleuchtung, während er für seinen 
Guru übersetzte. Laut Balsekars Darstellung erteilte ihm Nisargadatta kurz 
vor  seinem  Tod  die  Erlaubnis  zu  lehren,  und  seither  hat  er  ohne 
Unterbrechung  seine  Botschaft  als  Nachfolger  dieses  hoch  angesehenen 
Lehrers  weitergegeben.  Balsekar  hat  zahlreiche  Bücher  über  seine  Lehre 
veröffentlicht  und  in  Europa,  den  Vereinigten  Staaten  sowie  in  weiten 
Teilen Indiens Vorträge gehalten. Er gibt jeden Morgen in seiner Wohnung 
Satsang  (Begegnung  mit  einem  spirituellen  Meister),  und  ein  stetiger 
Strom von fast ausschließlich westlichen Suchenden findet den Weg nach 
Bombay, um ihn zu treffen. 

Da  wir  in  dieser  Ausgabe  von  WIE  unseren  Fokus  auf  Advaita  gerichtet 
haben,  wollten  wir  Balsekar  einerseits  deshalb  sprechen,  weil  er  ein 
allgemein bekannter und sehr einflussreicher Advaita­Lehrer ist – jetzt mit 
Schülern,  denen  er  die  Berechtigung  erteilt  hat,  eigenverantwortlich  zu

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lehren, – und andererseits, weil er von vielen als der Nachfolger eines der 
bekanntesten Advaita­Lehrer der modernen Zeit angesehen wird. Wie dem 
auch  sei,  beim  Studium  der  Schriften  von  Balsekar  erkannten  wir  bald, 
dass  er  eine  durchaus  ungewöhnliche  und  vielleicht  auch  von  ihm 
persönlich  geprägte  Form  von  Advaita  lehrt,  die,  so  hatten  wir  ganz 
ehrlich  gesagt  das  Gefühl,  zu  sehr  fraglichen  und  sogar  irritierenden 
Schlussfolgerungen  geführt  hat.  Denn  obwohl  das  indische  Denken  seit 
langem  wegen  seiner  deterministischen  Tendenzen  kritisiert wird,  scheint 
Balsekar  diesen  Fatalismus  zu  einem  noch  nie  da  gewesenen  Extrem 
geführt  zu  haben.  Letztendlich  war  es  ebenso  sehr  der  Wunsch,  diese 
Bereiche,  die  solches  Unbehagen  hervorriefen,  näher  zu  durchleuchten, 
wie  auch  unser  allgemeines  Interesse  an  der  Advaita­Lehre,  die  mich 
schließlich nach Bombay führten, um mit ihm zu sprechen. Und obwohl ich 
in  der  Erwartung  einer  sicherlich  herausfordernden  Begegnung  hierher 
gekommen  war,  wird  mir  jetzt  rückblickend  klar,  dass  es  absolut 
unmöglich gewesen wäre, mich in irgendeiner Weise auf dieses Gespräch 
vorzubereiten,  das  stattfinden  sollte,  während  uns  Kaffee  gereicht  wurde 
und wir es uns in seinem Wohnzimmer bequem machten. 

I nterview  

W I E:  Sie  werden  sowohl  in  Indien  als  auch  im  Westen  als  Advaita­ 
Vedanta­Lehrer  immer  bekannter.  Können  Sie  uns  beschreiben,  was  Sie 
lehren? 

Ramesh  Balsekar:  Das  kann  ich  tatsächlich  mit  einem  einzigen  Satz 
sagen.  Der  eine  Satz,  der  meiner  gesamten  Lehre  zugrunde  liegt,  ist: 
„Dein Wille geschehe.“ Oder wie die Moslems sagen: Inshallah „Wenn Gott 
es  will.“  Oder  mit  den  Worten  Buddhas:  „Dinge  geschehen,  Handlungen 
erfolgen,  es  gibt  dabei  keinen  individuell  Handelnden.“  Sehen  Sie,  der 
Grundkonflikt  im  Leben  ist:  „Ich  mache  immer  alles  richtig  und  deshalb 
will  ich  dafür  auch  belohnt  werden,  er  macht  immer  etwas  falsch  und 
daher möchte ich, dass er bestraft wird.“ Darum geht es doch einzig und 
allein im Leben, nicht wahr? 

W I E: Nun ja, sicher ist das oft so. 

RB:  Soweit  ich  beobachtet  habe,  ist  das  die  Basis.  Das  ganze  Problem 
entsteht,  weil  jemand  sagt:  „Ich  habe  etwas  gemacht,  und  ich  verdiene 
eine Belohnung, oder er hat etwas getan, und deshalb möchte ich ihn für 
das, was er getan hat, bestrafen.“ 

W I E: Wie gelingt es Ihnen, Menschen dazu zu bringen, das zu erkennen? 

RB:  Das  ist  ganz  einfach.  Wenn  Sie  jede  Handlung  analysieren,  von  der 
Sie  annehmen,  es  handle  sich  dabei  um  Ihre  Handlung,  werden  Sie 
feststellen,  dass  es  sich  um  die  Reaktion  des  Gehirns  auf  ein  äußeres

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Ereignis handelt, über das Sie keine Kontrolle haben. Ein Gedanke kommt 
–  man  hat  keine  Kontrolle  darüber,  welcher  Gedanke kommen  wird.  Man 
hört  oder  sieht  etwas  –  man  hat  keine  Kontrolle  darüber,  was  man  als 
Nächstes hören oder sehen wird. Es finden diese ganzen Ereignisse statt, 
die  man  nicht  unter  Kontrolle  hat.  Und  was  geschieht  dann?  Das  Gehirn 
reagiert  auf  den  Gedanken  oder  die  Sache,  die  man  gesehen,  gehört, 
geschmeckt, gerochen oder berührt hat. Die Reaktion des Gehirns ist das, 
was  Sie  „Ihre  eigene  Handlung“  nennen.  Aber  das  ist  tatsächlich  nur  ein 
Konzept. 

W I E:  Was  ist  dann  der  Unterschied  zwischen  den  Gedanken,  Gefühlen 
und Handlungen eines erleuchteten Menschen und denen einer Person, die 
nicht erleuchtet ist? 

RB:  Es  ist  derselbe  Vorgang.  Der  einzige  Unterschied  ist  der,  dass  der 
Weise versteht, dass genau das passiert. Daher weiß er, dass er nichts tut 
–  alles  geschieht  einfach.  Der  Weise  weiß,  „ich  tue  nichts“.  Der 
gewöhnliche  Mensch  hingegen  sagt:  „Ich  tue  etwas,  und  er  oder  sie  tut 
etwas.  Deshalb  möchte  ich  meine  Belohnung,  und  ich  möchte,  dass  er 
oder  sie  bestraft  wird.“  Belohnung  und  Strafe  sind  von  der  Vorstellung 
abhängig, dass er oder sie etwas tut oder ich etwas tue. 

W I E: Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich verstehen, dass wir es nicht 
unter  Kontrolle  haben,  welche  Gedanken  oder  Gefühle  aufkommen.  Aber 
manchmal findet Handlung statt und manchmal nicht, und mir scheint es 
einen großen Unterschied zu machen, ob ein Gedanke einfach kommt oder 
ob  eine  Handlung  stattfindet,  die  eine  Auswirkung  auf  einen  anderen 
Menschen hat. 

RB: Die Handlung, die stattfindet, ist das Ergebnis davon, dass das Gehirn 
auf den Gedanken reagiert. Wenn es geschieht, dass der Gedanke einfach 
nur  wahrgenommen  wird  und  das  Gehirn  nicht  auf  diesen  Gedanken 
reagiert, erfolgt keine Handlung. 

W I E: Wenn es aber, wie Sie sagen, niemanden gibt, der über die Reaktion 
entscheidet,  was  ist  dann  die  Ursache  dafür,  dass  eine  Handlung 
stattfindet oder nicht? 

RB: Eine Handlung findet dann statt, wenn es Gottes Wille ist, dass diese 
Handlung  stattfinden  soll.  Wenn  es  nicht  Gottes  Wille ist,  dann findet  die 
Handlung nicht statt. 

W I E:  Wollen  Sie  damit  sagen,  dass  jede  Handlung,  die  stattfindet,  der 
Wille Gottes ist? 

RB: Ja, es ist Gottes Wille. 

W I E: Der durch einen Menschen wirksam wird?

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RB: Ja, durch einen Menschen. 

W I E:  Egal,  ob  der  Mensch  erleuchtet  ist  oder nicht? Mit  anderen  Worten 
durch jeden? 

RB: Das ist richtig. Der einzige Unterschied, wie ich schon sagte, ist, dass 
der normale Mensch denkt: „Es ist meine Handlung“, der Weise hingegen 
weiß, dass es niemandes Handlung ist. Der Weise weiß, dass „Handlungen 
erfolgen,  Ereignisse  stattfinden,  aber  dass  es  keinen  individuellen 
Handelnden  gibt“.  Das  ist  meines  Erachtens  der  einzige  Unterschied, 
soweit  wie  mein  Konzept  geht.  Der  einzige  Unterschied  zwischen  einem 
Weisen  und  einem  gewöhnlichen  Menschen ist  der,  dass  der  gewöhnliche 
Mensch denkt, dass jeder einzelne Mensch das tut, was durch den Körper­ 
Geist­Organismus  stattfindet.  Der  Weise  weiß,  dass  es  keine  Handlung 
gibt,  bei  der  er  handelt;  wenn  eine  Handlung  zufällig  jemanden  verletzt, 
wird  er  daher  alles  ihm  Mögliche  tun,  um  diesem  Menschen  zu  helfen  – 
aber es wird keine Schuldgefühle geben. 

W I E:  Wollen Sie damit sagen, dass ein Mensch, der immerhin durch sein 
Handeln  jemandem  Schaden  zufügt,  oder  der  Körper­Geist­Organismus, 
wie Sie es nennen, der es ausgeführt hat, dann dafür nicht verantwortlich 
ist? 

RB:  Ich  möchte  damit  sagen,  dass  nicht  „ich“  es  getan  habe.  Ich  sage 
nicht,  dass  ich  es  nicht  bedauere,  dass  jemandem  Schaden  zugefügt 
wurde.  Die  Tatsache,  dass  jemand  verletzt  wurde,  lässt  ein  Gefühl  von 
Mitleid entstehen, und dieses Gefühl von Mitleid wird dazu führen, dass ich 
alles  versuchen  werde,  um  den  Schmerz  zu  lindern.  Aber  es  wird  kein 
Schuldgefühl geben: nicht ich habe es getan! Die andere Seite davon ist, 
dass  auch  Handlungen  erfolgen,  für  die  ich  von  der  Gesellschaft  gelobt 
und  belohnt  werde.  Ich  sage  nicht,  dass  nicht  durch  Lob  ein  Gefühl  von 
Glück  entsteht.  Genauso  wie  aufgrund  der  Verletzung  Mitleid  entstand, 
kann  durch  das  Lob  das  Gefühl  von  Befriedigung  oder  Glück  entstehen. 
Aber es wird kein Stolz da sein. 

W I E:  Aber meinen Sie buchstäblich, dass nicht ich es tue, wenn ich jetzt 
jemanden schlage? Ich möchte das nur klarstellen. 

RB:  Die  ursprüngliche  Tatsache,  das  ursprüngliche  Konzept  bleibt 


bestehen: Sie schlagen jemanden. Dann kommt das zusätzliche Konzept, 
nämlich,  dass  alles,  was  geschieht,  Gottes  Wille  ist,  und  Gottes  Wille  in 
Bezug  auf  den  individuellen  Körper­Geist­Organismus  ist  das  Schicksal 
dieses Körper­Geist­Organismus. 

W I E:  Ich  könnte  also  einfach  nur  sagen:  „Nun,  es  ist  Gottes  Wille 
gewesen, dass ich das getan habe; es ist nicht mein Fehler.“ 

RB: Sicherlich. Eine Handlung erfolgt, weil es das Schicksal dieses Körper­

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Geist­Organismus  ist  und  weil  es  Gottes  Wille  ist.  Und  die  Folgen  dieser 
Handlung  sind  ebenfalls  das  Schicksal  dieses  Körper­Geist­Organismus. 
Wenn  eine  gute  Tat  geschieht, ist  das Schicksal.  Wir  hatten  zum  Beispiel 
eine Mutter Teresa. Der Körper­Geist­Organismus, der als „Mutter Teresa“ 
bekannt ist, war so programmiert, dass nur gute Handlungen entstanden. 
Die  Tatsache,  dass  gute  Handlungen  erfolgten,  war  das  Schicksal  des 
Körper­Geist­Organismus  mit  dem  Namen  Mutter  Teresa.  Und  die  Folgen 
waren: ein Nobel­Preis, Auszeichnungen, Nominierungen und Spenden für 
ihre Sache. All das war das Schicksal dieses Körper­Geist­Organismus mit 
dem  Namen  Mutter  Teresa.  Andererseits  gibt  es  einen  psychopathischen 
Organismus,  der  so  programmiert ist  – von  derselben  Quelle  –,  dass  nur 
böse  und  pervertierte  Handlungen  erfolgen.  Der  Umstand,  dass  diese 
schlechten und pervertierten Handlungen erfolgen, ist das Schicksal eines 
Körper­Geist­Organismus,  der  von  der  Gesellschaft  als  Psychopath 
bezeichnet  wird.  Aber  der  Psychopath  hat  es  sich  nicht  ausgesucht,  ein 
Psychopath  zu  sein.  Es  gibt tatsächlich keinen  Psychopathen;  es  gibt  nur 
einen psychopathischen Körper­Geist­Organismus, dessen Schicksal es ist, 
böse und pervertierte Handlungen hervorzubringen. Und die Folgen dieser 
Handlungen sind ebenfalls das Schicksal dieses Körper­Geist­Organismus. 

W I E:  Wollen  Sie  damit  sagen,  dass  alles  vorherbestimmt  ist?  Dass  alles 
von Geburt an vorprogrammiert ist? 

RB: Ja. Ich verwende das Wort „Programmieren“, um auf die dem Körper­ 
Geist­Organismus  innewohnenden  Charakteristika  hinzuweisen. 
„Programmierung“ heißt also: Gene plus umweltbedingte Konditionierung. 
Man  konnte  sich  die  Eltern  nicht  aussuchen,  bei  denen  man  geboren 
wurde, daher konnte man sich die Gene nicht aussuchen. Genauso wenig 
konnte  man  sich  die  Umgebung  aussuchen,  in  der  man  geboren  wurde. 
Daher  konnte  man  sich  nicht  aussuchen,  welche  Konditionierung  man  in 
der  Kindheitsumgebung  erfahren  würde,  was  die  Konditionierung  durch 
Heim,  Gesellschaft,  Schule  oder  Kirche  miteinschließt.  Die  Psychologen 
sagen,  dass  die  gesamten  Konditionierungen,  die  man  bis  zum  Alter  von 
drei oder vier Jahren erhält, die Grundkonditionierung darstellen. Man wird 
noch  weiter  konditioniert,  aber  die  Grundkonditionierung,  die  die 
Persönlichkeit  ausmacht,  sind  die  Gene  plus  umweltbedingte 
Konditionierung.  Das  nenne  ich  Programmierung.  Jeder  Körper­Geist­ 
Organismus ist auf eine einmalige Weise programmiert. Es gibt keine zwei 
Körper­Geist­Organismen, die sich gleichen. 

W I E:  Ja,  aber  ist  es  nicht  richtig,  dass  zwei  Menschen  sehr  ähnlich 
konditioniert  sein  könnten,  und  es  doch  möglich  ist,  dass  sich  der  eine 
ganz anders entwickeln kann als der andere? 

RB:  Richtig.  Deshalb  verwende  ich  zwei  Begriffe:  der  eine  ist 
Programmierung  im  Körper­Geist­Organismus  an  sich,  der  andere  ist 
Schicksal.  Das  Schicksal  ist  der  Wille  Gottes,  in  Bezug  auf  den  Körper­ 
Geist­Organismus,  der im  Moment  der Empfängnis  festgelegt  wurde.  Das

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Schicksal  einer  bestimmten  Empfängnis  mag  es  auch  sein,  überhaupt 
nicht geboren zu werden – in diesem Fall wird sie dann abgetrieben. Das 
alles ist ein Konzept. Bitte keine Missverständnisse. Das ist mein Konzept. 

W I E:  Sie  sagen,  dass  das  ein  Konzept  ist,  und  natürlich  sind  alle  Worte 
Konzepte, aber wie können wir wissen, dass dieses Konzept die Wahrheit 
ist?  Ich  tendiere  zu  der  Meinung,  dass  jeder  Mensch  individuell 
verantwortlich  ist,  und  auch  wenn  es  ein  bestimmtes  Maß  an 
Konditionierung gibt, das wir erben, haben wir doch immer noch die Wahl, 
wie  wir  darauf  reagieren.  Dem  einen  ist  es  möglich,  Aspekte  seiner 
Konditionierung  zu  transzendieren,  in  denen  ein  anderer  vielleicht  sein 
ganzes Leben lang feststeckt. Da das vorkommt, würde ich sagen, dass es 
auf den Willen des Individuums zurückzuführen ist, die Konditionierung zu 
transzendieren und das mit Erfolg zu tun. 

RB:  Wie  kann  das  aber  geschehen,  wenn  es  nicht  Gottes  Wille  ist? 
Nehmen  wir  an,  da  sind  zwei  Menschen:  der  eine  versucht,  seine 
Schwachstelle zu überwinden und tut es, der andere nicht. Ich will damit 
sagen, dass beide, der eine, dem es gelingt, und der andere, dem es nicht 
gelingt,  das  tun,  weil  es  das  Schicksal  des  einzelnen  Körper­Geist­ 
Organismus ist – und das wiederum ist Gottes Wille. 

W I E:  Könnten  wir  dann  aber  nicht  genauso  leicht  sagen,  dass  es  Gottes 
Wille  ist,  jedem  Individuum  die  freie  Wahl  zu  lassen,  eigene 
Entscheidungen zu treffen? 

RB:  Nein.  Sehen  Sie,  meine  Frage  an  Sie  ist  folgende:  wessen  Wille 
überwiegt?  Der  des  Individuums  oder  der  Gottes?  Aus  Ihrer  eigenen 
Erfahrung,  bis  zu  welchem  Grad  war  Ihr  eigener  freier  Wille 
ausschlaggebend? 

W I E:  Nun, ich meine, dass zu gewissen Zeiten der Wille des Individuums 
auf jeden Fall überwiegen kann. 

RB:  Über  den  Willen  Gottes?  Wenn  Sie  etwas  wollen  und  dafür  arbeiten 
und es tritt dann ein, dann ist das so, weil Ihr Wille mit dem Willen Gottes 
übereingestimmt 

W I E:  Nehmen  wir  das  Beispiel  eines  Menschen,  der  drogensüchtig  wird 
und  es  auch  das  ganze  Leben  bleibt.  Genauso  gut  könnte  man 
argumentieren,  dass  er  die  Wahl  getroffen  hat,  sich  gegen  Gottes  Willen 
zu  stellen,  und  dabei  erfolgreich  war  –  eben  deshalb,  weil  es  den  freien 
Willen gibt. 

RB:  Ob  man  das  nun  aber  akzeptiert  oder  nicht,  ist  für  sich  schon  der 
Wille  Gottes,  verstehen  Sie  das  nicht?  Gottes  Willen  zu  akzeptieren  oder 
nicht zu akzeptieren ist an und für sich Gottes Wille!

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W I E: Ich würde sagen – nicht unbedingt. 

RB: Ich verstehe, Sie spielen des Teufels Advokat. 

W I E: Nein, eigentlich nicht, ich möchte die Wahrheit finden. 

RB:  Aber  was  ist  wahr?  Ich  habe  bereits  gesagt,  dass  alles,  was  ich 
behaupte, ein Konzept ist. 

W I E: Ja, ich verstehe, aber nicht alle Konzepte sind gleich. Manche stellen 
etwas  dar,  das  die  Wahrheit  ist,  und  andere  haben  vielleicht  überhaupt 
nichts mit der Wahrheit zu tun. 

RB:  Alle  Konzepte  versuchen,  etwas  darzustellen,  trotzdem  sind  es  alle 
nur Konzepte. Die eigentliche Frage wäre: „Was ist die Wahrheit, die kein 
Konzept ist?“ 

W I E:  Was  ich  damit  sagen  will,  ist,  dass  die  Feststellung,  dass  alles 
vorprogrammiert  ist,  dass  alles  Schicksal  ist  und  dass  es  keine 
Wahlmöglichkeit  gibt, eine  äußerst  extreme  Form  von  Reduktionismus  zu 
sein  scheint.  Nach  dieser  Sichtweise  sind  menschliche  Wesen  wie 
Computer; alles, was uns betrifft, ist total eingespeichert. 

RB: Ganz genau so ist es. 

W I E:  Aber  mir  scheint,  dass  bei  dieser  Sichtweise  das  menschliche  Herz 
fehlt.  Dann  sind  wir  nichts  anderes  als  Maschinen  –  alles  geschieht  mit 
uns. Wir können nichts tun, nichts verändern. 

RB: Ja, genau! 

W I E:  Das  könnte  aber  ganz  leicht  zu  einer  tiefen  Gleichgültigkeit  dem 
Leben gegenüber führen. 

RB: Ja, und wenn das so wäre, wäre das ganz wunderbar! 

W I E: Wirklich? Wäre es das? 

RB: Aber das ist genau der Punkt! Sicherlich. Dann kann man sagen, dass 
man  alles,  was  passiert,  annimmt.  Dann  gibt  es  kein  Unglücklichsein,  es 
gibt  kein  Leiden,  keine  Schuldgefühle,  keinen  Stolz,  keinen  Hass,  keinen 
Neid. Was ist daran so falsch? 

W I E: Ist noch irgendwo ein Herz? 

RB: Verstehen Sie unter „Herz“, dass man Kummer hat oder sich schuldig 
fühlt?

30 
W I E: Nein, das meine ich nicht. 

RB: Was verstehen Sie dann unter Herz? 

W I E:  Ich  meine  damit  etwas  in  uns, das  sich  um  das Leben  im  weiteren 
Sinne Gedanken macht. 

RB:  Wie  ich  Ihnen  schon  sagte,  eine  Handlung  erfolgt  durch  diesen 
Körper­Geist­Organismus, und wenn dieses Individuum feststellt, dass die 
Handlung  jemandem  Schmerz  zugefügt  hat,  entsteht  Mitleid.  Wie  kann 
Mitleid entstehen, wenn kein Herz da ist? 

W I E:  Aber  scheint  es  nicht  ein  wenig  seltsam  zu  sein,  zuerst  einmal 
jemandem  Schmerz  zuzufügen  und  dann  hinterher  Mitleid  mit  ihm  zu 
empfinden?  Wäre  es  nicht  besser,  gleich  von  Anfang  an  niemanden  zu 
verletzen? 

RB: Aber  das  hat  man  nicht  unter  Kontrolle!  Hätte man  das  unter  seiner 
Kontrolle, hätte man es von Anfang an gar nicht getan. 

W I E:  Andererseits,  wenn  ein  Mensch  davon  überzeugt  wäre,  dass  er 
Kontrolle  haben  kann,  anstatt  anzunehmen,  dass  er  keine  hat,  wäre  es 
vielleicht gar nicht erst geschehen! 

RB:  Warum  übt  der  Mensch  dann  nicht  Kontrolle  über  alles  aus,  was 
geschieht? Ich würde Ihnen gerne eine Frage stellen: Der Mensch verfügt 
ganz offensichtlich über einen großartigen Intellekt, so viel Intellekt, dass 
der unbedeutende kleine Mensch in der Lage gewesen ist, einen Menschen 
auf den Mond zu schicken. 

W I E: Ja, das stimmt. 

RB:  Und  er  besitzt  den  Intellekt  auch,  um  zu  wissen,  dass  schreckliche 
Dinge  passieren  werden,  wenn  er  bestimmte  Dinge  tut.  Er  besitzt  den 
Verstand,  um  zu  wissen,  dass,  wenn  er  Atomwaffen  oder  chemische 
Waffen herstellt, die Menschen diese verwenden werden und dass mit der 
Welt Schreckliches passieren wird. Er hat den Intellekt – wenn er also den 
freien Willen hat, warum tut er es dann? Warum hat der Mensch die Welt 
dann  in  den  beklagenswerten  Zustand  gebracht,  in  der  sie  sich  befindet, 
wenn er den freien Willen hat? 

W I E:  Ich  gebe  zu,  die  Situation,  die  Sie  darstellen,  ist  tatsächlich 
verrückt. Aber ich würde sagen, sie ist auf den Umstand zurückzuführen, 
dass  die  Menschen  einen  schwachen  Willen  haben.  Und  ich  glaube,  dass 
sich  die  Menschen  ändern  können,  wenn  sie  es  wollen  –  wenn  es  ihnen 
nicht egal ist. 

RB: Warum haben sie es dann nicht getan?

31 
W I E:  Manche  Menschen  ändern  sich  tatsächlich,  aber,  wie  ich  schon 
sagte,  die  meisten  Menschen  haben  anscheinend  einen  sehr  schwachen 
Willen. 

RB: Was so viel heißt wie: sie haben keinen freien Willen! 

W I E:  Im  Besitz  des  freien  Willens  zu  sein  garantiert  allein  noch  nicht, 
dass wir klug handeln. Aus dem Beispiel, das Sie gerade angeführt haben, 
geht  hervor,  dass  Menschen  oft  die  Entscheidung  treffen,  Dinge  zu  tun, 
die ziemlich großen Schaden anrichten. 

RB: Sie meinen, wir haben den freien Willen, die Welt zu zerstören? Wenn 
Sie  sagen,  wir  haben  den  freien  Willen,  die  Welt  zu  zerstören,  heißt  das 
mit anderen Worten, dass wir die Welt zerstören, weil wir es tun wollen – 
in  vollem  Bewusstsein,  dass  die  Welt  zerstört  werden  wird!  Freier  Wille 
bedeutet, man will es tun. 
W I E:  Ich  glaube,  das  Problem  ist  eher  das,  dass  die  Menschen 
normalerweise  die  Auswirkungen  ihrer  Handlungen  nicht  bedenken.  Sie 
denken  oft  nur  an  sich  selbst,  ohne  darüber  nachzudenken,  wohin  ihr 
Handeln führen könnte. 

RB:  Aber  das  menschliche  Wesen  ist  unglaublich  intelligent.  Warum 


denken die Menschen dann nicht so? Meine Antwort darauf ist – weil sie es 
nicht sollen! 

W I E: Wenn Sie sagen „sie sollen es nicht“, was heißt das dann? 

RB: Es  ist nicht  Gottes  Wille,  dass  Menschen in  diesen  Begriffen  denken. 


Es ist nicht Gottes Wille, dass das menschliche Wesen vollkommen ist. Der 
Unterschied  zwischen  dem  Weisen  und  dem  gewöhnlichen  Menschen  ist 
der,  dass  der  Weise  das,  was  ist,  als  den  Willen  Gottes  annimmt,  aber  – 
und das ist wichtig – das hält ihn nicht davon ab, das zu tun, von dem er 
meint, dass es getan werden müsse. Und das, wovon er annimmt, dass er 
es tun müsse, beruht auf seiner Programmierung. 

