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Traumwissen
Begegnungen mit dreizehn weisen Frauen
Labyrinth
Eintritt in den Kreis l
Großmutter Schildkröte 11
Braune Vögel fliegen 23
Shaman-Ca 33
Songi, die verborgene Nacht 45
Altefrau schläft gut 59 Hüterin
der Roten Blume 71 Die
schneidende Eishexe 81 Gute
Honigmutter 93 Grabhügelhexe
105 Nachtfalterfrau 121
Singende Feuerfrau 131
Schwarzekorallenfischmutter 141
Großmutter Windweberin 155
Die kreisende Spirale 164
Die Geschichten dazu kamen langsamer, nahmen nach und nach erst
Gestalt an. Manchmal ganz überraschend, öfter jedoch nachdem ich län-
gere Zeit während meiner Tage und Nächte innerlich mit ihrer Anwesen-
heit gelebt hatte.
Der Zyklus der Dreizehn ist eng mit dem Herzen Dartmoors verbun-
den, mit der Landschaft dieser Gegend. Dartmoor ist die Quelle meiner
Phantasie und der Ursprung meines Mutes. Hier begann mein Weg, mein
Zugang zu den Tiefen der Erde; von hier aus konnte ich immer weiter
hinabsteigen und weiter hinaus gehen - zu anderen Orten auf unserem
Planeten, in Wälder und Wüsten, zu Inseln im Ozean oder Einöden im
hohen Norden. Die dreizehn weisen Alten, denen ich begegnete, sind
nicht an eine bestimmte Kultur oder an besondere spirituelle Traditionen
gebunden. Sie wollen einfach nur die Energie der vielen Aspekte unserer
heiligen Erde an uns weitergeben. Sie verkörpern das Wesen der Erde,
das alle Grenzen von Zeit, Ort und Umständen überschreitet.*
Eine Gruppe von Dreizehn hat besondere Kräfte. Wir assoziieren die
Zahl dreizehn mit den Zyklen des Mondes und der Frauen und mit magi-
schen Zusammenhängen; wenn wir dreizehn Teilnehmerinnen in einer
Gruppe haben, werden die Positionen jeder Person im Kreis gegenüber
dem gleichmäßigen Kreis mit der geraden Zahl zwölf so verschoben, daß
:
Dazu der "Kreis der Dreizehn" am Schluß des Buches.
die Frauen jeweils in den dunklen, aufregenden Zwischenräumen sitzen.
Einen solchen Kreis hat es viele Male auf dieser Erde gegeben und wird
es noch viele Male geben - die Archetypen, die die dreizehn Frauen
repräsentieren, sind allgemeingültig - überall auf der Welt. Ich habe diese
Gesichter geträumt, aus der Erinnerung geholt oder an verborgenen Plät-
zen gefunden, aber sie sind auch Archetypen, die in unser aller Bewußt-
sein - unter anderen Namen und mit anderen Gesichtszügen - auftauchen
können. Solche Urbilder sind ein kostbares Erbe, ein Schatz, aus dem wir
Inspiration für unsere inneren Reisen schöpfen können. Sie transportieren
mythische Kräfte und helfen uns, uns zu erinnern und zu ewigen
Wahrheiten vorzudringen.
Es ist nicht so, daß ich mir vorgenommen hatte, ein System, ein systema-
tisches Werkzeug schaffen zu wollen, das uns auf die Reise in die ver-
schiedenen Seelenlandschaften schickt. Aber ich kenne Frauen, die die-
sen Zyklus für sich dazu erwählt haben. Wir können alle dreizehn dieser
Urmütter zu uns einladen oder nur einige von ihnen. Wir können ihre
unterschiedlichen Energien miteinander verbinden und so zu neuen, ganz
persönlichen Bildern finden. Wenn eine der Urmütter im Kreis für uns
eine besondere Herausforderung darstellt, können wir entweder an ihr
vorbei gehen oder uns so lange ihr gegenüber setzen, bis wir uns zum
rechten Verständnis ihrer Bedeutung durchgekämpft haben. Jede von uns
kann mit ihren kreativen Fähigkeiten den Kreis so für sich gestalten, daß
er dem Zweck ihrer eigenen Reise dient. Gute Reise.
Carolyn Hillyer
1997
1
Großmutter Schildkröte
Eine alte Frau schlurft durch die Straßen der Stadt. Jeden Tag schlurft sie
langsam vorüber. Sie hat einen Tontopf bei sich, bewegt sich als Schatten
durch die Menge, spricht Worte vor sich hin in den Straßenstaub. Jeden
Tag trägt sie ihren Tontopf durch die Stadt. Sieh die alte verrückte Frau
mit ihrem gesprungenen Tontopf, die Frau mit dem Topf, der einen Riß
hat, die dicke Schattenfrau, wie sie sich murmelnd, ihre breiten Hüften
wiegend durch die Menge schiebt. Ihre Füße setzt sie tappend auf die
staubige Straße, ihre Augen schießen blitzschnell hin und her, murmelnd
läßt sie ihre Füße auf die Straßen der Stadt tappen.
Hunderte und aberhundert Jahre lang sind ihre Worte gesprochen
worden, ausgesprochen, aber nicht gehört. Sie trägt sie bei sich, trägt sie
in ihrem Tontopf, streut sie in die Straßen aus, streut sie aus wie Samen.
Einige von uns, wenige, sehen sie vorübergehen, und schnell, schnell,
leise gehen wir auf die Straße hinaus, versuchen wenigstens einen
schwachen Ton ihres Gemurmels zu erhaschen, das der Wind uns
zuträgt. Wir kneifen die Augen zusammen, um einen Augenblick lang
den blassen Schatten zu sehen, der in einen ausgetrockneten Brunnen
fällt. Wir lassen den Staub der Stadt durch unsere Finger rinnen, wir fin-
den, wir verstecken, wir bewahren die kleinen Tonscherben, die dort lie-
gen, wo die Alte vorbeigeschlurft ist.
Hunderte und aberhundert Jahre hatten freundliche Bräuche ihren
Aufenthalt bei den Menschen. Jetzt aber sind diese fest in den Klauen
eines Gesetzes, das die Menschen bis in ihre Seele hinein einsperrt, ein-
schnürt. Sie schliefen, sie werden wieder wach, aber sie sind an einen
Traum gebunden, der sich nicht ändert. Das Erinnern ist immer schmerz-
hafter geworden, das Vergessen hat eine zu verführerische Entlastung
geboten.
13
Und die Gebeine einer Königstochter
liegen verbleichend am Strand und die
Gebeine einer Königstochter liegen
ausgeblichen am Strand
Die Menschen in der Stadt sehen dies alles nicht. Sie sehen es nicht, weil
ihr Blick über die Wellen des Meeres hinwegsieht, weil sie auf die
gleißende Sonne hinter der Silhouette der Stadt starren, weil sie nur auf
die Juwelen ihrer Eitelkeit und ihres Stolzes blicken.
Die alte Frau schlurft durch die Stadt, murmelt in ihren Tontopf hin-
ein. Sie weiß, was dort draußen auf dem Meer glänzt. Und sie wandert
aus der Stadt mit ihren Häusern hinaus. Sie lenkt ihren Schritt in Rich-
tung einer Stelle im Wald. Einige von uns, wenige, sehen, wie sie davon-
geht. Wir stehen an geöffneten Fenstern, wir halten die kostbaren Ton-
scherben gegen unseren Leib gepreßt, wir beobachten sie auf ihrem Weg
aus der sie verspottenden Stadt hinaus, fort von den Vielen.
Wir hören die Nachricht, daß die Kriegsschiffe dieses Volks aufgebro-
chen sind wegen einer alten Feindschaft. Eine Menge von Menschen ver-
sammelt sich am Hafen. Sie haben das ihnen köstlich erscheinende
Ungleichgewicht der Macht geschmeckt und sind berauscht von dem
Nervenkitzel, den es ihnen bietet. In ihrem Stolz und ihrer Verrücktheit
brechen sie in Jubel aus, jeder einzelne bis ins Innerste ein Kämpfer, aber
kein Krieger. Und während sie die Siege, die sie errungen haben, feiern
und sicher sind, daß sie auch in Zukunft siegen werden, verlassen einige
von uns, wenige, jetzt auch die Stadt, spüren im Staub der Straße die
Fußabdrücke der Alten auf, der alten Weisen mit dem gesprungenen Ton-
topf. Und der Wald tut sich auf, öffnet sich und heißt uns willkommen,
und wir bewegen uns zum erstenmal mit Lust in der kühlen feuchten
freundlichen Atmosphäre der wilden Natur. Unsere Zehen zwischen den
Wurzeln, unsere Arme in den Zweigen der Bäume, kommen wir mit erd-
verschmierten Wangen an einen Platz im Wald.
Und unten am Hafen, ihre Triumphschreie haben sich kaum in den
Westwinden verloren, sind die Menschen umgekehrt; erstaunt haben sie
festgestellt, daß das Wasser am Morgen in seinen Strudeln tausend und
14
abertausend blutige Speere mit sich führt, daß eine Kriegsflotte von vie-
len entfernten Punkten aus auf die Stadt zusteuert und im Morgenlicht
glitzernd ihre eigenen Schiffe in einem Augenblick verschluckt.
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schon bevor es hier einen Wald gab,
an einen einzeln stehenden Baum gehängt,
als die Allerersten hierher kamen.
Wir sitzen bei der Schildkröte,
wir sitzen und wir lauschen,
wir schauen hinaus aus dem Halbdunkel
der Erdlaube im Wald.
Unseren Tontopf tragend bewegen wir uns langsam aus dem Wald her-
aus. Wir trommeln für das Feuer und wir schlagen die Rasseln für das
Meer. Wir singen für Veränderung, ewigtanzende Veränderung, und wir
singen für das Gleichbleibende. Wir gehen durch die verkohlten Überre-
ste, wir gehen durch die Saat neuen Beginnens. Wir gehen durch die vom
Wasser ausgewaschene Asche, unsere Füße hinterlassen eine Spur; der
Sand ist kalt geworden ...
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The Song of Grandmother Turtle
And we came at night from the belly of the sea and we
hung our braids on a lone tree and we held our secret
through an empty age we hid our knowing in a simple
jar of clay
And the face of the rock was pitted and scarred the
people cried when their dying was hard but we
watched it all through ancient eyes and the circle held
as the Turtle Waters did rise
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Das Lied von Großmutter Schildkröte
Wir kamen in der Nacht aus dem Bauch der See
und wir hängten unsre Zöpfe an den einsamen Baum
wir bewahrten unser Geheimnis in seelenloser Zeit
und verbargen unser Wissen in einem schlichten Topf aus Ton
Wir gingen auf Scherben und wir schwammen durch die Flammen
wir wagten's, uns zu schneiden und uns zu verbrennen
und unsere Funde lagen tief im Wald auf dem Boden
auf einer Lichtung, wo unsre Stimmen rufen und verweh'n
Und der Felsen hatte Krater und der Stein hatte Narben und
die Menschen schrien, wenn ihr Sterben hart war wir sahen
alles durch uralte Augen und der Kreis hielt stand, als das
Schildkröt-Wasser stieg
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Und wir warfen unsre Töchter in den sausenden Wind
und wir übergaben sie den donnernden Wellen und sie
segelten in ihren Booten zu einer fernen Küste und sie
hängten ihre Zöpfe auf, wie wir es getan
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2
Braune Vögel fliegen
Wir gehen in die Hügel hinauf, sagte ich. Ich muß raus aus diesem Tal. In
den offenen Himmel schauen. Natürlich kommst du mit, sagte ich. Das
machst du ja immer.
Und jetzt gehen wir zusammen los, du und ich, dem Regen hinterher,
die Wolken hängen dunkel über dem Moor, ziehen aufs freie Land hin-
aus. Du gehst nah hinter mir. Dein Schritt dicht an meinen Fersen. Dein
Atem, kühl und feucht, streift um meinen Hals; deine rastlos flatternden
Hände zupfen an meiner Schulter. Du drängst dich dicht an mich heran.
Das machst du ja immer.
Ach, wie unendlich lang sind die Tage, die ich mit dir verbringe,
meine stetige, ausdauernde Begleiterin. Habe ich dich nicht mit Umsicht
empfangen und gut genährt, zugesehen, wie du dir ausgewählte Stücke
vom schmalen Tisch meines Herzens nahmst, dir geholfen, etwas Feuch-
tigkeit aus dem dürren Garten meiner Seele herauszubekommen? Aus
meinem geheimsten Inneren wirst du gespeist. Und deine Anwesenheit
ist mir zur Gewohnheit geworden. Ich fühle mich nicht ganz unbeküm-
mert mit dir, das ist wahr, aber zumindest bist du mir vertraut. Mein
Leben ist dein Leben, du bist, was ich dir gegeben habe. Du spiegelst mir
mein Bild nur allzu gut wider, und ich wäre verzweifelt, wenn ich je ohne
dich sein müßte.
Heute heißt uns das Moor nicht willkommen. Mal schlägt mir der
Wind den Regen hart ins Gesicht; mal ragt ein nackter Fels bedrohlich
aus dem dahinstiebenden Nebel vor mir auf; dann wieder saugt der
schwarze morastige Boden heißhungrig an meinen Knöcheln. Ein
Geschmack von dichtem grauen Wetter füllt meinen Mund. Und ich sehe
die tief in deine Stirn eingegrabenen Furchen, die Blässe deiner Wangen,
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das mitleiderregende Zittern deiner Glieder, deinen mürrisch verkniffenen
Mund - und dann hasse ich mich dafür, daß ich dich so gemacht habe.
Und ich erkenne die nackte Panik, die dich ergreift, die stumpfe Blindheit
deines Blicks, die dünnen scharfen Stimmen, die quälend ins Ohr dringen
- und ich fühle mich krank bis tief in den Bauch.
