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Liebes Kind Totes Kind Roxann Hill Full Chapter
Liebes Kind Totes Kind Roxann Hill Full Chapter
VORWORT
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6 Austin
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36 Kai
37 Ralf
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41
42 Kai
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59 Kai
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Die Autorin
VORWORT
die Romane von Anne Steinbach und Paul Wagner sind in sich
abgeschlossen und können völlig problemlos einzeln gelesen werden.
Allein die Hauptcharaktere entwickeln sich im Verlauf der Kriminalfälle
weiter. Von daher bietet es sich an, chronologisch mit Band 1 zu
beginnen.
Für alle Quereinsteiger habe ich – wie man es von Fernsehserien kennt
– ein »Was bisher geschah« verfasst. Sie finden die Zusammenfassung
am Ende des Buches.
Ihre
Roxann Hill
VERRAT TRENNT ALLE BANDE.
Einer dieser Wolkenbrüche, die im wahrsten Sinne des Wortes wie aus
heiterem Himmel alles und jeden überfallen und in Sekundenschnelle
pitschnass zurücklassen. Gut, dass sie beide im Auto sitzen.
Die Scheibenwischer haben Mühe, mit den Wassermassen fertig zu
werden. Letztendlich verteilen sie sie nur, schieben sie quietschend von
links nach rechts und wieder zurück, statt sie zu beseitigen. Die Sicht ist
nahezu gleich null, aber das ist kein Problem, denn er kennt sich hier
aus.
Er setzt den Blinker, lässt seinen Wagen bis zur Kurve rollen und biegt
in Holgers Straße ein. Bis vor vielleicht zwanzig Jahren war sie die
einzige Verbindung zu einem größeren Kaff, welches etwa zehn
Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegt. Mittlerweile hat sich vieles
geändert. Das Dorf ist eingemeindet worden und zu einem beliebten
Ortsteil aufgestiegen, in dem sich besser betuchte Familien ihren Traum
vom Eigenheim erfüllen. Für diese Neubürger musste eine schicke
breite Trasse her, und Holgers Straße hat mehr und mehr an Bedeutung
verloren. Heutzutage nutzen sie lediglich die Lkws aus der Sandgrube
weiter hinten. Und Holger natürlich. Er wohnt in dem einzigen Haus,
das an dieser Strecke steht. Eine ehemalige, winzige Pension –
heruntergekommen und vergessen.
»Mann, das schüttet ja wie aus Eimern«, murmelt Holger neben ihm
auf dem Beifahrersitz. »Ich hoffe bloß, dass mein Keller nicht wieder
vollläuft. Die Kanalisation ist viel zu klein. Trotzdem haben sie das
Neubaugebiet einfach mit drangehängt. Das packen die Röhren nicht,
wenn es mal richtig gießt.«
Er sieht ihn an. »Hast du denn kein Rückstauventil?«
Holger verzieht das Gesicht. »Klar habe ich eins. Aber sobald ich das
Ding zudrehe, drückt es mir die Scheiße aus dem Klo im Erdgeschoss.
Irgendwo muss die Brühe ja hin! Dann doch lieber eine
Überschwemmung im Keller.«
Auf der rechten Seite taucht die frühere Frühstückspension auf. An
ihrer Fassade befindet sich noch das Schild von damals: eine
überdimensional große, grüne Heuschrecke. Der Lack ist abgeblättert,
aber das Bild ist trotzdem deutlich zu erkennen.
Er bremst. Der Wagen hält an.
»Bitte schön!«, sagt er. »Deine Bude. Wir sind da.«
Holger löst den Sicherheitsgurt, macht jedoch keine Anstalten,
auszusteigen.
Er wirft ihm einen prüfenden Blick zu. »Was ist los? Brauchst du
vielleicht einen Schirm? Ich fürchte, ich habe keinen im Auto.«
»Nein, das ist es nicht.« Holger schüttelt den Kopf.
»Was dann?«
»Ich muss mit dir reden. Ich wollte das schon die ganze Zeit, aber
…« Holger zuckt mit den Schultern.
»Reden? Klar. Schieß los.«
»Okay … Weißt du … bitte, ich bin mir nicht sicher, wie ich es
ausdrücken soll. Aber … ich kann nicht mehr.«
»Was kannst du nicht mehr?«
Holger holt tief Luft. »Noch länger mitmachen. Das packe ich einfach
nicht.«
Er bleibt einen Moment still. »Hm. Ganz ehrlich? Ich habe mir so was
schon fast gedacht.«
Holger dreht sich ihm zu, sein Ausdruck verzweifelt. »Das geht
bereits Monate so. Ich höre ständig ihre Stimmen. Ich sehe ihre
Gesichter, ihre Augen. Wenn ich schlafe, schrecke ich schweißgebadet
hoch, weil ich sie wieder … Ich schaffe das nicht länger.«
»Du solltest nicht so viel trinken.«
»Das mit dem Alkohol habe ich im Griff«, beteuert Holger. »Aber das
andere … Ihre Schreie. Und wenn sie weinen, jammern und wimmern
…«
Er macht eine abfällige Handbewegung. »Ist doch nur Ware.«
»Ja. Für dich. Du kannst das so sehen. Aber mich nimmt das
inzwischen irre mit. Es sind zu viele.«
»Dann willst du wirklich einen Schlussstrich ziehen und aussteigen?«
»Ich habe lange hin und her überlegt. Ich bin fest entschlossen.«
Er mustert ihn. »Das ist nicht so easy. Du weißt über alles Bescheid.«
Holger nickt deutlich. »Niemals würde ich … Damit würde ich mich
nur selbst belasten. Ich bin kein Idiot und auch kein Verräter. Ich würde
dich nie auffliegen lassen.«
»In Ordnung.« Er nickt ebenfalls. »Aber da sind unsere
Auftraggeber.«
»Ich kenne nur einen.«
»Du kennst mehr.«
»Höchstens zwei oder drei. Das andere hast immer du erledigt.«
Er schnaubt. »Diese zwei, drei Namen … wenn du die der Polizei
gegenüber nennen würdest, könnte ein geschickter Anwalt Straferlass
für dich erwirken. Und dann wäre es möglich, dass du plauderst und
uns alle ans Messer lieferst – obwohl ich persönlich dir das nicht
zutraue. Aber die anderen. Die haben jede Menge zu verlieren. Die
wollen kein Risiko eingehen.«
Holger wird bleich. »Hör mal«, sagt er eindringlich. »Du kannst dich
auf mich verlassen. Hundertprozentig.«
Er holt tief Luft. »Na gut. Ich kann mich auf dich verlassen.«
»Ja«, beeilt sich Holger, zu versichern. »Wie immer. Du kannst mir
vertrauen, wie du mir stets vertraut hast.«
Er seufzt und lächelt Holger wehmütig an. »O Mann! Nun muss ich
mir wohl oder übel jemand anderen suchen und ihn einarbeiten. Du
wirst mir echt fehlen! Was machst du jetzt mit der ganzen Freizeit?«
»Keine Ahnung.« Holger grinst erleichtert. »Wird sich schon was
finden … Wir sind noch Freunde?«
Er grinst ebenfalls. »Nach all dem, was wir zusammen erlebt haben?
