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Ursachen der Regression: Ökonomische Abstiegsängste oder Cultural

Backlash? Die falsche Frage! Überlegungen anhand empirischer


Eindrücke aus Frankfurt am Main und Leipzig

Daniel Mullis & Paul Zschocke

1. Einleitung
Die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts, schreibt Wilhelm Heitmeyer (2018: 89), sind
angesichts des Ausfalls sozialer Sicherungssysteme und des Manifestwerdens von multiplen Krisen von
einer deutlichen Erfahrung der Entsicherung geprägt: Finanz- und Eurokrise (2008ff.), die Krise des
Migrationsregimes die 2015/16 deutlich aufbrach und aktuell die Klimakrise (2019), sie alle haben, wenn
auf unterschiedliche Weise, politisch und sozial ‚ihre‘ Spuren hinterlassen. Gleichzeitig entfalten sich
diese Krisen in einer Gesellschaft, die nach Jahrzehnten neoliberaler Restrukturierung von
individualistischen Marktlogiken sowie von postdemokratischen Politikformen geprägt ist. Der Aufstieg
der „autoritär nationalradikalen“ (Heitmeyer 2018: 231) Alternative für Deutschland (AfD) war und ist,
ebenso wie der Niedergang der Volksparteien, ein Symptom dieser Entwicklungen. Es ist jedoch falsch
von einem einheitlichen Ruck nach rechts zu sprechen: Die Blockupy-Krisenproteste, Recht-auf-Stadt-
Bewegungen, #wirsindmehr, #unteilbar, die Seebrücke-Initiativen, Fridays for Future oder Ende Gelände
artikulier(t)en vor dem gleichen Hintergrund eine hörbare emanzipatorische Kritik an den Verhältnissen
bzw. an einzelnen Mechanismen der Krisenbearbeitung. Auch der Erfolg der Grünen bei den
Europawahlen 2019 spricht dafür, dass Polarisierung der treffendere Begriff ist (Franz et al. 2019).
Dennoch: Es gibt gute Gründe insgesamt von einer regressiven Transformation von Gesellschaft zu
sprechen, was mehr ist, als rechte Erfolge zu konstatieren (vgl. Geiselberger 2017; Mullis/Zschocke
2019). Autoritäre und fremdenfeindliche Einstellungen erstarken in der Gesellschaft (Decker/Brähler
2018) und im gesamten Parteienspektrum werden Stimmen lauter, die basale Menschenrechte in Frage
stellen – insbesondere jene von sich auf der Flucht befindenden Menschen. Über die Ursachen und
Hintergründe dieser Entwicklungen wird in den Gesellschaftswissenschaften heftig gestritten: Der
Konflikt verläuft entlang der Frage, ob eher sozioökonomische Abstiegserfahrungen und -ängste (vgl.
Dörre 2018; Eribon 2016; Heitmeyer 2018; Nachtwey 2016; Nölke 2017; Streeck 2017; PROKLA-
Redaktion 2016) oder kulturell-identitätspolitische Faktoren ursächlich sind (vgl. Charim 2018;
Inglehart/Norris 2016; Lengfeld 2018; Rippl/Seipel 2018). Vor dem Hintergrund einer ganzen Reihe
lokaler Studien über Erfolge rechter Bewegungen und Parteien, sowie erster Eindrücke aus eigener
empirischer Forschung in je zwei Stadtteilen von Frankfurt am Main und Leipzig argumentieren wir hier,
dass die Frage nach dem oder zwischen ökonomischen Abstiegsängsten und einem Cultural Backlash die

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falsche ist. Stattdessen scheint uns notwendig das und bzw. die Multidimensionalität (vgl.
Demirović/Maihofer 2013: 38ff.) von sozialen, ökonomischen und identitätspolitischen Konfliktlinien
innerhalb von Prozessen der alltäglichen politischen Subjektivierung in den Fokus zu rücken (vgl.
Mullis/Zschocke 2019). Dabei erkennen wir die Formierung einer regressiven Kollektivität, die aus einer
komplexen Verschränkung von Macht- und Herrschmomenten entsteht. Vier Dimensionen erachten wir
in ihrer Analyse als konstitutiv: die Verallgemeinerung von Abstiegserfahrung, Entdemokratisierung des
Alltags, sowie deren Wahrnehmung in spezifischen sozialen Lagen und deren gesellschaftliche
Verarbeitung durch umfassenden Rassismus. Wir plädieren daher für eine Perspektive ‚von unten‘ die
sowohl die Strukturiertheit als auch Kontingenz alltäglicher Praxis ernst nimmt und Perspektiven für
emanzipatorische Politiken eröffnet. 1

