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Walter Hell
195 Abbildungen
Impressum
Bibliografische Information Rechtsprechung und Gesetzgebung sind einer stän-
der Deutschen Nationalbibliothek digen Entwicklung unterworfen. Gesetzesänderun-
gen sind die Folge. Obwohl der Autor alles getan hat,
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese um die Daten und Informationen in diesem Lehr-
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; buch mit größter Sorgfalt zusammenzustellen, so
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet dass die Angaben genau dem Wissensstand bei
über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Fertigstellung des Werkes entsprechen, kann keine
Garantie für die Richtigkeit und Änderung der
Rechtslage gegeben werden.
Ihre Meinung ist uns wichtig! Bitte schreiben Sie
uns unter: www.thieme.de/service/feedback.html
DOI 10.1055/b-005-145216
5
Vorwort zur 8. Auflage
de“, der sich aufgrund der Bundestagswahl erfahrener Redakteur zahlreiche und fach-
im Herbst 2017 geändert hat. lich fundierte Vorschläge bei der Über-
arbeitung dieser Auflage gemacht hat.
Neben der Aktualität eines Lehrbuches Gerade mir als Jurist fehlt gelegentlich der
kommt es auch darauf an, dass die Leser zutreffende medizinische Fachausdruck, so
den Inhalt verstehen und das Buch gerne dass seine Unterstützung wesentlich zum
in die Hand nehmen. Zu diesem Zweck Gelingen dieser Auflage beigetragen hat.
wurde Wert auf eine verbesserte Darstel- Seine Vorschläge waren mir stets eine gro-
lung gelegt, die sich in zusätzlichen Abbil- ße Hilfe.
dungen und einer übersichtlichen farb-
lichen Gestaltung zeigt. Neusäß, Januar 2018 Walter Hell
6
Aus dem Vorwort zur 1. Auflage
Ist ein weiteres Lehrbuch für das Fach „Ge- Zur leichteren Verständlichkeit tragen auch
setzes- und Staatsbürgerkunde“ notwendig die zahlreichen Abbildungen und Beispiele
oder überflüssig? bei, die den Stoff veranschaulichen und
den Praxisbezug herstellen.
Meine Lehrtätigkeit an der Krankenpfle-
geschule in Augsburg hat mir gezeigt, dass Ein weiteres Anliegen war es, die Fülle des
dieses Unterrichtsfach wegen seiner im vorgegebenen Unterrichtsstoffes, die sich
Vergleich zu den medizinischen Fächern aus dem Zugrundelegen der Ausbildungs-
völlig anderen Inhalte meist unbeliebt ist. und Prüfungsordnung für die Berufe in der
Dies hängt wohl nicht nur damit zusam- Krankenpflege ergab, so überschaubar wie
men, dass die Schüler oft die Notwendig- möglich darzustellen.
keit dieses Faches für ihren Beruf nicht er-
kennen, sondern dass es auch schwierig Aufgabe des Buches kann und darf es nicht
ist, juristisches Wissen an Laien zu vermit- sein, den Leser und Schüler zu einem
teln, nicht zuletzt wegen der meist unver- „Rechtsberater“ auszubilden und alle Rechts-
ständlichen Sprache. probleme vollständig zu behandeln. Ent-
scheidend ist vielmehr, dass die Grundzüge
So besteht das Hauptanliegen dieses Bu- und Strukturen unseres Rechtswesens und
ches darin, die Grundprinzipien unseres unseres Staates vermittelt werden und dies
Staates und juristisches Grundwissen auf dazu beiträgt, die Leser zu kritischen
verständliche Art und Weise darzulegen. Staatsbürgern zu erziehen.
Um dies zu verwirklichen, wurde jeder So soll das Buch nicht nur als ein reines
Satz mit einem „NichtJuristen“, nämlich Lehrbuch dienen, sondern den Leser be-
dem Mediziner Dr. Rotter, durchgespro- gleiten und zum Nachschlagen anregen.
chen und auf seine Verständlichkeit hin
überprüft. Es wurde bewusst auf juristi- Biburg, im Frühjahr 1995 Walter Hell
sche Präzision und Vollständigkeit verzich-
tet, um schwierige juristische Zusammen-
hänge vereinfacht darzustellen. Es ging
mehr darum, eine zugängliche Sprache zu
finden, als allen juristischen Eventualitäten
Rechnung zu tragen.