Aber hallo!«
»Waren auch gute Zeiten«, meint Holger.
»Das kannst du laut sagen.«
Holger klopft ihm auf die Schulter. »Danke, Alter!«
»Nichts zu danken.« Er schüttelt einmal den Kopf.
»Kommst du noch mit auf ein Bier rein?«
»Ein Bier?«, wiederholt er und lächelt. »Ist es kalt?«
»Direkt aus dem Kühlschrank«, erwidert Holger.
»Da sage ich nicht Nein.«
Sie steigen aus.
Er folgt Holger, der geduckt zum Eingang der alten Pension rennt.
Unter dem breiten Vordach kramt Holger ein Ledermäppchen aus seiner
Tasche und sucht mit gebeugtem Kopf nach dem richtigen Schlüssel.
Auf diesen Augenblick hat er gewartet. Während Holger abgelenkt ist,
bückt er sich und greift sich einen der moosbewachsenen Granitsteine,
die als eine Art Beeteinfassung dienen. Er schlägt den kantigen Brocken
gegen Holgers Hinterkopf. Hart.
Holger ächzt und geht in die Knie.
Er schlägt noch einmal zu.
Holger bricht zusammen. Sein Nacken ist blutig.
Er packt Holgers Beine und schleift ihn zum Auto zurück. Dort
angekommen, öffnet er die Heckklappe und hievt den Körper ächzend
hinein. Holger stöhnt, sein Mund steht halb offen, seine Augen sind
verdreht, sodass man fast nur das Weiß sieht.
Er schlägt den Kofferraum zu, setzt sich ans Steuer und fährt ein
kurzes Stück. Bei einem runden Gullydeckel, der sich in der Mitte der
Straße befindet, hält er an. Er steigt aus.
Der Regen hat noch immer nicht nachgelassen. Wütend trommeln die
Wassermassen mit dicken kalten Tropfen auf ihn herab. Doch das
kümmert ihn nicht. Erneut öffnet er den Kofferraum, zerrt Holger nach
draußen und nimmt das Stemmeisen, das er für den Fall der Fälle gleich
mitgebracht hat. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Sein
Bauchgefühl hat mal wieder hundertprozentig richtiggelegen.
Er geht zum Kanaldeckel, setzt die Brechstange an, stemmt sich mit
seinem gesamten Gewicht dagegen. Zunächst rührt sich nichts, dann
hebt sich die schwere Metallplatte. Nach weiteren fünf Minuten hat er
sie beiseitegezogen. In der Fahrbahn klafft nun ein beachtliches, rundes
Loch. Es ist beinahe randvoll mit dreckig-braunem Wasser gefüllt. Ein
Rauschen dringt aus der Tiefe der Kanalisation bis zu ihm. Holger hat
nicht übertrieben. Die Abwasserrohre sind wirklich zu klein
dimensioniert.
Und nun zurück zu Holger. Der hat inzwischen die Augen offen und
blinzelt in den Regen hinein. Aus seinem Mund tropft blutige Flüssigkeit.
»Was ist los?«, stammelt Holger.
»Nichts«, erwidert er, greift sich wieder Holgers Beine und schleift ihn
bis zum Loch.
Holger richtet sich halb auf. »Was ist das für ein Rauschen?« Sein
Blick fällt auf den Gullydeckel. Er schaut auf die Öffnung und beginnt zu
zittern. »Das kannst du doch nicht machen!«
»Und wie ich das kann«, murmelt er.
»Bitte!«, fleht Holger. » Ich will nicht wie eine Ratte in Scheiße und
Pisse ersaufen! Tu das nicht! Ich habe meine Lektion gelernt! Ich will
nicht mehr aussteigen! Ich mache alles, was du möchtest!«
»Zu spät«, erwidert er.
»Dann bringe es anders zu Ende. Bitte! Einen letzten Gefallen unter
Freund…«
Er versetzt Holger einen wuchtigen Tritt. Holgers Körpers rutscht über
den Rand in den dunklen, stinkenden Schacht und versinkt sofort.
Er schaut Holger hinterher.
Eine fahlweiße Hand taucht aus der schmutzigen Brühe auf und
klammert sich an den obersten Metallbügel – der Anfang der Leiter, auf
der man bei Trockenheit in die Tiefe hinabsteigen kann.
Holgers Finger krallen sich um das rostige Eisen.
Er bückt sich und biegt bedächtig zuerst Holgers Zeigefinger, dann
den Mittelfinger, dann den Ringfinger um. Das reicht. Holgers Hand
lässt los, verschwindet in dem stinkenden Fäkalienwasser.
Er wartet noch eine Weile, nur um sicherzugehen. Dann zerrt er den
Kanaldeckel an seinen Platz zurück, überprüft den korrekten Sitz in der
eisernen Fassung. Alles bestens.
Er hebt das Brecheisen auf, schlendert pfeifend zu seinem Wagen
und klettert hinter das Steuer.
Die Metallstange legt er auf den Beifahrersitz. Dort, wo bis vor nicht
einmal einer halben Stunde Holger gesessen hat.
»So schnell kann’s gehen. Gerade noch quietschfidel und schwupps …
weg«, murmelt er, grinst und startet den Motor.
