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Zur Pervertierung unserer Gesellschaft

Die Pädagogik des


schlechten Gewissens
Zur Funktion der Pädagogik im „neuen“ Deutschland. Von M.A. Uwe Habricht, Berlin.

Die „Krise der Schulen“, die „Krise der Pädagogik“, das „burn mühungen zu sein; das „Pro-
out“ unserer Lehrer werden lauthals beklagt. Nach den Ursachen blem der Arbeitslosigkeit“ der
Nährboden parteienpolitischer
dieser Krise, unter der zunehmend nicht nur die Jugendlichen, Profilierung. Für die positive
sondern auch die Lehrer in unseren Schulen leiden, wird – wenn Gestaltung einer (gewalt)freien
und emanzipierten Gesellschaft
überhaupt – nur halbherzig gefragt. Der Berliner Sozialpädagoge scheint kein Raum mehr zu sein.
Uwe Habricht stößt mit dem nachstehenden Beitrag zu den Wur- Bei aller gesellschaftspolitischen
Diskussion liegt der Fokus eher
zeln der Krise vor. Seine gründliche Analyse des gegenwärtigen auf Problembekämpfungsbemü-
Gesellschaftssystems zeigt, dass die Pädagogik zurzeit in der ver- hungen. Dabei unterliegt der
teufelten Situation steckt: sie ist einerseits gezwungen, zur Erhal- politische Apparat, sowie die
institutionellen Hilfs- und Erzie-
tung eines kranken, die Menschen immer mehr pervertierenden hungssysteme zunehmend dem
turbokapitalistischen Systems beizutragen, welches – die Ursache Verdacht, in eine Symbiose mit
den sozialen Problem-Phä-
für zunehmende Jugendgewalt, Rechtsradikalismus, Identitätsver- nomenen zu stehen, um sich
lust etc. ist, deren „Bekämpfung“ andererseits von Staat und Ge- über deren Bekämpfung zu legi-
sellschaft durch die Pädagogik erwartet wird. Solange die Schulen timieren. Soziale Normenkon-
trolle und Problembekämpfung
nicht in die Lage versetzt werden, die zersetzenden Tendenzen un- wird so zum Inklusivproblem
seres gegenwärtigen Gesellschaftssystems gemeinsam mit den Ju- pädagogischer Intervention er-
klärt.
gendlichen zu analysieren, aufzuarbeiten und Alternativen zu ent- Die Pädagogik als Institution
wickeln, solange wird sich die Gewalt in unseren Schulen gerät dabei in die Gefahr, sich
ausschließlich über das Problem
verstärken, die Ratlosigkeit bei Lehrern und Eltern zunehmen und deren Bekämpfung zu de-
und diese Gesellschaft möglicherweise ins faschistische Chaos ab- finieren, welches die reale gesell-
driften. raum&zeit stellt Uwe Habrichts Beitrag, den wir für den schaftliche Umwelt produziert.
Sie gerät in den Verdacht, ei-
besten halten, der in letzter Zeit zu diesem brisanten Thema ver- ne symptomschaffende gesell-
fasst wurde, zur Diskussion. Mögen möglichst viele verantwor- schaftliche Sozialökologie zu
benötigen, um sich der Probleme
tungsbewusste Politiker ihn lesen, damit sie die entsprechenden anzunehmen, die der „Rest“ der
Konsequenzen ziehen.
❙ Zum Gegenstand pädagogischen und sozialen Hil- tutionen positive Werte und

S
fesysteme die kausalanalytische Normen nicht aus sich selbst he-
teigende Jugenddelin- Betrachtung gesellschaftspoliti- raus produzieren kann und auf
„Das allgemeinbildende
quenz, die Häufung von scher Rahmenbedingungen ver- einen gesellschaftlichen Grund-
Drogenproblemen und nachlässigt wird. konsens angewiesen ist – will sie Schulsystem wird zum
Schulversagen (-distanz), Rechts- Ein tendenzieller Negativismus nicht zu einer künstlichen In- Ort und Spiegel
radikalismus; das Ansteigen der in Pädagogik und Politik be- stanz deformieren. soziogesellschaftlicher
„Jugendproblematik“ schlecht- schränkt das Ziel pädagogischer Ebenso in der politischen Dis-
hin, ist im „liberalen“ Deutsch- Bemühungen auf Identifikation kussion: Politik definiert sich
Probleme und sieht
land der neunziger Jahre zu- von Devianz (Abweichung), immer mehr über Probleme und sich einem Anspruch
nehmend das zentrale Thema Vermittlung von Konformität deren „Bekämpfung“ als über an Erziehung gegen-
pädagogischer Diskussionen ge- und Symptombekämpfung als positive Ziele der Gesellschafts-
worden. Gleichzeitig ist zu be- „Erfolg“. Positiv emanzipatori- gestaltung. Die „Bekämpfung“
über, welchen sie immer
obachten, dass mit der Über- sche Implikationen treten in den der Arbeitslosigkeit scheint zu- weniger gewachsen ist.“
nahme der gesellschaftlichen Hintergrund. Das auch deshalb, nehmend das existentielle Mo-
Probleme in die interventions- weil die Pädagogik in ihren Insti- tiv politisch-gestaltender Be-
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gesellschaftlichen Systeme und
Organisationen produziert. Da-
mit besitzt das System der (sozi-
al)pädagogischen Intervention
ein Problem, dass ihr eigentlich
nicht gehört, sich aber darüber
definiert. Auf der anderen Seite
kann eine werteorientiert-ver-
mittelnde Pädagogik – als eige-
nes System der pädagogischen
Intervention – Werte nicht (oder
nur künstlich abstrahiert) aus
sich selbst heraus produzieren
und sieht sich kultivierten – oft
gegenläufigen – Normen und
Werten der gesellschaftlichen
Sozialökologie gegenüber.