7
Inhaltsverzeichnis
I Staatsbürgerkunde
1.1.1 Staatsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
1.1.2 Staatsvolk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
1.1.3 Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.1 Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.2 Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.3 Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
2.4 Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
8
Inhaltsverzeichnis
2.5 Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
2.5.1 Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
2.5.2 Verteilung von Kompetenzen und Zuständigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . 46
3 Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
3.3.1 Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
3.3.2 Grundrechtsimmanente Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
3.3.3 Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
3.3.4 Verwirkung von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
3.3.5 Gemeinschaftsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.4.1 Menschenrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.4.2 Bürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
4 Wahlrecht ............................................ 58
4.1 Wahlberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
4.2 Wahlrechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
9
Inhaltsverzeichnis
4.3 Wahlsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
4.3.1 Mehrheitswahlsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
4.3.2 Verhältniswahlsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
4.4 Bundestagswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
5 Oberste Bundesorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
5.1 Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
5.2 Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
5.3 Bundespräsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
5.4 Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
5.5 Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
10
Inhaltsverzeichnis
6.1 Gesetzgebungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
6.2 Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
6.2.1 Einleitungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
6.2.2 Beschlussverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
6.2.3 Abschlussverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
6.2.4 Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
7.1 Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
7.2 Landkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
7.3 Bezirk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
7.4 (Bundes-)Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
11
Inhaltsverzeichnis
10.4 Wie wirken die Organe der Europäischen Union zusammen? . . . . 112
12
Inhaltsverzeichnis
II Strafrecht
13
Inhaltsverzeichnis
14
Inhaltsverzeichnis
15.8 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 ff StGB) . 179
15
Inhaltsverzeichnis
18 Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
III Zivilrecht
19 Schuldrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
16
Inhaltsverzeichnis
17
Inhaltsverzeichnis
23 Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
18
Inhaltsverzeichnis
19
Inhaltsverzeichnis
IV Arbeitsrecht
25 Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
20
Inhaltsverzeichnis
26 Arbeitnehmerschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
21
Inhaltsverzeichnis
27 Tarifvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
22
Inhaltsverzeichnis
28 Betriebsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
29 Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
V Sozialrecht
31 Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
23
Inhaltsverzeichnis
32 Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
24
Inhaltsverzeichnis
35 Arbeitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
25
Inhaltsverzeichnis
VI Berufsrelevante Nebengesetze
26
Inhaltsverzeichnis
39 Betäubungsmittelrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444
40 Bestattungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
41 Lebensmittelrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
42 Medizinprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
27
Inhaltsverzeichnis
43 Infektionsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
28
Inhaltsverzeichnis
45 Personenstandsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
46 Unterbringungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
Anhang
48 Prüfungsvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
29
Inhaltsverzeichnis
30
I Staatsbürgerkunde 1 Staat „Bundesrepublik
Deutschland“ 32
2 Staats- und
Regierungsform der
Bundesrepublik
Deutschland 37
3 Grundrechte 48
4 Wahlrecht 58
5 Oberste Bundesorgane 67
6 Gesetzgebung des
Bundes 88
8 Wirtschaftsordnung
der Bundesrepublik
Deutschland 99
9 Rechtsprechung in
der Bundesrepublik
Deutschland 103
§
Abb. 1.1 Bestandteile eines Staats.
32
1.1 Wesen eines Staates
Abstammungsprinzip Territorialprinzip
●
dem 20.12.2014 muss das Kind nicht mehr
Beispiel
I entscheiden, sondern kann beide Staats-
bürgerschaften behalten, wenn es sich bis
zur Vollendung seines 21. Lebensjahres
Wird ein Kind deutscher Eltern in Frank- entweder 8 Jahre in Deutschland aufgehal-
reich geboren, erwirbt es aufgrund des ten hat oder 6 Jahre eine Schule besucht
Abstammungsprinzips die deutsche und oder über einen in Deutschland erworbe-
aufgrund des Territorialprinzips die fran- nen Schulabschluss bzw. abgeschlossene
zösische Staatsangehörigkeit (allerdings Berufsausbildung verfügt.
erst mit seiner Volljährigkeit, wenn es zu Speziell die deutsche Staatsangehörig-
diesem Zeitpunkt in Frankreich seinen keit kann außer durch Geburt auch durch
Wohnsitz hat und seit seinem 16. Lebens- Adoption und Einbürgerung erworben
jahr dort wohnt). Es hat demnach eine werden (Näheres regelt das Staatsange-
doppelte Staatsangehörigkeit! hörigkeitsgesetz). Bei Erwerb der Staats-
angehörigkeit durch Geburt reicht es aus,
33
Staat „Bundesrepublik Deutschland“
wenn ein Elternteil die deutsche Staats- ten war. Weiter wurde die Hauptstadt Ber-
1 angehörigkeit besitzt. lin in 4 Sektoren aufgeteilt.
