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IST
SELBSTERKENNTNIS
Texte zur Nondualität
Advaita 1x1
Zunächst kamen auch wir, wie so viele westliche spirituell Praktizierende,
durch die Lehre des großen Ramana Maharshi in Kontakt mit der Advaita
Philosophie, der HinduPhilosophie der Nondualität (Einssein, oder präziser
gesagt NichtzweiSein). In dem Bemühen, ein tieferes Verständnis für
den Hintergrund und philosophischen Zusammenhang dieser tief
gehenden und stetig an Einfluss gewinnenden Lehre zu erhalten, sind wir
bis zu ihrer Quelle zurückgegangen, zu dem Mann, der allgemein als ihr
Begründer angesehen wird, dem Religionsphilosophen und Lehrmeister
des achten Jahrhunderts namens Shankara. Advaita Vedanta wird als
Kronjuwel indischer Philosophie angesehen und Shankaras mächtiger
Einfluss ist in den meisten modernen Geistesschulen Indiens heute noch
präsent. Zunächst einmal glaubten wir, er sei diese legendäre Gestalt, wie
sie in den traditionellen Texten beschrieben wird: der erleuchtete, geniale
Einzelgänger, der nicht nur die Vorrangstellung des Buddhismus und alle
anderen, sich widersprechenden religiösen Ansichten im indischen
Mittelalter vernichtete, sondern auch die Glorie und Herrschaft der
traditionellen vedantischen Doktrin im Alleingang wieder herstellte. Aber
als wir uns mit der populären Interpretation von Shankaras Leben tiefer
beschäftigten, erwies sich vieles von dem, was man über ihn sagt, als
Stoff, aus dem Mythen gewoben werden und tatsächlich sind die
Kenntnisse über sein Leben bestenfalls sehr bruchstückhaft, und sogar
Berichte über sein Geburtsdatum weichen bis zu 100 Jahre voneinander
ab. Was wir aber wissen, ist, dass Shankara ein Meisterphilosoph und
Weiser war, der großes Gewicht auf eine strenge Auslegung der
vedantischen Schriften legte, auf genaue Übereinstimmung mit der
Doktrin von Advaita oder der Nondualität. In der traditionellen Advaita
Philosophie (die man einfach als die Aussage aus den Upanishaden
definieren kann, die besagt: Du bist jenes unsterbliche Absolute Selbst!)
wurde spirituelles Wissen nicht so sehr durch yogische Erfahrungen
gesucht, sondern eher durch die systematische Übung, zwischen dem
Echten und dem Unechten zu unterscheiden, was durch ein Studium der
Schriften unterstützt wurde.
Shankara, Die Upadesasahasri
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Genau wegen ihrer Betonung der letztendlichen Unwirklichkeit und
illusorischen Natur jeder körperlichen Existenz bietet sie überhaupt keine
Lehre, die sich damit befasst, wie man in der Welt leben soll. Noch
genauer gesagt, wendet sich die nonduale Lehre in keiner Weise der
ethischen oder moralischen Dimension des Lebens zu. Und obwohl die
moderne AdvaitaLehre in ihrer nondualen Sichtweise anscheinend die
Welt nicht ausschließt, entbehrt sie immer noch einer Lehre, die sich mit
der Realität des menschlichen Lebens befasst.
—Die Upadesasahasri
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Individuum noch nicht in einer fundamental gesunden Beziehung zum
Leben verankert ist. Die ungesunden Tendenzen, die sich durch
narzisstische, neurotische und heute weit verbreitete, zutiefst zynische
Überzeugungen auszeichnen, schaffen ein gefährlich schwaches
Fundament für eine nonduale Perspektive, die alle Gegensatzpaare
transzendiert, „richtig“ und „falsch“ eingeschlossen. Während die große
Stärke von Advaita darin liegt, dass sie einen einzigartigen
unerschütterlichen Nachdruck auf die Absolute Dimension der Existenz
legt, wird zugleich ihre Schwäche durch den begrenzten Rahmen ihrer
Einzigartigkeit deutlich. Und obwohl natürlich jede absolute Sichtweise per
definitionem jegliche Unterscheidung transzendieren muss, besitzt
Advaita, oder der Nondualismus, ein enorm hohes Potenzial, zu einer
Weltsicht anzuregen, die in gefährlicher Weise von jeglichen Werten
entleert ist. In einer solch absoluten Lehre ist die Möglichkeit
davonzulaufen, anstatt sich einer echten Transformation zu unterziehen,
potenziell sehr groß. Es ist nämlich eine Sache, vom Absoluten
angenommen, aufgesogen und völlig ausgelöscht zu werden es ist aber
eine völlig andere, vor der ursprünglichen Komplexität des Lebens zu
fliehen, um dem überwältigenden Anspruch wahrer Hingabe
auszuweichen.
W er I st Ajja?
Eine Begegnung mit dem Absoluten
von Andrew Cohen
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ahnte ich noch nicht, als ich im letzten Dezember wieder nach Südindien
kam, dass ich die seltene Gelegenheit haben würde, etwas Zeit mit
diesem so kostbaren Juwel zu verbringen – mit einem voll erleuchteten
Jnani, einem Menschen, der das ABSOLUTE SELBST verwirklicht. hat.
Ajja, „Großvater“, wie ihn alle, die ihn kennen, liebevoll nennen, ist ein
lebendiges Beispiel für das sagenhafte spirituelle Vermächtnis Indiens,
und seine persönliche Geschichte ist ebenso seltsam und mysteriös wie
wunderbar. Ramachandra, geboren 1916, war ein wohlhabender Bauer
und Grundbesitzer, von dem es hieß, dass er von Natur aus eine
ungewöhnliche Reinheit des Herzens und eine sehr seltene Schlichtheit
des Wesens besaß; trotzdem zeigte er kein besonderes Interesse an
spirituellen Dingen. Eines Tages, er war damals sechsunddreißig, spürte
Ramachandra ohne ersichtlichen Grund einen sehr heftigen Schmerz im
Herzen, der allmählich von seinem gesamten Körper Besitz ergriff. Sechs
Monate lang litt er, wie er sagt, unerträgliche physische Schmerzen, wobei
seine Familie die ganze Zeit verzweifelt versuchte herauszufinden, was
ihm solches Leiden verursachte. Ihre Bemühungen blieben erfolglos, denn
niemand konnte die Ursache seiner Qualen feststellen. Und dann
verschwand der Schmerz so plötzlich, wie er aufgetaucht war, und
hinterließ keinerlei Spuren. Während er zuvor nicht das war, was man
einen tiefen Denker nennen würde, löste diese Erfahrung in ihm jedoch
eine intensive Nachdenklichkeit aus, die, wie man uns berichtet,
monatelang andauerte. „Was war dieser Schmerz, der meinen Körper
gequält hat?“ fragte er sich. „Was ist Gefangensein? Was ist Befreiung?“
Dank seines schlichten Wesens und der Reinheit seines Geistes gelangte
er in kürzester Zeit an die Wurzel dieser Fragen. In seinen
Nachforschungen stellte er fest, dass Schmerz Gefangensein ist und dass
die tiefere Ursache von Gefangensein Karma ist. Der Verstand schafft das
Karma, erkannte er, und der Verstand ist die Summe aller Gedanken, die
sich mit dem kleinen Selbst beschäftigen. Am letzten Abend seiner nach
innen gerichteten Erforschung fragte er sich: Was ist die Wurzel von
weltlichem Besitz? Von Geld? Geld, so schloss er, ist das Wichtigste in der
Welt, und alle Angst und Unsicherheit basiert auf der Verhaftung damit.
In dem Moment hatte er eine sehr kraftvolle Vision, die großartig und
erschreckend zugleich war. Vor seinen Augen erschien eine
außergewöhnlich schöne Frau, deren Körper ganz rot war und aus deren
Mund sich zu seinem Entsetzen ein Strom von Blut ergoss. Er erkannte sie
als die Verkörperung des Todes. Er betrachtete sie eine Weile, wobei ihn
eine tief greifende Einsicht überkam. Die Wurzel des Geldes, so erkannte
er, war Besitz. Und Besitz, so erkannte er, bedeutete Tod. Dann
verschwand die Frauengestalt und eine Tür erschien; an diesem Punkt
begann ein letztes Nachforschen in ihm. „Wer bin ich?“ fragte er sich. Da
öffnete sich die Tür und er verließ seinen Körper durch den Scheitelpunkt
seines Kopfes. „Göttliche Wesenheiten“ begrüßten ihn und begleiteten ihn
weiter auf seiner Reise zu dem, was er „die dritte Ebene“ nennt. Während
dieses ganzen Vorgangs, der mitten in der Nacht stattfand, lag er auf dem
Boden seines Zimmers und war allem Anschein nach physisch tot. Die
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ganze Zeit über saß Ishmael, ein muslimischer Bauer, der sein engster
Schüler werden sollte, neben ihm; er wurde, so erzählte man uns, von
etwas Unbekanntem angewiesen, sich um seinen Körper zu kümmern.
Dann tauchte eine Lichtkugel auf, kauerte sich neben seine leblose Gestalt
und trat dann in ihn ein.
Sobald das Licht Ajjas Körper betreten hatte, öffnete er seine Augen, und
die ersten Worte, die er sprach, waren: „Der, der vorher da war, ist jetzt
weg ein anderer ist gekommen.“ Er sprach weiter: „ Ich bin nicht der
Körper, ich habe keine Mutter, ich habe keinen Vater. Ich bin dieses
Strahlen.“
Die nächsten drei Monate saß er ruhig in seinem Haus, während eine tiefe
Stille in ihm immer intensiver wurde. Sein Geist stellte sich langsam auf
seinen neuen Zustand ein, und er wurde so empfindlich, dass ihm schon
das leiseste Geräusch absolut unerträglich war.
Am Ende dieser Phase trat er gänzlich verändert aus seinem Haus. Völlig
berauscht ging er nackt umher, manchmal sang und tanzte er
stundenlang im Regen, und manchmal starrte er endlos in die Sonne. Er
schlief auf Felsen und unter Bäumen. Seine Familie dachte, er sei verrückt
geworden, und brachte ihn schließlich in einem Heim unter. Wenn ihn die
Ärzte nach seinem Namen fragten, antwortete er: „Ich habe keinen
Namen.“ Wenn sie ihn fragten, wo er lebte, antwortete er: „Überall.“ Nach
zwei Monaten erklärten die Ärzte, dass er nicht verrückt sei, und entließen
ihn.
Die nächsten zwanzig Jahre zog er als Avadhuta (ein Wesen, das alle
Sorgen abgelegt hat) umher und war so tief im Bewusstsein des SELBST
absorbiert, dass er sich den überwiegenden Teil der Zeit der Welt um ihn
herum nicht bewusst zu sein schien. Ishmael, jetzt sein ständiger
Begleiter, kümmerte sich um seine körperlichen Bedürfnisse. Als er sich
1961 in Rishikesh in Nordindien befand, hörte er eine Stimme, die ihm
zurief: „Komm zu mir. Du sollst zu mir kommen. Ich bin hier in
Ganeshpuri.“ Er reagierte sofort darauf und ging nach Ganeshpuri, um den
legendären Swami Nityananda zu treffen, mit dem er nur fünf Minuten
verbrachte. Es fiel kein Wort, während sie sich fest in die Augen schauten.
Diese Begegnung versetzte Ajja in die Lage, wieder „zur Erde
zurückzukommen“, und kurz darauf begann er wieder Kleider zu tragen
und mit anderen zu sprechen.
Wieder zurück in seinem kleinen Dorf, verbrachte er weiterhin den
Großteil seiner Zeit in völligem Schweigen. Vor sieben Jahren hielt der
berühmte Pandit Bannanje Govindacharya in Ajjas Dorf einen Vortrag über
Vedanta, worin er die Menschen aufforderte, „nach innen zu gehen.“ Ajja,
der dem Vortrag zuhörte, folgte seinen Anweisungen auf den Buchstaben
genau. Da bemerkte ihn der Pandit, denn Ajja war plötzlich in einer
mystischen Trance und fiel um. Als der Pandit zu ihm hinging und fragte:
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„Was ist mit dir?“ antwortete er unschuldig: „Du hast gesagt, ich soll nach
innen gehen; ich bin nach innen gegangen.“
Govindacharya erkannte die Erfahrung Ajjas als übereinstimmend mit den
Upanishaden (den klassischen Schriften über Vedanta) an, und als
Ergebnis ihrer Begegnung, die sich zu einer warmen Freundschaft
entwickelte, begann sich Ajjas Ruf als lebendiger Meister von Advaita,
Nondualität, im ganzen südindischen Staat Karnataka zu verbreiten.
Es war ein früher Abend während der Konferenz, als Ajja einfach und
unprätentiös zu einem größtenteils indischen Publikum über das Wesen
unserer wahren Identität zu sprechen begann. Seine überaus große
Verletzlichkeit war fast schmerzhaft anzusehen, er schien sich unwohl zu
fühlen und an der Rolle, in die er hineingedrängt worden war, nämlich vor
einer großen Menschenmenge zu sitzen, geradezu zu ersticken. Er sprach
langsam und bedächtig, seine Worte waren einfach und von dem Kern des
Seins durchdrungen. Er sprach von unvorstellbarer Glückseligkeit und vom
vollständigen Transzendieren des Verstandes. Er beschrieb eine
ungeheure Energie, die sich in seiner Wirbelsäule bewegte, und davon,
wie wichtig es wäre, den ungeteilten Wunsch nach Moksha, Befreiung, zu
verspüren. Immer wieder betonte er, wie absolut unerlässlich es ist, den
Verstand zur Ruhe zu bringen, um das, was jenseits davon liegt, direkt zu
erfahren. Während er sprach, wurde seine Echtheit eher dadurch deutlich,
wie er war, als durch das, was er sagte. Da saß ein Mann, der kein Gesicht
zu haben schien, der keinen Namen, und, was vor allem anderen am
beeindruckendsten war, allem Anschein nach keinen Verstand und keine
Persönlichkeit im normalen Sinn hatte. Sein Unbehagen angesichts des
gesprochenen Wortes war offensichtlich, und er wiederholte immer
wieder, dass „man über diese Dinge nicht sprechen kann!“ sie könnten nur
durch direkte Erfahrung verstanden werden. Zu meiner Überraschung
schienen nicht viele Zuhörer zu begreifen, wer Ajja war, denn einige
verlangten durchaus aggressiv Echtheitsbeweise von diesem sanften
Mann. Alles wurde noch schlimmer, als einige seiner glühenden Anhänger
anfingen, in eindeutigen Worten lautstark zu verkünden, dass ihr Guru ein
lebendes Beispiel für die höchste Errungenschaft ist, wie sie in den
Upanishaden beschrieben wird. Es breitete sich in der Menge bald eine
Atmosphäre wie im Zirkus aus. Inmitten des ganzen Chaos zog Ajja es vor
zu schweigen.
Später am Abend ging ich mit einigen meiner Schüler zu Ajja, um mich
mit ihm in seinem Zimmer zu treffen. Als wir ankamen, war er gerade
Zielscheibe scharfer Fragen seitens des bekannten Physikers George
Surdashan, der, abgesehen davon, dass er für den Nobelpreis nominiert
gewesen war, auch engen Kontakt mit dem Maharishi Mahesh Yogi und
dem großen J. Krishnamurti gehabt hatte. „Ajja“, fragte der Physiker,
„wenn zwei Menschen nebeneinander stehen und den Mond hoch oben am
Nachthimmel ansehen, warum empfindet dann der eine eine starke
Neugier zu wissen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und warum
interessiert es den anderen gar nicht?“ Ajja antwortete so, wie er viele
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Fragen beantwortet: „Man muss selbst die Erfahrung haben. Erst dann
wird man verstehen können.“ Der Physiker wollte Ajjas Antwort nicht
akzeptieren und behauptete, dass das wohl jeder sagen könnte, dass Ajja
der Frage ausweiche und dass das ganz einfach keine akzeptable Antwort
sei. Ich stellte fest, dass hinsichtlich des Geschehens, das hier ablief, zwei
absolut unterschiedliche Empfindungen wechselweise in mir Gestalt
annahmen. Auf der einen Seite beeindruckte mich die mutige Ablehnung
des Physikers, etwas anderes als eine direkte Antwort von einem
erleuchteten Menschen zu akzeptieren. Andererseits konnte ich aber auch
nicht anders, als von dem bemerkenswerten Gleichmut Ajjas genauso
beeindruckt zu sein. Auch wenn Ajja scheinbar nicht in der Lage war,
direkt auf die Fragen zu antworten, war ich doch von der tiefen
Sensibilität seines Wesens einfach berührt. Es erschien mir wie Ironie,
dass auf der einen Seite der Physiker anscheinend die Größe des Mannes
nicht erkannte, der ihm gegenüber saß, und dass auf der anderen Seite
Ajja nicht verstehen konnte, warum seine Antwort für den Physiker keinen
vernünftigen Sinn zu ergeben schien.
Ich besuchte Ajja noch zweimal und fuhr dazu von dem eine halbe
Autostunde von Bangalore entfernten Ashram in die Stadt, wo er sich in
der Wohnung eines seiner Anhänger aufhielt. Die Aufgabe, Ajja für diese
Ausgabe von Was ist Erleuchtung? zu interviewen, stellte sich als eine weit
größere Herausforderung heraus, als wir im Vorhinein angenommen
hatten. Da dieser Mann so tief und absolut in der nondualen Natur seines
eigenen Selbst absorbiert ist, ist es ihm fast unmöglich, eine Frage zu
verstehen, die es notwendig macht, eine SubjektObjektBeziehung in
Betracht zu ziehen.
Nachdem wir Bangalore nach unserem ersten DreiStundenInterview mit
Ajja verließen, waren wir erstaunt, berührt, aber auch etwas verwirrt. In
unseren Köpfen bestand kein Zweifel darüber, dass wir uns gerade in
Gesellschaft eines tief erleuchteten Menschen befunden hatten, dessen
„Zustand“ oder „das, was er erreicht hatte“ fraglos eine große Seltenheit
war. In näherem Kontakt mit Ajja wurde uns sehr schnell klar, dass er
jemand war, der diese Welt, und alle Menschen darin, bereits vor langer
Zeit weit hinter sich gelassen hatte. Aber es gab da eigenartige Berichte
von Seiten seiner Anhänger: Einer behauptete, Ajja sei tatsächlich die
Reinkarnation von Mahatma Gandhi. Man sagte uns, dass der große
Heilige und Pazifist, die revolutionäre Seele, Ramachandras leere Hülle
betreten hatte, als dieser seinen Körper durch den Scheitel verließ.
„Typisch Indien!“ dachte ich bei mir. Man erzählte uns auch, dass Ajja die
hellsichtige Fähigkeit hatte, anderen zu offenbaren, wer sie in früheren
Inkarnationen gewesen waren wenn er es aber tat, dann stellte sich
praktisch immer heraus, dass es sich um Gefolgsmänner in Gandhis
Revolution handelte. Also zwang ich mich bei unserem zweiten Besuch
dazu, ihn zu fragen, ob das, was wir von einigen seiner Schüler gehört
hatten, wahr wäre. War er die Reinkarnation von Mahatma Gandhi?
Darauf antwortete er: „Ich habe die Universelle Seele erfahren.“ Aber
diese Frage wurde nie völlig geklärt, denn Ajja ließ auch die Möglichkeit
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offen, dass es wahr sei, wenn auch nur in der Vorstellung von anderen.
„Wir können nicht unser eigenes Gesicht sehen“, sagte er auch. „Das
bleibt anderen überlassen.“
Letztlich war ich vor allem von dem völligen Fehlen eines persönlichen
Selbst in diesem außerordentlichen Mann zutiefst berührt. In der Tat
scheint er buchstäblich ein Beispiel für jemanden zu sein, dessen Verstand
und Körper wahrhaftig ein leeres Gefäß geworden sind, durch das das Eine
ohne ein Zweites hindurchstrahlt, ohne den Makel der geringsten Spur von
Individualität.
I nterview
Ajja: Wir sollten uns einander zuerst vorstellen, um eine Basis für
Verstehen und Harmonie zu schaffen. Dann können wir mit unserem
Gespräch beginnen. Nur dann wird dieses Gespräch sinnvoll sein.
Andernfalls bleiben die Worte nichts als Worte. Als wir uns neulich trafen,
beschrieben Sie die Erfahrung ihres Erwachens, aber die anderen Leute
hier waren damals nicht dabei; könnten Sie es bitte noch einmal
beschreiben?
Andrew Cohen: Ich war sechzehn.
Ajja: Wer war sechzehn?
Ajja: Sie können weitersprechen.
AC: Plötzlich öffneten sich die Tore der Wahrnehmung. Es war so, als
wären die Mauern des Raumes verschwunden und als wäre da plötzlich
unendlicher Raum. Und dieser unendliche Raum war voller Energie. Und
diese Energie besaß Bewusstsein, sie war sich ihrer selbst bewusst.
Ajja: Und das, was Sie jetzt sind ist das dieses Gewahrsein selbst?
AC: Ja..
Ajja: Also meinen Sie nicht diesen Körper, wenn Sie sagen „Ich“. Das
Gewahrsein, das sie damals erfuhren, ist das das „Ich“, das Sie auch jetzt
spüren?
AC: Ja, es ist dasselbe.
Ajja: Es ist nicht dieser Körper?
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AC: Es gibt nur ein „Ich“.
Ajja: Und was geschah danach?
Ajja: Was ist Ihr augenblicklicher Zustand?
AC: Das ist die Erfahrung, die ich jetzt habe. Es geschieht, wenn ich
Vorträge halte, wenn ich über das Absolute spreche. Dann kommt diese
Erfahrung, und wenn ich aufhöre, davon zu sprechen, dann gehe ich
wieder in einen etwas normaleren Zustand. Aber der Unterschied ist jetzt,
dass ich keinen Zweifel mehr habe die Beschäftigung mit mir selbst und
die Sorgen sind verschwunden , und diese Liebe, der ich damals
begegnet bin, ist mein ganzes Leben.
Ajja: Zuerst war „Ich“ ein eingeschränktes „Ich“. Später begann es sich
auszudehnen, und dann erreichte es einen Zustand, wo es weder Raum
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noch Zeit gibt, sogar jenseits von Emotionen. Darin werden „Du“ und „Ich“
eins, das höchste Göttliche. Wir gebrauchen nur das Wort „Ich“. Alles, was
in diesem Körper ist, dafür sagen wir „Ich“ als eine einfache Beschreibung.
Wir sagen, das bin „Ich“, aber ich bin nichts. Ich bin nicht der Körper. Ich
bin nicht einmal eine Energie. Das, was wirklich existiert, ist das Es, das
seinem Wesen nach Licht ist, sein Wesen ist Satya (die letztendliche
Wirklichkeit). Es ist Wahrheit, es ist Glückseligkeit, es ist Frieden, und das
ist das wirkliche Sein.
Wer ist diese Energie, diese Kraft? Was ist die Quelle davon? Wer bin ich?
Was ist meine Quelle? Ich bin diese Energie. Ich bin diese Kraft, die meine
Quelle ist. Wenn ich mich also auf die Suche mache nach der Quelle dieses
„Ich“, dann erreiche ich diese Erleuchtung meines Selbsts. Dann erhebt
sich diese Energie, die in diesem Körper existiert, die diesen Körper
bewohnt, auch selbst aus dieser Erleuchtung des Selbsts. Und sie besitzt
alle Eigenschaften und das Wesen von diesem Es. Wenn ich das also weiß,
beginne ich mich zu entwickeln. Dieses „Ich“ beginnt sich zu entwickeln,
um „Es“ selbst zu werden. Das ist sein Wesen. Die totale Expansion ist
sein natürliches Wesen.
Was ist also dieses „Ich“, das wir „Ich“ nannten? Dieser Körper ist nicht
„Ich“. Derjenige, der den Körper bewohnt, ist das wahre „Ich“. Diese
Kraft, diese Shakti, ist Ich. Wenn ein Mensch in diesen selbsterleuchteten
Zustand gelangt und erkennt, dass das sein wahres Wesen ist, dann wird
er auch feststellen, dass es ihn mit den Eigenschaften der Erleuchtung,
nämlich Ausdehnung und Mitgefühl, versehen hat. Das individuelle Selbst
ist eins mit Dem geworden. Alles, was er um sich herum sieht, woher
kommt es? Es ist klar, dass es immer aus dem Inneren kommt; in jedem
Moment scheint es einfach aus dem Inneren zu entspringen. So sieht die
ganze uns umgebende Welt für eine verwirklichte Seele aus.
Alles ist aus diesem „Ich“ entstanden. Die wichtigsten Antworten, wie
entstehen sie? Es ist nicht so, dass sie irgendwo niedergeschrieben
worden wären. Diese Antworten sind einfach gekommen. Nicht aus dem
individuellen Selbst, sondern aus diesem Zustand sind sie gekommen. Es
gibt also kein kleines Selbst! Es taucht einfach nur spontan auf.
Was ist also für die individuelle Seele, die die totale Befreiung anstrebt,
der einfachste und direkteste Weg zur Befreiung aus dem Zyklus von
Geburt und Tod? Die Antwort auf diese Frage kommt dann, wenn der
Verstand ganz still geworden ist. Daher sind nicht meine Worte wichtig.
Wir müssen diese Antworten selbst finden, und das können wir nur dann,
wenn wir unseren Verstand zur Ruhe bringen. Jeder von uns hat die
Fähigkeit, diese Antworten zu finden, denn jede Frage hat eine Antwort in
der Stille. Wenn der Verstand einen Zustand der Ruhe erreicht hat, dann
kommt die Antwort. Das geschieht nicht in ein, zwei Tagen, aber es ist
absolut sicher, dass wir die Antwort in der Stille finden werden.
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AC: Ich verstehe Sie also so, dass es dann, wenn der Verstand ruhig ist,
kein Problem gibt, und dass es daher auch nicht notwendig ist, nach einer
Lösung zu suchen. Ich hätte aber doch einige Fragen, die ich Ihnen gerne
stellen würde, um der vielen Menschen willen, die das hier lesen werden.
Ajja: Egal, welche Fragen Sie stellen, die Antwort, die hier herauskommt,
ist: „Bringe den Verstand zur Ruhe.“ Zuerst muss der Verstand auf sich
selbst konzentriert werden. Wenn Sie dann noch immer eine perfekte
Antwort brauchen, dann ist mein Leben selbst die Antwort. Wenn Sie
sehen, wie ich handle, können Sie es verstehen, können Sie Es
verwirklichen. Das ist meine Botschaft. Das ist meine Antwort.
AC: Darf ich Ihnen trotzdem eine Frage stellen? Es ist eine gute Frage.
Ajja: Wenn ich eine Antwort gebe, dann sollte das auch zu etwas nütze
sein. Worauf es ankommt, ist das Handeln. Wenn die Botschaft überbracht
worden ist, werden die Menschen sie dann auch in die Tat umsetzen?
AC: Eben darauf bezieht sich meine Frage: Was ist die Beziehung
zwischen NichtExistenz und Handeln in Raum und Zeit?