2. Rechte Dynamiken und der Aufstieg der AfD


Für die letzten fünfzehn Jahre werden in der Einstellungsforschung für Deutschland – insb. ‚Deutsche
Zustände‘ und ‚Leipziger Mittestudie‘ (seit 2018 ‚Leipziger Autoritarismus-Studie‘) – zwei Tendenzen
hervorgehoben: Einerseits wird die Bevölkerung liberaler gegenüber vielfältigen Lebensweisen.
Andererseits nimmt die Abwertung von Muslim*innen, Rom*nja und Sinti*zze, Geflüchteten sowie von
Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen zu (vgl. Decker et al. 2016: 43ff.; Zick et al. 2016: 111ff.). Die
Studien zeigen, dass fremdenfeindliche und antisemitische Einstellungen lange vor dem Aufstieg der AfD
in der Mitte der Gesellschaft verankert waren. Sie verdeutlichen, dass Fremdenfeindlichkeit wieder
zunimmt, während die Werte zwischen 2002 und 2014 tendenziell sanken. Umfragen zu Folge sind 2018
24,1 Prozent (Ost: 30,9 Prozent / West: 22,3 Prozent) der Bevölkerung „manifest ausländerfeindlich“
eingestellt (Decker/Brähler 2018: 83). In den Studien wird ferner ein verbreitetes Gefühl politischer
Ohnmacht und des Ausschlusses aus demokratischer Mitbestimmung offenkundig (ebd.: 98).
Hinsichtlich der Polarisierung lautet der Befund wie folgt (Decker/Brähler 2016: 103ff.): Gewachsen sind
jene Milieus, in denen positiv auf Demokratie Bezug genommen wird und Vorurteile sowie autoritäre
Aggression schwach ausgeprägt sind; gleichzeitig haben in den Milieus, in welchen dies nicht der Fall ist,
die Ablehnung der Demokratie sowie autoritäre Wünsche deutlich zugenommen. Oliver Decker und
Elmar Brähler (2018) verweisen darauf, dass die Stärkung der Milieus, in denen Demokratie befürwortet
wird, nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass auch in diesen autoritäre Mechanismen Wirkkraft
entfalten. Mit Verweis auf Theodor Adornos (2017 [1950]) „Studien zum autoritären Charakter“

1
Der vorliegende Text entstand im Anschluss an unseren Vortrag an der AKG Tagung 2018 in Hamburg
parallel zu unserem PRIF-Report „Regressive Politiken und der Aufstiege der AfD – Ursachensuche im
Dickicht einer kontroversen Debatte“ (Mullis/Zschocke 2019). In Teilen überlappen sich daher die
Argumentationslinien der beiden Texte.
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beobachten sie eine erneute „Flucht ins Autoritäre“ (Decker/Brähler 2018): so stimmen fast 65 Prozent
der befragten der Aussage zu, dass „Unruhestifter [..] deutlich zu spüren bekommen“ sollen, dass sie in
der Gesellschaft „unerwünscht sind“, etwas mehr als 23 Prozent wollen „wichtige Entscheidungen […]
Führungspersonen überlassen“ und rund 40 Prozent fordern, die Einhaltung bewährter Konventionen
und dass diese nicht in Frage zu stellen sind (ebd.: 121).
Der Aufstieg der AfD ist neben rechten Massendemonstrationen und der zunehmenden Zahl extrem
rechter Hasskriminalität und Gewalttaten (BMI 2019) das signifikanteste Zeichen des Erstarkens der
extremen Rechten. Seit ihrer Gründung hat sich die Partei ideologisch gewandelt und ein
chauvinistisches, antifeministisches und rassistisches sowie bisweilen völkisches und antisemitisches
Profil entwickelt (vgl. Häusler 2018; Heitmeyer 2018; Wildt 2017). Dies tat ihren Wahlerfolgen keinen
Abbruch, im Gegenteil: 2017 zog sie mit 12,6 Prozent erstmals und gleich als drittstärkste Kraft in den
Bundestag ein. Seit Herbst 2018 ist sie in allen Landtagen vertreten und bei den Europawahlen 2019
wurde sie in den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg und Sachsen stärkste Kraft. Im Zuge der
Landtagswahlen in 2019 ist eine Stabilisierung der Ergebnisse im Osten des Landes zu beobachten, auch
wenn sie faktisch im Vergleich zu 2017 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gar eine geringere
Anzahl absoluter Stimmen erhalten hat. Ihren prozentualen Anteil vermochte sie aufgrund einer
tendenziell niedrigen Wahlbeteiligung in Großstädten und einer hohen Wahlbeteiligung in ländlichen
Gebieten dennoch nochmals steigern – in Brandenburg von 20,2% auf 23,5%, in Sachsen von 27% auf
27,5% und in Thüringen von 22,7% auf 23,4%. Stärkste Kraft wurde sie allerdings, anders als befürchtet,
nirgends. Dennoch verschiebt sie gerade hier Mehrheitsverhältnisse nachhaltig. Anders als in den
1990ern Die Republikaner oder in den 1960ern die NPD (vgl. Jaschke 1993: Kap I & II), hat die Partei
damit seit ihrer Gründung eine stabile Klientel an Wähler*innen etabliert und im gesamten
Bundesgebiet Fuß gefasst.

