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Gut geschützt mit einem Inuit-Fellmantel

und Schlitzbrille gegen die Schneeblindheit.

Ein Winter ohne Zentralheizung


und Funktionskleidung?
Wie konnten die Menschen während der Eiszeit die Winter überstehen, als es bei uns
so kalt war wie heute am Nordkap?
Text: Heinzpeter Znoj, Fotos: NONAM

Wir verbringen die kalte Jahreszeit mehrheitlich Winterschlaf bedingt nicht nur komplexe phy­ rung. Ihr sozialer Zusammenhalt ermöglichte
in zentralgeheizten Räumen und wenn wir siologische Anpassungen, für die der Mensch die unabdingbare, gegenseitige Unterstützung
draussen sind, schützen wir uns mit Winter­ als tropische Gattung nicht geschaffen ist, beim Unterhalt des Feuers, bei der Jagd und bei
kleidern. Wir können uns deshalb kaum vorstel­ sondern setzt auch eine frühe Selbstständigkeit der Verteidigung gegen Raubtiere wie Wölfe
len, wie Menschen ohne feste Behausung, des Nachwuchses voraus. Bärenjunge sind in und Raubkatzen, die in den kalten Wintern
ohne Zentralheizung und ohne moderne Funk­ der Lage, bereits im ersten Winter nach ihrer ebenfalls nach Nahrung suchten.
tionskleidung subarktische Winter überstehen Geburt für sich zu sorgen und sich individuell
konnten. auf den Winterschlaf vorzubereiten. Neander­ Feuer, Fell und Iglu
talerkinder waren jedoch wie heutige Kinder Die Berichte europäischer Forscher über die
Winterschlaf als Strategie? viele Jahre auf die stete Fürsorge der Eltern ­Lebensweise arktischer und subarktischer Völ­
Und dennoch müssen unsere Vorfahren das ­angewiesen und hätten ihre Mütter deshalb ker vor der Ankunft moderner Technologien
­geschafft haben. Die eisfreien Teile Europas ständig aus dem Winterschlaf geweckt. Weil sie ­geben uns einen Eindruck davon, wie unsere
wurden vor etwa einer halben Million Jahre von also keinen Winterschlaf hielten, hatten die eiszeitlichen Vorfahren mit der Kälte umgingen.
ersten Menschen besiedelt. Das zahlreiche ­Neandertaler vermutlich sehr ähnliche Strate­ Gemeinsam ist diesen Völkern, dass es in ihren
Grosswild zog sie trotz der herrschenden Eiszeit gien, um den Winter zu überstehen, wie heu­ Lebensräumen für die Landwirtschaft zu kalt
an. Der Mensch stammt ursprünglich aus den tige subarktische und arktische Völker. Wir ist. Sie mussten ihre gesamte Nahrung mit der
afrikanischen Tropen und hat im Gegensatz zu ­wissen, dass sie bereits das Feuer beherrschten, Jagd, der Fischerei und dem Sammeln von
seinen tierischen Vorfahren kein schützendes Fellkleider herstellten und sich in einfachen ­Wurzeln und Früchten beschaffen. Carl von
Fell. Es ist klar, dass er nur deshalb in Gegenden Holzhütten oder Höhlen vor dem Wetter ­Linné beschrieb in seiner «Lappländischen
mit kaltem Klima auswandern konnte, weil er schützten. Genauso wichtig wie dieser äussere ­Reise», wie die Sami im 18. Jahrhundert teils in
sich anders vor der Kälte zu schützen wusste. Schutz waren aber auch ihre Gewöhnung an Zelten, teils in halb in die Erde gegrabenen
Doch wie taten das die Neandertaler? Hielten die Kälte von klein auf, die ständige Bewegung ­Häusern lebten, wo am offenen Herd immer ein
sie einen Winterschlaf, wie einige Paläoanthro­ aufgrund der anstrengenden Nahrungsbeschaf­ Feuer brannte. Er bemerkte, dass sie in den
pologen vermuten? Wohl kaum – denn der fung sowie ihre kalorien- und fettreiche Ernäh­ ­engen, kaminlosen Häusern ständig dem Rauch