Die sozialökologische Realität
junger Menschen wird ja we-
sentlich von gesellschaftlichen
(wirtschaftlichen) Systemen
und deren Interessengefüge Gewalt nicht nur im Fernsehen:
konstituiert, die als Konglome- Foto: SAT.1/AKTE 97!, © dpa - Fotoreport
rat diffuser und irrationaler
Werteangebote für Problem-
nachschub „sorgen“. Diesen
Konflikt kann die Pädagogik als Das allgemeinbildende Schulsys- Dieser Aufsatz legt keine empiri- mein in der sozioökonomischen
funktional-separierte Instituti- tem wird zum Ort und Spiegel schen und wissenschaftlichen Da- Verfassung einer Gesellschaft be-
on kaum lösen. Sie sieht sich soziogesellschaftlicher Probleme ten zugrunde und beansprucht gründet sind und einen relativ ho-
einem gesellschaftlichen An- und sieht sich einem Anspruch keine wissenschaftliche Analyse. mogenen und kohärenten Erzie-
spruch gegenüber, deren Bedin- an Erziehung gegenüber, wel- Theoretische Überlegungen und hungsanspruch haben, betont die
gungen sie kaum ändern kann, chen sie immer weniger gewach- subjektive Erfahrungen sollen bürgerliche Erziehungswissen-
da sie selbst ein historisches und sen ist. In seiner Überlastung einen kritischen Blick auf die Ent- schaft und ihre späte Transforma-
funktionales Produkt dieser Be- tendiert es zum reinen Wissens- wicklung eines postmodernen tion zur sozialwissenschaftlichen
dingungen ist. dienstleister und Strafapparat Erziehungsverständnisses werfen Disziplin zunächst die subjektive
Zentrale Kritik dieses Aufsat- und zur Rückdelegierung der Ju- und vermeiden dabei auch nicht Perspektive von Erkenntnis und
zes ist die These, dass der An- gendproblematik in die Inter- den polemischen Charakter man- Vernunft, das menschliche Be-
spruch eines gesellschaftlichen ventionspädagogik, sowie in die cher Pointierungen. wusstsein und sein Verhältnis zur
Erziehungsprozesses im gegen- Familie. So übernimmt die Inter- Objektwelt. Hier fließen später
wärtigen postmodernen (angel-
sächsischen) Kapitalismus zum
ventionspädagogik auch die In-
suffizienz des Allgemeinbil- ❙ Zum (ideologischen)
Erziehungsbegriff
systemtheoretische und erzie-
hungssoziologische Kategorien
Inklusivauftrag des Schulsys- dungssystems. Zu Beginn einer herben Kritik an ein. In der Konsequenz bilden bei
tems ideologisiert wird, sowie Dennoch und gerade deshalb hat der „dezentralen“, zunehmend Marx alle gesellschaftlichen Be-
die „Beseitigung“ der sozialen die Institution „soziale und atomisierten, Erziehungspolitik dingungen einen Determinanten-
Jugend-Probleme zum Inklu- pädagogische Hilfe“ (insbeson- in diesem Land steht die Frage Komplex zur Genese der psychi-
sivauftrag einer „Interventions- dere die pädagogischen Angebo- nach dem Erziehungsbegriff schen, sozialen und kulturellen
pädagogik“ pervertiert. Diese te nach dem KJHG) eine hohe schlechthin. In der Marxschen Disposition des Menschen, die
ideologische und funktionale (Alibi)funktion im gesellschaftli- Wissenschaftstheorie wie auch in wiederum aus einem historischen
Differenzierung von Erzie- chen Gesamtsystem. der bürgerlichen Tradition der Bewusstseinsprozess ihre gesell-
hungsverantwortung verlagert Die folgenden Kapitel führen europäischen Renaissance (Auf- schaftliche Umwelt gestalten.
Erziehungsansprüche in einen die Kritik am aktuellen Zustand klärung) wird Erziehung zu- Die analytische Trennung gesell-
künstlichen Werteraum, in dem der pädagogischen und sozialen nächst als der Prozess verstanden, schaftlicher Vermittlungsprozes-
keine Vermittlungsgewalt mehr (Hilfe)systeme aus, indem sie indem eine Generation einer eth- se in der bürgerlichen Sozialwis-
herrscht. auf eine Funktion und Rolle die- nischen und staatlichen Solidar- senschaft, vor allem durch die
Gleichzeitig entzieht sie genau ser Instanzen hinweisen, die nur gemeinschaft ihre Werte und Einbeziehung soziologischer Ka-
den gesellschaftlichen Instanzen noch wenig mit Erziehung und Normen an die jüngere Generati- tegorien der System- und Rol-
den Erziehungsanspruch, welche Hilfe zu tun hat. Stattdessen er- on vermittelt. Im Unterschied lentheorie (Durkheim, Parsons,
tatsächliche Erziehungsgewalt folgt die reale „Erziehung“ und zum Prozess der Sozialisation Dahrendorff), trennt eher die
haben. So muss die Pädagogik Sozialisation durch gesellschaft- bzw. Enkulturation zeichnet sich Ebenen Individuum – Erzie-
als „pluralistische“ Institution liche Systeme, an denen jeglicher die Erziehung durch ihren hohen hungsinstitutionen – Familie –
vor dem Anspruch und Auftrag Erziehungsanspruch geleugnet Grad an Institutionalisierung aus. gesellschaftlich-wirtschaftliche
fortschrittlich-rationaler, eman- wird, jedoch die reale Vermitt- Während in der Marxschen Ar- Verhältnisse. Hier wird im Ge-
zipatorischer Vermittlung schei- lungsgewalt von Werten und gumentation die gesellschaftli- sellschaftsmodell politisch und
tern. Normen inne haben. chen Vermittlungsprozesse allge- ideologisch Erziehungsverant-
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wortung geteilt. Die funktional- schärfe. Pädagogik (ausgenom- nur noch und ausschließlich in Hilfe. Denn die (Sozial)Pädago-
polarisierte Institutionalisierung men Bildungs- und Sporteinrich- ihrem Funktionssystem. „Sozia- gik als Konglomerat von Inter-
von Erziehung(sverantwortung) tungen) wird zunehmend als le Hilfe informiert über ein Defi- ventionsmodellen (KJHG 27
in der westeuropäischen Post- soziale Hilfe verstanden und in zit...teilt mit, dass dieses Defizit SGB) oder als psychosoziale
moderne – im Gegensatz etwa das Sozialhilfesystem integriert. behoben werden soll und macht Versorgung von Jugendlichen im
zu Stammesvölkern, Hochkultu- Die (Betreuungs-, Interventi- verständlich, dass zwischen dem offenen und ambulant-konzep-
ren oder ehemaligen sozialisti- ons-, Kompetenz-)Pädagogik Bestehen dieses Defizits und tionellen Bereich unterliegt dem
schen Staaten – wird allgemein unterliegt dem Verdacht, sich seiner Behebung ein immanen- gleichen „Übernahmeproblem“
mit der Komplexität des sozio- über das Defizit seiner Klientel ter (höchst hinzunehmender ausgeschlossener Verantwortung
gesellschaftlichen Gefüges der zu definieren und es zu seiner selbstverständlicher) Zusam- und agiert zwischen Helfen und
Aufwertung und Legitimation menhang besteht; nicht etwa ein Nicht-Helfen, Abweichung und
zu brauchen. In der noch gülti- kausal verlässlicher.“ (Baecker, Konformität, Defizit und Kom-
gen Tradition von Durkheim ebd., S.98) Baecker nennt die petenz. Hinzu kommt, dass sich
und Parsons liegen die Kriterien Polarisierung von kompetenten Schule zunehmend nicht mehr
„Hinzu kommt, dass zur Identifikation des Klientels und defizitären Klientel Rollen- als pädagogische Einrichtung
sich Schule zunehmend in der Differenz von Konfor- asymmetrien (Ungleichheit). versteht, sondern als Wissens-
nicht mehr als pädago- mität und Abweichung. Die Motivation von Hilfe erfor- dienstleister. So braucht sie nicht
Ein weiterer Verdacht wird von dert auf der einen Seite Hilflo- mehr zu erziehen, sondern „nur
gische Einrichtung Baecker als der Effizienzver- sigkeit und auf der anderen Seite noch“ zu sanktionieren (Strafen,
versteht, sondern als dacht beschrieben: Das Funkti- die Möglichkeit des Helfenden, zensieren).