Um Holger ist es nicht schade. Er war nie ein besonders guter
Zuarbeiter. Ständig hat Holger die Ware verhätschelt. Und dann diese
ewigen Skrupel.
Morgen wird er sich auf die Suche nach einem neuen Hiwi begeben.
Gibt genug, die sich um diesen Job reißen.
2
Einen Monat später
Draußen jagte ein kalter Herbstwind rostrote Blätter vor sich her. Der
bleigraue Himmel versprach Regen. In der Küche war es trotzdem
warm, obwohl die Zentralheizung noch nicht lief. Bislang hatte der
offene Kamin in der Bibliothek ausgereicht. Doch wie es aussah, war
damit eindeutig Schluss.
Satorius, Lorenzo, Paul und ich hatten uns zum Frühstück um den
Küchentisch versammelt. Prinz lag darunter. Er war mit einem
Kauknochen beschäftigt. Das rhythmische Schaben und Knabbern
seiner Zähne war deutlich zu vernehmen.
Lorenzo trank von seinem Kaffee und schielte dabei möglichst
unauffällig auf eine Zeitung, die er halb zugeklappt direkt neben seinen
Teller geschoben hatte.
»Was liest du denn da die ganze Zeit?«, erkundigte sich Satorius.
»Ich? Ich lese doch nicht beim Essen!« Lorenzos Ausdruck wirkte
schuldbewusst.
»Doch, mein Lieber. Genau das tust du.« Satorius lächelte. »Was gibt
es für spannende Neuigkeiten?«
Lorenzo stellte seine Tasse ab, ergriff die Zeitung und schlug sie auf.
Er blickte in die Runde. Seine blauen Augen leuchteten. »Erinnert ihr
euch? Vor zwei oder drei Wochen habe ich euch von einer Leiche
erzählt, die man aus dem Abwasserkanal gefischt hat.«
»In der Nähe des Klärwerks, richtig?«, fragte Paul.
»Richtig! Stark angefressen …« Lorenzo beugte sich über den Artikel.
»Im Zustand fortgesetzter Verwesung steht hier.«
»Oje!«, murmelte ich. »Ich weiß leider zu genau, was das bedeutet.
Den Toten hätte ich nicht finden wollen.«
»Mittlerweile haben sie den armen Kerl identifizieren können. Hat
lange gedauert«, fuhr Lorenzo fort.
»Jemand, den wir kennen?« Satorius biss in sein Brötchen.
»Kann ich mir nicht vorstellen. Sie schreiben, es handelt sich um
einen gewissen Holger K., siebenundvierzig Jahre alt.«
»Sagt mir nichts.« Ich blickte Paul an. »Und dir?«
»Nie gehört«, meinte er.
»Wieso hat die Identifizierung so lange gedauert?«, fragte Satorius.
»Ist er nicht von hier?«
Lorenzo setzte seine Lesebrille auf und vertiefte sich erneut in den
Bericht. »Er wohnte in unserer Stadt, lebte allein. Der Verstorbene hatte
keine Angehörigen mehr und scheint auch nicht gearbeitet zu haben.«
»Offenbar hat ihn niemand vermisst«, sagte Satorius.
Paul seufzte. »Das ist doch irgendwie traurig.«
»Stimmt«, gab ich ihm recht. »Voll deprimierend.«
»Woran ist er denn gestorben?«, wollte Satorius wissen.
Lorenzo warf ihm einen Blick zu. »Na, das ist doch offensichtlich. Der
Tote wurde in der Kanalisation gefunden, Friedrich. Er wird ertrunken
sein.«
»Wäre auch gut denkbar, er ist zuvor ums Leben gekommen und
jemand hat seine Leiche einfach da reingeschmissen«, sagte ich.
Lorenzo widmete sich erneut seinem Artikel. Ȇber die Todesursache
kann noch keine Aussage getroffen werden.« Er sah Satorius an. »Wie
ist das möglich, Friedrich? Die hatten jetzt Wochen für die Obduktion.
Etwas konkreter müssten sie da schon werden können.«
»Na ja.« Satorius schürzte die Lippen. »Wenn ein Körper längere Zeit
gewissen schädlichen Substanzen und widrigen Umweltbedingungen
ausgesetzt ist …«
Lorenzo blinzelte. »Schädliche Substanzen?«
»Nun … Abwasser eben.«
»Fäkalien und Ratten«, konkretisierte ich und fing mir einen
empörten Blick Lorenzos ein.
»Mia cara. So genau wollte ich das gar nicht wissen.« Lorenzo schob
seinen halb vollen Teller von sich weg.
»Es ist schwierig, die Todesursache bei einem solchen Leichenfund zu
bestimmen«, sagte Satorius. »Es sei denn, der Tote wäre zum Beispiel
erschossen worden. Dann gäbe es spezifische Verletzungen oder sogar
eine Kugel im Gewebe. Das scheint aber hier nicht der Fall zu sein.«
»Leute! Es muss sich nicht immer um Mord handeln!«, warf Paul ein.
»Vermutlich gibt es eine ganz logische Erklärung für den Tod des
Mannes.«
»So was wie einen Unfall meinst du?«, fragte ich.
»Er könnte irgendwie in den Kanal geraten sein. Beim Säubern…«
»War er denn Kanalputzer oder wie man die nennt?«, unterbrach ich
Paul.
»Im Artikel steht nichts davon«, sagte Lorenzo.
»Also … wer fällt schon in einen Kanalschacht und ertrinkt?« Ich
schüttelte den Kopf. »So was habe ich noch nie gehört. Für mich klingt
das sehr nach einem Gewaltverbrechen.«
Lorenzo machte ein enttäuschtes Gesicht. »Schade, dass das kein Fall
von Ralf ist. Von ihm würden wir nähere Einzelheiten erfahren.«
»Apropos Ralf«, sagte Satorius. »Kommt er heute Abend zum
Essen?«
»Hat er fest vor«, bestätigte ich.
»Ich habe auch schon fast alles vorbereitet«, beeilte sich Lorenzo, zu
versichern.
»Oh, das klingt ja vielversprechend.« Paul lächelte. »Worauf dürfen
wir uns heute freuen?«
»Das ist ein Geheimnis«, erwiderte Lorenzo übertrieben flüsternd.
