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Evelyn Sthamer*
Die AfD-Wahl als Antwort auf Statusängste?
Zum Einfluss ökonomischer Deprivation und Zukunftssorgen
auf AfD-Wahlabsichten
https://doi.org/10.1515/zsr-2018-0026
1 Einleitung
„Die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg droht die Republik zu zerreißen“
(Hagelüken 2018). Dieser Titel eines Essays in der Süddeutschen Zeitung vom 27.
Januar 2018 ist nur einer von vielen zum Thema Abstiegsangst. Der Erfolg der
Alternative für Deutschland (AfD) wird hier als Protestwahl derjenigen gedeu-
tet, die sich durch die Akademisierung, den Wertewandel oder die Postindustri-
alisierung der Gesellschaft an den Rand gedrängt sehen. Es seien diejenigen
„mit Abstiegssorgen, denen Status und Ordnung viel bedeuten“, die die Volks-
parteien zurückgewinnen müssen.1
||
1 Ich danke Patrick Sachweh und Jan Brülle für ihre hilfreichen Anmerkungen sowie den
beiden anonymen Gutachterinnen oder Gutachtern für die konstruktive Kritik. Weiterhin dan-
ke ich den Teilnehmenden der Jahrestagung 2018 der Sektion Sozialpolitik für ihre hilfreichen
Kommentare sowie der DFG und allen voran den Teilnehmenden der Gruppendiskussionen
||
*Kontaktperson: Evelyn Sthamer, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Soziologie,
Theodor-W.-Adorno Platz 6, 60323 Frankfurt am Main, E-Mail : sthamer@soz.uni-frankfurt.de
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und der quantitativen Befragung für die Einblicke in ihre persönlichen Einstellungs- und Er-
fahrungswelten.
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||
2 Die theoretische Debatte um die kulturelle Konfliktlinie zwischen Kosmopolitismus und
Kommunitarismus kann in zahlreichen Publikationen nachgelesen werden (Ignazi 1992;
Inglehart/Norris 2016; Merkel 2016; Zürn/Wilde 2016).
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3 Bei der Beschreibung des Forschungsstands konzentriere ich mich ausschließlich auf jünge-
re Studien und für Deutschland explizit solche, die sich mit AfD-Wahlabsichten beschäftigen.
Für einen umfassenderen Überblick zum Forschungsstand zum Thema Rechtspopulismus
siehe Kriesi/Pappas (2016).
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4 Studien, bei denen die (objektive und subjektive) soziale Lage die geringste Bedeutung hat,
schauen sich Parteiidentifikationen und nicht Wahlabsichten an. Es handelt sich aber bei
knapp 40 % der AfD-Wähler/-nnen um Protestwähler/-innen, die sich mit einer höheren Wahr-
scheinlichkeit durch eine (auch ökonomische) Unzufriedenheit kennzeichnen (vgl. Bieber et al.
2018).
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tus, sondern vor allem subjektive Entwertungserfahrungen als relevant für die
Interpretation der „Modernisierungsverliererthese“ und damit AfD-Wahl-
absichten angenommen (Thomas/Thomas 1928).
Aus diesen Überlegungen ergibt sich erstens die allgemeine Hypothese,
dass Ungerechtigkeitsempfindungen einen positiven Einfluss auf die AfD-
Wahlabsicht haben (H2).
Erwartbar ist dabei, dass eine aktuelle „ökonomische Bedrohung“ aufgrund
der relativen Abwertungserfahrungen in den letzten 25 Jahren zunehmend von
Personen in unteren Statuslagen wahrgenommen wird. Diese könnte sich durch
Ungerechtigkeitsempfindungen der eigenen Lage im Vergleich zu anderen äu-
ßern. Lengfeld beschreibt das wie folgt:
Menschen, die AfD wählen oder es in Erwägung ziehen, befinden sich somit überwiegend
nicht in einer finanziell prekären Situation, aber sie fühlen sich vor möglichen Krisen in
der Zukunft nicht ausreichend geschützt (Hilmer et al. 2017: 33).