W I E:  Aber warum  sollte  der Weise  „das tun,  wovon er denkt,  dass  er es 


tun  muss“,  wenn  er  doch  weiß,  wie  Sie  bereits  erklärten,  dass  in  erster 
Linie nicht er es ist, der denkt? 

RB: Sie meinen, wie geschieht die Handlung? Die Antwort darauf ist, dass 
die  Energie  in  diesem  Körper­Geist­Organismus  die  Handlung  gemäß  der 
Programmierung hervorbringt. 

W I E:  Die Handlung, so wie Sie es beschreiben, kommt einfach durch den 
Menschen. 

RB:  Ja,  sie  fließt.  Die  Handlung  geschieht.  Das  ist  der  eigentliche  Punkt

32 
bei  dem,  was ich  sage  – um  auf  die  Worte  Buddhas  zurückzukommen  –: 
„Ereignisse geschehen, Handlungen erfolgen.“ 

W I E: Aber soviel ich über Buddha weiß, hatte er ebenfalls das sehr starke 
Gefühl,  dass  das  Individuum  persönlich  für  seine  Handlungen 
verantwortlich  ist.  Ist  das  nicht  die  Basis  seiner  gesamten  Lehre  über 
Karma, Ursache und Wirkung? 

RB: Nicht Buddha! 

W I E: Ich habe den Eindruck, dass Buddha ziemlich viel über das „richtige 
Handeln“  lehrte.  Er  schien  sich  sehr  damit  befasst  zu  haben,  was 
Menschen  tun,  und  betonte  sehr,  dass  die  Menschen  sich  entsprechend 
bemühen müssten, sich zu ändern. 

RB:. Das ist eine spätere Interpretation des Buddhismus. Buddhas Worte 
sind sehr klar. Wer hat Kontrolle über die Dinge, die geschehen? Gott hat 
Kontrolle darüber. Das ist die Basis jeder Religion, wie wir gesehen haben. 
Und warum gibt es trotzdem Kriege im Namen der Religion, wenn das die 
Basis jeder Religion ist? Es sind die Menschen mit ihren Interpretationen, 
die  diese  Kriege verursachen!  Und  wie könnte  das  überhaupt  geschehen, 
wenn es nicht Gottes Wille wäre? 

W I E:  Es  ist  klar,  dass  Ihrer  Meinung  nach  alles,  was  wir  tun,  deshalb 
geschieht,  weil  Gott  will,  dass  wir  es  tun.  Aber  ich  habe  den  Eindruck, 
dass das nur in dem Fall wirklich einen Sinn ergibt, wenn ein Mensch am 
Ende  des  spirituellen  Weges  angekommen  ist  –  wenn  er  zum  Ende  des 
Egos gelangt ist –, denn die Handlungen dieses Menschen dienen keinem 
Selbstzweck,  und  der  Wille  Gottes  würde  daher  nicht  verzerrt.  Aber  bis 
das der Fall ist, kann es gut sein, dass es sich um eine spontane – durch 
ein  selbstsüchtiges  Gefühl  bedingte  –  Reaktion  handelt,  wenn  sich  ein 
Mensch einem anderen gegenüber niederträchtig verhält. Wenn es wirklich 
so  wäre,  könnte  das,  was  Sie  sagen,  tatsächlich  als  Rechtfertigung  für 
unangenehmes  oder  aggressives  Verhalten  verstanden  werden.  Dann 
könnte  man  einfach  sagen:  „All  das  ist  Gottes  Wille.  Das  macht  doch 
nichts!“ 

RB:  Ich  weiß,  aber  es  ist  die  Wahrheit.  In  Wirklichkeit  stellen  Sie  die 
Frage:  „Warum  hat  Gott  die  Welt  so  erschaffen,  wie  sie ist?“  Aber  sehen 
Sie,  ein  Mensch  ist  nur  etwas  Erschaffenes,  ein  Teil  der  Gesamtheit  der 
Schöpfung,  die  aus  der  Quelle  kommt.  Meine  Antwort  ist  daher:  Etwas 
Erschaffenes  kann  nie  im  Leben  seinen  Schöpfer  verstehen!  Mit  einer 
Metapher  ausgedrückt:  Stellen  Sie  sich  vor,  Sie  malen  ein  Bild,  und  auf 
diesem  Bild  malen  Sie  eine  Figur.  Dann  möchte  diese  Figur  erstens 
wissen,  warum  Sie,  der  Maler,  genau  dieses  Bild  gemalt  haben  und 
zweitens, warum Sie die Figur so hässlich gemacht haben! Verstehen Sie, 
wie kann etwas Erschaffenes jemals die Möglichkeit haben, den Willen des 
eigenen  Schöpfers  zu  erkennen?  Ich  will  aber  sagen,  dass  Sie  das  nicht

33 
davor  bewahrt,  das  zu  tun,  was  Sie  meinen,  tun  zu  müssen!  Zu 
akzeptieren, dass nichts geschieht, wenn es nicht Gottes Wille ist, enthebt 
keinen Menschen der Aufgabe, das zu tun, wovon er denkt, dass er es tun 
muss. Was sonst kann man tun? 

W I E:  Aber  wie  ich  schon  sagte,  auf  Grund  dieser  Argumentation  könnte 
man, glaube ich, ganz leicht den Schluss ziehen: „Es ist doch alles Gottes 
Wille, es ist ganz egal, was passiert“, und demzufolge einfach aufgeben. 

RB:  Sie  meinen:  „Warum  soll  ich  dann  nicht  den  ganzen  Tag  im  Bett 
bleiben?” 

W I E: Ja, warum überhaupt irgendeine Anstrengung unternehmen? 

RB:  Die  Antwort  auf  diese  Frage  ist,  dass  die  in  diesem  Körper­Geist­ 
Organismus  vorhandene  Energie  es  diesem  Körper­Geist­Organismus 
nicht  gestatten  wird,  die  ganze  Zeit  über  untätig  zu  bleiben.  Die  Energie 
wird  fortgesetzt  Handlungen  entstehen  lassen,  physisch  oder  geistig,  in 
jedem Sekundenbruchteil, je nach der Programmierung des Körper­Geist­ 
Organismus und je nach dem Schicksal des Körper­Geist­Organismus, das 
der  Wille  Gottes  ist.  Und  da  Sie  ja  weiterhin  denken,  Sie  seien  ein 
Individuum, bewahrt Sie das nicht davor, das zu tun, was Sie glauben, tun 
zu müssen. Damit meine ich, dass das, was Sie in irgendeiner Situation in 
einem  bestimmten  Moment  glauben,  tun  zu  müssen,  genau  das  ist,  was 
Gott will, dass Sie denken, tun zu müssen! Der springende Punkt ist, dass 
es Sie nicht davor bewahrt, das zu tun, was Sie denken, tun zu müssen, 
nur deshalb weil Sie akzeptieren, dass es Gottes Wille ist. Verstehen Sie? 
Tatsächlich können Sie nicht anders, als es zu tun! 

W I E:  Das  klingt  so, als  ob nach  Ihrer Weltsicht  all  das,  was  wir  als freie 
Wahl,  Wille  und  Verantwortlichkeit  sehen,  sich  weg  vom  Individuum,  hin 
zu Gott oder dem Bewusstsein verlagert hätte. Meinen Sie das so? 

RB:  Es  hat  sich  nicht  verlagert.  Wenn  Sie  der  Meinung  sind,  Sie  tun  es, 
was  ist  dann?  Schuldgefühle,  Stolz,  Hass  und  Neid.  Aber  das  hält  die 
Dinge,  die  geschehen,  nicht  davon  ab,  weiter  zu  geschehen.  Wenn  Sie 
aber  denken,  Sie  tun  es  nicht,  dann  –  keine  Schuldgefühle,  kein  Stolz, 
kein Hass, kein Neid! Das Leben wird friedlicher. 

W I E:  Ich  las  in  einem  von  einigen  Ihrer  Schüler  verfassten  Flugblatt 
etwas, das in Bezug auf diesen Punkt wichtig zu sein scheint. Es heißt da: 
„Das, was dir angenehm ist, kann nur etwas sein, von dem Gott will, dass 
es dir angenehm ist. Es kann nichts geschehen, wenn es nicht Sein Wille 
ist.“ 

RB: Ja. Das ist richtig. 
W I E:  In  demselben  Flugblatt  heißt  es:  „Fühle  dich  nicht  schuldig,  auch 
wenn Ehebruch geschieht. Du, die Quelle, bist immer rein.“

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RB: So sagte Ramana Maharshi. 

W I E:  Ich  denke,  die  Quelle  kann  durchaus  immer  rein  sein,  aber  noch 
einmal,  es  scheint  mir  doch  so,  als  ob  das  ganz  leicht  als  eine 
Berechtigung  verstanden  werden  könnte,  gewissenlos  zu  handeln.  Man 
könnte  sagen:  „Es  ist  egal,  ob  ich  Ehebruch  begehe,  es  ist  egal,  ob  ich 
meine  Freunde  verletze,  denn  das  ist  einfach  nur  passiert.“  Es  könnte 
ganz  leicht  als  die  Rechtfertigung  verstanden  werden,  einen  Wunsch 
auszuleben, einfach nur deshalb, weil dieser Wunsch zufällig da ist. 

RB: Aber geschieht nicht genau das? 

W I E: Sicherlich geschieht das, aber... 

RB: Sie meinen, es würde öfter geschehen? 

W I E:  Es  könnte  leicht  sein,  dass  es  öfter  geschieht.  Ich  könnte  sagen: 
„Nun,  es  ist  ganz  egal,  was  ich  jetzt  mache.  Ich  brauche  mich  gar  nicht 
bemühen,  mich  zu  beherrschen,  wenn  ich  einen  Wunsch  verspüre.“ 
Verstehen Sie, was ich meine? 

RB:  Die  Frage,  die  gewöhnlich  gestellt  wird,  lautet  so:  „Wenn  ich  in 
Wahrheit  eigentlich  nichts  tue,  was  sollte  mich  dann  davon  abhalten,  ein 
Maschinengewehr in die Hand zu nehmen und damit zwanzig Menschen zu 
töten?“ Das ist doch Ihre Frage, richtig? 

W I E: Nun, das ist ein extremes Beispiel. 

RB: Ja, nehmen wir ein extremes Beispiel. 

W I E:  Aber das Beispiel mit dem Ehebruch erscheint mir interessanter für 
die  Betrachtung,  denn  wenige  Menschen  würden  etwas  so  Extremes  tun 
wie andere Menschen mit einem Maschinengewehr umzubringen. 

RB:  Gut.  Es  ist  dasselbe,  wenn  wir  über  Ehebruch  sprechen.  Ich  habe 
gelesen,  dass  Biologen  und  Psychologen  aufgrund  ihrer  Forschungen  zu 
dem Schluss gekommen sind, dass man sich nicht selbst die Schuld geben 
soll, wenn man seine Frau betrügt. 

W I E:  Nun  gut,  aber  ich  glaube  nicht,  dass  das  die  Meinung  aller 
Wissenschaftler ist. 

RB:  Ich  meine  damit,  dass  immer  mehr  Wissenschaftler  zu  dem  Schluss 
gelangen,  den  der  Mystiker  seit  jeher  vertreten  hat  –  dass  alle 
Handlungen,  die  geschehen,  auf  die  Programmierung  zurückgeführt 
werden können.

35 
W I E: Ich kann verstehen, dass das in manchen Fällen stimmen mag, aber 
sagen wir zum Beispiel, ich verspüre das Bedürfnis, Ehebruch zu begehen. 
Ich  könnte  dann  sagen:  „Es  muss  Gottes  Wille  sein,  das  ich  es  tue,  also 
tue  ich  es“  –  oder  ich  könnte  mich  beherrschen  und  es  unterlassen, 
Menschen,  die  mir  lieb  sind,  eine  Menge  Schmerz  zuzufügen.  Wäre  es 
nicht besser, ich würde mich beherrschen? 

RB: Wer hält Sie denn davon ab, sich zu beherrschen? Tun Sie doch, was 
Sie wollen! Was hält Sie davon ab, sich zu beherrschen? Beherrschen Sie 
sich! 

W I E: Ich meine, es wäre besser, das zu tun! 

RB: Das ist auch meine Meinung. 

W I E:  Aber  Ihrer  Meinung nach  könnte ich  genauso  gut  sagen:  „Es  muss 
Gottes  Wille  sein,  denn  ich  spüre  das  Verlangen“,  und  mich  dann  nicht 
beherrschen. 

RB:  Sie  sagen,  Sie  wissen,  dass  Sie  sich  beherrschen  sollten  –  warum 
beherrschen  Sie  sich  dann  nicht?  Wenn  ein  Körper­Geist­Organismus  so 
programmiert ist,  dass  er  seine  Frau  nicht  betrügt,  dann  wird  er es  nicht 
tun,  egal,  was  irgendjemand  sagt.  Wenn  man  so  programmiert  ist,  dass 
man  gegen  niemanden  die  Hand  erhebt,  wird  man  dann  beginnen,  Leute 
umzubringen?  Wenn  ein  Gesetz  erlassen  würde,  dass  man  seine  Frau 
schlagen  kann,  ohne  dafür  eine  Bestrafung  zu  riskieren,  wird  man  dann 
beginnen,  seine  Frau  zu  schlagen?  Nicht,  solange  der  Körper­Geist­ 
Organismus  nicht  so  programmiert ist, und  wenn  er  so  programmiert ist, 
das  zu  tun,  dann  hätte  er  es  ohnehin  getan.  Wie  ich  also  sagte:  zu 
akzeptieren, dass es der Wille Gottes ist, bewahrt nicht davor, das zu tun, 
von  dem  man  denkt,  es  tun  zu  müssen.  Machen  Sie  es!  Tun  Sie  genau 
das, was Sie meinen, tun zu müssen! 

W I E:  Aber wie  können  wir  in  letzter Konsequenz wissen, ob es  Schicksal 


oder  Gottes  Wille  ist? Wir  wissen  nur, dass  bestimmte  Dinge  geschehen. 
Dann  können  wir  auf  etwas,  das  wir  getan  haben,  zurückblicken  und 
sagen:  „Es  ist  einfach  passiert“,  und  wenn  wir  wollen,  können  wir  es 
Schicksal  nennen. Aber ist  es  nicht  exakter zu  sagen,  dass  wir  eigentlich 
nicht wissen, ob es Schicksal ist oder nicht? 

RB: Genau das ist es. Wir wissen es nicht. 

W I E:  Aber  zu  sagen,  dass  wir  es  nicht  wissen,  ist  etwas  anderes  als  zu 
sagen: „Wir wissen, dass es Gottes Wille ist.“ Es ist etwas anderes als zu 
sagen, wir wissen, dass alles festgelegt ist. Sehen Sie, für mich klingt das 
so,  als  sagten  Sie,  Sie  wüssten,  dass  alles  Gottes  Wille  ist.  Ich  dagegen 
meine,  dass  wir  es  einfach  nicht  wissen;  wir  wissen  nicht,  ob  Gott  diese

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Dinge  bestimmt,  deshalb  können  wir  eigentlich  nicht  sagen:  „So 
funktioniert es“, oder „Alles ist von Gott schon festgeschrieben.“ 

RB: Wir wissen es nicht, und davon müssen wir ausgehen; wenn Sie also 
wollen, können Sie das Konzept des Schicksals weglassen und sagen, dass 
eigentlich  niemand  etwas  wirklich  wissen  kann.  Gut!  Wir  brauchen  das 
Konzept  des  Schicksals  nicht.  Schließlich  und  endlich,  wenn  man 
akzeptiert,  dass  sich  alles,  was  passiert,  der  eigenen  Kontrolle  entzieht, 
wer soll sich dann noch um das Schicksal kümmern? 

W I E: Da viele spirituell Suchende zu Ihnen kommen und Sie um Ihren Rat 
in  Bezug  auf  den  spirituellen  Weg  bitten,  würde  ich  Sie  gerne  fragen, 
welchen  Wert  Sie  spiritueller  Praxis  beimessen,  vorausgesetzt,  es  gibt 
einen, als Mittel, um Erleuchtung zu erlangen. 

RB: Wenn Sadhana (spirituelle Praxis) notwendig ist, dann ist ein Körper­ 
Geist­Organismus so programmiert, dass er Sadhana macht. 

W I E: Mit anderen Worten, wenn es sein soll, dann geschieht es auch. 

RB: Genau. 

W I E:  Sie sprechen sich nicht dafür aus oder meinen, dass es hilfreich ist, 
es zu tun? 

RB:  Manchmal  fragen  mich  die  Leute:  „Wenn  nichts  in  meinen  eigenen 
Händen liegt, soll ich dann meditieren oder nicht?“ Meine Antwort ist sehr 
einfach. Wenn Sie meditieren wollen, dann meditieren Sie; wenn Sie nicht 
meditieren wollen, dann zwingen Sie sich nicht zum Meditieren. 

W I E: Ist die spirituelle Suche dann ein Hindernis für die Erleuchtung? 

RB:  Ja,  die  Suche  ist  das  größte  Hindernis,  und  der  Grund  ist  der 
Suchende.  Der  Suchende  ist  das  Hindernis  –  nicht  die  Suche;  die  Suche 
geschieht  von  selbst.  Die  Suche  findet  deshalb  statt,  weil  der  Körper­ 
Geist­Organismus  programmiert  ist,  das  zu  suchen,  wonach  er  sucht. 
Wenn  also  die  Suche  nach  Erleuchtung  stattfindet,  dann  ist  der  Körper­ 
Geist­Organismus  für  die  Suche  programmiert  worden.  Das  Hindernis  ist 
der Suchende, der sagt: „Ich will Erleuchtung.“ 

W I E:  Warum  haben  dann  viele  große  Weise  von  der  Wichtigkeit  des 
Bemühens  gesprochen?  Ramana  Maharshi  sagte,  dass  der  Suchende  die 
Erleuchtung so stark herbeisehnen muss wie der Ertrinkende die Luft – mit 
derselben Zielstrebigkeit und Wichtigkeit. 

RB: Sicherlich. Das heißt, dass diese Art von Intensität in der Suche sein 
muss.  Er  sagte  aber  auch:  „Wenn  man  eine  Anstrengung  machen  will, 
dann  muss  man  eine  Anstrengung  machen;  wenn  die  Anstrengung  aber

37 
nicht  gemacht  werden  soll,  dann  wird  die  Anstrengung  nicht  gemacht 
werden.“ Das sagte Ramana Maharshi. Sehen Sie also, ob ein Mensch ein 
Suchender ist oder nicht, unterliegt nicht seiner Kontrolle. Ob es sich um 
eine  Suche nach Gott  oder  eine  Suche nach  dem  Geld  handelt, ist  weder 
das eigene Verdienst noch die eigene Schuld. 

W I E:  Sie schreiben in einem Ihrer Bücher, dass man in der Tat zu einem 
ziemlich  tiefen  Verstehen  gelangt  ist, wenn  man  sagen  kann:  „Es  ist  mir 
egal,  ob  in  diesem  Körper­Geist­Organismus  Erleuchtung  eintritt  oder 
nicht.“ 

RB:  Das  stimmt.  Wenn  diese  Phase  erlangt  wurde,  dann  bedeutet  das, 
dass der Suchende nicht mehr vorhanden ist. Es ist der Erleuchtung sehr 
ähnlich,  denn  wenn niemand  da ist,  der  sich  darum  schert,  dann ist kein 
Suchender mehr da. 

W I E:  Aber  könnte  das  Ergebnis  nicht  eine  ganz  außergewöhnlich  tiefe 
Gleichgültigkeit sein – was dann nicht Erleuchtung ist? 

RB: Das könnte zu Erleuchtung führen! 

W I E: Ich möchte noch eine letzte Frage stellen. Sie sagen oft, wir müssen 
„einfach nur akzeptieren, was ist“ – 

RB: Ja, wenn Ihnen das möglich ist – und das haben Sie nicht unter Ihrer 
Kontrolle! 

NACHW ORT: 

Als  ich  an  dem  Portier  vorbei  auf  die  belebten  Straßen  von  Bombay 
hinausstolperte,  drehte  sich  alles  in  meinem  Kopf.  Wie  kann  das  sein, 
fragte  ich  mich,  während  ich  mich  durch  die  Menschenmassen  kämpfte, 
dass  ein  intelligenter  und  gebildeter  Mann  wie  Ramesh  Balsekar 
tatsächlich  glauben  kann,  dass  alles  vorherbestimmt  ist,  dass  unser 
Geschick  schon  lange  vor  unserer  Geburt  in  eine  Art  ewigen  Granit 
eingemeißelt  worden  ist? Kann  es  ihm wirklich  ernst  damit  sein, wenn  er 
darauf  beharrt,  dass  unser  gesamtes  Leben,  mit  seinem  scheinbar  nie 
endenden Strom von Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten, den heiklen 
Möglichkeiten,  uns  zum  Besseren  oder  Schlechteren  zu  bekehren, 
tatsächlich vom ersten Atemzug an ein fait accompli ist? Während ich auf 
der  Suche  nach  einem  Café  den  Gehsteig  überquerte,  um  dort  von  dem 
Chaos  zu  verschnaufen,  wirbelten  die  schwierigen  Kehrtwendungen,  die 
unser  kurzes  Gespräch  genommen  hatte,  in  meinem  Kopf  herum.  Ja, 
„Dein  Wille  geschehe“  ist  die  Essenz  zumindest  der  meisten  Religionen, 
dachte ich bei mir, aber für die großen Mystiker und Weisen, die sich von 
jeher in dieser Weise geäußert hatten, bedeutet die Hingabe an den Willen 
Gottes  weit  mehr  als  schlicht  und  einfach  zu  akzeptieren,  dass  niemand 
etwas  tun  kann,  um  die  eigenen  Lebensumstände  zu  beeinflussen.  Das,

38 
was  gemeinhin  „der  Wille  Gottes“  genannt  wird,  ist  sicherlich  auch  das, 
was man erfährt, wenn das Ego absolut aufgegeben worden ist, wenn alle 
selbstbezogenen Motive ausgelöscht sind und einem nichts anderes mehr 
zu  tun  verbleibt, als  den  göttlichen Willen  in  völliger  Hingabe  zu  erfüllen, 
wie  er  auch  aussehen  mag!  Von  Jesus,  Ramakrishna  oder  Ramana 
Maharshi  zu  sagen,  dass  sie  sich  Gottes  Willen  ergeben  hatten,  ist  eine 
Sache.  Aber  zu  sagen,  dass  das  für  jeden  gilt,  schien  in  diesem  Moment 
Ausdruck eines seltsamen und sogar gefährlichen Wahns zu sein der dazu 
verwendet  werden  könnte,  die  extremsten  Verhaltensformen  zu 
rechtfertigen.  Die  Feststellung  Balsekars  „Das,  was  Sie  glauben,  in  jeder 
Situation  tun  zu  müssen,  ...  ist  genau  das,  wovon  Gott  will,  dass  Sie 
glauben,  es  tun  zu  müssen“  bedeutet,  dass  ihm  zufolge  der  erleuchtete 
Buddha  den  Willen  Gottes  nicht  mehr  erfüllt  als  der  Massenmörder,  der 
über sein nächstes Opfer herfällt. 

Ich  war  durchaus  in  der  Erwartung  von  Meinungsverschiedenheiten  zu 


dem  Interview  gekommen,  aber  in  gewisser  Weise  hatten  mich  nicht 
einmal  Balsekars  Bücher  –  in  denen  alle  diese  Gedanken  immer  wieder 
klar  zum  Ausdruck  kommen  –  auf  meine  direkte  Begegnung  mit  dem 
Mann vorbereitet. Wie war er darauf gekommen? Das fragte ich mich. Und 
warum? Meine Gedanken gingen im Kreis, und ich erinnerte mich an alles, 
angefangen von seiner irritierenden Behauptung, dass man sich auch nicht 
schuldig zu fühlen braucht, wenn man jemandem Schmerz zufügt, weil wir 
für  unser  Handeln  nicht  verantwortlich  sind,  dass  selbst  „Hitler  nur  ein 
Werkzeug  war,  durch  welches  die  schrecklichen  Dinge,  die  geschehen 
mussten,  geschahen“,  bis  zu  seiner  jedem  gesunden  Menschenverstand 
widersprechenden Behauptung, dass wir nicht die Macht haben, Kontrolle 
über  unser  Verhalten  auszuüben  oder  etwa  das  Verhalten  anderer  zu 
beeinflussen,  und  das  alles  im  Rahmen  seiner  an  Sience  Fiction 
erinnernden  Beschreibung  über  uns  alle  als  „Körper­Geist­Organismen“, 
die ihre Programmierung ausagieren. 

Plötzlich tauchte der willkommene Anblick eines Teehauses aus dem Smog 
auf, und beim Hineingehen stellte ich mit Erleichterung fest, dass es sich 
dabei  um  die  stille  Oase  handelte,  die  ich  mir  erhofft hatte.  Und  dort,  an 
einem  der  vielen  leeren  Tische,  als  der  erste  Schluck  von  fast  ekelhaft 
süßem Milchtee über meine Lippen floss, traf es mich wie ein Schlag. Nicht 
ich trank den Tee! Nicht ich saß an einem Tisch! Tatsächlich war ich es gar 
nicht  gewesen,  der  das  Teehaus  betreten  hatte.  Und  ich  war  auch  nicht 
der,  der  gerade  eine  Stunde  lang  in  einem  Gespräch  mit  einem  Mann 
gelitten hatte, der in jenem Moment schon fast wie der Vernünftigere von 
uns  beiden  ausgesehen  hatte.  Tatsächlich  war  ich  es  niemals  gewesen, 
der etwas getan hatte. Es war, als ob eine Last, die ich mein ganzes Leben 
lang mit mir herumgeschleppt hatte, plötzlich mit einem Heißluftballon in 
den  Himmel  gehoben  würde,  davongeblasen,  ohne  Wiederkehr.  All  die 
Jahre  hindurch  hatte  ich  gekämpft,  um  ein  besserer,  ehrlicherer  und 
großzügigerer  Mensch  zu  sein  –  all  diese  Anstrengungen,  die  ich 
unternommen  hatte,  um  meiner  tendenziellen  Arroganz,  Selbstsucht  und

39 
Aggressivität zu entsagen – das Ganze war eine Verrücktheit gewesen, die 
dumm war und unnötigerweise auf der selbstgefälligen Vorstellung basiert 
hatte,  dass  ich  irgendwie  mein  Schicksal  unter  Kontrolle  hätte,  in  der 
kleinlichen  Annahme,  dass  das,  was  ich  „anderen“  antat,  irgendwie  von 
Wichtigkeit  wäre.  Wie  konnte  ich  nur  so  in  die  Irre  geführt  worden  sein? 
Aber,  Moment  mal,  das  war  doch  gar  nicht  ich,  der  in  die  Irre  geführt 
worden  war!  Wie  durch  sich  auflösende  Wolken  konnte  ich  plötzlich  klar 
sehen, dass das, von dem ich angenommen hatte, es sei „mein Leben“, in 
der Tat doch nur ein mechanischer Prozess gewesen war. Der Mensch, von 
dem ich angenommen hatte, dass ich es sei, war nur eine Maschine. Und 
die Welt, von der ich angenommen hatte, dass ich darin lebte, war nicht, 
so  wie  ich  gedacht  hatte,  eine  komplexe  und  zutiefst  menschliche  Welt, 
sondern  eine  Welt  von  mechanistischer  Einfachheit,  vollkommener 
Ordnung,  von  Urzeiten  an  ein  mathematisches  Ausspielen  von 
programmierten Bewegungen. 