Während wir weitergehen, hast du dich fest an meine Beine geklam-
mert, und ich strample mich ab, dich mitzuziehen. Du bist schwerer
geworden, denn der nicht nachlassende Regen hat sich in deinen Fasern
festgesetzt. Mein Rücken ist total angespannt, meine Kehle wie zusam-
mengeschnürt, meine Lunge wie in eine Zwinge eingespannt. Ich muß
mich dringend ausruhen, aber ich weiß, daß du zu schwer auf mir lasten
würdest, wenn ich mich hinsetzte. Ich bin müde, möchte die Augen
schließen, aber bürdest du dich mir nicht immer mit der ganzen Last dei-
nes Körpers auf, wenn ich schlafe? Ich bewege mich, drehe mich in eine
andere Richtung, um einen Blick auf die Moorlandschaft um mich herum
zu werfen, aber du bist mir immer im Weg, verstellst mir die Sicht, hin-
derst mich am Weiterkommen, faßt mich an, zupfst an mir, klammerst
dich fest, verlangst meine Aufmerksamkeit nur für dich. Wie soll ich
atmen können, wenn du dich so fest an meinen Brustkorb hängst?
In meiner Verzweiflung werde ich laut. Ich heule, ich schreie, ich
klage, ich weine. Aber du nimmst jeden meiner Laute auf und wirfst ihn
mir ins Gesicht zurück, grausame verzerrte verspottende Schreie, fau-
chend, stechend, dein verfrorenes erregtes Gesicht in ständiger Bewe-
gung, die Fasern deiner Kleider immer wirrer verwickelt, deine kleinen
entzündeten roten Augen starren mich von der Seite her an, dein zusam-
mengebissener schmaler Mund arbeitet ununterbrochen, während du flü-
sterst und jammerst:
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Du bist so übermächtig geworden, daß ich mich gegen die Felswand
gedrückt fühle, unfähig, mich zu bewegen. Mein Herz tut weh, aber du
läßt mich nicht los. Ich kann zusehen, wie du die Nahrung aufnimmst.
Das dichte Werg deines Körpers schwillt an. Die wirre Struktur all der
Emotionen, all der Gefühle dehnt sich aus, die Fasern verbinden sich
miteinander zu dem ungeheuren Gewebe, das du bist. Eine Frau, die nach
dem von mir entworfenen Muster gestrickt ist.
Deinem Befehl gehorcht der meinem Bitten feindliche Fels, und die
Erde gibt meinem Weinen nicht nach. Auf dein Verlangen streift der
Wind beißend meine empfindliche ungeschützte Haut, und die schwarzen
Wolken drücken den letzten verzweifelten Wunsch nach Befreiung für
meine todmüde Seele nieder. Ich bin besiegt.
Dann sehe ich sie - eine dunkle Erscheinung bewegt sich jenseits des
Nebels. Eine einsame Gestalt löst sich aus dem Halbdunkel und kommt
näher. Eine sehr große Frau schreitet auf mich zu, eine Riesin, in ein wei-
tes herbstbraunes Tuch gekleidet, in der Hand einen Stecken mächtig wie
ein Mast. Sie sieht großartig aus und sanft. Sie ist geballte Kraft. Sie ist
reines Mitgefühl. So steht sie vor mir, erhebt sich in warmem Braun vor
dem kalten Grau und schaut mich mit sanften Augen an. Aus meinem
zusammengekrümmten unbeweglichen Körper, durch das plumpe
Gewicht meiner verfilzten Stoff-Frau an den Felsen gedrückt, schaue ich
auf sie. Sie spricht nicht, die Riesin, die sanftmütige Erdfrau. Sie steht
ganz still da.
Dann hebt sie mit einer breiten langsamen Bewegung ihre Arme, die
Falten ihres weiten Mantels öffnen sich, bis sie fast den Felsen berühren,
den Berg und die Landschaft rundherum einhüllen. Aus dem schweren
Stoff fliegen tausend, abertausend kleine Vögel. Die Luft ist voll von
ihnen, sie schwirren umher, ein Gewirr von flirrenden kleinen Flügeln,
ein anwachsendes Getön schriller Rufe. Sie sind überall, Schnäbel und
Federn. Beunruhigt hebe ich abwehrend die Arme, kehre mich zur Fels-
wand hin. Doch dann sehe ich, was hier geschieht. Etwas Seltsames und
Wunderbares! Der riesige Schwärm der kleinen Vögel beginnt an den
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Enden der Fäden meines Stoffwesens zu picken, zu zupfen, zu zerren,
die winzigen Schnäbel ziehen dünne Stränge aus dem verwirrt ver-
wickelten Stoffwerk ihrer Gestalt. Nach und nach, ganzlangsam verliert
sie vor meinen Augen an Umfang. Viele Hunderte von Vögeln sind
dabei, alles zu entwirren, bloßzulegen, aufzuribbeln. Sie versammeln
sich in den Fäden meines Kummers, krallen sich in das Gewebe meines
Schmerzes. Sie tragen Fragmente meines Leids davon unter die Falten
des großen Mantels, sie fliegen hin und her, hin und her. Viele kleine
braune Vögel fliegen durch die Luft hin und her. In dem ganzen Durch-
einander, dem Geflatter und Gezwitscher kann ich zusehen, wie die ver-
knotete Masse zusammenfällt, immer kleiner wird, bis die wenigen letz-
ten Fäden von der Erde gepickt sind und die Vögel zum letzten Mal in
den versteckten Falten des Mantels verschwinden, den die Riesenfrau
trägt. Alles um uns her ist wieder still.
Ich bin leer. Kein Kummer, kein Schmerz, kein quälender Zorn. Ich
bleibe allein. Ich erlebe die einfache Schönheit eines geleerten Gefäßes.
Mein Körper öffnet sich. Meine Glieder strecken sich dankbar aus,
meine Lungen atmen langsam und tief die Freiheit ein, mein Körper ist
weit.
Siehst du, wie der Nebel um mich herumstreicht und sanft mein Herz
liebkost. Siehst du, wie der Fels in meinem Rücken mich stützt, die Erde
unter mir sich bewegt und mich auffängt, wie der Wind alte Tränen aus
meinem Gesicht fortwischt.. Endlich wird alles eins. Ich bin leer und
kann die Landschaft in mich aufnehmen.
Die Braunevögelfrau wartet bewegungslos und groß vor dem Hori-
zont. Das Grau lichtet sich, das Hochmoor zeigt sich, gelblich rotbraun
und golden, auf allen Seiten.
Sorgenfrau,
Hüterin des traurigen Herzens,
Wächterin der einsamen, sehnsuchtsvollen Seele,
in dir schwingt der Schmerz unseres ganzen Planeten.
Schweigend kommst du aus der endlos freien Ebene,
sammelst die Fäden
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vieler kleiner persönlicher Kümmernisse
ebenso wie die Leiden der Welt,
die weltweite Trauer,
in der wir uns miteinander verbinden.
Großes uraltes Herz,
du hast die unerschöpfliche Fähigkeit,
meine Traurigkeit, mein Leiden aufzunehmen,
zu beruhigen und zu trösten,
unsere Last, die unerträglich erschien,
zu verwandeln in heilenden Segen.
Langsam dreht sie sich um und geht über den verblassenden Farn davon.
Fliegende braune Vögel. Sie ist fort.
Und ich bin hier, leer und erfüllt. Ich kann weit sehen. Ich atme tief aus,
in den heiteren Himmel.
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The Song of Brown
Birds Turning
30
Lied von der Frau der hin und her
fliegenden braunen Vögel
Wir singen vom Innersten deines Herzens Wir
singen von deinem süßen Schmerz Wir singen
von deinen traurigen Augen Braune Vögel
fliegen, braune Vögel fliegen
31
3
Shaman-Ca
An den Tag, als ich ihr zum ersten Mal begegnete, erinnere ich mich sehr
genau, aber ich weiß nicht mehr, warum ich meinte, daß ich sie gerade an
jenem Tag am Hang dieses bestimmten Tals treffen würde.
Der ebene Talgrund war durch die Regenfälle des Winters ziemlich
aufgeweicht, und ich kam nur langsam voran. Über langhaarige triefnasse
Grasbüschel balancierend umging ich die schimmernden moorigen
Stellen und schaffte es so, die unteren Hänge hinaufzukommen. Ich hatte
eine Reihe von scharf abfallenden Hügeln im Blick, wo die Hänge steiler
wurden und das Wasser eines kleines Flusses vom Plateau hoch oben
herunterkam: dort wollte ich die geschützte, verborgene Schlucht erkun-
den, die sich in die kahle Landschaft hineinschneidet. Riesige graue
Felssteine lagen am Fuß der Abhänge verstreut und in Haufen herum,
bewachten eine versteckte, mich magisch anziehende Welt. Als ich zwi-
schen ihnen hindurchgegangen war, hatte sich der Wind gelegt; stattdes-
sen wurde das Rauschen des Flusses immer intensiver - und ich stellte an
mir eine leichte, fast unmerkliche Veränderung der Wahrnehmung fest.
Die Steine unter meinen Füßen waren glitschig. Das Wasser gurgelte und
spritzte um sie herum. In der Luft hing der Geruch von feuchten Steinen,
Erde und Moos.
Auf halber Höhe des steilen Hangs machte ich Pause. Ich spitze die
Ohren, schaue um mich, habe das Gefühl, daß jemand in der Nähe ist.
Die kühle Sonne stand inzwischen schon ziemlich niedrig am blassen
Himmel. Eine dunkle Wolkenwand zog vom entfernten Plateau her
näher. Es war genau der Moment im Jahr, wo der keusche Winter auf der
Grenze zum beginnenden, ungeformten Frühling sitzt und die sich lang-
sam erwärmende Erde und die Rinde der Bäume und Sträucher ihr Ver-
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sprechen auf saftige Blätter und leuchtende Blüten noch fest unter Ver-
schluß halten. Bald würde das Geflüster neuen Lebens in Erde und Luft
zurückkehren. Aber noch war der Tag im Griff des Winters.
Ich stieß einen Schrei aus, als ich ihn sah. Kraß abgehoben gegen den
Himmel, wo das schmale Tal sich nach oben zu den kahlen Gipfeln hin
öffnete. Ein kleiner krummer, mickriger Baum, eine vom unerbittlichen
Wind gezeichnete Gestalt, die sich im steinigen Untergrund festgekrallt
hatte. Warum rast mein Puls? Warum zittern meine Nervenenden? Ich
schlitterte und stolperte über die Steine, den Hang hinauf, auf den einsam
dastehenden Baum zu.
Ein Weißdornbaum, nicht größer als ich, die tief heruntergebeugten
Zweige kreuz und quer ineinander verschlungen. Der alte, knorrige, mit
Narben übersäte Stamm kauerte festverwurzelt vor dem Berg und reckte
sich gleichzeitig sehnsüchtig dem schützenden Tal entgegen. Seine nack-
ten Äste waren ein dorniges Durcheinander mit vertrockneten Beeren
vom letzten Jahr, und etwa auf der Hälfte ihrer Länge trugen sie ein dich-
tes rundes Etwas aus kringeligen dünnen Zweigen und schwarz verfärb-
tem Heidekraut. Ein Nest, ein großes wundervolles Nest... Ich weiß, daß
es ihres ist.
Ich balancierte auf einem Stein und streckte versuchsweise eine Hand
durch das dornige Gestrüpp. Ich fühlte in dem Nest eine weiche filzige
Schicht aus Wollflocken, Pferdehaar, trockenem Moos. Und in die Struk-
tur mit eingewoben alte verwitterte Knochen, der Rückenwirbel eines
Schafs, ein blanker Rippenbogen. Vorsichtig strich ich mit der Hand über
das Innere: Dies ist ihr Nest, ihr Zuhause.
Eine Bewegung unten im Tal, die ich bemerkte, ließ mich mich
schnell zurückziehen. Ich verschwand eilig zwischen den Felssteinen,
gerade früh genug, um verborgen zu sein, als jemand auftauchte und
blitzschnell auf den Baum zuhuschte.
Sie kam dicht an der Stelle vorbei, wo ich hockte, und ich hörte ihr
unablässiges eiliges Geplapper. Dann ein Herumtasten am Fuß des
Baums und ein kurzes Schütteln dorniger Äste - die Bewohnerin war in
ihr Nest zurückgekehrt. Sie war zierlich und drahtig und rollte ihren lan-
gen dünnen Körper im Nest zusammen. Ihr Haar war ein Haufen dicker
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zottiger fettiger Locken, ihr Gesicht kantig und blaß. Sie trug ein zer-
fleddertes, abgerissenes Hemd und die Zähne eines Tieres an einer
Schnur um den Hals gebunden. Sie hatte die Augen geschlossen und
sich selbst mit ihren knochigen Armen umarmt, so schaukelte sie in
ihrem Nest sanft vor und zurück. Sie sang leise vor sich hin, ein unme-
lodisches Lied ...
Sie ist eine alte Koboldfrau, ein uraltes Wesen. Aber mein Bild von ihr
scheint sich zu verändern, alt oder jung, ich kann es nicht sagen, Kind
oder weise Alte? Ist es nicht ein seltsames Mädchen, das da in ihren zer-
knitterten Lederrock gewickelt hockt?
Plötzlich schlug sie die Augen auf. Sie hielt sich am Nestrand fest
und starrte ins Tal hinunter, legte den Kopf auf die Seite, blinzelte erst mit
dem einen Auge, dann mit dem anderen. Ein starkes Rascheln der
dornigen Zweige und Äste war zu hören, und schon war die kleine Per-
son, die Kind-Frau, wieder auf und davon, plappernd und über die
bemoosten Steine am Rand des Flusses trappelnd. Aufgeregt vor Neugier
lief ich hinterher, vorsichtig, um ihr nicht zu nah zu kommen, während •
wir dem Flußlauf folgten.
