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Eine Interpretation zum Fall Grüninger

und über die Verlogenheit


der «neuen» Schweizer Historiker

Paul Grüninger –
Held oder korrupter Polizist
und Nazi-Agent?

Shraga Elam

Meinem verstorbenen Freund


David Wechsler gewidmet,
der sich unbeirrt
für die Gerechtigkeit einsetzte.
1. Auflage Dezember 2003

ISBN 3-9521945-5-7

© Schweizerische Vereinigung PRO LIBERTATE, Postfach, 3000 Bern 11


www.prolibertate.ch E-Mail info@prolibertate.ch
Schriftenreihe Nr. 18, Dezember 2003
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Die dominierenden Schweizer Historiker verhindern die Debatte
1.2 Der Neo-Held Grüninger
1.3 In den Dreissigerjahren wollten die Nazis die Juden ‹nur› vertreiben
1.4 Bemerkungen zur Auswertung des Archivmaterials
2 Bestechungs- und Korruptionsverdacht
2.1 Paul Grüninger und das liebe Geld
2.2 Der Fall Wetzel
2.3 Hinweise auf Grüningers Bestechung
2.3.1 Zusätzliche Quellen über Grüningers Korruption:
2.4 Der Fall Flatz
3 Zusammenarbeit mit den Nazis
3.1 Die Rorschach-Affäre
3.2 Sidney Dreifuss: Grüninger handelte auf Veranlassung der
Deutschen
3.2.1 Jüdische Funktionäre stellten sich gegen jüdische Flüchtlinge
3.2.1.1 Fliegt Grüninger wegen eines SIG-Berichts auf?
3.3 Grüninger gegen Keel
3.4 Stellenangebot der Nazis
3.5 Zeitzeugen sprachen Grüninger heilig
4 NBS-Zugehörigkeit
5 Der Gerüchtemacher Grüninger
6 Grüningers Bemühungen um die Vertretung deutscher Firmen
(Vermittler: ein deutscher Spion)
7 Schlusswort
Liste der Punkte, welche für oder gegen Grüninger sprechen
1 Verdacht, dass Grüninger ein Nazi-Agent war
2 Bestechungs- und Korruptionsverdacht
3 NBS-Zugehörigkeit und NS-Einstellung in den Vierzigerjahren

3
…zur Diskussion
Mit der Rehabilitierung von Paul Grü-
ninger wurde der Eindruck erweckt, ein
verdienter Retter sei zu Unrecht ge-
massregelt worden. Die dazu vorgeleg-
ten Fakten haben den Autor veranlasst,
das umfangreiche Material gründlich
zu sichten. Seine Darstellung des Falles
zählt nicht zu den ideologisch gefärbten
Bildern, die in jüngster Zeit Anspruch
auf alleinige Gültigkeit erheben. Das
Fragezeichen im Titel fordert zum Dia-
log auf.

Die Vereinigung PRO LIBERTATE nimmt


sich die Freiheit, die Arbeit als Beitrag
zur Diskussion in ihre Schriftenreihe
aufzunehmen.

Max Schio, Ehrenmitglied


PRO LIBERTATE
Biografie Shraga Elam
Shraga Elam ist israelischer Recherchier-
journalist mit den Spezialgebieten Israel-
Palästina-Konflikt, NS-Zeit, Juden-Ver-
nichtung und Schweiz im Zweiten Welt-
krieg.

Elam, Sohn eines jüdischen deutschen


Flüchtlings, wurde 1947 in Haifa (damals
Palästina) geboren und nahm als Soldat
der israelischen Armee an drei Kriegen
teil. Seit 1979 wohnt er in der Schweiz.
Mit dem Ausbruch der Affäre um die
nachrichtenlosen Vermögen intensivierte
Elam seine historischen Forschungen und
veröffentlichte in der Folge mehrere Bei-
träge, hauptsächlich in der Wirtschafts-
zeitung Cash, aber auch in der Weltwo-
che, der SonntagsZeitung und im Tages-
Anzeiger. Er ist Mitautor einer dreiteiligen Serie von Radio DRS (Doppelpunkt
1998) und des Buches Die Schweiz am Pranger (Cash Verlag 1997).

Elams Buch Hitlers Fälscher (Ueberreuter Verlag, Wien 2000) über die Zu-
sammenarbeit zwischen der Jewish Agency und den Nazis, welches brisantes Ma-
terial enthält, erntete grosse Anerkennung in Fachkreisen.

Während acht Monaten wurde Elams historische Forschung durch den Verleger
Michael Ringier finanziert; in diesem Rahmen fand er auch den grossen Teil des
vorliegenden Materials zum Fall Grüninger.

Elam ist einer der schärfsten Kritiker der Bergier-Kommission. Auf Grund seiner
Position zum sog. Flüchtlingsbericht wurde er im Juli 2000 zu einem Kolloquium
der Kommission eingeladen. Seine belegte Kritik an der mangelhaften Einbettung
im internationalen Kontext und an der verfälschenden Wiedergabe der Rolle füh-
render jüdischer Funktionäre wurde zwar ohne nennenswerte Einwände zur
Kenntnis genommen, die besprochenen notwendigen Korrekturen blieben jedoch
aus.

5
Vorwort

Die Arbeit der Bergier-Kommission tionen zog es Keller aber vor, dieses
(UEK) weist Mängel auf, und zwar als belastende Material entweder zu ver-
Folge ‹positiver› rassistischer Vorurtei- harmlosen oder gar zu verschweigen.
le gegenüber Juden, der Dominanz ei-
ner Historikerclique und fachlicher Keller meint, dass die meisten dieser
Fehler. Quellen als unzuverlässige Spitzelbe-
richte und Gerüchte taxiert werden
Auch die Behandlung der Rolle von alt müssten, da sie den Akten der «Schnüf-
Polizeihauptmann Grüninger demon- felpolizei» entstammen. Dieses Pau-
striert diese Schwäche. Denn die Histo- schalurteil mag bei einem gewissen
riker-Kommission ignorierte die star- Publikum gut ankommen, zeugt jedoch
ken Indizien, dass Grüningers Leistung nicht gerade von seriösen Kenntnissen
an die illegale Einwanderung jüdischer der Bestände und hat schon gar keine
Flüchtlinge im Jahre 1938 im Interesse Gültigkeit, was die eigenen selbst-
der Nazis und zu Grüningers finanziel- inkriminierenden Aussagen Grünin-
lem Vorteil geschah. Die UEK übersah gers anbelangt.
auch, dass er in den Vierzigerjahren
eine ausgesprochen pro-nazistische Die Bergier-Kommission scheute, trotz
Haltung pflegte. überzeugender Hinweise, die Mühe,
beispielsweise nach deutschen Akten
Diese Befunde mögen auf den ersten zu suchen, welche ein klares Licht auf
Blick unglaubwürdig erscheinen. Denn diese Angelegenheit werfen könnten.
dem breiten Publikum ist nicht be- Offenbar spielten hier private Affinitä-
wusst, was Shoa-Forschern bekannt ist: ten und die falsche Einstellung, es
dass die Nazis in den Dreissigerjahren könnten bei einer schonungslosen For-
die Juden ‹nur› vertreiben und dabei schung Gefühle und Interessen von Ju-
auch Geld kassieren wollten. Entspre- den verletzt werden, eine zentrale Rol-
chend wird niemand die Nazis und de- le.
ren Helfer als Judenretter, sondern als
Verbrecher bezeichnen – auch wenn Es bleiben die Fragen offen, warum
durch ihre Tätigkeit Juden mit dem Le- eine solch verkrampfte Denkmalpflege
ben davonkamen. von Leuten geleistet wird, die sich
sonst gerne als Mythenzerstörer dar-
Teile des Beweismaterials wurden vom stellen. Weshalb wird ein falsches Vor-
WoZ-Journalisten Stefan Keller bei bild produziert, und warum werden da-
seiner Recherche, welche für die Reha- durch die Verdienste in der Flüchtlings-
bilitierung Grüningers 1995 massgeb- hilfe von Schweizern wie Werner
lich war, gesichtet. In seinen Publika- Stocker heruntergespielt? Weil sie an-

6
geblich zu alltäglich und unspektakulär schenden Interpretation des Falls Grü-
gewesen seien? ninger zu erleichtern, werden am
Schluss Argumente in einer Tabelle zu-
Diese für die Gegenwart wichtigen Fra- sammengefasst, die für oder gegen
gen werden zwar in der Folge nicht be- Grüninger sprechen. Dieser Abriss be-
antwortet, müssen aber noch behandelt handelt die drei folgenden Hauptfra-
werden. Um die notwendige Diskus- gen:
sion darüber zu ermöglichen, wird hier
ein Beitrag zur ebenfalls unerlässlichen • Stand Grüninger im Dienst der Na-
sachlichen historischen Debatte geleis- zis?
tet, die als Grundlage für den Disput
über die Rolle von Mythen und Helden • War er ein korrupter Polizist und leis-
in der heutigen Gesellschaft dienen tete er seine Flüchtlingshilfe gegen
kann. Bezahlung?

Um den Überblick über die Ausein- • War Grüninger in den Vierzigerjah-


andersetzung mit der momentan herr- ren pro-nazistisch eingestellt?

7
1 Einleitung Als Sohn eines Flüchtlings und mit vie-
len Nazi-Opfern verwandt und be-
1.1 Die dominierenden Schweizer kannt, kann der Autor dieses Beitrags
Historiker verhindern die Debatte Hugs Bezeichnung für die zweckge-
Mit der Affäre der jüdischen nachrich- färbte historische Interpretation nicht
tenlosen Vermögen wurde eine heftige unterstützen. Es gibt ja nicht nur EINE
Kontroverse um die Rolle der Schweiz «Opferperspektive», sondern mehrere
während der Nazi-Zeit ausgelöst. Die Betrachtungsweisen Betroffener. Auch
Auseinandersetzung mit der Vergan- fachlich geht es hier um eine sehr frag-
genheit weist Schwächen und Proble- würdige Einstellung, die weniger mit
me auf, die am Fall Grüninger demon- Wahrheitsfindung als vielmehr mit der
strierbar sind. Verfolgung von Interessen zu tun hat.
Dies manifestierte sich schon 1995, am
Es ist bedenklich und amüsant zu- Anfang der Affäre um die nachrichten-
gleich, dass ausgerechnet einige der losen Vermögen, als der israelische
Vorreiter der neuen schweizerischen Journalist Itamar Levin mit einer klas-
Geschichtsschreibung, die vehement sischen Presseente über jüdische «her-
für die Zerstörung der alten Mythen renlose» Vermögen in der Schweiz in
plädieren, sich sogar noch stärker als angeblicher Milliarden-Höhe die Resti-
ihre Gegner für die Aufrechterhaltung tutionskampagne und die entsprechen-
falscher Bilder und Helden einsetzen. de Debatte auslöste3.

«Opferperspektive» nennt der Histori- Selbstverständlich ist die Geschichts-


ker Peter Hug1 den in der Schweiz mo- schreibung keine exakte Wissenschaft.
mentan herrschenden Ansatz, der die Sie wird nicht nur unvermeidlich von
Arbeit der Bergier-Kommission2 ent- Teilkenntnissen, sondern auch sehr oft
scheidend prägte. zu stark von Interessen, Vorurteilen,

1 Peter Hug, Was meint eigentlich der Bundesrat – Ein Jahr nach der Bergier-Kommission herrscht Handlungs-
bedarf, WochenZeitung, 27.3.2003 http://www.woz.ch/wozhompage/13j03/bergier13j03.htm
2 ‹Unabhängige› Experten-Kommission (UEK).
3 Itamar Levin, der kein Deutsch kann, fand ein Schweizer Dokument im «erblosen»-Vermögen-Dossier des

Zentral Zionistischen Archivs (Jerusalem). Er behauptete in der Folge in der israelischen Wirtschaftszeitung
Globes (obwohl er vom Autor auf die Fehlinterpretation hingewiesen wurde), dass es sich um ein offizielles
Papier handle, in dem die Schweizer Regierung 1946 festgestellt habe, dass die jüdischen «erblosen» Vermö-
gen in der Schweiz 300 Millionen sFr. (von Levin als 7,7 Mia. im Wert von 1995 gerechnet) betragen haben.
Diese Interpretation hatte zwei «Schönheitsfehler»: Das Dokument war nicht offiziell, sondern von der Schwei-
zerischen Flüchtlingshilfe und sprach nicht vom Umfang der jüdischen «erblosen» Vermögen. Diese «Kleinig-
keiten» hinderten jedoch den Jüdischen Weltkongress und die Jewish Agency nicht daran, eine aggressive
Kampagne zu lancieren, die in der Folge von diesem lockeren Umgang mit der Wahrheit gekennzeichnet war.
Bezeichnend für den schwierigen Umgang mit dem Thema ist auch, wie verklemmt die Enthüllung des Autors
über die Levin’sche Presseente in der Wirtschaftszeitung Cash vom 29. November 1996 behandelt wurde.

8
Emotionen und anderen unsachlichen 1.2 Der Neo-Held Grüninger
Elementen bestimmt. Für eine grosse Öffentlichkeit in der
Schweiz und im Ausland war Grünin-
Es ist unmöglich, eine endgültige Inter- ger zum Symbol eines anständigen
pretation und Schilderung eines ge- Menschen geworden, der im richtigen
schichtlichen Ereignisses zu formulie- Moment, am richtigen Ort – angesichts
ren, denn es können immer neue Fakten der grossen Not der jüdischen Flücht-
auftauchen, die das herrschende Bild linge – Zivilcourage und Nächstenliebe
völlig verändern. Schon deshalb dürfen gezeigt und sich den Weisungen aus
unbequeme Indizien nicht unter den Bern widersetzt habe. Während einiger
Teppich gekehrt werden. So definiert Monate, ab Herbst 1938 bis Frühjahr
auch der Philosoph Karl Popper4 nur 1939, liess er mehrere hundert Juden il-
jene Vorgänge als wissenschaftlich, in legal in die Schweiz einreisen. Deshalb
denen jede Interpretation bzw. Theorie verlor Grüninger seine Stelle: Er wurde
stets in Frage gestellt wird. am 3. April 1939 abgesetzt. Nach einer
langen Kampagne wurde er 1993 poli-
Die Kontroverse gehört also zum We- tisch und 1995 auch juristisch rehabili-
sen der Wissenschaft im Allgemeinen tiert.
und der Geschichtsschreibung im Spe-
ziellen. Wer eine Debatte verhindern Wichtig zu betonen ist, dass die weiter
und blockieren will, agiert nicht nur unten präsentierten Befunde und deren
anti-demokratisch, sondern auch un- Interpretation sich auf Grüningers Be-
wissenschaftlich. Ausserdem darf man weggründe beziehen, und nicht auf die
keine Person ausserhalb einer kriti- Tatsache, dass er die Einreise von
schen Betrachtung stellen. Flüchtlingen in der besagten Periode
ermöglichte. Die Motive des alt Poli-
Alles andere als wissenschaftlich zeig- zeihauptmanns stellen keine Neben-
te sich die herrschende Schweizer His- sächlichkeit dar, denn zur Diskussion
toriker-Clique angesichts der gut beleg- steht die Frage:
ten Enthüllung des Autors am 24. Mai
War Paul Grüninger ein grosser
1998 über die pro-nazistische Einstel-
Humanist, ein korrupter Polizist,
lung des st. gallischen alt Kantonspoli-
Nazi-Sympathisant oder ein Nazi-
zeikommandanten Paul Grüninger5.
Agent?
Die Befunde wurden als Rufmord und
aufgewärmte Gerüchte abgetan, und Um diese Frage beantworten zu kön-
gegen den Autor wurde eine Schlamm- nen, müssen zuerst einige grundsätzli-
schlacht eingeleitet. che Sachverhalte erörtert werden.

4Karl R. Popper, Logik der Forschung, Julius Springer, Wien 1934.


5In Rolf Cavalli, Hatte Judenretter Grüninger Nazi-Sympathien? – Forscherstreit entbrannt, Sonntagsblick,
24. Mai 1998.

9
1.3 In den Dreissigerjahren wollten zu vertreiben. Diese Absicht wurde
die Nazis die Juden ‹nur› vertreiben zuerst erschwert durch den jüdischen
Ein fundamentales Missverständnis passiven Widerstand, aber auch durch
über die NS-Judenpolitik bestimmt die NS-Politik, den Vertriebenen die
beim breiten Publikum die Wahrneh- Mitnahme von Devisen zu verbieten
mung verschiedener Geschehnisse, in und an der Deportation nach Möglich-
denen Juden mit dem Leben davonka- keit auch noch zu verdienen. In den
men. Gemäss dieser verbreiteten fal- Dreissigerjahren, in einer Welt, welche
schen Betrachtungsweise zielten die die Wirtschaftskrise noch nicht über-
Nazis von Anfang an nur auf die totale wunden hatte, waren mittellose Flücht-
Vernichtung der Juden. Entsprechend linge in der Regel alles andere als will-
werden in allen Fällen, bei denen Juden kommen. Das NS-Regime unterschrieb
mit dem Leben davon kamen, alle akti- mit dem Jewish Agency-Direktorium6
ven Akteure praktisch automatisch als 1933 ein Abkommen, welches Juden
Judenretter angesehen. Dabei werden die Mitnahme von einem Teil ihres Be-
die tatsächliche NS-Judenpolitik und sitzes ermöglichte, und zwar in Form
deren Entwicklung zu wenig beachtet. von deutschen Waren, die nachher in
Unbestritten unter seriösen Shoa-For- Palästina verkauft wurden. Aus dem
schern ist die Tatsache, dass die anti-jü- Erlös erhielten die jüdischen Emigran-
dischen Massnahmen von einer steten ten zwar nur noch einen Bruchteil ihrer
Eskalation gekennzeichnet waren und Vermögen, konnten aber damit immer-
man zumindest drei Hauptphasen be- hin die notwendige Hürde von 1000
obachten kann: englischen Pfund Sterling überwinden,
um in britisches Mandatsgebiet gelas-
1. 1933–1938: die ‹freiwillige› Aus- sen zu werden7.
wanderung der Juden
2. 1938–1941/42: Übergang zur 1938 stellten die Nazis fest, dass die
Zwangsvertreibung Zahl der auswandernden Juden ‹zu
3. 1941/42–1944: Übergang zu einer niedrig› war, und wollten den ‹freiwil-
systematischen Vernichtung ligen› Transfer beschleunigen. Die
Aufnahmekapazität Palästinas war zu
Unabhängig von der Nazi-Rhetorik klein und wurde zusätzlich durch arabi-
über eine totale Ausrottung der Juden schen Druck vermindert. In der Folge
konnte man in Wirklichkeit eine konti- entstand das, was man unter dem Na-
nuierliche Verschärfung der Massnah- men Rublee-Schacht-Plan kennt. Die-
men beobachten, die Juden ‹lediglich› ser sah die Finanzierung der Auswan-

6Das Jewish Agency-Direktorium war sozusagen die israelische vorstaatliche Regierung.