Als  sich  die  klinische  Perfektion  von  Gottes  wissenschaftlichem  Plan  vor 
meinen Augen darzulegen begann, strömte mit einem Mal der ekstatische 
Schauder  absoluten  Freiseins  –  von  Sorge,  Kummer,  Verpflichtung  und 
Schuld  –  durch  meine  Adern  wie  die  Strömung  in  einem  ungezähmten 
Fluss.  Und  damit  einher  ging  ein  einhüllender  und  widerhallender  Friede, 
ein absolutes Aufhören jeglicher Spannung angesichts der Tatsache, dass 
ganz  gleich,  welche  scheinbare  Zweideutigkeit  oder  Unsicherheit  mir 
danach noch begegnen könnte, ganz gleich, welche scheinbar schwierigen 
Entscheidungen ich eventuell würde treffen müssen, ich doch immer in der 
Sicherheit ruhen könnte, dass jede Wahl, die ich treffen würde, genau die 
Wahl  sein  würde, die  Gott von  mir  erwartete.  Das  mysteriöse  Gefühl  des 
Unbekannten,  das  so  lange  an  mir  gezerrt  hatte,  hatte  sich  in  Luft 
aufgelöst. Die anderen Leute im Café schauten sich um, als sich ein langes 
Lachen  aus  meinem  Bauch  löste  und  ich  bei  mir  selbst  dachte,  welch 
fantastisches  Spiel  das  Leben  doch  wäre,  wenn  jeder  verstünde,  wie  das 
alles  in  Wahrheit  funktioniert,  wenn  doch  jeder  wenigstens  einen  kleinen 
Schimmer von dem hätte, wie frei wir sein könnten, wenn wir alle auf dem 
Planeten Advaita leben würden.

40 
Advaita 1x1 
Ein Interview mit Sw ami Dayan an da Saras w ati 
von Andrew Cohen 

Einleitung 

Es  ist  eine  besondere  Eigenheit  von  Advaita  Vedanta,  dass  ihre 
bedeutendsten  Gestalten  der  Gegenwart,  diejenigen,  die  als  strahlende 
Beispiele  für  die  Kraft  und  Herrlichkeit  Absoluter  Verwirklichung 
herausragen,  im  Allgemeinen  scheinbar  wenig,  wenn  überhaupt,  eine 
formelle  traditionelle  Ausbildung  genossen  haben.  Ramana  Maharshi  zum 
Beispiel,  wahrscheinlich  der  universell  anerkannteste  Advaita­Lehrer  im 
zwanzigsten  Jahrhundert,  erfuhr  im  Alter  von  sechzehn  Jahren  spontan 
Erleuchtung,  ohne  vorher  eine  spirituelle  Praxis  oder  ein  Studium 
absolviert zu haben. Der leidenschaftliche Advaita­Meister und Autor von I 
Am  That,  Sri  Nisargadatta  Maharaj,  verwirklichte  das  Absolute,  nachdem 
er  nur  drei  Jahre  mit  seinem  Guru  verbracht  hatte.  Und  als  wir  für  diese 
Ausgabe mit einer Reihe von Advaita­Lehrern der heutigen Zeit sprachen, 
waren  wir  höchst  erstaunt,  als  wir  feststellten,  dass  beinahe  alle  diese 
Personen  eine  auffällige  Unabhängigkeit  von  den  Mönchsorden, 
Lehrsystemen  und  heiligen  Texten  der  jeweiligen  Tradition,  aus  der  ihre 
Lehre entspringt, gemeinsam haben. 

Aber Advaita Vedanta ist tatsächlich eine 1300 Jahre alte Tradition, deren 
Spuren  sogar  noch  weiter  zurückzuverfolgen  sind,  bis  hin  zu  den 
Upanishaden,  einer  Sammlung  von  mehr  als  2500  Jahre  alten  göttlich 
inspirierten  Schriften.  Advaita ist  Ausdruck  der  hinduistischen  Philosophie 
des Nondualen und proklamiert, dass einzig und allein das eine Absolute, 
das  ungeteilte  Selbst,  letztlich  die  Realität  ist.  Es  verfügt  über  mehrere 
Mönchsorden,  eine  reichhaltige  Literatur  und  eine  lange  Geschichte 
formalen philosophischen Diskurses. Der Umstand, dass wir durch unsere 
Untersuchungen über Advaita für diese Ausgabe von WiE mit einer solchen 
Vielfalt  von  Lehrern  und  Lehren  unserer  Zeit  in  Kontakt  kamen,  machte 
uns  zunehmend  neugierig  darauf  herauszufinden,  was  jemand  mit  einer 
klassischen  Ausbildung  in  traditioneller  Methodik  und  Doktrin  auf  unsere 
Fragen  zu  sagen  haben  würde.  Unsere  Suche  nach  einem  solchen 
Traditionalisten  führte  uns  schließlich  bis  in  den  Dschungel  des 
südindischen  Staates  Tamil  Nadu,  in  den  Ashram  von  Swami  Dayananda 
Saraswati.

41 
Swami  Dayananda  beschreibt  sich  selbst  als  traditionellen  Advaita­ 
Vedanta­Lehrer.  Er  war  ein  enger  Schüler  des  allgemein  hoch 
angesehenen  verstorbenen  Vedanta­Lehrers  Swami  Chinmayananda  und 
begann  seine  Lehrtätigkeit  vor  mehr  als  dreißig  Jahren,  nach  einer 
disziplinierten  spirituellen  Suche,  die  sowohl  ein  intensives  Studium  der 
klassischen  Schriften  umfasste  als  auch  einige  Jahre  der 
Zurückgezogenheit in den Vorgebirgen des Himalaya. In dieser Zeit hat er 
sich  sowohl  in  Indien  als  auch  im  Ausland  einen  glänzenden  Ruf  als 
heftiger  Verteidiger  der Tradition erworben.  Er  hat  einundzwanzig  Bücher 
veröffentlicht,  darunter  mehrere  Übersetzungen  von  traditionellen  Texten 
und von Kommentaren dazu, und er hat drei Ashrams gegründet (zwei in 
Indien und einen in den Vereinigten Staaten), wo das ganze Jahr hindurch 
seine Vedanta­Intensivkurse gelehrt werden. 

Der jüngste Ashram von Swami Dayananda, Arsha Vidya Gurukulam, liegt 
mitten im tropischen Regenwald, dreißig Meilen von Coimbatore entfernt, 
und ist ein weit reichender Komplex von Hallen und Schlafsälen, in denen 
etwa  dreihundert  Menschen  untergebracht  werden  können.  Zur  Zeit 
unseres  Besuchs  wohnten  dort  etwa  hundert  Schüler,  die  an  einem  drei 
Jahre  dauernden  Kurs  teilnahmen;  darunter  waren  auch  etwa  dreißig 
Schüler  aus  dem  Westen, von  denen  viele,  wie  wir erfuhren,  erfolgreiche 
Karrieren aufgegeben hatten, um daran teilnehmen zu können. Zusätzlich 
zu diesen Langzeitkursen, während derer die Schüler dort leben, empfängt 
der  Ashram  auch  viele  berühmte  Kurzzeitbesucher,  darunter,  so  wurde 
uns  gesagt,  einige  der  größten  Filmstars  Indiens  und  wichtige  Politiker, 
unter anderem auch den früheren Präsidenten Indiens. 

An  unserem  ersten  Tag  im  Ashram  hatten  wir  Gelegenheit,  einige  von 
Swami Dayanandas Seminaren zu besuchen, und stellten dabei fest, dass 
Swami  Dayananda  in  seinem  Bestreben,  die  Tradition  aufrecht  zu 
erhalten,  nicht  das  kontemplative  Ambiente  eines  Retreat  eingeführt 
hatte,  das  man  vielleicht  im  Ashram  eines  indischen  Gurus  zu  finden 
erwartet  hätte,  sondern  vielmehr  eine  Art  spiritueller  Akademie,  deren 
erstes  und  vorrangiges  Ziel  die  Aneignung  von  Wissen  über  Vedanta  ist. 
Die Schüler verbringen den Tag im Klassenzimmer, sitzen auf dem Boden 
hinter  niedrigen  Schreibtischen und  hören  Swami Dayananda  zu,  der  aus 
den alten Sanskrittexten liest, nach jedem Vers eine Pause macht, um ihn 
dann,  oftmals  sehr  ausführlich,  zu  kommentieren.  Wenn  die  Schüler 
keinen  Unterricht  haben  und  auch  nicht  mit  ihren  Ashrampflichten 
beschäftigt  sind,  widmen  sie  sich  entweder  dem  individuellen  Studium 
oder  treffen  Swami  Dayananda,  der  zusätzlich  zum  Unterricht  von  drei 
langen  Seminarphasen  pro  Tag  in  den  Pausen  zwischen  den  einzelnen 
Unterrichtsstunden für weniger formelle Gespräche zur Verfügung steht. 

Das,  was  wir  an  Swami  Dayanandas  stark  scholastischer  Methode  am 
erstaunlichsten fanden, war, dass ungewöhnlicherweise jegliche Betonung 
einer spirituellen Praxis fehlte. Die einzige formelle Übungszeit im Ashram 
sind  dreißig  Minuten  Morgenmeditation.  Wir  sollten  bald  erfahren,  dass 
spirituelle Praktiken keinen wichtigen Platz im Programm einnehmen, aus

42 
einem sehr einfachen Grund: Für Swami Dayananda sind sie für den Weg 
völlig  bedeutungslos.  Das  Einzige,  was  von  Bedeutung  ist,  meint  er,  ist 
das Studium – das ernsthafte Studieren der heiligen Vedanta­Texte. 

Nach  Ansicht  von  Swami  Dayananda  beschreiten  die  meisten  der 


zeitgenössischen  Verfechter  von  Advaita  Vedanta  mit ihrem  Ansatz  einen 
Irrweg. Er hat das Gefühl, dass sie durch die Überbetonung des Bemühens 
um transzendente Erfahrung am eigentlichen Hauptpunkt der alten Lehren 
vorbeigehen.  Nach  seiner  Aussage  gilt  in  der  traditionellen  Advaita 
Vedanta  die  Heilige  Schrift  als  einziges  sicheres  Mittel,  um  Unwissenheit 
zu  beseitigen  und die  direkte  Erkenntnis  des  Absoluten  zu  offenbaren.  Er 
schreibt:  „So  wie  die  Augen  das  direkte  Mittel  sind,  um  Farbe  und  Form 
wahrzunehmen, so ist Vedanta das direkte Mittel … um das eigene wahre 
Wesen  zu  erkennen  und  Verwirrung  hinsichtlich  des  Atman  (Selbst) 
aufzulösen.“  Daher,  so  ist  er  überzeugt,  können  wir  nur  durch  ein 
diszipliniertes  Studium  der  offenbarten  Worte  großer  Weiser  die 
Erkenntnis erlangen, die uns aus der Täuschung befreien wird. 

Angespornt  durch  seine  Überzeugung  von  der  allerhöchsten  Effizienz  des 


Studiums  der  Schriften  kritisiert  Swami  Dayananda  rückhaltslos 
„Mystiker“, die behaupten, der Weg zur Erleuchtung führe einzig und allein 
über  die  spirituelle  Erfahrung.  In  der  Tat  ging  er  sowohl  in  seinen 
Schriften  als  auch  in  einem  unserer  Gespräche  sogar  so  weit,  seinem 
Zweifel  an  der  Verwirklichung  des  allgemein  anerkannten  und 
hochverehrten,  jedoch  ungebildeten  modernen  Weisen  Ramana  Maharshi 
Ausdruck  zu  geben  –  und  er  fügte  hinzu,  dass  es  Millionen  indischer 
Familienväter geben könnte, die ein ähnliches Niveau erlangt hätten! 

Anfangs  waren  wir  über  solche  Statements  sehr  überrascht,  aber  in 
Gesprächen  mit  zahlreichen  westlichen  Advaita­Gelehrten  sollten  wir 
später  feststellen,  dass  viele  Advaita­Traditionalisten  diese  Ansichten 
teilen.  Sogar  einer  der lebenden  Shankaracharyas  –  das  Oberhaupt einer 
der  vier  monastischen  Institutionen,  die  angeblich  vom  Gründer  der 
Advaita,  Shankara,  eingerichtet  worden  sind,  leugnet  ebenfalls  die 
Gültigkeit  dessen,  was  Ramana  erreicht  hat,  wie  es  scheint  aus  dem 
einfachen  Grund,  dass  jemand,  der  keine  formelle  Vedanta­Ausbildung 
genossen hat, unmöglich vollständig erleuchtet sein kann! 

Unser  Besuch  im  Ashram  von  Swami  Dayananda  stellte  sich  als 
faszinierendes Lehrstück heraus. Im Laufe unseres dreitägigen Aufenthalts 
trafen  wir  Swami  Dayananda  viermal  zu  formellen  Gesprächen,  die  sich 
als eine weit reichende Serie von Dialogen herausstellen sollten. Während 
dieser Zeit avancierte das Phänomen, das als Ashram­Kuriosität begonnen 
hatte  –  nämlich  dass  eine  kleine  Gruppe  von  Westlern  mit  einem 
spirituellen Lehrer aus Amerika gekommen war, um ein Interview mit dem 
Guru  zu  machen  –  rasch  zu  einem  der  meistkommentierten  und 
bestbesuchten Ereignisse im Ashram. Von unserer zweiten Sitzung an war 
der Versammlungsraum bis auf den Flur hinaus überfüllt mit Schülern, die 
gekommen  waren,  um  der  Diskussion  zu  folgen.  Zwischen  den  Treffen

43 
fanden wir uns regelmäßig im Gespräch mit den Schülern wieder, die eifrig 
mit  uns  Punkte  besprechen  wollten,  die  in  der  Diskussion  aufgetaucht 
waren, und uns Fragen für die nächste Runde vorschlugen. 

Bei allen Begegnungen erwies sich Swami Dayananda in jeder Hinsicht als 
der  Traditionalist,  den  wir  erwartet  hatten,  wobei  er  uns  in  seinen 
Antworten auf unsere Fragen an seinem umfassenden Verständnis sowohl 
der eigentlichen Tradition als auch der Feinheiten der Advaita­Philosophie 
teilhaben ließ. Wir verließen seinen Ashram zwar in vielerlei Hinsicht sehr 
viel klarer in Bezug auf die Geschichte und Doktrin der Advaita­Tradition, 
aber  unser  Besuch  hatte  doch  auch  einige  faszinierende  Fragen 
aufgeworfen.  War  es  nicht  erstaunlich,  fragten  wir  uns  auf  unserer 
Rückfahrt  im  Taxi  zum  Flughafen,  dass  es  innerhalb  einer  Tradition,  die 
sich  der  tiefen  und  radikalen  Verwirklichung  des  Absoluten  verschrieben 
hat,  gelehrte  und  engagierte  Autoritäten  gibt,  die  sich  veranlasst  sehen, 
sich von den kraftvoll verwirklichten Mystikern zu distanzieren, bei denen 
viele  der  eigenen  Anhänger  selbst  Inspiration  suchen?  Wenn  sie  dadurch 
die  „Reinheit”  der  Tradition  hochzuhalten  versuchen,  welche  Bedeutung 
hat das dann hinsichtlich des Wesens von Erleuchtung, zu der der Advaita­ 
Weg führen soll? 

Ramana  Maharshi  sagte:  „Man  braucht  weder  gelehrt  noch  in  den 
Schriften versiert zu sein, um das Selbst zu erkennen, so wie kein Mensch 
einen Spiegel braucht, um sich selbst zu sehen.“ Swami Dayananda hatte 
uns  andererseits  gerade  gesagt,  dass  „wir  kein  Mittel  der  Erkenntnis 
haben,  um  Selbstverwirklichung  direkt  zu  verstehen,  und  dass  daher 
Vedanta  das  Mittel  der  Erkenntnis  ist,  das  zu  diesem  Zweck  angewendet 
werden muss. Kein anderes Mittel der Erkenntnis wird funktionieren.“ 

Was ist Erleuchtung? Ist es einfach eine Verlagerung des Verständnisses, 
die,  wie  Swami  Dayananda  insistiert,  vollständig  durch  das  Studium  der 
heiligen  Texte  herbeigeführt  werden  kann?  Oder  ist  es,  wie  einige  der 
strahlendsten  Verkünder  dieser  kraftvollen  Lehre  behauptet  haben,  die 
Offenbarung  eines  Mysteriums,  das  für  immer  und  ewig  jenseits  des 
Verstandes liegt und das die Welt zum Zusammenbruch bringt? 

Craig Hamilton 

I nterview  

Das  folgende  Interview  ist  ein  Auszug  aus  der  über  80­seitigen 
Transkription einer Serie von Gesprächen zwischen Swami Dayananda und 
Andrew Cohen im Februar 1998.

44 
W as ist Advaita? 

Andrew   Cohen:  Wie  Sie  wissen,  gibt  es  seit  etwa  zwanzig  Jahren  im 
Westen  großes  Interesse  an  Advaita,  und  ich  habe  den  Eindruck,  dass 
hinsichtlich  dieser  Lehre  viel  Verwirrung  herrscht,  dass  sie  sehr 
missverstanden und in  manchen  Fällen  auch missbraucht worden  ist. Wir 
wollten  mit  Ihnen  sprechen,  um  auch  einen  maßgeblichen  traditionellen 
Standpunkt  darlegen  zu  können.  Könnten  Sie  deshalb  bitte  zunächst 
erklären, was die Advaita­Vedanta­Philosophie ist? 

Sw ami  Dayananda:  Das  Wort  „Advaita“  ist  ein  sehr  wichtiges  Wort.  Es 
ist  eine  Verneinung  von  dvaita,  was  „zwei“  bedeutet.  Das  „a“  ist  eine 
verneinende  Vorsilbe,  die  Bedeutung  wäre  also  „das  Nonduale“.  Und  es 
offenbart die Weisheit, dass alles, was es hier gibt, Eins ist, das heißt, es 
gibt nichts anderes als dieses Eine, und dieses Eine besteht auch nicht aus 
Teilen.  Es  ist  ein  Ganzes  ohne  Teile,  und  Das  wird  „Brahman“  (das 
Absolute)  genannt,  und  Das  bist  du  –  denn  das  Nonduale  kann  nichts 
anderes sein als du, der Fragende. Wenn es sich von dir unterscheidet, ist 
es dual; dann bist du das Subjekt und es ist das Objekt. Es muss also du 
sein.  Wenn  du  diesen  Umstand  also  nicht  erkennst,  dann  übersiehst  du, 
dass du das Ganze bist. 

AC: Könnten Sie bitte den historischen Hintergrund erklären? 

SD: Die Veden (die heiligen Schriften der Hindus) sind das älteste Wissen, 
das  die  Menschheit  besitzt.  Laut  Tradition  sind  die  Veden  nicht  von  einer 
bestimmten Person verfasst worden, sondern sie wurden den alten Rishis 
(den Sehern) als einheitliches Werk des Wissens offenbart. Es heißt, dass 
die  Veden  letztendlich  auf  den  Herrn  als  die  Quelle  allen  Wissens 
zurückgeführt  werden  können,  und  dieses  Wissen  ist  die  Quelle  von 
Advaita.  Die  Upanishaden  (die  Abschnitte  der  Veden,  die  den  Schlussteil 
bilden)  sprechen  von  Gottverwirklichung  –  und  sie  sprechen  nicht  nur 
darüber, sie lehren sie systematisch. Das, was ich heutzutage tue, wird in 
den  Upanishaden  gelehrt.  Die  Upanishaden  bilden  für  sich  allein  eine 
Lehre  und  Lehrtradition.  Und  es  ist  eine  Tradition,  die  weitergegeben 
werden kann – es ist nichts Mystisches daran. 

Aber ich glaube nicht, dass Advaita nur in den Veden ist; ich meine, es ist 
überall – überall dort, wo die Vorstellung ist: „Du bist das Ganze“. Das ist 
Advaita,  egal  ob  in  Sanskrit,  Latein  oder  Hebräisch.  Aber  der  Vorteil  von 
Vedanta  ist,  dass  sie  gelehrt  werden  kann  und  gelehrt  wird.  Wir  haben 
eine  Lehrtradition  geschaffen  und  sie  ist  gewachsen.  Wenn  hingegen  in 
Amerika  beispielsweise  Leute  plötzlich Vegetarier  werden,  dann  essen  sie 
nur  Tofu  und  Alfalfa  und  einige  wenige  andere  Dinge,  weil  es  keine 
Tradition  der  vegetarischen  Küche  gibt.  Das  dauert.  Eine  Tradition  wird 
nicht über Nacht geschaffen! 

AC: Wer sind die wichtigsten Vertreter der Advaita­Lehre?

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SD:  Es  gab  viele  Lehrer,  die  diese  Tradition  aufrecht  erhalten  haben, 
deren Namen wir nicht kennen. Aber von den Upanishaden an sagen wir: 
Vyasa,  Gaudapada,  Shankara,  Suresvara  –  diese  Namen  rezitieren  wir 
täglich.  Dabei  nimmt  Shankara  einen  zentralen  Platz  ein,  weil  er  einen 
schriftlichen  Kommentar  verfasst  hat.  Der  schriftliche  Kommentar  ergibt 
die  Lehrtradition  und  die  Lehrmethode,  und  die  Methode  ist  sehr  wichtig 
bei  dieser  Tradition:  Wie  wird  gelehrt?  Es  gibt  viele  Fallen  bei  diesem 
Prozess, und eine davon ist die Begrenzung, die in der Sprache liegt – die 
linguistische  Begrenzung.  Aber  die  Lehre  muss  mittels  Worten 
weitergegeben  werden,  und  das  heißt,  man  braucht  eine  Methode  –  eine 
Methode, durch die man sicher sein kann, dass der Schüler versteht, denn 
Erleuchtung findet parallel zur Lehre statt und nicht nachher. Das sagt die 
Tradition.  Shankara  hat  also  wegen  seiner  Kommentare  einen  wichtigen 
Stellenwert,  weil  er  uns  auf  Palmblättern  geschriebene  Kommentare 
hinterlassen  hat.  Ich  würde  aber  nicht  sagen,  dass  die  anderen  Lehrer 
weniger wichtig gewesen sind. 

AC: Gab es vor Shankara keine geschriebenen Kommentare? 

SD: Es gab einige wenige. In der Tat ist das, was ich jetzt jeden Morgen 
lehre,  ein  Kommentar  zu  einer  der  Upanishaden  von  Shankaras  Lehrer, 
Gaudapada.  Es  gibt  auch  noch  einige  andere  –  die  Sutren  von  Vyasa. 
Diese  Sutren  sind  analytische  Werke,  die  in  einem  Stil  verfasst  sind,  der 
sich sehr knapper Aussagen bedient, eine nach der anderen, sodass man 
sie auswendig lernen kann. Auch sie sind Teile der Lehrtradition und durch 
sie  immer  belegt.  Das  Sutra  wird  geschrieben  und  dann  an  eine  Gruppe 
von  Menschen  als  Lehre  weitergereicht,  und  beides  zusammen  ist  das, 
was  weitergegeben  wird.  Bei  der  Rezitation  des  Sutras  wird  dann  der 
sogenannten  „Tradition“  gedacht.  In  der  Tat  wird  die  gesamte  Advaita 
Vedanta in den Sutren analysiert. 

AC: Warum meinen Sie, dass das Studium der Schriften, viel mehr als die 
spirituelle Erfahrung, das direkteste Mittel zur Selbstverwirklichung ist? 

SD:  Wie  ich  schon  sagte,  ist  Selbstverwirklichung  das  Entdecken,  dass 
„das  Selbst  das  Ganze  ist“  –  dass  du  der  Herr  bist;  in  der  Tat,  du  bist 
Gott, die Ursache von allem. 

Nun  fehlt  es  niemandem  an  der Erfahrung  von Advaita,  des  Nondualen  – 


Advaita  ist  immer  da.  Aber  jede  Erfahrung  ist  nur  so  gut  wie  die  eigene 
Fähigkeit,  sie  zu interpretieren.  Ein  Arzt,  der  Sie untersucht, interpretiert 
Ihren Zustand auf eine Weise, ein Laie auf eine andere. Deshalb bedarf es 
der  Interpretation,  und  die  Erkenntnis  ist  nur  so  viel  wert  wie  das  Mittel 
der Erkenntnis, das dazu verwendet wird. 

Als  dem kleinen  Selbst  steht  uns  kein Mittel  der  Erkenntnis  zum  direkten 
Verstehen der Selbsterkenntnis zur Verfügung; Vedanta ist also das Mittel 
der  Erkenntnis,  das  zu  diesem  Zweck  angewendet  werden  muss.  Kein

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anderes  Mittel  der  Erkenntnis  wird  funktionieren,  denn  für  diese  Art  der 
Erkenntnis  sind  unsere  Möglichkeiten  der  Wahrnehmung  und  Schluss­ 
folgerung allein nicht ausreichend. 

Daher bin ich der Meinung, dass es auf dieser Welt nichts Dümmeres gibt 
als  Erfahrung  allein.  In  der  Tat  ist  es  gerade  die  Erfahrung,  die  uns 
zerstört hat. 

AC:  Meine  Erfahrung als  Lehrer hat mir  gezeigt,  dass  es,  ganz  allgemein 


gesagt, für die meisten Menschen nicht ausreicht, die Lehre einfach nur zu 
hören.  Normalerweise  brauchen  sie  eine  gewisse  Art  von  Erfahrung,  die 
die  Bedeutung  der  Worte  auf  sehr  direkte  und  anschauliche  Weise  klar 
macht.  Und  dann  sagt  der  Mensch:  „Oh  mein  Gott,  jetzt  habe  ich 
verstanden! Ich habe es so viele Jahre gehört, aber jetzt erkenne ich die 
Wahrheit darin.“ 

SD:  Ja,  aber  sogar  diese  Erfahrung  ist  ohne  die  richtige  Interpretation 
nutzlos.  Angenommen,  Sie  verlieren  für  einen  Augenblick  oder  für  zehn 
Minuten oder sogar für eine Stunde das Gefühl, ein getrenntes Wesen zu 
sein,  und  dann  kommt  diese  scheinbare  Dualität  plötzlich  wieder  zurück. 
Heißt das dann, dass sich das eine wahre Selbst verlagert? Natürlich nicht! 
Warum sollte Erleuchtung dann eine Erfahrung erfordern? Erleuchtung ist 
nicht  von  der  Erfahrung  abhängig;  sie  hängt  davon  ab,  dass  ich  meinen 
Irrtum  und  meine  Unwissenheit  ablege  –  davon  ist  sie  abhängig,  von 
nichts anderem. 