Sie sprang über Spalten und Mulden, überquerte Felsbrocken und
Böschungen, ihre schmalen Füße immer fest auf die Steine setzend. Sie
steckte ihre Nase in jeden Winkel, schaute in jedes Loch und brabbelte
unentwegt in ihrer eiligen Singsang-Art.
Fetzen ihrer Sprüche kommen bei mir an. Ich verstehe sie nicht, es
sind Worte ohne Ziel, ungezähmte Worte ohne erkennbare Bedeutung.
Ihre Sätze sind verrückte Gebilde, krumm und schief aneinandergereiht
und durcheinandergewürfelt. Sie fliegen an meinem Ohr vorbei, irren
umher und verflüchtigen sich im Wind. Vielleicht kann ihre Bedeutung
sich mir enthüllen, wenn ich näher herankomme. Ich versuche, mich
schneller vorwärtszubewegen.
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Sie war stehengeblieben. Sie hatte die Überbleibsel eines Schafs ent-
deckt. Als ich um eine Biegung des Flüßchens herum kam, sah ich sie
aufgeregt an dem Kadaver herumfmgern. Sie rieb die verwesenden Säfte
auf ihre Haut, zog einen fleischigen Knochen heraus, leckte, saugte, warf
ihn fort und streifte ihre Hände an den Haaren ab. Der Gestank ist
unglaublich und wirft mich fast um, als er zu mir heraufsteigt. Ich bin
stehengeblieben und schaue, ebenfalls aufgeregt, zu ihr hinunter.
Sie lief wieder weiter. Ich versuchte mit ihr Schritt zu halten und
geriet außer Atem. Auf keinen Fall wollte ich sie aus dem Blick verlieren,
deshalb zwang ich meine Beine, nicht nachzulassen und über den Hang
weiterzulaufen.
Jetzt bin ich ganz durcheinander, es scheint, daß sich die Realität wie-
der verschoben hat: nicht mehr ich folge ihr, sondern sie verfolgt mich.
Das Tal hat sich meinem Blick wieder geöffnet, die moorige Ebene wird
von den ineinander gewundenen Wasserläufen durchströmt. Kleine
Ponies mit nassem Fell grasen dort, aber ich habe den höher gelegenen
Pfad gewählt, hier ist es einfacher voranzukommen und Vorsprung zu
halten. Ich schaue andauernd zurück: aber sie ist immer im gleichen
Abstand hinter mir. Auf einmal nehme ich veränderte Größenverhältnisse
wahr; ich kann nicht mehr sagen, ob sie klein ist oder eigentlich genauso
groß wie ich. Manchmal kommt es mir vor, als sähe sie aus wie ich, als
blickte ich in mein eigenes Gesicht.
Ich wußte, daß ich mit ihr Schritt halten mußte. Meine Beine begannen
zu zittern. Mein Atem ging schwer. Meine Kleider blieben wiederholt im
Stechginster hängen. Sie hüpfte leichtfüßig vor mir und hinter mir. Hier
oben, etwas vom Fluß entfernt, hörte ich nur das Rascheln des trockenen
Wintergrases, das monotone Summen des Windes über den Felsen und
den unaufhörlichen Singsang der kleinen Person, die geschwinden
Schrittes dahinlief.
Ich bin die atemlose Gejagte, die der sie foppenden Verfolgerin
davonzulaufen versucht. Ihr Schatten, durch die niedrig stehende Sonne
bis ins Groteske in die Länge gezogen, holt mich von hinten ein.
Während wir rennen, stoßen Nebel und Zwielicht langsam aneinander.
Wir eilen jetzt einen schmalen Grat entlang. Vor mir sehe ich einen dunk-
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len Felsvorsprung - vielleicht finde ich dort einen sicheren Ort für eine
Verschnaufpause in diesem irren, beängstigenden Rennen. Noch einmal
werfe ich einen ängstlichen Blick zurück, dann lege ich meine ganze letzte
Kraft in meine stockenden Schritte. Gleich bin ich da.
Ich kroch um den vorstehenden Felsen herum, hockte mich in seinen
Schatten und wartete. Sie hatte sich vorn auf den Vorsprung gesetzt und
ließ ihre weißen Arme über den Rand baumeln. Sie blickte hinaus in die
dunkel werdende Landschaft, sich wiegend und vor sich hin singend. Ihr
seltsamer, unergründlicher, wilder Gesang, mal lauter, mal leiser, war
überall um sie herum, um mich herum. Vorsichtig rückte ich näher.
Ich lehne am äußersten Rand der Felsplattform im Wind und starre
hinunter in die Dunkelheit. Sie ist hinter mir, knufft und stubst mich,
schüttet ihr nicht endendes Gebabbel über mich aus. Ich versuche dahin-
terzukommen, in ihrem Gemurmel einen Punkt zu finden, an dem ich
mich festmachen kann mit ein wenig Verstehen. Es will mir erst nicht
gelingen. Aber dann:
... vielleicht ist dies so, Beere und Knochen mein eigen, aahh,
knusprige Wahrheiten und glitschig, warum? sie weiß nichts, die
kleine Ca, was? nicht wenn die Dunkelheit kommt, eine gute
Sache zu locken,nicht wahr? Bis aufs Mark ausgesaugt, oh, das
Fallen geht schnell, liebe Schaman-ca, meine kleine Ca , hat sie
die Trommel zerrissen - oh, sie geht, Frosch auf dem Kreis, aber
nicht die richtige Art von Stille -das Baby erzählt mir das, hat sie
Angst zu tanzen? Was?
Angst zu tanzen?
Tanzen ?
Keine Angst zu tanzen?
Nein. Ich weiß nicht.
Also tanzen wir. Auf dem dunklen gefährlichen glitschigen Felsvor-
sprung, hoch über der tief unten liegenden dunklen gefährlichen unbe-
kannten Erde, tanzen wir. Ich verliere mich im Tanz. Verrückt, wild,
wahnsinnig, rasend schnell tanze ich mit Shaman-Ca. Ich tanze, tanze,
bis meine Seele blutet.
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The Song of Shaman-Ca
With my bird bone rattle and my goat skin drum
Shaman-Ca Shaman-Ca
With my cold river eye and my hol fire tongue
Shaman-Ca Shaman-Ca
Worlds spin fast when I stamp my feet
Body moves to an ancient beat
I will dance 'til my spirit bleeds
I will dance 'til my spirit bleeds
Shaman-Ca Shaman-Ca
40
Shaman-Cas Lied
Mit meiner Vogelkknöchelrassel und meiner Ziegenfelltrommel
Shaman-Ca Shaman-Ca
Mit meinen kalten Flußaugen und meiner heißen Feuerzunge
Shaman-Ca Shaman-Ca
Mach ich Welten sich drehen, wenn ich mit den Füßen stampfe
Mein Körper schwingt im uralten Rhythmus
Ich tanze bis meine Seele blutet
Ich tanze bis meine Seele blutet
Shaman-Ca Shaman-Ca
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Mit meiner Vogelknöchelrassel und meiner Ziegenfelltrommel
mit meinen kalten Flußaugen und meiner heißen Feuerzunge
Bin ich ein Stern ohne Namen, eine Königin in Lumpen Bin
ich ein ungezähmter Schoß, ein ausgefranster Saum Du weißt
daß nichts ist wie es scheint Du weißt daß nichts so ist wie es
scheint Shaman-Ca Shaman-Ca
42
4
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men, damit kleine Boote und Flöße aus Flechtwerk entstünden. Wir plau-
derten, wir lachten und sangen, während unsere Hände das Schilf verar-
beiteten. Die Stimmen vermischten, verwoben sich ineinander, es war ein
Auf und Ab von volltönendem Gesang im Wechsel mit einer einzelnen
Stimme zum Trommelklang. Wir flochten unsere kostbarsten Visionen in
die kleinen Schilfboote, wanden unsere heiligsten Träume um die Sten-
gel mit ihren Knoten, flüsterten unsere geheimsten Gebete in jeden ein-
zelnen der hohlen Halme. Die Flammen unseres Feuers warfen warmes
Licht auf den Kreis, in dem wir saßen, während wir die Köpfe über unsere
Arbeit beugten.
48
Songi hebt ihre langen Arme.
Während die Mondin am Himmel aufsteigt,
singt sie ein Lied der Liebe
auf ihre silberglänzende Schönheit,
jubelnd preist sie
ihre sanfte Kraft,
ehrfürchtig spricht die Songi-Frau
ihren Segen aus.
Das ist ihr magisches Tun.
Jede Nacht hüllt die Liebe sie ein,
wenn sie, bezaubert von der Mondin,
mit wachen Augen schaut
und die Lichter sieht, die
am weiten Himmelszelt leuchten
und sich im schwarzen Wasser
spiegeln.
Die Schilfboote waren fertig und das Feuer bis auf die Glut herunterge-
brannt. Wir hatten gewartet, bis die Mondin in ihrer ganzen Fülle über
der grauen Weide erschien. Wir öffneten den Kreis und gingen hinaus
auf die monderleuchteten Wiesen. Unsere Schilfboote trugen wir über
einen silbrigen Pfad am Waldrand entlang, der uns zum See führte. Wir
kamen zu dem alten Heiligtum, errichtet - wie erzählt wurde - an der
Stelle, wo die alte Mondmutter wohnte. Ausgeblichene Weidenzweige
bildeten einen Torbogen, der längst zerfallen war, aber wieder zum
Leben erweckt wurde und jetzt im Dunklen leuchtete. Sie waren mit
Glöckchen, Muscheln und Federn behängt: genauso wie die Mütter unse-
rer Großmütter es getan hatten, als sie der Mondin Geschenke brachten
und um Segen baten. Wir saßen und schauten, wie das Licht langsam
über dem Schrein hervorkam. Wir berührten es genau in diesem Moment
und sahen zu, wie es weiterzog. Dann gingen wir langsam über die glit-
schige Erde bis zum Ufer des schwarzen Wassers.
49
Songi am Wasser
sehnt sich, den Mondhund zu berühren,
wünscht sich, mit ihm zu reisen
auf der aufsteigenden Mondbahn,
wo die geheimnisvolle Nacht hängt.
Sie sitzt vor der Hüttentür,
lauscht auf die Schilfgräser,
die im leichten Wind rascheln,
dann, wenn es monddunkel ist,
beginnt sie, ein Boot zu bauen.
Sie trägt Schilfrohrbündel heran,
macht ein Geflecht aus hohlen Halmen,
webt Grashalme hinein, befestigt
und verbindet alles mit Lehm,
behängt das Heck mit Kaurischnecken,
flicht ihre Lieder in ihr Werk.
Das ist ihre Magie.
Jede Nacht des Mondzyklus,
wenn die Mondin zunimmt,
baut Songi an ihrem Schilfrohrboot.
Wenn Vollmond naht,
ist ihr Boot fertig,
und Songi sitzt darin und
setzt auf den See hinaus, sie
gleitet durch die Nacht,
taucht ihre Hände in die stille
Dunkelheit des Wassers.
50
in die Nacht hinein strahlt wie
silbernes Feuer. Da steht Songi, ihr
kleines Schilfboot dreht sich, von
unruhigen Wellen geschaukelt. Jetzt ist
ihr Augenblick gekommen und will
wahrgenommen sein. Sie wirft ihren
Körper nach vorn, den Mondhund im
Sprung am wedelnden Schwanz zu
erwischen, sich hochzuziehen und
endlich auf seinem großen silbernen
Rumpf zu landen.
51
über den Himmel treibend.
Das alles hört sie, während
sie auf dem Mondhund reitet.
Sie ziehen am Himmel dahin,
bis sie die Morgendämmerung erreichen
am entfernten Ufer
des großen Sees Offeneaugen.
Der Mondhund kehrt zurück,
trägt die Mondin weit
hinunter unter die Oberfläche.
Songi läßt sich herabgleiten
in das morgendliche Wasser.
Wir stiegen knietief ins dunkle Wasser hinaus und ließen unsere Schilf-
boote schwimmen. Jedes Boot trug ein Licht, flammende Sterne auf
einem Wasserhimmel. Schlamm zwängte sich zwischen unseren Zehen
durch, feuchte, glitschige Schilf- und Lilienwurzeln schlängelten sich um
die Knöchel, unsichtbare blitzschnelle Fische streiften das Schienbein.
Wir beobachteten, wie unsere kleinen mit geheimen Wünschen bela-
denen Boote in die nächtliche Welt hinausfuhren. Sie drehten sich um
sich selbst und umeinander, ein auf dem Wasser treibendes Geflecht
kostbarer Träume. Die Vollmondin pulsierte oben am Himmel und zog
ihre Bahn.
Eine Zeitlang saßen wir auf dem erhöhten Ufer und sahen zu, wie die
flackernden Lichter unserer Gebete und Bitten weit draußen auf dem See
brannten. Schwerer Morgentau lag auf den Wiesen, die im Licht der Mon-
din schimmerten, die sich in den weiter entfernten Hügeln niederließ.
52
Im Licht des frühen Morgens fegt
Songi den Boden ihrer Hütte bringt
das Trinkwasser herein klopft und
rollt die flachen Brote wäscht sich am
Seeufer hackt und bepflanzt ihren
Hof. Sie tut dies jeden Morgen und
das ist ihre Magie.
53
über den Berg weht.
So macht sie es jeden Vollmond
und das ist ihre Magie.
Als es Morgen wurde, schaukelten und drehten sich unsere Boote noch
immer auf dem See. Einige hatten sich im dichten Schilf verfangen,
andere waren auf dem schlammigen Ufer gestrandet. Wir fischten alle
heraus, an die wir herankommen konnten, und hängten sie an dem alten
Schrein auf. Die Morgensonne war grell und warf klar umrissene Schat-
ten. Im Stechginster waren die Spinnweben voller Tautropfen. Unsere in
der stillen Nacht geflüsterten Gebete waren den Augen des lichthellen
Tages entglitten.