In der Konferenz von Potsdam (17.7. bis
2.8.1945) beschlossen die 4 Siegermächte
1.1.3 Staatsgewalt im Potsdamer Abkommen u. a., dass demo-
Die Staatsgewalt wird nur innerhalb des kratische Parteien zugelassen werden und
Staatsgebiets ausgeübt (Gebietshoheit). Sie bis auf Weiteres keine zentrale deutsche
ist erforderlich, um die notwendigen Rechts- Regierung entstehen sollte. Bereits nach
normen zu schaffen und deren Beachtung dieser Potsdamer Konferenz bildeten sich
durchzusetzen bzw. deren Verletzung zu zum ersten Mal wieder in allen deutschen
ahnden. Diese „ordnende Gewalt“ wird vor Ländern demokratische Parteien, nachdem
allem durch Polizei und Justiz ausgeübt. 1933 alle Parteien außer der NSDAP ver-
Aber auch das Parlament verfügt dies- boten worden waren. So kam es 1946/47
bezüglich über Macht, weil es Gesetze er- zu den ersten Landtagswahlen und zur
lassen kann, an deren Beachtung der Ein- Bildung von Landtagen und Landesregie-
zelne gebunden ist. rungen. Herausragende Persönlichkeiten
waren:
● bei der SPD Kurt Schumacher,
1.2 Entstehung der ● bei der CDU Konrad Adenauer,
34
1.3 Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands
35
Staat „Bundesrepublik Deutschland“
formen in Polen und Ungarn kam. Von die- einen Besuch ab. Die rasche politische Ent-
1 ser Politik distanzierte sich jedoch die poli- wicklung führte am 18.3.1990 zu Volks-
tische Spitze der DDR, im Gegensatz zum kammerwahlen. Die Wahlbeteiligung lag
Volk, das die Zeichen der Zeit erkannte. bei 93,38 %. Als Wahlsieger ging die CDU
Umso rascher entwickelte sich die politi- mit 40,59 % der Stimmen hervor. Dieses
sche Wirklichkeit. Wahlergebnis wurde so gewertet, dass die
Mehrheit der DDR-Bürger einen raschen
Anschluss an die Bundesrepublik wünsche.
1.3.2 Botschaftsbesetzungen, Mit einem Staatsvertrag zwischen der Bun-
Massenflucht und Öffnung der desrepublik und der DDR wurden die Ein-
Grenzen führung der DM (= Deutsche Mark) als offi-
zielles Zahlungsmittel, die Übernahme der
Im Sommer 1989 kam es zu einer Massen-
sozialen Marktwirtschaft und die Anpas-
flucht, als der Abbau der Grenzbefesti-
sung der Sozialversicherung an das bundes-
gungen an der ungarisch-österreichischen
deutsche Versicherungssystem beschlos-
Grenze begann. Diese Gelegenheit nutzten
sen.
zunächst etwa 700 DDR-Urlauber in Un-
Am 23.8.1990 beschloss die Volkskam-
garn zur Flucht. Weiterhin besetzten DDR-
mer den Beitritt der DDR zur Bundesrepu-
Bürger vornehmlich bundesdeutsche Bot-
blik. Der Einigungsvertrag wurde am
schaften, um anschließend ihre Ausreise
31.8.1990 von Vertretern beider Staaten
zu erzwingen. Letztlich gelang im Jahr
unterzeichnet und trat am 29.9.1990 in
1989 ca. 340.000 DDR-Bürgern auf diesem
Kraft. Mit dem Beitritt am 3.10.1990 wur-
Weg die Flucht.
den Brandenburg, Mecklenburg-Vorpom-
Am 6.10.1989 (zum 40. Jahrestag der
mern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thü-
DDR) bezeichnete der Generalsekretär der
ringen neue Bundesländer der Bundes-
SED, Erich Honecker, die DDR noch als Boll-
republik Deutschland. Der 3. Oktober wurde
werk des Sozialismus. Sein Ehrengast Mi-
im Einigungsvertrag zum „Tag der Deut-
chail Gorbatschow mahnte jedoch Refor-
schen Einheit“ erklärt.
men an.
In der gesamten DDR waren die Feier-
lichkeiten von massiven Protestkundge-
bungen begleitet. Der Staatssicherheits-
dienst („Stasi“) ging mit Gewalt gegen
Zehntausende von Demonstranten vor.
Unter dem Einfluss der Kirche sowie der
oppositionellen Gruppen kam es im Okto-
ber 1989 zu Massendemonstrationen ge-
gen das DDR-Regime. In vielen Großstäd-
ten fanden Demonstrationen für demokra-
tische Reformen und Freiheit statt. Dies
führte am 18.10.1989 zum Rücktritt von
Erich Honecker.
Am Abend des 9.11.1989 wurden völlig
überraschend alle DDR-Grenzübergänge
zur Bundesrepublik Deutschland und West-
berlin geöffnet. Daraufhin statteten ca. 3
Millionen DDR-Bürger in den folgenden
Tagen Westberlin und dem Bundesgebiet
36
2.1 Republik
Staatsform Regierungsform
Demo- Totalitärer
Monarchie Republik kratischer Staat
Rechtsstaat
37
Staats- und Regierungsform der Bundesrepublik Deutschland
§§ Versammlungsfreiheit
Mehrere Gleichgesinnte dürfen sich zu-
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“
sammenschließen und ihrer Meinung Aus-
(Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG)
druck verleihen.