Ajja: Man verliert seine Existenz durch Erkenntnis und Handeln. Durch
diese beiden wird man frei. Dann ist man selbst ein Jivan Mukta (ein
Befreiter). Aber wenn dieses „Ich“ weg ist, was bleibt dann? Wo ist dann
die Frage?
AC: Aber drückt nicht der Jnani (das selbstverwirklichte Individuum), der
Jivan Mukta, auch wenn er frei ist, noch immer etwas durch sein Handeln
aus?
Ajja: Ich habe nicht das Bewusstsein, „Ich bin ein Jnani“oder „Ich bin ein
Jivan Mukta“ Ich habe gar nichts. Wenn das „Ich“ verschwunden ist, dann
entsteht im Bewusstsein nicht einmal das Gefühl von „Ich“. Es ist total
weg. Für einen Jnani stellt sich also diese Frage nicht einmal. Wenn von
Denken gar nicht die Rede ist, dann findet kein normales Alltagshandeln
statt. Unsere Gedanken haben sich in Kontemplation verwandelt. Dann
werden unsere routinemäßigen Interaktionen im Alltag spirituell. So wird
dann die normale Routine selbst zum spirituellen Leben. Das ist dann an
und für sich das yogische Leben. Das ist an und für sich göttliches Leben.
AC: Es gibt da ein Mysterium, das mich nicht loslässt. Aus nichts wurde
etwas; es ist buchstäblich der Beginn von allem. So ist es auch beim Jivan
Mukta: er ist nichts, er ist in nichts. Und doch entsteht aus nichts etwas:
Worte, Handlungen usw. Darüber würde ich gerne mehr wissen.
Ajja: Ich habe bereits beschrieben, wie die Alltagshandlungen selbst in
spirituelle Handlungen verwandelt werden können. Wenn ein Mensch, der
mit Alltagshandlungen und pflichten befasst ist, diese Absicht hat, dann
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verändert er sich. In dem Maße, in dem er auf dem Pfad der Entwicklung
voranschreitet, durch Kontemplation über den Gedanken „Wer bin ich?“
wer ist diese individuelle Seele? findet er vollständige Befreiung aus dem
Kreislauf von Geburt und Tod, auch wenn er noch in diesem Körper ist. Er
wird das Selbst an sich, und das Selbst ist absolute Freiheit. Das ist wahre
Freiheit. Diese Verwirklichung ist der Sinn der menschlichen Geburt. Nur
aus diesem einzigen Grund wird eine menschliche Geburt genommen.
Wenn dieser Zweck erfüllt ist, dann ist unser Leben erfüllt. Es ist ein
Zustand, der keine weitere Geburt mehr nach sich zieht. Es ist ein Leben
frei von Dualität und jenseits des Todes. Das kann überall auf der Welt
geschehen. Das gilt für die gesamte Menschheit. Wenn die gesamte
Menschheit das versteht und in die Tat umsetzt, wo ist dann die Frage?
AC: Es wird keinen Unterschied zwischen Leben und Tod geben.
Ajja: Ja. Nur wo es Geburt gibt, kann es Tod geben. Wo ist da die Geburt?
Wir denken: „Ich bin dieser Körper. Alle Sinnesobjekte, die mit dem
Körper in Beziehung stehen, gehören mir.“ Mit einem so eingeschränkten
Empfinden wird ein Mensch, der in Handlung verstrickt ist und die Freuden
und Leiden erlebt, die aus diesem Handeln entstehen, immer wieder in
dieser Welt geboren werden. Seine Leben gehen also gemäß seinen
Handlungen weiter. Das ist das Geheimnis von Geburt, Leben und Tod.
Wenn das individuelle Selbst aber von den Banden der Handlungen und
auch von der Bindung durch seinen Körper befreit ist, dann wird es eins
mit dem höchsten Selbst. Wenn das Individuum durch Kontemplation über
die Frage „Wer bin ich?“ frei von Karma wird, dann entwickelt es sich, es
wird selbst das aus sich heraus strahlende Höchste. Das an sich ist das
Selbst. Das an sich ist Glückseligkeit. Das an sich ist Satya, die
letztendliche Realität. Das an sich ist Leben. Das an sich ist
Selbstverwirklichung.
Selbstverwirklichung ist also für das Wohl des Ganzen. Sie verheißt Glück
und Gutes für das gesamte Universum. Das ist der Sinn des menschlichen
Lebens. Wenn wir das Geheimnis verstehen, das darin liegt, werden wir
wirklich die Beziehung zwischen der individuellen Seele, der höchsten
Seele und dem Universum verstehen. Der einzelne Mensch ist Teil des
Kosmos. Dieser Körper, dieses „Ich“, ist nichts anderes als ein
Mikrokosmos dieses makrokosmischen Universums. Wenn wir die Mikro
Ebene verstehen, dann müssen wir notwendigerweise auch das Makro
Universum verstehen. Jeder, der hier sucht, muss notwendigerweise
dorthin kommen, denn diese Individualität ist Teil von Dem. Und es
enthält auch alles. Alle Geheimnisse von Dem enthält es auch. Durch das
Erforschen des Individuums sogar des Atoms kann die Grundlage des
gesamten Universums verstanden werden.
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können. Welche Art der Handlung wird uns dabei helfen, Befreiung zu
finden? Das Singen von Gottes Namen, Kontemplation, Hingabe,
Wahrhaftigkeit, Gewaltlosigkeit, unverhaftetes Handeln. Ein Mensch, der
in seiner Lebensspanne die Selbsterkenntnis in Handlung umsetzen kann,
verdient es, diesen erhabenen glückseligen Zustand zu verwirklichen.
Nicht nur das, er wird Glückseligkeit an sich. „Wer bin ich? Was ist das
Geheimnis meines Lebens, meiner Geburt?“ Wenn er das versteht, wenn
er das durch seine Suche verwirklicht, auch wenn er mit Handlungen und
Pflichten beschäftigt ist, dann gelangt er zu seiner ursprünglichen Natur,
die Glückseligkeit ist. Also wird er durch Handeln transformiert.
AC: Wenn Sie über Karma Yoga sprechen, über das ungebundene
Handeln, meinen Sie dann spezifisch die spirituelle Praxis? Oder jede Form
von ungebundenem Handeln?
Ajja: Jede Handlung, die als Pflicht ausgeführt wird, ohne Erwartung eines
Ergebnisses. Jede Handlung verwandelt sich in Pflicht, wenn sie ohne
Erwartungen und Selbstsucht ausgeführt wird. Das führt zu einem
Zustand, in dem es keine Emotionen mehr gibt. Man handelt, aber man
tut nicht. Es herrscht nicht das Gefühl: „Ich tue etwas.“ Was ist mit
diesem „Ich“ geschehen?
Es könnte sich die Frage stellen: „Wo ist diese Glückseligkeit?“ Diese
Glückseligkeit ist hier und jetzt, stets gegenwärtig. Wenn dieser Jivatma
(das individuelle Selbst) abgeworfen worden ist, dann ist diese
Glückseligkeit da, sie existiert bereits. Die individuelle Seele ist durch
Handlungen gefesselt, das Höchste aber nicht. Es gibt für das Selbst auch
keine Geburt. Gehen wir also über diese dualistische Welt des Handelns
hinaus, entwickeln wir uns und erreichen den Paramatma (das höchste
Selbst).
Für all das ist Meditation der Ausgangspunkt. Zu Beginn sollte man sitzen.
Man sollte diese innere Vorbereitung haben. Man sollte sich disziplinieren.
Aber es genügt nicht, nur zu sitzen. Nicht nur der Körper muss sitzen;
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auch der Verstand muss sitzen. Der Verstand sollte nicht umherwandern.
Solange der Verstand nicht beherrscht wird, gibt es keine Meditation. Es
ist das Wandern des Verstandes selbst, das die Welt ausmacht.
AC: Ja. Der Verstand ist die Welt.
Ajja: Der Verstand muss also zuerst ruhig werden. Der Verstand wandert
herum, und das muss aufhören. Durch Meditation richtet sich der Geist
nach innen. Und das sollte nicht nur in der Meditation so sein, sondern
auch inmitten von Aktivität.
Nichts von dem, was wir in dieser Welt für real halten, ist es auch
tatsächlich. Wenn diese Welt für dich unwirklich wird, dann enthüllt sich
die wahre Wirklichkeit. Das ist der Anfang. Da erkennen wir, dass es
keinen Tod gibt, dass es kein Leben gibt, dass es nur die Existenz gibt.
Früher oder später muss jeder von uns sterben. Aber ich meine nicht den
Tod dieses Körpers. Es gibt eine andere Art von Tod einen Tod, aus dem
es keine Wiedergeburt gibt. Wenn das stirbt, was immer wieder zur
Reinkarnation zurückkommt, dann ist das der wirkliche Tod so wie in
meinem Fall, wo alle Erfahrungen vergangen sind. Nun, hier in diesem
Zustand, gibt es gar nichts.
AC: Wenn Sie sagen, dass es hier gar nichts gibt, meinen Sie dann damit,
dass Sie eben in diesem Moment keine Erfahrung haben? Sie scheinen
eine ganze Menge zum Ausdruck zu bringen.
Ajja: Wessen Erfahrung? Es kommen Worte, das stimmt. Durch dieses
Vehikel handelt irgendeine unbekannte Kraft, irgendeine Energie arbeitet,
die diesen Körper als Werkzeug verwendet. Nicht dieser Körper hier
spricht. Eine Energie inspiriert diesen Körper, Verstand und Intellekt.
Dasselbe geschieht in jedem von uns, aber oft sagen wir: „Ich spreche.“
Hier geschieht das nicht. Die Worte kommen einfach. Das ist der
Unterschied. Ich sage nicht: „Ich sage, ich spreche.“
Ajja: Ich befinde mich auf einer völlig anderen Ebene der Interaktion.
Zwischen diesen beiden besteht in meinen Handlungen keine Beziehung.
Wie verstehen Sie vollkommenes Handeln in der Welt?
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AC: Vollkommenes Handeln ist ein Handeln, das aus reiner Liebe entsteht,
in der es kein Empfinden von Individualität gibt und keinerlei Eigennutzen.
Es gibt keinen Stolz, es gibt keine Gier, es gibt keinen Egoismus, es gibt
keine Selbstbezogenheit. Und es ist auch der Ausdruck reiner Liebe, der
keine Wahrnehmung von sich selbst als getrenntes Wesen hat. Aber diese
Handlung findet statt. Alle verwirklichten Seelen bringen das zum
Ausdruck.
Ajja: Das ist schwer zu erklären oder in Worte zu fassen, aber wenn man
eine Weile mit einem Menschen zusammenlebt, der sich in einem so
glückseligen Bewusstsein befindet, dann besteht die Möglichkeit, es zu
verstehen. Ein solcher Mensch wird gar nichts sagen. Er wird nur durch
Schweigen kommunizieren. Aber durch den Kontakt mit ihm kann ein
Verstehen stattfinden. Das kann man nur durch die Erfahrung kennen
lernen.
Was ist Liebe? Sprechen wir über eine Liebe, die in Beziehung zu den
Sinnen steht? Oder liegt sie jenseits der Sinne? Es gibt Menschen, die die
Verkörperung von Liebe sind, aber das Wesen ihrer Liebe geht über die
Sinne hinaus. Man kann es nicht mit den Augen sehen. Man kann es nicht
mit Worten beschreiben. Sie sind die verkörperte Liebe. Diese Liebe kann
nicht nach außen gezeigt werden. Sie ist ihr ursprüngliches Wesen. Sie ist
nicht etwas, das sie nur zum Ausdruck bringen. Sie ist stets und ständig
ihr Wesen.
AC: Sie sind diese Liebe.
Ajja: Sie existieren in dieser Welt, aber sie sind nicht diese Welt. Sie sind
es, und sie sind es nicht. Das ist Erleuchtung. Das an sich ist Atman (das
Selbst). Das an sich ist Glückseligkeit. Das an sich ist Wahrheit. Das an
sich ist Leben. Welches Leben ist das? Es ist nicht das weltliche Leben. Es
ist Leben jenseits von Dualität und Tod.
AC: So, wie sie sind, ist dann also die Antwort auf die Frage. Wie sie sind,
ist die Antwort auf die Frage, was die Beziehung zwischen Nichts und
Etwas ist.
Ajja: Diese Dinge gehen über eine Beschreibung hinaus. Wir können das
nicht erklären. Das kann man nur sehen und verstehen. Sie sprechen
nicht, weil sie etwas zu sagen hätten. Glückseligkeit kann nicht
beschrieben werden. Wenn man von Glückseligkeit erfüllt ist, dann ist das
eine Erfahrung, aber da ist niemand, um darüber zu sprechen. Die Worte
kommen, aber zwischen den Worten, die kommen, und der letztendlichen
Wirklichkeit besteht keine Beziehung. Der wirkliche Zustand und die
Worte, die ihn beschreiben, haben nichts miteinander zu tun. Dieses
existiert nur als „Es“ selbst. Die Worte zeigen „Es“, sie manifestieren „Es“,
aber sie sind „Es“ nicht. Die Existenz dieses Höchsten wird durch das Wort
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„Ich“ angezeigt, nur um der Möglichkeit des zwischenmenschlichen
Kontakts in der Welt willen der Welt zuliebe, aber nicht diesem „Es“
zuliebe.
Ich habe nur die Erfahrung der universellen Seele, die Energie, Licht und
Kraft ist das aus sich selbst strahlende höchste Universelle. Es kam um
der Evolution willen, und es hat sich weiterentwickelt. Das Universelle
Licht kommt um der Entwicklung willen, und es entwickelt sich.
AC: Das Licht entwickelt sich?
Ajja: Es kamen Licht und Kraft, aber jetzt blieb nur das Licht in seiner
entwickelten Form zurück. Es gibt keine Kraft. Die Seele weilt in diesem
physischen Körper, und sie ist nichts anderes als aus sich selbst
strahlendes Licht und Kraft. Und in der Evolution löst sich die Kraft auf
und lässt nur das Licht zurück.
AC: Können Sie das noch einmal sagen?
Ajja: Das dem Körper Innewohnende ist die universelle Kraft und
universelles Licht. Und im Prozess der Evolution löst sich die Kraft auf und
das Licht bleibt da. Aber die Wahrheit, die darin liegt, kann nicht wirklich
mitgeteilt werden. Nur durch den Kontakt, dadurch, dass man sich in der
Nähe einer verwirklichten Seele aufhält, kann man verstehen. Das ist eine
dieser Fragen, deren Antwort man nur finden kann, wenn man in der Stille
danach sucht. Sonst wird es zu einem bloßen Lehrvortrag, von dem keiner
von uns etwas hat.
AC: Ich verstehe, dass die wichtigste Antwort nicht in Worten gegeben
werden kann, dass sie nur vom Individuum selbst in der Stille gefunden
werden kann. Und doch ist es meine Erfahrung, dass manchmal dadurch,
dass man diese Art von Fragen stellt, magische und außergewöhnliche
Dinge geschehen können.
Ajja: Auch wenn die Wahrheit herauskommt oder wenn sich, wie Sie
sagen, magische und wunderbare Dinge ereignen wenn die Worte
kommen, sind sie doch nichts weiter als Worte.
AC: Aber die Worte, die von einem Jnani kommen, haben die Kraft zu
erleuchten.
Ajja: Soviel zum Jnani. Aber wo sind die Jnanis? Wer ist ein Jnani? Und
wer erkennt den Jnani?
AC: Der Jnani und der, der den Jnani erkennt, sind ein und dasselbe.
Ajja: Ist das Ihre Erfahrung?
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AC: Ja.
Ajja: Ich stelle diese Erfahrung nicht in Abrede. Aber ein Jnani wird nie
die Erfahrung haben: „Ich bin ein Jnani.“ Er ist einfach das, was er ist. Es
ist sein Urzustand. Wenn ein unnatürlicher Zustand kommt, wird er
darüber erstaunt sein. Das ist der ursprüngliche natürliche Zustand für
einen Jnani. Es gibt nur Glückseligkeit. Niemand ist da, um diese
Glückseligkeit zu erleben. Der Mensch, der sieht, ist nicht mehr da. Das ist
Evolution. Was also in diesem Fall ist, ist ein Zustand, der kein Zustand
ist. Das ist der ursprüngliche Zustand eines jeden Individuums. Aber man
muss bereit sein, zu diesem ursprünglichen Zustand zu gehen.
AC: Einer Ihrer Schüler sagte mir, dass Sie die früheren Leben von
Menschen sehen können, wenn Sie sie näher kennen lernen. Stimmt das?
Ajja: Ich bin kein Astrologe. Ich lese in niemandes Geist. Das wäre ein
Widerspruch zu Spiritualität. Die Befreiung sollte in diesem Leben
stattfinden. Manchmal sagt man uns, dass es aus irgendwelchen Gründen
in diesem Leben nicht möglich ist, dass wir auf zukünftige Inkarnationen
warten müssen. Aber wir wissen nicht, ob das wahr ist oder nicht, deshalb
sollten wir hier und jetzt Befreiung finden.
AC: Ich bin ganz Ihrer Meinung, und meine Frage beruht nur auf dem,
was ich von anderen Menschen hier gehört habe. Ich persönlich bin der
Ansicht, dass es sich dabei um eine reine Zeitverschwendung handelt und
auch, dass der Mensch in die andere Richtung schauen sollte, wenn er frei
sein möchte. Wenn man frei sein möchte, möchte man das Selbst
erkennen, das man ist, wenn es keine Zeit und keine Geschichte gibt.
Etwas über frühere Leben zu erfahren, könnte einem niemals Auskunft
über das geben, was nie passiert ist.
Ajja: Ja. Lassen Sie uns doch dieses Leben verstehen. Wenn man das
kennt, weiß man alles, was man wissen muss. Wir sind jetzt hier. Darum
geht es jetzt. Warum sollten wir zurückgehen? Es gibt weder Gegenwart
noch Zukunft. Wir sind hierher gekommen. Wir sind hier. Was ist das?
Wer sind wir? Wer bin ich? Wer ist der, der gekommen ist? Das, was
gekommen ist, ist aus sich selbst strahlende Kraft mit Licht. Das ist in sich
schon das Fundament. Es gibt Ingenieure, die das Gebäude errichten,
aber wir müssen uns nur das Fundament anschauen, uns kümmert nur
das Fundament. „Wer bin ich?“ dieses Fragen ist das Fundament. Wenn
man sich auf die Suche nach Dem macht, ist es möglich, die Antwort auf
jede Frage dieser Welt zu finden. Wenn man sich auf die Suche nach „Wer
bin ich?“ macht, wird man einen Zustand erreichen, in dem nichts ist.
„Ich“ bedeutet den Zustand, wo es nichts gibt. Es ist vorbei. Dazu bedarf
es keiner Sadhanas nur der Suche.
AC: Der direkten Suche.
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Ajja: Ja, der direkten Erforschung. Wenn sich der Suchende auf die Suche
nach Dem macht, dann gibt es den Suchenden nicht mehr. Dieser Zustand
ist Atman, und das ist Glückseligkeit, die aus sich selbst heraus strahlt,
Stille. Bis dahin besteht Ego. Dann ist es nicht mehr da.
Manchmal geschieht es im Leben, dass auf Grund irgendeines Ereignisses
eine vollständige Transformation stattfindet. Im Leben von vielen
Menschen kommt es bedingt durch einen einzigen Vorfall zu einer totalen
Transformation. Das finden wir in den Biografien aller großen südindischen
Heiligen Valmiki, Tulsi Das, Ramana Maharshi, J. Krishnamurti. Es war
ihr Karma, dass sie sich auf Grund kleiner Ereignisse verändert haben. Ein
roter Faden zieht sich durch all diese Geschichten. In meinem Fall zum
Beispiel waren das sechs Monate lang andauernde Schmerzen, und dann
keine Schmerzen mehr. Damit begann die Kontemplation; Sorge wurde zu
Kontemplation. Das Unwahre wurde zur Wahrheit. Die Dunkelheit wurde
zu Licht. Wie bei der Frucht: unreif ist sie bitter. Sobald sie reif wird, ist
sie süß. Aber diese Süße war immer da. Das Bittere hat sich in Süße
verwandelt.
Ebenso sollte Sorge zu Kontemplation werden. Nur aus diesem Grund
sollten wir den Gedanken eine Bedeutung beimessen. Wir sollten uns nicht
aufregen oder verloren fühlen, wenn wir Sorgen oder Probleme haben. Wir
sollten sie erleben. Dann kommt es zu einer Explosion.
AC: Meinen Sie, wir müssen uns ihnen voll und ganz stellen?
Ajja: Ja. Es erleben. Und wie sollte der Verstand sein, wenn man das
erlebt? Während dieser Zeit sollte der Verstand konzentriert sein, der
Verstand sollte darüber kontemplieren. Und wenn der Verstand darauf
fixiert ist, dann –
Ajja: Keinen Widerstand. Auf diese Weise geht derselbe Verstand, der
alles andere erlebt, in Kontemplation. Jenseits davon gibt es gar keinen
Verstand. Der Verstand selbst ist also sowohl die Ursache des
Gefangenseins als auch das Mittel zur Befreiung. Diese Welt ist nichts
anderes als das Getöse des Verstandes. Wenn die Arbeit des Verstandes
getan ist, gibt es keinen Verstand mehr. Dann sind alle Wünsche
verschwunden Wünsche, die eine Vorstellung des Verstandes sind. Alles
ist nur eine Vorstellung; alles das ist Verstand. Der Verstand muss sich
also zurückziehen. Alle Wünsche müssen verschwinden. Wenn auch nur
ein einziger Wunsch vorhanden ist, kann man den Verstand nicht nach
innen richten. Der Verstand muss sich ins Herz zurückziehen und mit der
Suche beginnen. „Wer bin ich? Wer bin ich? Ich bin hier in diesem Körper.
Wer bin ich?“ So müssen wir suchen. Wenn man auf der Suche ist, ist der
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Verstand auch schon weg. Wir haben Angst davor, diesen Ort zu
berühren. Aber der Verstand muss vollständig weg sein. Geben Sie ihn
auf.
AC: Sie sagten vorher, dass das universell anwendbar ist und die
Menschheit in ihrer Gesamtheit betrifft.
Ajja: Ja, das ist eine Frage, die die gesamte Menschheit betrifft. Wir
brauchen Freiheit. Niemand möchte gefangen sein. Jeder möchte frei sein.
Meine Botschaft für das ganze Universum ist nicht, dass nur ein einziger
Befreiung finden soll. Auch die anderen sollten befreit werden. Die ganze
Welt sollte frei werden. Das ist meine Botschaft.
Was ist der Weg zur Freiheit? Wenn Sie ein klares Bild von den
Erfahrungen haben, die ich im Laufe meines Lebens gemacht habe
Freuden und Sorgen, Triumphe und Niederlagen, Ehre und Schmach, und
wie ich darauf reagiert habe dann kann Ihnen das vielleicht helfen, Ihren
eigenen Weg zu finden. Wie ich diesen Erfahrungen begegnet bin, wie ich
mich in meinem Leben bewegt habe, wie ich den Tod akzeptiert habe. Wie
Handlung ausgeführt wurde und wie Transformation stattgefunden hat.
Mein ganzes Leben gibt, wenn es verstanden wird, ein klares Bild von
diesem Weg. Wenn wir alle diese Dinge verstanden haben, dann müssen
wir dieses Verstehen in unser praktisches Leben umsetzen. Dann werden
wir frei. Wenn ein einziger Mensch auf diese Art und Weise Befreiung
findet, dann ist die Mission meines Lebens erfüllt. Deshalb sage ich das
alles damit es den Zuhörern helfen möge. Deshalb habe ich mich zu
diesem Interview bereit erklärt. Ansonsten würde ich in vollständigem
Schweigen verharren.
Das Gesamtbild ist die integrierte Evolution des Individuums und dieser
Kraft. Erst wenn wir in unserem Handeln vollständig frei werden, ist
unsere Geburt fruchtbringend. Dann ist unser Leben wirklich erfüllt.
Freiheit ist das Ziel. Jeder muss frei werden. Und alle sind nur aus diesem
einzigen Grund ins Leben gekommen diese Freiheit an sich ist
Glückseligkeit für alle, für jeden Einzelnen. Jeder Mensch sollte aus der
Gefangenschaft erlöst werden. Wenn nur ich alleine frei werde, dann
genügt das nicht, um mich glücklich zu machen. Jede Seele muss frei
werden. Ich hatte einen kurzen Einblick in diese Möglichkeit, und wenn wir
alle frei wären, dann wäre das die wahre Glückseligkeit für mich.
AC: Dann geschieht dies also zum Wohle der Menschheit.
Ajja: Ja. Diese Botschaft richtet sich an die Menschheit als Ganzes. Wenn
Reinheit im Inneren ist, dann müssen Handlung, Verstand und Herz eins
sein. Verstand und Herz müssen rein sein und unser Handeln ebenfalls.
Wir alle müssen über das Denken hinausgehen, bis zu dem Zustand, wo
es keinerlei Hindernisse mehr gibt. Nur allein durch dieses wirkliche
Suchen wird der Mensch eine universelle Seele. Und diese Fähigkeit hat
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jeder. Nicht nur einer. Jeder Mensch hat in sich die Fähigkeit, Das zu
werden.
Ich bin überhaupt nicht im Verstand. Ich bin in einem Zustand jenseits
aller Gedanken und Emotionen. Ich spreche, aber ich weiß gar nichts. Ich
denke nicht; ich lese keine Bücher. Für die wahre Erkenntnis ist nichts
davon notwendig. Für die intellektuelle Debatte sind Bücher notwendig,
aber für die Erfahrung des Selbst braucht man nichts. Auch wenn ich in
irgendeinem abgelegenen Winkel bin, hört es nicht auf. Es breitet sich im
gesamten Universum aus, sickert in das gesamte Universum ein. Wenn
ein Mensch diesen Zustand von Ananda erreicht, wird es sich einfach
verbreiten, auch wenn er sich in einem abgelegenen Winkel befindet. Auch
wenn er sich zu verstecken versucht, strahlt es einfach von ihm aus. Es
reicht überall hin in das ganze Universum, in den gesamten Kosmos.
Nun? Was werden Sie mit Ihren Aufzeichnungen machen?
AC: Sie werden Teil eines Artikels über Sie sein über Ihre Erfahrung und
über das, was Sie sagen das wird Menschen in Amerika und an anderen
Orten helfen, von dem zu profitieren, was Sie entdeckt haben.
Ajja: Ich habe das Gefühl, als ob wir uns gut kennen. Ich empfinde Sie
nicht als Fremden.
AC: Ja, mir geht es genauso.
Ajja: Es gibt kein Amerika und kein Indien. Es gibt nur das ganze
Universum.
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I ntime Begegnungen der A DVA I TA Art:
der euphorische Nihilismus des Ramesh Bals ekar
von Chris Parish
Einleitung
Versuchen Sie sich bitte vorzustellen, Sie erwachen in einer anderen Welt.
Sie reiben sich die Augen, um sich an die intensive Sonne zu gewöhnen,
und sehen, dass diese andere Welt der Welt hier in vielerlei Hinsicht gar
nicht unähnlich ist. Sie sind von Geschöpfen umgeben, die für Ihre Augen
absolut genauso aussehen wie die Menschen, mit denen Sie gewöhnlich
die Welt teilen. Sie beobachten, wie sie ihren Alltagsgeschäften
nachgehen, ihr Leben leben, mit anderen sprechen und die zahllosen
Entscheidungen treffen, die das Leben nun einmal verlangt. Es ist ein in
beruhigender Weise bekanntes und normales Bild.