54
The Song of Songi Night Hidden
She is the dance
The secret fire
Deep running pool
Of this desire She
holds the night
Between her thighs
She rocks the moon
Across the sky
And eats the stars
She eats the stars
She eats the stars
Mbaba Mwana
Waresa Songi ye ye
Mbaba Mwana
Waresa Songi ye ye
Caressed within
Her silvered arms
This jewel hidden
In velvet palm
She eats the stars
She eats the stars
She eats the stars
Mbaba Mwana
Waresa Songi yeye
56
Lied von Songi, der verborgenen Nacht
Sie ist der Tanz
das geheime Feuer
der tiefe See
unserer Sehnsucht.
Sie hält die Nacht
zwischen den Schenkeln.
Sie wiegt die Mondin
über den Himmel
und ißt die Sterne
Sie ißt die Sterne
Sie ißt die Sterne
Mbaba Mwana
Waresa Songi ye ye
Mbaba Mwana
Waresa Songi ye ye
Mbaba Mwana
Waresa Songi yeye
57
5
Altefrau schläft gut
ALTEFRAU WANDERT
Weites Land, kahles Land, flaches Land, blutiges Land, blutige Erde, rote
Erde, roter Sand, roter Fels. Felskörper, knochiger Fels. Erdknochen, alte
Knochen, knochige Wahrheit, harte Wahrheit, harte Steine, kantige
Steine, harte Körner, heißer Staub, wirbelnder Staub, roter Staub, feiner
Staub. Staubatem. Staubtränen, keine Worte.
Barfußschritt, langsamer Schritt. Schritt nach Norden. Schritt nach
Westen. Schritt bei Tag. Nachtwandern. Weit wandern. Erdwandern.
Staubwandern, staubiger Pfad, staubige Füße, langsame Füße, langsame
Erde, langsamer Gang, langsamer Rhythmus. Traumrhythmus. Lebens-
rhythmus. Altersrhythmus. Rhythmisches Schwingen. Körperschwin-
gung. Körperpuls. Herzpuls, kräftiger Puls. Liedpuls. Erdpuls, tieftönen-
der Puls, tiefempfindendes Herz. Mutterherz, wahrhaftiges Herz. Herz-
schlag. Lebensrhythmus, kraftvoller Rhythmus. Erdgesang.
Keine Worte, weite Erde, keine Worte, weites Land, keine Worte,
kahler Himmel, keine Worte, heißer Staub, keine Worte.
Weiter Himmel, roter Himmel, blutroter Himmel. Dämmerungshim-
mel. Dämmerungsvogel. Himmelsvogel, einsamer Vogel, entfernter
Vogel, verschwundener Vogel. Vogel frei. Land frei. Welt frei. Welt kahl.
Leben nackt. Lebensatem, guter Atem, starker Atem, langer Atem,
heißer Atem, heißer Wind, guter Wind, austrocknender Wind, bloßlegen-
der Wind. Landwind. Atemland, verkarstetes Land, trockenes Land,
trockener Faden. Lebensfaden, starker Faden, lange Wurzel, tiefe Wur-
zel. Lebensquelle.
61
Staubaugen. Augenschreie. Windschreie, rote Schreie. Felsschreie, bluti-
ger Fels. Felssaft, einsamer Fels, einsames Lied, altes Lied, alter Platz.
Mutterplatz, altes Leben. Lebenslied. Lebensblut. Lebensader. Lebens-
wasser. Regenwasser, starker Regen. Regenschreie. Frauenschreie. Trä-
nenfrau. Blutfrau, gutes Blut, warmes Blut, dunkles Blut. Schneckenblut.
Erdblut, roter Staub, guter Fluß.
Alte Zeit, nackte Zeit, lange Zeit. Zeitstaub. Zeitsaat. Erdsaat. Erdbe-
wegung, alte Erde. Erdtraum, großer Traum, alter Traum. Traumei. Wel-
tenei. Lebensschoß, lebendiger Körper, lebendiges Lied, großartiges
Lied. Herzenslied. Weltgesang. Mutterlied. Weltmutter. Muttergang.
Gang der Zeit, langer Gang. Eine Erde.
Feuerquelle, inneres Feuer. Herzensfeuer. Sonnenfeuer. Sonnenkern,
heißer Himmel, heißes Land, trockene Erde, knochentrocken, staub-
trocken, lange Wanderung, kleines Feuer. Sternenfeuer. klares Feuer,
nächtliches Feuer. Wandern bei Nacht. Wandern in der Dämmerung.
Dämmerungsbaum, einsamer Baum, weißleuchtender Baum, alter Baum.
Geistbaum. Geist bewegt sich. Erde bewegt sich, lange Wanderung, kah-
les Land, weiter Himmel, keine Worte.
ALTEFRAU SITZT
62
Ich bin Staubgeschmack
Ich bin der Duft süßer Erde
Ich bin das samtene Tuch des dunklen Himmels
63
Und die Erde
trinkt mich trägt
mich singt mich
ruft mich begeht
mich bewegt
mich liebt mich
ALTEFRAU SCHLÄFT
Altefrau geht ohne Anfang und ohne Ende, geht im Rhythmus des aus
dem Innern der Erde schlagenden Herzens des Lebens, geht mit der
Seele der Welt, geht hinein in die Träume der Erde, wandert auf der
Grenze zwischen Schlafen und Wachen, wandert durch die Wüstentage,
geht über die nackte Erde, die Weite der Erde, die alte Erde.
Altefrau trägt einen Korb, einen schweren Korb, sie sammelt den
Staub des Lands hinein, den roten Sand des Lebens, das trockene Blut
der Erde.
Altefrau sitzt auf dem lebendigen Land, sitzt auf der grünenden
atmenden Erde, sitzt auf den wechselnden Formen des Lebens, sitzt auf
dem Lebensfunken, sitzt auf dem nicht ausgehenden Lebensfeuer, sitzt
auf dem breiten, starken Lebensfluß. Altefrau wartet mit dem zeitlosen
Fluß des Lebens auf der Erde, schaut auf die Bewegungen und Verände-
rungen, hört die vielen Lieder, atmet mit dem regelmäßigen Lebenspuls,
berührt den innersten Lebenskern.
64
Altefrau füllt ihren Korb, ihren schweren Korb, mit den Träumen vom
Land, der roten Seele des Lebens, dem trockenen Geist der Erde.
Altefrau liegt auf dem Boden und schläft die älteste Reise der Erde
und träumt das tiefste Geheimnis der Landschaft und ihr Körper liegt auf
dem Boden und das Land kommt zu ihr und die Erde berührt sie mit
einem Kuß und sie nimmt die Erinnerungen der Welt in sich auf wie
Nahrung und sie ist von den Rhythmen der Welt erfüllt und ihr schlafen-
der Körper nimmt die Lebenskraft auf und ihr schlafender Körper ver-
mählt sich mit der Energie des Lebens.
Und unter ihr erhebt sich das Land, reist gemächlich in alle Ecken
ihres Körpers, kriecht in alle Tiefen, und der rote Staub weht in die Fal-
ten ihres Gesichts und der harte Fels wächst in ihr Knochengewebe und
der trockene Sand reibt sich in ihre Haut und der heiße Wind bläst seinen
Atem in ihr Haar und der anhaltende Regen vermengt sich mit den Säften
ihres Körpers und der Körper der Altenfrau ist das Land und der Bauch
der Altenfrau ist die Welt und das Herz der Altenfrau ist die Erde und sie
träumt ein altes Lied.
65
The Song of Old Woman Sleeps Good
Old Woman sleeps good
sleeps good on the land
becomes the red rock
becomes the white gum
becomes the desert sand
becomes the slow pulse
of the living earth
becomes the rhythm of
the Old Song
66
Altefraus Lied
Altefrau schläft gut schläft
gut auf dem Land sie wird
der rote Fels wird der weiße
Saft wird der Wüstensand
wird der langsame Puls der
lebendigen Erde wird der
Rhythmus des alten Lieds
67
Altefrau geht gut
wandert gut übers Land
wird der rote Fels wird
der Wüstensand
68
6
Hüterin der Roten Blume
Seid gegrüßt, Ihr dreizehn Großmütter der Mondin, immer unterwegs,
immer da, immer in unserer Erinnerung. Seid gegrüßt, Ihr vielen alten
Blutsschwestern aus dem Hause der Mütter, die Ihr Euch in der Zeitspirale
versammelt habt.
Seid gegrüßt, geliebte Töchter der Blutroten Blume, die Ihr hier am heili-
gen Ort auf der dunklen Erde sitzt.
Und schließlich begrüße ich Euch, Ihr langbeinigen Fohlen des mächtigen
Windpferds, die Ihr nach weitem Weg hier angekommen seid, um
aufgenommen zu werden in den Kreis der Frauen.
Ihr neu zu uns gekommenen Jungfrauen, die ich Euch als Lehrerin,
Beschützerin und Lenkerin begleitet habe: Ich stehe vor Euch als eine
Frau wie Ihr - als Kriegerin, Schwester, Jagdgefährtin. Wir haben den
Mysterientanz der Dreizehnten zusammen getanzt. Ich habe das Verspre-
73
chen, das ich Euch gab, eingelöst. Meine Aufgabe ist erfüllt, unsere
gemeinsame Reise ist vollendet.
Drei lange Zyklen sind vergangen, seit ich Euch weinend an der Seite
Eurer Mütter an den Waldrand kommen sah. Ich begrüßte jede einzelne
von Euch als junges, kindliches Mädchen, ihr habt gezittert, und ich
führte Euch an einen fremden Ort. Ich empfing Euren Dienst und bin
dankbar für dieses Geschenk. Während dreier Jahresläufe habe ich Euch
auf Euren Wegen begleitet.
Ihr habt Euer Haar geflochten wie die Jägerin. Ihr habt Euch als junge
Frau erkannt. Euren beweglichen Geist habt Ihr zu einem Bogen geformt,
aus Eurer wilden Entschlossenheit habt Ihr Pfeile geschnitzt. Ich habe
gesehen, wie Eure Glieder stark wurden wie junge Fichten und Euer Ver-
stand scharf wie das kristallklare Eis auf einem Wintersee. Ich habe Eure
Freude am Abenteuer erlebt. Ich hatte Anteil an Euren Erfolgen. Ich ermu-
tigte Euch auch zu den kleinsten Siegen Eures Willens. Ich habe Euer
Streben nach dem vollkommenen Pfeil verfolgt. Und ich lief neben Euch
bei Eurem rasenden Ritt auf der Großen Stute, als Ihr mit Eurem schmalen
Körper danach drängtet, aus der kindlichen Welt herauszuspringen.
74
Ich weiß, daß es nicht leicht für Euch war. Junges Mädchen, denke nicht,
es sei mir nicht bewußt, wie sehr du kämpfen, wie hart du arbeiten muß-
test. Denke nicht, ich hätte Deine Schwierigkeiten und Deinen Schmerz
leichtgenommen. Oder ich wäre unberührt geblieben, wenn Du die
Nachtstunden mit den Tränen Deiner Einsamkeit erfüllt hast. Du weintest
oft nach Deiner Mutter und ranntest gegen die scharfen Kanten des
Lebens an, das ich Dir aufgab. Du gabst mir die Schuld, wenn Du
unglücklich warst, und verfluchtest mich, weil Du mich für kühl und
abweisend hieltest.
Junges Mädchen, ich hörte Dich weinen in der Nacht. Aus der Stille
der Dunkelheit hörte ich Dich und sang Dir leise ein Lied mit meinem
Segen. Insgeheim schenkte ich Dir von meiner Stärke. Ich war nicht
Deine Mutter und konnte nicht wie sie zu Dir kommen, Dich zu trösten.
Mein Herz tat mir weh wegen Deines Kummers, und meine Arme hätten
Dich gern umfangen; aber ich hatte eine andere Aufgabe. Deshalb mußte
ich - ebenso allein wie Du - aus der fernen dunklen Stille über Dich
wachen.
Kleines Mädchen, ich war die scharfe Klinge, an der Du Dich erpro-
ben solltest, die straffe Bogensehne, die Du spannen mußtest. Ich war der
dunkle Ort, an dem Du Angst erleben und Angst überwinden lernen soll-
test. Unsere Beziehung zueinander war nicht immer einfach, aber sie war
offen, voller Respekt und einem heiligen Zweck gewidmet.
Du und ich, wir waren zusammen gute Jägerinnen. Vergiß nicht, was
wir auf unserer Reise gemeinsam erreicht haben. Du hast gut gejagt. Du
bist über Deine Selbstzweifel und Schwächen hinaus gelaufen. Du ver-
suchtest, den richtigen Pfad zu finden, und Deine Jagd gewann an
Schwung. Du durchmaßest den Wald, liefst barfuß nach der Trommel
und sangst den Namen der Dir teuren Beute. Große Entfernungen legtest
Du zurück und durchquertest die vielfältigsten Landschaften. Dein Kör-
per verschmolz mit dem Rhythmus der Jagd. Du liefst direkt in Deine
Kraft hinein.
Du erreichtest das Haus der Frauen, nach dem Du jagtest, Du stelltest
das ersehnte Wild. Du hattest die Spur gefunden und trafst im rechten
Moment. Du suchtest das dreizehnte Geheimnis und fandest die Blutrote
75
Blume. Sie ist in Dir groß geworden und hat sich aus Dir ergossen. Sie
strahlt bis in Deine Mitte und markiert Deinen Weg mit neuen Möglich-
keiten. Jetzt ist sie Deine Begleiterin, die Dich leitet, jede von Euch ein
sich entfaltendes Blatt der großen Roten Blume. Die Jagd ist zu Ende. Du
bist eine blutende Frau.
Nun geh zu Deiner Mutter, begrüße sie als Deine Blutsschwester. Sie,
die trauerte, als sie ihr kleines Mädchen verlor, wird die Rückkehr der
Tochter als Frau mit Freude feiern.