7Dieses sehr umstrittene Abkommen ist unter dem Namen «Ha’avara» oder «Transfer»-Abkommen bekannt.
Edwin Black, The Transfer Agreement – The untold story of the secret agreement between the Third Reich and
Jewish Palestine, Macmillan Publishing Company, New York, 1984.

10
derung durch eine Art Freikauf der be- Niemand wird eine solche Person als
drohten Juden durch jüdische US-Or- grossen Helden oder Humanisten be-
ganisationen vor. zeichnen. Genauso wenig ist eine sol-
che Benennung für den Chef der Ope-
Das Vorhaben wie auch die Verhand- ration, Adolf Eichmann, zu verwenden.
lungen an der Evian-Flüchtlingskonfe- Dies, obwohl Tausende von Juden
renz im Juli 1938 scheiterten jedoch am ‹dank› der Vertreibung durch Eich-
Widerstand der US- und britischen Re- mann vor einem noch schlimmeren
gierung, aber auch der Jewish Agency Schicksal bewahrt wurden. Den Titel
(JA)8. ‹Retter› verdienen dieser SS-Verbre-
cher und seine Mitarbeiter und Kolla-
Parallel zu diesen Bemühungen errich- borateure also bestimmt nicht.
tete die SS unter der Leitung von Adolf
Eichmann eine sog. Auswanderungs- 1.4 Bemerkungen zur Auswertung
zentrale in Wien, die die Juden-Depor- des Archivmaterials
tation vorantreiben sollte. Angesichts Auf diesem beschriebenen Hintergrund
der darauf folgenden jüdischen Flücht- müssen die Akten über Paul Grüninger
lingswellen beschloss die Schweiz am interpretiert werden. Am wichtigsten
18. August 1938, ihre Grenzen für jüdi- sind die Bestände der Schweizerischen
sche Emigranten zu schliessen. Dieser Bundespolizei (SBA), der militäri-
Entscheid widersprach also den deut- schen Spionageabwehr (SPAB) und der
schen Interessen, und insofern ist es Militärjustiz. Diese bringen den Poli-
nur logisch, dass die Nazis verschiede- zeihauptmann eindeutig in den Dunst-
ne Möglichkeiten suchten, um die kreis der Nazis, auch wenn die bisher
schweizerische Grenzschliessung zu gefundenen Dokumente nichts Genau-
umgehen. Darunter fiel auch die Suche eres über die konkreten Arbeitsverhält-
nach Hilfe bei ihnen wohlgesinnten nisse zwischen Grüninger und den
Schweizern. Nazis aussagen.

Dies macht klar, dass es durchaus Selbstverständlich sind auch diese Do-
denkbar ist, dass ein Schweizer Nazi- kumente nicht fehlerfrei. In der damali-
Agent bzw. ein Nazi-Sympathisant gen Atmosphäre fanden Gerüchte je-
oder ein Opportunist Juden illegal im weils allzu schnell ihren Weg in die Ak-
Dienst der Nazis und/oder gegen Be- ten. Wenn die Angaben Dritter also zu
zahlung in die Schweiz lassen würde. Recht mit viel Vorsicht zu geniessen

8 Laut dem israelischen Forscher S.B. Beit-Zwi wurden diese Rettungsbemühungen mehrheitlich durch die
Jewish Agency(JA)-Führung sabotiert. Er glaubt, dass es möglich gewesen wäre, Unterschlupf für praktisch
alle unter der Nazi-Herrschaft lebenden Juden zu finden, aber dass das JA-Direktorium in den alternativen
Auswanderungs-Orten eine grosse Bedrohung für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina sah.
S.B. Beit-Zwi, Post-Ugandian Zionism in the Crisis of the Holocaust, Tel Aviv 1977 (heb.), 1991 (engl.).

11
sind, gibt es dagegen keinen Grund, die borene Grüninger ausgebildeter Lehrer
eigenen, selbstinkriminierenden Aus- und Leutnant der Verpflegungstruppe
sagen Grüningers auszuklammern, wie war. Grüninger schrieb im Alter, er
dies z.B. Stefan Keller9 tut. habe sich 1919 als Polizeileutnant be-
worben, «einzig und allein wegen der
Der Grüninger-Rehabilitator und Wo- finanziellen Besserstellung10.»
chenZeitungs-Redaktor forschte zwar
in Teilen dieses Archivmaterials, in sei- 2.2 Der Fall Wetzel
nen Publikationen zog er es aber vor, Für Grüninger spielte Geld offensicht-
belastende Beweise zu verharmlosen lich eine wichtige Rolle. Dass ihm bei
oder teilweise bzw. ganz zu verschwei- der Beschaffung finanzieller Mittel
gen. Keller taxiert die meisten dieser nicht nur legale Wege recht waren, dar-
Quellen als unzuverlässige Spitzelbe- auf deuten u.a. die Akten über die Affä-
richte, da sie den Akten der «Schnüffel- re um die Erbschaft des Polizisten
polizei» entstammen. Dieses Pauschal- Christian Wetzel von 1936:
urteil mag bei einem gewissen Publi-
kum gut ankommen, zeugt jedoch nicht «... Wetzel wollte ursprünglich ...
von seriösen Kenntnissen und differen- Fr. 5000.– der Landjäger-Pensionskas-
zierter Beurteilung der wichtigen Be- se vermachen. Nachdem er erfuhr, dass
stände der Bundesanwaltschaft, der diese nicht mehr existiere, vermachte
Spionageabwehr und der Militärjustiz. er den Betrag Hptm. Grüninger in sei-
ner Eigenschaft als Polizeihauptmann
‹zur freien Verwendung›. Die eingehen-
2 Bestechungs- und den Abklärungen der Staatsanwalt-
Korruptionsverdacht schaft ergaben, dass er dabei die Mei-
nung hatte, dass die Bestimmung der
2.1 Paul Grüninger und das liebe Destinatäre und die Höhe der einzel-
Geld nen Beiträge seinem Ermessen obliege,
Aus der Fülle der Akten und aus Stefan nicht aber dass er den Betrag für eige-
Kellers Buch, welches übrigens weit ne Bedürfnisse verwenden dürfe. Die
davon entfernt ist, ein schmeichelhaftes Strafverfolgung unterblieb wegen Ver-
Bild des alt Polizeihauptmanns wieder- jährung der Antragsfrist11.»
zugeben, geht hervor, dass der 1891 ge-

9 Keller ist ein führender Schweizer Historiker, der durch sein Buch über Grüninger bekannt wurde (Stefan
Keller, Grüningers Fall, Rotpunktverlag, Zürich 1993).
Mit der von ihm mitinitiierten Bewegung Manifest von 21. Januar 1997 versuchte er (zusammen mit seinem
Freund NR Paul Rechsteiner) den Kniefall vor den gegen die Schweiz kampagneführenden jüdischen Organisa-
tionen zu fördern. Als Auslöser dieser Bewegung gilt die Äusserung des damaligen Bundesrates, Jean Pascal
Delamuraz, welcher das Verhalten dieser jüdischen Organisationen zu Recht als Erpressung bezeichnet hatte.
10 Keller, S. 38–39.
11 Aus einer Stellungnahme der St. Galler Behörden vom 17. Juni 1970, Schweizerische Bundesanwaltschaft

(SBA), Schweizerisches Bundesarchiv (BAr) E4320 (B) 1971/78, Bd. 10, Aktenzeichen C.2.1852 B.

12
Bei der Untersuchung der Staatsan- ausdrücklich gesagt, wenn ein Korps-
waltschaft verstrickte sich Grüninger in angehöriger unterstützungsbedürftig
sehr widersprüchliche Angaben bezüg- werde und von mir etwas wünsche, so
lich dieses Geldes12. Die Verwandten wäre mir seine Angelegenheit vorzule-
Wetzels, welche für Keller völlig un- gen, worauf ich mich dann je nach
glaubwürdig sind (nicht so für die da- Sachlage zu einer Leistung entschlies-
malige Staatsanwaltschaft), setzten sen würde oder nicht15.»
sich, zusammen mit dem Verband der Das Verfahren gegen Grüninger wurde
Kantonspolizei, für die Verwendung wegen Verjährung eingestellt, und dies
dieses Teils der Erbschaft für bedürfti- gegen den Antrag des Staatsanwalts
ge pensionierte Polizisten ein. Grünin- Walter Härtsch16.
ger weigerte sich wochenlang, auf das
Geld zu verzichten. «Dann einigte man 2.3 Hinweise auf Grüningers
sich auf einen Vergleich, und der ar- Bestechung
beitslose Hauptmann trat 2500 Fran- Es gibt zahlreiche Hinweise und Aussa-
ken aus seinem staatlichen Pensions- gen dafür, dass Grüninger für seine Hil-
guthaben ab13.» fe bei der illegalen Einreise von Flücht-
lingen Geld kassierte. Ganz eindeutige
Im Verlauf der Vergleichsverhandlun- Belege dafür fehlen jedoch. Angesichts
gen schrieb Grüninger an den Präsiden- der Materialfülle überrascht es, dass
ten des Verbandes der Kantonspoli- die damalige Bundespolizei bzw. die
zisten: Spionageabwehr keine besseren Nach-
«Ich bin berechtigt, mit diesem Gelde weise für finanzielle Vorteile für Grü-
zu machen, was mir beliebt14. (...) Ich ninger fanden als die, die sie erbrach-
habe Ihnen gesagt und ich wiederhole ten. Seine Verteidiger werden argumen-
es, dass ich mich in dieser meiner Frei- tieren, dass nichts gefunden wurde,
heit mit dem Gedanken getragen habe, weil es nichts zu finden gegeben habe.
von diesem Gelde zu wohltätigen Das Studium der Akten zeigt jedoch,
Zwecken Gebrauch zu machen und da- dass eine andere Erklärung gesucht
bei auch, und zwar in erster Linie, werden muss. Vielleicht waren die
unterstützungsbedürftiger Korpsange- Untersuchungsbehörden ganz einfach
höriger zu gedenken. Aber alles ohne überfordert? Grüningers Vorgesetzter,
irgendwelche Bindung und Rechts- SP-Regierungsrat Valentin Keel, hatte
pflicht. (...) Ich habe Ihnen auch noch wegen der Verstrickung seiner Partei in

12 Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, 31. Mai 1940, Fall Grüninger im Staatsarchiv St. Gallen, A42
Bd. III.
13 Keller, S. 191–192.
14 Vom Autor fett hervorgehoben in diesem und anderen Zitaten.
15 Brief Grüningers an Herrn Züst, 12. März 1940, Fall Grüninger im Staatsarchiv St. Gallen, A42

Bd. III.
16 S.a. Keller, S. 191–192.

13
der illegalen Flüchtlingshilfe sogar al- schen Kreisen wurde die Anschuldi-
len Grund, solche Untersuchungen ab- gung der Bestechung gegenüber Grü-
zuklemmen. Im Gegensatz zu damals ninger mehrmals erhoben. Unter diesen
aber haben heutige Forscher Zugriff Zeitzeugen befanden sich seriöse Leute
auf Informationen wie die belastenden wie z.B. zwei Bundesrichter. Einer da-
späteren Aussagen von damaligen SP- von, der ehemalige SP-Sekretär Werner
Politikern, die diese während der Nazi- Stocker, war sehr aktiv bei der Flücht-
Zeit nicht gemacht hätten. lingshilfe während der Nazi-Zeit. Seine
Witwe äusserte sich gegenüber Keller
So oder so ist nicht ersichtlich, warum ganz eindeutig über Bezahlungen an
z.B. die Angaben der Zürcher Anwalts- Grüninger. Keller wollte dieser Aussa-
sekretärin Erika Michel von den Amts- ge aber keinen Glauben schenken, ob-
stellen 1939 nicht ernsthafter geprüft wohl Stockers Behauptung auch durch
wurden. einen Spitzelbericht vom Januar 1939
untermauert wird:
Michel behauptete bei der Polizei, Grü- «Eine G.P.[Gewährsperson] der K.P.
ninger kollaboriere mit den Nazis. Er [Kantonspolizei] berichtet mir, dass die
habe viele Juden in die Schweiz einrei- Sekretäre der S.P. des Kantons Zürich
sen lassen und sei entsprechend ent- und der Stadt Zürich und vermutlich
schädigt worden. Diese Aussage beruht auch Redaktoren des ‹Volksrechtes›,
auf einem abgehörten Telefongespräch spez. aber Dr. Stocker im Einverneh-
zwischen ihrem Chef, Dr. Corrodi, und men mit Hptm. Grüninger ... einen re-
Grüninger. gelrechten Schlepperdienst von politi-
schen Flüchtlingen und Juden bei
«Frau Michel glaubt bestimmt, dass Buchs und St. Margrethen eingerichtet
Grüninger mit den Nazis in Verbindung haben, der schon über ein Jahr bestehe.
steht. Sie ist der Meinung, dass sie dies Hptm. Grüninger soll jeweils die Ab-
auch in Erfahrung bringen könnte17.» stempelung und Kontrolle der Pässe
dieser eingeschleppten Personen be-
Merkwürdigerweise interessierte sich sorgen und hiefür von jüdisch-marxisti-
die Polizei nicht besonders für diese scher Seite sehr gut finanziert werden.
Auskunft, denn obwohl Michel sich für ... Hptm. Grüninger soll sich derart in
zusätzliche Recherchen anbot, wurde einem Abhängigkeitsverhältnis zur SPS
ihr von weiteren Aktivitäten dieser Art befinden, dass er nicht mehr vorwärts
abgeraten. und rückwärts gehen kann. Meine G.P.
hat ihre Kenntnisse rein zufällig in Ge-
Von jüdischen und sozialdemokrati- nossenkreisen erhalten18.»

17 Aktennotiz der Kantonspolizei SG vom 2. Mai 1939, Fall Grüninger im Staatsarchiv St. Gallen, A42 Bd. II.
18Der letzte Satz fehlt in Kellers Buch. Keller, S. 129–130 und 5. Januar 1939, SBA BAr, E4320 (B) 1971/78
Bd. 10, AZ: C.2.1852 A Dossier Paul Grüninger.

14
Die voneinander unabhängigen beiden galer Tätigkeit für die Flüchtlinge her-
Quellen ergeben einen ähnlichen Tat- unter:
bestand und sind deshalb als wichtige
Beweisstücke zu betrachten. «Ich muss immer wieder darauf auf-
merksam machen, dass für unsere
Keller bringt zwar diesen deutlichen Flüchtlingshilfe die Vorsetzung der
Hinweis auf Grüningers Bestechlich- Einreisedaten gar keinen Zweck gehabt
keit, kommentiert den Spitzelbericht hätte. Abgesehen von den wenigen Fäl-
jedoch nicht als Korruptionsindiz, ob- len, die von Anfang an auf August vor-
wohl er die Zuverlässigkeit der Anga- datiert wurden, betrifft die grosse An-
ben nicht bezweifelt. Denn es gibt eini- zahl der Fälle solche, deren vorgescho-
ge Elemente, die auch ihm als glaub- benes Datum nach dem 18. August
würdig erscheinen, und Keller speku- [1938 – dem Grenzschliessungsdatum]
liert ja, dass Grüninger wegen dieses liegt. Infolgedessen bestand durch die
Rapports aufgeflogen sei19. Datumveränderung für unsere Flücht-
linge kein Vorteil und die Gefahr der
Entlastend für Grüninger wirkt die Rückweisung wurde weder vergrössert
Aussage des Chefs der Israelitischen noch verkleinert, da es sich für Bern
Flüchtlingshilfe, Sidney Dreifuss (des nur darum handeln konnte, entweder
Vaters von alt Bundesrätin Ruth Drei- alle nach dem Stichtag Eingereisten zu-
fuss), bei seiner Einvernahme: rückzuweisen oder alle hierzulassen.
Infolge dieser Überlegung bestand für
«[Frage]: Ist Ihnen etwas darüber be-
uns absolut kein Grund, Einreisedatum
kannt, dass Hptm. Grüninger Geschen-
vom November oder Dezember auf
ke, Zuwendungen oder Entschädigun-
Oktober oder September vorzulegen.
gen von einzelnen Emigranten empfan-
Dazu kommt noch die wichtige Überle-
gen oder angenommen hat?
gung, dass die vermehrten Einreisen
[Antwort]: Nein, ich halte es auch für
November und Dezember infolge der
ausgeschlossen20.»
damaligen politischen Verhältnisse und
Diese Erklärung fällt wegen ihrer Ab- Verfolgungen ja viel plausibler und be-
solutheit unglaubwürdig auf. Wie gründeter sind, als die frühern. Wir
konnte Dreifuss so hundertprozentig si- müssen die Verantwortung ablehnen,
cher sein? Abgesehen davon wurde wenn auf Verlangen von Hptm. Grü-
Dreifuss gefragt, ob Grüninger von den ninger in der Bereinigung der Frage-
Flüchtlingen bestochen worden wäre bogen falsche Daten eingesetzt wurden.
und nicht von anderer Seite. Diese Bereinigung war eine rein inter-
Im gleichen Verhör spielte Dreifuss so- ne Sache der Polizei21.»
gar die Bedeutung von Grüningers ille-
19 Keller, S. 130. Mehr zu diesem Thema s. weiter unten.
20 Einvernahme Sidney Dreifuss’ am 14. April 1939, A42 Bd.1 im Staatsarchiv St. Gallen.
21 Ebenda.