Wissensdienstleister. onssystem „psychosoziale Hilfe“ sich den Erfolg selber anzurech- Was Baecker mit den „Teilinklu-
(hier synonym für „Sozial- nen, „um die eigenen Motive sionen“ und „-Exklusionen“ von
So braucht sie nicht
pädagogik“ behandelt) muss an auch regenerieren zu können“ sozialer Hilfe der verschiedenen
mehr zu erziehen, der ausreichenden Reprodukti- (Baecker, ebd.). So kann das Funktionssysteme einer funktio-
sondern „nur noch“ on „hilfsbedürftiger“ Klientel in- psychosoziale Arbeitsfeld seine nal differenzierten Gesellschaft
zu sanktionieren teressiert sein, um sich selbst zu „ ...Leistungen nicht aus eigener beschreibt, ist um den Aspekt der
legitimieren. Kraft kontinuieren, sondern aus Verantwortungsdelegation der
(Strafen, zensieren).“ Dieser „Widerspruch“ ist kein dem Problemnachschub der ge- wirtschaftlichen Funktionssyste-
Konflikt des Gesamtgesell- sellschaftlichen Umwelt“ (ebd.). me in das sozialpädagogische
schaftssystems, ganz im Gegen- Baecker sieht das System der Funktionssystem zu erweitern.
teil; der Konflikt zeigt sich im so- sozialen Hilfe in den entschei- Auch der Aspekt der Interessen-
modernen Industriegesellschaft zialen Hilfesystem selbst. Zum denen Punkten „ ...gegenläufig gegensätze ist bei Baecker zu kurz
erklärt, die den Ein- bzw. Aus- einen muss es an Abweichung zum Rest der Gesellschaft. Die gefasst. Durch die Interessen des
schluss von sozialen und pä- interessiert sein, um seine Exis- funktional differenzierte Gesell- (mono)kapitalistischen Marktes,
dagogischen Problemen und tenzberechtigung daraus her- schaft verzichtet im Gegensatz der eine, nach narzistische
ß Kom-
Ansprüchen zwischen den diffe- zuleiten, zum anderen muss zu Stammesgesellschaften und pensation und Substitution stre-
renzierten Interaktionssystemen es Konformität anstreben, um Hochkulturen auf Vollinklusion bendes Konsumklientel braucht,
der Gesamtgesellschaft zwin- seinen Erfolg darüber zu do- der Personen in die Gesellschaft bildet sich gesamtgesellschaft-
gend mit sich bringt. kumentieren; seine „Motive“ zu und sieht nur die Teilinklusionen lich so etwas wie eine „Ver-
Während also Erziehung in regenerieren. Analogieschluss: in die Interaktions-, Organisati- antwortungsosmose“ heraus.
kollektivistischen Ansätzen als Abweichung wird im sozial- ons- und Funktionssysteme vor. Die „Jugendproblematik“ – von
Funktion der Gesamtgesellschaft pädagogischen Feld renormali- Die Sozialhilfe [wie auch die Drogenkonsum bis Rechtsradika-
ideologisch begriffen wird, ver- siert, damit die Funktionsweise sozialpädagogische Hilfe, v.V.] lismus – und deren „Bekämp-
steht sich Erziehung im indivi- von Pädagogik an sich im Ge- nimmt sich dieses Problems an fung“ ist funktional im Gesamt-
dualistischen Menschenmodell samtsystem legitimiert ist. So- und inkludiert stellvertretend. system integriert. Denn wenn sich
des gegenwärtigen postmodernen zialpädagogik findet sich so in Aber damit nimmt sie sich eines Politik und Pädagogik über Pro-
Kapitalismus als Funktion eines den Codes „Helfen“ und „Nicht- Problems an, dass nicht das ihre bleme und deren Bekämpfung le-
kleinen Teils der Gesellschaft; Helfen“, „Abweichung“ und ist und erzeugt ein Ersatzpro- gitimieren, muss es dafür sorgen,
eben pädagogischen Institutionen „Konformität“ wieder. Analog blem, nämlich das der stellver- dass Problemerhaltung und Pro-
wie Schule und psychosozialen dazu nehmen sich zunehmend tretenden Inklusion, das nicht blembekämpfungsanspruch im
Einrichtungen. andere Funktionssysteme der das der Restgesellschaft ist.“ Gleichgewicht bleiben, um die
Gesellschaft (Wirtschaft und Po- (Baecker, ebd., S.103) Stabilität des Gesamtsystems

❙ Pädagogik als
Funktionssystem
litik) aus jeglichen pädagogi-
schen Ansprüchen.
Baecker beschreibt treffend die
Funktionsweise des Systems der
nicht zu gefährden.