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4 bis 8 | Schwerpunkt | Überwintern

ausgesetzt waren und husteten. Doch er be­ den Inuit auch möglich, längere Perioden ohne
schrieb auch, dass sie oft draussen jagten, fisch­ Jagdglück zu überstehen. Die Kälte half ihnen
ten und ihre Rentiere molken. Er bewunderte dabei: Sie legten frisch gefangene Fische neben
ihre Fähigkeit, der Kälte zu trotzen, und ver­ das Iglu, wo sie in gefrorenem Zustand lange
mutete, dass sie das konnten, weil sie von klein haltbar blieben.
auf daran gewöhnt wurden.
Noch Eindrücklicheres wird von den indigenen Die Kälte nutzen
Bewohnerinnen und Bewohnern Feuerlands an Auch die anderen Völker des Nordens nutzten
der Südspitze Chiles berichtet: Sie gingen auch die Kälte in ähnlicher Weise: Die Sami hängten
im Winter, bei Schnee und Eis meistens fast im Winter Fleischstücke in die Bäume, wo sie
nackt. Wie Charles Darwin im 19. Jahrhundert vor Tieren geschützt waren und wo sie von der
schrieb, schmierten sie ihre Körper zum Schutz trockenen Kälte konserviert wurden. In Sibirien
vor Regen, Schnee, Kälte und Stürmen mit vergruben die arktischen Jäger einen Teil der
­Robbenfett ein, warfen sich Felle über die Jagdbeute im Permafrost, wo sie sich wie in
Schultern und versammelten sich in einfachen ­einer Tiefkühltruhe auch im Sommer frisch hielt
Verhauen aus groben Ästen. Zur Verwunderung und bei Bedarf ausgegraben werden konnte.
der Europäer schliefen sie oft auch in der Kälte Überhaupt zogen die Menschen manchen Vor­
nackt unter freiem Himmel. Sie zogen noma­ teil aus der Kälte: Mit Schneeschuhen oder
disch mit Kanus der Küste entlang und fischten Ski jagten sie Tiere, die im tiefen Schnee kaum Warm und trocken: Parka aus Karibufell,
und jagten. Die Frauen tauchten in eiskaltem fliehen konnten. Sie legten mit Hundeschlit­ Regenparka aus Walrossdarm (Inuit, Alaska).
Wasser nach Muscheln. Wie die Sami waren tengespannen grosse Distanzen zurück und
auch sie von klein auf an die Kälte gewöhnt überquerten dabei zugefrorene Gewässer. So
und schienen gar völlig unempfindlich dage­ konnten sie sich, nachdem sie im Sommer in Die meisten von uns haben temperaturmässig
gen. ­Ihren Namen erhielten sie von den Feuern, kleinen Gruppen weit verstreut gelebt hatten, einen sehr engen Komfortbereich, den wir mit
um die sie sich bei jeder Gelegenheit scharten zu grossen, festlichen Winterlagern an reichen Heizen und Kühlen der Wohnung und mit
und die sie sogar auf ihren Kanus entfachten. Jagdgründen versammeln. ­warmer oder leichter Bekleidung aufrechtzu­
Noch weit kälter sind die Winter in der Arktis, Es ist gut möglich, dass die steinzeitlichen Men­ erhalten versuchen. Aber auch bei uns gibt es
wo die Inuit leben. Körperliche Gewöhnung schen in Europa während der Eiszeit, ähnlich Unterschiede: Outdoortypen sind weniger
­allein reicht nicht aus, um in dieser Region zu wie die heutigen Arktisvölker, eine Kombina­ empfindlich gegen Kälte und Hitze als «Stuben­
existieren. Bis in die jüngste Vergangenheit tion von körperlicher Anpassung, Fellkleidung, hocker». Wer im Winter draussen arbeiten