15
2.3.1 Zusätzliche Quellen über habe, in Engelburg (SG) Unterschlupf
Grüningers Korruption finden können. Bei der nachfolgenden
Der ehemalige SP-Bundesrichter Ha- Untersuchung behauptete Grüninger,
rald Huber sprach von zwei konkreten so Keller, das Devisenvergehen als
Bestechungsfällen, von denen er aus Fahndungsgrund sei von den Deut-
«hundertprozentig zuverlässiger jüdi- schen lediglich vorgetäuscht worden24.
scher» Quelle erfahren habe. Da er die- Keller klammerte aus, dass die Aussage
se wegen des Anwaltsgeheimnisses ein bisschen weiter gegangen war und
nicht nennen wollte, schenkt Keller dass sogar Grüninger selber eine Straf-
auch ihm keinen Glauben22. Der jüdi- tat Flatz’ bestätigte, nämlich ein sog.
sche Rechtsanwalt und Kassationsge- «reines Fiskalvergehen»25. In einer Ak-
richtspräsident in St. Gallen, Dr. Sa- tennotiz der Bundesanwaltschaft wird
muel Teitler, war ebenfalls davon über- Flatz als «ziemlich reger Devisenschie-
zeugt, dass Grüninger bestochen wor- ber für sich und andere Personen, und
den war23. zwar bereits schon im Jahre 1933» ein-
Frau Michel zitierte einen anderen Ju- geschätzt26.
den aus St.Gallen, Schlesinger Jr., der
auch über finanzielle Entgeltung Grü- Der Schutz für einen faschistischen
ningers für Hilfe an die jüdischen Kriminellen lässt sich sehr schwer mit
Flüchtlinge gesprochen habe. humanistischen Argumenten rechtferti-
gen. Ein finanzielles Motiv Grüningers
2.4 Der Fall Flatz für diese Handlung liegt nahe. Wie wei-
Extrem belastend wirkt der Fall des ter unten geschildert wird, ist die Ge-
Vorarlberger Kaufmanns Franz Josef schichte möglicherweise noch kompli-
Flatz. Diesem Anhänger des austrofa- zierter. Denn währenddem gewisse
schistischen Regimes wurde in deutsche Untersuchungsbehörden nach
Deutschland ein Devisenvergehen vor- Flatz fahndeten und Grüninger sogar
geworfen. Im September 1938 soll befürchtete, dass diese über seine Hilfe
Flatz, nach seinen Angaben, von den an den reichen Devisenschieber in-
deutschen Behörden verhaftet und nach formiert seien und deshalb ihn,
Dachau geschickt worden sein. Er habe Grüninger, suchen würden, erhielt
fliehen und dank Grüninger, der ihm ei- er Unterstützung von seinen Nazi-
genmächtig und unberechtigt den Sta- Freunden.
tus eines politischen Asylanten gewährt

22 Keller, S. 188.
23 Lancelot C. Sandor, Aktenzeichen Grüninger – ungelöst? Tages-Anzeiger-Magazin 13. Oktober 1984.
24 Keller, S. 112–113.
25 Bezirksgericht St. Gallen, Sitzung vom 1. Oktober/23. Dezember 1940 in der Strafsache gegen Grüninger

Paul, S. 7.
26 Aktennotiz betr. Angelegenheit Flatz vom 10. Mai 1939, SBA, BAr E4320(B) 1991/243 Bd. 75 Aktenzeichen

C.13.909 Dossier Franz Flatz.

16
3 Zusammenarbeit mit den wähnt27. Der alt Kantonspolizeichef
Nazis passte jedoch sehr gut in Süss’ Arbeits-
muster: «Auf Grund seines langjähri-
Zum Kantonspolizeikommandanten er- gen Dienstes beim Zoll war Süss mit
nannt wurde Grüninger 1925. Unterge- vielen Grenzpolizeibeamten gut be-
bene berichteten und beklagten sich in kannt, und diese Beziehungen erwiesen
verschiedenen Untersuchungen über sich für ihn als sehr wertvoll bei seinen
einen schlechten Chef, der mit seinen Ermittlungen. Wenn Berlin einen Be-
vielen Privatfahrten im Dienstauto auf- richt über die Aktivitäten einer be-
gefallen und schwer erreichbar gewe- stimmten Person in Liechtenstein oder
sen sei. Er wurde in Damengesellschaft im Schweizer Grenzgebiet verlangte,
in diversen Wirtshäusern auf dem Kan- kontaktierte Süss einen seiner Freunde
tonsgebiet, aber auch bei häufigen Be- bei der deutschen Grenzpolizei, wel-
suchen im benachbarten Deutschland cher seinerseits einen wohl gesinnten
beobachtet. Beamten jenseits der Schweizer oder
Liechtensteiner Grenze bat, eine priva-
Selber bezeichnete Grüninger mehrere te Untersuchung zu betreiben. Auf die-
Nazi-Offiziere als seine Freunde und se Art gewann Süss das Ansehen eines
pflegte gute Beziehungen mit einigen Mannes mit guten Beziehungen28.»
von ihnen, auch noch nach seiner Sus-
pendierung im April 1939. Für Keller Ein anderer Freund Grüningers war der
geht es um normale Verhältnisse zwi- Grenzpolizeikommissar Joseph Schrei-
schen Berufskollegen. Einer dieser eder, der, wie Keller selber herausfand,
‹Berufskollegen› war Hauptmann Karl eine ganz üble Rolle bei der deutschen
Süss, welcher nach seinem Dienst als Besatzungsmacht in Holland spielte29.
Leiter der Zollfahndung in Lindau das- Grüninger beschrieb Schreieder hinge-
selbe Amt in München bekleidete und gen als «[ein] Menschenfreund, der
nach Kriegsausbruch beim Münchner z.B. bestrebt war, die Judenverfolgung
Zweig des deutschen Geheimdienstes zu mildern». Gemeint ist offensicht-
(Abwehrstelle VII) für die Spionage in lich, dass dieser «Menschenfreund»
der Schweiz verantwortlich war. ‹half›, die Juden zu vertreiben.

Zwar wurde Grüninger von Süss in sei- An einer bemerkenswerten Stelle schil-
nem Verhör nach dem Krieg nicht als dert Keller verständnisvoll, wie Grü-
einer seiner Schweizer Agenten er- ninger während des Spanienkriegs mit

27 Es ist schwer anzunehmen, dass Süss beim Verhör die Namen sämtlicher Schweizer Agenten preisgab.
28 Headquarters United States Forces European Theater, Military Intelligence Service Center: Counter Intelli-
gence Final Interrogation Report No. 29 (Karl Süss), 14.9.1945, S. 7, National Archives, Wahsington D.C., RG
226, Entry 19, 19., XI 19655.
29 Keller, S. 213.

17
den Nazis zusammenarbeitete, um den tische Informationen, welche besagten
Strom der Spanienkämpfer zu unter- Franzosen als Saboteur gegen das Drit-
binden. te Reich darstellten.

«Man habe einander gegenseitig die Bei der nachfolgenden Untersuchung


Anlaufstellen der Spanienkämpfer dies- kam Grüninger lediglich mit einer
und jenseits der Grenze verraten. ‹Hör Rüge davon. Dies für ein Vergehen,
zu›, habe Paul Grüninger oft zu ihm ge- welches auch heute, in ‹normalen› Zei-
sagt [Julius Längle, Polizeireferent bei ten, für gravierende Folgen gesorgt hät-
der Bezirkshauptmannschaft Bregenz, te. Denn es würde in Bern nicht tole-
Anhänger der austrofaschistischen riert, wenn ein Kantonspolizeichef ei-
Schuschnigg-Diktatur], ‹Du los emoll, genmächtig deutsche Polizei in der
do isch denn en Aalaufschtell› – flugs Schweiz nach einem politischen Täter
habe er diese Anlaufstelle ausgehoben, fahnden liesse. Dies war dem Regie-
die Spanienfahrer festgenommen .... Po- rungsrat des Kantons St. Gallen damals
litische Diskussionen habe es bei sol- auch bewusst, denn im Protokoll der
chen Zusammenkünften [an denen Sitzung vom 5. November 1938 wurde
auch der effiziente deutsche Grenzpoli- festgehalten:
zei-Offizier Schreieder anwesend war]
nicht gegeben, es seien rein dienstliche «In der Diskussion wird übereinstim-
Sitzungen gewesen30.» mend festgestellt, dass es in der jetzi-
gen Zeit und den total veränderten Ver-
3.1 Die Rorschach-Affäre hältnissen nicht angehe, dass Polizei-
Auf dem Hintergrund einer solch en- organe ausser ihrer Landesgrenze
gen «rein dienstlichen» Zusammenar- Funktionen ausüben, die nur der be-
beit muss der Fall Wachtmeister Ber- treffenden Landespolizei zustehen.
thold Müller aus Rorschach betrachtet
werden. Bei dieser Gelegenheit werden die Ver-
Im Oktober 1938, also parallel zur sei- hältnisse bei der Kantonspolizei be-
ner Hilfe an die illegale jüdische Ein- sprochen und anhand des Falles Müller
wanderung, bewilligte Grüninger dem dargetan, dass es vielleicht an der Or-
Wachtmeister ohne grosse Umstände ganisation und den Instruktionen lie-
telefonisch, ein Gestapo-Team in die ge, wenn solche Dinge geschehen
Schweiz zu lassen, um nach einem an- können. Es sollte auch abgeklärt wer-
geblichen französischen Dieb zu fahn- den, ob nicht durch eine andere Ar-
den. Müller lieferte seinen deutschen beitszuteilung erreicht werden könnte,
Berufskollegen auch nachträglich dass sich das Polizeikommando weni-
schriftliche, sehr inkriminierende poli- ger im Aussendienst betätigen muss.

30 Keller, S. 13.

18
Die vielen Autofahrten des Polizei- Dabei wusste Grüninger gut Bescheid,
hauptmanns sollen schon mehrfach zu welcher Bande seine Freunde von
in der Bevölkerung als auffällig be- der Gestapo gehörten, und über deren
merkt worden sein31.» Rolle und Methoden bei den Juden-
und anderen Menschenverfolgungen.
Es ist insofern nicht erstaunlich, dass
zwei Tage nach der Suspendierung Man darf also die überdurchschnittli-
Grüningers der Winterthurer Landbote che Deutschfreundlichkeit und die Zu-
am 5. April 1939 einen Artikel unter sammenarbeit Grüningers mit der Ge-
dem Titel Helfer der Gestapo? veröf- stapo im Jahre 1938 nicht unterbewer-
fentlichte. Es wurde darin vermutet, ten.
dass die Absetzung die Folge der nazi-
freundlichen Haltung Grüningers ge- 3.2 Sidney Dreifuss: Grüninger
wesen sei. Ein empörter Polizeisoldat handelte auf Veranlassung der
erzählte dem Landboten, es handle sich Deutschen
dabei nicht um einen Einzelfall: Poli- Ein Hinweis darauf, dass Grüningers
zeihauptmann Grüninger stecke offen- Aktivität zu Gunsten der jüdischen
sichtlich mit anderen Polizeibeamten Flüchtlinge auf Veranlassung der Nazis
unter der gleichen Decke und er «baga- stattfand, ist in einer Aussage des da-
tellisiere alle Nachrichten über die maligen Leiters der Israelitischen
Nazi-Umtriebe». Flüchtlingshilfe St. Gallen, Sidney
Dreifuss, zu finden. Er sagte bei seiner
Wegen dieser groben Verletzung der Einvernahme zum Fall des zionis-
schweizerischen Hoheitsrechte in Ror- tischen Aktivisten Markus Löffel, der
schach wurden Wachtmeister Müller nach Wien geschleust wurde und von
und Grüninger 1938 nur leicht bestraft, Grüninger einen falschen Ausweis er-
der Zeitungsinformant aus den Reihen hielt:
der Polizei hingegen wurde verhaftet
und danach versetzt. «Ausserdem wurden vom Polizeikdo.
St. Gallen (also Grüninger) auf Veran-
Bei seiner Interpretation dieses Vorfalls lassung hauptsächlich des Deutschen
stützt sich Keller auf die Schlussfolge- Konsulates und auf unseren Wunsch,
rung des Untersuchungsrichters, wel- noch schriftliche Zusicherungen zur
cher in diesem gravierenden Vergehen Wiedereinreise ausgestellt33.»
– in für die Schweiz so heiklen Zeiten –
nur eine «zu grosse Vertrauensselig- Grüninger selber meinte dazu:
keit»32 des Polizeihauptmannes sah. « Ich erinnere mich an diesen Fall nicht

31 RR 1938 No. 1856 im Staatsarchiv St. Gallen.


32 Keller, S. 156.
33 Aussage Sidney Dreifuss’ vom 28. April 1939, im Staatsarchiv St. Gallen, Fall Grüninger A42 Bd. 2.

19
mehr. Solche Identitätsausweise habe Die Aussage Dreifuss’ ist eher ausser-
ich einige ausgestellt. Es handelte sich gewöhnlich, denn im Allgemeinen ver-
dabei immer um Leute, die die Absicht suchte er, die Schuld für die gesetzes-
hatten, die Schweiz für dauernd zu ver- widrigen Handlungen von sich zu wei-
lassen und die für das Einreiseland ei- sen und entsprechend Grüninger zu be-
nes solchen Ausweises bedurften, um lasten.
dort überhaupt einreisen zu können.
(...) So z.B. verlangte das deutsche Kon- 3.2.1 Jüdische Funktionäre stellten
sulat immer einen solchen Ausweis für sich gegen jüdische Flüchtlinge
solche, die zwecks Einholung eines Vi- Die Haltung Dreifuss’ ist in zweierlei
sums nach Wien reisen mussten. Dieser Hinsicht verständlich:
Identitätsausweis wurde mit Wissen des
Departementschefs erstellt. Die israeli- A. weil er sich als Jude nicht sicher
tische Flüchtlingshilfe ersuchte uns je- fühlte;
weils um die Erledigung in diesem Sin- B. weil er eigentlich gegen die illegale
ne34.» jüdische Einwanderung war, die aus
seiner Sicht die Schweizer Juden in un-
Es scheint, dass Dreifuss und Grünin- erträglichem Mass überfordert und
ger hier ihre Aussage miteinander ab- auch «unerwünschte Elemente» ins
gesprochen haben, und ihre vereinte Land gebracht habe. Ob Dreifuss Grü-
Version tönt fast plausibel. Nur leuchtet ninger wegen seiner NS-Verbindungen
es nicht ein, warum sie für diesen verdächtigte, ist nicht klar. Der Präsi-
Zweck nicht offiziell eine Bewilligung dent des jüdischen Dachverbandes, des
von Bern einholten, denn auch der Po- Schweizerischen Israelitischen Ge-
lizeichef in Bern, Rothmund, hatte meindebunds (SIG), Saly Mayer jeden-
nichts gegen weiterreisende Flüchtlin- falls habe – gemäss Keller – die Stras-
ge einzuwenden. Offenbar war Löffel senseite gewechselt, um ein Treffen mit
ein Verbindungsmann der zionistischen Grüninger zu vermeiden.
Untergrundorganisation Mossad
le’Ayala Beth (einer Vorläuferorganisa- Im Unterschied zu Dreifuss und Mayer
tion des heutigen israelischen Geheim- stand z.B. die jüdische Rettungsaktivis-
dienstes), dessen Vertreter, Moshe Aga- tin Recha Sternbuch nach dessen Ent-
mi, zu jener Zeit mit Adolf Eichmann lassung zu Grüninger, und er bekam
in Wien zusammenarbeitete und die auch eine Anstellung bei Sternbuchs
Auswanderung organisierte35. Unternehmen in Basel, was allerdings
nicht von Dauer war (offensichtlich

34Ebenda.
35S. z.B. Jon und David Kimche, Des Zornes und Herzens wegen – Die illegale Wanderung eines Volkes,
Colloquium Verlag, Berlin, 1956 (Die englische Originalausgabe erschien 1954 unter dem Titel: The Secret
Roads –The «Illegal» Migration of a People 1938–1948).

20
wegen Grüninger). Sternbuchs Verhal- dieser problematischen Vergangenheit
ten ist aber keine Reinwäsche für Grü- umgehen sollen, «weil es sein könnte,
ninger, denn diese engagierte Aktivis- dass sich die Falschen darüber freuen
tin hätte sogar mit dem Teufel zu- würden», wie der ehemalige SIG-Präsi-
sammengearbeitet, wenn sie noch eini- dent, Rolf Bloch, im einem Privatge-
ge Juden hätte retten können36. spräch erklärte38.