Es wird des öfteren die „Kompe-
„Soziale Hilfe“ als Funktionssy- So betreut das Funktionssystem sozialen Hilfe und deren Interak- tenzpädagogik“ als Ablöser ei-
stem wird treffend bei Dirk der sozialen und pädagogischen tion und funktionale Differen- ner „Wertepädagogik“ ange-
Baecker (Zeitschrift für Soziolo- Hilfe mittels des Codes von Hel- zierung zu den „restlichen“ führt. Die heutige psychosoziale
gie, Jg 23, Heft 2, 1994, S.93-110) fen und Nicht-Helfen „Inklu- Funktionssystemen der Gesamt- Arbeit (die nicht zufällig ein Sy-
analysiert. Die Analogien zwi- sionsprobleme“ der gesellschaft- gesellschaft. Es scheint die In- nonym für Pädagogik geworden
schen „soziale Hilfe“ als institu- lichen Bevölkerung, die von stitution Pädagogik (also der ist) habe die Aufgabe, Kompe-
tionelles Funktionssystem und den anderen Funktionssystemen gesellschaftliche Anspruch an tenzen im Umgang mit der ge-
der „Pädagogik“ als Funktions- nicht mehr aufgegriffen werden. Erziehung) zunehmend „ver- sellschaftlichen, sozialen Welt zu
system sind evident und weisen Sozialpädagogik erfüllt eine ge- schlungen“ zu werden vom vermitteln. Dies scheint in der
auf eine tendenzielle Trennun- samtgesellschaftliche Aufgabe Funktionssystem der sozialen Tat die „neue“ Funktion der
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Pädagogik zu sein. Eine Funkti- me sozialökologischer Manipula- Eine hinreichende zeitlich und ten im Zuge der Industrialisie-
on wofür? Der explizite Begriff tion verantwortet und zu lösen räumliche Rekonstruktion der rung nach 1871 zur Bildung von
„Funktion“ aus der Systemtheo- hat, damit der Rest der gesell- historischen Zusammenhänge Industrie- und Bankmonopolen
rie und dem Funktionalismus be- schaftlichen Organisationen und bis zur gegenwärtigen Gesell- und deren Verschmelzung zum
schreibt die Eigenschaft eines Funktionssysteme (zum Beispiel schaftskonstitution kann und soll herrschenden Finanzkapital.
Systemelements, zum Erhalt, zur monopolistisches Wirtschafts- hier nicht erfolgen. Es geht hier Der Waren-, Dienstleistungs-
Stabilität und zum Gleich- system, Waren- und Arbeits- um den Hinweis auf diese Di- und Arbeitsmarkt als Motor der
gewicht des Systemganzen und markt) sich aus dieser Verant- mension und wird nun lediglich Kapitalverwertung und Kapi-
der Systemprozesse beizutragen. wortung ausklammern können skizziert. talanhäufung ist bis heute er-
Das hieße für die gesellschaftli- und auch müssen, um im Sinne Mit der beginnenden Ablösung halten. Er dient auch in der
che Funktion der Pädagogik im ihrer Interessen zu funktionieren. altfeudalistischer Strukturen der Gegenwart als Motor der sich
postmodernen Kapitalismus und Die Atomisierung und Polarisie- Leibeigenschaft in Europa ab potenzierenden und nunmehr
ihrer ideologischen Abstraktion rung von Erziehungsansprüchen dem 14./15. Jahrhundert ent- hegemonial-monopolistischen
vom gesellschaftlichen Vermitt- als systemerhaltender und sys- wickelten sich neue Formen Kapitalanhäufung und ist auf
lungsgeschehen, als Pseudower- temimmanenter Prozess ist, wie von Herrschaftsverhältnissen, größtmögliche Dividende im
te-Instanz einer wirtschafts- schon angedeutet, wesentlicher die als Anfänge kapitalistischer Geldumsatz und der Speku-
politischen Gesellschaft zu fun- Ausdruck einer historisch und Wirtschafts- und Sozialstruktu- lationsvorgänge angelegt. Die
gieren, die ihrerseits die struk- politisch begründeten Entwick- ren bezeichnet werden können. Zwänge des Marktes, die sich zu-
turellen Sozialisationsbedin- lung. In diese ist die horizontale Leibeigenschaft und direkte Ar- nächst als Dynamik des Markt-
gungen aus der pädagogischen Betrachtung der Funktionszu- beitskraft wandelten sich in neue wettbewerbs zeigen, haben ihre
Verantwortung nimmt und nach sammenhänge institutioneller Formen der Abhängigkeit; Ar- tiefere Ursache im „rastlosen
Kapitalverwertungskriterien ge- Pädagogik einzubetten. Die Be- beitsmarkt und Lohnarbeit schu- Trieb des Kapitals nach Verwer-
stalten kann. trachtung der Funktion von fen neue Zwänge der arbeiten- tung“, als Ausdruck der inneren


Pädagogik muss die historische den Menschen; insbesondere der Dynamik des Kapitalwachstums
Zur historischen Entwicklung des kapitalistischen Landarbeiter und Bauern, ihren (Marx-Engels-Werke Band 23,
und sozioökonomischen Gesellschaftssystems und seine Lebensunterhalt zu sichern und Kapitel 23, DDR 1973). Das mo-
Dimension Funktionsweise mit einbeziehen den Tribut zu zahlen. Mit der nopolistische Marktwirtschafts-
Die kausale Betrachtung der und daraus seine Funktionshy- Bildung von Märkten und der system, das auf größtmögliche
Funktion und Struktur der insti- pothese ableiten. Entstehung von Konkurrenz, die Kapitalverwertung und größt-
tutionellen Pädagogik hat neben Zur Beantwortung dieser Frage es in den Lehns- und Feudalver- möglichen Umsatz und Gewinn
der Zugrundelegung erkenntnis- reicht eben nicht die ausschließ- hältnissen der Leibeigenschaft in angelegt ist, ist das wesentliche
theoretisch-philosophischer und liche horizontale struktur-funk- dieser Form nicht gab, ergaben Funktionssystem der Gesell-
systemtheoretischer Grundlagen tionale Betrachtung von der sich strukturelle Veränderungen schaft, welches alle Verantwor-
auch die sozioökonomische Ver- Interaktion in funktionaler Be- der sozialen Verhältnisse, der tung, die diesem Zweck (Kapi-
fassung der Gesellschaft, also ziehung stehender einzelner Bedingungen der Erwerbstätig- talverwertung) nicht dient,
historisch-ökonomische Gesell- Funktionssysteme einer Ge- keit, der sozialökologischen Ent- ausschließt.