Aber bald stellen Sie fest, dass in dieser Welt die Dinge nicht unbedingt so
sind, wie sie zu sein scheinen. Denn das sind keine Menschen. Nein, es
sind „KörperGeistOrganismen“, die im Unterschied zu ihren
menschlichen Ebenbildern nicht die Fähigkeit zur Wahl zwischen
verschiedenen Optionen haben und auch keine Entscheidungen treffen
können. In der Tat besitzen diese Organismen absolut nichts, was dem
entsprechen würde, was wir den freien Willen nennen. Die Drehbücher zu
ihren Leben waren bereits lange, bevor sie geboren wurden, in Stein
gemeißelt, und es bleibt ihnen nichts anderes zu tun als mechanisch die
Schritte zu tun, die ihre Programmierung vorgibt. Diese scheinbar
menschlichen Wesen, so könnte man meinen, sind Maschinen nicht
unähnlich. Während sie sich allem Anschein nach wie normale frei
denkende Wesen verhalten, die eifrig ihren Alltagsgeschäften nachgehen,
sagen sie allerdings, wenn man sie danach fragt, immer wieder beharrlich,
dass sie gar nichts tun. In dieser eigenartigen Welt, so sagen sie
tatsächlich, gibt es „keinen Handelnden“. Außerdem kann in dieser Welt
auch niemand jemals für irgendetwas verantwortlich gemacht werden.
Selbst wenn es so aussieht, als würde eines dieser Wesen einem anderen
Schaden zufügen, wird keine Reue empfunden und niemandem wird dafür
die Schuld gegeben. Würde man einen dieser KörperGeistOrganismen
dazu befragen, wäre die Antwort, dass es niemanden gibt, der etwas
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getan hat. Ethik ist hier ein unbekannter Begriff. Die Naturgesetze
scheinen in dieser schönen neuen Welt außer Kraft gesetzt zu sein. Oder
sie wurden hier vielleicht neu formuliert, denn die Wesen scheinen einige
seltsame Gesetze einzuhalten. Sie fragen sich, wo in aller Welt sie sich
wohl befinden. Aber Sie sind nicht auf dieser Welt. Sie sind auf dem
Planeten Advaita gelandet.
Ich war nach Bombay gekommen, um Ramesh Balsekar, einen der
bekanntesten heute lebenden Lehrer der AdvaitaVedantaLehre, zu
interviewen. Er lebt im Herzen dieser riesigen chaotischen Stadt in einem
exclusiven Wohngebiet direkt am Meer, das, wie mich mein Taxifahrer
informierte, Wohnsitz zahlreicher VIPs ist. Der Portier seiner Wohnanlage
zeigte mir mit der automatischen Annahme, dass ich als Westler wohl
gekommen war, um Ramesh Balsekar zu sehen, den Weg zu einer oberen
Etage, wo Balsekar in einer sehr geräumigen und gediegen eingerichteten
Wohnung residiert. Balsekar war ein sehr höflicher Gastgeber und
begrüßte mich herzlich in traditioneller indischer Manier. Er war strahlend
und lebhaft und ich konnte nur schwer glauben, dass er achtzig Jahre alt
sein sollte.
Da wir in dieser Ausgabe von WIE unseren Fokus auf Advaita gerichtet
haben, wollten wir Balsekar einerseits deshalb sprechen, weil er ein
allgemein bekannter und sehr einflussreicher AdvaitaLehrer ist – jetzt mit
Schülern, denen er die Berechtigung erteilt hat, eigenverantwortlich zu
24
lehren, – und andererseits, weil er von vielen als der Nachfolger eines der
bekanntesten AdvaitaLehrer der modernen Zeit angesehen wird. Wie dem
auch sei, beim Studium der Schriften von Balsekar erkannten wir bald,
dass er eine durchaus ungewöhnliche und vielleicht auch von ihm
persönlich geprägte Form von Advaita lehrt, die, so hatten wir ganz
ehrlich gesagt das Gefühl, zu sehr fraglichen und sogar irritierenden
Schlussfolgerungen geführt hat. Denn obwohl das indische Denken seit
langem wegen seiner deterministischen Tendenzen kritisiert wird, scheint
Balsekar diesen Fatalismus zu einem noch nie da gewesenen Extrem
geführt zu haben. Letztendlich war es ebenso sehr der Wunsch, diese
Bereiche, die solches Unbehagen hervorriefen, näher zu durchleuchten,
wie auch unser allgemeines Interesse an der AdvaitaLehre, die mich
schließlich nach Bombay führten, um mit ihm zu sprechen. Und obwohl ich
in der Erwartung einer sicherlich herausfordernden Begegnung hierher
gekommen war, wird mir jetzt rückblickend klar, dass es absolut
unmöglich gewesen wäre, mich in irgendeiner Weise auf dieses Gespräch
vorzubereiten, das stattfinden sollte, während uns Kaffee gereicht wurde
und wir es uns in seinem Wohnzimmer bequem machten.
I nterview
W I E: Sie werden sowohl in Indien als auch im Westen als Advaita
VedantaLehrer immer bekannter. Können Sie uns beschreiben, was Sie
lehren?
Ramesh Balsekar: Das kann ich tatsächlich mit einem einzigen Satz
sagen. Der eine Satz, der meiner gesamten Lehre zugrunde liegt, ist:
„Dein Wille geschehe.“ Oder wie die Moslems sagen: Inshallah „Wenn Gott
es will.“ Oder mit den Worten Buddhas: „Dinge geschehen, Handlungen
erfolgen, es gibt dabei keinen individuell Handelnden.“ Sehen Sie, der
Grundkonflikt im Leben ist: „Ich mache immer alles richtig und deshalb
will ich dafür auch belohnt werden, er macht immer etwas falsch und
daher möchte ich, dass er bestraft wird.“ Darum geht es doch einzig und
allein im Leben, nicht wahr?
W I E: Nun ja, sicher ist das oft so.
RB: Soweit ich beobachtet habe, ist das die Basis. Das ganze Problem
entsteht, weil jemand sagt: „Ich habe etwas gemacht, und ich verdiene
eine Belohnung, oder er hat etwas getan, und deshalb möchte ich ihn für
das, was er getan hat, bestrafen.“
W I E: Wie gelingt es Ihnen, Menschen dazu zu bringen, das zu erkennen?
RB: Das ist ganz einfach. Wenn Sie jede Handlung analysieren, von der
Sie annehmen, es handle sich dabei um Ihre Handlung, werden Sie
feststellen, dass es sich um die Reaktion des Gehirns auf ein äußeres
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Ereignis handelt, über das Sie keine Kontrolle haben. Ein Gedanke kommt
– man hat keine Kontrolle darüber, welcher Gedanke kommen wird. Man
hört oder sieht etwas – man hat keine Kontrolle darüber, was man als
Nächstes hören oder sehen wird. Es finden diese ganzen Ereignisse statt,
die man nicht unter Kontrolle hat. Und was geschieht dann? Das Gehirn
reagiert auf den Gedanken oder die Sache, die man gesehen, gehört,
geschmeckt, gerochen oder berührt hat. Die Reaktion des Gehirns ist das,
was Sie „Ihre eigene Handlung“ nennen. Aber das ist tatsächlich nur ein
Konzept.
W I E: Was ist dann der Unterschied zwischen den Gedanken, Gefühlen
und Handlungen eines erleuchteten Menschen und denen einer Person, die
nicht erleuchtet ist?
RB: Es ist derselbe Vorgang. Der einzige Unterschied ist der, dass der
Weise versteht, dass genau das passiert. Daher weiß er, dass er nichts tut
– alles geschieht einfach. Der Weise weiß, „ich tue nichts“. Der
gewöhnliche Mensch hingegen sagt: „Ich tue etwas, und er oder sie tut
etwas. Deshalb möchte ich meine Belohnung, und ich möchte, dass er
oder sie bestraft wird.“ Belohnung und Strafe sind von der Vorstellung
abhängig, dass er oder sie etwas tut oder ich etwas tue.
W I E: Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich verstehen, dass wir es nicht
unter Kontrolle haben, welche Gedanken oder Gefühle aufkommen. Aber
manchmal findet Handlung statt und manchmal nicht, und mir scheint es
einen großen Unterschied zu machen, ob ein Gedanke einfach kommt oder
ob eine Handlung stattfindet, die eine Auswirkung auf einen anderen
Menschen hat.
RB: Die Handlung, die stattfindet, ist das Ergebnis davon, dass das Gehirn
auf den Gedanken reagiert. Wenn es geschieht, dass der Gedanke einfach
nur wahrgenommen wird und das Gehirn nicht auf diesen Gedanken
reagiert, erfolgt keine Handlung.
W I E: Wenn es aber, wie Sie sagen, niemanden gibt, der über die Reaktion
entscheidet, was ist dann die Ursache dafür, dass eine Handlung
stattfindet oder nicht?
RB: Eine Handlung findet dann statt, wenn es Gottes Wille ist, dass diese
Handlung stattfinden soll. Wenn es nicht Gottes Wille ist, dann findet die
Handlung nicht statt.
W I E: Wollen Sie damit sagen, dass jede Handlung, die stattfindet, der
Wille Gottes ist?
RB: Ja, es ist Gottes Wille.
W I E: Der durch einen Menschen wirksam wird?
26
RB: Ja, durch einen Menschen.
W I E: Egal, ob der Mensch erleuchtet ist oder nicht? Mit anderen Worten
durch jeden?
RB: Das ist richtig. Der einzige Unterschied, wie ich schon sagte, ist, dass
der normale Mensch denkt: „Es ist meine Handlung“, der Weise hingegen
weiß, dass es niemandes Handlung ist. Der Weise weiß, dass „Handlungen
erfolgen, Ereignisse stattfinden, aber dass es keinen individuellen
Handelnden gibt“. Das ist meines Erachtens der einzige Unterschied,
soweit wie mein Konzept geht. Der einzige Unterschied zwischen einem
Weisen und einem gewöhnlichen Menschen ist der, dass der gewöhnliche
Mensch denkt, dass jeder einzelne Mensch das tut, was durch den Körper
GeistOrganismus stattfindet. Der Weise weiß, dass es keine Handlung
gibt, bei der er handelt; wenn eine Handlung zufällig jemanden verletzt,
wird er daher alles ihm Mögliche tun, um diesem Menschen zu helfen –
aber es wird keine Schuldgefühle geben.
W I E: Wollen Sie damit sagen, dass ein Mensch, der immerhin durch sein
Handeln jemandem Schaden zufügt, oder der KörperGeistOrganismus,
wie Sie es nennen, der es ausgeführt hat, dann dafür nicht verantwortlich
ist?
RB: Ich möchte damit sagen, dass nicht „ich“ es getan habe. Ich sage
nicht, dass ich es nicht bedauere, dass jemandem Schaden zugefügt
wurde. Die Tatsache, dass jemand verletzt wurde, lässt ein Gefühl von
Mitleid entstehen, und dieses Gefühl von Mitleid wird dazu führen, dass ich
alles versuchen werde, um den Schmerz zu lindern. Aber es wird kein
Schuldgefühl geben: nicht ich habe es getan! Die andere Seite davon ist,
dass auch Handlungen erfolgen, für die ich von der Gesellschaft gelobt
und belohnt werde. Ich sage nicht, dass nicht durch Lob ein Gefühl von
Glück entsteht. Genauso wie aufgrund der Verletzung Mitleid entstand,
kann durch das Lob das Gefühl von Befriedigung oder Glück entstehen.
Aber es wird kein Stolz da sein.
W I E: Aber meinen Sie buchstäblich, dass nicht ich es tue, wenn ich jetzt
jemanden schlage? Ich möchte das nur klarstellen.
W I E: Ich könnte also einfach nur sagen: „Nun, es ist Gottes Wille
gewesen, dass ich das getan habe; es ist nicht mein Fehler.“
RB: Sicherlich. Eine Handlung erfolgt, weil es das Schicksal dieses Körper
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GeistOrganismus ist und weil es Gottes Wille ist. Und die Folgen dieser
Handlung sind ebenfalls das Schicksal dieses KörperGeistOrganismus.
Wenn eine gute Tat geschieht, ist das Schicksal. Wir hatten zum Beispiel
eine Mutter Teresa. Der KörperGeistOrganismus, der als „Mutter Teresa“
bekannt ist, war so programmiert, dass nur gute Handlungen entstanden.
Die Tatsache, dass gute Handlungen erfolgten, war das Schicksal des
KörperGeistOrganismus mit dem Namen Mutter Teresa. Und die Folgen
waren: ein NobelPreis, Auszeichnungen, Nominierungen und Spenden für
ihre Sache. All das war das Schicksal dieses KörperGeistOrganismus mit
dem Namen Mutter Teresa. Andererseits gibt es einen psychopathischen
Organismus, der so programmiert ist – von derselben Quelle –, dass nur
böse und pervertierte Handlungen erfolgen. Der Umstand, dass diese
schlechten und pervertierten Handlungen erfolgen, ist das Schicksal eines
KörperGeistOrganismus, der von der Gesellschaft als Psychopath
bezeichnet wird. Aber der Psychopath hat es sich nicht ausgesucht, ein
Psychopath zu sein. Es gibt tatsächlich keinen Psychopathen; es gibt nur
einen psychopathischen KörperGeistOrganismus, dessen Schicksal es ist,
böse und pervertierte Handlungen hervorzubringen. Und die Folgen dieser
Handlungen sind ebenfalls das Schicksal dieses KörperGeistOrganismus.
W I E: Wollen Sie damit sagen, dass alles vorherbestimmt ist? Dass alles
von Geburt an vorprogrammiert ist?
RB: Ja. Ich verwende das Wort „Programmieren“, um auf die dem Körper
GeistOrganismus innewohnenden Charakteristika hinzuweisen.
„Programmierung“ heißt also: Gene plus umweltbedingte Konditionierung.
Man konnte sich die Eltern nicht aussuchen, bei denen man geboren
wurde, daher konnte man sich die Gene nicht aussuchen. Genauso wenig
konnte man sich die Umgebung aussuchen, in der man geboren wurde.
Daher konnte man sich nicht aussuchen, welche Konditionierung man in
der Kindheitsumgebung erfahren würde, was die Konditionierung durch
Heim, Gesellschaft, Schule oder Kirche miteinschließt. Die Psychologen
sagen, dass die gesamten Konditionierungen, die man bis zum Alter von
drei oder vier Jahren erhält, die Grundkonditionierung darstellen. Man wird
noch weiter konditioniert, aber die Grundkonditionierung, die die
Persönlichkeit ausmacht, sind die Gene plus umweltbedingte
Konditionierung. Das nenne ich Programmierung. Jeder KörperGeist
Organismus ist auf eine einmalige Weise programmiert. Es gibt keine zwei
KörperGeistOrganismen, die sich gleichen.
W I E: Ja, aber ist es nicht richtig, dass zwei Menschen sehr ähnlich
konditioniert sein könnten, und es doch möglich ist, dass sich der eine
ganz anders entwickeln kann als der andere?
RB: Richtig. Deshalb verwende ich zwei Begriffe: der eine ist
Programmierung im KörperGeistOrganismus an sich, der andere ist
Schicksal. Das Schicksal ist der Wille Gottes, in Bezug auf den Körper
GeistOrganismus, der im Moment der Empfängnis festgelegt wurde. Das
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Schicksal einer bestimmten Empfängnis mag es auch sein, überhaupt
nicht geboren zu werden – in diesem Fall wird sie dann abgetrieben. Das
alles ist ein Konzept. Bitte keine Missverständnisse. Das ist mein Konzept.
W I E: Sie sagen, dass das ein Konzept ist, und natürlich sind alle Worte
Konzepte, aber wie können wir wissen, dass dieses Konzept die Wahrheit
ist? Ich tendiere zu der Meinung, dass jeder Mensch individuell
verantwortlich ist, und auch wenn es ein bestimmtes Maß an
Konditionierung gibt, das wir erben, haben wir doch immer noch die Wahl,
wie wir darauf reagieren. Dem einen ist es möglich, Aspekte seiner
Konditionierung zu transzendieren, in denen ein anderer vielleicht sein
ganzes Leben lang feststeckt. Da das vorkommt, würde ich sagen, dass es
auf den Willen des Individuums zurückzuführen ist, die Konditionierung zu
transzendieren und das mit Erfolg zu tun.
RB: Wie kann das aber geschehen, wenn es nicht Gottes Wille ist?
Nehmen wir an, da sind zwei Menschen: der eine versucht, seine
Schwachstelle zu überwinden und tut es, der andere nicht. Ich will damit
sagen, dass beide, der eine, dem es gelingt, und der andere, dem es nicht
gelingt, das tun, weil es das Schicksal des einzelnen KörperGeist
Organismus ist – und das wiederum ist Gottes Wille.
W I E: Könnten wir dann aber nicht genauso leicht sagen, dass es Gottes
Wille ist, jedem Individuum die freie Wahl zu lassen, eigene
Entscheidungen zu treffen?
RB: Nein. Sehen Sie, meine Frage an Sie ist folgende: wessen Wille
überwiegt? Der des Individuums oder der Gottes? Aus Ihrer eigenen
Erfahrung, bis zu welchem Grad war Ihr eigener freier Wille
ausschlaggebend?
W I E: Nun, ich meine, dass zu gewissen Zeiten der Wille des Individuums
auf jeden Fall überwiegen kann.
RB: Über den Willen Gottes? Wenn Sie etwas wollen und dafür arbeiten
und es tritt dann ein, dann ist das so, weil Ihr Wille mit dem Willen Gottes
übereingestimmt
W I E: Nehmen wir das Beispiel eines Menschen, der drogensüchtig wird
und es auch das ganze Leben bleibt. Genauso gut könnte man
argumentieren, dass er die Wahl getroffen hat, sich gegen Gottes Willen
zu stellen, und dabei erfolgreich war – eben deshalb, weil es den freien
Willen gibt.
RB: Ob man das nun aber akzeptiert oder nicht, ist für sich schon der
Wille Gottes, verstehen Sie das nicht? Gottes Willen zu akzeptieren oder
nicht zu akzeptieren ist an und für sich Gottes Wille!
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W I E: Ich würde sagen – nicht unbedingt.
RB: Ich verstehe, Sie spielen des Teufels Advokat.
W I E: Nein, eigentlich nicht, ich möchte die Wahrheit finden.
RB: Aber was ist wahr? Ich habe bereits gesagt, dass alles, was ich
behaupte, ein Konzept ist.
W I E: Ja, ich verstehe, aber nicht alle Konzepte sind gleich. Manche stellen
etwas dar, das die Wahrheit ist, und andere haben vielleicht überhaupt
nichts mit der Wahrheit zu tun.
RB: Alle Konzepte versuchen, etwas darzustellen, trotzdem sind es alle
nur Konzepte. Die eigentliche Frage wäre: „Was ist die Wahrheit, die kein
Konzept ist?“
W I E: Was ich damit sagen will, ist, dass die Feststellung, dass alles
vorprogrammiert ist, dass alles Schicksal ist und dass es keine
Wahlmöglichkeit gibt, eine äußerst extreme Form von Reduktionismus zu
sein scheint. Nach dieser Sichtweise sind menschliche Wesen wie
Computer; alles, was uns betrifft, ist total eingespeichert.
RB: Ganz genau so ist es.
W I E: Aber mir scheint, dass bei dieser Sichtweise das menschliche Herz
fehlt. Dann sind wir nichts anderes als Maschinen – alles geschieht mit
uns. Wir können nichts tun, nichts verändern.
RB: Ja, genau!
W I E: Das könnte aber ganz leicht zu einer tiefen Gleichgültigkeit dem
Leben gegenüber führen.
RB: Ja, und wenn das so wäre, wäre das ganz wunderbar!
W I E: Wirklich? Wäre es das?
RB: Aber das ist genau der Punkt! Sicherlich. Dann kann man sagen, dass
man alles, was passiert, annimmt. Dann gibt es kein Unglücklichsein, es
gibt kein Leiden, keine Schuldgefühle, keinen Stolz, keinen Hass, keinen
Neid. Was ist daran so falsch?
W I E: Ist noch irgendwo ein Herz?
RB: Verstehen Sie unter „Herz“, dass man Kummer hat oder sich schuldig
fühlt?
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W I E: Nein, das meine ich nicht.
RB: Was verstehen Sie dann unter Herz?
W I E: Ich meine damit etwas in uns, das sich um das Leben im weiteren
Sinne Gedanken macht.
RB: Wie ich Ihnen schon sagte, eine Handlung erfolgt durch diesen
KörperGeistOrganismus, und wenn dieses Individuum feststellt, dass die
Handlung jemandem Schmerz zugefügt hat, entsteht Mitleid. Wie kann
Mitleid entstehen, wenn kein Herz da ist?
W I E: Aber scheint es nicht ein wenig seltsam zu sein, zuerst einmal
jemandem Schmerz zuzufügen und dann hinterher Mitleid mit ihm zu
empfinden? Wäre es nicht besser, gleich von Anfang an niemanden zu
verletzen?
RB: Aber das hat man nicht unter Kontrolle! Hätte man das unter seiner
Kontrolle, hätte man es von Anfang an gar nicht getan.
W I E: Andererseits, wenn ein Mensch davon überzeugt wäre, dass er
Kontrolle haben kann, anstatt anzunehmen, dass er keine hat, wäre es
vielleicht gar nicht erst geschehen!
RB: Warum übt der Mensch dann nicht Kontrolle über alles aus, was
geschieht? Ich würde Ihnen gerne eine Frage stellen: Der Mensch verfügt
ganz offensichtlich über einen großartigen Intellekt, so viel Intellekt, dass
der unbedeutende kleine Mensch in der Lage gewesen ist, einen Menschen
auf den Mond zu schicken.
W I E: Ja, das stimmt.
RB: Und er besitzt den Intellekt auch, um zu wissen, dass schreckliche
Dinge passieren werden, wenn er bestimmte Dinge tut. Er besitzt den
Verstand, um zu wissen, dass, wenn er Atomwaffen oder chemische
Waffen herstellt, die Menschen diese verwenden werden und dass mit der
Welt Schreckliches passieren wird. Er hat den Intellekt – wenn er also den
freien Willen hat, warum tut er es dann? Warum hat der Mensch die Welt
dann in den beklagenswerten Zustand gebracht, in der sie sich befindet,
wenn er den freien Willen hat?
W I E: Ich gebe zu, die Situation, die Sie darstellen, ist tatsächlich
verrückt. Aber ich würde sagen, sie ist auf den Umstand zurückzuführen,
dass die Menschen einen schwachen Willen haben. Und ich glaube, dass
sich die Menschen ändern können, wenn sie es wollen – wenn es ihnen
nicht egal ist.
RB: Warum haben sie es dann nicht getan?
31
W I E: Manche Menschen ändern sich tatsächlich, aber, wie ich schon
sagte, die meisten Menschen haben anscheinend einen sehr schwachen
Willen.
RB: Was so viel heißt wie: sie haben keinen freien Willen!
W I E: Im Besitz des freien Willens zu sein garantiert allein noch nicht,
dass wir klug handeln. Aus dem Beispiel, das Sie gerade angeführt haben,
geht hervor, dass Menschen oft die Entscheidung treffen, Dinge zu tun,
die ziemlich großen Schaden anrichten.
RB: Sie meinen, wir haben den freien Willen, die Welt zu zerstören? Wenn
Sie sagen, wir haben den freien Willen, die Welt zu zerstören, heißt das
mit anderen Worten, dass wir die Welt zerstören, weil wir es tun wollen –
in vollem Bewusstsein, dass die Welt zerstört werden wird! Freier Wille
bedeutet, man will es tun.
W I E: Ich glaube, das Problem ist eher das, dass die Menschen
normalerweise die Auswirkungen ihrer Handlungen nicht bedenken. Sie
denken oft nur an sich selbst, ohne darüber nachzudenken, wohin ihr
Handeln führen könnte.
W I E: Wenn Sie sagen „sie sollen es nicht“, was heißt das dann?
RB: Sie meinen, wie geschieht die Handlung? Die Antwort darauf ist, dass
die Energie in diesem KörperGeistOrganismus die Handlung gemäß der
Programmierung hervorbringt.
W I E: Die Handlung, so wie Sie es beschreiben, kommt einfach durch den
Menschen.
RB: Ja, sie fließt. Die Handlung geschieht. Das ist der eigentliche Punkt
32
bei dem, was ich sage – um auf die Worte Buddhas zurückzukommen –:
„Ereignisse geschehen, Handlungen erfolgen.“
W I E: Aber soviel ich über Buddha weiß, hatte er ebenfalls das sehr starke
Gefühl, dass das Individuum persönlich für seine Handlungen
verantwortlich ist. Ist das nicht die Basis seiner gesamten Lehre über
Karma, Ursache und Wirkung?
RB: Nicht Buddha!
W I E: Ich habe den Eindruck, dass Buddha ziemlich viel über das „richtige
Handeln“ lehrte. Er schien sich sehr damit befasst zu haben, was
Menschen tun, und betonte sehr, dass die Menschen sich entsprechend
bemühen müssten, sich zu ändern.
RB:. Das ist eine spätere Interpretation des Buddhismus. Buddhas Worte
sind sehr klar. Wer hat Kontrolle über die Dinge, die geschehen? Gott hat
Kontrolle darüber. Das ist die Basis jeder Religion, wie wir gesehen haben.
Und warum gibt es trotzdem Kriege im Namen der Religion, wenn das die
Basis jeder Religion ist? Es sind die Menschen mit ihren Interpretationen,
die diese Kriege verursachen! Und wie könnte das überhaupt geschehen,
wenn es nicht Gottes Wille wäre?
W I E: Es ist klar, dass Ihrer Meinung nach alles, was wir tun, deshalb
geschieht, weil Gott will, dass wir es tun. Aber ich habe den Eindruck,
dass das nur in dem Fall wirklich einen Sinn ergibt, wenn ein Mensch am
Ende des spirituellen Weges angekommen ist – wenn er zum Ende des
Egos gelangt ist –, denn die Handlungen dieses Menschen dienen keinem
Selbstzweck, und der Wille Gottes würde daher nicht verzerrt. Aber bis
das der Fall ist, kann es gut sein, dass es sich um eine spontane – durch
ein selbstsüchtiges Gefühl bedingte – Reaktion handelt, wenn sich ein
Mensch einem anderen gegenüber niederträchtig verhält. Wenn es wirklich
so wäre, könnte das, was Sie sagen, tatsächlich als Rechtfertigung für
unangenehmes oder aggressives Verhalten verstanden werden. Dann
könnte man einfach sagen: „All das ist Gottes Wille. Das macht doch
nichts!“
RB: Ich weiß, aber es ist die Wahrheit. In Wirklichkeit stellen Sie die
Frage: „Warum hat Gott die Welt so erschaffen, wie sie ist?“ Aber sehen
Sie, ein Mensch ist nur etwas Erschaffenes, ein Teil der Gesamtheit der
Schöpfung, die aus der Quelle kommt. Meine Antwort ist daher: Etwas
Erschaffenes kann nie im Leben seinen Schöpfer verstehen! Mit einer
Metapher ausgedrückt: Stellen Sie sich vor, Sie malen ein Bild, und auf
diesem Bild malen Sie eine Figur. Dann möchte diese Figur erstens
wissen, warum Sie, der Maler, genau dieses Bild gemalt haben und
zweitens, warum Sie die Figur so hässlich gemacht haben! Verstehen Sie,
wie kann etwas Erschaffenes jemals die Möglichkeit haben, den Willen des
eigenen Schöpfers zu erkennen? Ich will aber sagen, dass Sie das nicht
33
davor bewahrt, das zu tun, was Sie meinen, tun zu müssen! Zu
akzeptieren, dass nichts geschieht, wenn es nicht Gottes Wille ist, enthebt
keinen Menschen der Aufgabe, das zu tun, wovon er denkt, dass er es tun
muss. Was sonst kann man tun?