Singend und stampfend sind wir um diesen Platz gezogen. Sieh die
vielen Frauen, die sich zu Ehren Eurer triumphierenden Ankunft versam-
melt haben. Dieses Haus ist jetzt Euer Haus. Es gehört Euch, hier ist jede
von Euch zu Hause. Ihr seid das Haus der Frauen, Ihr seid die Rote
Blume. Die Tür zu diesem Haus führt Euch auf eine neue Reise. Eure
Reise geht weiter.
Ich hingegen werde zu den Bäumen zurückkehren, wo die jungen
Mädchen ankommen in ihrer ängstlichen Zartheit. Wenn Ihr unter den
Tannen steht und das entfernte Trommeln der über den Erdboden galop-
pierenden Hufe hört, dann wißt, daß wir, die nach dem Haus der Frauen
jagen, unterwegs sind. Und wenn Ihr wieder daheim seid, hängt Euren
Bogen und Euren Köcher über den Herd in Erinnerung daran, daß Euer
Bogen gut war und Euer Ansinnen von großem Ernst. Und wenn Ihr in
kommenden Jahren Eure Töchter zum Waldrand bringt, seid gewiß, daß
ich sie genauso gut anleiten und begleiten werde, wie ich es bei Euch
getan habe.
Frauen, die Ihr das erste Mal geblutet habt, schön seid Ihr: Wisset, daß
ich Euch in Herz und Seele bewahre, wenn ich Euch verlasse. Gesegnet
bin ich, daß ich Euch bis hierher begleiten durfte. Ich liebe Euch alle von
ganzem Herzen. Ich wünsche Euch alles Gute.
76
The Song of Following First Blood
Comes the barefoot runner - she raises her warrior bow
Daughter of the fast drum - fly pure eye of her intent!
Runs beside the Wind Horse - far into the virgin pine
She is stalking bloodflower - how she hunts the Women's House!
She is following first blood - heyiya ha makakeshe
78
Das Lied vom Weg zur ersten Blutung
Da kommt die Barfußläuferin - sie erhebt ihren Bogen
Tochter der schnellen Trommel - fliege, klaren Augs gefaßter Vorsatz!
Sie läuft neben dem Windpferd - tief in den jungen Fichtenwald
Auf Pirsch nach der Roten Blume - sie jagt dem Haus der Frauen nach!
Der ersten Blutung auf der Spur - heyiya ha makakeshe
79
7
83
wo die Eishexe stand,
wartend im Schnee.
84
Inzwischen waren andere aus ihrer Benommenheit erwacht
und stießen Rufe des Erschreckens aus.
85
Wie die Frauen da schrien;
mit letzter Kraft versuchten sie sich aufzuraffen,
doch drückte ihr schweres Gepäck sie zu Boden.
"Wir sind verloren", schrien sie, "und grausam zum Tod verurteilt!"
Eine jedoch kroch der Eishexe bis vor die Füße.
"Würdest du", flüsterte sie, "einen Handel mit uns eingeh'n?
Ist unser Schicksal so unumstößlich,
daß wir nichts mehr dagegen tun können?"
86
"Ihr Dummköpfe! Eure Seele habe ich gemeint!"
"Nein!" schrien die Frauen, "nein!"
"Es hilft Euch nicht", zischte die Hexe,
"früher vielleicht, aber jetzt nicht mehr",
und sie schnitt und schnitt mit ihrer blanken Klinge.
87
das jetzt gar nicht mehr so schwer schien,
und gingen leichten Schritts übers gefrorene Land davon.
90
Das Lied
der Schneidenden Eishexe
Bernsteinzahn-Wolf wartet Rabenauge
wacht nahbei Eiskalte Frau schaut weit
hinaus Messer singt in klirrkalter Luft
Eismesserklinge schneidet scharf
Schnabel und Klauen zerren am Fleisch
Blutleckende Lippen nippen,
Lebensfunken vom Tod befreiend.
91
8
Gute Honigmutter
Komm in den Garten mit uns,
hab Teil an unserm goldenen Tag.
In strahlendes Gelb getaucht
Wärme, die aufsteigt, uns zu umfangen,
wo wir frisch erwacht uns treffen
und einen Augenblick verweilen.
Wenn wir eintauchen in die
berauschenden Düfte des Gartens,
verlieren wir uns ganz in ihrem Wirken.
Wir rasten nur kurz in der Stille,
tief saugen wir die Süße ein,
die kommenden Freuden, die uns verheißen,
langsam ziehen wir weiter, hier und da nippend,
wo der Morgen uns willkommen sagt.
Komm mit uns in den Garten,
hab Teil an unserm goldenen Tag.
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Hier ist sie, der wir als erste unsere Aufwartung machen: die violettblaue
Blüte des Salbei. Ruhig wartend hat sie im silbrigen Tau der Mor-
gendämmerung gestanden. Würdig kommt sie uns entgegen, mit ausge-
streckten Armen nimmt sie den Tanz auf. Die grauen Augen geschlossen,
die Bewegungen ruhig und gezielt, jeder intensiv duftende Schritt vor-
sichtig abgemessen und gesetzt, eingefügt in ihre stille Meditation. Und
am Ende, immer noch stumm, dreht sie sich um und geht langsam durch
den Garten davon.
Geschwind kommt die Sternblüte des Borretsch auf uns zu, leicht-
füßig in ihrem übersprudelnden Temperament. Klar und frisch leuchtet
sie, elegant dem Morgen zugeneigt. Wie eine zarte blaue Woge schwankt
und taumelt sie, wippt auf und ab, hüpft und zittert. Glücklicher Bor-
retsch, vibrierend vor Aufregung. Sie dreht sich wie ein Wirbelwind und
bricht plötzlich aus, um andere Freuden zu suchen.
Wir treffen auf die köstliche Ginstergesellschaft, die sich in pracht-
voller Menge ausbreitet. Der süße tropische Duft der Blüten erfüllt die
Luft. Bekannt für ihre Klarheit und überwältigend in ihrem leuchtenden
Gelb, kann sie uns gut und gern den ganzen Tag gefangen halten in ihrer
Umarmung. Auf ihren Spitzen hat sie das Licht der Sonne eingefangen.
Ihr betäubendes Geflüster ist ein Liebkosen, das uns verführt, länger zu
bleiben, gefangen in ihrem rhythmischen Bann. Aber eine andere Tänze-
rin fordert uns auf...
Wermut, eine alte Bekannte in silbriger Gestalt, kommt grimmig und
stark daher. Obzwar schon oft unsere Partnerin, umkreisen wir sie mit
Vorsicht. Wir haben Respekt vor ihrem mächtigen Biß, ihrer unwider-
stehlichen, bitteren magischen Kraft. Wir halten uns nicht lange bei ihr
auf, doch ist sie Teil unseres Tanzes. Behutsam passen wir uns ihrem
strengen Schritt an, in dem wir uns spiegeln.
Jetzt kommen wir in die rosafarbene Höhle des Fingerhuts. Ganz
überraschend fängt uns die Blüte ein, ihr Rock schimmert in stets wech-
selnden Mustern und Schattierungen. Die schillernde Sonne bringt ihre
leuchtenden Farben zum Glühen, und wir, die wir von ihr umarmt sind,
erleben eine psychedelische Lichtshow. Verzückt und angezogen von
ihren im Schatten verborgenen Schätzen, tauchen wir in den Kelch hin-
96
ein und daraus hervor, wieder und wieder, führen um sie herum einen
exotischen Kreistanz auf.
Schließlich reißen wir uns los, gleiten über Duftwolken hinweg und
setzen den Tanz fort mit dem sanften Lavendel, einer vertrauten Freun-
din. In ihrem duffen Violett fühlen wir uns angenehm beruhigt, von Sum-
men eingehüllt und wohlig gewiegt. Bescheiden und leicht amüsiert
wirkt sie, wenn sie ihren Duft auf dem Wind tanzen läßt und leise lacht.
Mühelos schiebt sie den Tag in den schläfrigträgen Nachmittag hinein.
Thymian, kleines erdnahes Wesen, steht halbversteckt an der Seite,
aufmerksam bereit, in unserem Tanz ihren Platz einzunehmen. Auf
Zehenspitzen steht sie erwartungsvoll mit ihren blaßrosa Blüten, ihr zartes
Glühen straft ihren robusten hölzernen Kern Lügen. Winzig, doch stark
führt sie einen kurzen Tanz auf. Wir küssen sie sanft, bevor wir
weiterzieh'n.
So reisen wir in die entferntesten Winkel unserer goldenen Welt. Auf
dem Abhang wogt und windet sich die Heide in verschwenderischer
Pracht. Weithin leuchtet ihre Farbe, und fröhlich mischt sie sich in unse-
ren Tanz. Die Hügel auf und ab umgibt sie sich mit süßem Staub, borstige
energiegeladene Tänzerin, springt hingegeben wild umher, in rasendem
Rhythmus geht sie ganz auf im Tanz.
Schwer und müde taumeln wir endlich in die vollgrüne Wiese, die
zum Herzen des Gartens führt. Kleeblüten, dunkelrot, rufen uns von
UHten her zu, und wir können ihrer Poesie nicht widerstehen. So lassen
wir uns nieder und versinken im üppig uns einhüllenden Glück ihres
köstlichen Schoßes.
97
kehren zurück zum süßen pulsierenden Herzen,
zurück dorthin, wo unsere Königin wartet,
allein mit sich und ihren in Honig gehüllten Gedanken.
Sie ist das strahlende Zentrum des
Tanzes, den wir durch den Tag tragen,
der Drehpunkt, um den wir kreisen,
wenn wir durch die Welt der Gärten schwärmen.
Jetzt wünscht sie sich uns an ihre Seite,
wir spüren, wie sie an unseren Flügeln zupft.
Reich an Geschenken machen wir uns auf den Weg.
Sehnsüchtig und voll Vorfreude wartet sie
auf die Schätze, die wir ihr bringen.
Königin des Lebenstanzes,
Königin des Bienenstocks.
98
The Song of Good Mother Honey
Good Mother Honey, Good Mother Honey We
shall eat from your wild berry pie Good Mother
Honey, Good Mother Honey We shall drink from
your sweet dripping wells Good Mother Honey,
Good Mother Honey And the rain comes gently
to bless your rieh soil rain singing...
100
Lied für unsere Gute Honigmutter
Gute Honigmutter, Gute Honigmutter
Wir essen von deinem Wildbeerenkuchen
Gute Honigmutter, Gute Honigmutter
Wir trinken süße Tropfen aus deinen Quellen
Gute Honigmutter, Gute Honigmutter
Sanft fällt der Regen, deine fruchtbare Erde zu segnen
der Regen singt...
101
Gute Honigmutter, du gibst uns zu esssen
Gute Honigmutter, du gibst uns zu trinken
Gute Honigmutter, wir tanzen mit dir Gute
Honigmutter, du bist unser Leben
102
9
Grabhügelhexe
GRABHÜGELTROMMEL
Wie die Hexe bewegt sich der Hirsch, Spirale windet sich in Spirale.
Von einem ändern Feuer her, in einem ändern Kreis, mit anderem Gesang
findet er Zugang mit einem anderen Schlüssel, sein Weg führt getrennt
nach innen, immer tiefer, hinab zum Herzen des Grabhügels.
Gute Worte wohl aufgenommen. Alter Pakt neu geschlossen. Die Hexe
kommt an im Innern und ebenso der Hirsch. Durch einen engen Gang
finden beide zur Mitte. Sich gegenüber stehend nehmen sie ihren Platz in
der Höhle ein. In der Mitte ihres dunklen felsigen Leibs steht die große
Grabhügeltrommel.
Schweigend wartet das schauende Paar, beide vom Feuer beleuchtet.
Und ihre Schatten vermischen sich in der Kuppel der felsigen Höhle.
Grüße werden ausgetauscht, besondere Worte, Worte der Ehrfurcht.
Worte, die den Weg ebnen, ein Tor bilden und es offenhalten. Worte, die
treffen und gefangennehmen, Zeiten miteinander verschmelzen und Seelen
verbinden.
Worte, die magische Wirkung tun, die Fäden der Verbindung auswerfen.
So wird das alte Versprechen zwischen Hexe und Hirsch neu bekräftigt.
108
Getanes, Gefühltes, Gedachtes und Geträumtes.
Die Stimmen der Alten geben Kraft für neue Lieder,
Erinnerung an vor Urzeiten getanzte Schritte beflügelt frische Tänze.
Unendlich groß ist der Kreis, und wir sind nur eine Windung im Ganzen.
Nimm dies, alter Bruder, es ist etwas, das
nichts ist als es selbst, nicht weniger als alles.
Hier ist Liebe weit größer als erwartet,
und Schmerz heilt besser als wir dachten.
Seltsam unterschiedlich, wie von einem anderen Stern
berühren sich Hände über die Wunde hinweg.
Haß löst sich auf im Wasser, das der Frau auf dem Scheiterhaufen
gereicht wurde.
Der Hirsch spricht: Ich trage bei mir ein winziges Samenkorn,
das die Waage mal zur einen, mal zur anderen Seite ausschlagen läßt.
Was war, lehrt uns nur, daß
Gleichgewicht der Schlüssel ist, der immer wieder verlorengeht.
Wenn weit Entferntes außer Kontrolle gerät,
bleibt doch das Zentrum gänzlich ruhig.
Nimm dies, alte Schwester, es ist das einzige Geschenk,
das Sinn hat: der Drehpunkt in der Mitte.
Mitgefühl ist hier so reichlich, daß es sich über den Rand ergießt,
und Traurigkeit reicht in manche Freude hinein.
Streng getrennt, gegenüberliegend im Dunklen,
werden Herzen sich über den Graben hinweg lieben.
Wenn die Verbrannte das Wasser annimmt, wird die Feuerhüterin befreit.