Wie die SIG-Protokolle zeigen, waren In den Protokollen des Central-Comi-


einige jüdische Funktionäre gegen die tés des SIG vom Dezember 1938 ist zu
illegale Einreise von jüdischen Flücht- lesen:
lingen.
Denn die Schweizer Juden sassen in der Der SIG-Präsident Saly Mayer macht
Klemme, da sie finanziell alleine für darauf aufmerksam, «dass gewisse Be-
die jüdischen Flüchtlinge aufkommen hörden immer wieder versuchen, ihren
mussten und sie es nicht wagten – aus Entscheid über Einlass von Flüchtlin-
Angst vor wachsendem Judenhass, sa- gen davon abhängig zu machen, ob wir
gen die Verteidiger, aus egoistischen sie übernehmen. Sie spielen die Huma-
Gründen, meinten die damaligen inter- nen und überlassen uns die Verantwor-
nen und externen Kritiker –, diese Ber- tung.
ner Entscheidung in Frage zu stellen, Dadurch entstehen unhaltbare Verhält-
dagegen zu protestieren und an die Ge- nisse. Es erheben sich schwere Beden-
samtbevölkerung zu appellieren37. ken, ob die Mittel auch weiterhin auf-
gebracht werden können. Es erscheint
Wie in den unten aufgeführten Zitaten unmöglich, Hand zu bieten, dass
zu ersehen ist, spielte dabei auch der weiterhin ganze Gruppen illegaler
interne jüdische Rassismus (zwischen Flüchtlinge in die Schweiz eingelas-
den Deutsch sprechenden und den sog. sen werden. Es entstehen daraus Ge-
«Ost-Juden») gegenüber «unerwünsch- fahren für die Gemeinden, den Gemein-
ten Elementen» eine Rolle. Diese Ein- debund und die jüdischen Institutionen.
stellung führender Funktionäre wurde,
wie erwähnt, intern von einer Minder- Ein Herr E. Hüttner warnt davor, «die
heit kritisiert, und bis heute wissen jü- Forderung nach Schliessung der Gren-
dische Amtsträger nicht, wie sie mit ze zu stellen. Dies muss den Behörden

36 Diese Aussage bestätigte auch Gitta Sternbuch, Rechas Schwägerin, in einem Gespräch mit dem Autor 1998.
Recha Sternbuch verhandelte mit Himmler 1944/45 durch den bekannten Schweizer alt Bundesrat und Nazi-
Anhänger Jean-Marie Musy, welcher dabei von ihr finanziert wurde.
37 Es gab Stimmen wie jene von NR Rittmeyer (nicht-jüdisch), der behauptete, dass jüdische Funktionäre die

effektiven Aufklärungs- und Protestaktionen verhindert haben.


38 Bloch wurde vom Autor anlässlich einer Pressekonferenz zum UEK-Schlussbericht im Jahre 2001 auf die

mangelnde Aufarbeitung der jüdischen Geschichte in der Schweiz angesprochen. Das obige Zitat ist Teil von
Blochs Entgegnung.

21
überlassen bleiben... Dreifuss sandte am 22. März 1939 ei-
(…) nen Bericht ans st. gallische Polizeide-
Herr Sidney Dreifuss berichtet über partement über die Zahl sämtlicher le-
die Verhältnisse im Kanton St. Gallen, gal und illegal Eingereister für die Peri-
wo die Polizei eher zu entgegenkom- ode zwischen August 1938 bis Februar
mend war. So ist die Zahl der Flücht- 1939. Laut diesen Angaben waren es
linge wieder erheblich gestiegen. Es insgesamt 1105 Personen. Davon wa-
kamen unerwünschte Elemente her- ren 100 legal eingereist und etwa 190
ein und alte Leute, deren Emigration waren inzwischen weitergereist41.
fast unmöglich erscheint. Man ist in St.
Gallen nicht der Meinung, dass die 3.2.1.1 Fliegt Grüninger wegen
Grenze hermetisch zu schliessen sei, eines SIG-Berichts auf?
sondern möchte Verwandte, Kinder Auf dem Hintergrund der ablehnenden
und um das Judentum verdiente Per- Haltung einiger zentraler jüdischer
sonen weiterhin aufnehmen. Die poli- Funktionäre ist es nicht verwunderlich,
zeiliche Sperre ist neuerdings ver- dass es Indizien gibt, dass jemand aus
schärft worden39.» diesen Kreisen Grüninger denunziert
habe, um den Strom der illegalen
– und in einem Eintrag vom Februar Flüchtlinge zu dämmen.
1939 steht:
«Wir konnten die Behörden nicht dar- Hermann Landau, welcher in den Vier-
an hindern, Flüchtlinge einzulassen. zigerjahren Direktor des Hilfsvereins
Aber es sind dreimal so viele, als man für jüdische Flüchtlinge in Montreux
anfänglich gerechnet hatte. Die Ausrei- war, behauptete in einem Leserbrief
sen sind ungenügend. Es wird voraus- von 1984, er habe diesen denunziatori-
sichtlich gelingen, einige Hundert Per- schen Bericht seinerzeit gesehen und
sonen nach Palästina und in andere dessen Verfasser sei Saly Mayer gewe-
Länder zu verbringen, was wieder mit sen42.
besonderen, hohen Kosten verbunden Keller erwähnt zwar den Vorwurf
ist, auf die Dauer aber entlastend Landaus und andere Hinweise in die
wirkt40.» gleiche Richtung, erweckt aber den
Eindruck, dass die Indizien über einen

39 Aus dem Protokoll der Sitzung des Central-Comités (CC) des Schweiz. Israelit. Gemeindebundes, 18. De-

zember 1938 im Israelitischen Gemeindehaus Basel. Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. Keller zitiert
Dreifuss’ Aussage und deutet auf einen Widerspruch hin: «…Dreifuss, welcher die lokale Polizeipraxis gegenü-
ber ‹unerwünschten Elementen› und alten Leuten als ‹eher zu entgegenkommend› empfand, war an den hohen
Flüchtlingszahlen natürlich direkt beteiligt.» Keller, S. 121–122.
40 Aus dem Protokoll der Sitzung des Central-Comités (CC) des Schweiz. Israelit. Gemeindebundes, Donners-

tag, 16. Februar 1939 im Gemeindehaus in Basel, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. Dieses Zitat ist
ohne Namensangabe und ist dem ganzen CC zuzuschreiben.
41 Sidney Dreifuss an das Polizeidepartement St. Gallen, 22. März 1939, A42 Bd.1 im Staatsarchiv St. Gallen.
42 Hermann Landau in einem Leserbrief an das Tages-Anzeiger-Magazin vom 1. Dezember 1984.

22
unauffindbaren Denunziationsrapport mund befreundet und auch Mitglied
doch nicht ganz überzeugen43. Wie der gegen Emigranten eingestellten Or-
schon erwähnt, meint der WoZ-Redak- ganisation Schweizerischer Vaterländi-
tor, dass Grüninger wegen des Infor- scher Verband. Denn wer sonst hätte
manten-Berichts aus SP-Reihen aufge- Zugang zu solchen Zahlen haben kön-
flogen sei44. nen?

Kellers Theorie berücksichtigt nicht die 3.3 Grüninger gegen Keel


Schilderung im Gerichtsurteil Grünin- Nach seiner Suspendierung ging Grü-
gers. Dort ist deutlich zu lesen, dass der ninger mit seinem ehemaligen Vorge-
eidg. Polizeiabteilungschef, Heinrich setzten, dem SP-Regierungsrat Valen-
Rothmund, spätestens Anfang Januar tin Keel, auf Konfrontationskurs.
1939 den Bericht erhielt, «dass … die «Wenns mi butzt, butzts au de Keel»,
mittellos der israelitischen Fürsorge soll Grüninger nach seiner Entlassung
unterstellten Emigranten sich von 546 gesagt haben47.
Ende Oktober auf 805 Mitte Dezember,
also um 259 vermehrt haben45». Es ist nicht klar, wie gut Keel inhaltlich
über die Aktivitäten Grüningers infor-
Dieser Rapport brachte eine Untersu- miert war. Einiges deutet darauf hin,
chung in Gang. Am 6. Januar 1939 ver- dass er grundsätzlich für eine humane-
langte Rothmund, «dass detailliert fest- re und liberale Flüchtlingspolitik war,
gestellt wird, auf welchem Wege und sein Departement jedoch nicht im Griff
unter welcher Verantwortung die 259 hatte. Andrerseits ist es offensichtlich,
genannten Emigranten nach St. Gallen dass Keel mit der illegalen Flüchtlings-
gekommen sind und dort geduldet wer- hilfe des SP-Sekretärs Stocker in Ver-
den sowie im Bericht, wie viele seither bindung stand.
dazugekommen seien46».
So oder so, auch wenn der alt Polizei-
Die Quelle des besagten Berichts ist hauptmann von seinem Vorgesetzten
zwar nicht erwähnt. Es muss aber ein grünes Licht für alle seine Handlungen
jüdischer Funktionär, z.B. der Chef der erhalten hätte, konnte er nicht mit einer
israelitischen Flüchtlingshilfe, Sidney öffentlichen Unterstützung für seine
Dreifuss, oder der SIG-Präsident, Saly widerrechtlichen Handlungen rechnen,
Mayer, sein. Letzterer war ja mit Roth- und schon gar nicht nach seiner Abset-

43 Keller, S. 128–129.
44 S. Abschnitt 2.2
45 Bezirksgericht St. Gallen, Sitzung vom 1. Oktober/23. Dezember 1940 in der Strafsache gegen Grüninger

Paul, S. 4.
46 Ebenda. S. 4–5.
47 Keller, S. 179.

23
zung. Grüningers Drohung, seinen Nazi-Freunden. Am 30. Juni 1939 wur-
Chef zu verpfeifen, deutet nicht auf po- de beobachtet, wie er sich im Bahnhof-
litische bzw. edle humanitäre Motive buffet St.Gallen mit zwei Beamten traf.
hin, sondern eher auf eine egoistische Einer davon war der schon erwähnte
Haltung, denn er stellte damit das ge- Kommissar Josef Schreieder, Leiter der
heime SP-Einwanderungsnetz in Ge- Grenzpolizeistelle in Bregenz. Im Be-
fahr. Er drohte also, gegen die Interes- schatterbericht ist zu lesen:
sen der Flüchtlinge zu handeln. War der
Schweizer Neo-Held ein Denunziant? «In der Restauration sassen Grüninger
& die Beamten beisammen und pfleg-
Zusätzliche Fragen zur ideologischen ten ein intimes Gespräch. Auffallend
Gesinnung Grüningers wirft die Wahl war, dass bei Anwesenheit der Servier-
seines Anwalts auf, denn dieser gehör- tochter nichts gesprochen wurde49.»
te dem gegen Einwanderer eingestell-
ten Schweizerischen Vaterländischen 1945 offenbarte Grüninger dem
Verband (SVV) an. Diese Organisation Bundespolizeiinspektor Werner Benz
sah hier eine Gelegenheit, gegen den offensichtlich mehr Details über dieses
sozialdemokratischen Regierungsrat Treffen. Benz schrieb:
Keel zu agieren und betrachtete Grü-
ninger als jemanden aus der eigenen «U.a. machte mich Herr Hptm. Grünin-
Gesinnungsreihe. In der frontistischen ger darauf aufmerksam, dass ihm im
Zeitung war nach der Entlassung Grü- Jahre 1939, nach seiner Entlassung als
ningers Folgendes zu lesen: «Es wäre Polizei-Hauptmann, vom deutschen
wünschbar, dass bald etwas mehr Licht Zollfahndungsagenten Süss, damals
in die ganze Angelegenheit käme, um so wohnhaft in Lindau, der Vorschlag ge-
mehr, als wir in Hauptmann Grüninger macht worden sei, die Schweiz zu ver-
immer einen national gesinnten Beam- lassen und nach Deutschland zu kom-
ten sahen48.» men. Man werde ihm dort eine Stelle
als Polizeibeamter irgendwo im Osten
Die SVV-Rechnung ging offensichtlich vermitteln können.
nicht ganz auf, denn es war für Grünin-
ger schwierig, Keel so stark zu belasten, Grüninger will dieses Anerbieten aber
ohne sich selber auch zu inkriminieren. abgelehnt haben50.»

3.4 Stellenangebot der Nazis Auch Stefan Keller ist diese Aussage
Ein ganz brisantes Unterstützungsan- seltsam aufgefallen, er begnügt sich je-
gebot erhielt Grüninger von seinen doch mit dem knappen Kommentar:

48 Die Front vom 8. April 1939.


49 Bericht vom 30. Juni 1939, Aktennotiz vom 8. März 1945, SBA, BAr E4320 (B) 1971/78 Bd. 10 AZ
C.2.1852 A Grüningers Dossier, SPAB-Akten, BAr E27/10262.
50 Aktennotiz vom 8. März 1945, SBA, BAr E4320 (B) 1971/78 Bd. 10 AZ C.2.1852 A Grüningers Dossier.

24
«Grüninger fiel nichts Gescheiteres Da sich diese – teilweise mit dem
ein, als dem Inspektor zu erzählen, es Münchner Eingangsstempel versehene
sei ihm kurz nach seiner Entlassung – Korrespondenz im Grüninger-Nach-
1939 von den deutschen Kollegen eine lass52 befindet, ist anzunehmen, dass
Stelle angeboten worden51.» sie Schreieder beim Treffen im Bahn-
hof St. Gallen Grüninger übergab, um
Keller verschweigt, dass es nicht um diesen zu beruhigen und ihm damit die
eine harmlose Arbeitsstelle ging, son- Entscheidung zu erleichtern, die Stelle
dern um eine Anstellung in Deutsch- in Deutschland anzunehmen.
land bei der dortigen Polizei.
Der Ex-Kantonspolizeichef befürchte-
Dass diese Angelegenheit ganz ernst te wohl – wegen seiner Rolle bei der
gemeint war, beweisen auch drei Eil- «Angelegenheit Schmuckbeschlagnah-
schreiben vom Juni 1939. Aus Mün- me Bregenz53» und wahrscheinlich
chen erkundigte sich Hauptmann Süss auch wegen des oben erwähnten Falls
in Bregenz und Feldkirch, ob dort bei Flatz (Feldkirch) – bei seiner evtl.
der Zollfahndung bzw. bei der Gestapo Einreise in Deutschland polizeiliche
etwas gegen Grüninger vorliege, das Massnahmen.
seine Einreise nach Deutschland ver-
hindern könnte. Es scheint, dass von Seiten Süss’ und
Schreieders ein grosses Interesse an
Süss’ Schreiben war mit «Vertraulich!» Grüninger bestand. Die beiden scheuten
und «Eilt sehr!» gekennzeichnet und sich denn auch nicht vor dringlichen
die jeweiligen Stellen wurden, «um und eher auffälligen Massnahmen, wie
baldmöglichste Mitteilung, ob gegen dem Versand von Eilschreiben.
den Polizeihauptmann Paul Grüninger
aus St. Gallen dort Festnahmeersuchen Warum Grüninger den Posten nicht an-
oder das Ersuchen um Vernehmung bei trat, ist nicht bekannt. Möglicherweise
Betreten des Reichsgebietes an irgend- war seine Frau dagegen. Denn später,
eine Stelle ergangen ist» gebeten. im Zusammenhang mit einer anderen
deutschen Arbeitstelle, sagte Grünin-
Die Antworten fielen negativ aus. ger, dass sie «allerdings ganz deutsch-
feindlich eingestellt54» sei.

51 Keller, S. 213.
52 Briefe von 5. und 7. Juni 1939, Grüningers Nachlass W 28 im Staatsarchiv St. Gallen.
53 Diese Bemerkung wurde – gemäss Keller – von Grüninger selber auf der Rückseite der Antwort aus Bregenz

notiert. Keller dazu: «Dreissig Jahre später erläuterte Paul Grüninger einem Journalisten den Sinn dieses Tele-
gramms. 1939 war in Vorarlberg eine jener Anlaufstellen aufgeflogen, bei denen Emigranten ihre Wertsachen
deponieren konnten, damit diese über die Grenze geschmuggelt wurden. In einem Prozess vor dem Landgericht
Feldkirch soll Grüninger als Mittäter genannt worden sein.» Keller, S. 214.
54 Verhör Grüningers vom 21. Juli 1943 SBA, Grüningers Dossier BAr E4320 (B) 1971/78 Bd. 10 Aktenzei-

chen: C.2.1852 A.