3. Nicht oder, sondern und


Weitestgehend besteht in den Gesellschaftswissenschaften Einigkeit darüber, dass autoritäre
Einstellungen sowie der erstarkte Zuspruch zur AfD „Ergebnis eines Zusammenwirkens von
Globalisierungs- und Neoliberalisierungskrisen“ sind (Geiselberger 2017: 12). Uneinigkeit herrscht
hinsichtlich der Frage wie sozioökonomische mit kulturellen bzw. identitätspolitischen Faktoren
zusammenhängen und sich ggf. determinieren; und welche Rolle dabei Migration und Zuwanderung
spielen. Auf der einen Seite werden ökonomischer Abstieg, Prekarisierung und soziale Verunsicherung
als treibende Prozesse betont (vgl. Dörre 2018; Eribon 2016; Heitmeyer 2018; Nachtwey 2016; Nölke
2017; Streeck 2017; PROKLA-Redaktion 2016). Auf der anderen, dass regressive Dynamiken nicht im
Wesentlichen aus sozioökonomischen Verteilungsfragen resultieren, sondern als Aufbegehren gegen

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Pluralisierung, Gleichstellungspolitiken, Zuwanderung und den Verlust eindeutiger Identitäten zu
verstehen seien (vgl. Charim 2018; Inglehart/Norris 2016; Lengfeld 2018; Rippl/Seipel 2018).
Bei genauer Betrachtung läuft dieser Widerstreit ins Leere. Eher kleinräumige (qualitative) Studien
verdeutlichen, dass das Erstarken rechter Politiken Produkt von historisch und räumlich eingebetteten,
vielfältigen sozialen, ökonomischen und kulturellen Erfahrungen sowie von tradierten
Einstellungsmustern wie Xenophobie und Rassismus ist. Extrem rechte Akteur*innen sind auf eine ihnen
zugewandte lokale Kultur angewiesen (vgl. Bürk 2012; Quent/Schulz 2015; Zick/Hövermann 2013).
Belegt ist auch die hohe historische Kontinuität von lokalem Wahlverhalten: Die AfD ist dort erfolgreich,
wo in der Vergangenheit Die Republikaner und NPD stark waren (Goerres et al. 2018: Kap. 5). Angst
macht den Menschen nicht in erster Linie die ökonomische Transformation, sondern Kriminalität im
Wohnumfeld, Zuwanderung, die Wohnungsfrage und der Zerfall sozialer Nahbeziehungen (vgl. Hillje
2018, Hilmer et al. 2017, Üblacker/Lukas 2019, Podesta 2018). Oliver Nachtwey (2017: 229) stellt die
Rechtsentwicklung und die rassistischen Identitätspolitiken in Beziehung zur voranschreitenden „Erosion
der Gemeinschaft und der intermediären Assoziation“, die früher von lokalen Pubs, der Nachbarschaft,
den Gewerkschaftshäusern und insbesondere den gemeinsamen industriellen Arbeitsplätzen getragen
wurde, wie auch Paul Mason (2017) argumentiert. Am Beispiel von London und Glasgow verdeutlichen
Gest (2016: Kap. 3) bzw. McGarvey (2017), dass Zuwanderung in die einstigen weißen
Arbeiter*innenviertel vor allem hinsichtlich der eigenen gesellschaftlichen Position als Bedrohung
wahrgenommen wird: Mit prekären Lebensverhältnissen habe man sich abgefunden, bisweilen einen
Stolz als Arbeiter*in entwickelt, aber dass man sich nun auf der gleichen Stufe mit Migrant*innen finde,
wolle man nicht hinnehmen.

4. Was tun mit diesem heterogenen Bild?


Die Antwort auf die Frage nach den Hintergründen des Erstarkens der Rechten ist nicht, wie oft
versucht, in der Korrelation statistischer Daten und deren Kartierung zu finden (vgl. Kipfer/Dike 2019:
45). Die relevante Frage, wie sich soziale Erfahrungen in politischen Entscheidungen artikulieren, kann
nicht beantwortet werden. Statistisch darstellbar sind Prozesse und Einstellungen nur in ihrer bereits
artikulierten Form. Subjektivierung wird statisch vom Ende her gedacht. Es gibt A oder B. Wie A oder B
zustande kommt, die Kämpfe die darum geführt werden, sind nur bedingt erfasst. Dies verdeckt
Ambivalenz und verschließt politische Handlungsspielräume.
Wir sehen einen Ausweg darin, einen Schritt vom eigentlichen Gegenstand zurückzutreten. Unabhängig
von der Verortung betonen Isolde Charim (2018: 137ff.), die mit der Transformation der Subjekte und
deren Identitäten argumentiert, sowie Alex Demirović (2018: 29f.), der stärker von einem polit-
ökonomischen Ansatz ausgeht, mit Verweis auf Helmut Dubiel (1986) bzw. Stuart Hall (1980), dass das