schaftsentwicklung und deren samtgesellschaft. Um die kausal- wicklung (Trennung von Land Dazu zählt, dass dieses Funkti-
Bedingungen und Folgen für analytische Betrachtung des und Stadt, Agrar- und Hand- onssystem an der Entfremdung
die gesellschaftliche Sozialstruk- Funktionssystems „Sozialpäda- werk). Die kapitalistische Pro- des Menschen geradezu interes-
tur, einzubeziehen. Die Funk- gogik“ um ihre historische (ver- duktionsweise begann unter den siert ist, um Grundbedürfnisse
tion, die die Pädagogik gegen- tikale) Dimension zu erweitern, Bedingungen des Marktes der mit Ersatzbedürfnissen zu erset-
wärtig hat, hat sie vorallem im empfiehlt sich die Einbeziehung (zunächst) freien Konkurrenz in zen, traditionelle Kultur mit
(staatsmonopol)kapitalistischen etwa von Gouldner (Erweite- den feudalen Kleinstaaten Euro- konsumtionistischer Kultur, na-
Wirtschafts- und Sozialsystem. rung der orthodoxen System- pas; der Anhäufung von Besitz tionale Orientierung mit globa-
Dieser Aspekt der sozioökono- theorie um den Begriff von und Geld, der Einführung der ler Orientierung, Rationalität
mischen Verfassung der Gesell- Asymmetrie und Macht), Marx Kreditwirtschaft und des Zins, mit Irrationalität! Entfremdete
schaft deutet den dialektisch-hi- (historisch-dialektischer Mate- der privaten Verfügung von Pro- und irrationale Menschen schaf-
storischen Bezug auf die Frage rialismus), sowie auch Haber- duktionsmitteln. fen riesige Märkte für Phar-
an, warum unsere Gesellschaft mas, Adorno, Fromm und Hork- Die Anreicherung des Kapi- mazie, Ersatzaufwertung und
derart „funktional differenziert“ heimer (kritische Theorie, tals wurde Grundlage kapitali- Angstabwehr; leben im „Haben-
ist, dass erzieherische Verant- Frankfurter Schule). stischer Produktionsbedingun- Modus“ (Fromm) und konsu-
wortung ausschließlich in ein Denn die Entfremdung der gen. mieren so viel wie möglich, um
Funktionssystem delegiert wird, Pädagogik von ihren einstmals Handel, Wettbewerb, Konkur- sich in den pervers kultivierten
während sie von den restlichen aufklärerischen und humanisti- renz entfalteten eine neue Dy- konsumtionistischen Normen
Funktionssystemen der Ge- schen Wurzeln der griechischen namik des Finanz-, Arbeits- und und Werten der Gesellschaft
sellschaft ausgeschlossen oder Philosophie und der europäi- Warenmarktes und schufen dem aufzuwerten, anzupassen und zu
bestenfalls „teilinkludiert“ wird. schen Renaissance, ihrer teil- Kapitalismus typische sozialöko- integrieren. Gerade nach Weg-
Die vorangegangenen Ausfüh- weise naturwissenschaftlichen nomische Strukturen. Vormals brechen der sozialistischen Län-
rungen beschrieben die Funkti- und sozialwissenschaftlichen Er- abhängig vom Feudalherren war der und deren sozialen und
on von Pädagogik als systemer- weiterung; zeigt ihre Funktions- die Mehrheit des Volkes nun ab- emanzipatorischen Standarts d
haltende Instanz. zusammenhänge zwar in der ge- hängig von Kreditgebern, Besit- wird der Arbeits- und Waren-
Diese liegt also darin, dass die In- genwärtigen Gesellschaftsverfas- zern von Grund und Produkti- markt zum gnadenlosen Kampf
stitution der sozialpädagogischen sung, gründet aber eine historisch onsmitteln. Konzentration und um Existenz und „Wirtschafts-
Hilfe die Probleme und Sympto- einzubettende Dimension. Zentralisation des Kapitals führ- wachstum“ (eigentlich ein Syno-
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nym für Kapitalwachstum). Für der staatsmonopolistisch ka- Abstrahierung; besteht ein ge- schiedlichen Interessen der wirt-
die aus dem Markt resultierende pitalistischen Marktwirtschaft, sellschaftlicher Vermittlungs- schaftlichen Funktionssysteme
permanente strukturelle Gewalt um „unbequemer“ Verantwor- prozess, der im weiteren Sinne erst „legitim“ bedient werden.
und deren psychosozialen Aus- tung zu entgehen, jedoch der Ge- als Sozialisation und Enkultura- Eine zunehmend atomisierte und
wirkungen für den Einzelnen sellschaft trotzdem den An- tion bezeichnet werden kann. künstlich-abstrahierte Pädagogik
schlägt der Markt selbst wieder schein eines „freiheitlich-demo- Diejenigen gesellschaftlichen ist ein weiteres Indiz dafür, dass
Kapital. Für eine unterprivile- kratischen“ fortschrittlichen An- Systeme und Organisationen, Erziehung im positiven Sinne
gierte Mehrheit des Volkes bie- spruchs zu geben. Dieses Alibi die hohe sozialisatorische und des Wortes kein gesamtgesell-
ten die (kommerziellen) Medien kostet dem Staat wohl Geld, aber kultivierende Einflusswirkung schaftlicher Prozess mehr ist,
gewaltverherrlichende und voy- dieser Preis ist erschwinglich für auf ihr Klientel haben, bekennen sondern im Zuge des postmoder-
euristische Bilder zur Angstab- ein ungestörtes Funktionieren sich gerade in den (kommerziel- nen Liberalismus und pseudo-
wehr und Aggressionsbindung. von aggressiver Marktexpansion len) Medien zur pädagogischen sozialen Hochkapitalismus dafür
Der Narzismusß entfremdeter und Kapitalverwertung. Anspruchslosigkeit, ja zur Ef- neue Märkte und künstliche
Menschen kann so für den Markt fektlosigkeit. Es sei alles nur rei- Räume zur Verantwortungs- und
noch nutzbar gemacht werden ❙ Wer erzieht wirklich? ne Informationsvermittlung und Problemverschiebung schafft.
und entfaltet so weniger Frustra- Die institutionalisierte Pädago- Unterhaltung. Die Kultivierung Den gesamtgesellschaftlichen
tions- und Problembewusstsein. gik mit weitem intellektuellen von grenzenlosen Konsumtionis- Prozess finden wir in der kon-
Das Funktionssystem der Markt- Spektrum pädagogischer Ansätze mus, von Gewaltverherrlichung sumtionistischen Manipulation.