||
5 Dieses an der Goethe-Universität Frankfurt angesiedelte Projekt wurde von Dr. Patrick
Sachweh geleitet und durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) (SA 2812 / 1-1) finan-
ziert. Beim Auswahlverfahren handelt es sich um ein Standard-Random-Verfahren (SR). In
dessen Rahmen ist die Ausweisung von Ausschöpfungsquoten (die im Feldbericht der Studie
mit 15,4 % ausgewiesen wird) weniger aussagekräftig als eine Gegenüberstellung der Eigen-
schaften der Stichprobe mit bekannten Verteilungen in der Gesamtbevölkerung. Den Unter-
schieden in den Randverteilungen wird in allen Analysen durch die Verwendung von Bevölke-
rungsgewichten begegnet.
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3.2 Operationalisierung
Abhängige Variable ist die AfD-Wahlabsicht, die anhand der sogenannten
„Sonntagsfrage“ erhoben wurde. Es wurde zunächst danach gefragt, ob die
Befragungsperson eine Wahlabsicht hat, und anschließend, für welche Partei
sich die Person entscheiden würde.6 Diese Frage beantworteten 1.230 Personen
(ohne noch Unentschiedene). Die Variable misst, ob eine Person als Wahlab-
sicht die AfD im Gegensatz zu allen anderen Parteien angibt, und ist 0/1-kodiert.
Als erklärende Faktoren verwende ich das Ungerechtigkeitsempfinden, in-
tragenerationale Prekaritätserwartungen sowie negative intergenerationale
Mobilitätserwartungen.
Das Ungerechtigkeitsempfinden wurde anhand des (auch im ALLBUS ver-
fügbaren) ergebnisbezogenen Gerechtigkeitsempfindens operationalisiert: „Im
Vergleich dazu, wie andere hier in Deutschland leben: Glauben Sie, dass Sie
Ihren gerechten Anteil erhalten, mehr als Ihren gerechten Anteil, etwas weniger
oder sehr viel weniger?“ Die 4-stufige Antwortskala wurde dichotomisiert, so-
dass die Angabe, „etwas weniger“ oder „sehr viel weniger“ zu erhalten, eine
Ungerechtigkeitswahrnehmung anzeigt.
Für die Prekaritätserwartungen wurde ein Index gebildet, der misst, mit
welcher Wahrscheinlichkeit (Skala 0-100, 11-stufig) die Befragten glauben, in
den nächsten 5 Jahren von folgenden Situationen betroffen zu sein:7 Arbeitslo-
sigkeit, Hartz-IV-Bezug, schlechte Bezahlung, befristete Beschäftigung, aus
finanziellen Gründen in eine günstigere Wohnung umziehen müssen, von Er-
sparnissen leben, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, und für den eigenen
Lebensunterhalt und den der Familie nicht mehr sorgen können. Nach einer
explorativen Hauptkomponentenanalyse laden alle Items auf einem Faktor. Da
die schlechte Bezahlung sowie die befristete Beschäftigung für einige Befragte
(z. B. Arbeitslose) einen Aufstieg bedeuten, werden diese beiden Items aus der
||
6 Hier ist es zentral zu betonen, dass die generelle Wahlabsicht bereits sozial selektiv ist:
Während von den unteren Einkommen ca. 25 % angaben, nicht wählen zu wollen, waren es bei
den hohen Einkommen nur ca. 5 % (mittlere Einkommen: 12 %). Bei der konkreten Parteipräfe-
renz ist ebenfalls der Anteil noch Unentschiedener bei den niedrigen Einkommen höher (ca.
18 %) als bei den mittleren (16 %) oder hohen Einkommen (11 %).
7 Der Fragetext lautet: „Unabhängig davon, ob Sie derzeit von einer oder mehrerer der folgen-
den Situationen betroffen sind oder nicht: Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Sie
(auch) zu mindestens einem Zeitpunkt in den nächsten 5 Jahren davon betroffen sein werden?