»Ich habe es noch nicht einmal Friedrich verraten.«
Ich blickte auf meine Uhr.
»Du musst los«, stellte Satorius fest.
»Ja.« Ich verzog den Mund. »Um halb elf habe ich einen Termin beim
Direktor von Julias Schule.«
»Worum geht’s?«, fragte Lorenzo.
Ich zog die Schultern hoch. »Es gibt da wohl einige Probleme mit
ihren Noten. Näher wollten sie sich am Telefon nicht äußern.«
»Kommt dein Ex-Mann mit? Ist ja schließlich auch seine Tochter.«
»Yannick hatte es fest vor. Aber er hat einen Gerichtstermin in
München.«
»Den konnte er nicht verschieben?« Lorenzo runzelte die Stirn.
»Als Anwalt kannst du doch nicht beliebig Gerichtsverhandlungen
vertagen«, brummte Satorius.
»Aber er hätte einen Vertreter schicken können«, protestierte
Lorenzo. »Kinder gehen vor. Immer.«
Ich musste lächeln. »Das sehen du und ich so. Aber du weißt ja, wie
Yannick drauf ist. Und insgesamt betrachtet ist es mir lieber, ich kann
das allein erledigen und muss mich nicht auch noch mit ihm
auseinandersetzen.« Ich sah Paul an. »Wenn du willst, dass ich dich
vorher zur Villa kutschiere, sollten wir jetzt aufbrechen.«
»Hat der Leiter der Villa, dieser Sozialarbeiter, um das Gespräch
gebeten?«, fragte Satorius.
»Eigentlich nicht«, erwiderte Paul. »Es handelt sich um einen
normalen Jour fixe. Herr Meixner wird mir berichten, wie sich die Arbeit
mit den Sektenaussteigern entwickelt. Und dann müssen wir über den
Haushalt für nächstes Jahr reden. Er braucht ein größeres Budget, das
will gut begründet sein, sonst kann er das vergessen.«
»Jeder möchte Geld«, stellte Lorenzo seufzend fest.
»Du sagst es«, gab ihm Paul recht.
Ich erhob mich. »Okay. Geld hin oder her. Lass uns fahren.«
3
Vor mir erschien der Parkplatz des Supermarkts. Ich bog ein und fuhr
an den abgestellten Autos vorbei bis zum hinteren Ende. Dort führte
eine enge Zufahrt zwischen einem Lagerhaus und einem Autohändler
bis zu einem imposanten, wenn auch leicht in die Jahre gekommenen
Backsteinhaus. Eine ehemalige stattliche Fabrikantenresidenz. Jetzt
diente sie als kirchliche Rehabilitationsstätte und Rückzugsort für
Suchtkranke, aber vor allem für Sektenaussteiger. Früher hatte Paul die
Villa – wie sie der Einfachheit halber meist genannt wurde – mehr
nebenbei geleitet. Inzwischen hatte er den Posten an Herrn Meixner,
seines Zeichens Sozialpädagoge, abgegeben. Trotzdem blieb Paul mit
seiner alten Wirkungsstätte verbunden. Wann immer Meixner
Unterstützung brauchte, war er zur Stelle, um zu helfen.
Ich stellte den Motor ab und blickte durch den Regen auf die roten
Mauern des Hauses. Ich atmete tief durch. Drei Fünfer und ein Sechser.
Und das nach nicht einmal eineinhalb Monaten Schule. Außerdem
beklagten sich die Lehrkräfte über Julias Verhalten, hatte mir der
Direktor mit anklagendem Ton berichtet. Sie sei nicht einsichtig,
störrisch und würde ihre Aufgaben nicht regelmäßig erledigen.
Shit, dachte ich. Das konnte ich unmöglich unter den Teppich kehren.
Das musste ich mit Yannick besprechen. Vielleicht hing Julias Verhalten
mit Ben zusammen, ihrem kleinen Halbbruder. Seitdem er auf der Welt
war, beanspruchte der Knirps zwangsläufig einen großen Teil der
Aufmerksamkeit von Yannick und seiner neuen Frau Steffi. Julia stand
nicht mehr allein im Mittelpunkt. Die wenigen Wochenenden, die meine
Tochter bei mir verbrachte, machten das allem Anschein nach nicht
wett.
Seit dem letzten Schuljahr wusste ich, dass Julia insbesondere mit
Latein auf dem Kriegsfuß stand, doch dieser plötzliche Leistungsabfall
kam für mich völlig überraschend. Offenbar hatte Yannick von den
schulischen Problemen Julias ebenfalls nichts mitbekommen, sonst
hätte er auf alle Fälle darauf bestanden, bei dem Termin mit dem
Direktor anwesend zu sein. Julia musste ihre schlechten Noten vor
ihrem Vater verschwiegen haben. Eine andere Erklärung gab es nicht.
Inzwischen schüttete es wie aus Eimern. Passte zu meiner
gegenwärtigen Laune.
Die Tür der Villa öffnete sich. Paul trat ins Freie, blieb unter dem
Vordach stehen und spannte einen Regenschirm auf. Suchend blickte er
sich um, entdeckte mich und eilte schnellen Schrittes zu mir. Er machte
die Beifahrerseite auf und beugte sich in den Innenraum.
»Willst du nicht einsteigen?«, fragte ich ihn.
Er musterte mich, sein Ausdruck wurde besorgt. »Alles okay bei dir?«
Ich schnaubte. »Erzähle ich dir später.«
Er zögerte und meinte dann: »In der Villa ist gerade ein Kollege von
mir. Er hat mich um unsere Hilfe gebeten.«
»Ein Kirchenfall?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Es scheint sich um etwas
Persönliches zu handeln.«
»Du weißt noch nichts Näheres?«
Ein erneutes Kopfschütteln. »Aber er wirkt sehr bedrückt und
mitgenommen. Um welche Sache es sich auch dreht, sie belastet ihn
sichtlich.«
»Okay.« Ich zog den Zündschlüssel und schnallte mich ab. Was
immer Pauls Kollege auf dem Herzen hatte, es würde mich zumindest
für eine Weile von meinen trüben Gedanken ablenken.