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Erstarken der Rechten im Gefüge instabiler politischer und sozialer Gleichgewichtskonstellationen
geschieht. Dies ermöglicht es neuen politischen Kräften zu erstarken und zwingt etablierte politische
Akteur*innen zu einer Neuausrichtung des repräsentativen Angebotes sowie der Einbindung popularer
Krisendeutungen. Hilfreich ist der Schluss den Hall und Dubiel ziehen. Für Hall (1980: 110f.) ist es die
„Produktion neuer Arten des Alltagsverstandes unter den Bedingungen sozialer Umwälzungen“ die
empirisch fokussiert werden muss. Und Dubiel (1986: 44) plädiert dafür „dem Faktor politische
Subjektivität einen größeren Stellenwert“ einzuräumen.
Anstelle über das oder zwischen ökonomischen Abstiegsängsten und Cultural Backlash zu streiten, ist es
notwendig das und bzw. die Multidimensionalität (Demirović/Maihofer 2013: 38ff.) von sozialen,
ökonomischen und identitätspolitischen Konfliktlinien innerhalb von Prozessen der alltäglichen
politischen Subjektivierung in den Fokus zu rücken (vgl. Dowling et al. 2017; Mullis/Zschocke 2019). Mit
politischer Subjektivierung verbindet Dubiel (1986: 45) „Erfahrungen, welche die Übernahme einer
politischen Einstellung, die Bildung einer Meinung, nicht nur nach außen legitimieren“, sondern die die
Selbstwahrnehmung mitbestimmen. Es geht um „Glückserwartungen, Gerechtigkeitsansprüche,
Bedürfnisse nach sozialer Anerkennung und kultureller Identität“ (ebd.). Dem Alltäglichen – was nicht
mit dem Lokalen zu verwechseln ist (Mullis 2017b: 90ff.) – wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Wie Henri Lefebvre (2014) unterstreicht, bedürfen alle Dinge seien es Normen, Beziehungen,
Handlungsweisen oder Gesetze der Verankerung im gelebten Alltag, denn reine Ideologie gibt es nicht.
Ohne die routinisierte Verankerung in Alltagspraxen, gerät die Ordnung in die Krise und kollabiert
womöglich (Mullis 2017b: 94ff). Um dieses Moment von Subjektivierung in lokalisierten alltäglichen
Erfahrungen und Praxen zu betonen, sprechen wir von alltäglicher politischer Subjektivierung.