38
2.2 Demokratie
Demokratie
39
Staats- und Regierungsform der Bundesrepublik Deutschland
40
2.3 Rechtsstaat
Rechtsstaatsprinzip
●
chen Prüfung die Erlaubnis zum Führen
Beispiel
I der Berufsbezeichnung „Pflegefach-
mann“. Die zuständige Regierung von
Schwaben verweigert seine Zulassung
Braucht der Staat z. B. mehr Geld, kann mit der Begründung, er sei während sei-
er nicht einfach die Steuern erhöhen. Es ner Ausbildungszeit des Öfteren mit
müssten vielmehr die entsprechenden einem Haschischjoint erwischt worden,
Steuergesetze geändert werden. Hierfür sodass er für die Ausübung dieses Beru-
ist der Gesetzgeber zuständig, also Bun- fes ungeeignet sei. Fritz ist äußerst er-
destag und Bundesrat. Deren Mitglieder bost, da er der Ansicht ist, dass ein Joint
wiederum wurden in Wahlen vom Volk hie und da ihn keinesfalls unfähig mache,
bestimmt bzw. von den Regierungen der den Beruf auszuüben.
Bundesländer entsandt. Mit dieser Entscheidung der Regie-
rung muss sich Fritz nicht begnügen. Er
kann dagegen vor dem Verwaltungs-
Rechtsschutz gericht klagen und klären lassen, ob die
Entscheidung zu Recht ergangen ist. Teilt
Gegen jeden staatlichen Eingriff hat der das Gericht seine Ansicht, muss die Re-
Einzelne Rechtsschutz. Dies bedeutet, er gierung ihm die Erlaubnis erteilen.
kann unabhängige Gerichte anrufen und
dort sein Recht einklagen. Für den Staat
sind dann auch Urteile bindend, die zu sei-
nem Nachteil ergehen.
Verfahrensgrundsätze
Gerichte, die letztlich auch gegen den Der Rechtsschutz umfasst auch die Einhal-
Staat entscheiden müssen und oft auch tung folgender Verfahrensgrundsätze: recht-
entgegen der öffentlichen Meinung urtei- liches Gehör, gesetzlicher Richter und fai-
len, müssen daher mit unabhängigen Rich- rer Prozess.
tern besetzt sein. Das Grundgesetz besagt
in Art. 97 Abs. 1, dass Richter unabhängig
Rechtliches Gehör
und nur dem Gesetz unterworfen (S. 103)
sind. Art. 103 Abs. 1 GG besagt, dass vor Gericht
jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör
hat. Dies bedeutet nicht nur, dass vor jeder
41
Staats- und Regierungsform der Bundesrepublik Deutschland
●
nehm ist. Dies gilt insbesondere für Verfah-
I
ren mit politischem Hintergrund.
Beispiel
Fairer Prozess
Das Parlament, die Legislative, beschließt
Dieser Grundsatz legt z. B. fest, dass einem
ein Gesetz. Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG ist
Angeklagten in schweren Fällen ein Pflicht-
auch die Gesetzgebung an die Grund-
verteidiger zur Seite zu stellen ist, wenn er
rechte gebunden. Das Bundesverfas-
keinen eigenen Verteidiger ausgewählt hat.
sungsgericht (BVerfG), die Judikative,
Auch soll ihm der Prozessablauf verständ-
kann nun überprüfen, ob das Gesetz ver-
lich gemacht werden. So hat ein kranker
fassungsgemäß ist oder nicht. Im letzte-
Angeklagter Anspruch auf notwendige Pau-
ren Fall würde es das Gesetz für nichtig
sen im Prozess. Schwierige Rechtsfragen
erklären. So hat z. B. in den Jahren 1975
werden erklärt. Der Angeklagte kann zu je-
und 1993 das BVerfG jeweils die Neufas-
dem Vorwurf Stellung nehmen. Er hat vor
sung des § 218 StGB (Strafbarkeit des
dem Urteil immer das letzte Wort.
Schwangerschaftsabbruchs) als zumin-
dest teilweise für verfassungswidrig er-
2.3.2 Vertrauensschutz und klärt.
Rückwirkungsverbot Das Parlament, die Legislative, kontrol-
liert die Regierung, die Exekutive, indem
Der Einzelne kann sich auf das geltende sie z. B. dem Regierungschef, dem Bun-
Recht verlassen. Damit darf der Staat nicht deskanzler, das Misstrauen (S. 81) aus-
rückwirkend neue, insbesondere belasten- sprechen kann.
de Gesetze erlassen. Im Strafrecht be- Das Bundesverfassungsgericht, die Judi-
stimmt Art. 103 Abs. 2 GG, dass eine Tat kative, ist mit unabhängigen Richtern be-
nur bestraft werden kann, wenn die Straf- setzt. Diese werden für die Dauer von je-
barkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die weils 12 Jahren jeweils zur Hälfte vom
Tat begangen wurde. Bundesrat und vom Bundestag, der Le-
gislative, gewählt. Dadurch ist auch seine
Macht letztlich einer zeitlichen Beschrän-
kung unterworfen.