wirtschaft im Schlepptau der atomisiert gegenwärtig zum „psy- und Hedonismus, sei lediglich Der (Kapital)Markt bietet mit
(staatsmonopolistischen) Kapital- chosozialen Markt“. Die konzep- ein Angebot und durch den zunehmender struktureller Ge-
wirtschaft weltweiter hegemo- tionell differenzierte bürgerliche „freien“ Markt und seine Geset- walt der „Marktgesellschaft“ ste-
nialer Finanzmärkte (Wer will die Pädagogik der liberalisierten Post- ze legitimiert. Auswirkungen? – tig mehr suggestive und desori-
Globalisierung wirklich?) muss moderne ordnet sich zunehmend Dafür stelle der Staat sozial- entierende Elemente sozialer
rationale, traditionale Werte aus- den ökonomischen Zwängen un- pädagogische Hilfe, – es seien Kontrolle. Jugendliche messen
schließen, um seinem Vermeh- ter, indem die einzelnen pädagogi- die Pädagogen und Psychologen ihre Wertigkeit zunehmend an
rungsprinzip zu folgen. Insofern schen (psychosozialen) Einrich- zuständig und verantwortlich. Symbolen des Geldumsatzes; un-
ist die Verschiebung gesellschaft- tungen nach Marktgesetzen ihre Mit der gesellschaftlichen Po- ter dem Deckmantel der Indivi-
licher Probleme, insbesondere Legitimation erhalten. larisierung pädagogischer Ver- dualisierung verschleiert sich ei-
der Jugendgewalt und „Abwei- Kategorien wie Qualität, Effizi- antwortung hat die in sich ne perverse Uniformierung; nur
chung“, ausschließlich in den Ver- enz, Konkurrenz, Angebot und zunehmend zersplitterte, „ab- ist diese schillernder und erst auf
antwortungsbereich der sozialen Nachfrage, bekommen immer strahierte“ Pädagogik ihren den dritten Blick erkennbar. Der
und pädagogischen Hilfe, konse- größere Bedeutung im pädago- gesellschaftlichen Auftrag der Drogenmarkt hat sich fest eta-
quent die funktionale Dynamik gischen Feld – die Institution Erziehung nicht nur verloren, bliert. Es wird den Jugendlichen
des kapitalistischen Wirtschafts- „Erziehung“ pervertiert – bis auf sie muss an diesem Antagonis- „leicht gemacht“, ihre Orientie-
und Gesellschaftssystems, das oh- Ausnahmen im gemeinschafts- mus scheitern. Vieleicht hat rungslosigkeit zu kompensieren
ne die funktionale Separierung sportlichen Bereich (wie lange sie dann nicht nur die Funktion und zu ersetzen und es wird viel
und Polarisierung von Erzie- noch?) – zum psychosozialen der Erziehung als Pseudo-Auf- daran verdient. Die analoge
hungsverantwortung nicht „funk- Dienstleistungsmarkt. Kinder trag, sondern auch die des „Sün- Ideologie dazu scheint relativ
tionieren“ würde. Der Pädagogik und Eltern werden zu Kunden, denbocks“, die an den symp- klar: Der „freiheitliche“ Staat
und sozialen Arbeit als Institution Kollegen werden zu Konkurren- tomatischen Auswüchsen einer müsse an die Eigenverantwor-
kommt dabei die wichtige Alibi- ten, Pädagogen werden zu Ge- destruktiven Freiheitsideolo- tung appelieren und dürfe nicht
Funktion der emanzipatorisch- schäftsleuten. Je nach marktwirt- gie mit diffusem Wertechaos bevormunden – darin zeige sich
anspruchsvollen, postmodernen schaftlicher Profilierung dürfen und zwangsläufiger Orientie- schließlich die Freiheit. Im Zwei-
Gesellschaft zu. Sie ist wichtiges die psychosozialen Einrichtungen rungslosigkeit und Identitäts- fel werde psychosoziale Hilfe ge-
soziales Kontrollinstrument inner- dann ihr Problemklientel „aqui- schwäche Schuld hat. stellt (dann braucht sich an den
halb repressiver Strukturen, mit rieren“. Die immer „gebildete- Die gesellschaftliche Formung wirtschaftlich-ökologischen Be-
der sie sich arrangiert, die sie lar- ren“ und qualifizierteren pädago- unserer Heranwachsenden wird dingungen nichts zu ändern).
viert und der Gesamtgesellschaft gischen Fachkräfte benötigen für von der gesamten vermittelnden Wenn die Pädagogen dann „ver-
den Anstrich von sozialem An- ihre professionelle Identität im Wertewelt bestimmt. Das „Pro- sagen“, sei das ihre Schuld; es
spruch gibt. analogen Maße ein defizitäres blem“ dabei ist, dass diese Werte- werde doch schließlich genug
Die von Baecker angesprochene Klientel. Dies ist ein Ausdruck welt immer weniger eine Wer- Geld für „Hilfe“ ausgegeben.
Organisation von funktionaler gesellschaftlicher Rollenasymme- teordnung darstellt. Die Schere In den postmodernen abendlän-
Differenzierung unserer Gesell- trie, in der das sozialpädagogische zwischen den Inhalten einer dischen kapitalistischen Gesell-
schaft zeigt sich also in der Dele- Hilfesystem eingebunden ist. künstlichen Pädagogik und den schaften wie auch in unserem
gation sozialer Probleme in die Analog zum Prozess der zuneh- sozialisatorischen Bedingungen Land ist zu beobachten, dass das
Hilfs- und „Erziehungssysteme“ menden marktwirtschaftlichen der realen Sozialökologie geht nahezu wichtigste gesellschaftli-
einerseits und stellvertretenden Abstraktion von Pädagogik zunehmend auseinander. Die che Vermittlungsinstrument des
Übernahme durch diese anderer- (Sind Schüler bald Kunden ihrer Widersprüchlichkeit der gesell- Technik- und Informationszeital-
seits. Die Interaktionstruktur der Schule? Im Hochschulbereich schaftlichen Vermittlungsprozes- ters – die Medien – die Werte- und
gesellschaftlichen Funktionssys- etabliert sich dieses Verständnis se, in der realen Sozialökologie ei- Normenvermittlung fest im Griff
teme hat ihre historisch-ökono- bereits), der „Verkünstlichung“ nerseits und den pädagogischen, haben. Nicht zufällig bedeutet der
mische Begründung in den Ka- der Pädagogik, ihrer Überpro- sozialen Institutionen anderer- Begriff „Medien“ „gesellschaftli-
pitalverwertungsinteressen des fessionalisierung, Intellektuali- seits, ist jedoch nur eine scheinba- che Mitte“. Hier wird Gewalt kon-
herrschenden Funktionssystems sierung und gesellschaftlichen re. Durch diese können die unter- sequent mit Lust und Unterhal-
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Thomas Lehmann
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tung besetzt, wird als Problemlö- Etwas sarkastisch könnte man die Medien berichten von den den eigenen Machterhalt gefähr-
sungsstrategie Nr.1 angeboten. Es sagen: Erziehung kommt nicht Rechten, die Politiker bekämp- det. Inwieweit der Faschismus die
wird irrationales Verbraucherver- ohne Werte aus. Auch im Kapi- fen die Rechten, Europa grenzt Lösung für Wirtschaftskrisen des
halten gepriesen und im nächsten talismus wird immer wieder be- sich als „Wertegemeinschaft“ hegemonialen, monopolistischen
Moment den Folgen ungesun- tont, wie viel der Staat dafür aus- vom „rechten“ Österreich ab. Kapitals sein kann, zeigt ein Blick
der Lebensweise mit Heilmitteln gibt – so viel ist sie wert. Das Feindbild „Rechtsradikale“ in die Geschichte des vergange-
und teuren Behandlungsmetho- lässt sich gut gebrauchen, um nen Jahrhunderts.
den der Kampf angesagt. Kultur
und Kunst haben immer weniger ❙ Pädagogische Aufgabe
„Rechtsradikalismus“
sich moralisch zu legitimieren.