W I E: Aber wie ich schon sagte, auf Grund dieser Argumentation könnte
man, glaube ich, ganz leicht den Schluss ziehen: „Es ist doch alles Gottes
Wille, es ist ganz egal, was passiert“, und demzufolge einfach aufgeben.
RB: Sie meinen: „Warum soll ich dann nicht den ganzen Tag im Bett
bleiben?”
W I E: Ja, warum überhaupt irgendeine Anstrengung unternehmen?
RB: Die Antwort auf diese Frage ist, dass die in diesem KörperGeist
Organismus vorhandene Energie es diesem KörperGeistOrganismus
nicht gestatten wird, die ganze Zeit über untätig zu bleiben. Die Energie
wird fortgesetzt Handlungen entstehen lassen, physisch oder geistig, in
jedem Sekundenbruchteil, je nach der Programmierung des KörperGeist
Organismus und je nach dem Schicksal des KörperGeistOrganismus, das
der Wille Gottes ist. Und da Sie ja weiterhin denken, Sie seien ein
Individuum, bewahrt Sie das nicht davor, das zu tun, was Sie glauben, tun
zu müssen. Damit meine ich, dass das, was Sie in irgendeiner Situation in
einem bestimmten Moment glauben, tun zu müssen, genau das ist, was
Gott will, dass Sie denken, tun zu müssen! Der springende Punkt ist, dass
es Sie nicht davor bewahrt, das zu tun, was Sie denken, tun zu müssen,
nur deshalb weil Sie akzeptieren, dass es Gottes Wille ist. Verstehen Sie?
Tatsächlich können Sie nicht anders, als es zu tun!
W I E: Das klingt so, als ob nach Ihrer Weltsicht all das, was wir als freie
Wahl, Wille und Verantwortlichkeit sehen, sich weg vom Individuum, hin
zu Gott oder dem Bewusstsein verlagert hätte. Meinen Sie das so?
RB: Es hat sich nicht verlagert. Wenn Sie der Meinung sind, Sie tun es,
was ist dann? Schuldgefühle, Stolz, Hass und Neid. Aber das hält die
Dinge, die geschehen, nicht davon ab, weiter zu geschehen. Wenn Sie
aber denken, Sie tun es nicht, dann – keine Schuldgefühle, kein Stolz,
kein Hass, kein Neid! Das Leben wird friedlicher.
W I E: Ich las in einem von einigen Ihrer Schüler verfassten Flugblatt
etwas, das in Bezug auf diesen Punkt wichtig zu sein scheint. Es heißt da:
„Das, was dir angenehm ist, kann nur etwas sein, von dem Gott will, dass
es dir angenehm ist. Es kann nichts geschehen, wenn es nicht Sein Wille
ist.“
RB: Ja. Das ist richtig.
W I E: In demselben Flugblatt heißt es: „Fühle dich nicht schuldig, auch
wenn Ehebruch geschieht. Du, die Quelle, bist immer rein.“
34
RB: So sagte Ramana Maharshi.
W I E: Ich denke, die Quelle kann durchaus immer rein sein, aber noch
einmal, es scheint mir doch so, als ob das ganz leicht als eine
Berechtigung verstanden werden könnte, gewissenlos zu handeln. Man
könnte sagen: „Es ist egal, ob ich Ehebruch begehe, es ist egal, ob ich
meine Freunde verletze, denn das ist einfach nur passiert.“ Es könnte
ganz leicht als die Rechtfertigung verstanden werden, einen Wunsch
auszuleben, einfach nur deshalb, weil dieser Wunsch zufällig da ist.
RB: Aber geschieht nicht genau das?
W I E: Sicherlich geschieht das, aber...
RB: Sie meinen, es würde öfter geschehen?
W I E: Es könnte leicht sein, dass es öfter geschieht. Ich könnte sagen:
„Nun, es ist ganz egal, was ich jetzt mache. Ich brauche mich gar nicht
bemühen, mich zu beherrschen, wenn ich einen Wunsch verspüre.“
Verstehen Sie, was ich meine?
RB: Die Frage, die gewöhnlich gestellt wird, lautet so: „Wenn ich in
Wahrheit eigentlich nichts tue, was sollte mich dann davon abhalten, ein
Maschinengewehr in die Hand zu nehmen und damit zwanzig Menschen zu
töten?“ Das ist doch Ihre Frage, richtig?
W I E: Nun, das ist ein extremes Beispiel.
RB: Ja, nehmen wir ein extremes Beispiel.
W I E: Aber das Beispiel mit dem Ehebruch erscheint mir interessanter für
die Betrachtung, denn wenige Menschen würden etwas so Extremes tun
wie andere Menschen mit einem Maschinengewehr umzubringen.
RB: Gut. Es ist dasselbe, wenn wir über Ehebruch sprechen. Ich habe
gelesen, dass Biologen und Psychologen aufgrund ihrer Forschungen zu
dem Schluss gekommen sind, dass man sich nicht selbst die Schuld geben
soll, wenn man seine Frau betrügt.
W I E: Nun gut, aber ich glaube nicht, dass das die Meinung aller
Wissenschaftler ist.
RB: Ich meine damit, dass immer mehr Wissenschaftler zu dem Schluss
gelangen, den der Mystiker seit jeher vertreten hat – dass alle
Handlungen, die geschehen, auf die Programmierung zurückgeführt
werden können.
35
W I E: Ich kann verstehen, dass das in manchen Fällen stimmen mag, aber
sagen wir zum Beispiel, ich verspüre das Bedürfnis, Ehebruch zu begehen.
Ich könnte dann sagen: „Es muss Gottes Wille sein, das ich es tue, also
tue ich es“ – oder ich könnte mich beherrschen und es unterlassen,
Menschen, die mir lieb sind, eine Menge Schmerz zuzufügen. Wäre es
nicht besser, ich würde mich beherrschen?
RB: Wer hält Sie denn davon ab, sich zu beherrschen? Tun Sie doch, was
Sie wollen! Was hält Sie davon ab, sich zu beherrschen? Beherrschen Sie
sich!
W I E: Ich meine, es wäre besser, das zu tun!
RB: Das ist auch meine Meinung.
W I E: Aber Ihrer Meinung nach könnte ich genauso gut sagen: „Es muss
Gottes Wille sein, denn ich spüre das Verlangen“, und mich dann nicht
beherrschen.
RB: Sie sagen, Sie wissen, dass Sie sich beherrschen sollten – warum
beherrschen Sie sich dann nicht? Wenn ein KörperGeistOrganismus so
programmiert ist, dass er seine Frau nicht betrügt, dann wird er es nicht
tun, egal, was irgendjemand sagt. Wenn man so programmiert ist, dass
man gegen niemanden die Hand erhebt, wird man dann beginnen, Leute
umzubringen? Wenn ein Gesetz erlassen würde, dass man seine Frau
schlagen kann, ohne dafür eine Bestrafung zu riskieren, wird man dann
beginnen, seine Frau zu schlagen? Nicht, solange der KörperGeist
Organismus nicht so programmiert ist, und wenn er so programmiert ist,
das zu tun, dann hätte er es ohnehin getan. Wie ich also sagte: zu
akzeptieren, dass es der Wille Gottes ist, bewahrt nicht davor, das zu tun,
von dem man denkt, es tun zu müssen. Machen Sie es! Tun Sie genau
das, was Sie meinen, tun zu müssen!
RB: Genau das ist es. Wir wissen es nicht.
W I E: Aber zu sagen, dass wir es nicht wissen, ist etwas anderes als zu
sagen: „Wir wissen, dass es Gottes Wille ist.“ Es ist etwas anderes als zu
sagen, wir wissen, dass alles festgelegt ist. Sehen Sie, für mich klingt das
so, als sagten Sie, Sie wüssten, dass alles Gottes Wille ist. Ich dagegen
meine, dass wir es einfach nicht wissen; wir wissen nicht, ob Gott diese
36
Dinge bestimmt, deshalb können wir eigentlich nicht sagen: „So
funktioniert es“, oder „Alles ist von Gott schon festgeschrieben.“
RB: Wir wissen es nicht, und davon müssen wir ausgehen; wenn Sie also
wollen, können Sie das Konzept des Schicksals weglassen und sagen, dass
eigentlich niemand etwas wirklich wissen kann. Gut! Wir brauchen das
Konzept des Schicksals nicht. Schließlich und endlich, wenn man
akzeptiert, dass sich alles, was passiert, der eigenen Kontrolle entzieht,
wer soll sich dann noch um das Schicksal kümmern?
W I E: Da viele spirituell Suchende zu Ihnen kommen und Sie um Ihren Rat
in Bezug auf den spirituellen Weg bitten, würde ich Sie gerne fragen,
welchen Wert Sie spiritueller Praxis beimessen, vorausgesetzt, es gibt
einen, als Mittel, um Erleuchtung zu erlangen.
RB: Wenn Sadhana (spirituelle Praxis) notwendig ist, dann ist ein Körper
GeistOrganismus so programmiert, dass er Sadhana macht.
W I E: Mit anderen Worten, wenn es sein soll, dann geschieht es auch.
RB: Genau.
W I E: Sie sprechen sich nicht dafür aus oder meinen, dass es hilfreich ist,
es zu tun?
RB: Manchmal fragen mich die Leute: „Wenn nichts in meinen eigenen
Händen liegt, soll ich dann meditieren oder nicht?“ Meine Antwort ist sehr
einfach. Wenn Sie meditieren wollen, dann meditieren Sie; wenn Sie nicht
meditieren wollen, dann zwingen Sie sich nicht zum Meditieren.
W I E: Ist die spirituelle Suche dann ein Hindernis für die Erleuchtung?
RB: Ja, die Suche ist das größte Hindernis, und der Grund ist der
Suchende. Der Suchende ist das Hindernis – nicht die Suche; die Suche
geschieht von selbst. Die Suche findet deshalb statt, weil der Körper
GeistOrganismus programmiert ist, das zu suchen, wonach er sucht.
Wenn also die Suche nach Erleuchtung stattfindet, dann ist der Körper
GeistOrganismus für die Suche programmiert worden. Das Hindernis ist
der Suchende, der sagt: „Ich will Erleuchtung.“
W I E: Warum haben dann viele große Weise von der Wichtigkeit des
Bemühens gesprochen? Ramana Maharshi sagte, dass der Suchende die
Erleuchtung so stark herbeisehnen muss wie der Ertrinkende die Luft – mit
derselben Zielstrebigkeit und Wichtigkeit.
RB: Sicherlich. Das heißt, dass diese Art von Intensität in der Suche sein
muss. Er sagte aber auch: „Wenn man eine Anstrengung machen will,
dann muss man eine Anstrengung machen; wenn die Anstrengung aber
37
nicht gemacht werden soll, dann wird die Anstrengung nicht gemacht
werden.“ Das sagte Ramana Maharshi. Sehen Sie also, ob ein Mensch ein
Suchender ist oder nicht, unterliegt nicht seiner Kontrolle. Ob es sich um
eine Suche nach Gott oder eine Suche nach dem Geld handelt, ist weder
das eigene Verdienst noch die eigene Schuld.
W I E: Sie schreiben in einem Ihrer Bücher, dass man in der Tat zu einem
ziemlich tiefen Verstehen gelangt ist, wenn man sagen kann: „Es ist mir
egal, ob in diesem KörperGeistOrganismus Erleuchtung eintritt oder
nicht.“
RB: Das stimmt. Wenn diese Phase erlangt wurde, dann bedeutet das,
dass der Suchende nicht mehr vorhanden ist. Es ist der Erleuchtung sehr
ähnlich, denn wenn niemand da ist, der sich darum schert, dann ist kein
Suchender mehr da.
W I E: Aber könnte das Ergebnis nicht eine ganz außergewöhnlich tiefe
Gleichgültigkeit sein – was dann nicht Erleuchtung ist?
RB: Das könnte zu Erleuchtung führen!
W I E: Ich möchte noch eine letzte Frage stellen. Sie sagen oft, wir müssen
„einfach nur akzeptieren, was ist“ –
RB: Ja, wenn Ihnen das möglich ist – und das haben Sie nicht unter Ihrer
Kontrolle!
NACHW ORT:
Als ich an dem Portier vorbei auf die belebten Straßen von Bombay
hinausstolperte, drehte sich alles in meinem Kopf. Wie kann das sein,
fragte ich mich, während ich mich durch die Menschenmassen kämpfte,
dass ein intelligenter und gebildeter Mann wie Ramesh Balsekar
tatsächlich glauben kann, dass alles vorherbestimmt ist, dass unser
Geschick schon lange vor unserer Geburt in eine Art ewigen Granit
eingemeißelt worden ist? Kann es ihm wirklich ernst damit sein, wenn er
darauf beharrt, dass unser gesamtes Leben, mit seinem scheinbar nie
endenden Strom von Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten, den heiklen
Möglichkeiten, uns zum Besseren oder Schlechteren zu bekehren,
tatsächlich vom ersten Atemzug an ein fait accompli ist? Während ich auf
der Suche nach einem Café den Gehsteig überquerte, um dort von dem
Chaos zu verschnaufen, wirbelten die schwierigen Kehrtwendungen, die
unser kurzes Gespräch genommen hatte, in meinem Kopf herum. Ja,
„Dein Wille geschehe“ ist die Essenz zumindest der meisten Religionen,
dachte ich bei mir, aber für die großen Mystiker und Weisen, die sich von
jeher in dieser Weise geäußert hatten, bedeutet die Hingabe an den Willen
Gottes weit mehr als schlicht und einfach zu akzeptieren, dass niemand
etwas tun kann, um die eigenen Lebensumstände zu beeinflussen. Das,
38
was gemeinhin „der Wille Gottes“ genannt wird, ist sicherlich auch das,
was man erfährt, wenn das Ego absolut aufgegeben worden ist, wenn alle
selbstbezogenen Motive ausgelöscht sind und einem nichts anderes mehr
zu tun verbleibt, als den göttlichen Willen in völliger Hingabe zu erfüllen,
wie er auch aussehen mag! Von Jesus, Ramakrishna oder Ramana
Maharshi zu sagen, dass sie sich Gottes Willen ergeben hatten, ist eine
Sache. Aber zu sagen, dass das für jeden gilt, schien in diesem Moment
Ausdruck eines seltsamen und sogar gefährlichen Wahns zu sein der dazu
verwendet werden könnte, die extremsten Verhaltensformen zu
rechtfertigen. Die Feststellung Balsekars „Das, was Sie glauben, in jeder
Situation tun zu müssen, ... ist genau das, wovon Gott will, dass Sie
glauben, es tun zu müssen“ bedeutet, dass ihm zufolge der erleuchtete
Buddha den Willen Gottes nicht mehr erfüllt als der Massenmörder, der
über sein nächstes Opfer herfällt.
Plötzlich tauchte der willkommene Anblick eines Teehauses aus dem Smog
auf, und beim Hineingehen stellte ich mit Erleichterung fest, dass es sich
dabei um die stille Oase handelte, die ich mir erhofft hatte. Und dort, an
einem der vielen leeren Tische, als der erste Schluck von fast ekelhaft
süßem Milchtee über meine Lippen floss, traf es mich wie ein Schlag. Nicht
ich trank den Tee! Nicht ich saß an einem Tisch! Tatsächlich war ich es gar
nicht gewesen, der das Teehaus betreten hatte. Und ich war auch nicht
der, der gerade eine Stunde lang in einem Gespräch mit einem Mann
gelitten hatte, der in jenem Moment schon fast wie der Vernünftigere von
uns beiden ausgesehen hatte. Tatsächlich war ich es niemals gewesen,
der etwas getan hatte. Es war, als ob eine Last, die ich mein ganzes Leben
lang mit mir herumgeschleppt hatte, plötzlich mit einem Heißluftballon in
den Himmel gehoben würde, davongeblasen, ohne Wiederkehr. All die
Jahre hindurch hatte ich gekämpft, um ein besserer, ehrlicherer und
großzügigerer Mensch zu sein – all diese Anstrengungen, die ich
unternommen hatte, um meiner tendenziellen Arroganz, Selbstsucht und
39
Aggressivität zu entsagen – das Ganze war eine Verrücktheit gewesen, die
dumm war und unnötigerweise auf der selbstgefälligen Vorstellung basiert
hatte, dass ich irgendwie mein Schicksal unter Kontrolle hätte, in der
kleinlichen Annahme, dass das, was ich „anderen“ antat, irgendwie von
Wichtigkeit wäre. Wie konnte ich nur so in die Irre geführt worden sein?
Aber, Moment mal, das war doch gar nicht ich, der in die Irre geführt
worden war! Wie durch sich auflösende Wolken konnte ich plötzlich klar
sehen, dass das, von dem ich angenommen hatte, es sei „mein Leben“, in
der Tat doch nur ein mechanischer Prozess gewesen war. Der Mensch, von
dem ich angenommen hatte, dass ich es sei, war nur eine Maschine. Und
die Welt, von der ich angenommen hatte, dass ich darin lebte, war nicht,
so wie ich gedacht hatte, eine komplexe und zutiefst menschliche Welt,
sondern eine Welt von mechanistischer Einfachheit, vollkommener
Ordnung, von Urzeiten an ein mathematisches Ausspielen von
programmierten Bewegungen.
Als sich die klinische Perfektion von Gottes wissenschaftlichem Plan vor
meinen Augen darzulegen begann, strömte mit einem Mal der ekstatische
Schauder absoluten Freiseins – von Sorge, Kummer, Verpflichtung und
Schuld – durch meine Adern wie die Strömung in einem ungezähmten
Fluss. Und damit einher ging ein einhüllender und widerhallender Friede,
ein absolutes Aufhören jeglicher Spannung angesichts der Tatsache, dass
ganz gleich, welche scheinbare Zweideutigkeit oder Unsicherheit mir
danach noch begegnen könnte, ganz gleich, welche scheinbar schwierigen
Entscheidungen ich eventuell würde treffen müssen, ich doch immer in der
Sicherheit ruhen könnte, dass jede Wahl, die ich treffen würde, genau die
Wahl sein würde, die Gott von mir erwartete. Das mysteriöse Gefühl des
Unbekannten, das so lange an mir gezerrt hatte, hatte sich in Luft
aufgelöst. Die anderen Leute im Café schauten sich um, als sich ein langes
Lachen aus meinem Bauch löste und ich bei mir selbst dachte, welch
fantastisches Spiel das Leben doch wäre, wenn jeder verstünde, wie das
alles in Wahrheit funktioniert, wenn doch jeder wenigstens einen kleinen
Schimmer von dem hätte, wie frei wir sein könnten, wenn wir alle auf dem
Planeten Advaita leben würden.
40
Advaita 1x1
Ein Interview mit Sw ami Dayan an da Saras w ati
von Andrew Cohen
Einleitung
Es ist eine besondere Eigenheit von Advaita Vedanta, dass ihre
bedeutendsten Gestalten der Gegenwart, diejenigen, die als strahlende
Beispiele für die Kraft und Herrlichkeit Absoluter Verwirklichung
herausragen, im Allgemeinen scheinbar wenig, wenn überhaupt, eine
formelle traditionelle Ausbildung genossen haben. Ramana Maharshi zum
Beispiel, wahrscheinlich der universell anerkannteste AdvaitaLehrer im
zwanzigsten Jahrhundert, erfuhr im Alter von sechzehn Jahren spontan
Erleuchtung, ohne vorher eine spirituelle Praxis oder ein Studium
absolviert zu haben. Der leidenschaftliche AdvaitaMeister und Autor von I
Am That, Sri Nisargadatta Maharaj, verwirklichte das Absolute, nachdem
er nur drei Jahre mit seinem Guru verbracht hatte. Und als wir für diese
Ausgabe mit einer Reihe von AdvaitaLehrern der heutigen Zeit sprachen,
waren wir höchst erstaunt, als wir feststellten, dass beinahe alle diese
Personen eine auffällige Unabhängigkeit von den Mönchsorden,
Lehrsystemen und heiligen Texten der jeweiligen Tradition, aus der ihre
Lehre entspringt, gemeinsam haben.
Aber Advaita Vedanta ist tatsächlich eine 1300 Jahre alte Tradition, deren
Spuren sogar noch weiter zurückzuverfolgen sind, bis hin zu den
Upanishaden, einer Sammlung von mehr als 2500 Jahre alten göttlich
inspirierten Schriften. Advaita ist Ausdruck der hinduistischen Philosophie
des Nondualen und proklamiert, dass einzig und allein das eine Absolute,
das ungeteilte Selbst, letztlich die Realität ist. Es verfügt über mehrere
Mönchsorden, eine reichhaltige Literatur und eine lange Geschichte
formalen philosophischen Diskurses. Der Umstand, dass wir durch unsere
Untersuchungen über Advaita für diese Ausgabe von WiE mit einer solchen
Vielfalt von Lehrern und Lehren unserer Zeit in Kontakt kamen, machte
uns zunehmend neugierig darauf herauszufinden, was jemand mit einer
klassischen Ausbildung in traditioneller Methodik und Doktrin auf unsere
Fragen zu sagen haben würde. Unsere Suche nach einem solchen
Traditionalisten führte uns schließlich bis in den Dschungel des
südindischen Staates Tamil Nadu, in den Ashram von Swami Dayananda
Saraswati.
41
Swami Dayananda beschreibt sich selbst als traditionellen Advaita
VedantaLehrer. Er war ein enger Schüler des allgemein hoch
angesehenen verstorbenen VedantaLehrers Swami Chinmayananda und
begann seine Lehrtätigkeit vor mehr als dreißig Jahren, nach einer
disziplinierten spirituellen Suche, die sowohl ein intensives Studium der
klassischen Schriften umfasste als auch einige Jahre der
Zurückgezogenheit in den Vorgebirgen des Himalaya. In dieser Zeit hat er
sich sowohl in Indien als auch im Ausland einen glänzenden Ruf als
heftiger Verteidiger der Tradition erworben. Er hat einundzwanzig Bücher
veröffentlicht, darunter mehrere Übersetzungen von traditionellen Texten
und von Kommentaren dazu, und er hat drei Ashrams gegründet (zwei in
Indien und einen in den Vereinigten Staaten), wo das ganze Jahr hindurch
seine VedantaIntensivkurse gelehrt werden.
Der jüngste Ashram von Swami Dayananda, Arsha Vidya Gurukulam, liegt
mitten im tropischen Regenwald, dreißig Meilen von Coimbatore entfernt,
und ist ein weit reichender Komplex von Hallen und Schlafsälen, in denen
etwa dreihundert Menschen untergebracht werden können. Zur Zeit
unseres Besuchs wohnten dort etwa hundert Schüler, die an einem drei
Jahre dauernden Kurs teilnahmen; darunter waren auch etwa dreißig
Schüler aus dem Westen, von denen viele, wie wir erfuhren, erfolgreiche
Karrieren aufgegeben hatten, um daran teilnehmen zu können. Zusätzlich
zu diesen Langzeitkursen, während derer die Schüler dort leben, empfängt
der Ashram auch viele berühmte Kurzzeitbesucher, darunter, so wurde
uns gesagt, einige der größten Filmstars Indiens und wichtige Politiker,
unter anderem auch den früheren Präsidenten Indiens.
An unserem ersten Tag im Ashram hatten wir Gelegenheit, einige von
Swami Dayanandas Seminaren zu besuchen, und stellten dabei fest, dass
Swami Dayananda in seinem Bestreben, die Tradition aufrecht zu
erhalten, nicht das kontemplative Ambiente eines Retreat eingeführt
hatte, das man vielleicht im Ashram eines indischen Gurus zu finden
erwartet hätte, sondern vielmehr eine Art spiritueller Akademie, deren
erstes und vorrangiges Ziel die Aneignung von Wissen über Vedanta ist.
Die Schüler verbringen den Tag im Klassenzimmer, sitzen auf dem Boden
hinter niedrigen Schreibtischen und hören Swami Dayananda zu, der aus
den alten Sanskrittexten liest, nach jedem Vers eine Pause macht, um ihn
dann, oftmals sehr ausführlich, zu kommentieren. Wenn die Schüler
keinen Unterricht haben und auch nicht mit ihren Ashrampflichten
beschäftigt sind, widmen sie sich entweder dem individuellen Studium
oder treffen Swami Dayananda, der zusätzlich zum Unterricht von drei
langen Seminarphasen pro Tag in den Pausen zwischen den einzelnen
Unterrichtsstunden für weniger formelle Gespräche zur Verfügung steht.
Das, was wir an Swami Dayanandas stark scholastischer Methode am
erstaunlichsten fanden, war, dass ungewöhnlicherweise jegliche Betonung
einer spirituellen Praxis fehlte. Die einzige formelle Übungszeit im Ashram
sind dreißig Minuten Morgenmeditation. Wir sollten bald erfahren, dass
spirituelle Praktiken keinen wichtigen Platz im Programm einnehmen, aus
42
einem sehr einfachen Grund: Für Swami Dayananda sind sie für den Weg
völlig bedeutungslos. Das Einzige, was von Bedeutung ist, meint er, ist
das Studium – das ernsthafte Studieren der heiligen VedantaTexte.
Anfangs waren wir über solche Statements sehr überrascht, aber in
Gesprächen mit zahlreichen westlichen AdvaitaGelehrten sollten wir
später feststellen, dass viele AdvaitaTraditionalisten diese Ansichten
teilen. Sogar einer der lebenden Shankaracharyas – das Oberhaupt einer
der vier monastischen Institutionen, die angeblich vom Gründer der
Advaita, Shankara, eingerichtet worden sind, leugnet ebenfalls die
Gültigkeit dessen, was Ramana erreicht hat, wie es scheint aus dem
einfachen Grund, dass jemand, der keine formelle VedantaAusbildung
genossen hat, unmöglich vollständig erleuchtet sein kann!