42
2.4 Sozialstaat
Bundes- Bundesverfassungs-
Bundes- Bundes- Minister
kanzlerin gericht
rat tag
Bundesregierung Oberste Gerichtshöfe
43
Staats- und Regierungsform der Bundesrepublik Deutschland
schaft und damit auch die Einnahmen des ist dies für ledige Erwachsene ein Betrag in
Staates sinken. In diesem Spannungsver- Höhe von 9.000 Euro pro Jahr (steuerfreies
hältnis muss ein vernünftiger Kompromiss Mindesteinkommen).
2 gefunden werden. Wie stark der Staat in
den einzelnen Fällen Hilfe leistet, hängt Sicherung in sozialer Notlage
auch davon ab, wie groß seine finanziellen
Ressourcen sind. Hier besteht ein großer Es muss ein bestimmtes Maß an sozialer
Gestaltungsspielraum. Insbesondere unter- Sicherung in Notlagen (z. B. Krankheit,
liegt es auch einer politischen Bewertung, Arbeitslosigkeit) gewährleistet sein, wie es
wo der Staat seine Schwerpunkte setzt. Ein z. B. die Sozialversicherung (Krankenver-
Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip liegt sicherung, Rentenversicherung, Arbeits-
nur dann vor, wenn er der grundlegenden losenversicherung) bietet.
Daseinsvorsorge nicht mehr nachkommt.
Die Aufgabe des Staates, sozial schwa- Sicherung eines sozialen
chen Bürgern zu Hilfe zu kommen, über- Ausgleichs
nehmen zum großen Teil die freien Träger
der Wohlfahrtspflege, z. B.: Soweit Bürger unterschiedlich stark belas-
● Arbeiterwohlfahrt e. V., tet sind, sorgt der Staat für einen gewissen
● Diakonisches Werk e. V., Lastenausgleich, z. B. bei Ausbildungsförde-
● Deutscher Caritasverband e. V., rung, sozialem Wohnungsbau, Familienlas-
● Deutsches Rotes Kreuz e. V. tenausgleich (Kindergeld), Elterngeld.
44
2.5 Bundesstaat
Hamburg 1,61
1,79
Bremen
0,67 Niedersachsen
7,93 Berlin
3,52
Brandenburg
Sachsen-
Anhalt 2,48
Nordrhein-
Westfalen 2,25
17,87 Sachsen
4,08
Hessen Thüringen
6,18 2,17
Rheinland-
Pfalz
4,10
Saarland
Bayern
1 12,84
Baden-
Württemberg
10,88
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein möglich, die oft landesspezifischen Proble-
Bundesstaat. Der Bundesstaat ist eine Ge- me zu erkennen und zu lösen (z. B. Küsten-
meinschaft mehrerer eigenständiger Län- region im Norden, Schwerindustrie im Wes-
der (Bundesländer; ▶ Abb. 2.5). Diese bilden ten, Alpenregion im Süden). Auf landes-
einen Bund, die Bundesrepublik Deutsch- eigene Probleme kann daher viel schneller
land. Seit der Wiedervereinigung im Okto- eingegangen werden. Zum anderen ge-
ber 1990 besteht sie aus 16 Bundesländern währleistet der durch den Zusammen-
(▶ Tab. 2.1). schluss gebildete neue Staat nach außen
hin ein geschlossenes Ganzes und wird als
Wirtschaftspartner ernst genommen.
2.5.1 Föderalismus Ganz entscheidend ist, dass die Eigen-
Das politische Prinzip des Zusammen- ständigkeit der Länder, d. h. der einzelnen
schlusses mehrerer gleichberechtigter Bundesländer, erhalten bleibt. So hat jedes
Staaten bezeichnet man als Föderalismus. Bundesland eine eigene Regierung (Lan-
Durch diese Art der Verbindung bleibt zum desregierung) mit einem eigenen Regie-
einen die Eigenständigkeit der Länder mit rungschef (Ministerpräsident), ein eigenes
ihren kulturellen, sprachlichen und lands- Parlament (Landtag) und ein eigenes Staats-
mannschaftlichen Eigenarten erhalten. Den gebiet mit genau bestimmten Landesgren-
einzelnen Ländern ist es auch viel leichter zen.
45
Staats- und Regierungsform der Bundesrepublik Deutschland
46
2.5 Bundesstaat
47
Grundrechte
3 Grundrechte
3.1 Geschichte der tum, Sicherheit und Widerstand gegen Un-
terdrückung, freie Meinungsäußerung, Re-
Grundrechte ligionsausübung, Freiheit der Presse. Die
3 Die Geschichte der Grundrechte reicht zu- Schlagwörter lauteten: Freiheit, Gleichheit,
rück bis in die politische Philosophie der Brüderlichkeit.