Gleichzeitig aber werden die
Es ist festzustellen, dass sich die
Behandlung dieser Problematik
die Funktion von Identitätsarbeit Das „besondere“ Problem des rechtsradikalen Kräfte aufge- konsequent auf die schematische
und Traditionspflege. Stattdessen Rechtsradikalismus und Neofa- wertet, mobilisiert und gestärkt. und polarisierte Darstellung der
ist der „Weltmensch“ ohne natio- schismus ist eng mit dieser Dyna- Wie es bei einer Symbiose im- Äußerungsformen von Jugendge-
nale Wurzeln und Identität „im mik verknüpft. Während die mer der Fall ist, haben beide walt beschränkt: Rechtsradikale
Trend“. Wer hierzu kritische Fra- „betroffenen“ Pädagogen Auf- Partner etwas davon. Jugendliche gegen friedliche Lin-
gen stellt, muss ohne Zweifel klärungsarbeit leisten, schafft Im Wissen, dass die unanfechtba- ke oder „Unpolitische“ = große
rechtsradikal, konservativ oder der „Rest“ der Funktionssyste- re Ideologie der Globalisierung Aufgabe der Sozialarbeiter.
verklemmt sein und verdient psy- me genau die sozialen und politi- und „Toleranz“ die nationalbe- Es entsteht der Eindruck, dass
chosoziale Betreuung. schen Strukturbedingungen, die tonten und rechtsradikalen Ge- der Rechtsradikalismus durch
Der Amerikanismus hält in der schon einmal zum Faschismus genkräfte mobilisiert, dass die Ig- systematische Generierung die-
Musikkultur den Vormarsch für führten. Die „neue“ pseudolinke noranz nationaler Interessen des ser strukturellen Bedingungen
den wirtschaftspolitischen Impe- Indoktrination auf politischer Volkes den Aufschrei nach einem und einer permanenten pseudo-
rialismus. und ideologischer Ebene stärkt „starken, volkstreuen Führer“ linken Multikulti-Indoktrinati-
Die Folgen sind Identitätsschwä- systematisch die rechtsradikale heraufbeschwören muss, erweist on, systematisch installiert wird.
che, Entfremdung, Wertechaos, und nationalistische Ideologie. sich das monopolkapitalistische Die Geschichte zeigt, dass der
Gewaltverherrlichung, Radikalis- Die Symbiose mit dem Rechtsra- Herrschaftssystem einmal mehr Faschismus eine Funktion der
mus. Aber auch dafür bieten die dikalismus als höchste Form als strukturelle Voraussetzung monopolkapitalistischen Krisen-
Medien Verarbeitungsmaterial. funktionaler Wechselbeziehung des Faschismus und Neofaschis- bewältigung ist. Dazu kommen
Betroffenheitsrunden und wis- ist auf allen gesellschaftlichen mus. Denn das „Problem“ der die Ängste der Menschen vor
senschaftliche Statements de- Ebenen zu erkennen. „freigesetzten Produktivkräfte“ – Globalisierung und Europäisie-
monstrieren das Bemühen der In- Zur eigenen moralischen Auf- durch den Grundwiderspruch von rung, welche nichts weiter als Sy-
tellektuellen, dem Problem auf wertung brauchen die „Linken“ Markteinengung und Überpro- nonyme für Amerikanisierung
die Spur zu kommen: „Wir müs- die Rechten, die Pädagogen „ap- duktion – kann das marktwirt- und Entwurzelung sind, um Eu-
sen noch mehr tun!“. Diese Fest- pelieren“ an die Rechten, die schaftliche Funktionssystem nicht ropa für die Kapitalverwertung
stellung bleibt leider viel zu oft Polizei schützt die Bevölkerung delegieren, da es sein wesenseige- gleichzuschalten.
ohne den Blick über den eigenen vor den Rechten, die Ausländer ner Widerspruch ist und ab einem Auch hier „lebt“ die Pädagogik
Tellerrand. haben Angst vor den Rechten, bestimmten Spannungsniveau weitestgehend von der Übernah-
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Analog zur Thematisierung und schaftlichen Probleme dringend
Der Autor Rückdelegation braucht die Pä- ein Blick über den Tellerrand
te ich verschiedene Fortbildun- dagogik eine gemeinsame Ver- angezeigt ist; sprich dialektische
gen zu Elternarbeit und Bera- antwortungsebene aller gesell- Gesellschaftskritik immer auch
tungskonzepte in der Familien- schaftlichen Instanzen, durch die Bestandteil umfassender Pro-
arbeit. Auch führe ich soziale eine in sich stimmige soziogesell- blemdarstellung sein muss. Es
Gruppenarbeit und Arbeit mit schaftliche Wertewelt entstehen reicht nicht, als Pädagoge den Ju-
sogenannten rechten Jugendli- kann. Das setzt die produktive gendlichen ausschließlich in seiner
chen (von denen viele eigent- und emanzipatorische Korres- Verantwortung für sein Leben
lich keine Sozialarbeiter, son- pondenz der gesellschaftlichen anzusprechen und die Verantwor-
dern eine Heimat brauchen). Funktionssysteme voraus; vor al- tung des politischen Staates dabei
Als Soziologe stehe ich kritisch lem die Priorisierung menschli- auszublenden. Solange dekaden-
zur Organisation der Jugendar- cher Grundbedürfnisse, nicht de- te Medieninhalte, Kulturdemon-
beit, ihrer Rolle, ihren Rah- ren Ersatzbefriedigung durch die tage, Überfremdung, irrationa-
menbedingungen und ihrer po- Priorisierung des Kapitalmarktes ler Konsumtionismus, Globalisie-
Uwe Habricht wurde am litischen Zuschreibung. und seiner Interessen. rungsdoktrin und repressive Ar-
5.5.1966 in Berlin geboren. In Zukunft habe ich Pläne, Eine institutionelle Pädagogik beitsmarktsituation weiterhin als
Über sich selbst schreibt er: eher gesellschaftsanalytisch zu kann nur dann wirklich emanzi- strukturelle Gewalt auf Jugendli-
„Ich bin in Lichtenberg gebo- arbeiten (Lehre und Promoti- patorisch sein, wenn sie sich nicht che einwirken, muss jede Pädago-
ren und im Prenzlauer Berg on?). Zurzeit arbeite ich an mehr als Schadensbegrenzer ver- gik, die sich nicht kritisch damit
aufgewachsen. Nach meiner einem Essay zur politischen steht, sondern als Vermittler und auseinandersetzt, als „Kühlwasser
Lehre zum Mechaniker übte Funktion und Struktur des Mitgestalter einer gesunden und eines heißgelaufenden Motors“
ich verschiedene Berufe aus, Rechtsradikalismus in Europa, freien Gesellschaft, ohne aggres- fungieren. Das um den Preis ihrer
wie Instandhaltungsmechani- insbesondere Deutschlands. sive Kapitalmarktdiktion, in- Abstraktion vom gesamtgesell-
ker, Rettungssanitäter, Kraft- Gesellschaftliche Prozesse in- tentionierter Entfremdung und schaftlichen Vermittlungsgesche-
fahrer. 1992 machte ich auf dem teressieren mich sehr. Ausbeutung. Die Rolle des Mit- hen, ihrer Verkünstlichung und
zweiten Bildungsweg das Abi- Seit acht Jahren lebe ich mit gestalters einer in sich stimmigen Ohnmächtigkeit (tendenzieller
tur und begann an der TU ein meiner Freundin und ihrem Werte- und Kulturwelt ist die in- Autoritätsverlust).