5. Forschungsnotizen aus Frankfurt am Main und Leipzig


Unsere eigenen empirischen Forschungen, in denen wir diesen Prämissen folgen, stehen am Anfang.
Uns interessiert, was in konkreten Alltäglichkeiten als relevante Krisenerfahrungen und gesellschaftliche
Konflikte wahrgenommen werden, ob und wie sich Abstiegserfahrungen und demokratische Exklusion
artikulieren und welche Rolle dabei Migration und Rassismus spielen. Wir tun dies mittels qualitativer
Interviews in je zwei (ehemaligen) Arbeiter*innenvierteln von Frankfurt am Main – Nied und Riederwald
– sowie von Leipzig – Grünau und Schönefeld –, wo die AfD bei den Bundestagswahlen 2017
verhältnismäßig stark abgeschnitten hat und die gemäß empirischer Sozialdaten als marginalisiert
gelten.
In einem ersten Schritt haben wir mit Expert*innen über die Stadtteile gesprochen. Interviewt wurden
lokale Politiker*innen, Kirchenvertreter*innen und Sozialarbeiter*innen, die einen Überblick über
aktuelle Befindlichkeiten, Entwicklungen und soziale Dynamiken haben. In einem zweiten Schritt folgen
narrative Interviews mit Bewohner*innen. Wir fokussieren dabei nicht allein auf Wähler*innen der AfD.
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Unserer Ansicht nach lassen sich Gründe für das Erstarken der Rechten in der Differenz zu anderen
politischen Artikulationen besser verstehen. In der Differenz kann dargelegt werden, warum ähnliche
Erfahrungen zu unterschiedlichen politischen Verortungen führen. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses
Artikels läuft die Erhebung dieser Interviews im Frankfurter Riederwald. Was den zweiten Schritt angeht,
können wir nicht im eigentlichen Sinne Ergebnisse präsentieren, dennoch erkennen wir Entwicklungen,
die wir hier summarisch zur Diskussion stellen.
Im Rahmen der Expert*innengespräche konnten wir herausarbeiten, dass in allen vier Stadtteilen
tiefgreifende soziale Transformationsprozesse ablaufen (vgl. Mullis 2019; Zschocke 2019): Veränderte
Arbeits- und Konsummuster erodieren kollektive Erfahrungen, die Pluralisierung der Bevölkerung
insbesondere nicht europäische Zuwanderung wird als Bruch mit etablierten Identitäten markiert und
Vereinzelung und Individualisierung schreiten voran. Menschen würden eher koexistieren, als
zusammenleben. Dies betrifft vor allem Menschen unterschiedlicher Sprachgruppen, die kaum in
Austausch träten. Allgemein sei der Alltag vereinzelt, es gebe nur wenige Orte, an denen Menschen sich
treffen könnten.
In allen Stadtteilen spielen auf die eine oder andere Weise urbane Exklusionsprozesse eine gewichtige
Rolle: einerseits sind Nied wie Grünau Stadtteile, in denen Menschen mit niedrigem Einkommen
hinziehen – was Armuts- und Prekaritätserfahrungen verallgemeinert –, andererseits schreitet
Gentrifizierung im Riederwald sowie in Schönefeld voran, was etablierte Bewohner*innen bedroht.
Berichtet wird ferner von einem allgegenwärtigen Gefühl aus demokratischen Prozessen ausgeschlossen
zu sein. Die betrifft insbesondere Themen wie Investitionen in öffentliche Infrastruktur, Wohnraum und
Bildungseinrichtungen. Es mangle nicht an Initiativen, dies wird in den Gesprächen betont, wenn sich
auch nur ein kleiner Kreis aus Angehörigen der Mittelschicht und kaum Migrant*innen beteiligten. An
was es mangle, sind Erfolge und Anerkennung. Egal ob es um die Verbesserung von
Bildungseinrichtungen, die Etablierung von öffentlicher Infrastruktur wie ÖPNV, Bibliotheken oder
Gesundheitsvorsorge oder auch die Sanierung von Wohnungen gehe, kaum je würde positiv auf
Begehren aus den Stadtteilen reagiert – meist würden sie schlicht abgetan oder verpufften gänzlich. Im
Kontrast zu den prosperierenden Innenstädten und vor dem Hintergrund der mangelnden Investitionen
in die Stadtteile wird ein Gefühl der Zurücksetzung artikuliert.
Zum einen widerspiegeln die Gespräche sodann was Nachtwey (2016) in ‚Abstiegsgesellschaft‘ am
Beispiel Deutschlands beschreibt. Er konstatiert einen grundlegenden Wandel westlicher kapitalistischer
Gesellschaften. Während Aufstieg und Integration in Gesellschaft die soziale Moderne (Fordismus) der
Nachkriegszeit geprägt hätten, würden heute, im Zeitalter der regressiven Moderne (Neoliberalismus),
Abstieg und sozioökonomische Polarisierung zu einenden Merkmalen. Bis in die Mitte der Gesellschaft
hinein löst dies Exklusionsängste aus. Zum anderen verweisen die Gespräche auf konkrete Erfahrungen
dessen, was Crouch (2008) als Postdemokratie bezeichnet. Demokratie würde immer stärker an
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Marktlogiken und Prämissen der Alternativlosigkeit ausgerichtet, womit Aushandlungsmöglichkeiten
schwänden und Entscheidungsprozesse refeudalisiert würden. Für Deutschland zeigen Decker und
Brähler (2018), dass zwar 92,8 Prozent Demokratie „als Idee“ eine gute Sache finden (ebd.: 96), aber nur
54,9 Prozent damit einverstanden sind „wie sie in der Bundesrepublik funktioniert“ (ebd.: 98). Hinzu
kommt, dass 70 Prozent angeben, dass „Leute wie ich“ keinen Einfluss darauf haben, „was die Regierung
tut“ (ebd.).
Erste Eindrücke aus den narrativen Interviews mit Bewohner*innen im Riederwald verdeutlichen, wie
komplex die Situation ist. Alle Gesprächspartner*innen unabhängig von Alter und Parteienpräferenz
schildern zwei Dinge: sozioökonomische Abstiegsängste, die vielfach mit der Einführung des Euros in
Verbindung gebracht werden, und ein tiefsitzendes Gefühl der demokratischen Exklusion. Kaum jemand
glaubt politisch von Gewicht zu sein, Entscheidungen würden ohne das eigene Zutun getroffen.
Umgekehrt wird immer wieder betont, dass Bürger*innen die Möglichkeit hätten, etwas zu verändern,
wenn kollektiv agiert würde – wie etwa in Frankreich bei den Gelbwesten – aber das würde in
Deutschland nicht gelingen, weshalb auch die Bereitschaft bei vielen nicht da ist, sich zu engagieren.
Bruchhafte Abstiegserfahrungen sind in vielen Biographien präsent, zum Zeitpunkt der Gespräche aber
in wenigen Fällen akut. Die raum-zeitliche Erfahrung von Krisen scheint aber eine relevante Dimension
für die politische Subjektivierung zu sein. Ökonomischer Abstieg wird eher als langsamer, schleichender
Prozess beschrieben, Finanz- und Wirtschaftskrise spielen kaum eine Rolle. Die ‚Flüchtlingskrise‘
hingegen wird als Bruch und Einschnitt im eigenen Lebensumfeld wahrgenommen, was sie stärker ins
Feld der Wahrnehmung rückt. Zum anderen, und dies legt Philip Manow (2018: 93) nahe, scheint es
einen Unterschied zu machen, ob Menschen Abstieg als abstrakte Angst, als Verletzung des
Generationenvertrags oder als eigene konkrete Erfahrung des Jobverlustes, als Alleinerziehende über
die Runden kommen zu müssen, erfahren. Manow erkennt bei Menschen, die in der eigenen
Arbeitsbiographie konkrete Brüche erlebt haben, einen signifikant höheren Zuspruch zur AfD als bei
Menschen, denen solche Erfahrungen erspart blieben.
In Abstufungen, dennoch allgegenwärtig, sind rassistische Ressentiments gegenüber als fremd
wahrgenommener Menschen präsent. Insbesondere sind es Menschen, deren Zuzug mit der
‚Flüchtlingskrise‘ in Verbindung gebracht wird, die mit Argwohn betrachtet werden. Angesprochen
werden die Präsenz von nicht-weißen Kindern auf Spielplätzen, der vermeintliche Unwille sich zu
integrieren und die Gefahr, die von als männliche Migranten gelesene Menschen auf deutsche Frauen
ausgehe. Die wachsende Präsenz von vermeintlichen Ausländer*innen ist ein bedeutsamer Faktor, an
dem der Verlust einer (vermeintlich) einstig heilen Welt festgemacht wird. Ebenfalls präsent sind
Konkurrenzerzählungen um staatliche und gesellschaftliche Ressourcen: ‚Warum wird so viel für die
gemacht, während ich knapp über die Runden komme?‘