Die Menschen sagen, Advaita ist ewig, zeitlos, und gleichzeitig sagen sie, 
sie  würden  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkt  und  unter  bestimmten 
Bedingungen  eine  Erfahrung  davon  haben.  Das  entspricht  nicht  der 
Tradition!  Aber  das  hören  wir  überall.  Die  Tradition  sagt:  „Das,  was  du 
jetzt in diesem Moment siehst, das ist Advaita.“ 

Angenommen,  ein  Mensch  hat  eine  Erfahrung,  und  nachdem  sie  vorüber 
ist, sagt er: „Ich war eine Stunde lang ewig.“ Keine Zeit bedeutet zeitlos, 
und zeitlos bedeutet Ewigkeit. Ob es nun eine Stunde Ewigkeit ist oder ein 
Moment  Ewigkeit,  es  ist  immer  dasselbe.  Das  Vertrauen  in  die  Wahrheit 
kann  also  nicht  von  einem  Erfahrungszustand  abhängig  sein.  Das 
Vertrauen  in  die  Wahrheit  liegt  in  deiner  Klarheit  über  das,  was  ist. 
Ansonsten  passiert  Folgendes:  „Eine  Stunde  lang  war  ich  das  nonduale 
Brahman, und dann kam ich zurück und jetzt ist es weg.“ Dann wird jeder 
Gedanke  zum  Alptraum,  denn  wenn  ich  nicht  in  Nirvikalpa  Samadhi 
(ekstatisches  Aufgehen  im  nondualen  Bewusstsein)  bin,  dann  kann  ich 
nicht  einmal  mit  der  Welt  in  Beziehung  treten;  ich  muss  für  immer  und 
ewig  high  sein,  verstehen  Sie?  Erleuchtung  dagegen  heißt  einfach  zu 
wissen,  was  ist.  Das  heißt  Sahaja,  und  dieses  Wort  bedeutet  „natürlich“; 
es bedeutet nichts anderes als einfach klar zu sehen. Wenn die Menschen 
darauf  bestehen,  eine  spezielle  Erfahrung  zu  haben,  dann  bedeutet  das 
einfach, dass sie die Lehre nicht verstanden haben. Auch gerade jetzt zum

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Beispiel  interpretieren  wir  unsere  Erfahrungen.  Zum  Beispiel  erleben  Sie 
jetzt gerade mich. 

AC: Stimmt.. 

SD:  Und  Ihre  Erfahrung  scheint  Ihnen  zwei  Dinge  zu  präsentieren:  das 
eine ist  das  Subjekt,  das  andere ist  das  Objekt.  Aber  nehmen  wir  einmal 
an, beide sind zufälligerweise eine einzige Realität. 

AC: Gut. 

SD: Und hier mangelt es auch nicht an Rohmaterial. Die Erfahrung, mich 
zu sehen, irgendjemanden zu sehen, irgendetwas zu sehen oder zu hören, 
an irgendetwas zu denken – innerlich, äußerlich, was auch immer – diese 
Erfahrung ist Advaita. Und wenn das so ist, dann mangelt es uns nicht an 
Erfahrung, und daher brauchen wir auch nicht darauf zu warten, dass eine 
Erfahrung  kommt.  Welcher  Erfahrung  wir  in  unserem  Inneren  auch 
begegnen,  die  Erfahrung  offenbart  Advaita,  offenbart  Nondualität.  Und 
wenn  dann  Ihre  Interpretation  dieser  Erfahrung  ist,  dass  es  ein  Objekt 
gibt, das etwas anderes ist als Sie selbst, dann ist es diese Interpretation 
an  und  für  sich,  die  Dualität  ist.  Daher  ist  es  ein  Problem  der 
Wahrnehmung, und dieses Wahrnehmungsproblem muss gelöst werden. 

AC: Wahrnehmung wovon? 

SD:  Dieser  Nondualität!  Spreche  ich  über  etwas,  das  mir  absolut 
unbekannt ist? Nein. Ist es irgendjemandem unbekannt? Überhaupt nicht. 
Gerade  jetzt  zum  Beispiel  sehen  Sie mich  und  sagen:  „Swami  sitzt hier.“ 
Wieso  wissen  Sie  das?  Sie  sagen:  „Weil  ich  Sie  sehe  und  höre;  deshalb 
sind Sie da.“ Deshalb bin ich für Sie erkennbar, denn Sie haben ein Mittel 
der  Erkenntnis,  Sie  haben  eine  Möglichkeit  zu  sehen  und  zu  hören; 
deshalb  ist  Swami.  Swami  ist,  weil  er  für  Sie  erkennbar  ist,  so  wie  alles 
ist, weil es für Sie offensichtlich ist. Die Sonne ist, der Mond ist, der Stern 
ist, der Raum ist, die Zeit ist – all das ist für Sie offensichtlich. 

Dasselbe gilt für Ihre Erfahrung von sich selbst. Angenommen, ich fragte 
Sie: „Haben Sie einen physischen Körper?“ „Ja“, werden Sie sagen – weil 
es  für  Sie  offensichtlich  ist.  „Können  Sie  sich  erinnern,  an  diesem  oder 
jenem  Ort  gewesen  zu  sein?“  Ja  –  weil  es  für  Sie  offensichtlich  ist.  Für 
wen ist  all  das  offensichtlich?  Für  Sie! Für  Sie  selbst.  Das  heißt,  Sie  sind 
für sich selbst offensichtlich. 

Wann sind Sie nicht für sich selbst erkennbar? Sagen Sie es mir – wann? 
Weil  nämlich  Sie  für  sich  selbst  erkennbar  sind,  ist  es  nicht  notwendig, 
dass Sie zu irgendeiner Zeit für sich selbst erkennbar werden. Alle meine 
Erfahrungen  finden  statt,  weil ich  für  mich  selbst  erkennbar  bin.  Deshalb 
habe  ich  die  Erfahrung  des  Selbst  bereits  gemacht  –  das  will  ich  damit 
sagen.  Das  Selbst  wird  als  der  letztendliche  Inhalt  jeder  Erfahrung

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wahrgenommen.  Ich  sage,  in  der  Tat  ist  unsere  Erfahrung  an  sich  das 
Selbst. 

Daher ist in jeder Erfahrung das Bewusstsein unveränderlich gegenwärtig 
und  kein  Objekt  ist  unabhängig  davon.  Und  das  Bewusstsein  ist  nicht 
abhängig  von  irgendwelchen  Eigenschaften  eines  speziellen  Objekts  und 
es  hat  auch  keine  Eigenschaften.  Bewusstsein  ist  Bewusstsein,  es  ist  in 
allem,  und  es  geht  auch  über  alles  hinaus.  Darum  sage  ich:  „Das  ist 
Advaita,  das  ist  nondual,  das  ist  Brahman,  das  ist  ohne  Begrenzung;  es 
hat keine zeitlichen Grenzen, es hat keine räumlichen Grenzen. Und daher 
ist  es  Brahman,  und  deshalb  bist  du  bereits  alles.  Das ist  die  Lehre,  und 
sie  bedeutet,  dass  ich  nicht  auf  eine  Erfahrung  zu  warten  brauche,  denn 
jede Erfahrung ist Brahman, jede Erfahrung ist grenzenlos.“ 

AC:  Aber  das  ist  ein  subtiler  Punkt,  der  ohne  vorhergehende  direkte 
Erfahrung des Nondualen nicht unbedingt leicht zu erfassen ist. 

SD:  Wenn  die  Menschen  es  nicht  sehen,  dann  heißt  das,  dass  ich 
umfassender  lehren  muss;  vielleicht  sehen  sie  aber  doch  und  sagen 
trotzdem:  „Ich  habe  da  und  dort  noch  immer  einige  Spinnweben.“  Aber 
das ist kein Problem; man braucht sie nur zu beseitigen. 

Zuerst  hat  man  eine  Einsicht,  man  weiß,  und  dann,  in  dem  Maße  wie 
Schwierigkeiten entstehen, kümmern wir uns darum. Ich sage nicht, dass 
es  nicht  eine  Sache  der  Erfahrung  ist,  aber  ich  sage,  dass  die  Erfahrung 
stets  dein  eigentliches  Wesen  ist.  Bewusstsein  ist  Erfahrung,  und  jede 
Erfahrung  offenbart  die  Tatsache,  dass  man  für  sich  selbst  offensichtlich 
ist. Und das, was sich selbst erkennt, ist per definitionem nondual. Daher 
sind Subjekt und Objekt bereits dasselbe. 

Hier  ist  zum  Beispiel  eine  Welle,  die  über  einen  menschlichen  Verstand 
verfügt.  Sie  denkt:  „Ich  bin  eine  kleine  Welle.“  Dann  wird  sie  zu  einer 
großen  Welle  und  verschlingt  im  Laufe  dieses  Prozesses  viele  andere 
Wellen  und  beginnt  zu  prahlen:  „Ich  bin  eine  große  Welle.“ Dann verliert 
sie ihre Gestalt und wird wieder klein – erklärt Bankrott, wie man so schön 
sagt, Sie verstehen, was ich meine – und jetzt will sie irgendwie ans Ufer 
gelangen.  Aber  vom  Ufer  weg  drängen  andere  Wellen  zum  Ozean,  und 
vom  Ozean  her  drängen  Wellen  ans  Ufer,  und  die  arme  kleine  Welle  ist 
dazwischen  gefangen,  wie  in  einem  Sandwich,  und  beginnt  zu  klagen: 
„Was soll ich tun?“ Da ist noch eine Welle, eine Welle, die sehr glücklich zu 
sein scheint, und die erste Welle fragt: „Wieso bist du so glücklich? Du bist 
auch  klein  –  eigentlich  bist  du  noch  kleiner  als  ich!  Wieso  bist  du  so 
glücklich?“  Darauf  sagt  eine  andere  Welle:  „Das  ist  eine  erleuchtete 
Welle.“  Jetzt  will  die  erste  Welle  wissen:  „Was  ist  Erleuchtung?  Was  ist 
diese  Erleuchtung?“  Die  glückliche  Welle  sagt:  „Jetzt  komm  schon!  Du 
musst  erkennen,  wer  du  bist!“  „Gut.  Wer  bin  ich?“  Und  die  erleuchtete 
Welle  sagt:  „Du  bist  der  Ozean.“  „Was!?  Ozean?  Hast  du  gesagt,  ich  bin 
der Ozean, wegen all dem Wasser, das mich trägt und zu dem ich wieder

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zurückkehren werde? Dieser Ozean bin ich?“ „Ja, du bist der Ozean.“ Und 
sie lacht: „Wie kann ich der Ozean sein? Das ist so, als würde man sagen, 
ich  bin  Gott.  Der  Ozean  ist  allmächtig,  er  erfüllt  alles,  er  ist  alles.  Wie 
kann ich der Ozean sein?“ 

Wir  können  also  die  Aussagen  der  Vedanta  über  die  nonduale  Realität 
ignorieren, oder wir können fragen: „Wieso? Wieso bin ich Das?“ Die Lehre 
von  der  Nondualität  ist  nicht  notwendig,  wenn  unsere  Identität  für  uns 
offensichtlich  ist,  wenn  das,  was  für  uns  erkennbar  ist,  nicht  ein 
Unterschied,  sondern  ein  grundlegender  Nicht­Unterschied ist.  Es handelt 
sich  hier  um  einen  Nicht­Unterschied.  Es  gibt  keine  Welle  ohne  Wasser 
und es gibt keinen Ozean ohne Wasser. Jede einzelne Welle, und auch der 
ganze Ozean, sind einzig und allein das eine Wasser. 

Nonduale Verw irklichung und Aktivität in der W elt 

AC:  Ein  Thema,  das  mich  besonders  interessiert,  ist  die  Beziehung 
zwischen  der  nondualen  Verwirklichung,  die  Sie  beschrieben  haben,  und 
der  Aktivität  in  der  Welt  von  Raum  und  Zeit.  Zum  Beispiel  in  der 
empirischen  Welt,  in  der  empirischen  Realität,  stellt  sogar  die 
verwirklichte  Seele,  die  keinen  Zweifel  hinsichtlich  ihres  wahren  Wesens 
hat,  fest,  dass  sie  einen  Standpunkt  einnehmen  muss  –  gegen,  in 
Opposition  zu  den  Kräften  der  Täuschung  und  Negativität,  die  hier  am 
Werk sind. 

SD: Wir brauchen keine Regel aufzustellen, wie sollte und muss – er kann 
einen Standpunkt einnehmen. 

AC: Kann einen Standpunkt einnehmen? 

SD:  Ja.  Denn  sobald  er  einmal  frei  ist,  wer  kann  dann  Regeln  für  ihn 
aufstellen?  Sehen  Sie,  wenn  er  frei  genug  ist  zu  handeln,  dann  ist  er 
ebenso  frei  nicht  zu  handeln  –  das  meine  ich.  Er  wird  spontan  das  tun, 
was  er  zu tun hat.  Vielleicht  denkt  er, alle  sind  ohnehin in  Ordnung.  Und 
das ist ja in der Tat auch die Wahrheit. Denn bevor Sie nicht zu mir sagen, 
Sie hätten ein Problem mit mir, habe ich kein Problem mit Ihnen. 

AC: Aber sagen wir einmal, zum Beispiel, dass die verwirklichte Seele sich 
in  einem  Raum  befindet  und  ein  Mörder  kommt  und  anfängt,  Leute 
umzubringen. Manche Menschen sagen dann vielleicht: „Nun, das ist alles 
ein einziges Selbst, und es gibt hier keinen Gegner, deshalb braucht man 
auch  nicht  einzugreifen.“  Jemand  anderer  hingegen  könnte  sagen:  „Ich 
habe keine Wahl; ich muss etwas tun.“ 

SD:  Warum  sollte  man  nicht  eingreifen?  Ganz  klar,  auf  diesem  Niveau 
kommt es zu Verletzung.

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AC: Ja. 

SD: Und vielleicht tötet er gar nicht, sondern sagt nur beleidigende Worte. 
Warum  sollte  diese  verwirklichte  Seele  dann  nicht  sagen:  „Törichter 
Mensch,  sprich  doch  anders.  Was  tust  du?“  Er  kann  ihm  also  helfen;  er 
kann ihm helfen, sich zu verändern. Und er kann es tun, ohne für ihn ein 
riesiges  Problem  daraus  zu  machen;  er  kann  zornig  sein,  ohne  dass  sich 
sein Zorn gegen diesen Menschen richtet, er kann zu dem Mann sprechen 
und  ihm  klarmachen,  dass  er  bedingt  durch  seine  Vergangenheit 
beleidigende Worte spricht, und kann ihm helfen, sich zu ändern. Das wird 
er  dann  tun.  Aber  wir  können  nicht  sagen,  er  sollte  korrigierend 
eingreifen.  Wer  kann  mir  dafür  eine  Regel  aufstellen?  Angenommen,  ein 
Mensch ist  erleuchtet;  wer  soll  für  diesen  Menschen  eine  Verhaltensregel 
aufstellen,  für  diesen  Erleuchteten?  Niemand  kann  eine  Regel  aufstellen, 
denn er steht über den Regeln. 

AC: Er steht über den Regeln? 

SD:  Ja,  er  steht  über  den  Regeln  und  ist  keiner  Regel  unterworfen. 
Niemand  kann  das  Selbst  zum  Objekt  machen;  es  gibt  keinen  Zweiten, 
um  das  Selbst  zum  Objekt  zu  machen.  Und  daher  unterliegt  das  Selbst 
auch  weder  Verletzung  noch  Schuld  und  ist  also  frei  von  Verletzung  und 
Schuld.  Mit  anderen  Worten,  es  ist  weder  ein  Subjekt  noch  ein  Objekt, 
und  da  das  so  ist,  taucht  „sollen“  gar  nicht  erst  in  dem  Bild  auf  –  nicht 
einmal  im  Bild  empirischer  Interaktion  –  weil  es  einfach  kein  Thema  ist. 
Das  Thema  ist:  Da  ist  ein  Mensch  mit  einem  bestimmten  Problem  und 
deshalb  beleidigt  er,  und  diesem  Menschen  kann  geholfen  werden.  Also 
wird er selbstverständlich helfen! 

AC:  Alles,  was  Sie  sagen,  ist  natürlich  absolut  wahr,  denn  letztlich  kann 
das  Nonduale  nicht  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden  und  kennt  auch 
keine  Vorlieben.  Ich  meine  aber,  dass  immer  eine  tiefe  Wirkung  auf  die 
Persönlichkeit  des  Menschen  erfolgt,  der  das  Nonduale  verwirklicht  hat, 
und  ich  nehme  dieses  extreme  Beispiel,  um  damit  herauszustellen,  dass 
es  irgendein  Kriterium  geben  muss.  Historisch  betrachtet  brachten  zum 
Beispiel  Personen,  die  dieses  nonduale  Absolute  tief  verwirklicht  hatten, 
ein  sattvisches Wesen, Egolosigkeit,  zum  Ausdruck. Wenn  ich  auch  weiß, 
dass  die  Erleuchtung viele Gesichter  hat  und sich  von  Mensch  zu  Mensch 
unterschiedlich ausdrückt, gibt es doch im Grunde immer einen Ausdruck 
der  Selbstlosigkeit  und  des  Mitgefühls,  der  uns  gestattet  zu  sagen,  dass 
ein Mensch, der tatsächlich verwirklicht ist, nicht in der Lage sein würde, 
zutieft  selbstbezogen  zu  handeln.  Deshalb  gibt  es  bestimmte  Dinge,  die 
ein Mensch nicht tun würde, wenn er ein Erleuchteter ist. Das meine ich. 

SD: Wie beurteilen Sie dann eine erleuchtete Person? 

AC:  Nun,  wenn  er  Menschen  vergewaltigt  und  tötet,  dann  können  wir 
zumindest sagen: „Dieser Mensch ist nicht erleuchtet.“ Richtig?

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SD:  Aber  das  kommt  ohnehin  nicht  in  Betracht,  denn  im  traditionellen 
System muss er ein Leben der sehr strengen moralischen und spirituellen 
Ausbildung durchlaufen haben, und erst dann ist er erleuchtet, und dieser 
Bursche  hat  das  nicht  getan,  deshalb  ist  es  klar,  dass  er  noch  einige 
Probleme  hat.  Es  heißt  aber  auch:  „Nur  ein  Weiser  kann  den  Weisen 
erkennen.“ Wenn Sie ein Weiser sind, dann brauchen Sie keinen anderen 
Weisen, um weise zu werden; wenn Sie es nicht sind, brauchen Sie einen 
Weisen,  aber  weil  Sie  nicht  weise  sind,  können  Sie  ihn  auch  nicht 
erkennen.  Sie  befinden  sich  also  in  einem  Dilemma.  Daher  ist  das 
Kriterium für einen Weisen, das möchte ich Ihnen zum Schluss noch sagen 
–  die  Methode,  um  festzustellen,  ob  er  weise  ist  oder  nicht  –,  ob  er  Sie 
weise  machen kann.  Dann  weiß  er.  Das  ist  das  einzige  Kriterium,  und es 
gibt kein anderes, denn die Formen, die dieses Mitgefühl annehmen kann, 
sind  überaus  vielfältig,  und  nicht  immer  geben  wir  den  Menschen  mit 
jeder unserer Handlungen Trost. 

Der Mystiker und der Vedantin 

AC:  Shankara  und  Ramana  Maharshi  werden  allgemein  als  die  beiden 
bedeutendsten  Verfechter  der  Advaita­Lehre  und  Advaita­Verwirklichung 
angesehen.  Ich  habe  mich  dennoch  immer  gefragt,  warum  die  Lehre 
Shankaras  ein  monastisches  System  hervorgebracht  hat,  in  dem  der 
Mensch  dazu  ermutigt  wird,  der  Welt  zu  entsagen,  um  ernsthaft  das 
spirituelle  Leben  aufzunehmen,  während  Ramana  Maharshi  –  der  selbst 
ein  Entsagender  war  –  wenn  Menschen  ihn  fragten:  „Meister,  soll  ich  die 
Welt  aufgeben?“,  sie  oft  dazu  ermutigte,  nach  dem Wesen  desjenigen  zu 
forschen,  der  die  Welt  aufzugeben  wünschte,  und  ihnen  davon  abriet, 
äußere Veränderungen in ihrem Leben vorzunehmen. 

SD:  Shankara ist  nur  ein  Glied in  der  Tradition,  wie  ich  bereits  sagte.  Er 
ist  nicht  der  Urheber irgendeines  speziellen  Systems  oder  Mönchsordens. 
Es stimmt, er selbst war ein Sannyasi, er hatte entsagt – als junger Mann 
entsagte  er  allem  –,  aber  ein  Sannyasi  unterscheidet  sich  von  einem 
Mönch. 

Ein  Sannyasi  gehört  keinem  speziellen  Mönchsorden  an.  Er  ist  einfach 
jemand,  der  nicht  am  Konkurrenzkampf  in  der  Gesellschaft  teilnimmt.  Er 
ist  ein  Mensch,  der  einen  bestimmten  Grad  der  Reife  erlangt  hat,  ein 
gewisses  Unterscheidungsvermögen,  das  ihn  dazu  treibt,  mit  besonderer 
Hingabe  nach  spiritueller  Erkenntnis  zu  streben.  Zu  Zeiten  Shankaras 
wurde ein solcher Mensch aller familiären, sozialen und religiösen Pflichten 
durch  ein  Ritual  enthoben,  in  dem  er  sagte:  „Ich  gebe  alles  auf.  Ich 
nehme  nicht  am  Konkurrenzkampf  teil.  Ich  habe  kein  Interesse  an  Geld, 
Macht,  Sicherheit  oder  irgendetwas  anderem  hier.“  Das  ist  ein  Sannyasi. 
Er  ist  nicht  Mitglied  einer  Organisation  oder  eines  Ordens.  Es  gibt  kein 
Kloster zum Schutz dieser Person. Er lebt „unter freiem Himmel“.

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Aber es gibt noch eine tiefere Ebene der Entsagung, die dieser Sannyasi, 
dieser Entsagende erreichen muss, und das ist das Wissen: „Ich bin nicht 
der  Handelnde,  ich  bin  nicht  der  Erlebende,  ich  habe  nie  zuvor  irgendein 
Karma  geschaffen,  nie  irgendeine  Handlung  ausgeführt“  –  die  direkte 
Erkenntnis  des  nondualen  Selbst,  das  auch  Handlungslosigkeit  ist. 
Handlung ist so lange da, wie es Täterschaft gibt. Auch „Nichthandeln“ ist 
Handeln.  Daher  ist  das  Freisein  von  Täterschaft,  das  mit  dem  Erkennen 
des  Selbst  einhergeht,  kein  Akt  des  Aufgebens.  Es  ist:  „Ich  weiß  und 
daher  bin ich  frei. Und  daher ist  es nicht  eine  Frage  der  Wahl.“ Das  wird 
dann wirkliches Sannyas genannt, das wahre Aufgeben allen Handelns zu 
jeder Zeit, und das ist Erleuchtung. 

AC: Es stimmt nicht, dass Shankara eine Mönchstradition begründet hat? 

SD: Nein, er hat keine Mönchstradition begründet. Nachher wurde das so 
gesagt, aber das resultierte daraus, dass er ein so beliebter Lehrer und ein 
Sannyasi  war.  Seine  Schüler  hatten  Maths  (Klöster),  die  sie  geschaffen 
hatten,  aber  es  war  kein  neuer  Orden.  Einige  seiner  Schüler  waren 
vielleicht  auf  verschiedene  Orte  verteilt,  aber  wir  wissen  nicht,  ob  er  sie 
dorthin gesandt hat oder ob sie von selbst gingen. Ich bin der Ansicht, sie 
taten  es  –  er  hat  niemanden  irgendwohin  geschickt.  So  würde  ich 
zumindest  vorgehen,  wenn  ich  Shankara  wäre;  ich  würde  sagen:  „Geh, 
wohin  du  willst!“  Wenn  nun  schon  eine  kleine  Person  wie  ich  so  handeln 
würde,  dann  denke  ich  nicht,  dass  Shankara  irgendetwas  anderes  getan 
hätte. Soviel zu dem Thema. 

Dann  ist  da  Ramana.  Es  gibt  Menschen,  die  sagen,  Ramana  ist  der 
Höchste,  der,  der  in  der  modernen  Welt  Advaita  vollständig  erreicht  hat. 
So  wird  es  gesehen,  weil  einige  Menschen  ihn  kennen,  es  könnte  aber 
Millionen  Unbekannter  geben,  von  denen  wir  nichts  wissen  –  darunter 
eventuell  auch  Familienväter,  Menschen,  die  zu  Hause  leben,  vielleicht 
sogar  einige  ganz  normale  Hausfrauen.  In  Indien,  verstehen  Sie,  kann 
man  bei  diesen  Menschen  nichts  für  selbstverständlich  nehmen;  manche 
dieser Frauen sind erleuchtet. Wirklich! Und sie sind vielleicht Hausfrauen, 
Mütter  von  zehn  Kindern.  Wir  wissen  es  nicht.  Indien  ist  anders.  Es  gibt 
kein  Kriterium,  um  festzustellen,  ob  dieser  Mensch  erleuchtet  ist  oder 
nicht.  Und  so  heißt  es,  Ramana  ist  erleuchtet,  aber  wir  sollten  ihm  die 
Frage  stellen:  „Bist  du  erleuchtet?“  Und  er  wird  sagen:  „Warum  willst  du 
das wissen? Wer bist du, der das wissen will? Finde heraus, wer du bist.“ 
Er hat diese Art und Weise, mit den Menschen zu sprechen, entdeckt, die 
ihn  jeder  Notwendigkeit  des  Antwortens  enthoben  hat.  Da  kommt  einer 
und fragt: „Was ist Gott?“ und dann antwortet er: „Wer bist du, der diese 
Frage  stellt?“  Das  ist  eine  Methode  zu  antworten,  mit  der  er  versuchte, 
den Menschen dazu zu bringen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. 
Daher  galt  sein  Interesse  auch  nicht  irgendeinem  besonderen  Lebensstil. 
Er  hat  weder  zu  Sannyas  noch  zu  irgendetwas  anderem  ermutigt.  Er  hat 
den  Menschen  nur  gesagt:  „Erkenne,  wer  du  bist.  Das  ist  das  einzig 
Wichtige.“

53 
AC:  Tatsächlich hat er den  Menschen  davon  abgeraten,  wenn  sie  sagten, 
sie wollten ihre Familie verlassen und Sannyas nehmen. 

SD:  Das  wird  jeder  Sannyasi  sagen,  ansonsten  würden  alle  diese 
Menschen im Ashram landen! Ich würde in derselben Situation ganz sicher 
dasselbe  sagen,  denn  jeder,  der  sagt:  „Ich  möchte  alles  aufgeben“,  hat 
ein Problem. 

AC: Warum? 

SD:  Weil  er  Zweifel  hat!  Hätte  er  keine  Zweifel,  dann  wäre  er  schon 
weggegangen;  er  wäre  nicht  hergekommen,  um  mich  zu  fragen.  Denn 
wenn  die  Mango  reif  ist,  fällt  sie  ab;  sie  fragt  nicht:  „Soll  ich  abfallen?“ 
Ramana  war nicht  dumm; er  wusste  genau,  was er  sagen musste.  Wenn 
ich er wäre, wissen Sie, was ich dann gesagt hätte? Ich hätte der Person 
geraten: „Komm schon, du brauchst nichts zu ändern. Bleibe dort, wo du 
bist;  es  ist  eine  Veränderung  der  Sichtweise.“  Auch  Shankara  würde 
dasselbe  sagen.  Shankara  hatte  nur  vier  Schüler.  Er  reiste  zu  Fuß  kreuz 
und quer durch sein Land, er traf also Tausende von Menschen, und doch 
hatte er nur vier Schüler! Das heißt, er hat jedem gesagt: „Bleibe, wo du 
bist.“ 

AC:  Dennoch haben wir sowohl über Buddha als auch über Jesus gehört, 
dass  sie  Menschen  dazu  ermutigten,  alles  zurückzulassen  und  ihnen  zu 
folgen,  um  das  spirituelle  Leben  aufzunehmen.  Das  ist  also  eine 
faszinierende Frage. 