Bitte geben Sie die Wahrscheinlichkeit auf einer Skala von 0 bis 100 an. Der Wert 0 bedeutet:
Das wird mit Sicherheit nicht eintreten. Der Wert 100 bedeutet: Das wird mit Sicherheit eintre-
ten. Mit den Werten zwischen 0 und 100 können Sie die Wahrscheinlichkeit abstufen.“
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8 Getrennte Hauptkomponentenanalysen für Arme und Arbeitslose zeigen in der Tat, dass die
beiden Indikatoren auf einem zweiten Faktor laden, was zusätzlich für einen Ausschluss dieser
Indikatoren aus dem Index spricht.
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(häufig familiär sowie beruflich etabliert) und 65-Jährigen und Älteren (zumeist
im Ruhestand).
Die bestehende Forschung hat gezeigt, dass kulturelle Aspekte – genauer:
Ausländerfeindlichkeit und Kritik an der Flüchtlingszuwanderung – der wich-
tigste Erklärungsfaktor für die AfD-Wahlbereitschaft ist (Lengfeld/Dilger 2018;
Schröder 2018; Rippl/Seipel 2018). Zwar liegt diese Variable in der vorliegenden
Befragung nicht vor, und auch in Bezug auf andere kulturelle Aspekte bietet die
Befragung weniger Wahlmöglichkeiten. Deshalb wird auf die politische Selbst-
einstufung (Rechts-links-Skala) sowie ein eigens formuliertes Item zurückgegrif-
fen, die beide als inklusionsfeindliche Einstellungen gegenüber Fremden be-
zeichnet werden können. Die Rechts-links-Skala wird laut Forschungsstand
anhand dreier Dimensionen interpretiert, wobei unter anderem inklusions-
freundliche Einstellungen mit linken Positionen verknüpft sind und auf Exklu-
sion bestehende Individuen sich eher rechts einstufen (Roßteutscher/Scherer
2013). Die Variable ist von 1 (links) bis 11 (rechts) kodiert, wobei exkludierende
Einstellungen auf der rechten Seite der Skala abgebildet werden. Eine weitere
Kontrollvariable wurde aus den Aussagen der Gruppendiskussionen heraus
entwickelt: Die falsche Prioritätensetzung des Staates wird durch folgendes
Zustimmungsitem abgebildet „Der deutsche Staat sollte sein Geld lieber für die
eigene Bevölkerung ausgeben, als nur auf bestimmte Gruppen (z. B. Banken, Grie-
chenland, Flüchtlinge) zu achten.“ Wenngleich sich diese Variable in ihrer
Mehrdimensionalität nicht direkt auf Ausländerfeindlichkeit und Kritik an der
Flüchtlingszuwanderung bezieht, kann sie jedoch als Bedrohung der Ingroup
durch verschiedene Outgroups interpretiert und durch die Theorie des realisti-
schen Gruppenkonflikts begründet werden (Sherif 1988).
3.3 Methoden
Da die AfD-Wahlabsicht eine Dummy-Variable ist, schätze ich logistische Re-
gressionsmodelle. Dabei nähere ich mich dem theoretischen Modell schrittweise
an, indem ich stufenweise unterschiedliche Erklärungsfaktoren einbeziehe, um
am Ende alle relevanten Variablen in ein Gesamtmodell zu integrieren.
Da die Koeffizienten logistischer Regressionen zwischen verschiedenen
Modellen nicht vergleichbar sind (Ai/Norton 2003; Mood 2010), zeige ich die
Modelle ohne Interaktionseffekte als Average Marginal Effects (AMEs) im Onli-
neanhang. Anhand dieser kann ich eventuelle vermittelnde Effekte identifizie-
ren. Interaktionseffekte werden anhand grafischer Darstellungen von Average
Marginal Effects präsentiert.
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4 Empirische Ergebnisse
4.1 Wer gibt an, die AfD wählen zu wollen?
Insgesamt zeigt sich anhand unserer Datenbasis, dass die AfD-Wahlabsicht in
der unteren Einkommensschicht mit 14 % deutlich häufiger vorkommt als in der
||
9 Alle Ergebnisse wurden sowohl für die disproportionale Zufallsauswahl für Ost- und West-
deutschland als auch die Haushaltszusammensetzung gewichtet.