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Wir kommen also nicht umhin über Rassismus zu reden. Über den je individuellen Rassismus, der in
Einstellungsmustern abgebildet werden kann (vgl. Decker/Brähler 2018; Heitmeyer 2018), aber auch
über dessen strukturelle Dimension. Und zwar als Rationalität, die Welt ordnet, Dinge und Agency an
‚ihrem‘ Platz hält, Verteilungen legitimiert und damit Gesellschaft als Ganzes durchdringt und produziert
(vgl. Bojadžijev 2012; Türkmen 2008). Étienne Balibar schreibt im Dialog mit Immanuel Wallerstein: „Im
Rassismus geht es [..] darum, Stimmungen und Gefühle zu organisieren“, es ist ein „totales soziales
Phänomen“ (Balibar/Wallerstein 1990: 24). Rassistische Ideologien geben dem Subjekt eine
Hilfestellung, nicht nur um zu verstehen, „was die Individuen erleben, sondern auch, was sie innerhalb
der gesellschaftlichen Welt sind“ (ebd.: 26).
Die Dynamiken des Erstarkens der Rechten sind nicht auf ein falsch artikuliertes Klassenbewusstsein
oder als „Notwehr“ (vgl. Eribon 2016: 124) zu deuten, nichtsdestotrotz sind sie keineswegs
klassenneutral wie quantitative Studien zeigen (vgl. Lengfeld 2018; Richter/Bösch 2017;
Vehrkamp/Wegschaider 2017). Zentral scheint uns, dass die von der Gesellschaft auferlegten Bürden
sowie Ressourcen, um mit der Globalisierung von Kapital und Migration, neoliberaler Individualisierung
und Marktansprüchen umzugehen, in der Gesellschaft systematisch ungleich verteilt sind.
Die Erzählungen in den bisher vierzehn Interviews mit zur Hälfte Frauen und Männern zwischen 27 und
71 sind, unabhängig davon ob CDU, SPD, Grüne, AfD oder Die Linke gewählt wird erstaunlich einheitlich.
Es ist kaum möglich aus den Narrativen politische Präferenz zu erschließen. So erwies sich eine Person
mit den deutlich geäußerten rassistischen und antisemitischen Ressentiments letztlich als Wählerin von
Die Linke. Eine andere Person, die die AfD wählt, als sozial engagierte und für soziale Spaltungen
sensibel. Die beiden Interviews, in denen Rassismus am wenigsten präsent war, wurden mit einem CDU-
Wähler und einer SPDlerin geführt, wobei ersterer auch längere Phasen von Arbeitslosigkeit durchlaufen
hatte, heute aber finanziell abgesichert ist. Kurzum: Abstieg und sozioökonomische Ängste spielen eine
Rolle, gleichermaßen sind Fragen von Identität, Kultur und Sorge um Verlust von stabiler Ordnung von
Relevanz. Aus unseren bisherigen Erfahrungen schließen wir, dass politische Entscheidungen – anders
als dies Statistiken oftmals suggerieren – nicht in kausaler Weise beschrieben werden können.
Ökonomische Faktoren sind nicht von kulturellen und vice-versa zu trennen, vielmehr sind sie in
alltäglichen Erfahrungen inhärent verschränkt.