109
Wie der Hirsch, wie die Kuh, atme tief ein vom Boden des Walds,
und das heilige Versprechen wird in der Trommel lebendig.
110
Alles, was wir tun, wirkt auf die ändern, denn wir lernen voneinander.
Zusammengeführt durch den Spiralfaden, der durch die Grabhügeltrom-
mel geht.
**
HEGATTY PEGATTY
Hegatty Pegatty lebt allein. Ihr Haus duckt sich gegen den kahlen Hügel
wie ein verdörrender Pilz, und Rauch aus ihrem Ofen dreht und kräuselt
sich hinauf in den weiten einsamen Himmel. Hegatty Pegatty schaut aus
ihrem kleinen Fenster und blickt auf das leere Tal. Hegatty Pegatty geht
im Dunkeln ihre Wege, und ihre Schritte sind die einzigen, die in der
Nacht zu hören sind.
ABER:
Hegatty Pegatty gehört zu den alten Frauen, über die viele Geschichten
erzählt werden. Kaum spuckt sie einmal über ihr Gartentor oder furzt in
den Wind, schon wird das Feuer eifrig verbreiteter Gerüchte im Ofen
bizarrer und grausiger Volksmär geschürt. Dorfklatsch, Erfindung und
Fabel halten sich hartnäckig über ihr ganzes Leben hinweg wie ranken-
der Efeu. So sind die Menschenkinder, die sich verrückt machen. Nie-
mand hat so viel Angst wie die, die sich fürchten, wenn sich jemand von
ihnen unterscheidet... und Hegatty Pegatty ist eine alte Frau, die gern
allein lebt.
111
Die sich verrückt machen, sagen: Du paßt dich nicht an und deshalb
bringst du Unruhe ins Programm. Die sich verrückt machen, sagen: Wir
verstehen dich nicht, und darum ist es äußerst lästig, dir zu begegnen.
Hegatty Pegatty hört die Geschichten und spuckt über das Gartentor.
Hegatty Pegatty hört sich die Geschichten an und furzt in den Wind.
JEDOCH:
Hegatty Pegatty ist eine Hexe. Natürlich ist sie das. Erntet sie nicht selt-
same Pflanzen in ihrem kleinen Garten und braut sie nicht im Herbst
merkwürdige violette Kräutertees auf ihrem Fenstersims? (Hegatty
Pegatty schwört auf frischen Salat und Kräuterwein als Mittel für die
Gesundheit.) Singt sie nicht mit schauerlicher Stimme und ruft die
zunehmende Mondin an? (Hegatty Pegatty hat ein feines Ohr für Melo-
dik.) Springt sie nicht nackt in den winterlichen Fluß? Verspeist sie nicht
fette schwarze Schnecken zum Abendbrot und spielt Poker mit dem Teu-
fel? (Vielen Frauen sind solche Gelüste unterstellt worden.) Ist sie nicht
eine Wahrsagerin, stößt sie nicht Flüche aus, heult, bricht Gliedmaßen
und verhext? Ja, sie tut es und ist wenig geneigt, ihrer natürlichen Vita-
lität Zügel anzulegen. Es heißt, sie trüge lebendige Krähen auf ihrem
Hut, sie sei gesehen worden, wie sie auf einem Fuchs über die Hügel ritt
... oh ja.
Im Dorf kennen sie die Kinder als die Hexe, die sie höchstwahrschein-
lich ist. Sie schwirren um sie herum wie Schmeißfliegen, ärgern sie,
wenn sie durch die Straßen geht. Hegatty Pegatty spielt mit in diesem
Spiel. Sie hat es schon oft gespielt und weiß, wie es geht. Sie ist sogar
ziemlich gut darin. So macht sie ein finsteres Gesicht und stößt ihre
Knurrlaute aus, wenn die Kinder über die Dorfwiese hinter ihr herlaufen
und sie foppen.
112
DENN:
Hegatty Pegatty antwortet niemandem. Wenn sie Lust hat, trinkt sie eine
Tasse Tee, läßt Haare auf ihrem Kinn wachsen und schläft den ganzen
Nachmittag. Wenn sie Lust hat, führt sie Selbstgespräche, beobachtet,
was nicht zu sehen ist, und tut Unerwartetes. Wenn sie Lust hat, lebt sie
einen unmöglichen Traum, erfindet die Wirklichkeit neu und tanzt Tango
mit der Zeit. Hegatty Pegatty kann weder gezähmt noch festgenagelt
noch in eine Falle gelockt werden. Sie ist leichtfüßigen Sinns und schlau,
und ihre Wände sind undurchdringlich durch ihren Mut. Das Dach ist
Entschlossenheit, die Tür Entschiedenheit. Niemand kann sie, die ihre
eigene Festung ist, berühren.
Und doch ist es wahr, daß ihr Körper hundert, tausend, millionenmal
geschlagen und verbrannt wurde, geschlagen und verbrannt, angegriffen
und verletzt von den versammelten Mächten unglaublicher Angst und
brutaler Dummheit. Ja, es gab viele Nächte, in denen Hegatty Pegatty
fröstelnd und bleich in ihrem Stuhl saß und im kalten Rhythmus des Lei-
dens irgendwo auf der Welt hin- und herschaukelte. Aber eine einzige
Feuerstelle reicht, um einen Topf warm zu halten, und die Glut in Hegatty
Pegattys Ofen singt wieder. Es heißt, wenn du deinen Glauben an Hexen
kundtun willst, brauchst du nur einen Kessel aufzusetzen.
ALSO:
Hegatty Pegatty ist in einen Mantel gehüllt. Der Mantel ist aus den
Augen anderer Menschen gemacht, aus dem, was sie sehen wollen. Im
Innern dieses Mantels geht sie mit starken Schritten, aufrecht und klar,
113
leichten Herzens und offenen Sinns. Außerhalb des Mantels trägt Hegat-
ty Pegatty ihr Teil zu dem Spiel bei: sie brummelt vor sich hin, spuckt,
murrt, zieht häßliche Grimassen, schaut mit finsterem Blick, schleicht
und stolpert, schüttelt die Faust, schlürft eine Schnecke, schaut mit heim-
tückischem Grinsen, schimpft und meckert, brummelt, spuckt, grummelt,
murrt ... Die Kinder sind begeistert.
ABER:
Am Rand des Dorfes hält Hegatty Pegatty inne. Sie dreht sich in Rich-
tung auf den Fliegenschwarm von Kindern dicht hinter ihr. Sie schubsen,
zappeln, poltern, drängen sich zusammen. Sie beobachten, was sie tut.
Langsam, vorsichtig lugt Hegatty Pegatty aus den Falten ihres Mantels
hervor. Die Kinder schauen wie gebannt auf sie. Sie grinst, sie zwinkert
mit den Augen, sie steht ganz still, sie läßt die Kinder sie so lange
anschau'n, bis sie nicht mehr wissen, ist sie böse und verrückt oder nur ...
ein bißchen ... seltsam ... Und dann geht sie fort, in ihren Mantel fremder
Augen gehüllt.
Hegatty Pegatty lebt im Moor, singen die Kinder leise, während sie sich
auf ihrem Weg von ihnen entfernt... Hegatty Pegatty ÖFFNE DAS TOR!
114
The Song of
Bone Hill Hag
Black moon earth
tomb deep stone
carved bone.
Grey eyes
moon wise
dark stag
silver Hag.
Good words
well met old
pact newly
set.
Witness silent
land gifts from
ancient band.
Two valleys
one ridge
two spirals
one bridge.
116
Das Lied von der
Grabhügelhexe
Schwarzmond
Grabhügel
schwerer Stein
Geritz in Bein
Graue Augen
weiser Mond
dunkler Hirsch
silberne Hex'
117
Grabhügeltrommel
singt leise Hirsch
und Hexe verbinden
Kreise
Bone Hill
Drum sings
stag and Hag
link rings.
118
10
Nachtfalterfrau
Um dich zu finden, überschreite ich die Grenze des Tags und gehe hinaus in
die sanfte Dunkelheit der Nacht. Durch die Stille flüstere ich dir etwas
zu. Ich hauche deinen Namen in alle Himmelsrichtungen. Ich rufe dich
quer durchs tanzende Universum.
Ich strecke meine Arme aus, strecke mich ganz weit, strecke mich hinauf
zum Himmelsdach. Nimm mich mit, mit nach dort oben, laß mich fliegen,
leuchtende Mutter, laß mich hinaufkommen. Ich wünsche mir, wie ein
Feuerstrahl in den Himmel zu schießen, auf einer Welle der Ekstase zu
reiten, vorwärts, hinein in das strahlende Licht. Hier ist mein Herz, nimm
es. Hier ist meine Liebe. Hier ist mein verletzliches Leben, meine zarte
Seele. Ich gebe dir mein Herz und meine Seele. Laß mich auf dieser Welle
reiten, laß mich fliegen in die Weite des Alls. Nimm mich mit dort hinauf.
123
Gebet an das Universum
Mit meinen Fingern streife ich den glitzernden Staub, der die Vorbeiflie-
gende umgibt. Ein mächtiger aufwärts gerichteter Energiestrom nimmt
mich mit, ich steige mit ihr auf, schwebe hoch über der Landschaft
inmitten der gewaltigen Nachtwelt, die bis in die letzten Winkel des
Himmels reicht, des klaren, unendlichen Himmels, weit unten der Wald,
das Meer, die Menschen mit ihren Schicksalen, die Erde, die ihnen Hei-
mat ist, außerhalb ihrer Rhythmen und Kreisläufe, jenseits von Hoffnung
und Streben, jenseits des tiefsten Traums.
Das Universum rast vorbei, und ich jage weiter durch den Weltraum,
schneller und schneller fliege ich hinaus in Gefilde jenseits der Welt, des
Alls, jenseits von allem, immer kleiner, immer entfernter, bis alle Gren-
zen verschwimmen, alle Wahrnehmungen ineinander stürzen, das
Bewußtsein explodiert und unzählige Splitter in meinem Kopf verstreut
und vermischt sind.
124
Gebet an die Erde
Ungebunden und frei schwebe ich, treibe weit hinaus über die Ränder
von Raum und Zeit, umgeben von tiefster Stille. Um mich herum spüre
ich unendliche Weite.
Hier ist Leben und ich bin Teil des Ganzen, ein von Wundern umgebener
winziger Funke, von reiner Liebe eingehüllt. Ich bin das aufsteigende
strahlende Licht. Ich bin glücklich und empfinde inbrünstige Freude. Ich
bin die Wärme des Friedens und des geheilten Herzens.
Fäden fallen jetzt von meinen Füßen hinab, fein gesponnen und glänzend
begleiten sie mich auf meinem Flug zurück zur Erde, ein mit pulsieren-
dem Leben erfülltes Fasergespinst, stark genug, mich die ganze Zeit über
mit der Welt zu verbinden. Daß ich so hoch steigen kann und doch die
Verbindung zur Erde weit unter mir nicht abreißt, ist ein großes Geheim-
nis. Die feinen Fäden haben mir das Maß meiner Reise so zugemessen,
daß ich im Leib der Erde verwurzelt bleibe, sie vibrieren und summen,
wenn sie gespannt sind, erden meinen Flug, ziehen mich zurück, wenn es
Zeit ist, bringen mich heim. Langsam, langsam und sanft komme ich
zurück, herab auf den nach Moschus duftenden feuchten Boden der Erde.
Geliebte Erde, Mutter unseres Lebens, meine Wurzeln sinken tief ein in
dein Felsgestein, meine Haut wird von deinen waldigen Händen geküßt,
deine Hügel empfangen meinen Körper mit Liebe...
Leuchtende Mutter, Mutter Erde, Flug und Rückkehr, Flug und Rückkehr.
125
The Song of Moth
Wing Woman
126
Das Lied der
Nachtfalterfrau
Nachtfalter fliegt
durch den offenen Himmel
dahinter brennt das Große Feuer.
Nachtfalterfrau steigt auf
sie tanzt, gefangen
in der heißen süßen Luft, die oben weht.
Nachtfalterfrau taumelt,
sie läßt sich fallen und schwebt
durch das ewige Sternentor, das leicht schaukelt.
Falterfrauaugen
blicken weit beim Flug.
Sie läßt sich von der weißen Flamme endlos tragen.
Nachtfalterfrau,
ich verwurzele meine erdfeuchten Füße
und greife mit den Händen in mein nachtwolkiges Haar.
Nachtfalterfrau,
ich stehe fest auf dem Boden
und ich tanze in der kühlen sternklaren Luft.
Nachtfalterlippen
flüchtig berührt vom schnellen
zarten Kuß ihres verborgenen Segens.
Nachtfalterliebe
ihr stummer Ruf zum Flug
eine Feder vom Flügel der Freiheit.
127
Nachtfalterherz
ein Lächeln in der Nacht
das Glück eines unendlichen Wunders.
Nachtfalterseele
heller Schatten im Dunkeln
ein Wispern während zeitloser Reise.
Nachtfalterfrau,
ich verwurzele meine erdfeuchten Füße
und greife mit den Händen in mein nachtwolkiges Haar.
Nachtfalterfrau,
ich stehe fest auf dem Boden
doch ich tanze in der kühlen sternklaren Luft.
128
11
Singende Feuerfrau
Hier bin ich, Katze, streiche durch den verschlafenen Tag, den langsam
pulsierenden, träge dahinfließenden Tag.
Hier bin ich, Katze, zu Hause in meinem Dschungel, streife durch den
dichten Wald, das üppige Grün, die fleischige, saftige Welt. Hier bin ich,
Katze, springe über nasse Erde, kühl und weich vom starken Regen, es
tropft von den Zweigen.
Hier bin ich, Katze, aufs höchste gespannt, hier bin ich, ich will zu dir,
bemerkst du mich in dieser feuchtdunstigen Welt, spürst du mich kom-
men, springt ein Funke aus meiner vibrierenden Glut, hier ist Katze,
strebt zu dir hin, hier ist Katze und zerfließt im heißen Schoß des
Dschungels, hier bin ich, Katze.