SD:  Sie  haben  ermutigt,  sie  haben  ermutigt  –  ich  weiß  nicht  wozu. 
Vielleicht  wollten  sie,  dass  die  Menschen  Zeit  mit  sich  alleine  verbringen. 
Aber der Wert eines kontemplativen Lebens war in der vedischen Tradition 
stets  gegeben,  und  ein  kontemplatives  Leben  kann  man  überall  haben. 
Und man kann inmitten aller Aktivitäten ein kontemplatives Leben führen, 
oder man kann alleine sein und dabei überhaupt nicht kontemplativ. 

AC:  In  einem  Ihrer  Bücher  unterscheiden  Sie  zwischen  einem  Mystiker 
und  einem  Vedantin.  Wenn  Sie  zum  Beispiel  Ramana  Maharshi  als 
Mystiker  bezeichnen,  scheinen  Sie  ihn  in  gewisser  Weise  von  einem 
Vedantin  zu  unterscheiden,  und  da  ihn  sehr  viele  Menschen  als  die 
Quintessenz  der  Vedanta  betrachten,  würde  es  mich  interessieren  zu 
erfahren, was jene Unterscheidung bedeutet. 

SD:  Der  einzige  Unterschied  hier  ist,  dass  ein  Mystiker  keine  Möglichkeit 
hat,  um  sich  mitzuteilen  und  aus  dem  anderen  Menschen  einen  Mystiker 
zu machen, einen ebenso großen Mystiker, wie er es selbst ist. 

AC: Um die empirische Verwirrung zu klären – meinen Sie das?

54 
SD:  Ja.  Angenommen,  dieser  Mystiker  besitzt  die  Erkenntnis,  dass  er 
selbst  immer  Alles  ist  –  diese  Art  mystischer  Erfahrung.  Der  Mensch  ist 
also  ein  Mystiker,  aber  er  hat  kein  Kommunikationsmittel,  um  diese 
Erfahrung  mitzuteilen.  Wenn  er  ein  Kommunikationsmittel  besitzt,  durch 
das  er  einen  anderen  Menschen  in  gleicher  Weise  zum  Mystiker  machen 
kann, dann ist nichts Mystisches an dem, was er weiß. Deshalb werde ich 
ihn nicht „Mystiker“ nennen. Ich werde ihn „Vedantin“ nennen. 

AC:  Im  Falle  von  Ramana  sagten  alle,  er  hätte  durch  sein  Schweigen 
kommuniziert. 

SD:  Um  es  noch  einmal  zu  sagen,  das  ist  eine  Interpretation,  denn  ich 
kenne  viele  Menschen,  die  zu  ihm  gingen  und  dann  zurückkamen  und 
sagten, dass er gar nichts wüsste. 

AC:  Es gibt aber auch sehr viele Menschen, die sagten, dass sie in seiner 
Gegenwart tiefe Erfahrungen hatten. 

SD:  Jeder  muss  auf  seine  eigene  Weise  interpretieren.  Aber  wir  können 
nur dann sagen, dass jemand ein Vedantin ist, wenn er Vedanta lehrt!

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Gott zum Lachen bringen 
Ein Interview mit Dr. Vijai Shankar 
von Simeon Alev 

Einleitung 

In  unserem  vierten  und  letzten  Interview  mit  dem  wir  uns  auf 
Entdeckungsreise  in  die  mysteriöse,  Einzig­Absolute  Welt  der  Advaita­ 
Vedanta­Lehre  des  absoluten  Nondualismus  begeben,  haben  wir  die 
Freude, ein aufregendes, äußerst herausforderndes und zum Widerspruch 
reizendes  Gespräch  mit  dem  wirklich  unglaublichen  Dr.  Vijai  Shankar  zu 
präsentieren.  Wer  ist  Dr.  Shankar?  Nun,  wie  es  seiner  Advaita­Lehre 
entspricht,  wollte  er  nicht  über  seine  Vergangenheit  sprechen  (er  hat 
sogar  alles  getan,  damit  bei  seiner  Verlegerin  nicht  der  geringste  Zweifel 
darüber  entstehen  konnte,  dass  jedes  Detail,  das  wir  ihr  eventuell  doch 
hatten  entlocken  können,  nicht  von  ihm  stammt!)  Warum?  Weil  es  ihn, 
wie Dr. Shankar ganz unbefangen und kühn feststellt, nicht gibt! Und uns 
alle natürlich genauso wenig. 

Advaita  sagt  uns  ganz  einfach,  dass  als  einzige  Realität,  als  einzige 
Wahrheit  der  Existenz,  ausschließlich  das  Absolute  Selbst  existiert  – 
jenseits  von  Namen,  Formen  und  Begriffen  –  und  jeder  Mensch,  der  das 
zutiefst erkennt, wird ganz und gar und ein für alle Mal aus dem Alptraum 
der  zeitlich  begrenzten  verkörperten  Existenz  befreit  sein.  Die  Tatsache, 
dass  Dr.  Shankar  so  unerschütterlich  dazu  steht,  sein  absolutes  Wesen 
verwirklicht  zu  haben,  macht  ihn  zu  einem  derart  bemerkenswerten 
Beispiel  für  diese  kompromisslose  Lehre.  Und  eben  deshalb,  weil  er  so 
völlig  kompromisslos  an  seiner  nondualen  Perspektive  der  Advaita­ 
Philosophie  festhält,  könnte  man  ihn  auch  als  Fundamentalisten 
bezeichnen!  Und  da  er  unter  keinen  Umständen  gewillt  ist,  irgendetwas 
anderem als diesem nondualen Absoluten auch nur die geringste Spur von 
Realität  zuzugestehen,  waren  wir  für  diese  Ausgabe  von  WIE:  „Was  ist 
Erleuchtung? – Weiß überhaupt irgendjemand, worum es geht?“ an einem 
Treffen mit ihm – unserem eigenen Selbst? – interessiert. 

Sehen  Sie,  die  interessanteste  und  widersprüchlichste  Frage  hinsichtlich 


dieser ganzen Problematik der Nondualität ist für uns diese: Was genau ist 
Nondualität  in  Beziehung  zu  Erleuchtung?  Schließt  sie,  wie  es  klassische 
Interpretationen  von  Advaita  uns  meist  lehren,  die  zeitlich  begrenzte 
Existenz  vollständig  aus?  Oder  schließt  sie,  wie  einige  moderne 
Interpretationen das gerne sagen, diese Welt von Zeit und Raum ein? Ist
56 
das  Absolute ein  ausschließendes  oder ein  einschließendes  Prinzip  –  oder 
beides?  Dr.  Shankars  unbeugsames  Bestehen  auf  der  Nichtrealität  der 
zeitlich  begrenzten  Existenz  fördert  ganz  automatisch  einige  recht 
schwierige  Fragen  hinsichtlich  des  eigentlichen  Wesens,  der  Bedeutung 
und  des  Sinns  der  Existenz  in  einem  Körper  zu  Tage  –  und  ebenso 
hinsichtlich der erleuchteten Sichtweise selbst. Wenn wir nicht existieren, 
wie  Dr.  Shankar  so  leidenschaftlich  bekennt,  taucht  automatisch  eine 
Büchse der Pandora mit unbestreitbar wichtigen Fragen auf. Zum Beispiel: 
Was  ist  die  richtige  Beziehung  zur  Existenz  im  Körper,  wenn  es  diese 
eigentlich  gar  nicht  gibt?  Was  ist  die  falsche  Beziehung  zur  Existenz  im 
Körper, wenn es diese doch gar nicht gibt? Und schließlich: was ist keine 
Beziehung zur Existenz im Körper? Denn – wie kann man eine Beziehung 
zu etwas haben, das nicht existiert? 

Dass die Advaita­Lehre auf der Nichtrealität der Welt besteht, scheint uns 
ein unmögliches Paradox zu sein – ein unmögliches Paradox, weil gerade 
die  Realität  der  Existenz  im  Körper  stets  sehr  reale  Fragen  aufwirft,  die 
durch  die  Sichtweise  der  „Nichtrealität“  allein  nicht  beantwortet  werden 
können. 

Wir  waren  sehr  inspiriert  durch  Dr.  Shankars  machtvolle  und 


unerschütterliche  Leidenschaft,  mit  der  er  die  Nichtrealität  von  allem 
anderen  außer  DIESEM  betonte.  Er  erklärte  zum  Beispiel  ganz 
unverhohlen,  dass  dieses  Interview  völlig  sinnlos  ist,  und  behauptete, 
dass das leere weiße Papier, auf dem es gedruckt werden würde – frei von 
Worten,  Konzepten  und  Meinungen  –  für  den  ernsthaft  Suchenden  mehr 
wert  wäre  als  das  Interview  selbst.  Gleichzeitig  aber  waren  wir  verwirrt, 
denn  er  bestand  darauf,  nach  Beendigung  des  Interviews  unsere 
gesamten  Aufzeichnungen  durchzusehen,  und  das  war  unseres  Erachtens 
damit  gänzlich  unvereinbar!  Sollen  wir  es  wagen,  die  unvermeidliche 
Frage  zu  stellen:  Wer  will  wissen?  Und  dann  war  da  noch  die  besonders 
herausfordernde  Feuerprobe  der  Verhandlungen  mit  ihm  und  seiner 
manchmal  übereifrigen  „Public­Relations­Chefin“,  die  entsetzt  darüber 
war,  dass  wir  im  Anschluss  an  unsere  Interviews  keine  Kontaktadressen 
abdrucken,  und  daher  ärgerlich  fragte:  „Also,  was  springt  dann  für  uns 
dabei  heraus?“  In  Anbetracht  dessen,  dass  genau  genommen  weder  Dr. 
Shankar noch seine Repräsentantin noch wir selbst tatsächlich existieren, 
was  konnte  es  schon  für  eine  Rolle  spielen,  ob  wir  nun  ihre 
Kontaktadresse drucken oder nicht? Und wir hatten ihr ohnehin mehrmals 
bestätigt, dass Anfragen in Bezug auf unsere Gesprächspartner stets sehr 
sorgfältig von uns weitergegeben werden. 

Gerade  wegen  diesen  und  ähnlichen,  immer  faszinierenden  und  letztlich 


unvermeidlichen  Fragen  zu  dem  absoluten  Wesen  von  Erleuchtung  und 
seiner  Beziehung  zur  Existenz  im  Körper  freuen  wir  uns,  dieses 
provokante Interview mit dem bemerkenswerten Dr.Vijai Shankar bringen 
zu können. Ohne Zweifel meint er, was er sagt, aber die Frage ist: Ergibt 
das, was er sagt, einen Sinn? Und in Bezug darauf: Ist Advaita eine Lehre,

57 
die  gelebt  werden  kann?  Was  bedeutet:  Beantwortet  sie  die  ultimative 
Frage, lässt sie aber dennoch zu viele andere Fragen offen? Oder beseitigt 
das Finden der Antwort auf die ultimative Frage sofort ein und für alle Mal 
weitere Fragen? Entscheiden Sie selbst. 

Übrigens, auch wenn es, was ihn angeht, eine irrelevante Information ist, 
so dachten wir doch, dass es Sie vielleicht interessieren könnte, dass Dr. 
Shankar  in  einer  Garage  als  Wohnung­cum­Ashram  namens  Kaivalya 
Shivalya  („Sitz  des  Absoluten“)  in  Galveston,  Texas,  wissenschaftlich 
forscht, lebt und lehrt. 

Unser  couragierter,  unabhängig  denkender  Redakteur  Simeon  Alev  hat 


den  Sprung  ins  kalte  Wasser  gewagt  und  am  Telefon  mit  Dr.  Shankar 
gesprochen. 

I nterview  

W I E: Es ist nicht so, dass wir falsche Antworten bekommen hätten; es ist 
nur  so,  dass  es  gewisse  Fragen  gibt,  die  verschiedene  Personen 
unterschiedlich beantworten. 

VS:  Jede  Antwort  ist  auf  ihre  Art  und  Weise  richtig,  da  es  ganz  auf  den 
Standpunkt  ankommt,  von  dem  aus  sie  gegeben  wird.  Ich  hätte  gerne 
etwas  Authentisches  von  Ihrer  Seite  gehört.  Wenn  Sie  über  Vedanta 
schreiben wollen, sollten Sie wissen, wonach Sie suchen. Wissen Sie, was 
Advaita ist? 

W I E: Würden Sie es uns bitte sagen? 

VS: Dann wissen Sie also nicht, wonach Sie suchen! 

W I E:  Nun ja, ich frage nicht nur für mich selbst. Ich frage im Namen von 
Tausenden von Lesern. 

VS:  Bitte  missverstehen  Sie  mich  nicht.  Das,  was  ich  Ihnen  mitzuteilen 
versuche, ist: Wie können Sie wissen, ob sich die Antwort, die Sie erhalten 
werden,  auf  das  Wort  bezieht,  nach  dem  Sie  fragen,  wenn  Sie  in  Ihrem 
Geist ­ oder in Ihrem so genannten Geist ­ keine klare Vorstellung von der 
exakten  Bedeutung  des  Wortes  Advaita  haben,  davon,  wofür  das  Wort 
steht?  Sie  sagen, in  Ihrer  Ausgabe  geht  es  um  Buddhismus  und  Advaita, 
aber wissen Sie auch, was Buddhismus ist? Und wissen Sie, wofür Advaita 
steht,  was  Advaita  bedeutet?  Sind  Sie  mit  Advaita  vertraut?  Sie  werden 
mir  heute  dazu  Fragen  stellen.  Wenn  das  so ist,  dann  sollten  Sie  wissen, 
was Advaita bedeutet; ansonsten ist dieses Interview null und nichtig.

58 
W I E: Also gut. So wie ich es verstehe, ist die Lehre von Advai­ta Vedanta 
die Lehre des Nondualismus, die Lehre, dass – 

VS:  Aber  warum  wird  es  "Nondualismus"  genannt?  Gott  ist  eins,  nicht 
wahr?  Wenn  Gott  eins  ist,  und  ich  bin  ganz  sicher,  dass  die  meisten 
Menschen dem ohne Diskussion zustimmen werden, warum nennen es die 
Weisen  im  Sanskrit  dann  nicht  "Ekant",  was  eins  bedeutet,  anstatt 
Advaita? Warum wurde das Wort Advaita gewählt? Hat sich darüber schon 
jemand  Gedanken  gemacht?  Advaita  heißt  nicht  zwei.  Wenn  Sie  einmal 
darüber  nachgedacht  haben,  dann  brauchen  Sie  sonst  nichts  mehr  zu 
wissen.  Sobald  Sie  wissen,  was  Advaita  bedeutet,  sind  Sie  darüber 
hinausgegangen.  Dann  haben  Sie  den  Verstand  transzendiert.  Warum 
haben  die  Weisen  nicht  "eins"  gesagt?  Wa­rum  haben  sie  "nicht  zwei" 
gesagt? Sehen Sie, mein lieber Freund, ich will Sie gar nicht aufs Glatteis 
führen. Ich versuche vielmehr, Sie auf die richtige Spur zurückzubringen. 

W I E: Danke. 

VS: Das sollte aber auch eine Wirkung auf Sie haben! Was nützt es, wenn 
Sie  Informationen  sammeln,  Informationen,  Informationen, 
Informationen,  und  Zeitschriften  drucken,  wenn  es  keinerlei  Auswirkung 
auf  Ihr  Leben  hat?  Sie  werden  sterben  und  davongehen,  mein  Sohn,  so 
wie  wir  alle.  Der  Körper  wird  verschwinden.  Wozu  also  den  Geist  mit 
Wissen  vollstopfen?  Welche  Wirkung  hat  das  auf  Sie?  Sie  sollten  längst 
darüber  hinaus  sein!  Das  sollte  das  Ziel  Ihres  Lebens  sein!  Der  einzige 
Sinn  des  Lebens  besteht  darin  herauszufinden,  wer  man  ist.  Wenn  Sie 
glauben, dass das Anhäufen all diesen Wissens Ihnen Erleuchtung bringen 
wird, dann vergessen Sie es! 

Aber um auf den Punkt zurückzukommen, das Wort Advaita wird benutzt, 
um  nicht  zwei  zu  zeigen!  Und  das  ist  so,  weil  der  Verstand  sehr  linear 
funktioniert ­ vom Punkt A zu den Punkten B, C, D, E, F und so weiter, auf 
einer  geraden  Linie  ­  können  Sie  mir  insoweit  folgen?  Sowie  Sie  "eins" 
sagen, bedeutet das: es gibt zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht und 
so  weiter  und  so  fort.  Sobald  Sie  "eins"  sagen,  bedeutet  das,  dass  die 
Möglichkeit  von  zwei  existiert.  Eins  hat  nur  in  Bezug  zu  den  anderen 
Zahlen  eine  Bedeutung;  ansonsten  hat  sie  keine.  Und  sobald  Sie  "eins" 
sagen,  hat  sich  bereits  zwei  eingeschlichen.  Deshalb  sagt  man  nicht 
"Ekant".  Man  sagt  "NICHT  ZWEI!"  Und  NICHT  ZWEI  heißt  was?  Dass  die 
Vielfalt  verschwunden  ist.  Aber  das  kann  nur  in  Form  einer  Verneinung 
ausgedrückt werden. 

Und nun ­ wissen Sie, was "Vedanta" heißt? 

W I E:  So wie ich es verstehe, ist Vedanta der abschließende Teil der alten 
Hinduschriften, die Veden heißen – 

VS: Das ist schon wieder ein Irrtum. Das ist das Problem von uns allen ­

59 
wir  glauben  einfach  das,  was  man  uns  gesagt  hat.  Man  hat  das 
Geschriebene  auf  die  eigene  Art  und  Weise  interpretiert,  ohne  genau 
darüber nachzudenken, was das Wort bedeutet. Und daher hat nie jemand 
etwas verstanden, egal, was der Meister gesagt hat, nicht einmal die, die 
ihm  zugehört  haben.  Diese  Leute  haben  ihn  nicht  wirklich  gehört,  haben 
ihm nicht wirklich zugehört. Sie haben ihn nur interpretiert. Niemand hat 
den  Meistern  zugehört,  punktum  ­  niemand.  Niemand  hat  den  Meistern 
zugehört, und auch Sie hören mir jetzt nicht zu. Wussten Sie das? 

W I E: Dass ich Ihnen nicht zuhöre? 

VS: Genau. Sie hören mir nicht zu, mein Freund. Vielleicht haben Sie den 
Eindruck, Sie würden es tun, aber es ist nicht so. Wir alle haben die ganze 
Zeit  gedacht,  wir  würden  zuhören.  Nein,  nichts  dergleichen.  Wissen  Sie, 
was  Zuhören  heißt?  Ich  bin  sicher,  Sie  wissen  es  nicht.  Die  Menschen 
hören  nie  zu.  Man  blickt  nur  durch  die  Brille  der  eigenen  Konzepte.  Ich 
möchte Sie jetzt nicht erschrecken, aber vielleicht gehen Sie nach diesem 
Gespräch fort und wissen weniger, als Sie vorher wussten. Deshalb sollte 
man  sich  immer  bewusst  sein,  in  wessen  Nähe  man  sich  begibt,  bevor 
man  überhaupt  das  Risiko  eingeht,  mit  ihm  zu  sprechen.  Am  Ende  wird 
dieses  Interview  Ihr  Ego  sehr  wahrscheinlich  in  kleine  Stücke  zerlegt 
haben,  und  wenn  das  so ist,  wird  das  für  Sie von  größerem  Nutzen  sein. 
Sie werden weit mehr gewonnen als verloren haben. Bisher haben Sie die 
ganze  Zeit  nur  verloren.  Aber  Ihr  Karma  ist  so,  dass  für  Sie  die  Zeit 
gekommen  ist,  eine  Wirkung  stattfinden  zu  lassen.  Sie  sollten  wirklich 
erkennen,  wer  Sie  sind.  Dafür  ist  alles  die  Mühe  wert.  Jedenfalls  beruht 
Ihre  Vorstellung  von  Vedanta  ebenfalls  auf  den  Dingen,  die  man  Ihnen 
dazu gesagt hat. Aber die Veden sind nichts anderes als Gebete zu Gott ­ 
nichts als das, nur die Verherrlichung Gottes in vielen Formen, Farben und 
symbolischen  Gesten.  Und  das  alles  sind  nur  Hinweise  auf  das 
letztendliche Eine, und das sind Sie. Und Vedanta heißt also "das Ende der 
Veden". Anta heißt "Ende", okay? Und das Ende der Veden kam durch die 
Upanishaden.  "Upanishad"  heißt  nicht  Fortsetzung  der  Veden  ­  nein,  dies 
liegt  auf  einer  ganz  anderen  Linie:  Die  Veden  fordern  zur  Entsagung  auf 
und  die  Upanishaden  zur  Freude.  Deshalb  kann  es  keine  Fortsetzung 
geben.  Wie  dem  auch  sei,  was  wollen  Sie  sonst  noch  wissen?  "Wissen 
wollen"  ­  das  ist  seltsam!  Ich  bin  wirklich  erstaunt  darüber,  wie  die 
Menschen immer wissen und wissen und wissen wollen. Und für wie lange 
­  bis  sie  sterben?  Hören  Sie  damit  auf,  all  den  Staub  und  Schmutz  im 
Geiste  anzusammeln.  Wozu?  Haben  die  Menschen  nicht  diese  ganze 
Generation  hindurch  über  die  Veden  und  Advaita  gehört?  Wie  lange 
werden  Sie  noch  darüber  lesen?  Wie  lange  werden  Sie  Ihre  Zeitschrift 
drucken?  Sie  werden  sterben  und  davongehen!  Jeder  wird  sterben  und 
davongehen! Wozu dient es? Oh ja, … vermutlich bringt es Essen auf den 
Tisch. 

W I E: Nun, zumindest werden diejenigen, die das lesen, Ihre Aufforderung 
hören, dass sie aufhören sollen, verstehen zu wollen, und so weiter.

60 
VS:  Das  kann  ich  nur  wünschen  ­  aber  noch  einmal,  sie  werden  nicht 
lesen,  sie  werden  nicht  hören.  Glauben  Sie,  sie  hören  zu?  Nein.  Das 
Einzige,  was  sie  tun,  ist  mit  ihrem  eigenen  Verständnis  an  die  Worte 
heranzugehen,  und  deshalb  werden  sie  letztlich  nur  in  dem  Verständnis, 
das sie ihren Konzepten zufolge bereits haben, bestärkt werden, wenn sie 
denken,  dass  das,  was  sie  gehört  haben,  richtig  ist.  Also  können  sie 
vielleicht denken, dass sie zugehört haben, aber sie haben nicht zugehört 
­ sie haben nur ihre eigene Konditionierung verstärkt. Verstehen Sie, was 
ich sage? 

W I E: Ich glaube schon. 

VS:  Sie  glauben  es!  Ich  hoffe  es.  Aber Ihr  Verstehen  beruht lediglich  auf 
Ihren  eigenen  Wünschen  und  Ängsten,  Ihren  eigenen  Fantasien,  den 
eigenen  Einstellungen  dem  Leben  gegenüber.  Das  Wort  "Einstellung" 
beschreibt etwas Fragmentarisches, eine Unterscheidung, die nur aus dem 
Verstand  kommt.  Aber  das  Leben  ist  keine  Einstellung,  und  das  Leben 
kann  nicht  zerlegt  werden,  um  einer  Einstellung  zu  genügen,  denn  es 
übersteigt  den  Verstand.  Wenn  sich  Ihr  Verständnis  nach  Ihrem  eigenen 
Konzept,  nach  Ihren  eigenen  Einstellungen  richtet,  dann  sind  Sie  vom 
Leben  abgeschnitten  ­  können  Sie  mir  folgen?  Wenn  Sie  daher  nur  über 
bestimmte  Worte  reflektieren,  darüber,  was  die  Rishis  (Weisen)  damit 
meinten,  dann  ist  das  in  Ordnung.  Reflektieren  Sie  über  Advaita, 
reflektieren  Sie  über  Vedanta:  warum  wurde  das  Wort  Advaita  gewählt? 
Was  bedeutet  es?  Ich  spreche  über  Kontemplation,  nicht  über 
Nachdenken.  Es  besteht  ein  Unterschied  zwischen  Denken  und 
Kontemplation.  Was,  glauben  Sie,  ist  der  Unterschied?  Was  ist  der 
Unterschied zwischen Denken – 

W I E: Die Sache ist ­ Dr. Vijai? 

VS: Ja? 

W I E:  Ich  würde  Ihnen  gerne  in  einem  langen  Gespräch  alle  meine 
Gedanken darlegen – 

VS: Wundervoll! 

W I E: Aber für dieses Interview, sehen Sie, ist unsere Zeit leider begrenzt. 

VS: Oh ja, wir sind in Raum und Zeit ­ das ist unser Problem! 

W I E: Ja. Genau. 

VS:  Es  wird  für  Sie  gar  nicht  leicht  werden,  mein  Sohn.  Sie  sind  nicht 
gekommen,  um  mit  einem  Verstand  zu  sprechen.  Sie  tun,  was  Sie 
können,  um  mit  dem  zu  sprechen,  was  darüber  hinausgeht.  Kann  der 
Verstand mit dem sprechen, was über ihn hinausgeht?

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W I E: Lassen Sie es uns doch herausfinden. 

VS:  Nein,  das  geht  nicht.  Bis  jetzt  haben  Sie  es  nicht  geschafft.  Sie 
sprechen in Begriffen von Zeit und Raum, und es bleibt nichts mehr übrig. 

W I E:  Also,  Dr.  Vijai,  das  ist  meine  nächste  Frage  zu  dem,  was  darüber 
hinausgeht – 

VS: Nun, dann stellen Sie sie! Es gibt keine Antworten darauf, mein Sohn. 

W I E:  Meine  Frage  ist:  In  der  Advaita­Lehre  hören  wir  oft,  dass  die  Welt 
eine  Illusion  ist.  Und  ich  hätte  gerne  von  Ihnen  erfahren,  was  das 
bedeutet. 

VS:  Gut.  Sehen  Sie,  unser  Problem  ist,  dass  wir  denken,  dass  es 
außerhalb von uns eine Welt gibt, und dass wir in dieser Welt leben. Aber 
das ist nicht so. Sie sind nicht in der Welt; die Welt ist in Ihnen. Haben Sie 
das  nicht  erkannt ­  schon  wenn  Sie  am  Morgen  die  Augen  öffnen,  taucht 
die Welt auf, und wenn Sie am Abend schlafen gehen, verschwindet sie ­ 
haben Sie erkannt, dass Sie, wenn Sie schlafen, trotzdem existieren? Und 
dass  es  derselbe  ist,  der  im  Schlaf  existiert,  der  auch  im  Wachzustand 
existiert? Wenn die Welt also während der Nacht zu verschwinden scheint, 
und  wenn  man  in  der  Tat  zu  existieren  fortfährt  und  die  Welt  dies 
scheinbar  nicht  mehr  tut,  dann  kann  das  nichts  anderes  bedeuten,  als 
dass der, der du dir am Morgen zu sein einbildest, eine Illusion ist! 