Antike. Aufgrund der Schreckensereignisse wäh-
Allerdings ist auch hier der Gedanke der rend der nationalsozialistischen Diktatur
rechtlichen und moralischen Sicherung unter Adolf Hitler verfassten die Vereinten
menschlicher Würde und Freiheit eng ver- Nationen am 10.12.1948 die Allgemeine
bunden mit den jeweiligen kulturellen An- Erklärung der Menschenrechte.
schauungen. So kannte die Antike keine Am 23.5.1949 wurde das Grundgesetz
Rechte, die für alle Menschen gleicherma- für die Bundesrepublik Deutschland ver-
ßen gelten sollten. Beispielsweise sah man kündet. Die Mütter und Väter des Grund-
die Sklaverei als selbstverständlich an, gesetzes haben den Grundrechtskatalog
ohne dass dabei an einen Verstoß gegen gleich an den Anfang gestellt. Der wesent-
Menschenrechte gedacht wurde. liche Unterschied zur Weimarer Verfas-
Als gegen Ende des Mittelalters der sung besteht darin, dass die Gesetze im
Gedanke an die Mäßigung der Herrschaft Rahmen der Grundrechte gelten und sich
der Mächtigen verbunden mit dem Schutz an ihnen messen lassen müssen und nicht
des Einzelnen entstand, ging man daran, umgekehrt. Auch die Staatsgewalt ist an
Rechtsansprüche und Forderungen des diese Grundrechte gebunden.
Einzelnen gegenüber den Herrschenden
schriftlich niederzulegen. Dies begann, als
im Jahre 1215 die englischen Barone ihrem 3.2 Wesen der Grundrechte
König in der Magna Charta Libertatum Die Grundrechte stellen nicht nur ein Pro-
das Recht abtrotzten, dass kein freier Mann gramm dar, sondern sie sind geltendes
verhaftet werden solle, bevor über ihn ein Recht und binden insbesondere die Gesetz-
gerichtliches Urteil gesprochen worden sei. gebung, die vollziehende Gewalt und die
Ein weiterer Meilenstein in der Entwick- Rechtsprechung. Das bedeutet, dass der
lung der Grundrechte war 1776 die ame- Gesetzgeber nur solche Gesetze beschlie-
rikanische Unabhängigkeitserklärung. In ßen kann, die im Einklang mit den Grund-
der Deklaration der Menschenrechte wird rechten stehen. Ist dies nicht der Fall, kann
festgehalten, dass die Menschenrechte nicht das Gesetz durch das Bundesverfassungs-
vom Staat verliehen sind, sondern angebo- gericht für nichtig erklärt werden.
rene und unveräußerliche Naturrechte dar- Darüber hinaus kann der Einzelne, wenn
stellen. Zur Sicherung dieser Rechte sind er sich durch den Staat in seinen Grund-
Regierungen eingesetzt, die ihre Macht aus rechten verletzt fühlt, letztlich das Bundes-
der Zustimmung der Regierten herleiten. verfassungsgericht anrufen, wenn die an-
Parallel dazu entstand in Europa am deren Rechtswege ihm nicht geholfen ha-
Ende der französischen Revolution im ben. Es gilt der Grundsatz: Grundrechte
Jahre 1789 die Erklärung der Menschen- sind Abwehrrechte des einzelnen Bürgers
und Bürgerrechte. In dieser – von der fran- gegen willkürliche Maßnahmen des Staa-
zösischen Nationalversammlung verkün- tes. Fraglich ist, wie weit Bürger sich unter-
deten – Erklärung werden wichtige Rechte einander auf Grundrechte berufen können
festgeschrieben: Recht auf Freiheit, Eigen- (Drittwirkung).
48
3.3 Geltungsbereich der Grundrechte
Aufgabe 1
Der Pflegefachmann Singh, indischer
Beispiel ●
I
Rennfahrer Hurtig rast mit seinem Auto
Staatsangehöriger, will in einer Disco sei- durch die Innenstadt. Als er von der Poli-
nen Geburtstag feiern. Als er zusammen zei wegen Überschreitung der zulässigen
mit seinen Freunden vom Türsteher mit Höchstgeschwindigkeit angehalten wird, 3
den Worten „Ausländer haben keinen verwahrt er sich dagegen unter Berufung
Zutritt“ zurückgewiesen wird, beruft er auf sein Grundrecht der freien Entfaltung
sich auf Art. 3 Abs. 3 GG, dass niemand seiner Persönlichkeit nach dem Motto:
wegen seiner Herkunft benachteiligt Freie Fahrt für freie Bürger!
werden darf. Daraufhin meint der Türste-
her nur, das Grundgesetz ginge ihn
nichts an. Hat er Recht?
Erläuterung im Anhang, Aufgabe 1 3.3.1 Auslegung
(S. 502). Zunächst hat der Geltungsbereich eines
Grundrechts dort seine Grenze, wo seine
Reichweite endet. Um diese zu bestimmen,
3.3 Geltungsbereich der muss durch Auslegung des Wortlauts der
Inhalt des jeweiligen Grundrechts unter-
Grundrechte sucht werden.