»Warte«, sagte Paul. »Ich komme mit dem Schirm auf deine Seite,
sonst wirst du klatschnass.«
4
»Ich fange am besten ganz von vorn an«, sagte Leitner. »Es gibt einen
Grund, warum ich mit schwer erziehbaren Kindern und Jugendlichen
arbeite: Meine eigene Familie war selbst alles andere als ideal. Es gab
ständig Konflikte, und nicht nur verbal.« Er räusperte sich. »Mein Vater
… nun, er hatte wohl das, was man ein gravierendes Alkoholproblem
nennt. Und meine Mutter war mit ihren vier Kindern heillos überfordert,
nahm Tabletten und … sie trank. Viel.«
»So eine Kindheit ist nicht einfach«, sagte Paul.
»Ja. Leider. Mit elf, zwölf ging ich nur noch unregelmäßig heim. Ich
vermied es, wo ich konnte, meine Eltern zu treffen. Ich hing mit
anderen Kids am Bahnhof ab, schlief mal hier, mal dort, wurde öfters
aufgegriffen und nach Hause gebracht. Daheim lief es dann immer nach
dem gleichen Muster ab: Ich kassierte Prügel, wurde eine Zeit lang ins
Zimmer gesperrt, und bei der erstbesten sich bietenden Gelegenheit
riss ich wieder aus. Ich habe Automaten aufgebrochen. Ich habe
gestohlen, gebettelt und gelogen – alles, was man als Jugendlicher auf
der Straße tun kann, um an ein wenig Geld zu kommen, habe ich
gemacht.«
Ich betrachtete den Pfarrer mit neuem Interesse. Nichts an seiner
äußeren Erscheinung deutete auf seine Vergangenheit hin. Er war
salopp, aber gepflegt gekleidet. Sein Ausdruck wirkte intelligent und
hellwach, ohne eine Spur von Verschlagenheit oder Härte, die ein
solches Leben normalerweise hinterlässt.
»Eine Zeit lang bin ich mit Matteo zusammen gewesen. Matteo war
mehrere Jahre älter als ich. Er stammte aus Stuttgart.« Er stockte.
»Und dann passierte der Brand in dem Haus. Dabei ist Matteo ums
Leben gekommen.«
»Ähm.« Paul runzelte die Stirn. »Welches Haus?«
»Das Gebäude, in dem wir eine Zeit lang gelebt haben. Ich war nicht
da, als das Feuer ausbrach.« Erneut hielt er inne. »Ich war stets der
Überzeugung, Matteo ist tot. Aber wenn er jetzt doch noch lebt … Das
käme einem Wunder gleich. Ich wäre unendlich erleichtert und
glücklich.« Er blickte zu Boden.
»Sie fühlen sich schuldig am Tod Matteos?«, sprach ich das
Offensichtliche aus.
»Ja«, flüsterte er und hob den Kopf. »Ich bin mir hundertprozentig
sicher. Wenn ich dageblieben wäre, wäre nichts passiert. Deshalb bitte
ich Sie, Matteo ausfindig zu machen. Ich möchte ihm nur einmal in die
Augen sehen, mit ihm reden, ihm erklären, warum ich weg bin. Ihm
sagen, wie froh ich bin, dass es ihm gut geht.«
Leitners Verhalten erinnerte mich in gewisser Hinsicht an das von
Paul, der es als Pfarrer nicht über sich brachte, bewusst zu lügen.
Lieber ließ er einige Fakten weg und blieb ansonsten bei der reinen
Wahrheit. Deshalb war ich felsenfest davon überzeugt, dass uns Leitner
gerade nur einen Teil der Geschichte erzählt hatte, und ich rätselte
insgeheim, was er vor uns verbarg und warum.
Kurz überlegte ich, ihn direkt darauf anzusprechen, doch ich ließ es
bleiben. Stattdessen fragte ich: »Matteo stand auf dem Balkon des
Nachbargebäudes. Warum sind Sie nicht einfach rüber und haben bei
der entsprechenden Wohnung geklingelt? Dann hätten Sie sich gleich
selbst davon überzeugen können, ob es sich bei dem ominösen Raucher
um Matteo handelte oder nicht.«
»Habe ich doch! Ich bin sofort zum Nachbarhaus. Aber das Ehepaar,
das in dem Appartement lebt, hat bestritten, einen Matteo zu kennen
oder jemanden, der aussieht wie Matteo. Sie meinten, sie hätten
gerade niemanden zu Besuch. Bei dem Raucher habe es sich um den
Ehemann selbst gehandelt.«
»Sieht der Ehemann Ihrem Freund ähnlich?«
Ȇberhaupt nicht. Das ist es ja. Der Mann ist ziemlich klein, rundlich
und hat hellbraunes Haar. Matteo ist groß, hat dunkle Augen und
schwarze Locken, das genaue Gegenteil von mir.«
»Vielleicht war das Ganze nur eine optische Täuschung«, meinte
Paul. »Hervorgerufen durch das Sonnenlicht, das Sie geblendet hat.«
Ein deutliches Kopfschütteln. »Nein. Niemals. Und Uwe hat ihn ja
auch gesehen.«
»Wie lange ist das jetzt her?«, fragte Paul.
»Was? Das mit dem Raucher? Das war vor einer knappen Woche.«
»Nein. Ich meinte den Brand, bei dem Matteo gestorben sein soll«,
konkretisierte Paul.
»Ach so…« Leitner holte tief Luft. »Im Frühjahr werden es zwanzig
Jahre. Dieses Feuer hat mein ganzes Leben verändert.«
Paul blickte mich fragend an und ich nickte leicht.
»In Ordnung«, sagte er. »Frau Steinbach und ich versuchen unser
Bestes. Wir benötigen Uwes Adresse, um ihn zu fragen, was er gesehen
hat … wenn das noch geht.«
»Doch, das ist bestimmt möglich«, erwiderte Leitner. »Er nimmt zwar
Schmerzmittel, aber er ist klar im Kopf.«
»Gut. Und die Anschrift des anderen Hochhauses sowie den Namen
der Mieter, falls Sie die Angaben haben.«
»Habe ich. Natürlich.« Leitner sah von Paul zu mir und wieder zurück.
»Danke. Ich hätte nicht gewusst, an wen ich mich sonst wenden soll.