Oder  so.  Wenn  man  in  den  Spiegel  schaut,  sieht  man  doch  nur  ein 
Gesicht, oder nicht? Man hat nicht den Eindruck, dass man zwei Gesichter 
sieht, eines im Spiegel und eines außerhalb des Spiegels. Man ist so völlig 
von  seiner  eigenen  Reflexion  in  Anspruch  genommen,  die  man  für  sich 
selbst  hält,  dass  man  sich  in  diesem  Moment  von  seinem  eigenen 
wirklichen Gesicht löst,  das man  nicht sehen kann.  Wenn  man  aber  nach 
dem  Rasieren  ein  bisschen  Blut  auf  dem  Gesicht hat,  und  wenn man  das 
Blut  auf  dem  Spiegelbild  sieht,  dann  greift  man  nicht  zum  Spiegelbild, 
man greift sich ans Gesicht, oder nicht? In ähnlicher Weise reflektiert das 
Atman  (das  Selbst)  die  gesamte  Welt  durch  den  Spiegel  der  Erkenntnis. 
Das  Problem  ist,  dass  sich  das  "Ich"  dazwischenschiebt,  mit  dem 
Spiegelbild  des  Realen  in  Berührung  kommt  und  dass  man  sich  darin 
verfängt. Es ist so, als wollte man das Blut vom Spiegel wegwischen. Kann 
man das? 

W I E: Nein, natürlich nicht. 

VS: Aber genau das versuchen die Menschen, verstehen Sie? 

W I E: Ja. Das, was Sie sagen, ist sehr klar. 

VS:  Ah,  das  freut  mich  für  Sie!  Wenn  Sie  nach  diesem  Interview

62 
bereichert  weggehen,  bin  ich  glücklich.  Es  wäre  mir  auch  egal,  wenn  Sie 
gar  nichts  in  Ihrer  Zeitschrift  drucken  würden,  das  ist  ja  doch  nur 
schwarze  Tinte  auf  weißem  Papier.  Wenn  jemand in  der  Lage ist, nur  die 
weiße Seite in Ihrer Zeitschrift zu lesen, dann bin ich glücklich. Nicht den 
schwarzen  Druck,  denn  das  ist  ja  doch  nur  eine  Reflexion  aus  dem  "Ich" 
des  Lesers.  Das  wird  also  Illusion  genannt,  und  die  Welt  ist  eine  pure 
Illusion.  Sie  müssen  verstehen,  dass  Sie  Ihre  eigene  Welt  reflektieren, 
Ihre  eigene  Welt  sehen.  Aber  das  ist  einfach  das  Problem,  das  auftritt, 
wenn wir uns nicht für andere Seinszustände interessieren, wenn wir uns 
nur um unseren Wachzustand Gedanken machen und nicht um Tiefschlaf­ 
und  Traumzustand.  Wir  existieren  in  allen  drei  Zuständen,  aber  wir 
kümmern  uns  nur  um  einen  einzigen.  Das  ist  das  Elend  des  Menschen. 
Aber  in  dem  Moment, in  dem  der  Mensch  Zeuge  aller  drei  Seinszustände 
wird, wird er verstehen, dass die Welt nichts als pure Illusion ist. 

W I E:  Einige Gelehrte, mit denen wir gesprochen haben, sind der Ansicht, 
dass Advaita "eine ihr innewohnende Ablehnung gegenüber der Welt" hat, 
weil  sie  den  Begriff  von  der  Welt  als  Illusion  unterstreicht,  und  dass  als 
Ergebnis  davon  die  letztendliche  Verwirklichung  in  der  Advaita  oft  mit 
einer  Weltflucht  gleichgesetzt  wird.  Wenn  möglich,  würde  ich  daher  sehr 
gerne  besser  verstehen,  wie  sich  die  Verwirklichung,  die  Sie  eben 
beschrieben haben, in der Beziehung eines Menschen zur Welt von Raum 
und Zeit ausdrückt. 

VS: Gut. Der erste Punkt ist, dass es keine Menschen gibt. Das muss erst 
einmal  klar  sein.  Sie  sind  ein  spirituelles  Wesen  mit  der  Erfahrung  eines 
Menschen.  Sehen  Sie  sich  nicht  als  ein  menschliches  Wesen,  das  einer 
spirituellen Erfahrung bedarf. Auch das ist eine Illusion. 

Nun sprechen die Menschen von "Weltflucht", aber worum geht es denn? 
Haben  sie  nicht  verstanden,  dass  die  Welt  eine  Illusion  ist?  Was  soll's 
also? Wenn es eine Illusion ist, wem sollte man dann entsagen? Wie kann 
man  einer  Illusion  entsagen?  Dummheit!  Absoluter  Unsinn!  Illusion?  Wo 
ist  das  Problem?  Diese  Illusion  ist  für  sie  da,  damit  sie  sich  an  ihr 
erfreuen.  Haben  Sie  mich  bisher  nicht  klar  verstanden?  Stellen  Sie  sich 
vor,  Sie  selbst  oder  jemand  anders  versucht  zu  flüchten  ­  wohin 
eigentlich?  Auch  in  einer  Höhle  werden  Tausende  und  Abertausende  von 
Gedanken den Geist bombardieren. Man entflieht nie. 

Passen Sie auf. Wenn Sie ins Museum gehen, sehen Sie dort vielleicht ein 
riesiges  Gemälde,  das,  sagen  wir,  eine  alte  Frau  darstellt,  eine 
ausgezehrte  alte  Frau  in  Fetzen,  absolut  Haut  und  Knochen  mit  kaum 
einem Krümel Essen auf ihrem Teller, und ein abgemagertes Baby neben 
ihr  und  ein  großer  sterbender  Hund.  Vielleicht  verhungern  auch  gerade 
einige  Kühe  daneben,  die  Bäume  sind  dürr,  die  Erde  ist  ausgedörrt  und 
alles  scheint  hier  total  widerwärtig.  Aber  da  steht  dann  ein  Mann  vor 
diesem Bild und sagt: "Ein Meisterwerk!" Sagt er das oder nicht?

63 
W I E: Ja, das nehme ich an. 

VS: Und da ist vielleicht auch ein Blutender mit einem gebrochenen Bein 
und  der  Mann  sagt  noch  immer:  "Ein  Meisterwerk!"  Er  wird  nie  sagen: 
"Oh, diese Frau tut mir so leid, ich hole jetzt eine Pizza und gebe sie ihr zu 
essen.  Dieser  Mann  blutet,  ich  bringe  ihn  ins  Krankenhaus.  Der  Hund 
stirbt,  ich  bringe  ihn  in  die  Tierklinik  oder  zum  Tierarzt  oder  wo  auch 
immer  hin."  Nein  ­  er  sagt:  "Es  ist  ein  Meisterwerk!"  In  derselben  Weise 
hat  Gott  dieses  ganze,  sich  ständig  verändernde  Panoramabild  gemalt, 
das nie konstant ist, sondern ständig weiter und weiter geht. Er hat Sein 
Meisterwerk  nie  vollendet,  aber  Er  ist  zu  jeder  Zeit  in  jedem,  der  sich 
daran  erfreut  und  es  genießt,  denn  es  ist  ja  nur  ein  Gemälde.  Der 
Umstand,  dass  man  selbst  in  diesem  Gemälde  mitwirken  will  und  es  für 
real hält, ist das Problem, das so viel Leid für jeden Einzelnen und für alle 
entstehen lässt. Verstehen Sie? 

W I E: Nun, ja. Ich verstehe, was Sie sagen – 

VS:  Gut  für  Sie.  Es  gibt  also  nichts,  dem  entsagt  werden  müsste,  und 
nichts ist zu tun. Seien Sie einfach Sie selbst und finden Sie heraus, wer 
Sie  sind.  Das  ist  das  Ende  jeden  Problems  auf  der  Welt.  Wissen  Sie,  es 
gibt  keine  Probleme im Leben ­ das  einzige  Problem ist  das Denken.  Das 
Leben ist kein Problem; das Leben ist ein Mysterium. Das Leben ist Musik. 
Das  Leben  ist  Tanz.  Durch  dieses  Mysterium  lebt  diese  Musik  und  lebt 
dieser  Tanz.  Erfreuen  Sie  sich  an  Shivas  kosmischem  Tanz!  Das  ist 
Advaita  für  Sie!  In  dem  Moment,  wo  Sie  zur  Musik  werden,  wo  Sie  zum 
Tanz  werden,  in  dem  Moment,  in  dem  Sie  das  Fließen  des  Wassers 
werden,  die  Festigkeit  des  Felsens,  der  Duft  der  Blume,  in  dem 
Augenblick,  in  dem  Sie  das  Blühen  der  Blume  werden,  sind  Sie  Advaita. 
Können Sie mir folgen? Aber angenommen, Sie sehen eine schöne Blume, 
und wenn Sie plötzlich ein Gefühl von Schönheit in sich spüren, sagen Sie: 
"Eine schöne Blume!" Was ist da geschehen? Können Sie mir das sagen? 

W I E:  Nun,  einerseits  scheint  es  etwas  Schönes  zu  sein.  Man  findet 
Gefallen an etwas – 

VS: Und das ist Ihr Problem! In dem Moment, in dem man ein Wort sagt, 
kommen  die  Dinge  zum  Stillstand,  und  Sie  sind  in  Ihre  Vergangenheit 
eingetaucht.  Wir  führen  ein  totes  Leben,  das  nur  aus  Bildern  aus  der 
Vergangenheit besteht und nicht aus dem Leben, so wie es direkt vor uns 
in  seiner  Herrlichkeit  erblüht.  Das  entgeht  uns.  Wir  sind  immer  in  der 
Vergangenheit.  Wir  schütteln  in  jeder  Minute  einer  Leiche  die  Hand.  Wir 
denken,  wir  leben  das  Leben,  aber  es  ist  nicht  so.  Die  Schönheit  in  der 
Blume  ist  Gott,  sehen  Sie?  Gott  ist  keine  Person;  Gott  ist  eine  Präsenz. 
Gott ist die Göttlichkeit, die nur jetzt, in diesem Augenblick JETZT da ist ­ 
nicht in  der  Vergangenheit,  nicht in  der  Zukunft. Der  Augenblick,  in  dem 
man im  Verstand ist, ist nicht  Advaita. Aber  der  Augenblick, in  dem man 
nur in einem­Augenblick­zum­nächsten ist, das ist Advaita.

64 
W I E:  Manche  Advaita­Lehrer  sagen,  dass  ein  Mensch,  der  das  Selbst 
verwirklicht  hat,  über  weltliche  Unterscheidungen  wie  gut  und  böse  oder 
richtig und falsch hinausgegangen sein und dass ein solcher Mensch in der 
Tat niemandem Rechenschaft abzulegen habe. Einer dieser Lehrer ging so 
weit  zu  sagen,  dass  ein  solcher  Mensch  nicht  einmal  Gott  gegenüber 
Rechenschaft abzulegen hätte. Was sagen Sie dazu? 

VS:  Schon  wieder  lauter  falsche  Konzepte!  Niemand  kann  ein  "Advaita­ 
Lehrer"  sein.  In  dem  Moment, in  dem ein  Lehrer  kommt, heißt  das,  dass 
da  ein  Schüler  ist.  Das  ist  in  keiner  Weise  Advaita,  Punkt  eins.  In  dem 
Moment, in dem er sagt, er ist ein Lehrer, laufen Sie rasch weg! Verstehen 
Sie, was ich sage? 

W I E: Was den Lehrer betrifft, ja. 

VS: Und was war der andere Punkt, den Sie erwähnten? 

W I E: Dass ein selbstverwirklichtes Individuum – 

VS: "Ein selbstverwirklichtes Individuum" ­ wenn er selbstverwirklicht ist, 
wie  kann  er  dann  ein  Individuum  geblieben  sein?  Das  ist  ganz  und  gar 
abwegig!  Advaita  heißt:  aufzuhören,  dieselben  alten  Worte  weiter  zu 
verwenden  und  nicht  zu  wissen,  was  sie  bedeuten.  "Das 
selbstverwirklichte Individuum" ­ das ist falsch. Gut, ist auch egal. Um des 
Interviews willen, okay. Was sagt er also? 

W I E:  Dass sie niemandem Rechenschaft abzulegen haben ­ dass sie über 
Unterscheidungen  wie  gut  und  böse  oder  richtig  und  falsch 
hinausgegangen  seien  und  dass  sie  nicht  einmal  Gott  Rechenschaft 
abzulegen bräuchten. 

VS:  Genau.  "Gut"  oder  "böse"  gibt  es  nicht.  Das  sind  nichts  als  nur  Ihre 
geistigen  Konzepte.  Nur  deshalb,  weil  Sie  denken,  Sie  seien  ein  Mensch 
und Gott sei anderswo, meinen Sie, Sie seien Gott Rechenschaft schuldig. 
Glauben Sie, Gott ist ein Jurist? Glauben Sie, Gott ist ein Voyeur? Glauben 
Sie,  Gott ist  ein  Diktator,  der  darauf  wartet,  Sie  zu  bestrafen?  Und  dann 
sagen  Sie:  "Gott  ist  überall."  Wenn  Gott  überall  ist,  wer  sind  Sie  dann? 
Weil  Sie  glauben,  Sie  seien  ein  Mensch,  der  spirituelle  Erfahrungen 
braucht, verstricken Sie sich in den Konzepten von gut und böse und oben 
und  unten und links und  rechts  und innen  und  außen.  Aber  nichts  davon 
gibt  es,  auch  ohne  Verwirklichung.  Wenn  Sie  glauben,  Sie  müssten  Gott 
Rechenschaft  ablegen,  wer  sind  Sie  dann?  Sind  Sie  von  Gott  getrennt? 
Das  heißt  dann,  Gott  ist  nicht  überall.  Vergessen  Sie  es!  Sagen  Sie 
niemals:  "Gott  ist  überall."  In  dem  Moment,  in  dem  Sie  sagen:  "Gott  ist 
überall", existieren Sie nicht mehr. Natürlich existieren Sie nicht. Gott ist 
überall.  Sie haben  Ihr  wahres  Wesen  vergessen,  und  weil  Sie  Ihr  wahres 
Wesen  vergessen  haben,  sagen  Sie,  Sie  müssen  Gott  Rechenschaft 
ablegen. Aber in dem Moment, in dem Sie Gott erkennen, gibt es Sie nicht

65 
mehr,  wem  sollten  Sie  also  Rechenschaft  ablegen?  Ein  Selbstver­ 
wirklichter,  der  den  Geist  transzendiert  hat,  ist  eben  keine  Rechenschaft 
schuldig. Warum? Weil er Gott ist. Wie kann Gott sich selbst Rechenschaft 
ablegen müssen? Es gibt nichts, das Sünde heißt, es gibt nichts, das Gier 
heißt ­ wie können diese Dinge in einem Gemälde existieren? Jemand geht 
ins Museum und sagt: "Dieses Gemälde ist nicht gut. Dieses Bild ist sehr 
gut."  Sie  hingegen  meinen,  er  irrt  sich:  dieses  ist  gut,  das  andere  ist 
schlecht.  Was  ist  es  nun?  Es  ist  das  eigene  Konzept,  die  eigene 
Einstellung, das eigene geistige Kolorit. Okay, gut für Sie. Lassen Sie das 
jetzt  alles  sein  und  gehen  Sie  über  den  Geist  hinaus.  Dann  werden  Sie 
Gott  erkennen.  Dann  werden  Sie  wissen,  was  "Selbstverwirklichung" 
bedeutet. 

Wissen  Sie,  was  Selbstverwirklichung  heißt?  Sie  haben  "Was  ist 


Erleuchtung?". Was ist also Erleuchtung? Sie wissen nicht einmal, was es 
ist,  und  drucken  es.  Fantastisch!  Wunderbar!  Blinde  führen  Blinde.  "Geht 
alle  weiter,  weiter,  weiter;  kommt  zum  Abgrund  und  genießt  den  Sturz." 
So  ist  das.  "Erleuchtet"  heißt,  wirklich  zu  erkennen,  dass  es  nichts  gibt, 
was  Unwissenheit  heißt,  okay?  Kauen  Sie  mal  daran.  An  diesem  einen 
Wort.  Wenn  Sie  es  gut  durchkauen,  werden  Sie  aufhören,  irgendwelche 
Interviews  mit  irgendwelchen  Leuten  zu  machen.  Sie  werden  es  werden. 
Sie  werden  über  den  Verstand  hinausgehen.  Wissen  Sie,  dass  es  nichts 
gibt,  das  Unwissenheit  heißt?  Wissen  Sie,  was  Unwissenheit  ist?  Okay, 
vergessen  Sie  es.  Ich  will  ja  nicht,  dass  Ihr  Interview  ein  Flop  wird.  Ich 
will nicht, dass Sie Ihren Job verlieren. 

W I E:  Ist  das  Verstehen,  dass  es  so  etwas  wie  Unwissenheit  nicht  gibt, 
tatsächlich  dasselbe  wie  voll  selbstverwirklicht  zu  sein  ­  oder  steckt  da 
noch mehr dahinter? 

VS:  Sehen  Sie,  es ist  so:  Sie haben  Ihr  wahres  Wesen  vergessen,  okay? 
Und  Sie  brauchen  sich  nur  auf  Ihr  wahres  Wesen  zu  besinnen  ­  mehr 
brauchen Sie nicht zu tun. Aber die Methode, um das zu tun, besteht nicht 
darin,  zu  versuchen,  sich  ständig  daran  zu  erinnern,  denn  das  ist  dann 
erneut nichts anderes als ein weiteres mentales Konzept. Nein, Sie können 
Ihr wahres Wesen nur dadurch erkennen, dass Sie all das verneinen, von 
dem  Sie  glauben,  dass  Sie  es  sind,  und  in  dem  Augenblick,  in  dem  Sie 
alles  verneinen,  von  dem  Sie  glauben,  dass  Sie  es  sind,  oder  von  dem 
man  Ihnen  gesagt  hat,  dass  Sie  es  sind,  dann  werden  Sie  bei  dem 
ankommen, was Sie wirklich sind. Und in dem Augenblick, in dem Sie zu 
dem  Wissen  gelangen,  wer  Sie  sind,  kommen  Sie  in  einen  Zustand,  in 
dem Sie nie wieder ein Wort sagen werden. 

W I E: Wie bitte? 

VS:  In  dem  Augenblick,  in  dem  Sie  alles  vollständig  verneint  haben, 
gelangen  Sie  in  einen  Zustand,  in  dem  Sie  niemals  darüber  sprechen 
werden,  niemals  sagen  werden,  dass  Sie  verwirklicht  sind,  oder  dieses

66 
oder  jenes  oder  etwas  anderes.  Wenn  eine  Glühbirne  brennt,  spricht  sie 
dann  von  der  Dunkelheit?  Weiß  die  Sonne,  wenn  sie  scheint,  von  ihrem 
eigenen  Strahlen?  Wenn  die  Blume  blüht,  kennt  sie  ihren  eigenen  Duft? 
Kann  die  Zunge ihren eigenen  Geschmack  erkennen?  Kann  sich  ein  Auge 
selbst sehen? Kann sich ein Messer selbst schneiden? Kann sich ein Dieb, 
der  vor  der  Polizei  wegläuft,  in  einen  Polizisten  verwandeln  und  selbst 
fangen?  So  ist  das.  Kapiert?  Da  sind  wir  an  einem  wundervollen  Punkt 
angelangt. Jetzt macht mir das Ganze Spaß. 

W I E: Aber wenn Sie nicht darüber sprechen, wie helfen Sie dann anderen 
dabei, das zu verwirklichen, was Sie verwirklicht haben? 

VS:  Was  habe  ich  verwirklicht?  Ich  weiß  es  nicht.  Es  ist  ein  großartiger 
Scherz.  Oh  wunderbares  Leben,  ich  danke  dir  dafür,  dass  du  mich  zum 
Lachen  bringst.  Ich  weiß  nicht,  wozu  die  Menschen  hierher  kommen.  Ich 
lehre  sie  nichts,  kommt  gar  nicht  in  Frage!  Ich  lehre  sie  nie  etwas.  Wer 
sollte  lehren?  Was  sollte  gelehrt  werden?  Es  gibt  nichts  zu  lehren,  mein 
Freund. Was wollen Sie über eine Illusion lehren? Du meine Güte, das ist 
so  ein  törichter  Unsinn.  Ich  weiß  nicht,  warum  die  Menschen  immer  so 
weitermachen. Gestern habe ich ein sehr nettes sieben Seiten langes Fax 
von einem sehr vornehmen Herrn bekommen, der einige Zeit in der Nähe 
dieses  Körpers  verbracht  hat.  „In  Vijais  Gegenwart  zu  sitzen  ist  eine 
einzigartige  Erfahrung“  –  das  sagt  er  jedenfalls.  „Er  stellt  nie 
Anforderungen  an  seine  Zuhörer,  und  deshalb  ist  die  natürliche  Reaktion 
auf ihn völlige Offenheit, ein Zustand, der viele Menschen erstaunt, wenn 
sie ihn entdecken. Mit Vijai verflüchtigt sich in dieser Arena der Einheit die 
Dualität  und  macht  einer  allmählichen  Vereinigung  Platz.  Seine  Methode 
ist  eine  Art  von  Basis­Spiritualität;  ohne  Rücksicht  auf  Fragen,  die  ihm 
gestellt  werden,  bringt  er  den  Fragenden  zu  diesem  einen  wahren, 
wonnevollen Zustand zurück, in dem sich Menschen glücklich fühlen.“ Sie 
sehen also, es geschieht ganz einfach. Ich tue nichts. Gar nichts. 

W I E: Und was geschieht? 

VS: Das weiß ich nicht. Sie sagen, sie fühlen sich glücklich. Alle gehen ins 
Kino,  um  Spannung  zu  erleben,  nicht  wahr?  Wahrscheinlich  kommen  die 
Menschen  also  hierher,  um  sich  glücklich  zu  fühlen.  Warum  möchten  Sie 
glücklich  sein?  Können  Sie  mir  das  sagen?  Weil  Glück  Ihre  wahre  Natur 
ist. Aber der Ort, an dem Sie es suchen, ist nicht der richtige. Es ist nicht 
da  draußen,  es  ist  in  Ihnen.  Also  suchen  die  Menschen  wahrscheinlich  in 
ihrem  eigenen  Inneren,  wenn  sie  hierher  kommen.  Aber  ich  weiß  nicht, 
was geschieht. Sie stellen mir einige weltliche Fragen, so wie Sie gerade, 
und ich stelle nur ihren Kompass richtig ein, das ist alles. 

W I E: Vielen Dank. Eine letzte Frage?

67 
VS:  Gibt  es  so  etwas  wie  eine  letzte  Frage?  Wenn  Sie  sagen,  es  ist  die 
letzte, dann dürfen Sie in Ihrem ganzen Leben keine Fragen mehr stellen. 
Okay, bitte schön! 

W I E:  Gibt  es  irgendwelche  Handlungen,  von  denen  wir  mit  Sicherheit 
sagen könnten, dass sie ein verwirklichter Mensch nicht ausführen würde? 
Gewalt  zum  Beispiel,  Töten,  Unehrenhaftigkeit  oder  eine  Handlung,  die 
einem anderen Menschen Schaden zufügt? 

VS:  Hören  Sie  zu.  Gibt  es  Unehrenhaftigkeit?  Gibt  es  tatsächlich  ein 
Töten?  Gibt  es  tatsächlich  ein  Verbrechen?  Denken  Sie  darüber  nach. 
Überlegen  Sie  es  sich  gut,  bevor  Sie  überhaupt  so  etwas  sagen.  Wie 
könnte der Verstand jemals den erkennen, der ihn transzendiert hat? Wie 
könnte  er  es?  Es  ist  nur  eine  Ausdehnung  des  Begrenzten  ins 
Unbegrenzte. Das Einzige, was man also von ihm sagen kann, ist, dass er 
unberechenbar  sein  wird.  Man  kann  ihn  nicht  vorausberechnen,  denn  er 
schwebt im Jetzt. 

W I E:  Halten  Sie  es  dann  für  möglich,  dass  ein  solches  Individuum,  das 
derart unberechenbar ist, in der Tat eine Handlung ausführen könnte, die 
– 

VS: Für Sie ist es eine Handlung. Für ihn ist es das nicht. Hier irren Sie. Es 
gibt keine äußeren Handlungen, mein Freund. Es scheint Ihnen nur so. Sie 
hängen  daran.  Sie  glauben,  es  geschieht  dort.  Sie  glauben,  er  tut  es. 
Kümmern  wir  uns  gar  nicht  darum.  Alles  geschieht  einfach.  Alles ist,  wie 
es  ist.  Es  ist  nur  dieses  Gemälde  und  es  wird  weitergehen.  Sie  werden 
glauben, dass da draußen etwas passiert – etwas Böses, eine Sünde, eine 
Gewalttat,  aber  das  ist  Ihr  Problem.  Die  Bhagavad  Gita  sagt:  „Alles,  was 
geschieht,  geschieht  zum  Besten.  Das,  was  geschehen  ist,  ist  ebenfalls 
gut.  Das,  was  geschehen  wird,  ist  ebenfalls  gut.  Sie  sind  nicht  der 
Handelnde.  Der Herr ist  der  Handelnde.  Er  beobachtet  alles.“  Das ist  das 
Leben.  Das  Leben  ist  ein  Mysterium;  lebe  es,  interpretiere  es  nicht.  In 
dem  Moment,  in  dem  man  es  interpretiert,  geht  man  fehl.  Es  ist  um 
Himmels  willen  nichts  anderes  als  Gott,  der  sich  überall  manifestiert!  Er 
amüsiert  sich  nur.  Ich  werde  Ihnen  etwas  sagen:  Möchten  Sie  Gott  zum 
Lachen bringen? 

W I E:  Klar.  Ich  habe  das  Gefühl,  das  haben  wir  ohnehin  die  ganze  letzte 
Stunde getan. 

VS: Wissen Sie was? Wenn Sie Ihm von Ihren Plänen erzählen, dann lacht 
Gott.  Erzählen  Sie  Gott  von  Ihren  Plänen,  und  er  wird  sich  köstlich 
amüsieren. 

Denken wir also nicht. Lassen Sie uns im Hier und Jetzt sein. Das genügt. 
Das  ist  absolut  ausreichend.  Sie  sind  ein  spirituelles  Wesen  mit  der 
Erfahrung  eines  Menschen.  Hören  Sie  jetzt  damit  auf,  mein  Sohn.  Hören

68 
Sie  jetzt  damit  auf  und  alles  wird  für  Sie in  Ordnung  sein.  Ich  würde  Sie 
so  gerne  in  einem  anderen  Zustand  sehen,  in  Ihrem  wahren  Zustand, 
wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Das wäre schön. Es gibt nichts, 
zu dem Sie eines Tages werden. Wenn Sie zu etwas werden sollten, wird 
das  das  Ende  sein  –  der  Tod.  Jeder  wird  der  werden,  der  er  ist.  Was  ist 
das Problem dabei? Ich sehe kein Problem. Hören Sie – eins noch. Haben 
Sie Spaß gehabt? 

W I E: Ja, sehr sogar. 

VS:  Das  ist  sehr  wichtig.  Ich  sage  Ihnen  etwas:  Werfen  Sie  doch  das 
ganze  Interview  in  den  Papierkorb!  Was  gibt  es  Wichtigeres  als  Spaß  zu 
haben?  Denken  Sie über  dieses  Vergnügen  nach.  Stellen  Sie  sich  diesem 
Vergnügen. Seien Sie in diesem Vergnügen. Das wird Ihnen mehr nützen.