Unser Besuch im Ashram von Swami Dayananda stellte sich als
faszinierendes Lehrstück heraus. Im Laufe unseres dreitägigen Aufenthalts
trafen wir Swami Dayananda viermal zu formellen Gesprächen, die sich
als eine weit reichende Serie von Dialogen herausstellen sollten. Während
dieser Zeit avancierte das Phänomen, das als AshramKuriosität begonnen
hatte – nämlich dass eine kleine Gruppe von Westlern mit einem
spirituellen Lehrer aus Amerika gekommen war, um ein Interview mit dem
Guru zu machen – rasch zu einem der meistkommentierten und
bestbesuchten Ereignisse im Ashram. Von unserer zweiten Sitzung an war
der Versammlungsraum bis auf den Flur hinaus überfüllt mit Schülern, die
gekommen waren, um der Diskussion zu folgen. Zwischen den Treffen
43
fanden wir uns regelmäßig im Gespräch mit den Schülern wieder, die eifrig
mit uns Punkte besprechen wollten, die in der Diskussion aufgetaucht
waren, und uns Fragen für die nächste Runde vorschlugen.
Bei allen Begegnungen erwies sich Swami Dayananda in jeder Hinsicht als
der Traditionalist, den wir erwartet hatten, wobei er uns in seinen
Antworten auf unsere Fragen an seinem umfassenden Verständnis sowohl
der eigentlichen Tradition als auch der Feinheiten der AdvaitaPhilosophie
teilhaben ließ. Wir verließen seinen Ashram zwar in vielerlei Hinsicht sehr
viel klarer in Bezug auf die Geschichte und Doktrin der AdvaitaTradition,
aber unser Besuch hatte doch auch einige faszinierende Fragen
aufgeworfen. War es nicht erstaunlich, fragten wir uns auf unserer
Rückfahrt im Taxi zum Flughafen, dass es innerhalb einer Tradition, die
sich der tiefen und radikalen Verwirklichung des Absoluten verschrieben
hat, gelehrte und engagierte Autoritäten gibt, die sich veranlasst sehen,
sich von den kraftvoll verwirklichten Mystikern zu distanzieren, bei denen
viele der eigenen Anhänger selbst Inspiration suchen? Wenn sie dadurch
die „Reinheit” der Tradition hochzuhalten versuchen, welche Bedeutung
hat das dann hinsichtlich des Wesens von Erleuchtung, zu der der Advaita
Weg führen soll?
Ramana Maharshi sagte: „Man braucht weder gelehrt noch in den
Schriften versiert zu sein, um das Selbst zu erkennen, so wie kein Mensch
einen Spiegel braucht, um sich selbst zu sehen.“ Swami Dayananda hatte
uns andererseits gerade gesagt, dass „wir kein Mittel der Erkenntnis
haben, um Selbstverwirklichung direkt zu verstehen, und dass daher
Vedanta das Mittel der Erkenntnis ist, das zu diesem Zweck angewendet
werden muss. Kein anderes Mittel der Erkenntnis wird funktionieren.“
Was ist Erleuchtung? Ist es einfach eine Verlagerung des Verständnisses,
die, wie Swami Dayananda insistiert, vollständig durch das Studium der
heiligen Texte herbeigeführt werden kann? Oder ist es, wie einige der
strahlendsten Verkünder dieser kraftvollen Lehre behauptet haben, die
Offenbarung eines Mysteriums, das für immer und ewig jenseits des
Verstandes liegt und das die Welt zum Zusammenbruch bringt?
Craig Hamilton
I nterview
Das folgende Interview ist ein Auszug aus der über 80seitigen
Transkription einer Serie von Gesprächen zwischen Swami Dayananda und
Andrew Cohen im Februar 1998.
44
W as ist Advaita?
Andrew Cohen: Wie Sie wissen, gibt es seit etwa zwanzig Jahren im
Westen großes Interesse an Advaita, und ich habe den Eindruck, dass
hinsichtlich dieser Lehre viel Verwirrung herrscht, dass sie sehr
missverstanden und in manchen Fällen auch missbraucht worden ist. Wir
wollten mit Ihnen sprechen, um auch einen maßgeblichen traditionellen
Standpunkt darlegen zu können. Könnten Sie deshalb bitte zunächst
erklären, was die AdvaitaVedantaPhilosophie ist?
Sw ami Dayananda: Das Wort „Advaita“ ist ein sehr wichtiges Wort. Es
ist eine Verneinung von dvaita, was „zwei“ bedeutet. Das „a“ ist eine
verneinende Vorsilbe, die Bedeutung wäre also „das Nonduale“. Und es
offenbart die Weisheit, dass alles, was es hier gibt, Eins ist, das heißt, es
gibt nichts anderes als dieses Eine, und dieses Eine besteht auch nicht aus
Teilen. Es ist ein Ganzes ohne Teile, und Das wird „Brahman“ (das
Absolute) genannt, und Das bist du – denn das Nonduale kann nichts
anderes sein als du, der Fragende. Wenn es sich von dir unterscheidet, ist
es dual; dann bist du das Subjekt und es ist das Objekt. Es muss also du
sein. Wenn du diesen Umstand also nicht erkennst, dann übersiehst du,
dass du das Ganze bist.
AC: Könnten Sie bitte den historischen Hintergrund erklären?
SD: Die Veden (die heiligen Schriften der Hindus) sind das älteste Wissen,
das die Menschheit besitzt. Laut Tradition sind die Veden nicht von einer
bestimmten Person verfasst worden, sondern sie wurden den alten Rishis
(den Sehern) als einheitliches Werk des Wissens offenbart. Es heißt, dass
die Veden letztendlich auf den Herrn als die Quelle allen Wissens
zurückgeführt werden können, und dieses Wissen ist die Quelle von
Advaita. Die Upanishaden (die Abschnitte der Veden, die den Schlussteil
bilden) sprechen von Gottverwirklichung – und sie sprechen nicht nur
darüber, sie lehren sie systematisch. Das, was ich heutzutage tue, wird in
den Upanishaden gelehrt. Die Upanishaden bilden für sich allein eine
Lehre und Lehrtradition. Und es ist eine Tradition, die weitergegeben
werden kann – es ist nichts Mystisches daran.
Aber ich glaube nicht, dass Advaita nur in den Veden ist; ich meine, es ist
überall – überall dort, wo die Vorstellung ist: „Du bist das Ganze“. Das ist
Advaita, egal ob in Sanskrit, Latein oder Hebräisch. Aber der Vorteil von
Vedanta ist, dass sie gelehrt werden kann und gelehrt wird. Wir haben
eine Lehrtradition geschaffen und sie ist gewachsen. Wenn hingegen in
Amerika beispielsweise Leute plötzlich Vegetarier werden, dann essen sie
nur Tofu und Alfalfa und einige wenige andere Dinge, weil es keine
Tradition der vegetarischen Küche gibt. Das dauert. Eine Tradition wird
nicht über Nacht geschaffen!
AC: Wer sind die wichtigsten Vertreter der AdvaitaLehre?
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SD: Es gab viele Lehrer, die diese Tradition aufrecht erhalten haben,
deren Namen wir nicht kennen. Aber von den Upanishaden an sagen wir:
Vyasa, Gaudapada, Shankara, Suresvara – diese Namen rezitieren wir
täglich. Dabei nimmt Shankara einen zentralen Platz ein, weil er einen
schriftlichen Kommentar verfasst hat. Der schriftliche Kommentar ergibt
die Lehrtradition und die Lehrmethode, und die Methode ist sehr wichtig
bei dieser Tradition: Wie wird gelehrt? Es gibt viele Fallen bei diesem
Prozess, und eine davon ist die Begrenzung, die in der Sprache liegt – die
linguistische Begrenzung. Aber die Lehre muss mittels Worten
weitergegeben werden, und das heißt, man braucht eine Methode – eine
Methode, durch die man sicher sein kann, dass der Schüler versteht, denn
Erleuchtung findet parallel zur Lehre statt und nicht nachher. Das sagt die
Tradition. Shankara hat also wegen seiner Kommentare einen wichtigen
Stellenwert, weil er uns auf Palmblättern geschriebene Kommentare
hinterlassen hat. Ich würde aber nicht sagen, dass die anderen Lehrer
weniger wichtig gewesen sind.
AC: Gab es vor Shankara keine geschriebenen Kommentare?
SD: Es gab einige wenige. In der Tat ist das, was ich jetzt jeden Morgen
lehre, ein Kommentar zu einer der Upanishaden von Shankaras Lehrer,
Gaudapada. Es gibt auch noch einige andere – die Sutren von Vyasa.
Diese Sutren sind analytische Werke, die in einem Stil verfasst sind, der
sich sehr knapper Aussagen bedient, eine nach der anderen, sodass man
sie auswendig lernen kann. Auch sie sind Teile der Lehrtradition und durch
sie immer belegt. Das Sutra wird geschrieben und dann an eine Gruppe
von Menschen als Lehre weitergereicht, und beides zusammen ist das,
was weitergegeben wird. Bei der Rezitation des Sutras wird dann der
sogenannten „Tradition“ gedacht. In der Tat wird die gesamte Advaita
Vedanta in den Sutren analysiert.
AC: Warum meinen Sie, dass das Studium der Schriften, viel mehr als die
spirituelle Erfahrung, das direkteste Mittel zur Selbstverwirklichung ist?
SD: Wie ich schon sagte, ist Selbstverwirklichung das Entdecken, dass
„das Selbst das Ganze ist“ – dass du der Herr bist; in der Tat, du bist
Gott, die Ursache von allem.
Als dem kleinen Selbst steht uns kein Mittel der Erkenntnis zum direkten
Verstehen der Selbsterkenntnis zur Verfügung; Vedanta ist also das Mittel
der Erkenntnis, das zu diesem Zweck angewendet werden muss. Kein
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anderes Mittel der Erkenntnis wird funktionieren, denn für diese Art der
Erkenntnis sind unsere Möglichkeiten der Wahrnehmung und Schluss
folgerung allein nicht ausreichend.
Daher bin ich der Meinung, dass es auf dieser Welt nichts Dümmeres gibt
als Erfahrung allein. In der Tat ist es gerade die Erfahrung, die uns
zerstört hat.
SD: Ja, aber sogar diese Erfahrung ist ohne die richtige Interpretation
nutzlos. Angenommen, Sie verlieren für einen Augenblick oder für zehn
Minuten oder sogar für eine Stunde das Gefühl, ein getrenntes Wesen zu
sein, und dann kommt diese scheinbare Dualität plötzlich wieder zurück.
Heißt das dann, dass sich das eine wahre Selbst verlagert? Natürlich nicht!
Warum sollte Erleuchtung dann eine Erfahrung erfordern? Erleuchtung ist
nicht von der Erfahrung abhängig; sie hängt davon ab, dass ich meinen
Irrtum und meine Unwissenheit ablege – davon ist sie abhängig, von
nichts anderem.
Die Menschen sagen, Advaita ist ewig, zeitlos, und gleichzeitig sagen sie,
sie würden zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten
Bedingungen eine Erfahrung davon haben. Das entspricht nicht der
Tradition! Aber das hören wir überall. Die Tradition sagt: „Das, was du
jetzt in diesem Moment siehst, das ist Advaita.“
Angenommen, ein Mensch hat eine Erfahrung, und nachdem sie vorüber
ist, sagt er: „Ich war eine Stunde lang ewig.“ Keine Zeit bedeutet zeitlos,
und zeitlos bedeutet Ewigkeit. Ob es nun eine Stunde Ewigkeit ist oder ein
Moment Ewigkeit, es ist immer dasselbe. Das Vertrauen in die Wahrheit
kann also nicht von einem Erfahrungszustand abhängig sein. Das
Vertrauen in die Wahrheit liegt in deiner Klarheit über das, was ist.
Ansonsten passiert Folgendes: „Eine Stunde lang war ich das nonduale
Brahman, und dann kam ich zurück und jetzt ist es weg.“ Dann wird jeder
Gedanke zum Alptraum, denn wenn ich nicht in Nirvikalpa Samadhi
(ekstatisches Aufgehen im nondualen Bewusstsein) bin, dann kann ich
nicht einmal mit der Welt in Beziehung treten; ich muss für immer und
ewig high sein, verstehen Sie? Erleuchtung dagegen heißt einfach zu
wissen, was ist. Das heißt Sahaja, und dieses Wort bedeutet „natürlich“;
es bedeutet nichts anderes als einfach klar zu sehen. Wenn die Menschen
darauf bestehen, eine spezielle Erfahrung zu haben, dann bedeutet das
einfach, dass sie die Lehre nicht verstanden haben. Auch gerade jetzt zum
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Beispiel interpretieren wir unsere Erfahrungen. Zum Beispiel erleben Sie
jetzt gerade mich.
AC: Stimmt..
SD: Und Ihre Erfahrung scheint Ihnen zwei Dinge zu präsentieren: das
eine ist das Subjekt, das andere ist das Objekt. Aber nehmen wir einmal
an, beide sind zufälligerweise eine einzige Realität.
AC: Gut.
SD: Und hier mangelt es auch nicht an Rohmaterial. Die Erfahrung, mich
zu sehen, irgendjemanden zu sehen, irgendetwas zu sehen oder zu hören,
an irgendetwas zu denken – innerlich, äußerlich, was auch immer – diese
Erfahrung ist Advaita. Und wenn das so ist, dann mangelt es uns nicht an
Erfahrung, und daher brauchen wir auch nicht darauf zu warten, dass eine
Erfahrung kommt. Welcher Erfahrung wir in unserem Inneren auch
begegnen, die Erfahrung offenbart Advaita, offenbart Nondualität. Und
wenn dann Ihre Interpretation dieser Erfahrung ist, dass es ein Objekt
gibt, das etwas anderes ist als Sie selbst, dann ist es diese Interpretation
an und für sich, die Dualität ist. Daher ist es ein Problem der
Wahrnehmung, und dieses Wahrnehmungsproblem muss gelöst werden.
AC: Wahrnehmung wovon?
SD: Dieser Nondualität! Spreche ich über etwas, das mir absolut
unbekannt ist? Nein. Ist es irgendjemandem unbekannt? Überhaupt nicht.
Gerade jetzt zum Beispiel sehen Sie mich und sagen: „Swami sitzt hier.“
Wieso wissen Sie das? Sie sagen: „Weil ich Sie sehe und höre; deshalb
sind Sie da.“ Deshalb bin ich für Sie erkennbar, denn Sie haben ein Mittel
der Erkenntnis, Sie haben eine Möglichkeit zu sehen und zu hören;
deshalb ist Swami. Swami ist, weil er für Sie erkennbar ist, so wie alles
ist, weil es für Sie offensichtlich ist. Die Sonne ist, der Mond ist, der Stern
ist, der Raum ist, die Zeit ist – all das ist für Sie offensichtlich.
Dasselbe gilt für Ihre Erfahrung von sich selbst. Angenommen, ich fragte
Sie: „Haben Sie einen physischen Körper?“ „Ja“, werden Sie sagen – weil
es für Sie offensichtlich ist. „Können Sie sich erinnern, an diesem oder
jenem Ort gewesen zu sein?“ Ja – weil es für Sie offensichtlich ist. Für
wen ist all das offensichtlich? Für Sie! Für Sie selbst. Das heißt, Sie sind
für sich selbst offensichtlich.
Wann sind Sie nicht für sich selbst erkennbar? Sagen Sie es mir – wann?
Weil nämlich Sie für sich selbst erkennbar sind, ist es nicht notwendig,
dass Sie zu irgendeiner Zeit für sich selbst erkennbar werden. Alle meine
Erfahrungen finden statt, weil ich für mich selbst erkennbar bin. Deshalb
habe ich die Erfahrung des Selbst bereits gemacht – das will ich damit
sagen. Das Selbst wird als der letztendliche Inhalt jeder Erfahrung
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wahrgenommen. Ich sage, in der Tat ist unsere Erfahrung an sich das
Selbst.
Daher ist in jeder Erfahrung das Bewusstsein unveränderlich gegenwärtig
und kein Objekt ist unabhängig davon. Und das Bewusstsein ist nicht
abhängig von irgendwelchen Eigenschaften eines speziellen Objekts und
es hat auch keine Eigenschaften. Bewusstsein ist Bewusstsein, es ist in
allem, und es geht auch über alles hinaus. Darum sage ich: „Das ist
Advaita, das ist nondual, das ist Brahman, das ist ohne Begrenzung; es
hat keine zeitlichen Grenzen, es hat keine räumlichen Grenzen. Und daher
ist es Brahman, und deshalb bist du bereits alles. Das ist die Lehre, und
sie bedeutet, dass ich nicht auf eine Erfahrung zu warten brauche, denn
jede Erfahrung ist Brahman, jede Erfahrung ist grenzenlos.“
AC: Aber das ist ein subtiler Punkt, der ohne vorhergehende direkte
Erfahrung des Nondualen nicht unbedingt leicht zu erfassen ist.
SD: Wenn die Menschen es nicht sehen, dann heißt das, dass ich
umfassender lehren muss; vielleicht sehen sie aber doch und sagen
trotzdem: „Ich habe da und dort noch immer einige Spinnweben.“ Aber
das ist kein Problem; man braucht sie nur zu beseitigen.
Zuerst hat man eine Einsicht, man weiß, und dann, in dem Maße wie
Schwierigkeiten entstehen, kümmern wir uns darum. Ich sage nicht, dass
es nicht eine Sache der Erfahrung ist, aber ich sage, dass die Erfahrung
stets dein eigentliches Wesen ist. Bewusstsein ist Erfahrung, und jede
Erfahrung offenbart die Tatsache, dass man für sich selbst offensichtlich
ist. Und das, was sich selbst erkennt, ist per definitionem nondual. Daher
sind Subjekt und Objekt bereits dasselbe.
Hier ist zum Beispiel eine Welle, die über einen menschlichen Verstand
verfügt. Sie denkt: „Ich bin eine kleine Welle.“ Dann wird sie zu einer
großen Welle und verschlingt im Laufe dieses Prozesses viele andere
Wellen und beginnt zu prahlen: „Ich bin eine große Welle.“ Dann verliert
sie ihre Gestalt und wird wieder klein – erklärt Bankrott, wie man so schön
sagt, Sie verstehen, was ich meine – und jetzt will sie irgendwie ans Ufer
gelangen. Aber vom Ufer weg drängen andere Wellen zum Ozean, und
vom Ozean her drängen Wellen ans Ufer, und die arme kleine Welle ist
dazwischen gefangen, wie in einem Sandwich, und beginnt zu klagen:
„Was soll ich tun?“ Da ist noch eine Welle, eine Welle, die sehr glücklich zu
sein scheint, und die erste Welle fragt: „Wieso bist du so glücklich? Du bist
auch klein – eigentlich bist du noch kleiner als ich! Wieso bist du so
glücklich?“ Darauf sagt eine andere Welle: „Das ist eine erleuchtete
Welle.“ Jetzt will die erste Welle wissen: „Was ist Erleuchtung? Was ist
diese Erleuchtung?“ Die glückliche Welle sagt: „Jetzt komm schon! Du
musst erkennen, wer du bist!“ „Gut. Wer bin ich?“ Und die erleuchtete
Welle sagt: „Du bist der Ozean.“ „Was!? Ozean? Hast du gesagt, ich bin
der Ozean, wegen all dem Wasser, das mich trägt und zu dem ich wieder
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zurückkehren werde? Dieser Ozean bin ich?“ „Ja, du bist der Ozean.“ Und
sie lacht: „Wie kann ich der Ozean sein? Das ist so, als würde man sagen,
ich bin Gott. Der Ozean ist allmächtig, er erfüllt alles, er ist alles. Wie
kann ich der Ozean sein?“
Wir können also die Aussagen der Vedanta über die nonduale Realität
ignorieren, oder wir können fragen: „Wieso? Wieso bin ich Das?“ Die Lehre
von der Nondualität ist nicht notwendig, wenn unsere Identität für uns
offensichtlich ist, wenn das, was für uns erkennbar ist, nicht ein
Unterschied, sondern ein grundlegender NichtUnterschied ist. Es handelt
sich hier um einen NichtUnterschied. Es gibt keine Welle ohne Wasser
und es gibt keinen Ozean ohne Wasser. Jede einzelne Welle, und auch der
ganze Ozean, sind einzig und allein das eine Wasser.
AC: Ein Thema, das mich besonders interessiert, ist die Beziehung
zwischen der nondualen Verwirklichung, die Sie beschrieben haben, und
der Aktivität in der Welt von Raum und Zeit. Zum Beispiel in der
empirischen Welt, in der empirischen Realität, stellt sogar die
verwirklichte Seele, die keinen Zweifel hinsichtlich ihres wahren Wesens
hat, fest, dass sie einen Standpunkt einnehmen muss – gegen, in
Opposition zu den Kräften der Täuschung und Negativität, die hier am
Werk sind.
SD: Wir brauchen keine Regel aufzustellen, wie sollte und muss – er kann
einen Standpunkt einnehmen.
AC: Kann einen Standpunkt einnehmen?
SD: Ja. Denn sobald er einmal frei ist, wer kann dann Regeln für ihn
aufstellen? Sehen Sie, wenn er frei genug ist zu handeln, dann ist er
ebenso frei nicht zu handeln – das meine ich. Er wird spontan das tun,
was er zu tun hat. Vielleicht denkt er, alle sind ohnehin in Ordnung. Und
das ist ja in der Tat auch die Wahrheit. Denn bevor Sie nicht zu mir sagen,
Sie hätten ein Problem mit mir, habe ich kein Problem mit Ihnen.
AC: Aber sagen wir einmal, zum Beispiel, dass die verwirklichte Seele sich
in einem Raum befindet und ein Mörder kommt und anfängt, Leute
umzubringen. Manche Menschen sagen dann vielleicht: „Nun, das ist alles
ein einziges Selbst, und es gibt hier keinen Gegner, deshalb braucht man
auch nicht einzugreifen.“ Jemand anderer hingegen könnte sagen: „Ich
habe keine Wahl; ich muss etwas tun.“
SD: Warum sollte man nicht eingreifen? Ganz klar, auf diesem Niveau
kommt es zu Verletzung.
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AC: Ja.
SD: Und vielleicht tötet er gar nicht, sondern sagt nur beleidigende Worte.
Warum sollte diese verwirklichte Seele dann nicht sagen: „Törichter
Mensch, sprich doch anders. Was tust du?“ Er kann ihm also helfen; er
kann ihm helfen, sich zu verändern. Und er kann es tun, ohne für ihn ein
riesiges Problem daraus zu machen; er kann zornig sein, ohne dass sich
sein Zorn gegen diesen Menschen richtet, er kann zu dem Mann sprechen
und ihm klarmachen, dass er bedingt durch seine Vergangenheit
beleidigende Worte spricht, und kann ihm helfen, sich zu ändern. Das wird
er dann tun. Aber wir können nicht sagen, er sollte korrigierend
eingreifen. Wer kann mir dafür eine Regel aufstellen? Angenommen, ein
Mensch ist erleuchtet; wer soll für diesen Menschen eine Verhaltensregel
aufstellen, für diesen Erleuchteten? Niemand kann eine Regel aufstellen,
denn er steht über den Regeln.
AC: Er steht über den Regeln?
SD: Ja, er steht über den Regeln und ist keiner Regel unterworfen.
Niemand kann das Selbst zum Objekt machen; es gibt keinen Zweiten,
um das Selbst zum Objekt zu machen. Und daher unterliegt das Selbst
auch weder Verletzung noch Schuld und ist also frei von Verletzung und
Schuld. Mit anderen Worten, es ist weder ein Subjekt noch ein Objekt,
und da das so ist, taucht „sollen“ gar nicht erst in dem Bild auf – nicht
einmal im Bild empirischer Interaktion – weil es einfach kein Thema ist.
Das Thema ist: Da ist ein Mensch mit einem bestimmten Problem und
deshalb beleidigt er, und diesem Menschen kann geholfen werden. Also
wird er selbstverständlich helfen!
AC: Alles, was Sie sagen, ist natürlich absolut wahr, denn letztlich kann
das Nonduale nicht in Mitleidenschaft gezogen werden und kennt auch
keine Vorlieben. Ich meine aber, dass immer eine tiefe Wirkung auf die
Persönlichkeit des Menschen erfolgt, der das Nonduale verwirklicht hat,
und ich nehme dieses extreme Beispiel, um damit herauszustellen, dass
es irgendein Kriterium geben muss. Historisch betrachtet brachten zum
Beispiel Personen, die dieses nonduale Absolute tief verwirklicht hatten,
ein sattvisches Wesen, Egolosigkeit, zum Ausdruck. Wenn ich auch weiß,
dass die Erleuchtung viele Gesichter hat und sich von Mensch zu Mensch
unterschiedlich ausdrückt, gibt es doch im Grunde immer einen Ausdruck
der Selbstlosigkeit und des Mitgefühls, der uns gestattet zu sagen, dass
ein Mensch, der tatsächlich verwirklicht ist, nicht in der Lage sein würde,
zutieft selbstbezogen zu handeln. Deshalb gibt es bestimmte Dinge, die
ein Mensch nicht tun würde, wenn er ein Erleuchteter ist. Das meine ich.
SD: Wie beurteilen Sie dann eine erleuchtete Person?
AC: Nun, wenn er Menschen vergewaltigt und tötet, dann können wir
zumindest sagen: „Dieser Mensch ist nicht erleuchtet.“ Richtig?
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SD: Aber das kommt ohnehin nicht in Betracht, denn im traditionellen
System muss er ein Leben der sehr strengen moralischen und spirituellen
Ausbildung durchlaufen haben, und erst dann ist er erleuchtet, und dieser
Bursche hat das nicht getan, deshalb ist es klar, dass er noch einige
Probleme hat. Es heißt aber auch: „Nur ein Weiser kann den Weisen
erkennen.“ Wenn Sie ein Weiser sind, dann brauchen Sie keinen anderen
Weisen, um weise zu werden; wenn Sie es nicht sind, brauchen Sie einen
Weisen, aber weil Sie nicht weise sind, können Sie ihn auch nicht
erkennen. Sie befinden sich also in einem Dilemma. Daher ist das
Kriterium für einen Weisen, das möchte ich Ihnen zum Schluss noch sagen
– die Methode, um festzustellen, ob er weise ist oder nicht –, ob er Sie
weise machen kann. Dann weiß er. Das ist das einzige Kriterium, und es
gibt kein anderes, denn die Formen, die dieses Mitgefühl annehmen kann,
sind überaus vielfältig, und nicht immer geben wir den Menschen mit
jeder unserer Handlungen Trost.
Der Mystiker und der Vedantin
AC: Shankara und Ramana Maharshi werden allgemein als die beiden
bedeutendsten Verfechter der AdvaitaLehre und AdvaitaVerwirklichung
angesehen. Ich habe mich dennoch immer gefragt, warum die Lehre
Shankaras ein monastisches System hervorgebracht hat, in dem der
Mensch dazu ermutigt wird, der Welt zu entsagen, um ernsthaft das
spirituelle Leben aufzunehmen, während Ramana Maharshi – der selbst
ein Entsagender war – wenn Menschen ihn fragten: „Meister, soll ich die
Welt aufgeben?“, sie oft dazu ermutigte, nach dem Wesen desjenigen zu
forschen, der die Welt aufzugeben wünschte, und ihnen davon abriet,
äußere Veränderungen in ihrem Leben vorzunehmen.
SD: Shankara ist nur ein Glied in der Tradition, wie ich bereits sagte. Er
ist nicht der Urheber irgendeines speziellen Systems oder Mönchsordens.