Es ist ja keine Sache für die Polizei, und ich selbst komme nicht weiter.«
»Sie müssen aber auch damit rechnen, dass wir möglicherweise nicht
den Erfolg haben werden, den Sie sich wünschen«, gab ich zu
bedenken.
Ein leises, trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Selbstverständlich. Zumindest weiß ich dann aber, dass ich einem
Trugbild aufgesessen bin und es sich nur um Wunschdenken gehandelt
hat.«
6
Austin
Austin sitzt jetzt seit einem halben Tag an der Rückseite der
Autoraststätte. Inzwischen ist es dunkel. Zwei Meter entfernt befindet
sich der Hinterausgang der Toiletten. Er hockt einfach auf dem Boden,
auf den harten Steinen. Es stinkt nach Pisse und scharfem
Reinigungsmittel. Darunter mischt sich der Geruch von Abgasen. Von
der nahen Autobahn dringt ein ununterbrochen lautes Rauschen zu
ihm, wie von einem Wasserfall.
Ihm ist so wahnsinnig kalt. Es regnet und seine Kleidung fühlt sich
klamm an. Er ist pleite und die Kippen sind ihm auch ausgegangen.
Anschaffen gehen will er auf keinen Fall. Er kann nirgendwohin. Er kann
sich nicht mal in der Raststätte aufwärmen. Sie haben ihn vor Stunden
rausgeschmissen, weil er versucht hat, bei den Kunden zu betteln.
Ein Typ nähert sich ihm. Er trägt einen Pappbecher mit Kaffee und
eines dieser abgepackten Sandwiches. Der Mann bleibt vor ihm stehen.
Austin hebt den Blick und sieht ihn an. Um die Ende dreißig, salopp
gekleidet. Jeans, Sweater und eine Regenjacke. Alles sauber, alles
ordentlich.
Der Kerl zögert und hält ihm dann den Kaffee und das Brot hin. »Hier,
das habe ich eigentlich für mich gekauft. Aber du brauchst es
dringender, und ich kann mir ja noch mal was holen.«
Austin beeilt sich, die Sachen an sich zu nehmen, bevor es sich der
Fremde anders überlegt. Er stellt den Kaffee auf den Boden, reißt die
Plastikfolie vom Sandwich und beißt hinein. Thunfisch mit Ei und Mayo.
Etwas Besseres hat er noch nie zuvor gegessen. Der Geschmack ist
himmlisch. Er beißt ein weiteres Stück ab und kaut hastig.
»Du bist hier gestrandet?«, fragt ihn der Mann.
»Ja«, nuschelt Austin mit vollem Mund. »Der Lkw-Fahrer hat mich an
der Zapfsäule rausgeworfen.«
»Und du hast keine Kohle mehr.«
»Nein.« Austin schüttelt den Kopf.
»Warum gehst du nicht einfach heim?«
»Auf keinen Fall!« Austin schnaubt. »Die sehen mich nie wieder.«
»Was ist mit dem Jugendamt? Die helfen doch.«
Der Typ hat null Ahnung.
»Die stecken mich in irgendeine Pflegefamilie oder eine dämliche
Wohngruppe. Das ist schlimmer als Knast.«
Der Mann verzieht den Mund. »Verstehe ich gut. Kenne ich aus
eigener Erfahrung.«
Austin mustert ihn genauer. »Ach, wirklich?« Das Sandwich ist weg.
Er nimmt den Pappbecher und trinkt vom Kaffee. Er ist nur noch
lauwarm, aber süß. Und Milch ist auch drin. Klasse.
»Ja. Wirklich. Ich war ebenfalls mal in deiner Situation. Weg von zu
Hause, ohne alles«, sagt der Typ. »Wie alt bist du?«
»Achtzehn«, lügt Austin.
Der Mann sagt nichts und betrachtet ihn ruhig.
»Okay. Sechzehn.«
Der Kerl sagt wieder nichts.
»Vierzehn. Aber das stimmt.«
Der Typ nickt. »In vier Jahren bist du volljährig. Dann sieht die Welt
völlig anders aus. Du musst lediglich diese vier Jahre überbrücken und
durchstehen.«
Jetzt nickt Austin.
Der Kerl mustert ihn erneut. Diesmal nachdenklich. Er holt tief. Luft.
»Okay. Ich muss weiter.«
»Na, dann tschüss«, sagt Austin. »Und danke.«
Der Mann entfernt sich von ihm. Nach ein paar Schritten wird er
langsamer, bleibt stehen, dreht sich um und kommt zurück.
Er blickt zu Austin herunter und zieht die Augenbrauen nachdenklich
zusammen. »Ich weiß nicht, ob das das Richtige ist, aber … wenn du
magst, kannst du mitkommen.«
Er hat es doch gewusst! Einer dieser Kinderficker.
»Mitkommen?«, wiederholt Austin. »Ich gehe nicht anschaffen und
werde dir ganz bestimmt keinen blasen.«
Der Mann lacht. »Und ich stehe nicht auf Jungs. Nein. Mit Sicherheit
nicht. Ich habe eine Autowerkstatt. Da könnte ich Unterstützung
gebrauchen.«
»Wie denn?«, fragt Austin. »Ich habe nicht mal einen Perso.«
»Als Hilfsarbeiter. Wagen waschen. Die Werkstatt aufräumen. Die
Reifen wechseln. Du siehst kräftig aus. Und keiner meiner Mitarbeiter
käme auf die Idee, nachzufragen. Warum sollten sie. Sie sind froh,
wenn sie diese Arbeiten nicht selbst machen müssen.«
So etwas Ähnliches wie Hoffnung keimt in Austin auf. »Was kriege ich
dafür?«
Der Mann zuckt mit den Schultern. »Nicht viel. Ein Zimmer neben der
Werkshalle. Mit Heizung, Bett, Schrank und einem Bad, das du dir mit
den anderen teilst. Könnte man ganz nett herrichten. Dazu Essen,
etwas Kleidung und dreihundert im Monat.«
Mit einem Mal ist Austin nicht mehr kalt. Sein Herz hämmert vor
lauter Aufregung und Freude wie wild in seiner Brust. Trotzdem sagt er:
»Dreihundert ist wirklich nicht gerade viel.«
»Nein«, bestätigt der Kerl. »Aber es reicht und du kannst
untergetaucht bleiben. Bei mir macht dir niemand Vorschriften, solange
du deinen Job erledigst. Und nach ein paar Jahren … wenn du achtzehn
bist … wer weiß: Du könntest bei mir als richtiger Azubi anfangen. Dann
kennst du schon alles und machst die Ausbildung bestimmt mit links.«
Austin kann nicht mehr länger den Coolen spielen. Er springt auf,
packt seinen abgewetzten Rucksack. »Okay.«
Der Mann deutet auf die Tasche. »Ist das alles, was du hast?«
»Ja«, sagt Austin.