überlebten die Inuit extreme Kälte und lebens­ wettergeschützten Unterkünften und Vorrats­ muss, wie Angestellte bei der Post oder auf
bedrohliche Schneestürme mit einfachen stein­ haltung anwendeten, die es ihnen erlaubte, die Baustellen, weiss, wie man sich warmhält: vor
zeitlichen Technologien und Strategien. Aus langen und harschen Winter sicher zu über­ allem mit guter Kleidung, ausreichend Essen
den Fellen verschiedener Landtiere und Meeres­ stehen. Nicht die Kälte, sondern ein Mangel an und Trinken und ständiger Bewegung. Frühe
säuger stellten sie winddichte, warme und Nahrung muss für sie die grösste Gefahr gewe­ Gewöhnung oder ein erworbener Lebensstil
zugleich weiche, bequeme Kleidung her. Nur sen sein. Wenn sie den Mammut- und Rentier­ können das Kälteempfinden und die Kälteresis­
­gerade Augen, Wangen und Nase waren der herden folgen konnten, war ihr Leben wohl tenz trainieren. So ist heute zum Beispiel das
kalten Luft ausgesetzt. Sie zogen sich in den ­beinahe paradiesisch. Das lassen jedenfalls die Winterschwimmen beliebt. Jene, die es betrei­
langen Winternächten in Iglus zurück, wo sie eiszeitlichen Höhlenmalereien aus Frankreich ben, schwärmen, wie gut es ihnen tut und wie
eine kleine Tranlampe für Licht und Wärme an­ und Nordspanien mit ihren Darstellungen von wenig ihnen die Kälte anhaben kann.
zündeten und auf einem gemeinsamen Bett Grosswildjagden vermuten. Diese Höhlen dien­ Aus all dem können wir lernen: Wenn wir es
aus Eisbärenfell schliefen. Hier wurde es wun­ ten ihnen wohl als Winterlager, in denen sie sich wollen, können wir uns wieder ein Stück weit
derbar warm. Das Iglu ist eine grossartige Erfin­ in grosser Zahl versammelten und ein geselliges, von unserem zentralgeheizten Zivilisationsko­
dung – man kann es in kurzer Zeit aus Hart­ festliches Leben führten. Ob wir eine eiszeit­ kon unabhängig machen. Wir können unseren
schneeblöcken errichten, es schützt weit besser liche Winternacht in ihrer Gesellschaft ebenfalls Körper daran gewöhnen, grössere Temperatur­
vor Kälte als ein Zelt und auch die heftigsten ­hätten geniessen können, ist eine a­ ndere Fra­ unterschiede auszuhalten. Schliesslich sind wir
Winde können ihm nichts anhaben. Zudem ge. Vielleicht hätten wir in der feuchten Kälte bis auf unsere Lebensweise dieselben Men­
schützten sich die Inuit vor der Kälte durch an­ der Höhle gezittert wie die frühen e­ uropäischen schen wie die Sami, die Inuit, die Feuerländer
gepasstes, vorsichtiges Verhalten. Sie wussten, ­Besucherinnen und Besucher der Feuerländer. und die Jäger und Sammlerinnen der Eiszeit.
dass man im Winter auf keinen Fall nass wer­
den darf – etwa durch einen Sturz aus dem Strategien und Gewöhnung
­Kajak ins Wasser. Nasse Kleider wärmen nicht, Offenbar ist also der Temperaturbereich, den Heinzpeter Znoj
sie werden bei extremer Kälte und im Wind zur Menschen als angenehm empfinden, dehnbar. ist Professor für Sozialanthropologie an der Uni­
tödlichen Falle. Mithilfe von Vorräten war es Früher war er viel weiter gespannt als heute. versität Bern.

© 4 bis 8 Dezember 2022, Nr. 8 9

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