10 Dabei handelt es sich um ein Ergebnis der gewichteten Daten. In der nachfolgenden De-
skriptionstabelle bezieht sich die Fallzahl für die AfD-Stichprobe auf ungewichtete Daten und
ist daher etwas höher als nach der Gewichtung. Da jedoch innerhalb der Gruppen gewichtete
Ergebnisse berichtet werden, sollte dies die Ergebnisse nicht beeinflussen.
AfD-Wahl und Statusängste | 577
Zunächst zeigt sich, dass die Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen besonders
stark in der Gruppe mit AfD-Wahlabsicht vertreten ist und der Anteil in Ost-
deutschland höher ist als in Westdeutschland. Auch geben Personen mit gerin-
gem Einkommen überproportional häufig die AfD als Parteipräferenz an (26,1 %
zu 14,8 %), Personen mit hohem Einkommen dagegen seltener (13,6 % zu
23,7 %). Dagegen unterscheidet sich der Anteil mit mittleren Einkommen in
beiden Gruppen kaum (60,4 % zu 61,6 %). Ein mittlerer Bildungsabschluss ist
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bei den AfD-Anhängerinnen und –Anhängern häufiger vertreten als in der Ge-
samtstichprobe, ein Hoch- oder Fachhochschulabschluss mit 4 % (zu 21,1 %)
deutlich seltener. Dass zusätzlich Arbeitslose sowie Personen mit Arbeitslosig-
keitserfahrung häufiger in der Gruppe mit AfD-Wahlabsicht vorkommen, ist in
Einklang mit anderen Ergebnissen, nach denen „Modernisierungsverlierer“ im
engeren Sinne (d. h. bezogen auf die objektive soziale Lage) besonders häufig
unter AfD-Sympathisantinnen und -Sympathisanten zu finden sind (Lux 2018a;
Tutić/von Hermanni 2018; Rippl/Seipel 2018).
Die deskriptive Verteilung nach objektiven ökonomischen Merkmalen zeigt
also zunächst einen sozialen Gradient bei Personen mit AfD-Wahlabsichten und
ohne an. Wie aber sieht die Verteilung in Bezug auf die subjektiven Lagebeurtei-
lungen aus? Auch hier sind die Indikatoren, die auf die subjektiv ökonomische
Ebene der Modernisierungsverliererthese verweisen, in der Gruppe mit AfD-
Wahlabsicht häufiger beobachtbar. Am deutlichsten fällt dies bei den negativen
intergenerationalen Mobilitätserwartungen auf. Fast 66 % derjenigen, die ange-
ben, die AfD wählen zu wollen, geben dies an, im Vergleich zu knapp 38 % in
der Gesamtstichprobe.11 Auch ein Ungerechtigkeitsempfinden wird in der Grup-
pe mit AfD-Wahlabsicht mit fast 77 % vergleichsweise häufig angegeben. Die
Erwartung, in den nächsten fünf Jahren in einer prekären Lage zu sein, wird
ebenfalls als wahrscheinlicher eingeschätzt als in der Gesamtstichprobe.
Erwartungsgemäß kommen auch Indikatoren, die mit inklusionskritischen
Einstellungen in Verbindung gebracht werden können, d. h. die politische
Selbsteinschätzung und die Einschätzung, dass der Staat sein Geld zu wenig für
die eigene Bevölkerung aufwendet, in der Gruppe mit AfD-Wahlabsicht häufiger
vor. So geben Letzteres fast 83 % unter den AfD-Sympathisantinnen
und -Sympathisanten an, im Vergleich zu knapp 34 % der Gesamtstichprobe.
||
11 Dabei sind diese kein Phänomen, das eher untere Einkommensgruppen betrifft: Mit jeweils
knapp 40 % kommen diese bei oberen und mittleren Einkommensgruppen häufiger vor als in
der unteren Einkommensgruppe mit ca. 28 %, während sowohl Ungerechtigkeitsempfindun-
gen als auch Prekaritätserwartungen in der unteren Einkommensgruppe mit 55 bzw. 25 %
deutlich verbreiteter sind (insbesondere Prekaritätserwartungen kommen in der mittleren und
oberen Einkommensgruppe mit unter 10 % eher selten vor) .