Es stimmt, er selbst war ein Sannyasi, er hatte entsagt – als junger Mann
entsagte er allem –, aber ein Sannyasi unterscheidet sich von einem
Mönch.
Ein Sannyasi gehört keinem speziellen Mönchsorden an. Er ist einfach
jemand, der nicht am Konkurrenzkampf in der Gesellschaft teilnimmt. Er
ist ein Mensch, der einen bestimmten Grad der Reife erlangt hat, ein
gewisses Unterscheidungsvermögen, das ihn dazu treibt, mit besonderer
Hingabe nach spiritueller Erkenntnis zu streben. Zu Zeiten Shankaras
wurde ein solcher Mensch aller familiären, sozialen und religiösen Pflichten
durch ein Ritual enthoben, in dem er sagte: „Ich gebe alles auf. Ich
nehme nicht am Konkurrenzkampf teil. Ich habe kein Interesse an Geld,
Macht, Sicherheit oder irgendetwas anderem hier.“ Das ist ein Sannyasi.
Er ist nicht Mitglied einer Organisation oder eines Ordens. Es gibt kein
Kloster zum Schutz dieser Person. Er lebt „unter freiem Himmel“.
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Aber es gibt noch eine tiefere Ebene der Entsagung, die dieser Sannyasi,
dieser Entsagende erreichen muss, und das ist das Wissen: „Ich bin nicht
der Handelnde, ich bin nicht der Erlebende, ich habe nie zuvor irgendein
Karma geschaffen, nie irgendeine Handlung ausgeführt“ – die direkte
Erkenntnis des nondualen Selbst, das auch Handlungslosigkeit ist.
Handlung ist so lange da, wie es Täterschaft gibt. Auch „Nichthandeln“ ist
Handeln. Daher ist das Freisein von Täterschaft, das mit dem Erkennen
des Selbst einhergeht, kein Akt des Aufgebens. Es ist: „Ich weiß und
daher bin ich frei. Und daher ist es nicht eine Frage der Wahl.“ Das wird
dann wirkliches Sannyas genannt, das wahre Aufgeben allen Handelns zu
jeder Zeit, und das ist Erleuchtung.
AC: Es stimmt nicht, dass Shankara eine Mönchstradition begründet hat?
SD: Nein, er hat keine Mönchstradition begründet. Nachher wurde das so
gesagt, aber das resultierte daraus, dass er ein so beliebter Lehrer und ein
Sannyasi war. Seine Schüler hatten Maths (Klöster), die sie geschaffen
hatten, aber es war kein neuer Orden. Einige seiner Schüler waren
vielleicht auf verschiedene Orte verteilt, aber wir wissen nicht, ob er sie
dorthin gesandt hat oder ob sie von selbst gingen. Ich bin der Ansicht, sie
taten es – er hat niemanden irgendwohin geschickt. So würde ich
zumindest vorgehen, wenn ich Shankara wäre; ich würde sagen: „Geh,
wohin du willst!“ Wenn nun schon eine kleine Person wie ich so handeln
würde, dann denke ich nicht, dass Shankara irgendetwas anderes getan
hätte. Soviel zu dem Thema.
Dann ist da Ramana. Es gibt Menschen, die sagen, Ramana ist der
Höchste, der, der in der modernen Welt Advaita vollständig erreicht hat.
So wird es gesehen, weil einige Menschen ihn kennen, es könnte aber
Millionen Unbekannter geben, von denen wir nichts wissen – darunter
eventuell auch Familienväter, Menschen, die zu Hause leben, vielleicht
sogar einige ganz normale Hausfrauen. In Indien, verstehen Sie, kann
man bei diesen Menschen nichts für selbstverständlich nehmen; manche
dieser Frauen sind erleuchtet. Wirklich! Und sie sind vielleicht Hausfrauen,
Mütter von zehn Kindern. Wir wissen es nicht. Indien ist anders. Es gibt
kein Kriterium, um festzustellen, ob dieser Mensch erleuchtet ist oder
nicht. Und so heißt es, Ramana ist erleuchtet, aber wir sollten ihm die
Frage stellen: „Bist du erleuchtet?“ Und er wird sagen: „Warum willst du
das wissen? Wer bist du, der das wissen will? Finde heraus, wer du bist.“
Er hat diese Art und Weise, mit den Menschen zu sprechen, entdeckt, die
ihn jeder Notwendigkeit des Antwortens enthoben hat. Da kommt einer
und fragt: „Was ist Gott?“ und dann antwortet er: „Wer bist du, der diese
Frage stellt?“ Das ist eine Methode zu antworten, mit der er versuchte,
den Menschen dazu zu bringen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Daher galt sein Interesse auch nicht irgendeinem besonderen Lebensstil.
Er hat weder zu Sannyas noch zu irgendetwas anderem ermutigt. Er hat
den Menschen nur gesagt: „Erkenne, wer du bist. Das ist das einzig
Wichtige.“
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AC: Tatsächlich hat er den Menschen davon abgeraten, wenn sie sagten,
sie wollten ihre Familie verlassen und Sannyas nehmen.
SD: Das wird jeder Sannyasi sagen, ansonsten würden alle diese
Menschen im Ashram landen! Ich würde in derselben Situation ganz sicher
dasselbe sagen, denn jeder, der sagt: „Ich möchte alles aufgeben“, hat
ein Problem.
AC: Warum?
SD: Weil er Zweifel hat! Hätte er keine Zweifel, dann wäre er schon
weggegangen; er wäre nicht hergekommen, um mich zu fragen. Denn
wenn die Mango reif ist, fällt sie ab; sie fragt nicht: „Soll ich abfallen?“
Ramana war nicht dumm; er wusste genau, was er sagen musste. Wenn
ich er wäre, wissen Sie, was ich dann gesagt hätte? Ich hätte der Person
geraten: „Komm schon, du brauchst nichts zu ändern. Bleibe dort, wo du
bist; es ist eine Veränderung der Sichtweise.“ Auch Shankara würde
dasselbe sagen. Shankara hatte nur vier Schüler. Er reiste zu Fuß kreuz
und quer durch sein Land, er traf also Tausende von Menschen, und doch
hatte er nur vier Schüler! Das heißt, er hat jedem gesagt: „Bleibe, wo du
bist.“
AC: Dennoch haben wir sowohl über Buddha als auch über Jesus gehört,
dass sie Menschen dazu ermutigten, alles zurückzulassen und ihnen zu
folgen, um das spirituelle Leben aufzunehmen. Das ist also eine
faszinierende Frage.
SD: Sie haben ermutigt, sie haben ermutigt – ich weiß nicht wozu.
Vielleicht wollten sie, dass die Menschen Zeit mit sich alleine verbringen.
Aber der Wert eines kontemplativen Lebens war in der vedischen Tradition
stets gegeben, und ein kontemplatives Leben kann man überall haben.
Und man kann inmitten aller Aktivitäten ein kontemplatives Leben führen,
oder man kann alleine sein und dabei überhaupt nicht kontemplativ.
AC: In einem Ihrer Bücher unterscheiden Sie zwischen einem Mystiker
und einem Vedantin. Wenn Sie zum Beispiel Ramana Maharshi als
Mystiker bezeichnen, scheinen Sie ihn in gewisser Weise von einem
Vedantin zu unterscheiden, und da ihn sehr viele Menschen als die
Quintessenz der Vedanta betrachten, würde es mich interessieren zu
erfahren, was jene Unterscheidung bedeutet.
SD: Der einzige Unterschied hier ist, dass ein Mystiker keine Möglichkeit
hat, um sich mitzuteilen und aus dem anderen Menschen einen Mystiker
zu machen, einen ebenso großen Mystiker, wie er es selbst ist.
AC: Um die empirische Verwirrung zu klären – meinen Sie das?
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SD: Ja. Angenommen, dieser Mystiker besitzt die Erkenntnis, dass er
selbst immer Alles ist – diese Art mystischer Erfahrung. Der Mensch ist
also ein Mystiker, aber er hat kein Kommunikationsmittel, um diese
Erfahrung mitzuteilen. Wenn er ein Kommunikationsmittel besitzt, durch
das er einen anderen Menschen in gleicher Weise zum Mystiker machen
kann, dann ist nichts Mystisches an dem, was er weiß. Deshalb werde ich
ihn nicht „Mystiker“ nennen. Ich werde ihn „Vedantin“ nennen.
AC: Im Falle von Ramana sagten alle, er hätte durch sein Schweigen
kommuniziert.
SD: Um es noch einmal zu sagen, das ist eine Interpretation, denn ich
kenne viele Menschen, die zu ihm gingen und dann zurückkamen und
sagten, dass er gar nichts wüsste.
AC: Es gibt aber auch sehr viele Menschen, die sagten, dass sie in seiner
Gegenwart tiefe Erfahrungen hatten.
SD: Jeder muss auf seine eigene Weise interpretieren. Aber wir können
nur dann sagen, dass jemand ein Vedantin ist, wenn er Vedanta lehrt!
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Gott zum Lachen bringen
Ein Interview mit Dr. Vijai Shankar
von Simeon Alev
Einleitung
In unserem vierten und letzten Interview mit dem wir uns auf
Entdeckungsreise in die mysteriöse, EinzigAbsolute Welt der Advaita
VedantaLehre des absoluten Nondualismus begeben, haben wir die
Freude, ein aufregendes, äußerst herausforderndes und zum Widerspruch
reizendes Gespräch mit dem wirklich unglaublichen Dr. Vijai Shankar zu
präsentieren. Wer ist Dr. Shankar? Nun, wie es seiner AdvaitaLehre
entspricht, wollte er nicht über seine Vergangenheit sprechen (er hat
sogar alles getan, damit bei seiner Verlegerin nicht der geringste Zweifel
darüber entstehen konnte, dass jedes Detail, das wir ihr eventuell doch
hatten entlocken können, nicht von ihm stammt!) Warum? Weil es ihn,
wie Dr. Shankar ganz unbefangen und kühn feststellt, nicht gibt! Und uns
alle natürlich genauso wenig.
Advaita sagt uns ganz einfach, dass als einzige Realität, als einzige
Wahrheit der Existenz, ausschließlich das Absolute Selbst existiert –
jenseits von Namen, Formen und Begriffen – und jeder Mensch, der das
zutiefst erkennt, wird ganz und gar und ein für alle Mal aus dem Alptraum
der zeitlich begrenzten verkörperten Existenz befreit sein. Die Tatsache,
dass Dr. Shankar so unerschütterlich dazu steht, sein absolutes Wesen
verwirklicht zu haben, macht ihn zu einem derart bemerkenswerten
Beispiel für diese kompromisslose Lehre. Und eben deshalb, weil er so
völlig kompromisslos an seiner nondualen Perspektive der Advaita
Philosophie festhält, könnte man ihn auch als Fundamentalisten
bezeichnen! Und da er unter keinen Umständen gewillt ist, irgendetwas
anderem als diesem nondualen Absoluten auch nur die geringste Spur von
Realität zuzugestehen, waren wir für diese Ausgabe von WIE: „Was ist
Erleuchtung? – Weiß überhaupt irgendjemand, worum es geht?“ an einem
Treffen mit ihm – unserem eigenen Selbst? – interessiert.
Dass die AdvaitaLehre auf der Nichtrealität der Welt besteht, scheint uns
ein unmögliches Paradox zu sein – ein unmögliches Paradox, weil gerade
die Realität der Existenz im Körper stets sehr reale Fragen aufwirft, die
durch die Sichtweise der „Nichtrealität“ allein nicht beantwortet werden
können.
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die gelebt werden kann? Was bedeutet: Beantwortet sie die ultimative
Frage, lässt sie aber dennoch zu viele andere Fragen offen? Oder beseitigt
das Finden der Antwort auf die ultimative Frage sofort ein und für alle Mal
weitere Fragen? Entscheiden Sie selbst.
Übrigens, auch wenn es, was ihn angeht, eine irrelevante Information ist,
so dachten wir doch, dass es Sie vielleicht interessieren könnte, dass Dr.
Shankar in einer Garage als WohnungcumAshram namens Kaivalya
Shivalya („Sitz des Absoluten“) in Galveston, Texas, wissenschaftlich
forscht, lebt und lehrt.
I nterview
W I E: Es ist nicht so, dass wir falsche Antworten bekommen hätten; es ist
nur so, dass es gewisse Fragen gibt, die verschiedene Personen
unterschiedlich beantworten.
VS: Jede Antwort ist auf ihre Art und Weise richtig, da es ganz auf den
Standpunkt ankommt, von dem aus sie gegeben wird. Ich hätte gerne
etwas Authentisches von Ihrer Seite gehört. Wenn Sie über Vedanta
schreiben wollen, sollten Sie wissen, wonach Sie suchen. Wissen Sie, was
Advaita ist?
W I E: Würden Sie es uns bitte sagen?
VS: Dann wissen Sie also nicht, wonach Sie suchen!
W I E: Nun ja, ich frage nicht nur für mich selbst. Ich frage im Namen von
Tausenden von Lesern.
VS: Bitte missverstehen Sie mich nicht. Das, was ich Ihnen mitzuteilen
versuche, ist: Wie können Sie wissen, ob sich die Antwort, die Sie erhalten
werden, auf das Wort bezieht, nach dem Sie fragen, wenn Sie in Ihrem
Geist oder in Ihrem so genannten Geist keine klare Vorstellung von der
exakten Bedeutung des Wortes Advaita haben, davon, wofür das Wort
steht? Sie sagen, in Ihrer Ausgabe geht es um Buddhismus und Advaita,
aber wissen Sie auch, was Buddhismus ist? Und wissen Sie, wofür Advaita
steht, was Advaita bedeutet? Sind Sie mit Advaita vertraut? Sie werden
mir heute dazu Fragen stellen. Wenn das so ist, dann sollten Sie wissen,
was Advaita bedeutet; ansonsten ist dieses Interview null und nichtig.
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W I E: Also gut. So wie ich es verstehe, ist die Lehre von Advaita Vedanta
die Lehre des Nondualismus, die Lehre, dass –
VS: Aber warum wird es "Nondualismus" genannt? Gott ist eins, nicht
wahr? Wenn Gott eins ist, und ich bin ganz sicher, dass die meisten
Menschen dem ohne Diskussion zustimmen werden, warum nennen es die
Weisen im Sanskrit dann nicht "Ekant", was eins bedeutet, anstatt
Advaita? Warum wurde das Wort Advaita gewählt? Hat sich darüber schon
jemand Gedanken gemacht? Advaita heißt nicht zwei. Wenn Sie einmal
darüber nachgedacht haben, dann brauchen Sie sonst nichts mehr zu
wissen. Sobald Sie wissen, was Advaita bedeutet, sind Sie darüber
hinausgegangen. Dann haben Sie den Verstand transzendiert. Warum
haben die Weisen nicht "eins" gesagt? Warum haben sie "nicht zwei"
gesagt? Sehen Sie, mein lieber Freund, ich will Sie gar nicht aufs Glatteis
führen. Ich versuche vielmehr, Sie auf die richtige Spur zurückzubringen.
W I E: Danke.
VS: Das sollte aber auch eine Wirkung auf Sie haben! Was nützt es, wenn
Sie Informationen sammeln, Informationen, Informationen,
Informationen, und Zeitschriften drucken, wenn es keinerlei Auswirkung
auf Ihr Leben hat? Sie werden sterben und davongehen, mein Sohn, so
wie wir alle. Der Körper wird verschwinden. Wozu also den Geist mit
Wissen vollstopfen? Welche Wirkung hat das auf Sie? Sie sollten längst
darüber hinaus sein! Das sollte das Ziel Ihres Lebens sein! Der einzige
Sinn des Lebens besteht darin herauszufinden, wer man ist. Wenn Sie
glauben, dass das Anhäufen all diesen Wissens Ihnen Erleuchtung bringen
wird, dann vergessen Sie es!
Aber um auf den Punkt zurückzukommen, das Wort Advaita wird benutzt,
um nicht zwei zu zeigen! Und das ist so, weil der Verstand sehr linear
funktioniert vom Punkt A zu den Punkten B, C, D, E, F und so weiter, auf
einer geraden Linie können Sie mir insoweit folgen? Sowie Sie "eins"
sagen, bedeutet das: es gibt zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht und
so weiter und so fort. Sobald Sie "eins" sagen, bedeutet das, dass die
Möglichkeit von zwei existiert. Eins hat nur in Bezug zu den anderen
Zahlen eine Bedeutung; ansonsten hat sie keine. Und sobald Sie "eins"
sagen, hat sich bereits zwei eingeschlichen. Deshalb sagt man nicht
"Ekant". Man sagt "NICHT ZWEI!" Und NICHT ZWEI heißt was? Dass die
Vielfalt verschwunden ist. Aber das kann nur in Form einer Verneinung
ausgedrückt werden.
Und nun wissen Sie, was "Vedanta" heißt?
W I E: So wie ich es verstehe, ist Vedanta der abschließende Teil der alten
Hinduschriften, die Veden heißen –
VS: Das ist schon wieder ein Irrtum. Das ist das Problem von uns allen
59
wir glauben einfach das, was man uns gesagt hat. Man hat das
Geschriebene auf die eigene Art und Weise interpretiert, ohne genau
darüber nachzudenken, was das Wort bedeutet. Und daher hat nie jemand
etwas verstanden, egal, was der Meister gesagt hat, nicht einmal die, die
ihm zugehört haben. Diese Leute haben ihn nicht wirklich gehört, haben
ihm nicht wirklich zugehört. Sie haben ihn nur interpretiert. Niemand hat
den Meistern zugehört, punktum niemand. Niemand hat den Meistern
zugehört, und auch Sie hören mir jetzt nicht zu. Wussten Sie das?
W I E: Dass ich Ihnen nicht zuhöre?
VS: Genau. Sie hören mir nicht zu, mein Freund. Vielleicht haben Sie den
Eindruck, Sie würden es tun, aber es ist nicht so. Wir alle haben die ganze
Zeit gedacht, wir würden zuhören. Nein, nichts dergleichen. Wissen Sie,
was Zuhören heißt? Ich bin sicher, Sie wissen es nicht. Die Menschen
hören nie zu. Man blickt nur durch die Brille der eigenen Konzepte. Ich
möchte Sie jetzt nicht erschrecken, aber vielleicht gehen Sie nach diesem
Gespräch fort und wissen weniger, als Sie vorher wussten. Deshalb sollte
man sich immer bewusst sein, in wessen Nähe man sich begibt, bevor
man überhaupt das Risiko eingeht, mit ihm zu sprechen. Am Ende wird
dieses Interview Ihr Ego sehr wahrscheinlich in kleine Stücke zerlegt
haben, und wenn das so ist, wird das für Sie von größerem Nutzen sein.
Sie werden weit mehr gewonnen als verloren haben. Bisher haben Sie die
ganze Zeit nur verloren. Aber Ihr Karma ist so, dass für Sie die Zeit
gekommen ist, eine Wirkung stattfinden zu lassen. Sie sollten wirklich
erkennen, wer Sie sind. Dafür ist alles die Mühe wert. Jedenfalls beruht
Ihre Vorstellung von Vedanta ebenfalls auf den Dingen, die man Ihnen
dazu gesagt hat. Aber die Veden sind nichts anderes als Gebete zu Gott
nichts als das, nur die Verherrlichung Gottes in vielen Formen, Farben und
symbolischen Gesten. Und das alles sind nur Hinweise auf das
letztendliche Eine, und das sind Sie. Und Vedanta heißt also "das Ende der
Veden". Anta heißt "Ende", okay? Und das Ende der Veden kam durch die
Upanishaden. "Upanishad" heißt nicht Fortsetzung der Veden nein, dies
liegt auf einer ganz anderen Linie: Die Veden fordern zur Entsagung auf
und die Upanishaden zur Freude. Deshalb kann es keine Fortsetzung
geben. Wie dem auch sei, was wollen Sie sonst noch wissen? "Wissen
wollen" das ist seltsam! Ich bin wirklich erstaunt darüber, wie die
Menschen immer wissen und wissen und wissen wollen. Und für wie lange
bis sie sterben? Hören Sie damit auf, all den Staub und Schmutz im
Geiste anzusammeln. Wozu? Haben die Menschen nicht diese ganze
Generation hindurch über die Veden und Advaita gehört? Wie lange
werden Sie noch darüber lesen? Wie lange werden Sie Ihre Zeitschrift
drucken? Sie werden sterben und davongehen! Jeder wird sterben und
davongehen! Wozu dient es? Oh ja, … vermutlich bringt es Essen auf den
Tisch.
W I E: Nun, zumindest werden diejenigen, die das lesen, Ihre Aufforderung
hören, dass sie aufhören sollen, verstehen zu wollen, und so weiter.
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VS: Das kann ich nur wünschen aber noch einmal, sie werden nicht
lesen, sie werden nicht hören. Glauben Sie, sie hören zu? Nein. Das
Einzige, was sie tun, ist mit ihrem eigenen Verständnis an die Worte
heranzugehen, und deshalb werden sie letztlich nur in dem Verständnis,
das sie ihren Konzepten zufolge bereits haben, bestärkt werden, wenn sie
denken, dass das, was sie gehört haben, richtig ist. Also können sie
vielleicht denken, dass sie zugehört haben, aber sie haben nicht zugehört
sie haben nur ihre eigene Konditionierung verstärkt. Verstehen Sie, was
ich sage?
W I E: Ich glaube schon.
VS: Sie glauben es! Ich hoffe es. Aber Ihr Verstehen beruht lediglich auf
Ihren eigenen Wünschen und Ängsten, Ihren eigenen Fantasien, den
eigenen Einstellungen dem Leben gegenüber. Das Wort "Einstellung"
beschreibt etwas Fragmentarisches, eine Unterscheidung, die nur aus dem
Verstand kommt. Aber das Leben ist keine Einstellung, und das Leben
kann nicht zerlegt werden, um einer Einstellung zu genügen, denn es
übersteigt den Verstand. Wenn sich Ihr Verständnis nach Ihrem eigenen
Konzept, nach Ihren eigenen Einstellungen richtet, dann sind Sie vom
Leben abgeschnitten können Sie mir folgen? Wenn Sie daher nur über
bestimmte Worte reflektieren, darüber, was die Rishis (Weisen) damit
meinten, dann ist das in Ordnung. Reflektieren Sie über Advaita,
reflektieren Sie über Vedanta: warum wurde das Wort Advaita gewählt?
Was bedeutet es? Ich spreche über Kontemplation, nicht über
Nachdenken. Es besteht ein Unterschied zwischen Denken und
Kontemplation. Was, glauben Sie, ist der Unterschied? Was ist der
Unterschied zwischen Denken –
W I E: Die Sache ist Dr. Vijai?
VS: Ja?
W I E: Ich würde Ihnen gerne in einem langen Gespräch alle meine
Gedanken darlegen –
VS: Wundervoll!
W I E: Aber für dieses Interview, sehen Sie, ist unsere Zeit leider begrenzt.
VS: Oh ja, wir sind in Raum und Zeit das ist unser Problem!
W I E: Ja. Genau.
VS: Es wird für Sie gar nicht leicht werden, mein Sohn. Sie sind nicht
gekommen, um mit einem Verstand zu sprechen. Sie tun, was Sie
können, um mit dem zu sprechen, was darüber hinausgeht. Kann der
Verstand mit dem sprechen, was über ihn hinausgeht?
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W I E: Lassen Sie es uns doch herausfinden.
VS: Nein, das geht nicht. Bis jetzt haben Sie es nicht geschafft. Sie
sprechen in Begriffen von Zeit und Raum, und es bleibt nichts mehr übrig.
W I E: Also, Dr. Vijai, das ist meine nächste Frage zu dem, was darüber
hinausgeht –
VS: Nun, dann stellen Sie sie! Es gibt keine Antworten darauf, mein Sohn.
W I E: Meine Frage ist: In der AdvaitaLehre hören wir oft, dass die Welt
eine Illusion ist. Und ich hätte gerne von Ihnen erfahren, was das
bedeutet.
VS: Gut. Sehen Sie, unser Problem ist, dass wir denken, dass es
außerhalb von uns eine Welt gibt, und dass wir in dieser Welt leben. Aber
das ist nicht so. Sie sind nicht in der Welt; die Welt ist in Ihnen. Haben Sie
das nicht erkannt schon wenn Sie am Morgen die Augen öffnen, taucht
die Welt auf, und wenn Sie am Abend schlafen gehen, verschwindet sie
haben Sie erkannt, dass Sie, wenn Sie schlafen, trotzdem existieren? Und
dass es derselbe ist, der im Schlaf existiert, der auch im Wachzustand
existiert? Wenn die Welt also während der Nacht zu verschwinden scheint,
und wenn man in der Tat zu existieren fortfährt und die Welt dies
scheinbar nicht mehr tut, dann kann das nichts anderes bedeuten, als
dass der, der du dir am Morgen zu sein einbildest, eine Illusion ist!
Oder so. Wenn man in den Spiegel schaut, sieht man doch nur ein
Gesicht, oder nicht? Man hat nicht den Eindruck, dass man zwei Gesichter
sieht, eines im Spiegel und eines außerhalb des Spiegels. Man ist so völlig
von seiner eigenen Reflexion in Anspruch genommen, die man für sich
selbst hält, dass man sich in diesem Moment von seinem eigenen
wirklichen Gesicht löst, das man nicht sehen kann. Wenn man aber nach
dem Rasieren ein bisschen Blut auf dem Gesicht hat, und wenn man das
Blut auf dem Spiegelbild sieht, dann greift man nicht zum Spiegelbild,
man greift sich ans Gesicht, oder nicht? In ähnlicher Weise reflektiert das
Atman (das Selbst) die gesamte Welt durch den Spiegel der Erkenntnis.
Das Problem ist, dass sich das "Ich" dazwischenschiebt, mit dem
Spiegelbild des Realen in Berührung kommt und dass man sich darin
verfängt. Es ist so, als wollte man das Blut vom Spiegel wegwischen. Kann
man das?
W I E: Nein, natürlich nicht.
VS: Aber genau das versuchen die Menschen, verstehen Sie?
W I E: Ja. Das, was Sie sagen, ist sehr klar.
VS: Ah, das freut mich für Sie! Wenn Sie nach diesem Interview
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bereichert weggehen, bin ich glücklich. Es wäre mir auch egal, wenn Sie
gar nichts in Ihrer Zeitschrift drucken würden, das ist ja doch nur
schwarze Tinte auf weißem Papier. Wenn jemand in der Lage ist, nur die
weiße Seite in Ihrer Zeitschrift zu lesen, dann bin ich glücklich. Nicht den
schwarzen Druck, denn das ist ja doch nur eine Reflexion aus dem "Ich"
des Lesers. Das wird also Illusion genannt, und die Welt ist eine pure
Illusion. Sie müssen verstehen, dass Sie Ihre eigene Welt reflektieren,
Ihre eigene Welt sehen. Aber das ist einfach das Problem, das auftritt,
wenn wir uns nicht für andere Seinszustände interessieren, wenn wir uns
nur um unseren Wachzustand Gedanken machen und nicht um Tiefschlaf
und Traumzustand. Wir existieren in allen drei Zuständen, aber wir
kümmern uns nur um einen einzigen. Das ist das Elend des Menschen.