Kein Grundrecht kann völlig schrankenlos
gewährt werden, da sonst ein friedliches
Miteinander nicht möglich wäre. Ein-
schränkungen der Grundrechte gibt es in
unterschiedlicher Hinsicht (▶ Abb. 3.1).
49
Grundrechte
3.3.3 Gesetzesvorbehalt
Aufgabe 2
Bestimmte Grundrechte enthalten die Er-
2 Krankenpflegeschüler setzen sich vor mächtigung des Gesetzgebers, dass dieser
den Haupteingang des Krankenhauses, aufgrund eines Gesetzes das Grundrecht
um dort für eine Lohnerhöhung zu „de- beschränken darf.
3 monstrieren“. Nachdem die vom Haus-
meister gerufene Polizei sie auffordert,
den Platz frei zu machen, berufen sich Aufgabe 4
die beiden Auszubildenden auf ihr
Grundrecht, das Versammlungsfreiheit Ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe ver-
gewährleiste. Mit Recht? urteilter Mörder meint, dass durch die
Erläuterung im Anhang, Aufgabe 2 Haft in sein Grundrecht auf Freiheit der
(S. 502). Person eingegriffen werde. Hat er damit
Recht?
Erläuterung im Anhang, Aufgabe 4
(S. 502).
3.3.2 Grundrechtsimmanente
Schranken
Der Gesetzgeber darf die Grundrechte
Diese Schranken sind in dem jeweiligen
nicht grenzenlos beschränken. Dazu sagt
Grundrecht selbst enthalten und dem
das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 2 GG, dass
Wortlaut des jeweiligen Grundrechtsarti-
in keinem Falle ein Grundrecht in seinem
kels zu entnehmen.
Wesensgehalt angetastet werden darf. So
wäre auch der Mörder in seinem Grund-
recht auf Freiheit der Person beschränkt,
Aufgabe 3 wenn er überhaupt keine Aussicht hätte,
Eine Gruppe von Pflegefachleuten will seine Freiheit zu erlangen. Daher sieht es
am Rathausplatz gegen den Pflegenot- das Strafgesetzbuch vor, dass auch ein
stand und für bessere Arbeitsbedingun- Mörder unter bestimmten Voraussetzun-
gen demonstrieren. Während im Rah- gen nach mindestens 15 Jahren Haft ent-
men der Kundgebung der Landrat als lassen werden kann.
Vertreter des Trägers des größten örtli-
chen Krankenhauses das Wort ergreift, 3.3.4 Verwirkung von
fangen einige Demonstrationsteilnehmer
an, ihn mit Zwischenrufen und Trillerpfei- Grundrechten
fen aus dem Konzept zu bringen. Andere Wer bestimmte Grundrechte, wie Freiheit
werfen gar mit Eiern nach ihm, um ihn der Meinungsäußerung, Pressefreiheit und
zu stören. Als die Polizei daraufhin die andere, die in Art. 18 GG abschließend auf-
Versammlung auflösen will, berufen sich gezählt sind, zum Kampf gegen die frei-
die Demonstranten auf ihr Grundrecht heitliche demokratische Grundordnung
der „Versammlungsfreiheit“. Mit Recht? missbraucht, verwirkt diese Grundrechte.
Erläuterung im Anhang, Aufgabe 3 Diese Verwirkung kann nur vom Bundes-
(S. 502). verfassungsgericht ausgesprochen werden.
50
3.4 Einteilung der Grundrechte
von Eigentum
51
Grundrechte
verbot.
Hierin kommt der wichtigste und oberste
Sie stehen nur den Staatsangehörigen zu; Grundsatz des Grundgesetzes zum Aus-
d. h. die Bürgerrechte des Grundgesetzes druck. Jeder Mensch ist wertvoll und Trä-
gelten nur für die Deutschen. ger einer Würde, die ihm niemand neh-
men darf. Diese Würde zu achten und zu
schützen ist die Aufgabe und die Pflicht des
3.5 Einzelne Grundrechte Staates. Sie wäre dann verletzt, wenn der
Mensch zu einem bloßen Objekt, zu einem
Im Folgenden sollen einige wenige Grund-
rechte näher erläutert werden. Gegenstand herabgewürdigt würde, mit
dem der Staat nach Belieben verfährt. Alle
nachfolgenden Rechte sind letztlich nur
eine Konsequenz dieses Grundsatzes. Die-
ses Grundrecht darf nicht geändert werden.