25
Im Dezember 1944 scheint Grüninger trifft in etwa zu. Und abgesehen davon
seinen Entscheid zu bereuen, denn von ist es nicht ersichtlich, was der Sinn ei-
seiner Nachbarschaft wird der Spiona- ner Fälschung sein sollte, da nicht be-
geabwehr (SPAB) berichtet: kannt ist, dass gegen Grüninger eine öf-
fentliche Hetzkampagne geführt wurde.
«Grüninger verbirgt seine positive, na- Es drängt sich die Frage auf, warum die
tionalsozialistisch gesinnte Einstellung Nazis einem ungehorsamen Schweizer
nicht. Gestern erwähnte er gegenüber Polizeioffizier und vermeintlichen «Ju-
Bekannten, dass er mit dem Gestapo- denretter» so hartnäckig eine Stelle
chef in Holland [Schreieder] befreun- anboten. Denn solche Eigenschaften
det sei. Im Übrigen bedaure er, vor entsprachen bestimmt nicht dem An-
Jahren nicht so gehandelt zu haben, forderungsprofil eines umworbenen
wie er eigentlich handeln wollte. Wunschkandidaten der Nazis.
Deutschland werde aber doch noch ge-
winnen und dann werden auch für ihn Die naheliegendste Erklärung dafür ist,
bessere Zeiten kommen55.» dass die Nazis einem wichtigen «aufge-
flogenen» Agenten eine alternative An-
Aus dieser Meldung kann man verste- stellung anboten, um von seinen be-
hen, dass sich Grüningers Bedauern auf währten Fähigkeiten weiterhin profitie-
seinen Verzicht der Arbeit bei der Poli- ren zu können. Die NS-Offiziere muss-
zei in Deutschland 1939 bezieht. Dafür ten von der einwandfreien ideologi-
sprechen die Erwähnung im SPAB-Be- schen Einstellung Grüningers über-
richt Schreieders (der ja das Angebot zeugt gewesen sein.
damals persönlich machte) und Grü-
ningers extreme nazistische Einstel- Man könnte jedoch argumentieren, der
lung, die hier zum Ausdruck kommt. deutsche Hauptmann Karl Süss, der of-
Nur ein blind und tief überzeugter Nazi fensichtlich die treibende Kraft hinter
glaubt im Dezember 1944 noch an ei- dem Stellenangebot war, könnte
nen deutschen Sieg. 1938/39 Grüninger zu einer Rettungs-
aktion angespornt oder mitgeholfen ha-
Eine andere Interpretation des SPAB- ben, da er ja im Herbst 1942 selber eine
Rapports ist unwahrscheinlich, und kleine Judenrettungsaktion («Unter-
Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser nehmen Sieben»56) der deutschen Ab-
Information sind nicht angebracht, wehrführung unter Admiral Canaris
denn zumindest die Angabe über einen deckte und inkriminierende Akten ver-
befreundeten Gestapochef in Holland nichtete57.

55 Spionageabwehr-Bericht vom 4. Dezember 1944, BAr E27/10262.


56 Winfried Meyer, Unternehmen Sieben: eine Rettungsaktion für vom Holocaust Bedrohte aus dem Amt Aus-
land/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht, Verlag Anton Hain, cop. 1993 Frankfurt a. M. 1993.
57 Karl Süss, Eidesstattliche Versicherung, 12.9.1946, S. 1, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv, Hannover,

Nds. 721 Lüneburg, Acc 69/76, Bd. XIV, Bl. 10.

26
Für diese Vermutung fehlen aber jegli- habe. Hochbergs Aussage kann belas-
che Beweise. Süss hätte eine solche tend für Grüninger wirken, nicht zu-
gute Tat in seinen Verhören nach dem letzt, weil Sidney Dreifuss aussagte,
Krieg bestimmt nicht verheimlicht. dass Grüninger sich nach dem Wohler-
Ohne eine kritische Auseinanderset- gehen dieser jungen Frau erkundigt
zung mit dem «Unternehmen Sieben» habe. Anderseits ist zu bemerken, dass
betreiben zu wollen, kann festgestellt in diesem Fall eine entgegengesetzte
werden, dass Süss, obwohl er – laut ei- Auslegung möglich ist: Grüninger
gener Aussage58 – schon 1940 die Frie- könnte ihr dankbar gewesen sein, weil
densbestrebungen der Abwehr unter- sie nicht zugeben wollte, dass sie ihn
stützte, 1939 enge Kontakte mit der kenne, um ihn damit nicht zu belas-
Gestapo pflegte und im Stande war, ten59.
Grüninger bei der deutschen Polizei
eine Anstellung zu verschaffen. Aussagen zu einem Ereignis, das über
50 Jahre zurückliegt, sind mit viel Vor-
3.5 Zeitzeugen sprachen Grüninger sicht zu geniessen. Erzählt beispiels-
heilig weise ein Zeitzeuge dem Filmemacher
Ein anderes Argument, welches für Richard Dindo60, wie Grüninger ge-
Grüninger spricht, bilden vor allem weint haben soll, als er von Flücht-
mündliche Aussagen von Geretteten lingsschicksalen gehört habe, ist es
und anderen Zeitzeugen, die jedoch nicht einfach Kaltherzigkeit, eine sol-
kaum in der Lage waren, über die wah- che Behauptung zu bezweifeln.
ren Beweggründe Grüningers urteilen
zu können. Aus verständlichen Grün- Die Tatsache, dass Grüninger seine
den und mangels anderer Hinweise Stelle verlor, spricht ihn nicht automa-
fühlten sich die Flüchtlinge zu Dank tisch heilig. Es waren nicht einfach
verpflichtet. rachsüchtige Polizeibeamte, die jahre-
lang das Gefühl hatten, dass etwas mit
«Ich kann nicht, wo ich Dank schuldig ihm nicht koscher sei. So baute Grünin-
bin, mit Undank lohnen», schrieb die ger z.B. sein Privatvermögen von ca.
Flüchtlingsfrau Klara Hochberg in ei- 10 000 sFr. nicht ab, obwohl er kein
ner Notiz, nachdem die Untersu- klares Einkommen hatte. Wie konnte er
chungsbehörde von ihr wissen wollte, dann seine häufigen Kneipenbesuche,
ob Grüninger mit ihr sexuellen Kontakt wo er in seltsamer Gesellschaft anzu-
hatte. Es gab damals Gerüchte, dass der treffen war, finanzieren? Zu diesem
Polizeichef seine Position ausnütze und Stammtisch gehörte z.B. der engagierte
mit «rassigen Jüdinnen» Sex gehabt Nazi-Anhänger und notorische Juden-

58 Ebenda.
59 Keller, S. 172.
60 Richard Dindo, Grüningers Fall, Lea Produktion c/o Filmcooperative Zürich, 1997.

27
hasser Mario Karrer, den anständige Bundesrat den Standpunkt klar ma-
Menschen in St. Gallen mieden. chen. Werde dieser nicht einsehen, dass
man heute eine ganz andere Stellung
Für Grüningers Rehabilitator, Keller, gegenüber Deutschland einnehmen
ging es dabei nicht um eine ideologi- müsse, so werde man dann mit der SS
sche Verbundenheit, sondern lediglich aufrücken.62»
um Fussballfans, die rein persönliche
Beziehungen wegen ihrer gemeinsa- Was die Idee der Bewegung NBS ist,
men Interessen pflegten. Dagegen aber wird im Eingang des Organisationssta-
spricht nicht nur die Tatsache, dass tuts wie folgt umschrieben:
1941, als Karrer Schwierigkeiten hatte,
ein Visum für Deutschland zu erhalten, «Wenn die Idee das Führertum predigt,
es ausgerechnet der angebliche «Juden- kann die Organisation nicht nach de-
retter» Grüninger war, der – laut eige- mokratischem Wahl- und Stimmzettel-
ner Aussage – vorschlug, seine Nazi- system aufgebaut werden. Wenn die
Freunde einzuschalten, um Karrer zu Idee den Kampf predigt, kann die Or-
helfen. ganisation keine Pazifisten erziehen.
Wenn die Idee die Leistung zum Prinzip
erhebt, kann die Organisation nicht al-
4 NBS-Zugehörigkeit les gleich machen. Wenn die Idee die
Rasse zum Kernpunkt macht, kann die
Noch viel gravierender wirkt die Zuge- Organisation niemals Juden, Neger
hörigkeit Grüningers zu der im Novem- und Gelbe in ihren Reihen dulden.
ber 1940 verbotenen pro-nazistischen
(…)
frontistischen Nationalen Bewegung
der Schweiz (NBS). Aufnahme:
Wer Mitglied der Nationalen Bewegung
Hier einiges über diese Bewegung: der Schweiz wird, tritt nicht irgend ei-
«Die NBS sei auf nationalsozialisti- ner Partei bei, sondern er wird damit
scher Grundlage aufgebaut. Hinter Soldat der schweizerischen Freiheits-
dem Führerkreis stehe ein Herr ‹Dun› bewegung. Das bedeutet mehr, weit
(Schlatter61 sprach ‹Dönn› aus). Dieser mehr, als seinen Beitrag zahlen und
Mann sei ein persönlicher Freund von Mitgliederversammlungen besuchen.
Himmler. (…) Er übernimmt damit die heilige Ver-
Übrigens würden in nächster Zeit zwei pflichtung, alles was er hat, sich selbst
Herren aus dem [NBS-]Führerkreis und sein Gut, wenn es sein muss, für
nach Bern fahren und dort dem das Schweizervolk einzusetzen. Dar-

61Bei Schlatter handelte es sich um eine führende Persönlichkeit der NBS.


62 Auseinem Spitzelbericht 13. August 1940, SBA NBS-Dossier BAr E4320 (B) 1968/195 Bd. 52 AZ
C.2.10025.

28
nach muss auch die Auswahl getroffen Denn Keller fand zwar einen Eintrag
werden. Grüningers in einem NBS-Mitglieder-
verzeichnis der Armee, nicht aber auf
(…)
der Militär-Liste der NBS-treuen Offi-
Weisungen für … Mitglieder: ziere66. Hämisch fragt Keller: «Er
10.) Kaufe nicht bei Juden oder Wa- [Grüninger] hätte also bei der Partei-
renhäusern und Konsumvereinen…63» anmeldung seinen militärischen Rang
nicht mehr gekannt?67»
Grüningers Name ist in einer Liste zu
finden, die von der Stadtpolizei Zürich Der Grund dieses Widerspruchs liegt
an Hand der beschlagnahmten Karto- offenbar darin, dass der Armee-Ober-
thek der NBS-Zentrale in Zürich er- leutnant Grüninger seit 1936 – aus un-
stellt wurde. klaren Gründen – keinen Militärdienst
mehr leistete und deshalb nicht auf der
Der Eintrag auf dieser NBS-Liste bei Liste der aktiven Offiziere, sondern nur
der Abteilung für Nachrichten- und Si- im dazugehörigen allgemeinen Ver-
cherheitsdienst des Armeekommandos zeichnis zu finden ist. Dementspre-
lautet: chend figuriert er nur im allgemeinen
«Grüninger Paul Ernst, 27.10.1891, Mitgliederverzeichnis, welches wie ge-
von Berneck, ex. Polizeihptm., sagt an Hand der beschlagnahmten
St. Gallen, .... Kartothek der NBS-Zentrale in Zürich
früher Oblt. Bäcker-Det. 9 erstellt wurde.
heute: offen Lst.64»
Diese Liste ist nach Kantonen aufge-
Stefan Keller versuchte den Eindruck teilt. Im St. Galler Staatsarchiv befin-
zu erwecken, dass er diese Angelegen- det sich lediglich der Teil der NBS-Mit-
heit erschöpfend in seinem Buch be- glieder-Liste dieses Kantons und ohne
handelt und bewiesen habe, dass es da- erstes Blatt des Gesamtverzeichnisses,
bei um eine Fälschung durch die St. auf welchem der Quellenhinweis ver-
Galler Polizei ging. merkt ist:
«Aus welchen Quellen die Beschatter
[Grüningers] ihre unterschiedlichen «Verzeichnis der NBS-Mitglieder (laut
Erkenntnisse schöpften, ist fraglich65.» beschlagnahmter Kartothek)»

63 Auszug aus der Politischen Organisation für Block- oder Zellenwarte der NBS Seite 5 + 3, SBA, NBS Dos-

sier BAr E4320 (B) 1968/195 Bd. 54 AZ C.2.10025.


64 Spionageabwehr-Akten, NBS-Dossier, BAr E27/11216 Bd. Nr. 3.
65 Keller, Grüningers Fall S. 206 und Stefan Keller, Kein Forscherstreit, nur ein Rufmord, Die Wochenzeitung

(WoZ), 28. Mai 1998.


66 Spionageabwehr-Akten, NBS-Dossier BAr E27/11216 Bd. Nr. 3.
67 WoZ, 28. Mai 1998.

29
Übrigens brauchten die NBS-Bewerber schon vorher wäre eine eventuelle
ihren militärischen Rang nicht anzuge- Falscheintragung Grüningers nicht nur
ben, wie Anmeldeformulare der NBS den NBS-Funktionären, sondern auch
zeigen. dem alt Polizeihauptmann aufgefallen,
wie die beschlagnahmten NBS-Akten
In den Bundesanwaltschaftsakten sind zeigen. Denn die NBS-Mitglieder und
die Angaben über Grüninger zwar nicht -Sympathisanten bekamen Post von der
einheitlich, aber trotzdem eindeutig in Bewegung und es gab einige Reklama-
der Aussage über den vermeintlichen tionen von Personen, deren Anmeldun-
Judenretter. Auf einer Liste erscheint er gen gefälscht waren.
als NBS-Mitglied mit Eintrittsdatum
8. August 194068, während er auf einer In seinem polemischen Artikel von
anderen ‹nur› als Sympathisant figu- 1998 versuchte Keller den Eindruck zu
riert. Bei den Aufstellungen, auf wel- erwecken, dass die beschlagnahmte
chen sein Name gar nicht zu finden ist, Kartothek gar nicht existiert habe und
handelt es sich offensichtlich um Teil- nur eine Erfindung der «Schnüffelpoli-
listen, welche durch Beschlagnah- zei» sei69. Damit beweist er eine unse-
mungsaktionen an verschiedenen Or- riöse Haltung, welche aber beim unin-
ten, zu unterschiedlichen Zeitpunkten formierten und voreingenommenen
erfolgten. Publikum gut ankommt. Es ist be-
stimmt kein Verbrechen, gewisse Akten
Eine Fälschung ist fast ausgeschlossen. nicht zu kennen, in diesem Fall die sehr
Der Sinn solcher Falsifikate ist auch umfangreichen Bundesanwaltschafts-
nicht einleuchtend. Die Listen wurden akten über die NBS, in denen es meh-
ja nicht zur Veröffentlichung zu- rere Fotos dieses Mitgliederregisters in
sammengestellt. Ein Jux, wie im Fall Holzschubladen gibt. Nicht professio-
der gefälschten Anmeldung des dama- nell ist aber, die Augen in Anbetracht
ligen Schaffhauser Stadtpräsidenten überzeugenden Beweismaterials zu
Walther Bringolf als NBS-Mitglied, ist verschliessen und erst noch einen fal-
ausgeschlossen. Denn diese Fälschung schen Eindruck zu vermitteln.
flog spätestens bei einem Schriftver-
gleich durch die Schweizerische Da Grüningers Freund, Mario Karrer,
Bundesanwaltschaft (SBA) auf, was zu den Führern der st. gallischen NBS-
deutlich zeigt, dass sich diese Behörde Ortsgruppe zählte, hätte er die Sache
die Mühe nahm, die Zuverlässigkeit einer eventuell gefälschten Anmeldung
der Angaben jeweils zu prüfen. Aber nicht zugelassen. Viele Jahre später er-

68 Mitgliederverzeichnis laut beschlagnahmten Neuanmeldungen & Kartothek (ganze Schweiz, ohne Stadt

&Kanton Zürich), hergestellt durch die Stadtpolizei Zürich, NBS-Dossier der SBA, BAr E4320 (B) 1968/195
Bd. 55.
69 «Die beschlagnahmte Kartothek der NBS, die angebliche Quelle all dieser Listen ist hingegen unauffindbar.»

Stefan Keller, WoZ, 28. Mai 1998.

30
zählte Karrer dem Historiker Stefan fand in den umfangreichen NBS-SBA-
Keller, dass Grüninger leider kein Mit- Papieren einen vom Autor übersehenen
glied der NBS gewesen sei. Bericht, welcher Grüningers NBS-Zu-
gehörigkeit überzeugend belegt. In ei-
Diese Aussage, wie jene der meisten nem Gedächtnisprotokoll erzählte der
parteiischen Zeitzeugen, ist jedoch mit St. Galler Coiffeur Aemisegger, wie er
viel Vorsicht zu geniessen. Es ist näm- von der NBS beworben wurde. Ein ge-
lich kaum anzunehmen, dass Karrer die wisser Heinrich Gehri zwang ihn förm-
Anstrengungen, seinen Freund Grünin- lich, in dieser «Erneuerungsbewe-
ger zu rehabilitieren, sabotiert hätte. gung» mitzumachen. U. a. verlangte
Gehri von Aemisegger zwei Fotos und
Stefan Keller schreibt, dass er sich um zeigte ihm seinerseits Bilder von meh-
einen eindeutigen Beweis in dieser An- ren Personen, darunter solche von Kar-
gelegenheit bemüht habe und dass kei- rer und Grüninger71. Obwohl im Proto-
ner der von ihm befragten Zeugen von koll nicht steht, zu welchen Zwecken
einer NBS-Zugehörigkeit oder nazi- diese «Lichtbilder» dienten, ist es ein-
freundlichen Haltung Grüningers zu er- leuchtend, dass sie als Überzeugungs-
zählen gewusst habe. Dies steht aber im argument benutzt wurden. Da die ande-
Widerspruch zu den verschiedenen ren gezeigten Personen eindeutig der
zeitgenössischen Dokumenten70. NBS angehörten, muss angenommen
werden, dass das auch für Grüninger
Eine mögliche Erklärung liegt darin, gilt.
dass der entlassene Polizist – abgese-
hen von Gesprächen in Kneipen oder
bei anderen privaten Unterhaltungen – 5 Der Gerüchtemacher
seine politische Einstellung öffentlich Grüninger
nicht kundtat. Es gibt auch keine Hin-
weise über eine aktive Rolle Grünin- Ein anderes Dokument über Grünin-
gers bei der NBS. So ist es denn nicht gers NBS-Zugehörigkeit liegt in den
erstaunlich, dass man ausserhalb seines Militärjustizakten des Bundesarchivs.
Bekanntenkreises NICHT um seine po- Im Rahmen eines Disziplinarverfah-
litische Haltung wusste. rens gegen Grüninger von 1941 wegen
Weiterverbreitung von pro-nazisti-
Der Historiker und Buchautor Peter schen Gerüchten schreibt der St. Galler
Kamber entdeckte 1999 ein entschei- Polizist Schweizer an den Untersu-
dendes Dokument im Rahmen seiner chungsrichter:
lobenswerten und unabgegoltenen Be- «In politischer Hinsicht muss Grünin-
mühungen, den Fall zu klären. Kamber ger seit seiner Entlassung ... als natio-

70 Ebenda.
71 Bericht Wachtmeister Spirig 2. September 1940, BAr E4320(B) 1968/195 Bd. 52 (NBS-Akten).

31
nalsozialistisch bezeichnet werden. Er ders, erst in der letzten Zeit fängt er an,
gehörte auch der am 19. November ständig blöde Bemerkungen zu machen
1940 ... aufgelösten ‹Nationalen Bewe- und stets das grosse Wort der Opposi-
gung der Schweiz› an. Eine gewisse tion zu führen. Er führt sich seit weni-
Verärgerung mag ihn zum Gegner un- gen Wochen so auf, dass einer meiner
serer heutigen Staatsform gemacht ha- Kameraden erwähnte, er leide wohl an
ben72.» Gehirnerweichung73.»