Ahhhh... hier ist Katze, die dich sieht, braun und zusammengerollt im
Schlaf, den Dschungel träumend, hier bin ich, Katze. Dein süßer, berau-
schender Duft steigt mir zu Kopf, vermischt sich mit meinem, ich bin
ganz nah bei dir, lasse mich sachte neben dich gleiten, hier ist Katze, die
neben dir atmet, sich kaum bewegt, dicht bei dir, die du dich ausruhst.
Und ich warte. Siehst du mich an aus deinen träumenden Augen, wie ich,
Katze, dich anschaue, ich, Katze, halte inne für einen Moment deines lei-
sen Schlafs, Glühen und Glimmen, sanft auf dem Waldboden ruhend,
hier ist Katze, die neben dir atmet und sanft, sanft niedergleitet.
Hiiiaahh! Heftiger Schock! Du! Richtest dich auf! Hier ist Katze! Ich bin
neben dir! Ich bin Katze! Ich komme! Hier ist Katze, die brüllt und
133
kommt! Ich bin Katze, wir springen miteinander! Es geht los! Ich bin
Katze, von Freudeschauern geschüttelt, ich bin Katze, in Flammen ste-
hender Körper, ich bin Katze, voll Glut und Leidenschaft, ich bin Katze,
auf einem heißen Luftzug kreuzend, Schreien und Knurren, Schreien und
Knurren, lauter, höher, weiter, mehr, mein zitternder Schweif ist eupho-
risch wie ich.
Hier bin ich, Katze, mein vergossener Schweiß vermischt mit dem deinen.
Hier bin ich, Katze, keuchend im Unterholz, klein die Augen, Ohren auf-
gestellt, den leise züngelnden Flammen des Feuers zu lauschen, das lich-
terloh brannte mitten an diesem dampfenden, träge dahinfließenden Tag.
Einst geschah es, daß die Stimme einer Frau, die ein Lied in sich ver-
schlossen trug und seit ihrer Kindheit nur entmutigt worden war, sich
eines Tages weigerte, länger still zu sein. Als es aus ihr herausbrach, war
das Gesicht der Frau blaß und stark angespannt, aber als die ersten unsi-
cheren Töne erklangen, wuchs ihr Mut, und sie öffnete sich weit und
weiter, bis sie sich heftig in die Räume ihres erwachenden Gesangs hin-
ein verströmte und ihm Leben gab. Die Augen aller, die ihre Befreiung
miterlebten und das Geschenk mit empfingen, leuchteten vor Erstaunen.
134
The Song of Fire Pit Singing
136
Lied der Singenden Feuerfrau
Am Fluß gibt es eine Frau,
die heißt Singende Feuerfrau
und sie springt durch den Dschungel
und sie streunt durch den dunstigen Wald
und ihre Haut ist heiß und glänzt
und sie kauert am Wasser
und sie gräbt im groben Sand
und sie sammelt Flußsteine
und sie legt sie in das Feuerloch
und sie zündet ein kleines Feuer an
und die Flammen züngeln leicht
und sie erhitzt die Flußsteine
und sie bricht sie auseinander
und sie kostet das schmelzende Innere
und sie trinkt den flüssigen Stein
und es fließt wie Bernsteintropfen
und sie schluckt das Feuerlied
und es fließt wie Bernsteintropfen
und sie schluckt das Feuerlied
und sie hockt am Feuer
und das Lied sinkt tief in sie ein
und es wächst in ihrem Leib
und sie rollt sich zusammen in der Asche
der Feuerstelle am Fluß.
137
and she moves within a spring coiled
and she's pausing at the sand hole and
she watches Fire Pit Singing and she's
waiting by the ashes and she waits
within a spring coiled and her wild cat
eyes are flashing and her wild cat eyes
are flashing.
138
und sie bewegt sich in äußerster Spannung und
sie bewegt sich in äußerster Spannung und sie
hält inne bei einer Sandkuhle und sie sieht
Singende Feuerfrau und sie wartet bei der
Asche und sie wartet in äußerster Spannung
und ihre Katzenaugen blitzen und ihre
Katzenaugen blitzen.
139
12
Schwarzekorallenfischmutter
Sie sagten, ich sollte nicht am Strand entlang zu der kleinen Fischerhüt-
tensiedlung gehen. Sie sagten, die Leute dort praktizierten Schwarze
Magie und der Ort strahle schlechte Energie aus. Ich lächelte unbeein-
druckt, berauscht von der von schweren Düften erfüllten Abendluft, und
lenkte meine Schritte dem Strande und der im Nebelschleier untergehen-
den Sonne zu.
Meine Füße stapften durch den grobgrauen Sand, abgeschürft vom
dunklen Vulkanfelsen der Insel. Der Strand war hier sehr schmal,
begrenzt von Palmen und den hübsch gestrichenen Häusern des Dorfes.
Frühabendliche Geräusche drangen zu mir herüber, als ich vorbeiging,
bald schon hatte ich das letzte Haus hinter mir gelassen und hörte nur
noch das sanfte Rollen der Wellen, das ich in mich aufnahm. Der Strand
war übersät mit glatten und zerbrochenen Muschelschalen und großen
Brocken grauer Korallen, die vom Meer so bearbeitet und geschliffen
waren, daß sie alten herumliegenden Schädeln glichen. Viele Spuren lie-
fen durch den Sand, und auf den Korallen lagen gelbe Eidechsen und
genossen die letzte Wärme des Tages.
Zuerst nahm ich den Geruch wahr, einen scharfen Fischgeruch in der
leicht wehenden Brise. Die Fischersiedlung war nicht mehr weit. Zwi-
schen den Bäumen blitzten farbige Flecken auf, und auf der Oberfläche
des flachen Wassers schwamm eine dicke Schicht von Fischschuppen,
die sich an meinen Knöcheln festsetzten. Anderer Abfall des Meeres lag
überall an der Küste herum.
Der Strand verbreiterte sich. Tiefe Wasserrinnen liefen durch den
Sand zum Meer, und vor mir nahm eine Horde Kinder ein schnelles Bad.
Ein wenig landeinwärts hinter dem Unterholz erblickte ich die Mauer
einer Siedlung. Oberhalb der Flutgrenze lehnte eine Reihe von farbig
leuchtenden Fischerbooten an ihren Auslegern aus kräftigem Bambus.
143
Zwischen ihnen waren Netze ausgelegt und an einigen Stellen saßen
Leute, die mit Reparaturen beschäftigt waren. Etwas weiter hockte eine
größere Gruppe älterer Frauen bei den Booten. Sie rauchten, scherzten
und lachten, während sie sich lautstark unterhielten, den Sand mit den
Händen klopften oder mit den Armen durch die Luft fuhren. Sie waren
ganz auf ihre Runde konzentriert und schienen mich nicht zu bemerken,
als ich vorbeiging. Ich schlug den Weg ein, der vom Meer weg und in die
Siedlung hineinführte.
Eine Reihe von Hütten stand wahllos verteilt im dichten Schatten
unter den Bäumen, wo Fliegenschwärme sich wie wild gebärdeten und
Hunde und Kinder beim Rennen grauen Sand aufwirbelten. Der Rauch
von Kochstellen kringelte sich über den Hütten. Drinnen war der Gesang
von Metalltöpfen und Stimmen zu hören. Neue und ausgebleichte Stoff-
streifen waren an Leinen aufgehängt, die an den Dachpfählen befestigt
waren. Ich wanderte über die schmalen Wege in die Mitte des Lagers.
Dort saßen Männer gebeugt auf Bänken um eine Hütte herum, in der
einer von ihnen Schnaps in kleinen undurchsichtigen Gläsern ausschenkte.
Die Männer tranken in Ruhe, im Gegensatz zum lebhaften Austausch
unter den Frauen unten am Strand sprachen sie nur leise und wenig mit-
einander. Als ich näherkam, blickten sie auf und sprachen nicht mehr.
Einer wies auf einen Platz, und schon saß ich mit ihnen zusammen unter
den Bananenpalmen, trank von dem starken farblosen Schnaps und sah
zu, wie das rosafarbene Meer langsam dunkler wurde.
Nach einiger Zeit tauchte eine der Frauen auf, die am Strand gesessen
hatten. Ihre breiten Hüften wiegten sich hin und her, und sie hatte eine
Pfeife zwischen den Zähnen. Als sie nähergekommen war, blieb sie bei
einem alten Mann mit Bambusstock stehen, sagte etwas Freundliches,
klopfte ihm auf den Rücken. Dann ging sie zu der Hütte, wo der Schnaps
ausgeschenkt wurde, und bekam ein Glas. Sie legte ihre Pfeife weg,
machte die Augen zu, leerte das Glas mit einem Zug und schürzte befrie-
digt die Lippen. Dann schaute sie mich geradeheraus an. Sie studierte
einige Minuten lang mein Gesicht, bevor sie herüber kam und sich zu
mir beugte. Sie roch nach Fisch und süßem Kokosnußöl. Ich hätte gern
ihre glatte schweißglänzende Haut angefaßt. Ganz unerwartet kniff sie
144
mich in die Backe. Sie richtete sich auf und verfiel in ein tief im Bauch
glucksendes Lachen, das noch in der Luft hing, als sie längst wieder zum
Strand unterwegs war.
Als die Sonne untergegangen war, zerstreuten sich die Fischersleute,
um ihren abendlichen Beschäftigungen nachzugehen, und ich machte
mich auf den Weg zurück zum Dorf. Der Abend brachte eine kühlere
Brise. Meine nichtsahnenden, ungeübten Füße waren aufgeschürft von
den Korallenschädeln auf dem schwarzen Sand. Es war dunkel, als ich
zurückkam. Ich hatte in der Siedlung nichts Böses verspürt, kein heimli-
cher Zauber oder Fluch begleitete mich. Aber als sie hörten, wo ich
gewesen war, holte die Familie, bei der ich wohnte, Knoblauchzwiebeln,
hängte sie an meine Fenster und verrieb einiges von ihrem Saft auf meiner
Türschwelle. Sie schalten mich, weil ich es riskiert hatte, Kontakt mit den
Fischerleuten aufzunehmen, die da draußen in einer anderen Kultur
lebten, draußen am Meeresufer. Mehr geschah nicht. Die Erinnerung
daran aber ist immer noch da, obwohl seitdem eine lange Zeit vergangen
ist. Farben, Gerüche, die Laute des abendlichen Zwielichts, die Berührung
der Haut; jede Einzelheit trägt, Stück für Stück, zu den aufgehäuften
Bildern bei, aus denen sich die Geschichte zusammenfügt, die dahinter
verborgen ist. Das Gefühl für eine Geschichte, die erzählt werden will.
Ein lebendig in Erinnerung gebliebenes Gesicht, das mich anschaut und
in das ich hineinschaue, läßt alle Nuancen wieder in mir wach werden.
145
Wänden entlang, bis sie an einen Eingang kommt; Spuren der ehemaligen
Pfeiler sind noch zu sehen. Sie stößt die rostige Tür auf und tritt ein -im
Schatten das Rascheln von aufgestörten Eidechsen und Ratten.
Ruhig geht Schwarzekorallenfischmutter hindurch zwischen den ver-
lassenen Steinen und den alten Grabmälern, einige zerbröckelnde Stufen
hinauf bis ins Zentrum, wo - als einziges intakt - ein Bogengang steht. Sie
bleibt stehen und setzt ihren Sack ab. Sie zieht die Kordel auf und holt
einen alten Kopfschmuck aus Holz hervor, dessen Schnitzwerk in den
Farben verblaßt ist und häufig benutzt aussieht. Sie setzt ihn sich auf den
Kopf, schaut auf die Mondin und hockt sich nieder zum Warten.
Ein alter Mann nähert sich dem Tempel. Er geht sehr langsam, vorsich-
tig, durch einen Bambusstock gestützt. Stück für Stück kommt er voran
entlang der Mauern, durch die Tür hindurch, die quietscht, verschwindet
im Mondschatten und kommt wieder aus den Ruinen heraus ins fahle
Licht. Unterhalb der Stufen zögert er, beugt sich vor, horcht aufmerksam,
schaut unruhig um sich. Schwarzekorallenfischmutter sitzt still und
bewegungslos am Fuß des Torbogens. Dann erleuchtet das Mondlicht
eine Hälfte ihres Gesichts, und der alte Mann seufzt. Er beginnt die zer-
fallenden Stufen hinaufzugehen.
146
und mit niemand geteilt werden kann; miterlebt werden
kann nur das Scheiden. Schwarzekorallenfischmutter
wacht über die Scheidenden.
Der alte Mann ist oben angelangt und steht jetzt vor dem Torbogen. Er
starrt hindurch, als warte er auf ein Zeichen, eine Einladung, aber er sieht
nichts als die Tempelruinen dahinter liegen. Lange Zeit steht er dort so,
während sie neben ihm sitzend wartet. Schließlich wendet er sich ihr zu
und hebt fragend eine Augenbraue. Sie sitzt da und schaut, ganz still. Auf
einmal geht er geradewegs auf den Bogen zu, durch ihn hindurch und ...
ist verschwunden.
Schwarzekorallenfischmutter bleibt einen Moment noch sitzen, steht
auf, nimmt den Kopfschmuck ab, packt ihn ein und geht zurück zur Sied-
lung. Der jetzt verlassene Bezirk atmet aus, einen einzigen Atemzug lang,
wie ein Seufzer des alten Mannes.
Am Strand sind immer noch die Lichter der Fischerboote am Horizont
zu sehen. Die meisten Hütten sind dunkel, nur vor zweien brennt ein
Feuer, dort haben sich alle Frauen versammelt. In der einen Hütte ist ein
betagter Fischer ganz ruhig gestorben, und seine Angehörigen bereiten
den Ritus vor. In der anderen liegt eine Frau in den Wehen, und Schwarz-
ekorallenfischmutter hebt den Türvorhang und geht hinein.