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M1 M2 M3 M4 M5 M6 M7 M8
M1 M2 M3 M4 M5 M6 M7 M8
M1 M2 M3 M4 M5 M6 M7 M8
Bei Betrachtung von Modell 1 fällt auf, dass auf Basis der vorliegenden Daten –
und entgegen Hypothese 1 – keine Unterschiede in den AfD-Parteipräferenzen
nach Einkommensgruppen oder der Arbeitslosigkeit(serfahrung) beobachtbar
sind.12 Was allerdings deutlich wird, ist, dass eine hohe Bildung die relative
Chance verringert, die AfD als Wahlabsicht anzugeben. Dies gilt auch unter
Kontrolle aller anderen berücksichtigten sozialstrukturellen Variablen. Im Ver-
gleich zu Personen in mittlerem Alter geben Personen im Alter zwischen 50 und
64 Jahren häufiger eine AfD-Wahlabsicht an. Weiterhin haben Frauen eine ten-
denziell geringe Wahrscheinlichkeit, die AfD zu präferieren. Auch unter Kon-
trolle der soziodemografischen Variablen geben die Befragten in Ostdeutsch-
land mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an, die AfD wählen zu wollen.
Welchen Einfluss zeigen die subjektiven Lagebeurteilungen (Modelle 2–4)?
Sowohl die Ungerechtigkeitsempfindungen als auch die Prekaritätserwartungen
und die intergenerationalen Zukunftserwartungen haben einen positiven Ein-
fluss auf die AfD-Wahlabsicht, wobei die Prekaritätserwartungen (mit einem
Signifikanzniveau von unter 10 %, vgl. Tabelle A1) den vergleichsweise
schwächsten Effekt zeigen. An der Veränderung des Pseudo-R² nach McFadden
im Vergleich zu Modell 1 wird sichtbar, dass vor allem die intergenerationalen
Mobilitätserwartungen (Modell 4) die Erklärungskraft des Modells verbessern
(von 0,12 auf 0,17). Auch die Veränderungen der anderen Modelfit-Maße AIC
||
12 Anstatt Einkommen wurden auch Berufsklassen (EGP) in die Modelle einbezogen. Auch
hier wurden keine Gruppenunterschiede sichtbar. Weiterhin zeigten sich auch in Modellen mit
Einkommen oder Berufsklassen ohne weitere Kontrollvariablen keine signifikanten Gruppen-
unterschiede.
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Staates spielt eine zentrale Rolle zur Erklärung der AfD-Wahlabsicht. Die Ein-
flüsse sind einerseits hochsignifikant, andererseits verbessern sich die Modelfit-
Maße erheblich. So beträgt das Pseudo-R² in Modell 8, in dem die Indikatoren
hinzugenommen werden, 0,42 (bzw. im AME-Modell 8b ohne die Interaktionsef-
fekte 0,40, siehe Tabelle A1). Wenngleich also auch die vorliegenden Ergebnisse
die Bedeutung inklusionskritischer Einstellungen unterstreichen (wobei an
dieser Stelle zumindest das zweite Item stark ökonomisch konnotiert ist), stellt
sich die Frage, ob subjektiv ökonomische Lagebeurteilungen unabhängig davon
bedeutsam für AfD-Wahlabsichten sind. Dazu wird einerseits betrachtet, wie
sich die Effekte im letzten AME-Modell für die subjektiven Lagebeurteilungen
verändern: Ungerechtigkeitsempfindungen sind in diesem Modell nicht mehr
signifikant. Vermutlich besteht ein Zusammenhang mit der „Falschen Prioritä-
tensatzung des Staates“, über das sich das Ungerechtigkeitsempfinden aus-
wirkt.