Dieser Bericht wurde durch Grüningers Mit Opposition kann Frommer nur die
Nachfolger Konrad Lienert bestätigt. rechtsradikale «Kameradschaft» ge-
Das Dokument hat somit einen offiziel- meint haben, und seine Kritik an Grü-
len Status und wurde von Leuten einge- ninger meint eigentlich, dass dieser frü-
reicht, welche den Eintrag auf der her diskreter gewesen sei.
NBS-Liste kannten und besser im Stan-
de waren, dessen Echtheit zu beurteilen In seinem Artikel von 1998 bemängel-
als die Forscher nach über 60 Jahren. te Keller, dass der wichtige Kontext
dieses Militärjustiz-Verfahrens ausge-
Eine spätere Racheaktion seitens der klammert worden sei:
ehemaligen Untergebenen bzw. des
Nachfolgers von Grüninger ist prak- «Es [das Militärjustiz-Dossier] lässt
tisch auszuschliessen, denn die Spra- keinen Zweifel daran, dass Grüninger
che dieses Berichts wirkt eher ver- nicht bloss ein Gerücht weitergab, son-
ständnisvoll. Es ist auch anzunehmen, dern sich an seinem Stammtisch …
dass diese Aussage im Verlauf des Ver- über die vermutete Nachgiebigkeit und
fahrens in irgendeiner Form vom das Duckmäusertum des Bundesrates
Untersuchungsrichter zur Sprache ge- gegenüber Nazi-Deutschland auch em-
bracht wurde, denn der Mitangeklagte pörte74.»
Anton Frommer war zweifellos NBS-
Mitglied. Auch hier blendet Keller relevante In-
formationen aus und gibt für das breite
Auch Frommer belastet Grüninger: Publikum ein falsches Bild wieder.

«Ich habe damals noch nicht gewusst, Grüningers damalige ‹Kritik› am


dass Grüninger ein solches Schwatz- Bundesrat wirkt vielleicht nur im ers-
weib sei, sonst hätte ich ihm nichts ge- ten Moment deutschfeindlich. Die Mi-
sagt. Grüninger war früher auch an- litärjustiz sah solche Gerüchte als dazu

72 Bericht des Polizeimanns Schweizer vom 5. September 1941, Militärjustiz-Akten, BAr E5330 1975/95 Bd.

158 No. 98 4772.


73 Einvernahme-Protokoll Frommer-Trentin, Anton, Kaufmann, am 6. Juli 1941, Militärjustiz-Akten, Bar

E5330 1975/95 Bd. 158 No. 98 4772.


74 Keller, WoZ, 28. Mai 1998, S. 3.

32
geeignet, «die Bevölkerung in Unruhe den, diese Gerüchte weitererzählte. Er
zu versetzen». wollte sich, wie der Zeuge Sproll wohl
zutreffend bemerkt, damit wichtig ma-
Dazu ist zu bemerken, dass Grüninger chen76.»
seine Information für die verbreiteten
Gerüchte vom eindeutigen Nationalso- Der Polizist Hohermuth, der Grüninger
zialisten Frommer bezog, den er auch offensichtlich wohlgesinnt war,
als zuverlässige Quelle bezeichnete. schreibt verständnisvoll über die Ange-
Dies erweckt den starken Verdacht, legenheit:
dass es dabei nicht um echte Empörung
über die Schweizer Nachgiebigkeit «Im Übrigen sei eben Grüninger nicht
ging, sondern in der Tat um einen Ver- ernst zu nehmen. Er sei kolossal verbit-
such, Verunsicherung zu verbreiten. tert gegen jegliche Behörde usw., was
von seinem Standpunkt aus auch zu be-
Ein an diesem Stammtisch Anwesender greifen sei77.»
berichtete:

«Die Aussagen Grüningers stimmten


mich nachdenklich und ich war auch 6 Grüningers Bemühungen
sehr bestürzt über die immerhin eini- um die Vertretung deut-
germassen präzisen Angaben, die Grü- scher Firmen (Vermittler:
ninger in diesem Punkte machen konn- ein deutscher Spion)
te75.»
Zusätzliche wichtige Teile im Grünin-
Und im Bericht der Militärjustiz steht: ger-Puzzle sind dessen Beziehungen
zum deutschen Spion Manfred Hart-
«Aus den Aussagen der Zeugen Sproll mann und seine Bemühungen um eine
und Stöcklin gewinnt man jedoch kei- Stelle in deutschen Unternehmen. Bei
neswegs den Eindruck, dass Grüninger einer Militäruntersuchung erklärte der
lediglich aus Enttäuschung darüber, Ex-Polizeihauptmann:
dass sich unsere oberste Landesbehör- «Ich suchte damals [Frühjahr 1941]
de und der General auf den Druck eine Beschäftigung und stand in Ver-
Deutschlands hin zur Demobilisierung handlungen mit der Schraubenfabrik
eines Teils unserer Armee bereit fan- AG in München und mit Fabrikations-

75 Einvernahme-Protokoll von Stöcklin Albert, Reisender, 29. Juli 1941, Militärjustiz-Akten, BAr E5330
1975/95 Bd. 158 No. 98 4772.
76 Militärjustiz an das EMD, Horgen, 4. Oktober 1941, Militärjustiz-Akten, BAr E5330 1975/95 Bd. 158 No.

98 4772.
77 Bericht durch Polizeimann Hohermuth an die Stadtpolizei St. Gallen 22. Juli 1941, Militärjustiz-Akten, Bar

E5330 1975/95 Bd. 158 No. 98 4772.

33
betrieben von synthetischem Gummi ohne Gegenleistung? Da wunderte sich
wegen Vertretungen. Ich frug nun Hart- auch der St. Galler Uhrmacher und Bi-
mann, der mir bis zu diesem Moment joutier Emil Tremp, was der angebliche
unbekannt gewesen war, ob er in Mün- «Judenretter» in Begleitung eines
chen in dieser Richtung etwas tun kön- Deutschen mit Diplomatenpass in sei-
ne. nem Laden zu tun hatte. Dass der
Händler von Hartmann bei einer Trans-
(...)
aktion auch noch betrogen wurde,
Bei einer nächsten Reise in die machte seine Zuneigung gegenüber
Schweiz, vermutlich im Sommer 1941, Grüninger auch nicht grösser79.
kam Hartmann zum zweiten Mal in
meine Wohnung. Er berichtete mir, mei- Der Spionageverdacht hätte von der
ne Sache in München klappe, ich werde Militärjustiz eigentlich ernsthafter und
demnächst einen Vertrag bekommen. konsequenter verfolgt werden müssen,
Tatsächlich habe ich auch einen Vertrag und sie hätte auch Grüningers Dementi
bekommen, ich habe aber gar nicht an- nicht einfach so akzeptieren dürfen.
gefangen...78» Denn eine gründlichere Untersuchung
der Akten hätte z.B. ergeben, dass Grü-
Es mutet seltsam an, dass sich der an- ninger wissen sollte, dass Hartmann im
geblich grösste Schweizer Humanist Nachrichtendienst der SS stand. Denn
der Nazi-Zeit ausgerechnet 1941 um der Deutsche stellte sich als Direktor
die Stelle als Vertreter deutscher Fir- der «Münchner Neuen Nachrichten»
men bemühte, zu einem Zeitpunkt also, vor, und Grüninger selbst wurde schon
in dem die Judenverfolgung noch ver- 1935 informiert, dass diese Zeitung
schärft worden war. Synthetisches eine «SS-Spionagezentrale» sei80.
Gummi – auch als Buna bekannt – wur-
de übrigens vom Mord- und Raubkon- Es ist belegt, dass Hartmann auf der
zern IG Farben entwickelt und herge- Suche nach Agenten war. Über dessen
stellt. Methoden sagt das Verhör mit dem
Schweizer Walter Schweizer-Donsber-
Als Helfer bei dieser Bewerbung sollte ger einiges aus, welcher zugab, für die
ausgerechnet ein Nazi-Spion und Ver- Deutschen spioniert zu haben81. Es ist
mögensschieber fungieren, und das nahe liegend, dass Hartmann durch

78 Verhör Grüningers am 21. Juli 1943. SBA BAr E4320 (B) 1971/78 Bd. 10 Aktenzeichen: C.2.1852 und Mili-
tärjustizakten i.S. Hartmann: A E5330 1982/1 Bd. 101 No. 98/132.
79 Rapport vom 22. Juli 1943 in Sachen Hartmann an das Polizeikommando des Kantons, SG Kantonspolizei

St. Gallen, Politische Abt. Militärjustiz-Akten i.S. Hartmann, BAr E5330 1982/1 Bd. 101 Aktenzeichen:
98/132.
80 Verhör des SS-Manns Martin Danner durch Grüninger am 8. März 1935, SBA Gestapo-Akten BAr E4320

1968/195 Bd. 25 Aktenzeichen: C.2.15.


81 Militärjustiz-Akten i.S. Hartmann, BAr E5330 1982/1 Bd. 101 Aktenzeichen: 98/132.

34
Grüningers Freund, Hptm. Karl Süss, deutschfeindlich eingestellt83» gewesen
den Spionage-Chef in München, auf sei.
Grüninger aufmerksam geworden war.
Bezeichnend für Kellers Geschichts-
Mit der Vertretung der deutschen Fir- verarbeitung, wird die Bewerbung Grü-
men war es dem ehemaligen Polizei- ningers 1941 in seinem Buch völlig
hauptmann offenbar ernst, denn um verschwiegen. Dies, obwohl der WoZ-
den Vertrag zu unterschreiben, musste Journalist aus den harmlosen Teilen der
er nach München fahren. Dass er dazu Aussage des Ex-Polizeichefs zitiert, in
bereit war, beweisen auch die Militär- der die Angelegenheit um die deutsche
justizakten, denn dort heisst es: Arbeitsstelle und die Beziehung zum
Spion Hartmann vorkommt84.
«Grüninger hat durch die militärischen
Instanzen für die Zeit vom 15. August Nach der Veröffentlichung im Sonn-
bis 31. Oktober 1941 einen Auslands- tagsblick über Grüningers verwerfliche
urlaub nach Deutschland erhalten. Arbeitssuche85 versuchte Keller diese
Wann dieser seine Reise antreten wird, Angelegenheit weiter zu verharmlosen.
ist uns nicht bekannt82.» Er meinte, dass Grüninger nach zwei
Jahren ohne Verdienst nicht wählerisch
Warum Grüninger den Posten doch bei seiner Anstellung sein konnte und
nicht annahm, ist nicht direkt ersicht- nicht jeder, der in der Schweiz deutsche
lich. Ein Grund könnte das zu jener Firmen vertrat, unbedingt Nazi-Anhän-
Zeit gegen ihn laufende, oben erwähn- ger gewesen sei.
te Militärjustizverfahren gewesen sein,
in welchem er wegen Gerüchtemache- «Dass er [Grüninger] sich dabei, in
rei zu sieben Tagen Arrest verurteilt grösster materieller Not, auch um die
wurde. Vertretung deutscher Produkte bemüh-
te … in einer Zeit, wohlgemerkt, in der
Eine andere Erklärung für diesen die gesamte Schweizer Wirtschaft von
Rückzug – wie schon vorhin im Zu- Deutschland abhängig war und jeder-
sammenhang mit der deutschen Stelle mann in der Schweiz mit deutschen
bemerkt – ist der Widerstand Frau Grü- Produkten zu tun hatte, nicht bloss die
ningers, die ja «allerdings ganz Nazi-Sympathisanten86.»

82 Bericht des Polizeimanns Schweizer vom 5. September 1941, Militärjustizakten BAr E5330 1975/95 Bd. 158
No. 98 4772.
83 Verhör Grüningers vom 21. Juli 1943 SBA, BAr E4320 (B) 1971/78 Bd. 10 AZ C.2.1852 A Grüningers Dos-

sier.
84 Keller, S. 207.
85 Sonntagsblick, 24. Mai 1998.
86 Keller, WoZ 28. Mai 1998.

35
Offensichtlich aber war Grüningers ningers Bewerbung könne keinen hin-
«materielle Not» nicht so gross, denn reichenden Beweis für eine pro-nazisti-
am Schluss unterschrieb er den Vertrag sche Einstellung liefern, eine gewisse
doch nicht. Also musste er noch über an- Gültigkeit haben. Sein Argument trifft
dere finanzielle Quellen verfügt haben. aber nur zu, wenn die Angelegenheit le-
diglich ein isolierter Fall gewesen wäre
Kellers wohlwollendes Verständnis für und nicht zu einer Ganzheit gepasst
die wirtschaftlichen Beziehungen zwi- hätte. Ein einzelnes Teilchen in diesem
schen der Schweiz und NS-Deutsch- Puzzle reicht ohnehin kaum aus, um
land überrascht angesichts seiner ideo- ein überzeugendes Urteil zu fällen. Wie
logischen Haltung. aber bereits ausgeführt, liegt eine Reihe
von weiteren Beweisen, Hinweisen und
Selbstverständlich war nicht jeder, der Details vor, welche das kohärente und
damals mit den Deutschen handelte, schwer zu widerlegende Bild ergeben:
ein Nazi-Anhänger, obwohl ein Nazi- Paul Grüninger war ein korrupter
Gegner wohl kaum einen solchen Pos- Polizist, der im Dienst der Nazis
ten übernommen hätte. Zu betonen ist, stand.
dass synthetisches Gummi, Buna ge-
nannt, ab 1942 in Auschwitz produziert
wurde. Aber schon seit 1941 – also pa- 7 Schlusswort
rallel zur Grüningers Bewerbung – ar-
beitete IG Farben eng zusammen mit Manche mögen sich wundern, was ei-
der SS am Bau einer gigantischen nen linken Autor dazu bringt, bei einem
Buna-Fabrik in Auschwitz. Ist es vor- rechts stehenden Herausgeber zu publi-
stellbar, dass der sonst offensichtlich zieren. Die Antwort dafür ist relativ
über Deutschland gut informierte Grü- einfach:
ninger nicht um die zentrale Rolle von Die Wahrheitssuche ist weder links
IG Farben für das NS-Regime wuss- noch rechts orientiert.
te87? Der Schweizer Neo-Held und von
Yad Vashem als Gerechter ausgezeich- Man kann sich auch die Frage stellen,
nete Grüninger88 wäre also um ein warum diese Interpretation und Be-
Haar Verkäufer von synthetischem weisführung nicht schon längst aufge-
Gummi aus Auschwitz geworden. taucht ist, wenn doch alles so klar und
Trotzdem mag Kellers Einwand, Grü- deutlich ist.

87 In den Dreissigerjahren war IG Farben einer der grössten Geldgeber der NSDAP. «Ohne die IG. mit [...] ih-
rer umfassenden Konzentration wirtschaftlicher Macht wäre Deutschland im September 1939 nicht in der Lage
gewesen, seinen Angriffskrieg zu beginnen.» Die zentrale Bedeutung von IG Farben nahm in der Folge nicht ab.
Die Zusammenarbeit mit der SS fand ihre Vollendung in Auschwitz, wo Millionen Menschen vernichtet und
ausgebeutet wurden.
88 1971 wurde Grüninger von der Shoa-Gedenkstätte Yad Vashem (Jerusalem) mit der höchsten Auszeichnung

für Nicht-Juden «Gerechter unter den Völkern» dekoriert.