Sie machen sich auf den Weg zum Parkplatz.
»Vorhin war alles voll. Mein Wagen steht da vorn.« Der Mann deutet
auf einen weißen Transporter, der etwas abseits parkt.
Der Weg ist schmal, der Typ lässt Austin den Vortritt.
Ich hab einen Job, denkt sich Austin. Von jetzt an wird alles bes…
Er erhält einen wuchtigen Schlag ins Genick und sackt in sich
zusammen. Halb bewusstlos bekommt er mit, wie ihn der Fremde an
den Füßen packt, über den nassen rauen Asphalt zu dem Fahrzeug
schleift.
Austin kämpft dagegen an, aber er verliert dennoch das Bewusstsein.
7
Die Ampel vor mir sprang auf Grün. Ich gab Gas.
Paul saß schweigend neben mir, rauchte einen Zigarillo und achtete
darauf, den Qualm aus dem leicht geöffneten Seitenfenster ins Freie zu
pusten.
Nach einer Weile seufzte er und wandte sich mir zu. »Ich sollte mir
das abgewöhnen.«
»Was denn?«, fragte ich.
»Das Rauchen.«
»Habe ich schon probiert. Öfter. Ist nur nicht so einfach umgesetzt
wie ausgesprochen.«
»Hm«, machte er. »Im Gegensatz zu dir bin ich aber willensstark.«
Ich lachte. »Ich würde es schaffen, auf die Kippen zu verzichten,
wenn es nicht diese beiden Männer in meinem Leben gäbe, die mich
ständig zum Rauchen animieren.«
»Da hast du auch wieder recht.« Er sah auf seinen Zigarillo.
»Manchmal ist es eben so, dass nichts über einen guten Glimmstängel
geht, wenn man nachdenken muss.«
»Aha. Und woran denkst du?«
»Ach, an Jörg Leitner.«
»Was hältst du von ihm?«
»Er hat einen hervorragenden Ruf. Er ist überaus engagiert. Er hat
einen einmalig guten Draht zu den Kids und Jugendlichen, mit denen er
arbeitet. Außerdem gilt er als ein super Seelsorger, weil er viel
Einfühlungsvermögen besitzt.«
»Das mag sein, aber das meinte ich nicht.«
»Was dann?« Er hatte zu Ende geraucht und drückte den Stummel im
Aschenbecher aus.
»Mir geht es um das, was er uns erzählt hat.«
Paul zuckte mit den Schultern. »Das erklärt doch einiges: Er hatte
eine ganz schlimme Kindheit und Jugend. Diese Erlebnisse haben ihn zu
dem Menschen geformt, der er ist. Seine problematische Vergangenheit
stellt gleichsam seine Motivation dar, das zu tun, was er jetzt macht.«
»Das meinte ich aber auch nicht, sondern die Sache mit Matteo.«
»Puh … Matteo muss ein besonderer Freund gewesen sein. Und der
Verlust, die Trennung von ihm war wohl eine traumatische Erfahrung.«
»Das nehme ich auch an. Allerdings hat uns Leitner nur einen
Bruchteil dessen erzählt, was sich damals zugetragen hat. Das weißt du
genauso gut wie ich.«
Paul blieb eine Zeit lang still. »Ja«, sagte er schließlich. »Das
stimmt.«
»Und da frage ich mich, warum Leitner einiges weggelassen hat.«
»Nun … möglicherweise ist die Erinnerung zu schmerzhaft für ihn.«
»Oder er schämt sich.«
»Schämen? Worauf spielst du an?«
Ich zuckte unbestimmt mit den Schultern. »Ausreißer, die allein am
Bahnhof rumhängen … Sehr viele Alternativen haben sie nicht, um an
Geld zu kommen. Das sind die idealen Missbrauchsopfer.«
»Du vermutest, er könnte sich prostituiert haben?«
»Vielleicht.«
Paul atmete tief durch. »Es ist furchtbar, wenn wir immer gleich das
Schlimmste annehmen.«
»Tja, richtig. Nur die Realität ist in den seltensten Fällen angenehm
oder rosarot.«
»Leider.«
»Und die Sache mit dem Mann auf dem anderen Balkon«, fuhr ich
fort, »der so aussehen soll wie der tote Matteo … Das ist –
Entschuldigung – fast krank. Im Sinne von pathologisch, verstehst du?«
»Schon«, meinte er leise. »Was auch immer ihm vor zwanzig Jahren
widerfahren ist, belastet Leitner enorm. Eins steht für mich fest: Er
kann das nicht hinter sich lassen.«
Wir hatten die Hochhaussiedlung erreicht. Ich bog auf den Parkplatz
ein. »Jedenfalls bin ich mal gespannt, was uns sein todkranker Freund
Uwe gleich berichten wird.«
»Anne, ich glaube nicht, dass uns eine großartige Überraschung oder
Entdeckung bevorsteht. Wir werden der Sache kurz nachgehen, klären,
dass das nur eine Täuschung war. Anschließend spreche ich mit Jörg
Leitner.« Er stockte. »Möglicherweise kann ich ihm die Last ein wenig
leichter machen. Ich werde ihm anbieten, dass wir uns öfter
austauschen können, wenn er mag.«
Ich stellte den Motor ab. »Gute Idee. Vielleicht gelingt es ihm dann,
endlich abzuschließen.«
»Das würde ich ihm von Herzen wünschen«, meinte Paul.
Ich schnallte mich ab und beugte mich zu ihm hinüber, um das
Handschuhfach zu öffnen. Ich kramte darin herum. »Wo sind die denn?