Studium der Erziehungswissen- Sohn zusammen, Familie finde tegrativste und produktivste Rol- Im Fall zunehmenden Rechtsra-
schaften und Soziologie, wel- ich sehr wichtig. Ich bin durch le der pädagogischen Systeme in dikalismus reicht nicht die im-
ches ich Anfang 1997 abschloss. und durch „Ossi“, habe eine einer modernen und zivilisierten mer wiederkehrende Täter-Op-
Schwerpunkt im Studium war Heimat verloren und kann ei- Gesellschaft. Dazu hat sie Wider- fer-Schematisierung, sondern
die Familiensoziologie, Sys- ne zweite nicht so richtig fin- sprüche und destruktive gesell- darüber hinaus die Identifizie-
temtheorie und Sozialpsycho- den. Weltanschaulich stehe ich schaftliche Rahmenbedingungen rung struktureller Ursachen ei-
logie (Sozialisations- und Iden- Marx und Fromm sehr nah und kritisch aufzugreifen und sie po- ner zunehmend faschistoiden
titätskonzepte). Seitdem ar- würde mich als Sozialisten be- litisch zu vermitteln. Jede ande- Gesellschaftsstruktur, die alle
beite ich als Familienberater zeichnen. Ich denke politisch re Rolle instrumentalisiert die Bedingungen für einen aufkei-
und Pädagoge. Zwei Jahre war und finde die Entpolitisierung, institutionelle Pädagogik zur sy- menden Neofaschismus schafft.
ich selbständig, seit einem Jahr Amerikanisierung und Milita- stemstabilisierenden Schadens- Eine sich konstituierende Über-
bin ich bei einem Träger ange- risierung der jungen Generati- begrenzung und Alibirolle. Unter-Menschen-Hierarchie,
stellt. Zwischenzeitlich besuch- on bedenklich.“ Das Leistungs- und Erfolgsver- Kulturdemontage unter dem
ständnis der bürgerlichen Pä- Multi-Kulti-Etikett, Orientierungs-
dagogik gründet sich derzeit auf losigkeit, Wertezerfall, Markt-
me des Rechtsradikalismus-Phä- ments nutzt die Pädagogik als einenn „professionellen Narzis- ß zwänge eines aggressiven Ka-
nomens unter Jugendlichen, ohne getrennte Institution, um nicht mus“, der bereits ideologisch und pitalismus, Privilegierung von
ihre gesellschaftlichen Struktur- an den gesamtgesellschaftlichen funktional integriert ist. Dieser ist Minderheiten, eine pervertieren-
bedingungen aufzugreifen. Rahmen- und Machtverhältnis- Ausdruck einer zunehmenden de Pseudodemokratie, Identitäts-
sen zu rütteln. Entfremdung der Pädagogik von verlust durch Überfremdung un-
❙ Postulat und Ausblick Pädagogik hat jedoch die realen allen ihren europäischen, geistes- ter dem Toleranz-Etikett – all das
Die Pädagogik als gesellschaftli- sozialökologischen Bedingungen historischen Wurzeln. Eine ge- ist Nährboden des Neofaschismus,
che Organisation von Bildungs-, der Gesamtgesellschaft zu thema- sellschaftskritische Diskussion dessen Dynamik auch von Angst-
Freizeit- und Interventionssys- tisieren, anstatt sie unreflektiert könnte der Anfang der Pädago- abwehr der sozial Schwächeren
temen „lebt“ zurzeit vom systema- zu übernehmen. Erst dann kön- gen sein, Probleme der Gesell- gekennzeichnet ist und sich des-
tischen Ausschluss pädagogischer nen die phänomenalen Impulse, schaft nicht als Existenzgrundla- halb in Aggression entlädt.
Verantwortung aller anderen in Form symptomatischer Auf- ge des eigenen Standes zu sehen, Ich denke, dass die Akzentu-
Funktionssysteme. Diese sind im fälligkeiten, in der Gesellschaft sondern als auf allen Ebenen der ierung dieser Dimensionen in
Wesentlichen der Arbeits-, Wa- aufgegriffen und als Reaktions- Gesellschaft veränderungswürdig der Pädagogik einer ganzheitli-
ren- und Dienstleistungsmarkt, antwort der jungen Generation zu erkennen und einzufordern. chen Betrachtung von Entwick-
denen pädagogische Verantwor- verstanden werden. Das hieße die Politische Arbeit in der Pädago- lungstendenzen der heranwach-
tung im Wege stehen würde für Rückdelegation der Auswirkun- gik würde auch der Entpolitisie- senen Generation gut tun würde
ein reibungsloses Funktionieren gen destruktiver und dekadenter rung der Jugend begegnen. und hinsichtlich sozialstrukturel-
ihrer Effizienzprinzipien. sozialökologischer Gesellschafts- Ich bin selbst aktiv in der Jugend- ler Gewaltmomente die sympto-
Auch das politische System des gestaltung in die Verantwortungs- arbeit tätig und bin der Meinung, matische Entwicklung unserer
pseudodemokratischen Parla- sphäre der Wirtschaftspolitik. dass bei der Analyse aller gesell- Jugend zu beleuchten hat. ■

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