36
Obwohl der Mythos von rachsüchtigen, ich bis heute noch nicht erfahren. Die
kaltherzigen und sturen Behörden von Telephonanrufe erhielt er bis vor kur-
Kellers Mentor, Niklaus Meienberg, zem ins Restaurant ‹Gasthaus zum
gepflegt wurde, sieht es danach aus, Bahnhof›, obwohl im Parterre des Hau-
dass Grüninger eher mit Samthand- ses, wo er jetzt wohnt, ein Telephon
schuhen angefasst wurde. Es fehlten vorhanden ist. Er soll hin und wieder
den Behörden offenbar die Motivation, postlagernd Geld erhalten, von wel-
die Zeit und die Arbeitskraft, eine kon- chem seine Familie nichts sieht und er-
sequentere Untersuchung zu leisten, hält90.»
um die vielen Anhaltspunkte zu einem
solchen Bild zusammenzufügen. Eine In Anbetracht des gegen ihn erhobenen
gewisse Rolle dabei spielte sicherlich schweren Verdachts scheint es, dass
auch damals die Schwierigkeit sich Grüninger also von den Behörden eher
vorzustellen, dass jemand, der 1938/39 sanft behandelt wurde. Wie die SBA-
Juden half, illegal in die Schweiz ein- Akten zeigen, beruht die Ablehnung,
zureisen, dies im Dienst der Nazis ge- ihn zu rehabilitieren, nicht zuletzt auch
tan haben könnte. auf dem Eindruck, dass Grüninger et-
was auf dem Kerbholz hatte.
Hinzu kommt, dass, obwohl die SPAB
Grüninger «stark des illegalen Nach- Die Rehabilitierung ist hingegen eine
richtendienstes» verdächtigte, die skandalöse Entwicklung, die offen-
«Überwachungen, die sich als sehr sichtlich mehr politisch als faktisch
schwierig erwiesen, weil Grüninger die motiviert war. So machte der St. Galler
meisten Polizisten kannte, …den Be- Polizeikommandant, Heinrich Lüchin-
weis einer illegalen Tätigkeit nicht er- ger, am 14. Dezember 1984 bei der
bringen [konnten]89.» Bundespolizei eine «Anfrage hinsicht-
lich einer seinerzeitigen NBS-Mitglied-
Wie auch einem anderen Bericht zu schaft von †Grüninger Paul Ernst91.»
entnehmen ist, machte Grüninger sei- Der BUPO-Kommissar Hansjörg Ritter
nen Beschattern die Arbeit nicht ein- antwortete:
fach, denn seine Überwachung war ihm
offensichtlich bewusst: – «Ob †Grüninger Paul Ernst ein Mit-
glied dieser NBS war oder nicht,
«Aus welchem Grunde und zu welchem kann unsererseits nicht schlüssig be-
Zweck er so viel Post erhält und selber antwortet werden.
abschickt und mit wem er die auffallend – Die zur Einsicht erhaltene Liste
vielen Telephongespräche führt, konnte [Verzeichnis ehemaliger NBS-Mit-

89 Bericht vom 19. Juni 1945, SPAB-Akten, BAr E27/10262 Grüningers Dossier.
90 Bericht vom 23. November 1944, SPAB-Akten, BAr E27/10262 Grüningers Dossier.
91 Im Besitz des Autors.

37
glieder des Kantons St. Gallen] war tionen auf die Enthüllungen über die
uns bislang nicht bekannt. Sollten nazistische Einstellung und Aktivität
Sie darüber und insbesondere über Grüningers aus. Von sämtlichen Publi-
deren Zuverlässigkeit nähere Anga- kationen des Autors, welche grössere
ben benötigen, müsste Ihrerseits das Tabus berührten als die Grüninger-Af-
EMD, Stab GGST, USC Untergruppe färe, verursachte keine einzige eine sol-
Nachrichtendienst und Abwehr, 3003 che öffentliche Empörung. Es stellt
Bern, angefragt werden. sich deshalb die Frage, warum bislang
– Seinerzeitige Gerüchte hinsichtlich eine sachliche Diskussion darüber nur
nationalsozialistischen Sympathien/ in sehr beschränktem Rahmen möglich
Beziehungen des † Grüninger erwie- ist.
sen sich als falsch92.»
Es gilt, dieses Phänomen zu analysie-
In diesem Brief ist deutlich zu verste- ren und dessen Hintergründe zu verste-
hen, dass Ritter die SBA-NBS-Akten hen. Diese haben weniger mit Grünin-
nicht kannte. Auch nach einem Ge- ger und Vergangenem als viel mehr mit
spräch 1998 des Autors mit dem ehe- heutigen Zuständen in der Schweiz zu
maligen BUPO-Kommissar Ritter tun.
überzeugte dieser nicht mit seriösen
Kenntnissen des Falls Grüninger. Es Dass der Journalist Keller und der Poli-
fehlte auch eine schlagkräftige Begrün- tiker Paul Rechsteiner93 mit persön-
dung für das pauschale Reinwaschen lichen Angriffen antworteten, erstaunt
Grüningers vom Verdacht, Nazi-Sym- nicht. Die beiden konnten sich, jeder
pathien oder -Beziehungen gepflegt zu auf seine Art, mit der Rehabilitierung
haben. Grüningers eine Karriere aufbauen und
sahen sich nun durch die Änderung des
Auch Keller selber, der den Auftrag Bildes Grüningers in der Öffentlichkeit
hatte, historisches Material zu finden, gefährdet. Bei der Analysierung ihrer
um die Rehabilitierung Grüningers zu Reaktionen und ihrer Verarbeitung liegt
ermöglichen, war nicht so sicher, dass der Verdacht einer bewussten Verzer-
er diesen Auftrag erfüllt habe. In einem rung der Geschichte sehr nah.
privaten Gespräch mit dem Autor 1992
äusserte Keller seine Zweifel und Dem Publikum, welches mit den für
meinte, dass er eigentlich nichts Neues Grüninger gravierenden Befunden kon-
gefunden habe. Er wollte damals das frontiert war, stehen einige Wahrneh-
Buch gar nicht schreiben. mungsschwierigkeiten im Weg. Hinzu
kommt die manifeste vermeintliche
Überraschend fielen die heftigen Reak- Notwendigkeit, Helden und Mythen

92 Brief des Kommissars Hansjörg Ritter an Heinrich Lüchinger, 8. Januar 1985 Rr/Gk/3. Im Besitz des Autors.
93 Paul Rechsteiner war Anwalt im Rehabilitierungsprozess Grüningers.

38
pflegen zu müssen, welche nicht auf Rettungsaktion aussah, in Wirklichkeit
eine Links/Rechts-Masche zurückzu- eine Vertreibungs-, Erpressungs- bzw.
führen, sondern gesamtgesellschaftlich sonstige Bereicherungsaktion. Gerade
zu beobachten ist. der brennende Nazi Eichmann arbeite-
te ja daran und brauchte deshalb Hilfe
Es scheint im ersten Moment unwahr- von Kollaborateuren, um u.a. auch die
scheinlich, dass ein Nazi-Sympathisant Schwierigkeiten bei dieser inhumanen
bzw. Nazi-Agent die illegale Einreise Politik, die sich durch die damalige
von Juden ermöglicht hätte. Dieser Schweizer Grenzschliessung stellten,
scheinbare Widerspruch wird aufgeho- zu überwinden.
ben, wenn die sehr gut belegten dama-
ligen Nazi-Vertreibungsabsichten be- Die hier geforderte Veränderung von
wusst gemacht werden. Durch ihre Un- Grüningers Image bedeutet nicht eine
kenntnis – trotz der reichlich vorhande- Verurteilung der Judenrettung oder
nen Informationen – meinen Laien, eine Verharmlosung der Nazi-Verbre-
diese Feststellung als solche sei bereits chen. Ganz im Gegenteil, denn diese
ein Verharmlosungsversuch der Nazi- Übeltaten begannen nicht erst 1942 in
Verbrechen, ein Holocaust-Leugnen Auschwitz. Der Autor verlangt auch
sozusagen. deshalb eine differenzierte Darstellung
der damaligen Verhältnisse ohne Hel-
Diese Wahrnehmungshürde wird besei- den und Dämonen.
tigt, wenn realisiert wird, dass die Na-
zis zwar während ihrer gesamten Herr- Der falsche Held Grüninger ist nicht
schaft den Plan verfolgten, die ethni- nur eine Beleidigung für die seriöse
sche Säuberung an den Juden durchzu- historische Forschung, sondern auch
führen. Die Säuberung bedeutete aber für die vielen sehr couragierten und en-
nicht immer die physische Vernich- gagierten Retter wie Werner Stocker
tung, sondern – zumindest bis 1941 – und die zahlreichen anderen, praktisch
die Vertreibung der Juden. Entspre- unbekannt gebliebenen Schweizerin-
chend war, was 1938 manchmal als nen und Schweizer.

39
40
LISTE DER PUNKTE, WELCHE FÜR ODER GEGEN GRÜNINGER SPRECHEN
1 Verdacht, dass Grüninger ein Nazi-Agent war
negativ/belastend positiv/entkräftend Bewertung

Stellenangebot der Nazis an Grü- • Das Interesse der Nazis an Grünin- • Die Nazis waren in der Regel sehr
ninger unmittelbar nach seiner Ent- ger ist verständlich, denn sie ver- streng bei der Aufnahme von neuen
lassung 1939 suchten unzufriedene Schweizer zu Beamten. Die Gesinnung der Kan-
engagieren. Das Angebot alleine didaten spielte dabei eine wichtige
• Es stellt sich die Frage, warum die sagt nichts über die eigene Einstel- Rolle. Hätte sich die Arbeitsstelle in
Nazis ausgerechnet einen bekannten lung Grüningers aus. der Schweiz befunden, so wäre es
‹Judenretter› und ungehorsamen Po- eventuell denkbar gewesen, dass die
lizisten unbedingt in ihren eigenen • Tatsache ist, dass Grüninger die Nazis die politische Haltung des
Reihen in Deutschland haben woll- Stelle nicht antrat. Kandidaten nicht so streng bewertet
ten. hätten.
Die Anbieter kannten ja Grüninger
persönlich sehr gut. Sie mussten • Von entscheidender Bedeutung ist
also über seine politische Haltung das starke Interesse der Nazis an
genau informiert, mit seinen bishe- Grüninger, denn mit seinen angeb-
rigen Leistungen hoch zufrieden lichen humanistischen Eigenschaf-
und von seiner Eignung für den an- ten entsprach er bestimmt nicht dem
gebotenen Job überzeugt sein. Anforderungsprofil eines heiss um-
worbenen Wunschkandidaten der
• Wieso erwähnt Stefan Keller in sei- Nazis.
nem Buch das NS-Stellenangebot
nicht vollständig und kommentiert • Grüninger muss an der Stellung
diese Angelegenheit nicht gebüh- interessiert gewesen sein, da er ja
rend? Fand er keine richtigen ent- doch Verhandlungen darüber führte.
schärfenden Argumente? Die Gründe für die Absage sind
nicht bekannt. Später, 1944, bereute
er sogar offensichtlich, dass er die-
ses Amt nicht übernommen hatte.

Hilfeleistung an Gestapo-Fahndun- • Die Strafe Grüningers für seine Rol- • Die ausserordentlich deutsch-
gen in der Schweiz le in der Rorschacher Affäre fiel freundliche Haltung hätte an sich
milde aus. D. h. der Untersuchungs- schon für eine Absetzung Grünin-
• Parallel zur Unterstützung der ille- richter stufte Grüningers Verantwor- gers ausreichen müssen. Die milde
galen Einreise jüdischer Flüchtlinge tung als eher gering ein. Strafe ist deshalb erstaunlich und
leistete Grüninger verbotene und beweist keinesfalls seine Unschuld.
häufige Rechtshilfe an die Gestapo. • Grüningers Vergehen beruhten le-
Die Gestapo durfte mit Einwilli- diglich auf einer «zu grossen Ver- • Wenn Grüninger tatsächlich vom
gung Grüningers mehrmals frei im trauensseligkeit» gegenüber der Schicksal der Juden so betroffen ge-
Kanton St. Gallen illegale Fahndun- Gestapo. Es handelte sich also le- wesen wäre, hätte er bestimmt nicht
gen betreiben und erhielt auch diglich um eine normale Zu- so «vertrauensselig» und «freund-
schriftliche Auskünfte, wie in der sammenarbeit zwischen benach- schaftlich» mit ihren Peinigern zu-
Rorschacher Affäre im Herbst 1938, barten Polizeiorganen bzw. um sammengearbeitet.
als Gestapobeamte nach einem of- grenzüberschreitende Beziehungen
fensichtlich politischen Täter in der zwischen Berufskollegen. • Diese Angelegenheit erinnert stark
Schweiz suchen durften. an die gemeinsamen Bemühungen
der Nazis mit Grüninger, den Strom
• Diese deutschfreundliche Haltung der Spanienkämpfer zu unterbinden
Grüningers sticht heraus im Ver- (s. nächsten Punkt).
gleich mit anderen Grenzkantonen

41
wie Basel, Thurgau usw., wo solche
42
negativ/belastend positiv/entkräftend Bewertung

Kooperationen absolut nicht gedul-


det wurden.

Grüninger arbeitete während des • Grüninger setzte lediglich die • Die von Bern gewünschte Verhinde-
Spanienkriegs mit den Nazis zusam- Schweizer Politik um, die die rung der Durchreise der Spanien-
men, um den Strom der antifaschis- Durchreise über das Staatsgebiet zu kämpfer verlangte jedoch bestimmt
tischen Spanienkämpfer zu unter- verhindern versuchte. nicht die aktive Zusammenarbeit
binden. mit den Nazis.

• Ein Anti-Nazi hätte eine solche Kol-


laboration nicht begangen.

Grüningers Nazi-Freunde • Für Keller geht es hier um nor- • Auch nach seiner Entlassung pfleg-
male Arbeitsbeziehungen zwischen te Grüninger die Beziehungen mit
• Mehrere Gestapo-Offiziere wurden Dienstkollegen. den Nazi-Freunden weiter und war
von Grüninger als Freunde bezeich- sogar stolz darauf.
net. Die Rolle dieser Organisation
bei den Judenverfolgungen musste • Die Bezeichnung «Menschen-
Grüninger doch bekannt sein. freund» für den deutschen Grenzpo-
lizei-Offizier Josef Schreieder, weil
er die Ausreise der Juden unterstützt
hatte, wirkt geradezu verräterisch:
Die Mittäterschaft an der Vertrei-
bung der Juden als humane Geste zu
loben, ist absolut zynisch. So gese-
hen hätte Grüninger auch den NS-
Chef der Judendeportation, Adolf
Eichmann, als Menschenfreund be-
zeichnen können.

Grüningers Hilfe an die illegale jü- • Die Aussage Grüningers über den • Die Formulierung Dreifuss’ lässt
dische Einwanderung auf Veranlas- gleichen Sachverhalt ist etwas weni- zwar einen gewissen Interpreta-
sung des deutschen Konsulats ger scharf als jene von Dreifuss: «So tionsraum, in Anbetracht der ande-
z.B. verlangte das deutsche Konsu- ren Beweise der engen Zusammen-
• Gemäss der Aussage Sidney Drei- lat immer einen solchen Ausweis für arbeit Grüningers mit den Nazis
fuss’ händigte Grüninger bestimm- jene, die zwecks Einholung eines Vi- aber besitzt die belastende Ausle-
ten Flüchtlingen Schweizer Aus- sums nach Wien reisen mussten.» gung eine höhere Wahrscheinlich-
weise hauptsächlich auf Veranlas- keit.
sung des deutschen Konsulats aus. • Die deutsche Veranlassung kann be-
Das Ziel dieser Aktion war, die deuten, dass das Konsulat diese For-
Weiterreise der Flüchtlinge nach Pa- derung stellte, aber nicht unbedingt
lästina zu unterstützen. Denn mit direkt an Grüninger.
diesen Papieren durften Flüchtlinge
nach Wien, um Visa für andere Ju-
den zu beschaffen (s. die Affäre des
Aktivisten Markus Löffel).

• Keller bevorzugt es, bei der Schilde-


rung der Löffel-Affäre das Reiseziel
auszuklammern und die Aussage

43
Dreifuss’gar nicht zu berücksichtigen.
44
negativ/belastend positiv/entkräftend Bewertung

Frontisten sahen Grüninger als ei- • Diese Frontisten bzw. der SVV wa- • Der SVV-Angriff gegen Keel muss
nen aus ihren Reihen an. ren mehr an einer politischen Kon- nicht automatisch eine Unterstüt-
frontation mit Grüningers sozialde- zung Grüningers bedeuten und
• Dies ist in der frontistischen Zeitung mokratischem Vorgesetzten, Valen- schon gar nicht heissen, dass er ei-
nach Grüningers Entlassung zu le- tin Keel, als mit ihm interessiert. ner aus den eigenen Reihen sei.
sen.

• Diese Gesinnungsfrage stellt sich


wieder angesichts der Tatsache, dass
der Anwalt Grüningers der anti-
Emigranten-Organisation Schwei-
zerischer Vaterländischer Verband
(SVV) angehörte.

Grüninger drohte, seinen Chef, Va- • Grüninger wurde von seinem Chef • Durch seine Drohung machte Grü-
lentin Keel, wegen seiner Rolle bei Keel im Stich gelassen und hatte al- ninger es Keel noch schwerer, soli-
der illegalen Einreise von jüdischen len Grund verbittert zu sein. darisch mit ihm zu sein.
Flüchtlingen zu verraten.
• Die mutige jüdische Rettungsakti- • Wie weiter unten zu sehen ist, waren
• «Wenns mi butzt, butzts au de vistin, Recha Sternbuch, und ihre mehrere SP-Parteifunktionäre da-
Keel», soll Grüninger nach seiner Familie sind trotz ihrer eigenen ille- von überzeugt, dass Grüninger ein
Entlassung gesagt haben. Die Sozi- galen Tätigkeit zu Grüninger ge- korrupter Polizist sei und aus Hab-
aldemokraten, zu denen Keel gehör- standen. sucht agiere. Dies sei ein Grund
te, hatten ihre eigene illegale Emi- mehr, sich nicht mit ihm zu solidari-
grantenhilfe-Organisation. sieren.
• Diese Drohung zeigt, dass Grünin- • Grüninger drohte dagegen nicht, die
ger nicht aus altruistischen und Sternbuchs zu entlarven. Sie sahen
humanistischen Motiven handelte. kein Problem darin, auch mit geld-
gierigen Nazi-Anhängern zusam-
menzuarbeiten, wenn dabei Juden
gerettet werden konnten. Dies be-
weisen auch die Beziehungen der
Sternbuchs zu alt Bundesrat Jean-
Marie Musy.