Verflucht noch mal!«
»Was suchst du?«, fragte er.
»Meine Zigaretten. Wenn dieser Uwe Gorny so gerne raucht …
eventuell kann ich ihm damit eine kleine Freude bereiten.«
8
Wir verabschiedeten uns von Herrn Gorny, stiegen die Treppe hinunter
und begaben uns zum Nachbarhochhaus. Nach kurzem Suchen fanden
wir das Klingelschild mit dem Namen, den uns Pfarrer Leitner genannt
hatte: Kant.
Paul schellte.
Nichts geschah. Nachdem das Rollo im Appartement
heruntergelassen war, hatten wir an sich auch nichts anderes erwartet.
Dennoch entschlossen wir uns, zur Wohnung hochzugehen, um nichts
unversucht zu lassen. Wir stiegen in den dritten Stock hinauf,
durchquerten den gut ausgeleuchteten Flur und probierten unser Glück
erneut.
Wieder Fehlanzeige.
»Die werden arbeiten«, sagte Paul.
»Vermutlich«, gab ich ihm recht. »Wir versuchen es später noch
mal.«
Ein surrendes Geräusch, und die Tür des Aufzugs glitt zur Seite. Eine
Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand trat in den Gang.
Angestrengt schob sie einen Kinderwagen mit Baby vor sich her.
»Hallo«, sagte ich zu ihr. »Wir wollten zu den Kants. Wissen Sie,
wann die heimkommen?«
»Och«, machte sie und ließ die Kleine los. »Die Kants … die arbeiten.
Ich glaube, bei beiden wird es immer recht spät. Sicher bin ich mir aber
nicht.«
»Vielen Dank«, sagte ich. Sie nickte, ging zu ihrer Wohnung, sperrte
auf und verschwand mit ihren Kindern im Inneren.
Paul und ich stiegen langsam die Treppe hinunter. Es hatte keinen
Sinn zu warten. Unten angekommen, steuerten wir eine Bank an,
setzten uns, und Paul zog seine Zigarillos aus der Tasche.
Ein Martinshorn näherte sich von Weitem, wurde lauter und ein
Rotkreuz-Wagen hielt auf dem Parkplatz. Paul, mit dem noch nicht
entflammten Feuerzeug in der Hand, und ich beobachteten zwei
Sanitäter, wie sie schnellen Schrittes über die Grünfläche eilten.
»Hierher! Hallo!«, rief eine weibliche Stimme. Wir sahen in die
Richtung. Eine Frau beugte sich über die Balustrade eines der Balkone
und gestikulierte wild. Die Rettungskräfte erblickten sie und steuerten
das Hochhaus an.
»Das ist doch Frau Gorny!«, sagte Paul.
»Das ist sie«, bestätigte ich.
Wir sprangen auf und folgten den Sanitätern. Im Foyer angelangt
bekamen wir gerade noch mit, wie sie den Lift betraten. Wieder
benutzten wir die Treppe. Doch diesmal rannten wir.
Die Eingangstür zur Wohnung des Ehepaares Gorny stand weit offen.
Stimmengewirr drang zu uns. Wir gingen hinein.
Frau Gorny lehnte an einer Kommode im Flur. Sie wirkte völlig
aufgelöst.
»Frau Steinbach, Herr Wagner«, stotterte sie. »Ich kam vorhin nach
Hause … Uwe, er atmet nicht mehr!«
»Das ist doch unmöglich!«, entfuhr es mir. »Wir waren bis vor nicht
mal zwanzig Minuten bei ihm. Als wir ihn verließen, war mit ihm so weit
alles in Ordnung.«
»Nur eine Stunde war ich weg«, erwiderte sie, ohne auf meine Worte
einzugehen. Vermutlich hatte sie sie überhaupt nicht wahrgenommen –
jedenfalls nicht bewusst.
»Nicht mal eine Stunde!«, fügte sie an.
Eilige Schritte. Der Notarzt. »Lassen Sie mich durch!«, herrschte er
uns an, und wir machten ihm Platz. Er begab sich ins Wohnzimmer und
schloss die Tür hinter sich.
Frau Gorny schwankte.
Paul griff fürsorglich nach ihrem Arm. »Kommen Sie, wir setzen uns
in die Küche.«
»Nein.« Sie zog ihren Arm weg. »Ich bleibe hier. Vielleicht braucht
mich Uwe. Ich fahre dann mit ihm in die Klinik…«
Die Wohnzimmertür ging auf. Der Notarzt kam zu uns. »Frau Gorny?«
Sie nickte mit panisch aufgerissenen Augen.
Der Notarzt war jung. Er konnte noch nicht allzu lange fertiger
Mediziner sein. Mehrmals holte er Luft, um etwas zu sagen. Schließlich
räusperte er sich. »Es tut mir sehr leid …«
Frau Gorny schlug ihre Hand vor den Mund und begann
herzzerreißend zu schluchzen und zu weinen. Wieder schwankte sie.
Diesmal fragte Paul erst gar nicht bei ihr nach, sondern führte sie mit
sanfter Gewalt in die Küche und sorgte dafür, dass sie auf einem der
Stühle Platz nahm.
Ich wandte mich dem Arzt zu. »Was ist denn los?«, fragte ich leise.
Er zuckte mit den Schultern. »Herr Gorny war beim Eintreffen der
Sanitäter bereits tot.«
»Oh«, bemerkte ich. »Und die Todesursache?«
Eine vage Geste. »Er war ein Palliativpatient. Lungenkrebs im
Endstadium. Stark metastasiert. Da kann das im Prinzip jederzeit
passieren.«
»Im Prinzip?«, wiederholte ich.
»Vermutlich.«
»Vermutlich?«
Er nagte an der Unterlippe. »Die genaue Todesursache lässt sich
ohne Untersuchung nicht feststellen. Ich tippe auf eine Lungenembolie
…« Er seufzte und schwieg.
»Warum zögern Sie?«, fragte ich geradeheraus.
Er sah mich direkt an. »Ich würde es der Witwe zu gern ersparen.
Aber ich muss im Totenschein als Todesursache ungeklärt angeben,
damit sicherheitshalber eine Obduktion durchgeführt wird. Danach
wissen wir es genau.«
10
A FRANK DISCLOSURE.