Die Prekaritätserwartungen bleiben dagegen auf niedrigem Signifikanzni-
veau stabil, während der Effekt der negativen intergenerationalen Mobilitätser-
wartungen anhaltend stark und auf dem 0,01 %-Niveau signifikant bleibt: So
erhöhen Letztere die Wahrscheinlichkeit, eine AfD-Wahlabsicht anzugeben, im
Durchschnitt der Stichprobe noch um 7 Prozentpunkte. Bezogen auf die Hypo-
thesen 2 bis 4 kann an dieser Stelle Folgendes festgehalten werden: Ungerech-
tigkeitswahrnehmungen sind relevant für die AfD-Wahlabsicht (H2), allerdings
wirken sich diese vermittelt über die Wahrnehmung aus, dass der Staat ver-
gleichsweise zu wenig in die eigene Bevölkerung investiert – was hier für die
Wirkung vom realistischen Gruppenkonflikt und einer gruppenbezogenen rela-
tiven Deprivation spricht. Hypothese 3, die besagte, dass sich die objektive Lage
über Ungerechtigkeitsempfindungen auswirkt, konnte anhand dieser Untersu-
chung verworfen werden, da bereits im ersten Modell keine Effekte der ökono-
mischen Lage gefunden wurden. Hypothese 4, die besagt, dass negative intra-
oder intergenerationale Zukunftserwartungen einen Einfluss auf die AfD-
Wahlabsicht haben, konnte wiederum durch die vorliegenden Daten gestützt
werden (H4).
Zuletzt werden die beiden im Gesamtmodell signifikanten Interaktionsef-
fekte der Prekaritätserwartungen und negativen intergenerationalen Mobilitäts-
erwartungen (Modell 8) anhand von AME-Grafiken genauer in den Blick ge-
nommen. Das Gerechtigkeitsempfinden zeigte bereits in Modell 5 keine
unterschiedlichen Einflüsse nach Einkommen, wonach sowohl Hypothese 5a
als auch Hypothese 5b – die stärkere Einflüsse für Personen mit geringen Ein-
kommen postulierten – nicht gestützt werden konnten. Grafik 1 zeigt die durch-
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Deutlich wird hier, dass der Effekt von Prekaritätserwartungen für die mittlere
Einkommensgruppe stärker ist als für die untere Einkommensgruppe und auch
nur für diese signifikant zu einer erhöhten AfD-Wahlabsicht beiträgt. Wenn-
gleich Personen mit hohem Einkommen eher eine AfD-Wahlabsicht angeben,
wenn diese glauben, in den nächsten fünf Jahren in einer prekären Lebenssitua-
tion wie Arbeitslosigkeit oder finanzieller Not zu sein, so ist dieser Einfluss je-
doch nicht signifikant. Demnach spielen mittelfristige „Abstiegsängste der Mit-
te“ eine größere Rolle für AfD-Wahlabsichten als die Angst eines Verharrens in
einer prekären Lage: Hypothese 5c, die einen stärkeren Einfluss von negativen
Zukunftserwartungen bei Personen mit mittlerem Einkommen postulierte, wird
daher anhand dieser Ergebnisse gestützt.
AfD-Wahl und Statusängste | 585
.5 .4
Average Marginal Effects (AME)
.1 .2 0 .3
Anders sieht das Bild in Bezug auf die negativen intergenerationalen Mobili-
tätserwartungen aus. Wenngleich aufgrund der geringen Fallzahlen große Kon-
fidenzintervalle zu beobachten sind, so zeigt sich doch, dass Personen mit ge-
ringen Einkommen zur AfD neigen, wenn diese glauben, dass die
Kindergeneration einmal einen genauso schlechten oder schlechteren Lebens-
standard hat als sie selbst: Im Durchschnitt der Stichprobe steigt die Wahr-
scheinlichkeit der AfD-Wahlabsicht für Personen im unteren Einkommensbe-
reich, die ein intergenerationales Verharren in einer schlechten Lebenslage
erwarten, im Vergleich zu denen, die dies nicht erwarten, um ca. 25 Prozent-
punkte. Im Vergleich dazu tragen intergenerationale Abstiegserwartungen für
Personen mit mittleren und hohen Einkommen nicht signifikant zu einer stärke-
ren AfD-Wahlbereitschaft bei. An dieser Stelle wird also Hypothese H5c nicht
gestützt. Vielmehr scheint eine AfD-Wahlabsicht vor allem für Menschen mit
geringen Einkommen wahrscheinlicher, wenn diese erwarten, dass ihr aktuell
schlechter Lebensstandard sich bis in die nächste Generation hinein verfestigt.