69 
Buddhismus 

Buddhismus  findet  im  Westen  gerade  sehr  rasche  Anerkennung  als 


glaubhafter  spiritueller  Weg.  In  der  Tat  scheint  es  die  Lehre  des  Buddha 
zu sein, die von allen spirituellen Philosophien, die vom Osten her in unser 
kollektives  Bewusstsein  Eingang  gefunden  haben,  die  größte  Wirkung  auf 
die westliche Psyche hat. Angefangen mit den leidenschaftlichen Appellen 
des  Dalai  Lama  an  uns  alle,  doch  mitfühlender  miteinander  umzugehen, 
bis zu dem phänomenalen Ansteigen des Interesses an der buddhistischen 
Meditation der „Achtsamkeit“ ? nicht nur als Mittel, um das, was wir tun, 
bewusster  zu  tun,  sondern  auch  als  Methode,  um  dem  physischen 
Schmerz  einer  lebensbedrohlichen  Krankheit  zu  begegnen  ?  der 
wachsende Einfluss des Buddhismus ist überall spürbar. Und in dem Maße, 
in  dem  immer  mehr  Menschen  die  tiefe  Weisheit  von  Buddhas  Lehre 
entdecken,  wird  die  Aura  des  „Befremdlichen“  und  „Geheimnisvollen“ 
langsam  aber  sicher  durch  ein  Anerkennen  der  tiefen  Rationalität  und 
befreienden  Klarheit  ihrer  Sichtweise  der  menschlichen  Konditionierung 
ersetzt. 

Es  kam  einer  Provokation  gleich,  für  diese  Ausgabe  von  Was  ist 
Erleuchtung?  den  postmodernen  Zustand  des  Buddhismus  im  Westen 
unter  dem  Blickwinkel  „Gibt  es  überhaupt  jemanden, der weiß, wovon  er 
spricht?“  zu  beleuchten.  Warum?  Weil  die  Frage  „Was  ist  Erleuchtung?“ 
einen  sehr  direkten  Bezug  zum  Buddhismus  hat  schließlich  und  endlich 
wird das Wort „Erleuchtung“ ja verwendet, um den Zustand von Buddhas 
Erwachen  zu  beschreiben.  Und  am  erstaunlichsten  im  Rahmen  dieser 
ganzen  Problematik  war  es  festzustellen,  dass  ers­tens  in  den  vielen 
verschiedenen  buddhistischen  Denkschulen  eine  beträchtliche  Uneinigkeit 
darüber  zu  herrschen  scheint,  was  Erleuchtung wirklich ist.  Und  zweitens 
gibt  es  offenbar  nur  wenige  postmoderne  westliche  Buddhisten,  die  die 
Möglichkeit von Erleuchtung ernsthaft in Erwägung ziehen! 

Es  scheint,  als  wäre  die  wachsende  Attraktivität  des  Buddhismus  sehr 
stark  darauf  zurückzuführen,  dass  es  sich  dabei  allem  Anschein  nach  um 
eine überaus rationalistische Philosophie handelt, die das eigene Bemühen 
betont und frei ist von einer obersten Gottheit oder einem Absoluten. Die 
oft  zitierten  letzten  Worte  von  Buddha  „Sei  Dir  selbst  ein  Licht“  lösen  in 
den  Herzen  und  den  Köpfen  so  vieler  Menschen,  denen  der  Begriff  eines 
jüdisch­christlichen Gottes, der oft Gefühle von Schuld, Scham und Furcht 
einflößt  und  diejenigen  verdammt,  die  nicht  aus  vollstem  Herzen  und 
kritiklos  glauben  können,  ein  lautes  „Ja“  aus.  In  der  Tat  wird  die 
Möglichkeit,  an  nichts  glauben  zu  müssen,  um  Spiritualität  zu  erfahren, 
sehr  oft  als  willkommene  Erleichterung  empfunden.  Und  die  Gelegenheit, 
für  sich  selbst  herauszufinden,  was  der  Buddha  damit  meinte,  als  er 
sagte: „Ich bin erwacht“, ist sehr verlockend.

70 
Der  Buddha  beschrieb  seine Erleuchtung  als  das  Aufhören von  Verlangen 
und  Begehren  und  stellte  schlicht  und  lakonisch  fest,  dass  Erleuchtung 
durch  das  Aufhören  von  Verlangen und  Begehren  erreicht  werden  könne. 
„Ich  bin  der,  der  alles  transzendiert  hat,  der  alles  weiß  und  in  allen 
Vorstellungen  ohne  Makel  ist,  der  allem  entsagt  hat  und  befreit  ist,  weil 
alles Verlangen zu einem Ende gekommen ist. Und das habe ich mir selbst 
zu  verdanken.  Wem  sollte  ich  es  anrechnen?  „In  der  Welt  bin  ich  der 
Lehrer  ohne  einen  Gleichen;  auch  bin  ich  vollendet;  ich  allein  bin 
erleuchtet,  mein  Durst  ist  gestillt,  alle  meine  Feuer  sind  erloschen.“ 
Parallel  zu  seiner  Lehre  (er  nannte  sie  „Das  Gesetz“),  dass  allein  das 
Begehren  Ursache  aller  Unwissenheit  ist,  entwarf  er  einen  präzisen,  aus 
acht Anordnungen bestehenden spirituellen Weg, dem er den Namen „Der 
edle  achtfache  Pfad“  gab.  Diese  Anordnungen  sind:  rechte  Anschauung, 
rechte Absicht, rechte Rede, rechtes Handeln, rechte Lebensweise, rechtes 
Bemühen, rechte Achtsamkeit und rechte Konzentration. 

Während  es im  Buddhismus  keine  oberste  Gottheit  gibt  ­ alle  Buddhisten 


betonen  nachdrücklich  die  Tatsache,  dass  es  kein  Selbst  gibt,  weder 
persönlich noch absolut –, sagt uns der Buddhismus, dass an Stelle eines 
höchsten  Gottes,  oder  eines  absoluten  Prinzips,  das  letztendliche  Wesen 
von  allem,  sei  es  manifest  oder  nicht  manifest,  sichtbar  oder  unsichtbar, 
Leere  sei.  „Form  ist  Leere  und  Leere  ist  Form“,  erklärte  Buddha  den  um 
ihn  Versammelten  auf  dem  Geierberg.  Diese  Tatsache  –  dass  Leere  oder 
Nichts  dem  Sein  oder  der  Existenz  zugrunde  liegt  –  ist  eines  der 
hervorstechenden  Merkmale  der  buddhistischen  Doktrin.  Denn  es  heißt, 
dass durch das direkte Erkennen, dass alle Phänomene von ihrem Wesen 
her  leer  sind,  die  Befreiung  aus  der  bedingten  Existenz  erreicht  werden 
kann.  Nirwana,  mittlerweile  ein  durchaus  alltäglicher  Begriff  für  den 
Himmel  oder  für  einen  Zustand  vollendeten  Glücks,  wird  als  der  Zustand 
gesehen,  in  dem  der  Erleuchtete  weilt.  Dieser  Zustand  wurde  als 
„Unbedingtheit“ oder auch „Unsterblichkeit“ beschrieben. 
Als wir der Frage „Was ist Erleuchtung?“ Gibt es überhaupt jemanden, der 
weiß,  worum  es  geht?  nachgingen,  war  es  für  uns  sehr  interessant 
festzustellen,  dass  es  im  Buddhismus  zutiefst  kontroverse  Auffassungen 
hinsichtlich  des  wirklichen  Wesens  des  „ultimativen“  Seinszustandes  gibt. 
So  existieren  zum  Beispiel  allein  innerhalb  des  tibetischen  Buddhismus 
einige  Schulen,  die  behaupten,  dass  „Leere“  eine  transzendente  absolute 
Realität  voraussetzt,  die  schon  von  Natur  aus  vorhanden  ist,  während 
andere  darauf  beharren,  dass  absolut  überhaupt  nichts  von  Natur  aus 
existiert.  Von  dem  Gesichtspunkt  aus  gesehen,  dass  man  zu  einem 
gewissen Verständnis kommen möchte, was Erleuchtung wirklich ist, sind 
dies  keine  Kleinigkeiten!  Das  Erlangen  von  Erleuchtung  bringt  eine 
grundlegende  und  beständige  Verlagerung  im  Bewusstsein  des  Menschen 
mit  sich,  die  in  drastischem  Gegensatz  zum  nicht  erleuchteten  Zustand 
steht. Es ist daher von sehr großer Bedeutung, worauf diese Verlagerung 
tatsächlich beruht, und es macht die ganze Frage, was Erleuchtung ist und 
was diejenigen, die davon wissen, dazu zu sagen haben, so wichtig.

71 
Als Ergebnis der weit verbreiteten Desillusionierung im Bereich von Politik 
und Religion leben wir in einer Zeit, wo eine nahezu fest verankerte Furcht 
und Skepsis gegenüber allem existiert, was von sich behauptet, absolut zu 
sein. Für viele stellt der zeitgenössische Buddhismus einen Weg der tiefen 
Selbsterforschung  dar,  der  diese  Art  von  Extrem,  wie  es  scheint, 
vermeidet.  Aber  ist  das  wirklich  so?  Schließlich  impliziert  der  sehr 
buddhistische  Begriff  von  Erleuchtung  automatisch  etwas  Absolutes, 
einfach deshalb, weil jemand entweder erleuchtet ist oder nicht – man ist 
nicht ein bißchen erleuchtet! 

Im Aufwallen des westlichen Interesses an Buddhismus in der letzten Zeit 
gab  es  etwas,  das  Helen  Tworkov,  die  Begründerin  der  buddhistischen 
Zeitschrift  Tricycle,  eine  „Säkularisierung  der  (buddhistischen)  Lehre“ 
nennt. „Es gibt nur ganz wenige Menschen, die bereit sind, tatsächlich so 
weit zu gehen, ein wirklich reifes authentisches nonduales und autonomes 
Leben zu leben“, sagt sie. „Sehr wenige Menschen sind daran interessiert, 
Erleuchtung  zu  erlangen,  sehr  wenige  Menschen  sind  daran  interessiert, 
sich  selbst  aufzuwecken,  sehr  wenige  Menschen  sind  daran  interessiert, 
wahrhaftig  in  einer  nondualen  Sichtweise  zu  leben.  Wenn  man  also  von 
‚Erleuchtung‘ spricht, spricht man nur von einer Hand voll Menschen. Und 
gleichzeitig  leidet  die  ganze  übrige  Menschheit,  und  man  tut,  was  man 
kann,  um  eine  Umgebung  oder  ein  Bewusstsein  zu  schaffen,  das  dazu 
beiträgt,  diese  Situation  zu  erleichtern.“  In  der  Tat  ist  es  bezeichnend, 
dass der Buddhismus, der vor zwanzig Jahren von vielen jungen Menschen 
im  Westen  als  authentischer  Erleuchtungsweg  erkannt  wurde,  allmählich 
in erster Linie eine säkularisierte Form von Spiritualität geworden ist, mit 
der Tendenz, die ethische Entwicklung und die persönliche Erfüllung über 
den Tod des Ego und das Transzendieren der Welt zu stellen. Während der 
Buddhismus noch vor kurzer Zeit als eine tief befreiende Alternative zum 
erstickenden Einfluss des jüdisch­christlichen Dogmas gesehen worden ist, 
erfüllt er mittlerweile für viele Menschen im Westen auf dieselbe Art eine 
Funktion als Religion wie für Millionen im Osten. 

Das  Herz  des  Buddhismus  ist  schon  immer  die  Erleuchtung  des  Buddha 
gewesen,  vielleicht  ist  jedoch  das  von  ihm  Erreichte  –  das  das  Rad  des 
Dharma  in  Bewegung  setzte  –  in  Vergessenheit  geraten.  Um  es  noch 
einmal zu sagen, ein Großteil der Attraktivität des Buddha Dharma für den 
westlichen Geist ist seine tiefe Rationalität und Betonung auf dem eigenen 
Bemühen  –  und  aus  diesem  Grund  könnte  es  für  viele  so  aussehen,  als 
stelle das, was Buddha lehrte, überhaupt keine Gefahr für unsere liberalen 
und  egalitären  Ideale  dar.  Und  dennoch  –  die  absoluten  Konsequenzen 
von  Buddhas  Erleuchtung  müssten  unsere  grundlegende  Weltsicht 
eigentlich  in  irgendeiner Weise  bedrohen.  Wenn  das  nicht  der  Fall ist, ist 
dann  nicht  der  eigentliche  Kern  aus  Buddhas  Lehre  herausgenommen 
worden – und bleiben somit für uns nicht nur ein Körper und ein Verstand 
übrig,  die  von  ihrer  Quelle  getrennt  sind?  Oder  ist  die  Reise  des 
Buddhismus  in  den  Westen,  wie  es  uns  manche  Menschen  glauben 
machen,  nichts  anderes  als  eine  weitere  originelle  und  kreative

72 
Ausdrucksform  der  Lehre  des  Buddha,  die  sich  stets  an  neue  und  sich 
verändernde Gegebenheiten anpasst? 

Wir  sprachen  mit  einigen  der  brillantesten  Köpfe  des  heutigen 


Buddhismus, um Antworten auf einige dieser sehr provokanten Fragen zu 
bekommen. 

Keine unabhängige Existenz 
Ein Interview mit Sein er H eiligkeit dem 
Dalai Lama 
von Amy Edelstein 

Einleitung 

Wenn  man  die  Möglichkeit  hätte,  einen  Zeitgenossen  dazu  zu  befragen, 
was  der  Kern  von  Buddhas  Erleuchtungslehre  wirklich  ist,  dann  würde 
man  sich  höchstwahrscheinlich  an  den  Mönch  Tenzin  Gyatso  wenden. 
Und  so  begann  eine  Serie  von  Faxnachrichten  und  Telefonaten  in  die 
Bergenklave  von  Dharamsala,  Sitz  der  tibetischen  Exilregierung  und 
Aufenthaltsort  Seiner  Heiligkeit,  des  XIV.  Dalai  Lama.  Der  Dalai  Lama  ist 
in  der  heutigen  Zeit  die  wohl  gefragteste  Persönlichkeit  des  öffentlichen 
Lebens,  und  von  allen  Seiten  erhält  er  Terminanfragen,  angefangen  von 
Reportern der New York Times und Filmproduzenten aus Hollywood bis zu 
Vertretern  der  Vereinten  Nationen  und  Staatsoberhäuptern.  Neben  all 
seinen  weltlichen  Verpflichtungen  ist  der  Dalai  Lama  auch  das  spirituelle 
Oberhaupt des tibetischen Volkes, aktives Oberhaupt der vier Hauptsekten 
des  tibetischen  Buddhismus  und  die  Person,  an  die  sich  seine  bedrängte 
Nation  zur  Stärkung  des  Glaubens,  der  Inspiration  und  um  Führung 
wendet. 

Der Dalai Lama empfing die Weihe in der Gelugpa­Schule des tibetischen 
Buddhismus.  Die  Gelugpa­Linie,  die im vierzehnten  Jahrhundert  von  dem 
großen Gelehrten Je Tsongkhapa gegründet wurde, ist besonders für ihre 
scholastischen  Interpretationen  der  buddhistischen  Lehre  bekannt.  Die 
klösterliche  Ausbildung  umfasst  viele  Jahre  strengen  Studiums, 
Auswendiglernens und der Erörterung. 

Tenzin Gyatso begann seine Ausbildung bereits als Kind, und wenn er über 
sich  selbst  auch  schreibt,  dass  er  ein  schlechter  Schüler  war,  glänzte  er 
doch sowohl in der Erörterung als auch bei seinen schwierigen Prüfungen.

73 
Er  hält  jetzt  Vorträge,  gibt  Buddhismus­Praktizierenden  tantrische 
Einweihungen  (die  esoterischen  Praktiken  des  Buddhismus)  und  hält 
manchmal  Versammlungen  ab,  an  denen  mehr  als  100.000  Mönche, 
Nonnen  und  Laien  teilnehmen,  die  gespannt  auf  seine  Erklärungen, 
Anweisungen  und  Einweihung  warten.  Als  wir  seinen  Beratern 
Informationen  über  diese  Ausgabe  von  WIE  zukommen  ließen,  erregten 
wir  ihre  Neugier.  Wir  waren  bestrebt,  die  essenziellen  Fragen  über  das 
buddhistische  Ziel  der  Erleuchtung  zu  stellen  –  Fragen,  auf  die  Seine 
Heiligkeit  ihrer  Meinung  nach  gerne  antworten  würde.  Es  wurde  uns  ein 
Interview  in  seiner  Residenz  in  Indien  gewährt,  und  wir  begannen 
aufgeregt mit unseren Vorbereitungen. 

In Indien ist es Ende Mai immer heiß, aber in diesem Jahr schwappte eine 
ungewöhnliche  Hitzewelle  über  die  Nation.  In  New  Delhi  herrschten  42 
Grad,  und  sogar  die  nächtliche  Brise  erinnerte  eher  an  einen  bullernden 
Tandoori­Ofen.  Die  Stadt  Dharamsala  liegt  hoch  oben  auf  einem 
Felskamm der Dhauladhar­Bergkette im Vorgebirge des Himalaya. Früher 
war  sie  eine  Bergsommerfrische  der  Engländer  und  Zuflucht  vor  der 
Sommerhitze  gewesen.  Die  Hänge  sind  mit  duftenden  immergrünen 
Bäumen  und  wildem,  leuchtend  rotem  Rhododendron  bedeckt.  Mönche 
leben  ver­borgen  in  Höhlen,  die  im  Schatten  der  schneebedeckten  Gipfel 
liegen. Unter Anleitung des Dalai Lama und anderer Lehrer machen diese 
Einsiedler  über  eine  Dauer  von  vielen  Jahren  intensive 
Meditationsübungen.  Das  Land  ist  noch  immer  wild  und  rauh,  und 
bedauerlicherweise  fand  vor  einigen  Wintern  ein  Langzeit­Asket  den  Tod, 
als er von einem Gebirgsbären angegriffen wurde. 

Seit  sich  der  Dalai  Lama  hier  niedergelassen  hat,  ist  Dharamsala  von 
einem  unorganisierten  und  eher  zufälligen  Flüchtlingsdorf  zu  einer 
blühenden  Gemeinde  angewachsen.  Vor  fünfzehn  Jahren  gab  es  nur  eine 
Hand  voll  Restaurants,  wie  zum  Beispiel  das  dunkle  und  rauchige  „Tibet 
Memory“,  wo  neu  angekommene  Flüchtlinge  aus  Khampa  auf  rauhen 
Bettrollen neben westlichen Hippies und Dharma­Suchern auf dem Boden 
schliefen.  Heutzutage  bieten  saubere  neue  Hotels,  die  oft  als  eine 
Einkommensquelle  für  die  Klöster  fungieren,  heißes  Wasser,  Faxgeräte, 
Gebirgsblick  und  sogar  Email.  Es  wurden  von  freiwilligen  Mitarbeitern 
betriebene  Zentren  eingerichtet,  wo  westliche  Touristen  den  Tibetern 
Englisch und Microsoft Word beibringen, bei Recycling­Programmen helfen 
oder bei regelmäßig stattfindenden Videovorführungen „Kundun” oder den 
letzten Dokumentarfilm über den Dalai Lama ansehen. 

Am  Tage  meiner  Ankunft  waren  mehr  als  fünfhundert  Westler  im 
Tsuglakhang,  dem  Tempel  Seiner  Heiligkeit,  und  warteten  darauf,  den 
Mann zu treffen, in dem viele einen lebenden Buddha sehen, um ihm die 
Hand  zu  schütteln  und  vielleicht  ein  rotes  geknotetes  Segensband  zu 
erhalten.  Innerhalb  von  wenigen  Stunden  begrüßte  er  persönlich  einige 
tausend  Menschen,  darunter  ständig  Ortsansässige  und  neu 
angekommene Flüchtlinge aus dem chinesisch besetzten Tibet. Um Mittag

74 
stand  dann  nahezu  jeder  aus  der  gesamten  Stadt  an  der  engen 
kurvenreichen  Bergstraße  Spalier  und  wiederholte  Friedensparolen  und 
Gebete anlässlich der Ankunft von fünf Hungerstreikenden aus Neu Delhi. 
Einige Tage zuvor hatte sich ein Hungerstreikender selbst geopfert, in dem 
verzweifelten  Versuch,  die  Aufmerksamkeit  der  Weltbevölkerung  auf  die 
unhaltbare  Situation  im  Heimatland  der  Tibeter  zu  lenken.  Der  Dalai 
Lama,  als  eingeschworener  Bekenner  aktiver  Gewaltlosigkeit  und 
Gewinner  des  Friedensnobelpreises  1989,  befand  sich  in  einer  heiklen 
Situation,  als  sich  die  Hungerstreikenden  um  Unterstützung  an  ihn 
wandten.  Mit  derartig  schmerzhaften  Dilemmas  hat  sich  der  „einfache 
Mönch“,  wie  er  sich  selbst  bezeichnet,  auseinanderzusetzen,  seit  er  im 
Alter  von  fünfzehn  Jahren  die  Aufgabe  übernommen  hat,  das  tibetische 
Volk  zu  regieren.  Seine  stets  wachsende  Popularität  als  Anführer  einer 
gewaltfreien Widerstandsbewegung bewirkt, dass jetzt Millionen aus West 
und  Ost  auf  ihn  blicken,  um  Führung  und  Anleitung  sowie  um  eine  klare 
Antwort  auf  die  Frage  zu  erhalten:  „Welchen  Weg  würde  der  Buddha 
beschreiten?“ 

Am  Tag  vor  unserem  Interview  traf  ich  seinen  Privatsekretär,  Tenzin 
Gyeche,  einen  liebenswürdigen  und  sympathischen  Mann,  der  Seiner 
Heiligkeit  seit  vielen  Jahren  in  allen  Belangen  behilflich  ist,  von 
internationalen  Angelegenheiten  bis  zu  Gesprächen  mit  spirituellen 
Lehrern aus dem Westen. Als wir uns hinsetzten und über diese Ausgabe 
von  WIE  sprachen,  wurde  Tenzin  Gyeche  sowohl  sehr  nachdenklich  als 
auch lebhaft. „Fragen dieser Art werden Seiner Heiligkeit niemals gestellt“, 
sagte  er  interessiert  und  überlegte,  wie  wohl  die  Antworten  ausfallen 
würden. „Vor nicht allzu langer Zeit ist bei den Vorträgen Seiner Heiligkeit 
endlich  etwas  in  meinen  dicken  Kopf  hineingegangen“,  sinnierte  er  und 
klopfte  sich  mit  den  Fingerknöcheln  leicht  gegen  den  Kopf.  „Seine 
Heiligkeit  hatte  erklärt,  wie  sogar  die  grundlegendsten  buddhistischen 
Praktiken,  so  auch  das  Bekenntnis  zum  Dreifachen  Juwel  (Buddha, 
Dharma  und  Sangha),  eine  ganz  andere  Bedeutung  bekommen,  sobald 
man  nur  einen  kurzen,  aber  echten  Einblick  in  die  Leere  erhalten  hat  …. 
Ja,  das  sind  sehr  wichtige  Fragen.“  Ich  verließ  dieses  Zusammentreffen 
sehr angeregt und voller Erwartungen, was unser Interview wohl bringen 
würde. 

Als  ich  am  nächsten  Nachmittag  durch  den  Hof  seines  Palastes  ging, 
vorbei  an  dreihundert  Mönchen,  die  auswendig  gelernte  Gebete  als  Teil 
einer  einwöchigen  Gebetszeremonie  rezitierten,  hoffte  ich,  ebenso  viel 
über  die  persönliche  Erfahrung  Seiner  Heiligkeit  zu  hören  wie  über  das, 
was  die  traditionelle  und  methodische  Gelugpa­Lehre  zu  Leere, 
Erleuchtung und zur Buddhaschaft zu sagen hatte. 

Um  13.00  begleitete  mich  eine  wunderschöne,  mit  einem  Chuba 


bekleidete  Tibeterin  den  blumengesäumten  Fahrweg  hinauf  zum  Büro 
Seiner  Heiligkeit.  Wir  hatten  vorher  eine  Passkontrolle  durchlaufen  und 
eine  genaue  Leibesvisitation  –  Maßnahmen,  um  das  dünne  Sicherheits­

75 
schild  im  Umkreis  dieses  Menschen  aufrechtzuerhalten,  dessen 
unerschütterliche  religiöse  Überzeugung  von  einer  der  mächtigsten 
Regierungen unserer Zeit als ernsthafte Bedrohung empfunden wird. 

Ich wurde direkt in einen Versammlungsraum geführt und erwartete, dass 
ich  einige  Minuten  Zeit  haben  würde,  um  meinen  Kassettenrekorder 
aufzustellen. Daher war ich überrascht, als sich der Mönch, der sich an der 
Klimaanlage  zu  schaffen  machte,  umdrehte  und  mich  begrüßte. 
Strahlende schwarze Augen in einem vertrauten Gesicht blickten mich an, 
und  völlig  zwanglos  bot  mir  der  Dalai  Lama  einen  Platz  an.  Er  war  bereit 
anzufangen. Da saß ein ernster, in sich ruhender Mensch vor mir, und die 
Sorgen, die auf seinen purpur gekleideten Schultern ruhten, waren absolut 
unsichtbar. Was also dachte dieser außergewöhnliche Mann über das Ziel 
des buddhistischen Weges? 

Die  traditionelle  tibetische  Lehre  folgt  einer  systematischen  und 


vorhersagbaren  Struktur.  Wie  die  hochgradig  stilisierten  Thangkas 
(religiöse  Gemälde,  die  die  Buddhas  darstellen)  ist  diese  Lehre  über  das 
Wesen  der  menschlichen  Situation  und  den  Ausweg  aus  dem  Leiden  der 
zyklischen  Existenz  in  einer  präzisen  und  methodischen  Form  kodifiziert 
worden. Und obwohl sie eine sehr ausgefeilte Wissenschaft des spirituellen 
Strebens  und  eine  komplexe  und  subtile  Erklärung  über  das  Wesen  des 
menschlichen  Geistes  darstellt,  erinnert  sie  oft  mehr  an  technische 
Formeln  als  an  den  Ausdruck  des  höchsten  Strebens  des  menschlichen 
Herzens.  Bei  den  Vorbereitungen  zu  unserem  Interview  sahen  wir,  dass 
eine der Herausforderungen, denen wir gegenüberstanden, die Frage war, 
wie  wir  den  Dalai  Lama  über  seine  eigene  Erfahrung  zu  diesem  Thema 
befragen  sollten,  die  klassischen  Definitionen  einmal  beiseite  gelassen  – 
wie fragt man jemanden, der so gründlich in der Kunst der Erörterung, der 
logischen  Schlussfolgerung  und  der  Analyse  geschult  ist,  was  er  unter 
„Leere“ versteht. 