Die Verbindung Grüningers mit • Es bestehen keine weiteren und kon- • Es ist kaum anzunehmen, dass der
dem SS-Spion Manfred Hartmann kreten Angaben über diese Verbin- Spion Hartmann bei seinen Kontak-
dung, und abgesehen davon geht es ten mit Grüninger uneigennützig
• Diese Verbindung von 1941 wird hier um Ereignisse im Jahr 1941 und agierte. Da es bekannt ist, dass Hart-
von Grüninger nicht dementiert, nicht 1938/39, also zur Zeit der Hil- mann in der Schweiz Agenten such-
sondern lediglich deren Spionage- fe Grüningers an die jüdische illega- te, ist es völlig auszuschliessen, dass
charakter. Dabei musste Grüninger, le Einwanderung. er solchen Versuche ausgerechnet
wie sein eigener Bericht von 1935 beim alt Polizeihauptmann nicht
bezeugt, wissen, dass der Direktor • Laut den Darstellungen Grüningers unternahm. Das Dementi Grünin-
der «Münchner Neusten Nachrich- ging es bei diesen Kontakten ledig- gers ist als unglaubwürdig anzu-
ten» – so gab sich Hartmann zu er- lich um die Vermittlung von Grüs- schauen und macht ihn deshalb ver-
kennen – Direktor einer SS-Spiona- sen seines deutschen Schwagers und dächtig.
ge-Zentrale war. freundliche Hilfe Hartmanns bei der
Vermittlung einer Anstellung in • Grüninger blieb offensichtlich nach
• Hartmann war auch bei der Devi- deutschen Firmen. wie vor für die Nazis interessant und
senstelle München tätig, und Grü- ansprechbar. Ein deutsches Grünin-

45
ninger half ihm nachweislich zu- • Grüninger musste 1941 nicht mehr ger-Dossier würde Aufschluss ge-
46
negativ/belastend positiv/entkräftend Bewertung

mindest bei einer Handelstransak- unbedingt wissen, was er 1935 ge- ben. Diese Recherche ist bislang je-
tion mit einem St. Galler Bijoutier. schrieben hatte. doch erfolglos geblieben.

• Dass der Untersuchungsrichter im


Fall Hartmann keinen Anlass sah,
Grüninger härter anzufassen, relati-
viert die Verbindung zu diesem
Nazi-Spion nicht.

• Warum verschweigt Keller diese


Angelegenheit in seinem Buch?

Wenn Grüninger tatsächlich vom • Er war nach der Entlassung völlig • Grüninger hätte nach seiner Entlas-
Leiden der Verfolgten sehr bewegt ruiniert und musste um seine eigene sung genug Zeit gehabt, die Arbeit
gewesen wäre, warum setzte er sich Existenz kämpfen. zu Gunsten der Flüchtlinge auf
dann nicht weiter – auch nach sei- irgendeine Art weiterzuführen. Da-
ner Entlassung – für sie ein? • Er war kein politischer Aktivist, für fehlen jedoch jegliche Hinweise.
sondern ein Polizist mit Herz. Ganz im Gegenteil: Es gibt Belege
dafür, dass er zusammen mit pro-na-
zistischen Kreisen die Zeit in Knei-
pen verbrachte.

• Die meisten Flüchtlinge konnten • Viele Zeitzeugen sprechen Grü- • Bei der Auswertung der Informatio-
nichts Näheres über die wahren Mo- ninger die edelsten Motive zu. nen hat das belastende Material
tive Grüningers wissen und sie ha- • Die Quellen der Vorwürfe gegen grösseres Gewicht, da es z.T. auf ei-
ben allen Grund, dankbar zu sein. Grüninger sind unzuverlässige genen inkriminierenden Aussagen
«Schnüffelpolizei»-Akten. Grüningers beruht.
• Offensichtlich war die Vertrei-
bungspolitik der Nazis auch damals
vielen nicht bekannt.

• Die Bupo-Akten sind nicht pauschal


als unzuverlässig zu beurteilen. Sie
beinhalten nebst Gerüchten auch
sehr viele wertvolle Informationen.

47
48
2 Bestechungs- und Korruptionsverdacht
negativ/belastend positiv/entkräftend Bewertung

Geld spielte eine wichtige Rolle für • Die Aussage Grüningers, er habe • Es gibt zu viele Hinweise auf Grü-
Grüninger. wegen des grösseren Einkommens ningers Liebe zum Geld, so dass
vom Lehr- zum Polizeidienst ge- diese nicht heruntergespielt werden
• Dies belegt Grüningers eigene Aus- wechselt, darf nicht überbewertet dürfen.
sage. werden.
• Die Kritik kommt nicht nur aus den
• Mehrere Hinweise auf eine eher ver- • Bei den rufschädigenden Aussagen Reihen der Polizei.
schwenderische Lebensweise handelt es sich um Verleumdungen
unzufriedener ehemaliger Unterge- • Im Rapport nach der Entlassung
• Auch nach seiner Entlassung ver- bener. wurde die Kritik an beide Polizeiof-
kehrte er in Kneipen oft in politisch fiziere gerichtet.
dubioser und krimineller Gesell- • Die interne Kritik galt hauptsäch-
schaft. lich dem Polizeileutnant und nicht
dem Kommandanten.

Grüninger versuchte, das Erbe des • Das Geld bekam Grüninger von • Grüninger ging auf einen Vergleich
Ex-Polizisten Wetzel zu veruntreu- Wetzel wegen seiner Hilfe an ihn ein und gestand damit eigentlich
en, welches er verwaltete und an be- und er durfte über das Geld frei ver- sein Unrecht.
dürftige Polizisten verteilen sollte. fügen.
• Die Klage gegen ihn wurde wegen
Verjährung fallen gelassen.
Grüningers Hilfe an Devisenschie- • Flatz sah sich wegen eines normalen • Es gibt keine Belege dafür, ausser
ber Josef Flatz Fiskal-Vergehens mit Haft im KL der eigenen Aussage, dass Flatz tat-
Dachau bedroht, einer unverhältnis- sächlich aus einem Zug nach Dach-
mässigen Strafmassnahme also. Die au geflohen ist. Dass Grüninger
Rettungsaktion war insofern ange- Flatz’ Devisenschieberei ver-
bracht. schwieg, vermindert Grüningers
Glaubwürdigkeit.
• Die Hilfe an Flatz beweist, dass
Grüninger gegen die NS-Interessen • Da Korruption auch innerhalb der
agierte. Nazis verbreitet war, wäre die Ak-
tion Grüningers nicht ausserge-
wöhnlich, auch nicht für einen
Nazi-Agenten.

Seriöse jüdische und sozialdemo- • Diese Behauptungen sind nicht be- • Es liegt in der Natur der Sache, dass
kratische Rettungsaktivisten be- legt. die involvierten Rettungsaktivisten
haupteten, dass Grüninger besto- keine schriftlichen Belege haben.
chen wurde. • Die Vorwürfe sind eine Rechtferti-
gung für die unsolidarische Haltung • Der Informantenbericht vom Januar
gegenüber Grüninger. 1939 aus den Reihen der SP über die
Bestechung Grüningers verleiht den
• Sidney Dreifuss hielt es für ausge- Vorwürfen gegen ihn eine zusätzli-
schlossen, dass Grüninger von che Glaubwürdigkeit, da diese An-
Flüchtlingen bestochen worden sei. gabe aus einer unabhängigen Quelle
in real time entstammt. Keller be-
zweifelt in seinem Buch die Authen-

49
tizität dieser Information nicht.
50
negativ/belastend positiv/entkräftend Bewertung

• Dreifuss’ Aussage ist mit viel Vor-


sicht zu konsumieren.

Die Belastung durch die Anwaltsse- • Die Aussage Michels kann lediglich • Frau Michel wusste viele Details
kretärin Erika Michel (Mai 1939) als Beweis gelten, dass ihr Boss an über Grüninger, wie z.B. seine häu-
den Flüchtlingen verdiente. figen Reisen nach Deutschland.
• Diese Sekretärin hörte, wie ihr Chef Dies erhöht ihre Glaubwürdigkeit,
mit Grüninger telefonierte; aus sei- • Ihre anti-jüdische Haltung ist nicht unabhängig von ihren Motiven.
nen Worten verstand sie, dass Grü- zu übersehen.
ninger Geld für seine Leistungen an • Es ist nicht ersichtlich, warum wei-
die jüdischen Emigranten kassiere. • Auch die Polizei nahm ihre Aussage tere Angaben über eine allfällige po-
offensichtlich nicht sehr ernst und lizeiliche Untersuchung fehlen.
Sie bot ihre Hilfe der Polizei an, um verfolgte die Sache nicht weiter.
handfestere Beweise gegen Grünin-
ger zu finden.

Keine klare Einkommensquelle • Es könnte sein, dass Grüninger nach • Ein klares Bild über die Einkom-
nach der Entlassung seiner Entlassung regelmässig mensverhältnisse Grüningers zu er-
Unterstützung von jüdischer Seite – halten, war schon in den Vierziger-
• Trotzdem weilte Grüninger oft in z.B. von der Familie Sternbuch – er- jahren sehr schwierig, und heute ist
Restaurants und Kneipen. 1941 de- hielt. dies nicht einfacher geworden.
klarierte er Fr. 10 000 als Vermögen Trotzdem sind die Verdachtsmo-
ohne zusätzliche Einkünfte. Aber er • Auch wenn er in den Vierzigerjah- mente stark genug, um sie nicht als
schien nicht gezwungen gewesen zu ren dubiose Geldquellen gehabt hät- blosse Verleumdungen abzutun.
sein, von der Substanz seines Ver- te, wird damit kein Beweis über die
mögens zu zehren und auch eine frühere Tätigkeit erbracht.
Stelle anzutreten.
• Es geht, wie in anderen Fällen, um
Verleumdungen.

• Grüninger musste stets um seine


Existenz kämpfen und auf gar kei-
nen Fall darf man ihn als reich be-
zeichnen.

51
52
3 NBS-Zugehörigkeit und NS-Einstellung in den Vierzigerjahren
negativ/belastend positiv/entkräftend Bewertung

Die Mitgliedschaft Grüningers bei • Keller bezweifelt in der WoZ vom • In den Bundesanwaltschafts-Akten
der verbotenen pro-nazistischen Mai 1998 die Zuverlässigkeit dieses befinden sich Fotos von der Karto-
Nationalen Bewegung der Schweiz Eintrags und spricht von einer Fäl- thek.
(NBS) – 1940 schung durch die st. gallische Poli-
zei. Als Beweis erbrachte Keller • Da die NBS-Kartei in Zürich be-
• Es gibt Einträge Grüningers als Mit- eine NBS-Liste, auf welcher der schlagnahmt wurde, kann man eine
glied bzw. Sympathisant der NBS in Name Grüningers nicht verzeichnet Fälschung seitens der dortigen poli-
verschiedenen Listen der Bundes- ist. Da die NBS-Mitgliederkarto- tischen Polizei praktisch ausschlies-
polizei und der Armee. Diese Listen thek unauffindbar ist, stellt Keller sen.
wurden anhand einer beschlag- ihre Existenz in Frage.
nahmten NBS-Mitgliederkartothek • Die Kontrolle durch die NBS-Füh-
hergestellt. • Mario Karrer, Grüningers Freund rung von nicht einleuchtenden
und ein NBS-Führer, wird in Kellers NBS-Anmeldungen, wie jene des
• Das Foto Grüningers im Besitz ei- Buch zitiert, dass Grüninger «poli- flüchtlingsfreundlichen Schaffhau-
nes NBS-Anwerbers bestätigt seine tisch neutral» und auch «leider» ser Stadtpräsidenten Walther Brin-
Zugehörigkeit zu dieser pro-nazisti- kein Mitglied gewesen sei. golf, deutet auf gewisse Vorsichts-
schen Bewegung. massnahmen hin und schliesst eine
• Der Bericht Schweizers wurde von gefälschte Anmeldung im Fall Grü-
• Der Bericht des Polizisten Schwei- Grüningers Nachfolger, Konrad ninger aus.
zer von 1941 ist eine zusätzliche of- Lienert, unterzeichnet und stellt da-
fizielle Bestätigung der NBS-Zuge- mit die Glaubwürdigkeit des Rap- • Die Aussage des fanatischen Nazi-
hörigkeit Grüningers. ports in Frage. Anhängers Karrer ist mit viel Vor-
sicht zu geniessen, da dieser in den
• Der Berichterstatter formuliert eine Neunzigerjahren, als Keller ihn in-
Gesinnungswandel-Theorie: Grü- terviewte, die Rehabilitation seines
ninger habe wohl vor lauter Verbit- verstorbenen Freundes Grüninger
terung seine Gesinnung geändert. bestimmt nicht sabotieren wollte.
Damit soll seine Aktivität 1938/39
zu Gunsten der jüdischen Flücht- • Eine spätere Rache gegen Grünin-
linge nicht in Frage gestellt werden. ger ist in diesem offiziellen Papier
von Polizist Schweizer nicht zu er-
kennen, denn mit der Gesinnungs-
wandel-Theorie zeigen die Polizis-
ten eher Verständnis für die verzwei-
felte Lage Grüningers.

• Es gibt genug Material, um diese


Theorie zu widerlegen.

Der Gerüchtemacherei-Prozess ge- • Die Verbreitung des Gerüchtes deu- • In den Prozess-Akten sind anti-
gen Grüninger tet auf eine anti-deutsche Einstel- deutsche Motive Grüningers nicht
lung Grüningers hin. Denn er kriti- erkennbar. Die Erklärungen für
• Grüninger wurde 1941 wegen Ver- sierte die Schweizer Regierung Grüningers Handlungen bewegen
breitung von Gerüchten verurteilt, wegen allzu grosser Nachgiebigkeit sich zwischen Wichtigtuerei und
die die Bevölkerung verunsichern gegenüber Deutschland. Verbitterung gegenüber den Behör-
könnten. den.
• Anton Frommer, der Grüninger die
• Er behauptete, dass der Bundesrat Information geliefert hatte, be- • Die Aussage Frommers ist eigent-
dem deutschen Druck nachgebe und schrieb ihn als jemanden, der sich lich sehr belastend für Grüninger.
das Militär demobilisiere. als Wortführer der Opposition gege- Mit «Opposition» kann Frommer

53
ben habe. nur die pro-nazistische «Kamerad-
• Da dieses Gerücht aus nazistischer schaft» gemeint haben, und seine

54
Quelle stammt, muss es als Nazi- Kritik an Grüninger meint eigent-
Propaganda angeschaut werden. lich, dass dieser früher diskreter ge-
wesen sei.

Grüninger bewarb sich 1941 als Keller meint in seinem WoZ-Artikel • Da Grüninger die Stelle am Schluss
Vertreter zweier deutscher Firmen. von 1998, dass Grüninger sehr ver- – aus unerklärlichen Gründen –
zweifelt nach einer Stelle habe suchen doch nicht antrat, muss man daraus
• Es handelte sich um die Vertretung müssen und es sich nicht leisten konn- schliessen, dass seine finanzielle
der Schraubenfabrik AG in Mün- te, wählerisch zu sein. Überdies seien Lage doch nicht so dramatisch war
chen und von Fabrikationsbetrieben damals solche Anstellungen in der (er verfügte über 10 000 Fr. Vermö-
von synthetischem Gummi (höchst- Schweiz normal gewesen und hätten gen).
wahrscheinlich IG Farben). keinerlei besondere pro-nazistische
Einstellungen vorausgesetzt. • Ein Anti-Nazi hätte sich bestimmt
• Als Mittelsmann fungierte ein deut- nicht für eine solche Position bewor-
scher Spion, Manfred Hartmann, ben. Im Allgemeinen war die anti-
was die Sache noch gravierender deutsche Haltung in der Schweiz da-
macht. mals sehr verbreitet, und es ist über-
dies zu bezweifeln, dass eine solche
• Warum klammerte Keller diese An- Vertretung jedermanns Sache gewe-
gelegenheit in seinem Buch aus? sen wäre.

Frau Grüninger war, im Unter- • Grüninger war wahrscheinlich ner- • Die Interpretation ist nicht kleinlich,
schied zu ihrem Mann, deutsch- vös, und seine Worte sollen nicht so denn sie ist im gesamten Kontext
feindlich. kleinlich interpretiert werden. verankert und entspricht seiner
sonstigen freundlichen Haltung ge-
• Die eigene Aussage Grüningers in • Im Übrigen: Warum werden nur die genüber Hartmann und anderen
der Untersuchung in Sachen Hart- negativen Aussagen Grüningers Nazis.
mann: «... meine Frau, die aller- ernst genommen und die positiven
dings ganz deutschfeindlich einge- links liegen gelassen? • Die negativen Aussagen sind glaub-
stellt ist». Grüningers «allerdings» würdiger, denn hier können keine
spricht für sich. eigenen Interessen dahinter stecken.

Pro-nazisitische Aussagen Grünin- • Diese SPAB-Berichte sind als unzu- • Es gibt einige Details in diesen Mel-
gers Ende 1944 verlässige Verleumdungen anzu- dungen, die die Zuverlässigkeit der
schauen. Angaben plausibel machen. Die
• Laut zwei SPAB-Berichten vom No- neuen Nachbarn konnten solche In-
vember/Dezember 1944 soll Grü- formationen nur von Grüninger sel-
ninger kurz nach seinem Umzug ber erfahren, und das Interesse der
nach Au/SG gesagt haben, dass er SPAB an einer Fälschung ist nicht
nach wie vor an den deutschen Sieg ersichtlich.
glaube und er danach rehabilitiert
würde. Solche Ansichten vertraten
zu diesem Zeitpunkt nur noch einige
brennende unrealistische Nazis.

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