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||
13 Wenngleich diese mit mittlerem und höherem Einkommen mit ca. 40 % häufiger vorkom-
men, werden sie immerhin noch von ca. einem Drittel derjenigen mit geringem Einkommen
angegeben.
AfD-Wahl und Statusängste | 587
Berücksichtigt man Ausländerfeindlichkeit, zeigt sich, dass eine objektiv oder subjektiv
empfundene niedrige ökonomische Schichtlage nicht ursächlich für die AfD-
Unterstützung ist. Denn egal ob sich Ausländerfeindlichkeit in niedriger oder höherge-
stellten Schichten zeigt, sie geht immer mit einer stärkeren Unterstützung der AfD einher
(Schröder 2018: 19).
Nimmt man dies wörtlich, so könnte man an der vorliegenden Studie kritisieren,
dass sie die wichtigste Ursache der AfD-Wahlabsicht nicht berücksichtigt hat
und daher die gefundenen Ergebnisse kaum dazu beitragen können, Maßnah-
men zu identifizieren, die einem (weiteren) Erstarken der AfD entgegenwirken
könnten. Dem möchte ich im Folgenden einige Argumente entgegenstellen: Nur
die Aspekte als relevant zu befinden, die auch unter Kontrolle jeglicher anderer
Variablen bestehen bleiben, verstellt den Blick auf eventuelle, diesen Aspekten
vorgelagerte Erklärungen, denn auch und gerade die Identifikation indirekter
Einflussfaktoren bietet Potential für Präventionsstrategien. Weiterhin, so zeigen
meine Analysen, aber auch die Ergebnisse von Lengfeld und Dilger (2018), ha-
ben unterschiedliche Aspekte nicht die gleiche Bedeutung für verschiedene
gesellschaftliche Gruppen. Die Realität ist damit durchaus komplex, und gerade
Studien, die vermögen, diese Komplexität besser einzufangen, könnten in der
Zukunft gewinnbringend sein.
Insgesamt weisen meine Ergebnisse darauf hin, dass das Thema „soziale
Ungleichheit“ über (intergenerationale) Abstiegssorgen bzw. Verfestigungser-
wartungen nicht vernachlässigt werden sollte, wenn man Ansatzpunkte zur
Verhinderung eines (weiteren) Erstarkens des Rechtspopulismus in Deutsch-
land sucht. Wenngleich „Abstiegsängste der Mitte“ derzeit auf einem ver-
gleichsweise geringen Niveau sind (Lengfeld/Ordemann 2017), so sind sie den-
noch folgenreich. Weiterhin ist die Verfestigung von Armut nach der
vorliegenden Studie nicht nur ein generelles Problem der Sozialstruktur, sie ist
auch aus gesellschaftspolitischen Gründen hoch brisant. Daher ergibt sich die –
sicherlich durch weitere Studien zu überprüfende – These, dass nicht nur das
Thema Migration relevant ist, um dem Rechtspopulismus zu begegnen, sondern
auch soziale Sicherheit sowie das Aufzeigen von Zukunftsperspektiven.
588 | Evelyn Sthamer
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Zürn, Michael; Wilde Pieter de (2016). „Debating globalization: cosmopolitanism and commu-
nitarianism as political ideologies“, Journal of Political Ideologies 21: 280-301.
Kurzbiografie
Evelyn Sthamer ist Soziologin (M.Sc.) und arbeitet als wissenschaftliche Mitar-
beiterin im DFG-Projekt „Ungleichheitsdeutungen und Gerechtigkeitsorientie-
rungen in Deutschland“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre
Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Armut und Prekarität, Sozialpoli-
tik sowie Wahrnehmungen sozialer Ungleichheit und Gerechtigkeit.
AfD-Wahl und Statusängste | 591