6. Von der sozialen zur regressiven Moderne


Wir stellen in unseren Gesprächen fest, dass viele Menschen der Ansicht sind, dass es so nicht
weitergehen kann: die schwindenden Rentenaussichten, der demokratische Ausschluss, der Druck im
Arbeitsleben, die Sorge steigende Mieten nicht mehr bezahlen zu können und in Teilen das Versagen in
Sachen Klimapolitik. Der eigentliche Bruch, den wir hier beobachten, so unsere These, liegt auf einer
grundlegenderen Ebene und betrifft im Kern den Übergang von der sozialen zur regressiven Moderne
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(vgl. Nachtwey 2016: Kap. 1 & 3). Zum Ende von ‚Rasse, Klasse, Nation‘ beschreibt Balibar zwei Modi von
Politik: einerseits eine Politik, die auf Integration und dem emanzipatorischen Kampf um die Ausweitung
von Rechten beruht, die eines affirmativen Prinzips bedarf; sowie andererseits eine Politik, die auf
Verteidigung exklusiver Rechte beruht, was im Kern spaltet und regressiv ist, weil es stets eine
vermeintlich heile Vergangenheit als Referenz bemüht (Balibar/Wallerstein 1990: 271).
Eine zentrale politische Artikulation des affirmativen Prinzips, so kann mit Didier Eribon argumentiert
werden, war einst Klasse: „Man könnte sagen, dass die Stimme für die Kommunisten eine positive
Selbstaffirmation darstellt, die für den Front National eine negative“ (2016: 125).
Dementsprechend ist uns wichtig anzufügen, dass Identitätspolitiken, die heute teils fälschlicherweise
Klassenpolitiken entgegengestellt werden, auf affirmativen Prinzipien beruhen. So, wie Klassenpolitiken
beides waren, der Kampf um Anerkennung von Rechten und der Versuch Gesellschaft in eine egalitärere
Richtung zu transformieren, sind Kämpfe von Frauen, People of color und der LGBTIQ-Bewegung auch
beides. Es sind Kämpfe um Anerkennung und Ausweitung von Rechten. Sie zielen auf Gesellschaft als
Ganzes, weshalb Identitätspolitiken einen universalistischen Anspruch entfalten. Identitäre Politiken der
Rechten hingegen, in deren Zentrum die Rückbesinnung auf die einstig vermeintlich heile Welt steht,
drehen um den Angelpunkt Abschottung und strikte Grenzziehungen zwischen innen und außen. Hierbei
ist Rassismus die rationalisierende Ideologie, und diese entfaltet ihre Kraft weit über die offenen
Rassist*innen hinaus.
Was wir (in unserer Empirie) zu beobachten glauben und dies könnte ein zentraler Grund sein, weshalb
sich der Ausruf ‚es kann nicht bleiben wie es ist‘ eher nach rechts orientiert, ist eine tiefgreifende
Neuvermessung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Subjekt (vgl. Charim 2018):
Individualisierung, Vereinzelung, neoliberales Selbst, Marktförmigkeit des Subjektes und Verlust von
stabilen Kollektivitätsvorstellungen sind zentrale Elemente der Beschreibung gesellschaftlicher
Dynamiken im beginnenden 21. Jahrhundert. Uns scheint zentral – und darüber wird selten gesprochen
–, dass diese Prozesse nicht nur das Subjekt treffen, sondern auch die Bedingungen und Möglichkeiten
transformieren, wie Gesellschaft artikuliert werden kann. Individualisierung und Vereinzelung sind nicht
lediglich Prozesse des Herauslösens aus Gesellschaft, sie verändern vielmehr die Möglichkeiten zur
Artikulation von Kollektivität selbst.
Die These lautet, wir beobachten die Transformation von der sozialen zur regressiven Kollektivität.
Verstärkt tritt ein Typus von Kollektivität in Erscheinung, der sich nicht über Affirmation, sondern über
differenzbetonte Empfindungen sowie Konkurrenz, Vorurteile, Machtlosigkeit, Statusängste oder
Rassismus, Antifeminismus und Antisemitismus konstituiert. Dominant sind nicht mehr stabile Formen
des affirmativen dazuzählen zu einer Gemeinschaft, sondern die Ablehnung des Anderen in seiner je
spezifischen Form. Wir beurteilen die Abwesenheit starrer kollektiver Prinzipien nicht per se als negativ:
So zielten die „Gemeinschaftskatastrophen“ (Gertenbach et al. 2010: 45) von Nationalsozialismus und
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Stalinismus auf eine totalisierende und usurpierende Unterwerfung des Subjektes unter Gesellschaft.
Umgekehrt wären manch progressive identitätspolitische Kämpfe ohne die Lösung aus der starren
Affirmation zu einer bestimmten Vergesellschaftungsform nicht möglich gewesen. Unter den
gegenwärtigen Bedingungen scheinen die progressiven Möglichkeiten jedoch zu schwinden: Regressive
Kollektivität stößt die Tür für rechts-autoritäre Politiken weit auf, und verschließt zugleich jene für
emanzipatorische Angebote. Für Politiken also, die auf Ausweitung von Rechten, auf Affirmation,
Pluralismus und Solidarität basieren. Diese Entwicklung, die wir als autoritäre Transformation
bezeichnen, kann nur zurückgedrängt werden, wenn Alternativen nicht mit der Sprache und den
Methoden einstiger politischer Großformationen formuliert werden. Die Formierung einer neuen
progressiven Kollektivität bedarf einer Praxis, die die veränderten Möglichkeiten für Kollektivität
antizipiert.