Aber in dem Moment, in dem der Mensch Zeuge aller drei Seinszustände
wird, wird er verstehen, dass die Welt nichts als pure Illusion ist.
W I E: Einige Gelehrte, mit denen wir gesprochen haben, sind der Ansicht,
dass Advaita "eine ihr innewohnende Ablehnung gegenüber der Welt" hat,
weil sie den Begriff von der Welt als Illusion unterstreicht, und dass als
Ergebnis davon die letztendliche Verwirklichung in der Advaita oft mit
einer Weltflucht gleichgesetzt wird. Wenn möglich, würde ich daher sehr
gerne besser verstehen, wie sich die Verwirklichung, die Sie eben
beschrieben haben, in der Beziehung eines Menschen zur Welt von Raum
und Zeit ausdrückt.
VS: Gut. Der erste Punkt ist, dass es keine Menschen gibt. Das muss erst
einmal klar sein. Sie sind ein spirituelles Wesen mit der Erfahrung eines
Menschen. Sehen Sie sich nicht als ein menschliches Wesen, das einer
spirituellen Erfahrung bedarf. Auch das ist eine Illusion.
Nun sprechen die Menschen von "Weltflucht", aber worum geht es denn?
Haben sie nicht verstanden, dass die Welt eine Illusion ist? Was soll's
also? Wenn es eine Illusion ist, wem sollte man dann entsagen? Wie kann
man einer Illusion entsagen? Dummheit! Absoluter Unsinn! Illusion? Wo
ist das Problem? Diese Illusion ist für sie da, damit sie sich an ihr
erfreuen. Haben Sie mich bisher nicht klar verstanden? Stellen Sie sich
vor, Sie selbst oder jemand anders versucht zu flüchten wohin
eigentlich? Auch in einer Höhle werden Tausende und Abertausende von
Gedanken den Geist bombardieren. Man entflieht nie.
Passen Sie auf. Wenn Sie ins Museum gehen, sehen Sie dort vielleicht ein
riesiges Gemälde, das, sagen wir, eine alte Frau darstellt, eine
ausgezehrte alte Frau in Fetzen, absolut Haut und Knochen mit kaum
einem Krümel Essen auf ihrem Teller, und ein abgemagertes Baby neben
ihr und ein großer sterbender Hund. Vielleicht verhungern auch gerade
einige Kühe daneben, die Bäume sind dürr, die Erde ist ausgedörrt und
alles scheint hier total widerwärtig. Aber da steht dann ein Mann vor
diesem Bild und sagt: "Ein Meisterwerk!" Sagt er das oder nicht?
63
W I E: Ja, das nehme ich an.
VS: Und da ist vielleicht auch ein Blutender mit einem gebrochenen Bein
und der Mann sagt noch immer: "Ein Meisterwerk!" Er wird nie sagen:
"Oh, diese Frau tut mir so leid, ich hole jetzt eine Pizza und gebe sie ihr zu
essen. Dieser Mann blutet, ich bringe ihn ins Krankenhaus. Der Hund
stirbt, ich bringe ihn in die Tierklinik oder zum Tierarzt oder wo auch
immer hin." Nein er sagt: "Es ist ein Meisterwerk!" In derselben Weise
hat Gott dieses ganze, sich ständig verändernde Panoramabild gemalt,
das nie konstant ist, sondern ständig weiter und weiter geht. Er hat Sein
Meisterwerk nie vollendet, aber Er ist zu jeder Zeit in jedem, der sich
daran erfreut und es genießt, denn es ist ja nur ein Gemälde. Der
Umstand, dass man selbst in diesem Gemälde mitwirken will und es für
real hält, ist das Problem, das so viel Leid für jeden Einzelnen und für alle
entstehen lässt. Verstehen Sie?
W I E: Nun, ja. Ich verstehe, was Sie sagen –
VS: Gut für Sie. Es gibt also nichts, dem entsagt werden müsste, und
nichts ist zu tun. Seien Sie einfach Sie selbst und finden Sie heraus, wer
Sie sind. Das ist das Ende jeden Problems auf der Welt. Wissen Sie, es
gibt keine Probleme im Leben das einzige Problem ist das Denken. Das
Leben ist kein Problem; das Leben ist ein Mysterium. Das Leben ist Musik.
Das Leben ist Tanz. Durch dieses Mysterium lebt diese Musik und lebt
dieser Tanz. Erfreuen Sie sich an Shivas kosmischem Tanz! Das ist
Advaita für Sie! In dem Moment, wo Sie zur Musik werden, wo Sie zum
Tanz werden, in dem Moment, in dem Sie das Fließen des Wassers
werden, die Festigkeit des Felsens, der Duft der Blume, in dem
Augenblick, in dem Sie das Blühen der Blume werden, sind Sie Advaita.
Können Sie mir folgen? Aber angenommen, Sie sehen eine schöne Blume,
und wenn Sie plötzlich ein Gefühl von Schönheit in sich spüren, sagen Sie:
"Eine schöne Blume!" Was ist da geschehen? Können Sie mir das sagen?
W I E: Nun, einerseits scheint es etwas Schönes zu sein. Man findet
Gefallen an etwas –
VS: Und das ist Ihr Problem! In dem Moment, in dem man ein Wort sagt,
kommen die Dinge zum Stillstand, und Sie sind in Ihre Vergangenheit
eingetaucht. Wir führen ein totes Leben, das nur aus Bildern aus der
Vergangenheit besteht und nicht aus dem Leben, so wie es direkt vor uns
in seiner Herrlichkeit erblüht. Das entgeht uns. Wir sind immer in der
Vergangenheit. Wir schütteln in jeder Minute einer Leiche die Hand. Wir
denken, wir leben das Leben, aber es ist nicht so. Die Schönheit in der
Blume ist Gott, sehen Sie? Gott ist keine Person; Gott ist eine Präsenz.
Gott ist die Göttlichkeit, die nur jetzt, in diesem Augenblick JETZT da ist
nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Der Augenblick, in dem
man im Verstand ist, ist nicht Advaita. Aber der Augenblick, in dem man
nur in einemAugenblickzumnächsten ist, das ist Advaita.
64
W I E: Manche AdvaitaLehrer sagen, dass ein Mensch, der das Selbst
verwirklicht hat, über weltliche Unterscheidungen wie gut und böse oder
richtig und falsch hinausgegangen sein und dass ein solcher Mensch in der
Tat niemandem Rechenschaft abzulegen habe. Einer dieser Lehrer ging so
weit zu sagen, dass ein solcher Mensch nicht einmal Gott gegenüber
Rechenschaft abzulegen hätte. Was sagen Sie dazu?
VS: Schon wieder lauter falsche Konzepte! Niemand kann ein "Advaita
Lehrer" sein. In dem Moment, in dem ein Lehrer kommt, heißt das, dass
da ein Schüler ist. Das ist in keiner Weise Advaita, Punkt eins. In dem
Moment, in dem er sagt, er ist ein Lehrer, laufen Sie rasch weg! Verstehen
Sie, was ich sage?
W I E: Was den Lehrer betrifft, ja.
VS: Und was war der andere Punkt, den Sie erwähnten?
W I E: Dass ein selbstverwirklichtes Individuum –
VS: "Ein selbstverwirklichtes Individuum" wenn er selbstverwirklicht ist,
wie kann er dann ein Individuum geblieben sein? Das ist ganz und gar
abwegig! Advaita heißt: aufzuhören, dieselben alten Worte weiter zu
verwenden und nicht zu wissen, was sie bedeuten. "Das
selbstverwirklichte Individuum" das ist falsch. Gut, ist auch egal. Um des
Interviews willen, okay. Was sagt er also?
W I E: Dass sie niemandem Rechenschaft abzulegen haben dass sie über
Unterscheidungen wie gut und böse oder richtig und falsch
hinausgegangen seien und dass sie nicht einmal Gott Rechenschaft
abzulegen bräuchten.
VS: Genau. "Gut" oder "böse" gibt es nicht. Das sind nichts als nur Ihre
geistigen Konzepte. Nur deshalb, weil Sie denken, Sie seien ein Mensch
und Gott sei anderswo, meinen Sie, Sie seien Gott Rechenschaft schuldig.
Glauben Sie, Gott ist ein Jurist? Glauben Sie, Gott ist ein Voyeur? Glauben
Sie, Gott ist ein Diktator, der darauf wartet, Sie zu bestrafen? Und dann
sagen Sie: "Gott ist überall." Wenn Gott überall ist, wer sind Sie dann?
Weil Sie glauben, Sie seien ein Mensch, der spirituelle Erfahrungen
braucht, verstricken Sie sich in den Konzepten von gut und böse und oben
und unten und links und rechts und innen und außen. Aber nichts davon
gibt es, auch ohne Verwirklichung. Wenn Sie glauben, Sie müssten Gott
Rechenschaft ablegen, wer sind Sie dann? Sind Sie von Gott getrennt?
Das heißt dann, Gott ist nicht überall. Vergessen Sie es! Sagen Sie
niemals: "Gott ist überall." In dem Moment, in dem Sie sagen: "Gott ist
überall", existieren Sie nicht mehr. Natürlich existieren Sie nicht. Gott ist
überall. Sie haben Ihr wahres Wesen vergessen, und weil Sie Ihr wahres
Wesen vergessen haben, sagen Sie, Sie müssen Gott Rechenschaft
ablegen. Aber in dem Moment, in dem Sie Gott erkennen, gibt es Sie nicht
65
mehr, wem sollten Sie also Rechenschaft ablegen? Ein Selbstver
wirklichter, der den Geist transzendiert hat, ist eben keine Rechenschaft
schuldig. Warum? Weil er Gott ist. Wie kann Gott sich selbst Rechenschaft
ablegen müssen? Es gibt nichts, das Sünde heißt, es gibt nichts, das Gier
heißt wie können diese Dinge in einem Gemälde existieren? Jemand geht
ins Museum und sagt: "Dieses Gemälde ist nicht gut. Dieses Bild ist sehr
gut." Sie hingegen meinen, er irrt sich: dieses ist gut, das andere ist
schlecht. Was ist es nun? Es ist das eigene Konzept, die eigene
Einstellung, das eigene geistige Kolorit. Okay, gut für Sie. Lassen Sie das
jetzt alles sein und gehen Sie über den Geist hinaus. Dann werden Sie
Gott erkennen. Dann werden Sie wissen, was "Selbstverwirklichung"
bedeutet.
W I E: Ist das Verstehen, dass es so etwas wie Unwissenheit nicht gibt,
tatsächlich dasselbe wie voll selbstverwirklicht zu sein oder steckt da
noch mehr dahinter?
VS: Sehen Sie, es ist so: Sie haben Ihr wahres Wesen vergessen, okay?
Und Sie brauchen sich nur auf Ihr wahres Wesen zu besinnen mehr
brauchen Sie nicht zu tun. Aber die Methode, um das zu tun, besteht nicht
darin, zu versuchen, sich ständig daran zu erinnern, denn das ist dann
erneut nichts anderes als ein weiteres mentales Konzept. Nein, Sie können
Ihr wahres Wesen nur dadurch erkennen, dass Sie all das verneinen, von
dem Sie glauben, dass Sie es sind, und in dem Augenblick, in dem Sie
alles verneinen, von dem Sie glauben, dass Sie es sind, oder von dem
man Ihnen gesagt hat, dass Sie es sind, dann werden Sie bei dem
ankommen, was Sie wirklich sind. Und in dem Augenblick, in dem Sie zu
dem Wissen gelangen, wer Sie sind, kommen Sie in einen Zustand, in
dem Sie nie wieder ein Wort sagen werden.
W I E: Wie bitte?
VS: In dem Augenblick, in dem Sie alles vollständig verneint haben,
gelangen Sie in einen Zustand, in dem Sie niemals darüber sprechen
werden, niemals sagen werden, dass Sie verwirklicht sind, oder dieses
66
oder jenes oder etwas anderes. Wenn eine Glühbirne brennt, spricht sie
dann von der Dunkelheit? Weiß die Sonne, wenn sie scheint, von ihrem
eigenen Strahlen? Wenn die Blume blüht, kennt sie ihren eigenen Duft?
Kann die Zunge ihren eigenen Geschmack erkennen? Kann sich ein Auge
selbst sehen? Kann sich ein Messer selbst schneiden? Kann sich ein Dieb,
der vor der Polizei wegläuft, in einen Polizisten verwandeln und selbst
fangen? So ist das. Kapiert? Da sind wir an einem wundervollen Punkt
angelangt. Jetzt macht mir das Ganze Spaß.
W I E: Aber wenn Sie nicht darüber sprechen, wie helfen Sie dann anderen
dabei, das zu verwirklichen, was Sie verwirklicht haben?
VS: Was habe ich verwirklicht? Ich weiß es nicht. Es ist ein großartiger
Scherz. Oh wunderbares Leben, ich danke dir dafür, dass du mich zum
Lachen bringst. Ich weiß nicht, wozu die Menschen hierher kommen. Ich
lehre sie nichts, kommt gar nicht in Frage! Ich lehre sie nie etwas. Wer
sollte lehren? Was sollte gelehrt werden? Es gibt nichts zu lehren, mein
Freund. Was wollen Sie über eine Illusion lehren? Du meine Güte, das ist
so ein törichter Unsinn. Ich weiß nicht, warum die Menschen immer so
weitermachen. Gestern habe ich ein sehr nettes sieben Seiten langes Fax
von einem sehr vornehmen Herrn bekommen, der einige Zeit in der Nähe
dieses Körpers verbracht hat. „In Vijais Gegenwart zu sitzen ist eine
einzigartige Erfahrung“ – das sagt er jedenfalls. „Er stellt nie
Anforderungen an seine Zuhörer, und deshalb ist die natürliche Reaktion
auf ihn völlige Offenheit, ein Zustand, der viele Menschen erstaunt, wenn
sie ihn entdecken. Mit Vijai verflüchtigt sich in dieser Arena der Einheit die
Dualität und macht einer allmählichen Vereinigung Platz. Seine Methode
ist eine Art von BasisSpiritualität; ohne Rücksicht auf Fragen, die ihm
gestellt werden, bringt er den Fragenden zu diesem einen wahren,
wonnevollen Zustand zurück, in dem sich Menschen glücklich fühlen.“ Sie
sehen also, es geschieht ganz einfach. Ich tue nichts. Gar nichts.
W I E: Und was geschieht?
VS: Das weiß ich nicht. Sie sagen, sie fühlen sich glücklich. Alle gehen ins
Kino, um Spannung zu erleben, nicht wahr? Wahrscheinlich kommen die
Menschen also hierher, um sich glücklich zu fühlen. Warum möchten Sie
glücklich sein? Können Sie mir das sagen? Weil Glück Ihre wahre Natur
ist. Aber der Ort, an dem Sie es suchen, ist nicht der richtige. Es ist nicht
da draußen, es ist in Ihnen. Also suchen die Menschen wahrscheinlich in
ihrem eigenen Inneren, wenn sie hierher kommen. Aber ich weiß nicht,
was geschieht. Sie stellen mir einige weltliche Fragen, so wie Sie gerade,
und ich stelle nur ihren Kompass richtig ein, das ist alles.
W I E: Vielen Dank. Eine letzte Frage?
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VS: Gibt es so etwas wie eine letzte Frage? Wenn Sie sagen, es ist die
letzte, dann dürfen Sie in Ihrem ganzen Leben keine Fragen mehr stellen.
Okay, bitte schön!
W I E: Gibt es irgendwelche Handlungen, von denen wir mit Sicherheit
sagen könnten, dass sie ein verwirklichter Mensch nicht ausführen würde?
Gewalt zum Beispiel, Töten, Unehrenhaftigkeit oder eine Handlung, die
einem anderen Menschen Schaden zufügt?
VS: Hören Sie zu. Gibt es Unehrenhaftigkeit? Gibt es tatsächlich ein
Töten? Gibt es tatsächlich ein Verbrechen? Denken Sie darüber nach.
Überlegen Sie es sich gut, bevor Sie überhaupt so etwas sagen. Wie
könnte der Verstand jemals den erkennen, der ihn transzendiert hat? Wie
könnte er es? Es ist nur eine Ausdehnung des Begrenzten ins
Unbegrenzte. Das Einzige, was man also von ihm sagen kann, ist, dass er
unberechenbar sein wird. Man kann ihn nicht vorausberechnen, denn er
schwebt im Jetzt.
W I E: Halten Sie es dann für möglich, dass ein solches Individuum, das
derart unberechenbar ist, in der Tat eine Handlung ausführen könnte, die
–
VS: Für Sie ist es eine Handlung. Für ihn ist es das nicht. Hier irren Sie. Es
gibt keine äußeren Handlungen, mein Freund. Es scheint Ihnen nur so. Sie
hängen daran. Sie glauben, es geschieht dort. Sie glauben, er tut es.
Kümmern wir uns gar nicht darum. Alles geschieht einfach. Alles ist, wie
es ist. Es ist nur dieses Gemälde und es wird weitergehen. Sie werden
glauben, dass da draußen etwas passiert – etwas Böses, eine Sünde, eine
Gewalttat, aber das ist Ihr Problem. Die Bhagavad Gita sagt: „Alles, was
geschieht, geschieht zum Besten. Das, was geschehen ist, ist ebenfalls
gut. Das, was geschehen wird, ist ebenfalls gut. Sie sind nicht der
Handelnde. Der Herr ist der Handelnde. Er beobachtet alles.“ Das ist das
Leben. Das Leben ist ein Mysterium; lebe es, interpretiere es nicht. In
dem Moment, in dem man es interpretiert, geht man fehl. Es ist um
Himmels willen nichts anderes als Gott, der sich überall manifestiert! Er
amüsiert sich nur. Ich werde Ihnen etwas sagen: Möchten Sie Gott zum
Lachen bringen?
W I E: Klar. Ich habe das Gefühl, das haben wir ohnehin die ganze letzte
Stunde getan.
VS: Wissen Sie was? Wenn Sie Ihm von Ihren Plänen erzählen, dann lacht
Gott. Erzählen Sie Gott von Ihren Plänen, und er wird sich köstlich
amüsieren.
Denken wir also nicht. Lassen Sie uns im Hier und Jetzt sein. Das genügt.
Das ist absolut ausreichend. Sie sind ein spirituelles Wesen mit der
Erfahrung eines Menschen. Hören Sie jetzt damit auf, mein Sohn. Hören
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Sie jetzt damit auf und alles wird für Sie in Ordnung sein. Ich würde Sie
so gerne in einem anderen Zustand sehen, in Ihrem wahren Zustand,
wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Das wäre schön. Es gibt nichts,
zu dem Sie eines Tages werden. Wenn Sie zu etwas werden sollten, wird
das das Ende sein – der Tod. Jeder wird der werden, der er ist. Was ist
das Problem dabei? Ich sehe kein Problem. Hören Sie – eins noch. Haben
Sie Spaß gehabt?
W I E: Ja, sehr sogar.
VS: Das ist sehr wichtig. Ich sage Ihnen etwas: Werfen Sie doch das
ganze Interview in den Papierkorb! Was gibt es Wichtigeres als Spaß zu
haben? Denken Sie über dieses Vergnügen nach. Stellen Sie sich diesem
Vergnügen. Seien Sie in diesem Vergnügen. Das wird Ihnen mehr nützen.
69
Buddhismus
Es kam einer Provokation gleich, für diese Ausgabe von Was ist
Erleuchtung? den postmodernen Zustand des Buddhismus im Westen
unter dem Blickwinkel „Gibt es überhaupt jemanden, der weiß, wovon er
spricht?“ zu beleuchten. Warum? Weil die Frage „Was ist Erleuchtung?“
einen sehr direkten Bezug zum Buddhismus hat schließlich und endlich
wird das Wort „Erleuchtung“ ja verwendet, um den Zustand von Buddhas
Erwachen zu beschreiben. Und am erstaunlichsten im Rahmen dieser
ganzen Problematik war es festzustellen, dass erstens in den vielen
verschiedenen buddhistischen Denkschulen eine beträchtliche Uneinigkeit
darüber zu herrschen scheint, was Erleuchtung wirklich ist. Und zweitens
gibt es offenbar nur wenige postmoderne westliche Buddhisten, die die
Möglichkeit von Erleuchtung ernsthaft in Erwägung ziehen!
Es scheint, als wäre die wachsende Attraktivität des Buddhismus sehr
stark darauf zurückzuführen, dass es sich dabei allem Anschein nach um
eine überaus rationalistische Philosophie handelt, die das eigene Bemühen
betont und frei ist von einer obersten Gottheit oder einem Absoluten. Die
oft zitierten letzten Worte von Buddha „Sei Dir selbst ein Licht“ lösen in
den Herzen und den Köpfen so vieler Menschen, denen der Begriff eines
jüdischchristlichen Gottes, der oft Gefühle von Schuld, Scham und Furcht
einflößt und diejenigen verdammt, die nicht aus vollstem Herzen und
kritiklos glauben können, ein lautes „Ja“ aus. In der Tat wird die
Möglichkeit, an nichts glauben zu müssen, um Spiritualität zu erfahren,
sehr oft als willkommene Erleichterung empfunden. Und die Gelegenheit,
für sich selbst herauszufinden, was der Buddha damit meinte, als er
sagte: „Ich bin erwacht“, ist sehr verlockend.
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Der Buddha beschrieb seine Erleuchtung als das Aufhören von Verlangen
und Begehren und stellte schlicht und lakonisch fest, dass Erleuchtung
durch das Aufhören von Verlangen und Begehren erreicht werden könne.
„Ich bin der, der alles transzendiert hat, der alles weiß und in allen
Vorstellungen ohne Makel ist, der allem entsagt hat und befreit ist, weil
alles Verlangen zu einem Ende gekommen ist. Und das habe ich mir selbst
zu verdanken. Wem sollte ich es anrechnen? „In der Welt bin ich der
Lehrer ohne einen Gleichen; auch bin ich vollendet; ich allein bin
erleuchtet, mein Durst ist gestillt, alle meine Feuer sind erloschen.“
Parallel zu seiner Lehre (er nannte sie „Das Gesetz“), dass allein das
Begehren Ursache aller Unwissenheit ist, entwarf er einen präzisen, aus
acht Anordnungen bestehenden spirituellen Weg, dem er den Namen „Der
edle achtfache Pfad“ gab. Diese Anordnungen sind: rechte Anschauung,
rechte Absicht, rechte Rede, rechtes Handeln, rechte Lebensweise, rechtes
Bemühen, rechte Achtsamkeit und rechte Konzentration.
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Als Ergebnis der weit verbreiteten Desillusionierung im Bereich von Politik
und Religion leben wir in einer Zeit, wo eine nahezu fest verankerte Furcht
und Skepsis gegenüber allem existiert, was von sich behauptet, absolut zu
sein. Für viele stellt der zeitgenössische Buddhismus einen Weg der tiefen
Selbsterforschung dar, der diese Art von Extrem, wie es scheint,
vermeidet. Aber ist das wirklich so? Schließlich impliziert der sehr
buddhistische Begriff von Erleuchtung automatisch etwas Absolutes,
einfach deshalb, weil jemand entweder erleuchtet ist oder nicht – man ist
nicht ein bißchen erleuchtet!
Im Aufwallen des westlichen Interesses an Buddhismus in der letzten Zeit
gab es etwas, das Helen Tworkov, die Begründerin der buddhistischen
Zeitschrift Tricycle, eine „Säkularisierung der (buddhistischen) Lehre“
nennt. „Es gibt nur ganz wenige Menschen, die bereit sind, tatsächlich so
weit zu gehen, ein wirklich reifes authentisches nonduales und autonomes
Leben zu leben“, sagt sie. „Sehr wenige Menschen sind daran interessiert,
Erleuchtung zu erlangen, sehr wenige Menschen sind daran interessiert,
sich selbst aufzuwecken, sehr wenige Menschen sind daran interessiert,
wahrhaftig in einer nondualen Sichtweise zu leben. Wenn man also von
‚Erleuchtung‘ spricht, spricht man nur von einer Hand voll Menschen. Und
gleichzeitig leidet die ganze übrige Menschheit, und man tut, was man
kann, um eine Umgebung oder ein Bewusstsein zu schaffen, das dazu
beiträgt, diese Situation zu erleichtern.“ In der Tat ist es bezeichnend,
dass der Buddhismus, der vor zwanzig Jahren von vielen jungen Menschen
im Westen als authentischer Erleuchtungsweg erkannt wurde, allmählich
in erster Linie eine säkularisierte Form von Spiritualität geworden ist, mit
der Tendenz, die ethische Entwicklung und die persönliche Erfüllung über
den Tod des Ego und das Transzendieren der Welt zu stellen. Während der
Buddhismus noch vor kurzer Zeit als eine tief befreiende Alternative zum
erstickenden Einfluss des jüdischchristlichen Dogmas gesehen worden ist,
erfüllt er mittlerweile für viele Menschen im Westen auf dieselbe Art eine
Funktion als Religion wie für Millionen im Osten.
Das Herz des Buddhismus ist schon immer die Erleuchtung des Buddha
gewesen, vielleicht ist jedoch das von ihm Erreichte – das das Rad des
Dharma in Bewegung setzte – in Vergessenheit geraten. Um es noch
einmal zu sagen, ein Großteil der Attraktivität des Buddha Dharma für den
westlichen Geist ist seine tiefe Rationalität und Betonung auf dem eigenen
Bemühen – und aus diesem Grund könnte es für viele so aussehen, als
stelle das, was Buddha lehrte, überhaupt keine Gefahr für unsere liberalen
und egalitären Ideale dar. Und dennoch – die absoluten Konsequenzen
von Buddhas Erleuchtung müssten unsere grundlegende Weltsicht
eigentlich in irgendeiner Weise bedrohen. Wenn das nicht der Fall ist, ist
dann nicht der eigentliche Kern aus Buddhas Lehre herausgenommen
worden – und bleiben somit für uns nicht nur ein Körper und ein Verstand
übrig, die von ihrer Quelle getrennt sind? Oder ist die Reise des
Buddhismus in den Westen, wie es uns manche Menschen glauben
machen, nichts anderes als eine weitere originelle und kreative
72
Ausdrucksform der Lehre des Buddha, die sich stets an neue und sich
verändernde Gegebenheiten anpasst?
Keine unabhängige Existenz
Ein Interview mit Sein er H eiligkeit dem
Dalai Lama
von Amy Edelstein
Einleitung
Wenn man die Möglichkeit hätte, einen Zeitgenossen dazu zu befragen,
was der Kern von Buddhas Erleuchtungslehre wirklich ist, dann würde
man sich höchstwahrscheinlich an den Mönch Tenzin Gyatso wenden.
Und so begann eine Serie von Faxnachrichten und Telefonaten in die
Bergenklave von Dharamsala, Sitz der tibetischen Exilregierung und
Aufenthaltsort Seiner Heiligkeit, des XIV. Dalai Lama. Der Dalai Lama ist
in der heutigen Zeit die wohl gefragteste Persönlichkeit des öffentlichen
Lebens, und von allen Seiten erhält er Terminanfragen, angefangen von
Reportern der New York Times und Filmproduzenten aus Hollywood bis zu
Vertretern der Vereinten Nationen und Staatsoberhäuptern. Neben all
seinen weltlichen Verpflichtungen ist der Dalai Lama auch das spirituelle
Oberhaupt des tibetischen Volkes, aktives Oberhaupt der vier Hauptsekten
des tibetischen Buddhismus und die Person, an die sich seine bedrängte
Nation zur Stärkung des Glaubens, der Inspiration und um Führung
wendet.