Als die ersten hellen Streifen der Morgendämmerung die Siedlung ein-
hüllen und die Fischerboote in Richtung Küste unterwegs sind, kommt
Schwarzekorallenfischmutter aus der Hütte. Ein winziges Neugeborenes
wird in die Höhe gehalten und wandert von Arm zu Arm unter der ent-
zückten Gesellschaft; im kleinen Haus feiern sie die Mutter mit Glucksen
und Freudenrufen.
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Schwarzekorallenfischmutter läßt Wasser über ihre Arme und Hände lau-
fen. Sie stopft sich eine Pfeife, steckt sie an, holt ihr Fischmesser heraus
und geht zu den Booten hinunter, wo der Fang ausgeladen wird auf dem
schwarzen vulkanischen Sand.
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The Song of Black Coral Fishmother
Fishmothers are crowing as we squat
below the wooden boats and spit and
smoke the evening and our jabbing
tongues are leaping through the silverfish
blood shallows as we cast the eye and
read the black sand.
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Schwarzekorallenfischmutters Lied
Fischmütter schreien, während wir
bei den Holzbooten sitzen und
in den Abend hinein rauchen und spucken und
schwatzende Zungen über das
fischsilbrige und blutrote seichte Wasser hüpfen,
während wir schauen und die Spuren im schwarzen Sand
lesen.
Korallenschwarze Schädelfrau
Schmale Eidechsenspurfrau
Vulkansandfrau
Fischwasserhändefrau
Scharfesholzaugefrau
Seelenfängertorfrau
Lautspottendegeisterfrau
Kräftiglachendetodesfrau
Korallenschwarze Schädelfrau
Schmale Eidechsenspurfrau
Vulkansandfrau
Fischwasserhändefrau
Scharfesholzaugefrau
Seelenfängertorfrau
Lautspottendegeisterfrau
Kräftiglachendetodesfrau
151
Begleiterinnen achten auf die Sterbenden
die durch den zerfallenden Torweg des
Tempels gehn, und wir greifen durch das
purpurne Tor und ziehen die
Neugeborenen in den rosaroten Morgen.
Die Boote kehren heim beim Hellwerden.
Korallenschwarze Schädelfrau
Schmale Eidechsenspurfrau
Vulkansandfrau
Fischwasserhändefrau
Scharfesholzaugefrau
Seelenfängertorfrau
Lautspottendegeisterfrau
Kräftiglachendetodesfrau
152
13
Großmutter Windweberin
Sie war die erste, und sie ist die letzte ... so ungefähr ... denn eigentlich
gibt es kein Ende und keinen Anfang. Auf eine gewisse innere Entfer-
nung hat sie dich immer im Auge, wenn du aber einen Blick von ihr
erhäschen willst, mußt du entweder sehr schnell oder auf Abwegen oder
völlig arglos sein.
Wie kannst du sie also finden? Dich hinlegen, den Atem anhalten,
rückwärts gehen ... alles ist möglich. Ein Spiegel muß natürlich da sein.
Du weißt, daß hier weder Gesetze der Zeit noch Gesetze des Raumes
gelten. Die Reise kann lange dauern, aber die Ankunft geschieht plötz-
lich. Der Zugang ist täuschend einfach. Der Ort, seine Lage und sein
Aussehen, verändert sich ständig, aber die erste Begegnung hinterläßt
einen tiefen Eindruck und steigt immer wieder ins Bewußtsein auf.
Mein Erlebnis: Am Ende eines überaus tückischen Pfads entlang der
Steilküste stoße ich direkt auf die Weidengeflechttür einer großen runden
Hütte, aufgehängt in dünner Höhenluft. Blanker Lehmboden, ein leerer
Raum, mit Ausnahme des Spiegels natürlich und eines kleinen Hockers.
Vielleicht noch eine Zinnschüsse]? Manchmal ja. - Ich sehe sie nicht,
aber ich spüre sie, weiß daß sie da ist. In den Spalten im Gefüge von
Raum und Zeit hält sie sich versteckt.
Ich gehe auf den Spiegel zu, und wenn ich meine Augen mal nach
hier, mal nach dort schweifen lasse, sehe ich ab und zu für einen kurzen
Moment, wie sie mich beobachtet. Wenn ich mich dann umdrehe, hat
sich der Raum jedesmal völlig verändert, und sie steht wieder da. Sol-
ches Spiel treibt sie gern, und ich werde immer neu davon überrascht.
Jetzt schwingt sie ihren Handbesen, stößt damit in die knisternde
Luft, während sie auf mich zukommt. Es gibt keine Chance, ihr auszu-
weichen; schon ist die andere Tür offen, ich werde hinausgefegt, falle
hintenüber, stürze in großer Geschwindigkeit hinab durch den leeren
157
Raum. Daran habe ich mich inzwischen gewöhnt.
Dann wird noch einmal alles anders.
Meistens habe ich als erstes das Gefühl tiefen Friedens, wenn ich von
der Mitte des riesigen schalenförmigen Webstuhls in den Kreis von
Gesichtern an seinem Rand hoch über mir blicke. Wie sicher aufgehoben
sind wir doch im Schoß des in leuchtenden Farben strahlenden Stoffs des
Lebens!
Die alten Hände arbeiten schnell und sicher, während sie die Fäden
verweben und verknüpfen. Dreizehn Weberinnen am Webstuhl, Drei-
zehn, die unser Haus weben. Eine von ihnen schenkt mir immer etwas,
bevor ich sie verlasse, sie geben mir ein kleines bißchen von ihrem Vorrat
an Freundlichkeit, einen Stein oder weise Worte, die ich bewahren kann.
Ich gehe hinaus durch die Weidentür. Manchmal treffe ich mich selbst
beim Hineingehen.
Auf irgendeine Weise wirken die Weberinnen bei jeder Geschichte
mit. Siehst du die alten Frauen, die sich liebenswürdigerweise versam-
meln, bevor die nächste Geschichte beginnt? Laß dich nicht irremachen,
sie sind es. Sie greifen auf verschiedenen Ebenen auf unterschiedliche
Formen der Verkleidung zurück, aber ich lerne schnell und erkenne die
Zeichen, die mir etwas sagen wollen. Es kann sein, daß sie klagen und
trillern, um mich von der Fährte abzubringen, aber am Ende hinterlassen
sie doch einen Schlüssel für mich.
Inzwischen habe ich einen eigenen Webstuhl, an dem ich sitze. Ich
arbeite langsam, aber es lohnt sich. Ich habe auch noch eine zusätzliche
Tür gefunden. Ich höre, wie sie auf der anderen Seite der Kettfäden sitzen
und flüstern. Beim ersten Mal, als eine von ihnen ihre Hand zu mir
hindurchsteckte, während ich webte, war ich geschockt. Jetzt warte ich
schon auf diesen Kontakt, auf das andere Paar Hände, das sich im
Gleichklang mit dem meinen bewegt.
Das Haus der Weberinnen ist nicht so weit weg, wie du denkst. Es ist
sogar ziemlich in der Nähe. Und ein Spiegel hilft immer, es zu finden.
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The Song of Grandmother Weaves-the-Wind
She's coming. She's coming. Quick, quick, hurry up. She has come.
What is this place ? What is this place ?
What do you want girl? What do you want? What do you want, girl?
What is this place ?
There is no place. No place. No place.
You know that nothing is as it seems.
But there 's nothing here.
Precisely! Ha! Precisely!
A witch who's kind saves time.
But where do you keep it?
In my pocket of course! Want a nice piece of time, girl?
/ have no time. I'm out of time.
It takes time. It takes time.
Give it to me.
What? What do I give you?
Your madness. Will you bring me your madness, child?
But l need it. l need it.
Then I sweep, sweep, sweep you out of the door.
Push her.
But Idon't know how to fly.
You don't need wings. Use your memory. Use your memory.
And so we cast our daughters to the flying winds.
You are weaving your own footsteps.
But we will be watching you.
Shuttle moves round in a circle of thirteen
And we sound our rattles and we beat our drums
We're moving slow on the cold sand
Shuttle moves round in a circle of thirteen
160
Das Lied von Großmutter Windweberin
Sie kommt, sie kommt. Schnell, schnell, beeilt euch. Sie ist da.
Wo bin ich hier? Wo bin ich?
Was willst du, Mädchen? Was willst du? Was willst du, Kind?
Was für ein Ort ist dies?
Es ist kein Ort. Kein Ort. Kein Ort.
Du weißt - nichts ist, wie es scheint.
Aber es ist nichts da.
Genau! Ha! Genau!
Eine Hexe, die's gut meint, spart Zeit.
Aber wo hebst du sie auf?
In der Tasche natürlich! Möchtest du ein schönes Stück Zeit, Kind?
Ich habe keine Zeit. Ich bin aus dem Takt.
Es braucht Zeit. Es braucht Zeit.
Gib ihn mir.
Was? Was gebe ich dir?
Deinen Wahn-Sinn. Du wirst mir deinen Wahnsinn geben.
Aber ich brauche ihn. Ich brauche ihn.
Dann fege, fege ich dich aus der Tür hinaus.
Gebt ihr einen Schubs.
Aber ich kann nicht fliegen.
Du brauchst keine Flügel. Nur dein Gedächtnis. Nutze dein Gedächtnis.
Und wir warfen unsre Töchter in den sausenden Wind.
Du machst deine eigenen Schritte.
Aber wir passen auf dich auf.
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Und wir schütteln unsre Rasseln, und wir schlagen die Trommel
Wir gehen ganz langsam durch den kalten Sand
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Wir singen vom Innersten deines Herzens, wir singen von deinen
traurigen Augen
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
161
We will dance 'til our spirit bleeds
We will dance 'til our spirit bleeds
Shuttle moves round in a circle ofthirteen
Mbaba Mwana, Waresa Songi ye ye
Shuttle moves round in a circle ofthirteen
Become the rhythm of the Old Song
Become the rhythm of the Old Song
Shuttle moves round in a circle ofthirteen
Makakeshe wakiva momo, Makakeshe wakiva momo
Shuttle moves round in a circle ofthirteen
Who will meet the witch queen as we sweep the snow clean?
Shuttle moves round in a circle ofthirteen
We shall eat from you, we shall drink of you
Shuttle moves round in a circle ofthirteen
Hegatty Pegatty lives on the moor, Hegatty Pegatty open your door!
Shuttle moves round in a circle ofthirteen
We ride the white flame unbounded
Shuttle moves round in a circle ofthirteen
And we move within a spring coiled, and we light the fires of many
Shuttle moves round in a circle ofthirteen
Big laughing death women
Shuttle moves round in the House ofthe Weavers
Shuttle moves round in the House ofthe Weavers
Shuttle moves round in the House ofthe Weavers
162
Wir tanzen, bis unsere Seele blutet
Wir tanzen, bis unsere Seele blutet
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Mbaba Mwana, Waresa Songi ye ye
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Werde der Rhythmus des alten Lieds
Werde der Rhythmus des alten Lieds
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Makakeshe wakiva momo, Makakeshe wakiva momo.
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Wer wird der Großen Königin begegnen, während wir den Schnee
blankfegen?
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Du gibst uns zu essen, du gibst uns zu trinken
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Hegatty Pegatty lebt im Moor, Hegatty Pegatty, öffne das Tor!
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Wir lassen uns von der weißen Flamme endlos tragen.
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Und wir bewegen uns in höchster Spannung und entzünden
das Feuer in vielen
Das Webschiffchen macht die Runde der Dreizehn
Kräftig lachende Todesfrauen
Das Webschiffchen macht die Runde im Haus der Weberinnen
Das Webschiffchen macht die Runde im Haus der Weberinnen
Das Webschiffchen macht die Runde im Haus der Weberinnen
163
Die kreisende Spirale
Großmutter Windweberin kommt, und plötzlich ist Stille. Sie ist die
magische Dreizehnte, die Letzte. Sie beendet den Kreis und läßt ihn neu
beginnen, sie schließt die Lücke. Der Rat der weisen Alten ist versam-
melt.
Während ich die Dreizehnte male, wird mir bewußt, daß die beiden
Enden meines Kreises sich nicht ganz zusammenfügen, daß sich zwi-
schen ihnen eine Lücke aufgetan hat. Großmutter Windweberin sitzt
nicht neben Großmutter Schildkröte, sondern weiter nach außen in einer
gewissen Entfernung. Ich bin nicht exakt in einem Kreis gereist, sondern
in einer Spirale, einer Spirale, die sich fortsetzt ohne Ende.
Aus dem Kreis heraus machen wir einen Schritt, der uns zu einem
neuen Zyklus führt. Wir reisen weiter, bewegen uns fort, sanft, unge-
stüm, in Freude, in Leid, immer auf der Spirale mit ihren Windungen,
hinein in das Geheimnis, in unsere Erinnerung, unser Wissen und unsere
Lieder.
164
Der Kreis der Dreizehn
Die dreizehn weisen Alten, die uns in den Geschichten und in den Liedern
begegnen. Und die Landschaften, zu denen sie gehören:
16
5
Gute Honigmutter (Good Mother Honey) Erntemutter, die
Fruchtbarkeit und Überfluß schenkt, Versor-gerin der
Haustiere, Bienenkönigin - Wiesen und Weiden, Obst-und
Gemüsegärten (8 / S.93)
166
Carolyn Hillyer
lebt und arbeitet in Dartmoor,
der wilden Moorlandschaft des
südwestlichen England, die sie
als "ständige Quelle der Inspira-
tion" für ihre Bilder, ihre Texte
und ihre Musik bezeichnet. Ihre
Themen sind die Kräfte der
Natur, alte Mythen und das
Weibliche in der Spiritualität.
16
7