Zur Menschenwürde gehört die Garan-
tie des Existenzminimums. So hat der Staat
in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip
52
3.5 Einzelne Grundrechte
dafür Sorge zu tragen, dass dem Einzelnen Das Recht auf Freiheit der Person ist das
ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Hauptfreiheitsrecht im Grundgesetz. Im-
Dies geschieht z. B. durch die Sozialhilfe. mer dann, wenn kein spezielles Grund-
●
recht eingreift, kann darauf zurückgegrif-
Beispiel
I fen werden. Es umfasst 4 Teilbereiche:
freie Persönlichkeitsentfaltung, Recht auf
Leben, Recht auf körperliche Unversehrt- 3
Beispiele für Verletzungen der Men- heit und Recht auf Freiheit (▶ Abb. 3.3).
schenwürde sind: Folterung oder unfaire
Vernehmungsmethoden, Bekanntgabe
von Krankenunterlagen an dafür Unbe- Freie Entfaltung der Persönlichkeit
fugte, Nichtbeachtung der Intimsphäre Mit dem Grundrecht auf freie Entfaltung
eines Menschen, Beherbergung von 2 der Persönlichkeit wird dem Menschen die
Gefangenen in einer 8 m² großen Einzel- größtmögliche Freiheit gewährt, und er
zelle, Unterbringung eines Häftlings in hat das Recht, sein Leben selbst zu bestim-
einer Einzelzelle von nur 5,25 m², Ab- men, soweit nicht die Rechte anderer ver-
schießen eines Flugzeuges, wenn da- letzt werden. Ob jemand einen Beruf er-
durch unschuldige Menschen zu Tode lernen will, ob er arbeiten oder als Bettler
kommen, auch wenn das Flugzeug von sein Leben führen will, ist seine eigene
Terroristen entführt worden ist und sie Entscheidung. Hat er aber ein Kind ge-
es zum Absturz bringen wollen, um da- zeugt, muss er für dessen Unterhalt sorgen.
mit eine Katastrophe herbeizuführen. Dann steht es ihm nicht mehr frei, ob er ar-
beiten will oder nicht. Würde er nicht ar-
beiten, würde er in das Recht seines Kindes
3.5.2 Freiheit der Person insofern eingreifen, als dass dieses nichts
zu essen hätte oder die Allgemeinheit da-
(Artikel 2 GG) für aufkommen müsste.
53
Grundrechte
● Der Staat darf durch die Polizei bei macherei“ verwechselt werden. So soll
einem Autofahrer, der möglicherweise sachlich Gleiches gleich, aber sachlich Un-
alkoholisiert gefahren ist, zwangsweise terschiedliches durchaus ungleich behan-
eine Blutentnahme durchführen. Ob- delt werden. Das Maß der ungleichen
wohl dessen Körper damit „verletzt“ Behandlung ergibt sich dann aus dem zu-
wird, ist dies zulässig, da der Eingriff grunde liegenden sachlichen Grund.
●
3 durch ein Gesetz gedeckt ist.
● Der rechtlich anerkannte Rechtfer-
tigungsgrund der Einwilligung macht Beispiel
I
den ärztlichen Heileingriff trotz Verlet-
zung der körperlichen Unversehrtheit Die Steuergesetzgebung muss berück-
rechtmäßig. sichtigen, dass die Bürger unterschiedlich
● Die Fixierung eines Patienten ist dann stark belastet sind. So wäre es ein Ver-
zulässig, wenn sie z. B. durch Notwehr stoß gegen den Gleichbehandlungs-
oder Einwilligung gerechtfertigt ist. grundsatz, wenn ein lediger Alleinverdie-
ner ohne Kinder den gleichen Steuersatz
hätte wie der alleinverdienende Familien-
3.5.3 Gleichheit vor dem vater.
Gesetz (Artikel 3 GG) Ein Beschuldigter, der der deutschen
Sprache nicht mächtig ist, hat in jedem
Stadium des Strafverfahrens einen An-
§§ spruch auf einen Dolmetscher. Dessen
Honorar muss der Staat tragen, da sonst
Alle Menschen sind vor dem Gesetz dem sprachunkundigen Beschuldigten
gleich. Kosten auferlegt würden, die auf einen
Männer und Frauen sind gleichberech- deutsch sprechenden Beschuldigten
tigt. […] nicht zukommen würden.
Niemand darf wegen seines Geschlech-
tes, seiner Abstammung, seiner Rasse,
seiner Sprache, seiner Heimat und Her-
An diesen Gleichbehandlungsgrundsatz
kunft, seines Glaubens, seiner religiösen
sind alle 3 Staatsgewalten (Legislative, Exe-
oder politischen Anschauungen benach-
kutive, Judikative) gebunden. Die Gleichbe-
teiligt oder bevorzugt werden.
rechtigung von Mann und Frau (Art. 3
Niemand darf wegen seiner Behinderung
Abs. 2 GG) und das Diskriminierungsver-
benachteiligt werden. (Art. 3 GG)
bot (Art. 3 Abs. 3 GG) sind letztlich Unter-
fälle des Gleichbehandlungsgrundsatzes.
Aus der Würde des Menschen ist abzulei- Das Bundesverfassungsgericht hat immer
ten, dass grundsätzlich jeder Mensch wieder Gesetze für verfassungswidrig er-
gleich wertvoll ist (▶ Abb. 3.4). Allerdings klärt, wenn diese Grundsätze verletzt wur-
darf Gleichbehandlung nicht mit „Gleich- den.
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