Der Dalai Lama empfing die Weihe in der GelugpaSchule des tibetischen
Buddhismus. Die GelugpaLinie, die im vierzehnten Jahrhundert von dem
großen Gelehrten Je Tsongkhapa gegründet wurde, ist besonders für ihre
scholastischen Interpretationen der buddhistischen Lehre bekannt. Die
klösterliche Ausbildung umfasst viele Jahre strengen Studiums,
Auswendiglernens und der Erörterung.
Tenzin Gyatso begann seine Ausbildung bereits als Kind, und wenn er über
sich selbst auch schreibt, dass er ein schlechter Schüler war, glänzte er
doch sowohl in der Erörterung als auch bei seinen schwierigen Prüfungen.
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Er hält jetzt Vorträge, gibt BuddhismusPraktizierenden tantrische
Einweihungen (die esoterischen Praktiken des Buddhismus) und hält
manchmal Versammlungen ab, an denen mehr als 100.000 Mönche,
Nonnen und Laien teilnehmen, die gespannt auf seine Erklärungen,
Anweisungen und Einweihung warten. Als wir seinen Beratern
Informationen über diese Ausgabe von WIE zukommen ließen, erregten
wir ihre Neugier. Wir waren bestrebt, die essenziellen Fragen über das
buddhistische Ziel der Erleuchtung zu stellen – Fragen, auf die Seine
Heiligkeit ihrer Meinung nach gerne antworten würde. Es wurde uns ein
Interview in seiner Residenz in Indien gewährt, und wir begannen
aufgeregt mit unseren Vorbereitungen.
In Indien ist es Ende Mai immer heiß, aber in diesem Jahr schwappte eine
ungewöhnliche Hitzewelle über die Nation. In New Delhi herrschten 42
Grad, und sogar die nächtliche Brise erinnerte eher an einen bullernden
TandooriOfen. Die Stadt Dharamsala liegt hoch oben auf einem
Felskamm der DhauladharBergkette im Vorgebirge des Himalaya. Früher
war sie eine Bergsommerfrische der Engländer und Zuflucht vor der
Sommerhitze gewesen. Die Hänge sind mit duftenden immergrünen
Bäumen und wildem, leuchtend rotem Rhododendron bedeckt. Mönche
leben verborgen in Höhlen, die im Schatten der schneebedeckten Gipfel
liegen. Unter Anleitung des Dalai Lama und anderer Lehrer machen diese
Einsiedler über eine Dauer von vielen Jahren intensive
Meditationsübungen. Das Land ist noch immer wild und rauh, und
bedauerlicherweise fand vor einigen Wintern ein LangzeitAsket den Tod,
als er von einem Gebirgsbären angegriffen wurde.
Seit sich der Dalai Lama hier niedergelassen hat, ist Dharamsala von
einem unorganisierten und eher zufälligen Flüchtlingsdorf zu einer
blühenden Gemeinde angewachsen. Vor fünfzehn Jahren gab es nur eine
Hand voll Restaurants, wie zum Beispiel das dunkle und rauchige „Tibet
Memory“, wo neu angekommene Flüchtlinge aus Khampa auf rauhen
Bettrollen neben westlichen Hippies und DharmaSuchern auf dem Boden
schliefen. Heutzutage bieten saubere neue Hotels, die oft als eine
Einkommensquelle für die Klöster fungieren, heißes Wasser, Faxgeräte,
Gebirgsblick und sogar Email. Es wurden von freiwilligen Mitarbeitern
betriebene Zentren eingerichtet, wo westliche Touristen den Tibetern
Englisch und Microsoft Word beibringen, bei RecyclingProgrammen helfen
oder bei regelmäßig stattfindenden Videovorführungen „Kundun” oder den
letzten Dokumentarfilm über den Dalai Lama ansehen.
Am Tage meiner Ankunft waren mehr als fünfhundert Westler im
Tsuglakhang, dem Tempel Seiner Heiligkeit, und warteten darauf, den
Mann zu treffen, in dem viele einen lebenden Buddha sehen, um ihm die
Hand zu schütteln und vielleicht ein rotes geknotetes Segensband zu
erhalten. Innerhalb von wenigen Stunden begrüßte er persönlich einige
tausend Menschen, darunter ständig Ortsansässige und neu
angekommene Flüchtlinge aus dem chinesisch besetzten Tibet. Um Mittag
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stand dann nahezu jeder aus der gesamten Stadt an der engen
kurvenreichen Bergstraße Spalier und wiederholte Friedensparolen und
Gebete anlässlich der Ankunft von fünf Hungerstreikenden aus Neu Delhi.
Einige Tage zuvor hatte sich ein Hungerstreikender selbst geopfert, in dem
verzweifelten Versuch, die Aufmerksamkeit der Weltbevölkerung auf die
unhaltbare Situation im Heimatland der Tibeter zu lenken. Der Dalai
Lama, als eingeschworener Bekenner aktiver Gewaltlosigkeit und
Gewinner des Friedensnobelpreises 1989, befand sich in einer heiklen
Situation, als sich die Hungerstreikenden um Unterstützung an ihn
wandten. Mit derartig schmerzhaften Dilemmas hat sich der „einfache
Mönch“, wie er sich selbst bezeichnet, auseinanderzusetzen, seit er im
Alter von fünfzehn Jahren die Aufgabe übernommen hat, das tibetische
Volk zu regieren. Seine stets wachsende Popularität als Anführer einer
gewaltfreien Widerstandsbewegung bewirkt, dass jetzt Millionen aus West
und Ost auf ihn blicken, um Führung und Anleitung sowie um eine klare
Antwort auf die Frage zu erhalten: „Welchen Weg würde der Buddha
beschreiten?“
Am Tag vor unserem Interview traf ich seinen Privatsekretär, Tenzin
Gyeche, einen liebenswürdigen und sympathischen Mann, der Seiner
Heiligkeit seit vielen Jahren in allen Belangen behilflich ist, von
internationalen Angelegenheiten bis zu Gesprächen mit spirituellen
Lehrern aus dem Westen. Als wir uns hinsetzten und über diese Ausgabe
von WIE sprachen, wurde Tenzin Gyeche sowohl sehr nachdenklich als
auch lebhaft. „Fragen dieser Art werden Seiner Heiligkeit niemals gestellt“,
sagte er interessiert und überlegte, wie wohl die Antworten ausfallen
würden. „Vor nicht allzu langer Zeit ist bei den Vorträgen Seiner Heiligkeit
endlich etwas in meinen dicken Kopf hineingegangen“, sinnierte er und
klopfte sich mit den Fingerknöcheln leicht gegen den Kopf. „Seine
Heiligkeit hatte erklärt, wie sogar die grundlegendsten buddhistischen
Praktiken, so auch das Bekenntnis zum Dreifachen Juwel (Buddha,
Dharma und Sangha), eine ganz andere Bedeutung bekommen, sobald
man nur einen kurzen, aber echten Einblick in die Leere erhalten hat ….
Ja, das sind sehr wichtige Fragen.“ Ich verließ dieses Zusammentreffen
sehr angeregt und voller Erwartungen, was unser Interview wohl bringen
würde.
Als ich am nächsten Nachmittag durch den Hof seines Palastes ging,
vorbei an dreihundert Mönchen, die auswendig gelernte Gebete als Teil
einer einwöchigen Gebetszeremonie rezitierten, hoffte ich, ebenso viel
über die persönliche Erfahrung Seiner Heiligkeit zu hören wie über das,
was die traditionelle und methodische GelugpaLehre zu Leere,
Erleuchtung und zur Buddhaschaft zu sagen hatte.
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schild im Umkreis dieses Menschen aufrechtzuerhalten, dessen
unerschütterliche religiöse Überzeugung von einer der mächtigsten
Regierungen unserer Zeit als ernsthafte Bedrohung empfunden wird.
Ich wurde direkt in einen Versammlungsraum geführt und erwartete, dass
ich einige Minuten Zeit haben würde, um meinen Kassettenrekorder
aufzustellen. Daher war ich überrascht, als sich der Mönch, der sich an der
Klimaanlage zu schaffen machte, umdrehte und mich begrüßte.
Strahlende schwarze Augen in einem vertrauten Gesicht blickten mich an,
und völlig zwanglos bot mir der Dalai Lama einen Platz an. Er war bereit
anzufangen. Da saß ein ernster, in sich ruhender Mensch vor mir, und die
Sorgen, die auf seinen purpur gekleideten Schultern ruhten, waren absolut
unsichtbar. Was also dachte dieser außergewöhnliche Mann über das Ziel
des buddhistischen Weges?
Diesen Mann zu interviewen, den Millionen als einen lebendigen Heiligen
betrachten, war eine außergewöhnliche Erfahrung. Wenn man einfach mit
ihm zusammensitzt, empfindet man seine seltene Güte, seinen tiefen
Glauben an die Menschheit und seine Freude. In sein sanftes Gesicht zu
blicken, nur einige Zentimeter von meinem entfernt, und sein
unvergessliches Lachen zu hören, war, als würde ich von einem der
tausend Arme des Chenrezig (Buddha des Mitgefühls) emporgezogen,
dessen Inkarnationen die Dalai Lamas sein sollen. Im Laufe des gesamten
Interviews, während sein Übersetzer und Berater für ausländische
Religion, der ehrwürdige Mönch Lakhdor, sein Tibetisch übersetzte, lachte
er immer wieder und sah mich warm an, so als wünschte er mehr
mitzuteilen als das, was seine klassischen Antworten ausdrückten.
Letzten Endes kam das, was er durch seine entwaffnende Herzlichkeit und
Milde vermittelte, nicht in seinen herkömmlichen Antworten zum
Ausdruck, die zumeist enttäuschend abstrakt waren. Sie waren, und das
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war auch keine Überraschung, die klassische GelugpaLehre – gelehrte
und festgeschriebene Erklärungen der Phasen und Kategorien von
Erleuchtung und Leere, für die diese Schule bekannt ist. Auf meine
Fragen, betreffend den eigentlichen Kern des buddhistischen Pfades, hatte
der Dalai Lama die genaue MahayanaDoktrin gemäß ihrer
fünfzehnhundert Jahre alten Tradition präsentiert. Seine akademischen
Definitionen und sorgfältig abgewogenen Darstellungen schienen mehr die
Sorge dafür auszudrücken, den traditionellen Standpunkt zu vermitteln als
den einfachen unreflektierten Ausdruck seiner eigenen Erfahrung.
Als ich dann über unser Interview nachdachte, fragte ich mich wieder, was
der Dalai Lama wirklich dachte. Denn als ich später im Warteraum stand,
meinen Kassettenrekorder verstaute und dabei noch immer den warmen
Druck seiner Hand auf meinem Arm spürte, wandte sich sein Übersetzer
mit Begeisterung in den Augen an mich und sagte: „Sehr gute Fragen,
sehr klar. Ich glaube, Seine Heiligkeit hat das wirklich genossen.“
I nterview
Die W issenschaft vom Geist
W I E: Es heißt, das Ziel der buddhistischen Praxis ist Erleuchtung. Das
Wort „Erleuchtung“ ist zwar jetzt im Westen zu einem ganz alltäglichen
Begriff geworden, es gibt aber sehr viele ganz unterschiedliche
Definitionen darüber, was Erleuchtung ist. Wenn Sie, ausgehend von Ihrer
eigenen Praxis, an Erleuchtung denken, was ist es dann, wonach Sie
streben? Welche Bedeutung hat das Ziel der Erleuchtung für Sie
persönlich?
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fähigkeit voll entwickelt worden ist. Das bloße Steigern der
Erkenntnisfähigkeit ist auch eine Stufe der Erleuchtung. Der Begriff
„Erleuchtung“ könnte sich also darauf beziehen, dass man etwas weiß, das
man nicht gewusst hat, oder etwas erkennt, das man vorher nicht erkannt
hat. Wenn wir aber von Erleuchtung im Zustand der Buddhaschaft
sprechen, dann sprechen wir von einem Zustand der vollen Erleuchtung.
Aus diesem Grund sagt der Buddhismus, sollten alle unsere Bemühungen
letztlich darauf abzielen, unseren Geist zu schulen und zu formen.
Emotionen wie Hass oder starkes Anhaften sind destruktiv und schädlich –
wir nennen sie „negative Emotionen“. Wie also können wir diese negativen
Emotionen reduzieren? Nicht durch Gebet, nicht durch Körperübungen,
sondern durch Schulung des Geistes. Durch Schulung des Geistes
versuchen wir, die entgegengesetzten Eigenschaften zu verstärken. Wenn
echtes Mitgefühl, schrankenloses Mitgefühl, vorurteilsfreies Mitgefühl
verstärkt wird, vermindert sich der Hass. Wenn Gleichmut verstärkt wird,
vermindert sich das Anhaften. Alle diese zerstörerischen Emotionen
basieren auf Unwissenheit, und das Gegenteil oder Gegenmittel zu
Unwissenheit ist Erleuchtung. Deshalb ist es sehr wichtig, die Welt des
Geistes zu analysieren und herauszufinden, was sein grundlegendes
Wesen ist. Was sind die verschiedenen Kategorien des Geistes? Welche
Arten von Geist sind destruktiv? Welche Arten von Geist sind konstruktiv?
Und so weiter. Sobald wir alle diese Fragen analysiert haben, müssen wir
versuchen, die Aspekte unseres Geistes unter Kontrolle zu bringen, indem
wir immer mehr Gutes dazugeben und das Schlechte beseitigen. Manche
modernen Gelehrten beschreiben aus ebendiesem Grund den Buddhismus
als „Wissenschaft vom Geist“.
W I E: In letzter Zeit haben viele Menschen angefangen, sich für
buddhistische Übungen zu interessieren, jedoch eher, um zu mehr
geistigem Frieden, Entspannung oder Achtsamkeit zu kommen, und gar
nicht so sehr spezifisch als ein Mittel, um Erleuchtung zu erlangen. Was ist
Ihrer Ansicht nach der Unterschied zwischen der Anwendung
buddhistischer Übungen, um relative Verbesserungen, wie die genannten,
zu erreichen, und einer Praxis, die mit der ehrlichen Absicht ausgeübt
wird, Erleuchtung zu erlangen?
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ist?
HHDL: Die Definition des Buddhismus liegt meines Erachtens in der Lehre
von den Vier Edlen Wahrheiten. Sobald man weiß und anerkennt, dass es
sich dabei um die grundlegende Lehre von der Wirklichkeit handelt, und
dieser Lehre folgt und sie zur Anwendung bringt, dann ist das
Buddhismus. Nun kann man aber auch ohne diese Art von Praxis trotzdem
Buddhist sein. Es ist nicht notwendig, ein umfassendes Verständnis von
der tieferen Bedeutung der Lehre von den Vier Edlen Wahrheiten zu
haben, um ein einfacher normaler Buddhist zu sein. Man kann schlicht und
einfach Zuflucht zu Buddha, dem Dharma (Lehre) und der Sangha
(Gemeinschaft von Praktizierenden) nehmen und einfache Praktiken
ausführen, um damit als einfacher BuddhismusPraktizierender eingestuft
zu werden. Aber um ein echter praktizierender Buddhist im wahren Sinne
zu werden, ist es wichtig, ein profundes Verständnis von den Vier Edlen
Wahrheiten zu haben. Und für dieses Unterfangen ist es wichtig, eine
klare Vorstellung von Nirwana und Erleuchtung zu haben.
W I E: Die Doktrin der „Leere“ ist einer der zentralen Punkte von Buddhas
Lehre, und zu verstehen, was „Leere“ tatsächlich bedeutet, wird für jeden,
der den buddhistischen Weg beschreitet, zum entscheidenden Faktor.
Obwohl die Leere schon immer Gegenstand ausführlicher Kommentare,
Analysen und Erörterungen gewesen ist, scheinen die Interpretationen
darüber, was sie im Grunde wirklich ist, weit auseinander zu gehen. Wir
haben festgestellt, dass manche buddhistische Schulen behaupten,
„Leere“ stehe für Nichts, während andere sagen, dass „Leere“ die Existenz
von etwas Transzendentem voraussetzt. Würden Sie uns in einfachen
Worten erklären, was Ihrem Empfinden nach mit „Leere“ gemeint ist?
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Objekt nicht auffindbar ist. Wenn wir nach einem gar nicht existierenden
Objekt suchen und es nicht finden, dann ist das nicht Leere. Auf diesem
Tisch ist zum Beispiel keine Blume. Wenn wir schauen, sehen wir, dass auf
dem Tisch keine Blume ist. Dieses „Fehlen“ der Blume ist aber nicht Leere.
Nehmen wir nun aber das Beispiel des Kassettenrekorders und
untersuchen wir: Was ist das eigentliche Wesen des Kassettenrekorders?
Wenn man Form, Material und Farbe des Kassettenrekorders getrennt
betrachtet, dann existiert der „Kassettenrekorder“ nicht mehr. Sie sehen
also, obwohl da ein Kassettenrekorder ist, können wir ihn nicht finden,
wenn wir seine individuellen Eigenschaften und Charakteristika
untersuchen. Man sieht also, dass „Kassettenrekorder“ nichts anderes ist
als eine Bezeichnung. Aber um es noch einmal zu sagen, das bloße
„Nichtvorhandensein“ der Blume ist nicht Leere.
W I E: Es gibt ein Zitat aus den Pali Sutras, in dem einer der Mönche von
Gautama, dem Buddha, ihn fragt, ob es „überhaupt nichts“ gebe, das
existiere. Diese Frage – ob es „Etwas“ gibt oder „Nichts“ gibt – ist sehr
interessant, denn die Feststellung, dass „überhaupt nichts existiert“,
könnte leicht zum Nihilismus führen. Es heißt, der Buddha habe diesem
Mönch ganz eindeutig geantwortet, dass es etwas gebe, das ein
„Ungeborenes“ genannt werde, und auf Grund dessen existiere die
Möglichkeit, dem Leiden der weltlichen Existenz zu entgehen. Ich habe
gehört, dass einige tibetische Sekten ebenfalls die Existenz von „Etwas“
beschreiben. Könnten Sie uns erklären, was der Buddha Ihrer Ansicht
nach damit meinte, als er sagte: „Es gibt das, was nicht geboren ist, nicht
geworden ist, nicht gemacht ist und nicht bedingt ist. Gäbe es nicht das,
was nicht geboren ist, nicht geworden ist, nicht gemacht ist und nicht
bedingt ist, könnte kein Ausweg gewiesen werden aus dem, was geboren
ist, geworden ist, gemacht ist und bedingt ist. Da es aber das gibt, was
nicht geboren ist, nicht geworden ist, nicht gemacht ist und nicht bedingt
ist, ist der Ausweg aus dem, was geboren ist, geworden ist, gemacht ist
und bedingt ist, gewiesen worden.”
HHDL: Das trifft genau das, was vorher gesagt wurde. Wenn es
innewohnende Existenz und innewohnende Ursächlichkeit gäbe, könnten
wir nicht aus Samsara (der zyklischen Existenz) entkommen. Wir sagen
daher, dass es auf dem konventionellen Niveau einen Pfad gibt, dass es
Ursächlichkeit gibt und so weiter. Aber wegen der Tatsache, dass die
Ursächlichkeit keine ihr innewohnende Existenz hat, ist es Unwissenheit,
in der Ursächlichkeit eine ihr innewohnende Existenz wahrzunehmen. Und
jenes Fehlen von Ursächlichkeit in der Natur der innewohnenden Existenz
wahrnehmen zu können, ist Weisheit.
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nicht finden. So können wir sehen, dass die Wahrnehmung einer
unabhängigen Existenz falsch, Unwissenheit ist, und dass die
Wahrnehmung nichtunabhängiger Existenz gültig, Weisheit ist. Diese
beiden Möglichkeiten stehen im Gegensatz zueinander, und wenn zwei
solche Dinge in direktem Gegensatz zueinander stehen, dann können sie
nicht gleichzeitig gelten; nur eines davon kann eine gültige Grundlage
haben.
HHDL: Im Wesen von Leere, im Wesen des Fehlens einer unabhängigen
Existenz, in diesem Wesen sind Gut und Böse dasselbe. Wenn jemand also
über die letztendliche Wirklichkeit meditiert, dann gibt es in dieser
Wirklichkeit keine Unterschiede zwischen Böse und Gut. Von der
Perspektive des Buddha aus gesehen, der sich in einem Zustand völliger
Vereinigung befindet, gibt es keine Unterschiede zwischen Gut und Böse.
Aber auch auf anderen Stufen der Praxis, wenn man ein wenig die
Erfahrung von Shunya – der letztendlichen Wirklichkeit – macht, in jenem
Moment, wenn der Geist vollkommen in jene Realität absorbiert worden
ist, gibt es kein Gefühl von Gut und Böse mehr; dann ist alles
gleichwertig.
Wenn man die letztendliche Realität zutiefst erlebt, ist das so stark, dass
das Verständnis einer konventionellen objektiven Realität sehr anders sein
wird. Wenn zum Beispiel die Absorption des Geistes in die Leere wirklich
stark ist – total absorbiert in den Zustand der letztendlichen Realität, oder
der Leere –, dann werden der Einfluss und der Eindruck der
konventionellen Realität beinahe vernachlässigbar sein.
Das heißt aber nicht, dass es auf der konventionellen Ebene ebenfalls
keine Unterschiede zwischen Gut und Böse gibt. Das stimmt einfach nicht.
Es gibt Gut und es gibt Böse. Deshalb unterzog sich sogar der Buddha
einer Selbstdisziplin. Gäbe es Gut und Böse nicht, dann hätte der Buddha
ein sehr nachlässiges Leben führen können. Um also die Schulung der
Weisheit zu erlangen, müssen wir die Konzentration und die meditative
Stabilisierung trainieren; und um das zu tun, brauchen wir eine solide
Grundlage in der Praxis von Moral und ethischer Disziplin.
Das dreifache J uw el
W I E: Als Buddhist haben Sie formell Zuflucht zu Buddha, zum Dharma
und zur Sangha genommen – das wird das „Dreifache Juwel“ genannt. Es
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gibt im Westen heute zahlreiche Interpretationen zur Bedeutung jedes
Aspekt des Dreifachen Juwels, und dazu, was es bedeutet, zu jedem
dieser Aspekte Zuflucht zu nehmen, und auch dazu, ob es notwendig ist,
zu allen dreien Zuflucht zu nehmen. Meinen Sie, dass alle drei Aspekte
wesentliche Teile der Zufluchtnahme sind? Und könnten Sie bitte die
Bedeutung jedes der drei erklären?
HHDL: Von den drei Objekten der Zuflucht ist das wichtigste, zu dem man
Zuflucht nimmt, der Dharma. Dann nimmt man Zuflucht zur Person, zur
Quelle des Dharma, und schließlich verdienen auch die Wesen, die dem
Dharma folgen und ihn praktizieren, Respekt. Diese drei Juwelen folgen
aufeinander, aber üblicherweise kommt der Buddha zuerst. Warum? Wir
nehmen normalerweise zuerst Zuflucht zum Buddha, in erster Linie
deshalb, weil der Dharma zuerst von Lehrern weitergegeben wurde, von
speziellen Buddhas.
W I E: Es ist interessant, dass Sie sagen, dass man zuerst zum Buddha
Zuflucht nimmt. Es scheint fast unabdingbar für den Weg zu sein, einen
Buddha oder vollkommenen Lehrer zu haben, der den Weg zeigt, und Sie
sprachen oft über die tiefe Ehrerbietung und den Respekt, die Sie Ihren
Lehrern gegenüber empfinden. Können Sie mehr über den Wert – oder die
Notwendigkeit –, einen spirituellen Lehrer zu haben, sagen?
HHDL: Ich denke, ohne Buddha ist es für einen Praktizierenden des
Buddhismus sehr schwierig, die letztendliche Realität zu verstehen. Diese
Dinge sind schwierig. Sobald uns der Buddha die Augen geöffnet hat,
müssen wir natürlich selbst Anstrengungen machen und suchen. Aber es
muss jemanden geben, der unseren Geist öffnet oder uns die Richtung
weist. Deshalb ist Buddha sehr wichtig. Es ist schwierig zu verstehen, was
Buddha ist, ohne den Dharma zu kennen. Sobald man echten Glauben
hat, der aus dem Eintauchen in das Dharma resultiert, wird ganz
selbstverständlich ein Gefühl großer Nähe und des Respekts für Buddha
entstehen. Das kommt automatisch. Und dasselbe geschieht mit der
Sangha, denn die Sangha schließt alle großen Lehrer und großen
Praktizierenden ein, wie Nargarjuna (ein verehrter buddhistischer
Philosoph aus dem zweiten Jahrhundert), alle außergewöhnlichen
Menschen. Natürlich waren alle diese Wesen nicht gleich von Anfang an
außergewöhnlich, nein. Sie waren normale Menschen, normale
empfindende Wesen. Sie wurden dann durch die Praxis des Buddha
Dharma sehr außergewöhnlich.
Ob man jedoch einen eigenen Lehrer braucht oder nicht – ganz allgemein
gesagt, Bücher können Lehrer sein. Kurz vor seinem Tod sagte ein
tibetischer Lama zu seinem Schüler: „Verlasse dich nun nicht mehr auf
einen menschlichen Lehrer, sondern verlasse dich auf Bücher als deine
Lehrer.“ Ich glaube, das ist sehr weise. Ohne genaue Nachforschung und
ohne einen Menschen gut zu kennen, nimmt man vielleicht überstürzt
jemanden als seinen Guru oder Lehrer an, und es hängt zu vieles mit der
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Hingabe an den Guru oder Guru Yoga zusammen. Es könnte also in
Schwierigkeiten enden. Die gründliche Prüfung eines Lehrers ist sehr, sehr
wichtig.
W I E: Sie haben über Ihre eigene spirituelle Praxis gesprochen und über
Ihren Wunsch, mehr Zeit dafür aufbringen zu können, und ich hoffe ganz
gewiss für Sie, dass die Umstände dies eines Tages erlauben werden.
Viele unserer Leser werden sich angesichts Ihres intensiven
Reiseprogramms und Ihrer zahlreichen Verpflichtungen wahrscheinlich
fragen, wie Sie es schaffen, Zeit für Ihre spirituelle Praxis finden.
HHDL: Nun, meine Arbeit oder mein Programm beginnt gewöhnlich um
sieben oder acht Uhr morgens. Also stehe ich um vier Uhr auf und habe
dann wenigstens einige Stunden Zeit für etwas Meditation, Rezitation und
einige Gebete. Und dann tue ich, was ich noch tun kann, wann immer ich
die Zeit habe – wenn ich längere Auto oder Zugreisen mache, ist das eine
sehr gute Gelegenheit für meine Rezitationen. So, also!
Copyright:
Alle Texte wurden der Deutschen Ausgabe des „What is Enlightenment“
Magazin entnommen. Im Internet auch unter der nachfolgenden URL zu
finden: http:/ / w w w .w ie.org/ de/ default.asp
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