7. Was folgt?
Aus dem bisher gesagten schließen wir, dass eine multidimensionale Perspektive auf regressive
Politiken, notwendig ist (vgl. Mullis/Zschocke 2019). Wir folgen damit der Aufforderung von Alex
Demirović und Alexandra Maihofer (2013: 40), unvoreingenommen „verschiedenen Macht- und
Herrschaftsmechanismen gleichermaßen Rechnung zu tragen und sowohl in ihrer jeweiligen Autonomie
als auch in ihrem konstitutiven Zusammenhang zu begreifen“. Uns scheinen vier Dimensionen dafür
relevant: Abstieg, Entdemokratisierung, soziale Lage und Rassismus.
Sozialer Abstieg, Deklassierung sowie Gefühle der Zurücksetzung sind zentral. Indessen geht es nicht
primär um faktische sozio-ökonomische Deklassierung bzw. um objektiv von Armut betroffene
Menschen, sondern wesentlich um Ängste vor dieser. Solche Gefühle sind aber, und hier ist Nachtwey
(2016) dringend zu ergänzen, nicht allein Resultat von Transformationen im Bereich ökonomischer
Regulierungen im Innern des Nationalstaats. So können Forderungen nach Gleichberechtigung der
Geschlechter, ebenso wie die Infragestellung der Etabliertenvorrechte von ‚einheimischen‘ Gefühle von
Verunsicherung und Abstieg auslösen. Der Wunsch nach dem Festhalten an Stabilität wird so in
unsicheren Zeiten zum Ausgangspunkt einer subjektiven und relationalen Erfahrung von Abstieg.
Daneben ist Entdemokratisierung ein weiterer zentraler Prozess. Dabei werden unterschiedliche Ebenen
angesprochen: der Ausschluss aus der real existierenden Demokratie, Postdemokratie als die
Ausweitung quasi feudaler und marktförmiger Regierungsweisen und ferner die Krise der
Repräsentation. In der Summe ergibt sich ein ambivalentes Bild der Polarisierung und Politisierung von
Gesellschaft: Es ist gerade die AfD, die Nichtwähler_innen wieder in die politische Repräsentation holt.
Aber auch emanzipatorische und menschenrechtsorientierte soziale Bewegungen vermögen weiterhin
stark zu mobilisieren, wenngleich sie medial und im politischen Diskurs weit weniger Resonanz erfahren.
In gewisser Weise markieren diese Entwicklungen das „Ende der Postdemokratie“ (Mullis 2017a): Es
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wird wieder gerungen um Gesellschaft und ihre einst stabil geglaubten Fundamente geraten ins
Wanken.
Wenn auch unterschiedlich priorisiert: Soziale Lage ist in diesen Transformationen ein strukturierender
Faktor. Von zentraler Bedeutung scheint uns, dass die Bürden wie auch die Ressourcen, um mit der
Globalisierung von Kapital und Migration, neoliberaler Individualisierung und Marktansprüchen
umzugehen, in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt sind. Es sind die ökonomisch Marginalisierten, die
weit stärker belastet werden: in ihren Wohnquartieren entfaltet Austerität eine stärkere Gewalt; die
Wohnungssituation ist gedrängter; es gibt kaum mehr öffentliche Orte, um aus der privaten Enge zu
entrinnen; es mangelt an lokaler Infrastruktur und Sozialversorgung; gute Bildung ist schwerer
zugänglich, und der im sozialen Milieu erlernte Habitus erschwert es, die gegebenenfalls erworbene
Bildung gewinnbringend einzusetzen. Damit werden die Lasten der Integration von Zugewanderten in
ökonomisch unterprivilegierten Quartieren stärker erfahrbar als in den homogeneren, hippen Vierteln
der Wohlhabenden (vgl. Franz et al. 2019; Hall 2003; Kronauer 2010; Wacquant 2017). Das reicht nicht
um den Zuspruch zur Rechten zu erklären, es fördert aber ein Klima, in dem rechtes Gedankengut
gedeiht.
Abschließend ist es Rassismus, auf den stärker fokussiert werden muss. Wie die Einstellungsforschung
regelmäßig verdeutlicht, sind die rassistische und kulturalistische Abwertungen anderer Menschen weit
verbreitet. Jedoch verengen diese Studien den Blick auf einzelne Individuen. Verkannt wird die
strukturelle Dimension von Rassismus (vgl. Balibar/Wallerstein 1990; Hall 2012). Rassismus hält Dinge
und Akteur_innen an ‚ihrem‘ Platz, legitimiert Verteilungen und durchdringt Gesellschaft als Ganzes.
Ohne Rassismus würden Verteilungsängste nicht entlang von Hautfarbe oder Abstammung verlaufen: Je
stärker Diskriminierte ihre Rechte auf einen sichtbaren Platz, auf gleiche Bildungs- und Lebenschancen
oder auf Möglichkeiten die Gesellschaft mitzugestalten geltend machen (Bojadžijev 2012), desto stärker
diffamieren bisher Privilegierte die bloße Präsenz „der Anderen“ als Bedrohung (Mannitz/Schneider
2014: 90).
Regressive Politiken sind also, so viel können wir auf Basis unserer Forschung jetzt schon sagen,
keinesfalls einfach Folge von Zurücksetzung, eines Mangels an Repräsentation oder Herausforderungen
der Globalisierung. Sie gründen auf einer spezifischen Sicht auf die Welt, welche erfahrene bzw.
vermeintliche Ungerechtigkeit in einen Gesamtzusammenhang stellt. Die Brille, durch die dieser Blick
auf die Welt erfolgt, ist Rassismus. Zum Abschluss ist uns wichtig zu betonen, dass auch die vier
angerissenen Dimensionen nicht alles zu erklären in der Lage sind. Gesellschaftliche Komplexität lässt
sich immer nur in Annäherungen beschreiben. Politische Praxis ist in Teilen irrational, spontan und
basiert auf Behauptungen, sie entzieht sich latent dem objektivierenden Zugriff. Wichtig ist uns auch,
dass das aktuelle Erstarken regressiver Politiken nicht ohne Zutun von Teilen politischer Eliten zu
erklären ist. Was sich politisch durchsetzt, ist also auch Ergebnis davon, wer mit welchen Mitteln in der
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Lage ist Projekte zu vervielfachen, sie lautstark in die Öffentlichkeit zu tragen und sie im medialen und
gesellschaftlichen Diskurs zu verankern. Uns scheint, dass um all dies zu erfassen, es insbesondere der
lokalisierten Forschung bedarf. Die Herausforderung besteht darin, in einer Welt beständigen Wandels
trotz Kontingenz und Heterogenität sozialer Prozesse, Wirkungszusammenhänge aufzuzeigen.

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