Diesen  Mann  zu  interviewen,  den  Millionen  als  einen  lebendigen  Heiligen 
betrachten, war eine außergewöhnliche Erfahrung. Wenn man einfach mit 
ihm  zusammensitzt,  empfindet  man  seine  seltene  Güte,  seinen  tiefen 
Glauben  an  die  Menschheit  und  seine  Freude.  In  sein  sanftes  Gesicht  zu 
blicken,  nur  einige  Zentimeter  von  meinem  entfernt,  und  sein 
unvergessliches  Lachen  zu  hören,  war,  als  würde  ich  von  einem  der 
tausend  Arme  des  Chenrezig  (Buddha  des  Mitgefühls)  emporgezogen, 
dessen Inkarnationen die Dalai Lamas sein sollen. Im Laufe des gesamten 
Interviews,  während  sein  Übersetzer  und  Berater  für  ausländische 
Religion, der ehrwürdige Mönch Lakhdor, sein Tibetisch übersetzte, lachte 
er  immer  wieder  und  sah  mich  warm  an,  so  als  wünschte  er  mehr 
mitzuteilen als das, was seine klassischen Antworten ausdrückten. 

Letzten Endes kam das, was er durch seine entwaffnende Herzlichkeit und 
Milde  vermittelte,  nicht  in  seinen  herkömmlichen  Antworten  zum 
Ausdruck,  die  zumeist  enttäuschend  abstrakt  waren.  Sie  waren,  und  das

76 
war  auch  keine  Überraschung,  die  klassische  Gelugpa­Lehre  –  gelehrte 
und  festgeschriebene  Erklärungen  der  Phasen  und  Kategorien  von 
Erleuchtung  und  Leere,  für  die  diese  Schule  bekannt  ist.  Auf  meine 
Fragen, betreffend den eigentlichen Kern des buddhistischen Pfades, hatte 
der  Dalai  Lama  die  genaue  Mahayana­Doktrin  gemäß  ihrer 
fünfzehnhundert  Jahre  alten  Tradition  präsentiert.  Seine  akademischen 
Definitionen und sorgfältig abgewogenen Darstellungen schienen mehr die 
Sorge dafür auszudrücken, den traditionellen Standpunkt zu vermitteln als 
den einfachen unreflektierten Ausdruck seiner eigenen Erfahrung. 

Es  war  verwirrend  und  faszinierend,  das  unwiderstehliche,  ansteckende 


und  strahlende  Mitgefühl  Seiner  Heiligkeit  mit  seinen  oft  trockenen  und 
technischen  Erklärungen  über  das  eigentliche  Herz  der  buddhistischen 
Lehre in Einklang zu bringen. Der tibetische Buddhismus bleibt trotz seiner 
wachsenden  Popularität  im  Westen  in  vieler  Hinsicht  ein  Geheimnis;  der 
Kontrast zwischen der beeindruckenden Größe einiger seiner ehrenwerten 
Lamas  und  den  auswendig  gelernten  Lehrsätzen,  die  sie  so  oft  darlegen, 
lässt  noch  einmal  die  sehr  herausfordernde  Frage  aufkommen:  Was  ist 
Erleuchtung? 

Als ich dann über unser Interview nachdachte, fragte ich mich wieder, was 
der Dalai Lama wirklich dachte. Denn als ich später im Warteraum stand, 
meinen  Kassettenrekorder  verstaute  und  dabei  noch  immer  den  warmen 
Druck  seiner  Hand  auf  meinem  Arm  spürte,  wandte  sich  sein  Übersetzer 
mit  Begeisterung  in  den  Augen  an  mich  und  sagte:  „Sehr  gute  Fragen, 
sehr klar. Ich glaube, Seine Heiligkeit hat das wirklich genossen.“ 

I nterview  

Die W issenschaft vom Geist 

W I E:  Es  heißt,  das  Ziel  der  buddhistischen  Praxis  ist  Erleuchtung.  Das 
Wort  „Erleuchtung“  ist  zwar  jetzt  im  Westen  zu  einem  ganz  alltäglichen 
Begriff  geworden,  es  gibt  aber  sehr  viele  ganz  unterschiedliche 
Definitionen darüber, was Erleuchtung ist. Wenn Sie, ausgehend von Ihrer 
eigenen  Praxis,  an  Erleuchtung  denken,  was  ist  es  dann,  wonach  Sie 
streben?  Welche  Bedeutung  hat  das  Ziel  der  Erleuchtung  für  Sie 
persönlich? 

H.H.  THE  DALAI   LAMA:  Erleuchtung  also!  „Das  Bewusstsein“,  oder 


„Verstand“,  besitzt  eine  kognitive  Fähigkeit  –  es  gibt  etwas,  wodurch  wir 
erkennen.  Normalerweise  sagen  wir:  „Ich  sehe,  ich  erfahre,  ich  weiß,  ich 
erinnere mich.“ Ein einziges Element fungiert als Medium, um alle Objekte 
wahrzunehmen.  Auf  unserer  Ebene  ist  diese  Kraft  oder  Fähigkeit  zu 
erkennen  sehr  beschränkt,  aber  wir  haben  das  Potenzial,  diese 
Erkenntnisfähigkeit  zu  steigern.  Von  „Buddhaschaft“  oder  „Buddhaschaft­ 
Erleuch­tung“  sprechen  wir  dann,  wenn  das  Potenzial  dieser  Erkenntnis­

77 
fähigkeit  voll  entwickelt  worden  ist.  Das  bloße  Steigern  der 
Erkenntnisfähigkeit  ist  auch  eine  Stufe  der  Erleuchtung.  Der  Begriff 
„Erleuchtung“ könnte sich also darauf beziehen, dass man etwas weiß, das 
man nicht gewusst hat, oder etwas erkennt, das man vorher nicht erkannt 
hat.  Wenn  wir  aber  von  Erleuchtung  im  Zustand  der  Buddhaschaft 
sprechen, dann sprechen wir von einem Zustand der vollen Erleuchtung. 

Aus diesem Grund sagt der Buddhismus, sollten alle unsere Bemühungen 
letztlich  darauf  abzielen,  unseren  Geist  zu  schulen  und  zu  formen. 
Emotionen wie Hass oder starkes Anhaften sind destruktiv und schädlich – 
wir nennen sie „negative Emotionen“. Wie also können wir diese negativen 
Emotionen  reduzieren?  Nicht  durch  Gebet,  nicht  durch  Körperübungen, 
sondern  durch  Schulung  des  Geistes.  Durch  Schulung  des  Geistes 
versuchen wir, die entgegengesetzten Eigenschaften zu verstärken. Wenn 
echtes  Mitgefühl,  schrankenloses  Mitgefühl,  vorurteilsfreies  Mitgefühl 
verstärkt wird, vermindert sich der Hass. Wenn Gleichmut verstärkt wird, 
vermindert  sich  das  Anhaften.  Alle  diese  zerstörerischen  Emotionen 
basieren  auf  Unwissenheit,  und  das  Gegenteil  oder  Gegenmittel  zu 
Unwissenheit  ist  Erleuchtung.  Deshalb  ist  es  sehr  wichtig,  die  Welt  des 
Geistes  zu  analysieren  und  herauszufinden,  was  sein  grundlegendes 
Wesen  ist.  Was  sind  die  verschiedenen  Kategorien  des  Geistes?  Welche 
Arten von Geist sind destruktiv? Welche Arten von Geist sind konstruktiv? 
Und so weiter. Sobald wir alle diese Fragen analysiert haben, müssen wir 
versuchen, die Aspekte unseres Geistes unter Kontrolle zu bringen, indem 
wir immer  mehr  Gutes  dazugeben  und das  Schlechte  beseitigen.  Manche 
modernen Gelehrten beschreiben aus ebendiesem Grund den Buddhismus 
als „Wissenschaft vom Geist“. 

W I E:  In  letzter  Zeit  haben  viele  Menschen  angefangen,  sich  für 
buddhistische  Übungen  zu  interessieren,  jedoch  eher,  um  zu  mehr 
geistigem  Frieden,  Entspannung  oder  Achtsamkeit  zu  kommen,  und  gar 
nicht so sehr spezifisch als ein Mittel, um Erleuchtung zu erlangen. Was ist 
Ihrer  Ansicht  nach  der  Unterschied  zwischen  der  Anwendung 
buddhistischer Übungen, um relative Verbesserungen, wie die genannten, 
zu  erreichen,  und  einer  Praxis,  die  mit  der  ehrlichen  Absicht  ausgeübt 
wird, Erleuchtung zu erlangen? 

HHDL:  Einige  aus  dem  Buddhismus  stammende  Ideen  können 


Anwendung  finden,  ohne  dass  man  dazu  notwendigerweise  Buddhist 
werden  oder auch nur an den Buddhismus glauben müsste – das ist kein 
Problem.  Ein  Mensch,  der  vollkommenes  Vertrauen  und  Glauben  in 
Buddha hat, kann versuchen, ein guter Mensch zu sein, und wäre dann als 
Buddhist zu sehen, auch wenn er kein besonderes Interesse am nächsten 
Leben oder am Erreichen von Nirwana hat. Aber damit die Praxis zu einer 
wahrhaft  buddhistischen  Praxis  wird,  ist  es  wichtig,  ehrlich  danach  zu 
streben, Nirwana, oder Erleuchtung, zu erlangen. 

W I E:  Können  Sie  erklären,  warum  dieses  Streben  grundlegend  wichtig

78 
ist? 

HHDL: Die Definition des Buddhismus liegt meines Erachtens in der Lehre 
von den Vier Edlen Wahrheiten. Sobald man weiß und anerkennt, dass es 
sich  dabei  um  die  grundlegende  Lehre  von  der  Wirklichkeit  handelt,  und 
dieser  Lehre  folgt  und  sie  zur  Anwendung  bringt,  dann  ist  das 
Buddhismus. Nun kann man aber auch ohne diese Art von Praxis trotzdem 
Buddhist  sein.  Es  ist  nicht  notwendig,  ein  umfassendes  Verständnis  von 
der  tieferen  Bedeutung  der  Lehre  von  den  Vier  Edlen  Wahrheiten  zu 
haben, um ein einfacher normaler Buddhist zu sein. Man kann schlicht und 
einfach  Zuflucht  zu  Buddha,  dem  Dharma  (Lehre)  und  der  Sangha 
(Gemeinschaft  von  Praktizierenden)  nehmen  und  einfache  Praktiken 
ausführen,  um  damit  als einfacher  Buddhismus­Praktizierender eingestuft 
zu werden. Aber um ein echter praktizierender Buddhist im wahren Sinne 
zu  werden,  ist  es  wichtig,  ein  profundes  Verständnis  von  den  Vier  Edlen 
Wahrheiten  zu  haben.  Und  für  dieses  Unterfangen  ist  es  wichtig,  eine 
klare Vorstellung von Nirwana und Erleuchtung zu haben. 

W I E:  Die Doktrin der „Leere“ ist einer der zentralen Punkte von Buddhas 
Lehre, und zu verstehen, was „Leere“ tatsächlich bedeutet, wird für jeden, 
der  den  buddhistischen  Weg  beschreitet,  zum  entscheidenden  Faktor. 
Obwohl  die  Leere  schon  immer  Gegenstand  ausführlicher  Kommentare, 
Analysen  und  Erörterungen  gewesen  ist,  scheinen  die  Interpretationen 
darüber,  was  sie  im  Grunde  wirklich  ist,  weit  auseinander  zu  gehen.  Wir 
haben  festgestellt,  dass  manche  buddhistische  Schulen  behaupten, 
„Leere“ stehe für Nichts, während andere sagen, dass „Leere“ die Existenz 
von  etwas  Transzendentem  voraussetzt.  Würden  Sie  uns  in  einfachen 
Worten erklären, was Ihrem Empfinden nach mit „Leere“ gemeint ist? 

HHDL: Selbst  der  Buddha lehrte  verschiedene  Stufen  der  Leere.  Aber im 


Allgemeinen  bedeutet  Leere  das  Fehlen  einer  wirklichen  Existenz  des 
„Objekts  der  Verneinung“.  Zunächst  einmal  müssen  wir  uns  fragen:  Was 
ist  dieses  Objekt  der  Verneinung?  Es  gibt  verschiedene  Methoden  und 
Prozesse,  um  das  Objekt  der  Verneinung  zu  identifizieren.  Dazu  gehören 
Prozesse  zur  Identifikation  der  Abwesenheit  eines  Selbst  in  der  Person, 
der  Abwesenheit  eines  Selbst in  Phänomenen  und  so  weiter.  Und  es  gibt 
gemäß  den  verschiedenen  Denkrichtungen  unterschiedliche 
Interpretationen und Konzepte bezüglich der Leere. 

Nun  sagt  Madhyamika  (die  Philosophie  des  „Mittleren  Weges“)  ganz 


allgemein,  dass  Leere  das  Fehlen  einer  unabhängigen  Existenz  bedeutet. 
Das  heißt  also,  dass  etwas  existiert,  und  dass  Leere  eine  der 
Eigenschaften  oder  Charakteristika  dessen  ist,  was  existiert.  Über  diese 
Eigenschaften können wir nicht in Bezug auf ein nicht­existierendes Objekt 
sprechen; es gibt da schon eine Basis. Das Fehlen unabhängiger Existenz 
ist die Natur – es ist die Art und Weise der Existenz – und das Fehlen der 
unabhängigen  Existenz  ist  nur  möglich,  weil  es  etwas  gibt,  das  existiert. 
Daher  bezieht  sich  „Leere“  nicht  nur  darauf,  dass  das  zu  bezeichnende

79 
Objekt  nicht  auffindbar  ist.  Wenn  wir  nach  einem  gar  nicht  existierenden 
Objekt  suchen  und  es  nicht  finden,  dann  ist  das  nicht  Leere.  Auf  diesem 
Tisch ist zum Beispiel keine Blume. Wenn wir schauen, sehen wir, dass auf 
dem Tisch keine Blume ist. Dieses „Fehlen“ der Blume ist aber nicht Leere. 
Nehmen  wir  nun  aber  das  Beispiel  des  Kassettenrekorders  und 
untersuchen  wir:  Was  ist  das  eigentliche  Wesen  des  Kassettenrekorders? 
Wenn  man  Form,  Material  und  Farbe  des  Kassettenrekorders  getrennt 
betrachtet, dann  existiert der „Kassettenrekorder“ nicht mehr. Sie sehen 
also,  obwohl  da  ein  Kassettenrekorder  ist,  können  wir  ihn  nicht  finden, 
wenn  wir  seine  individuellen  Eigenschaften  und  Charakteristika 
untersuchen.  Man  sieht  also,  dass  „Kassettenrekorder“  nichts  anderes  ist 
als  eine  Bezeichnung.  Aber  um  es  noch  einmal  zu  sagen,  das  bloße 
„Nichtvorhandensein“ der Blume ist nicht Leere. 

W I E:  Es gibt ein Zitat aus den Pali Sutras, in dem einer der Mönche von 
Gautama,  dem  Buddha,  ihn  fragt,  ob  es  „überhaupt  nichts“  gebe,  das 
existiere.  Diese  Frage  –  ob  es  „Etwas“  gibt  oder  „Nichts“  gibt  –  ist  sehr 
interessant,  denn  die  Feststellung,  dass  „überhaupt  nichts  existiert“, 
könnte  leicht  zum  Nihilismus  führen.  Es  heißt,  der  Buddha  habe  diesem 
Mönch  ganz  eindeutig  geantwortet,  dass  es  etwas  gebe,  das  ein 
„Ungeborenes“  genannt  werde,  und  auf  Grund  dessen  existiere  die 
Möglichkeit,  dem  Leiden  der  weltlichen  Existenz  zu  entgehen.  Ich  habe 
gehört,  dass  einige  tibetische  Sekten  ebenfalls  die  Existenz  von  „Etwas“ 
beschreiben.  Könnten  Sie  uns  erklären,  was  der  Buddha  Ihrer  Ansicht 
nach damit meinte, als er sagte: „Es gibt das, was nicht geboren ist, nicht 
geworden ist, nicht gemacht ist und nicht bedingt ist. Gäbe es nicht das, 
was  nicht  geboren  ist,  nicht  geworden  ist,  nicht  gemacht  ist  und  nicht 
bedingt ist, könnte kein Ausweg gewiesen werden aus dem, was geboren 
ist,  geworden  ist,  gemacht  ist  und  bedingt  ist.  Da  es  aber  das  gibt,  was 
nicht geboren ist, nicht geworden ist, nicht gemacht ist und nicht bedingt 
ist, ist  der Ausweg aus  dem, was  geboren  ist,  geworden  ist,  gemacht  ist 
und bedingt ist, gewiesen worden.” 

HHDL:  Das  trifft  genau  das,  was  vorher  gesagt  wurde.  Wenn  es 
innewohnende  Existenz  und  innewohnende  Ursächlichkeit  gäbe,  könnten 
wir  nicht  aus  Samsara  (der  zyklischen  Existenz)  entkommen.  Wir  sagen 
daher,  dass  es  auf  dem  konventionellen  Niveau  einen  Pfad  gibt,  dass  es 
Ursächlichkeit  gibt  und  so  weiter.  Aber  wegen  der  Tatsache,  dass  die 
Ursächlichkeit  keine  ihr  innewohnende  Existenz  hat,  ist  es  Unwissenheit, 
in der Ursächlichkeit eine ihr innewohnende Existenz wahrzunehmen. Und 
jenes Fehlen von Ursächlichkeit in der Natur der innewohnenden Existenz 
wahrnehmen zu können, ist Weisheit. 

Gäbe  es  unabhängige  Existenz,  dann  wäre  die  Wahrnehmung  dieser 


Existenz schlüssig. Gäbe es eine unabhängige Existenz, dann müssten wir, 
wenn  wir  nachforschen,  um  herauszufinden,  ob  ein  Objekt  unabhängig 
existiert  oder  nicht,  in  der  Lage  sein,  dieses  zu  finden.  Wenn  wir  aber 
genau  analysieren,  können  wir  diese  Objekte,  die  unabhängig  existieren,

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nicht  finden.  So  können  wir  sehen,  dass  die  Wahrnehmung  einer 
unabhängigen  Existenz  falsch,  Unwissenheit  ist,  und  dass  die 
Wahrnehmung  nicht­unabhängiger  Existenz  gültig,  Weisheit  ist.  Diese 
beiden  Möglichkeiten  stehen  im  Gegensatz  zueinander,  und  wenn  zwei 
solche  Dinge  in  direktem  Gegensatz  zueinander  stehen,  dann  können  sie 
nicht  gleichzeitig  gelten;  nur  eines  davon  kann  eine  gültige  Grundlage 
haben. 

W I E:  Manche  Menschen  behaupten,  dass  die  Handlungen  eines 


erleuchteten  Wesens  Güte  zum  Ausdruck  bringen  müssten.  Es  gibt  aber 
andere  Standpunkte, und sogar  ganze  Denkschulen, die  behaupten, dass 
sich ein erleuchtetes Wesen jenseits von Gut und Böse befindet, und dass 
daher  die  Handlungen  eines  solchen  Wesens  von  anderen  nicht  beurteilt 
werden können. Wie ist Ihre Sichtweise hierzu? 

HHDL:  Im  Wesen  von  Leere,  im  Wesen  des  Fehlens  einer  unabhängigen 
Existenz, in diesem Wesen sind Gut und Böse dasselbe. Wenn jemand also 
über  die  letztendliche  Wirklichkeit  meditiert,  dann  gibt  es  in  dieser 
Wirklichkeit  keine  Unterschiede  zwischen  Böse  und  Gut.  Von  der 
Perspektive  des  Buddha  aus  gesehen,  der  sich  in  einem  Zustand  völliger 
Vereinigung  befindet,  gibt  es keine  Unterschiede  zwischen  Gut und  Böse. 
Aber  auch  auf  anderen  Stufen  der  Praxis,  wenn  man  ein  wenig  die 
Erfahrung von Shunya – der letztendlichen Wirklichkeit – macht, in jenem 
Moment,  wenn  der  Geist  vollkommen  in  jene  Realität  absorbiert  worden 
ist,  gibt  es  kein  Gefühl  von  Gut  und  Böse  mehr;  dann  ist  alles 
gleichwertig. 

Wenn man die letztendliche Realität zutiefst erlebt, ist das so stark, dass 
das Verständnis einer konventionellen objektiven Realität sehr anders sein 
wird.  Wenn  zum  Beispiel  die  Absorption  des  Geistes  in  die  Leere  wirklich 
stark ist – total absorbiert in den Zustand der letztendlichen Realität, oder 
der  Leere  –,  dann  werden  der  Einfluss  und  der  Eindruck  der 
konventionellen Realität beinahe vernachlässigbar sein. 

Das  heißt  aber  nicht,  dass  es  auf  der  konventionellen  Ebene  ebenfalls 
keine Unterschiede zwischen Gut und Böse gibt. Das stimmt einfach nicht. 
Es  gibt  Gut  und  es  gibt  Böse.  Deshalb  unterzog  sich  sogar  der  Buddha 
einer Selbstdisziplin. Gäbe es Gut und Böse nicht, dann hätte der Buddha 
ein  sehr  nachlässiges  Leben  führen  können.  Um  also  die  Schulung  der 
Weisheit  zu  erlangen,  müssen  wir  die  Konzentration  und  die  meditative 
Stabilisierung  trainieren;  und  um  das  zu  tun,  brauchen  wir  eine  solide 
Grundlage in der Praxis von Moral und ethischer Disziplin. 

Das dreifache J uw el 

W I E:  Als  Buddhist  haben  Sie  formell  Zuflucht  zu  Buddha,  zum  Dharma 
und zur Sangha genommen – das wird das „Dreifache Juwel“ genannt. Es

81 
gibt  im  Westen  heute  zahlreiche  Interpretationen  zur  Bedeutung  jedes 
Aspekt  des  Dreifachen  Juwels,  und  dazu,  was  es  bedeutet,  zu  jedem 
dieser Aspekte Zuflucht zu nehmen, und auch dazu, ob es notwendig ist, 
zu  allen  dreien  Zuflucht  zu  nehmen.  Meinen  Sie,  dass  alle  drei  Aspekte 
wesentliche  Teile  der  Zufluchtnahme  sind?  Und  könnten  Sie  bitte  die 
Bedeutung jedes der drei erklären? 

HHDL: Von den drei Objekten der Zuflucht ist das wichtigste, zu dem man 
Zuflucht  nimmt,  der  Dharma.  Dann  nimmt  man  Zuflucht  zur  Person,  zur 
Quelle  des  Dharma,  und  schließlich  verdienen  auch  die  Wesen,  die  dem 
Dharma  folgen  und  ihn  praktizieren,  Respekt.  Diese  drei  Juwelen  folgen 
aufeinander,  aber  üblicherweise  kommt  der  Buddha  zuerst.  Warum?  Wir 
nehmen  normalerweise  zuerst  Zuflucht  zum  Buddha,  in  erster  Linie 
deshalb,  weil  der  Dharma  zuerst  von  Lehrern  weitergegeben  wurde,  von 
speziellen Buddhas. 

W I E:  Es  ist  interessant,  dass  Sie  sagen,  dass  man  zuerst  zum  Buddha 
Zuflucht  nimmt.  Es  scheint  fast  unabdingbar  für  den  Weg  zu  sein,  einen 
Buddha oder vollkommenen Lehrer zu haben, der den Weg zeigt, und Sie 
sprachen  oft  über  die  tiefe  Ehrerbietung  und  den  Respekt,  die  Sie  Ihren 
Lehrern gegenüber empfinden. Können Sie mehr über den Wert – oder die 
Notwendigkeit –, einen spirituellen Lehrer zu haben, sagen? 

HHDL:  Ich  denke,  ohne  Buddha  ist  es  für  einen  Praktizierenden  des 
Buddhismus sehr schwierig, die letztendliche Realität zu verstehen. Diese 
Dinge  sind  schwierig.  Sobald  uns  der  Buddha  die  Augen  geöffnet  hat, 
müssen  wir  natürlich  selbst  Anstrengungen  machen  und  suchen.  Aber  es 
muss  jemanden  geben,  der  unseren  Geist  öffnet  oder  uns  die  Richtung 
weist. Deshalb ist Buddha sehr wichtig. Es ist schwierig zu verstehen, was 
Buddha  ist,  ohne  den  Dharma  zu  kennen.  Sobald  man  echten  Glauben 
hat,  der  aus  dem  Eintauchen  in  das  Dharma  resultiert,  wird  ganz 
selbstverständlich  ein  Gefühl  großer  Nähe  und  des  Respekts  für  Buddha 
entstehen.  Das  kommt  automatisch.  Und  dasselbe  geschieht  mit  der 
Sangha,  denn  die  Sangha  schließt  alle  großen  Lehrer  und  großen 
Praktizierenden  ein,  wie  Nargarjuna  (ein  verehrter  buddhistischer 
Philosoph  aus  dem  zweiten  Jahrhundert),  alle  außergewöhnlichen 
Menschen.  Natürlich  waren  alle  diese  Wesen  nicht  gleich  von  Anfang  an 
außergewöhnlich,  nein.  Sie  waren  normale  Menschen,  normale 
empfindende  Wesen.  Sie  wurden  dann  durch  die  Praxis  des  Buddha 
Dharma sehr außergewöhnlich. 

Ob man jedoch einen eigenen Lehrer braucht oder nicht – ganz allgemein 
gesagt,  Bücher  können  Lehrer  sein.  Kurz  vor  seinem  Tod  sagte  ein 
tibetischer  Lama  zu  seinem  Schüler:  „Verlasse  dich  nun  nicht  mehr  auf 
einen  menschlichen  Lehrer,  sondern  verlasse  dich  auf  Bücher  als  deine 
Lehrer.“ Ich glaube, das ist sehr weise. Ohne genaue Nachforschung und 
ohne  einen  Menschen  gut  zu  kennen,  nimmt  man  vielleicht  überstürzt 
jemanden als seinen Guru oder Lehrer an, und es hängt zu vieles mit der

82 
Hingabe  an  den  Guru  oder  Guru  Yoga  zusammen.  Es  könnte  also  in 
Schwierigkeiten enden. Die gründliche Prüfung eines Lehrers ist sehr, sehr 
wichtig. 

W I E:  Sie  haben  über  Ihre  eigene  spirituelle  Praxis  gesprochen  und  über 
Ihren Wunsch, mehr Zeit dafür aufbringen zu können, und ich hoffe ganz 
gewiss  für  Sie,  dass  die  Umstände  dies  eines  Tages  erlauben  werden. 
Viele  unserer  Leser  werden  sich  angesichts  Ihres  intensiven 
Reiseprogramms  und  Ihrer  zahlreichen  Verpflichtungen  wahrscheinlich 
fragen, wie Sie es schaffen, Zeit für Ihre spirituelle Praxis finden. 

HHDL:  Nun,  meine  Arbeit  oder  mein  Programm  beginnt  gewöhnlich  um 
sieben  oder  acht  Uhr  morgens.  Also  stehe  ich  um  vier  Uhr  auf  und  habe 
dann wenigstens einige Stunden Zeit für etwas Meditation, Rezitation und 
einige Gebete. Und dann tue ich, was ich noch tun kann, wann immer ich 
die Zeit habe – wenn ich längere Auto­ oder Zugreisen mache, ist das eine 
sehr gute Gelegenheit für meine Rezitationen. So, also! 

Copyright: 

Alle  Texte  wurden  der  Deutschen  Ausgabe  des  „What  is  Enlightenment“­ 
Magazin  entnommen.  Im  Internet  auch  unter  der  nachfolgenden  URL  zu 
finden: http:/ / w w w .w ie.org/ de/ default.asp

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