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MIGUEL DE MOLINOS

DER GEISTLICHE FÜHRER

Erstmalig gedruckt im Jahre 1699


PDF Erstellt von André Rademacher
DER GEISTLICHE FÜHRER

welcher die Seele frei macht


und sie auf den inneren Weg
zur Erlangung vollkommener Anschauung führt
und
Der reiche Schatz innerlichen Friedens

Miguel de Molinos

Inhalt

VORWORT 8

Damit Gott in der Seele ruhen kann, muß das Gemüt in allem Ungemach, Versuchungen und
Leiden in Ruhe erhalten werden. 11

Wenn sich die Seele auch von der eigenen Verstandestätigkeit ledig fühlt, sollte sie doch im
Gebet ausharren und nicht bekümmert sein, weil dies ein größeres Glück für sie ist 12

Fortsetzung des Vorhergehenden 14

Die Seele möge sich nicht bekümmern, noch ihre Andacht unterbrechen, weil sie eine innere
Leere empfindet 16

Die Seele darf nicht unruhig werden, wenn sie sich von Finsternis umfangen sieht, weil dies
ein Mittel zu ihrer größeren Glückseligkeit ist 18

Damit die Seele den höchsten inneren Frieden erlangen kann, ist es nötig, daß Gott sie
nach Seiner Art läutert, weil die Übungen und Kasteiungen, welche sie aus eigener Kraft
vornimmt, nicht genügend sind 19

Fortsetzung des Vorhergehenden 20



Die Seele soll nicht unruhig werden oder sich von dem geistigen Wege abwenden,
weil sie von Versuchungen bestürmt wird 21

Fortsetzung des Vorhergehenden 23

Erklärung des Wesens der innerlichen Sammlung und Belehrung der Seele über ihr Verhal-
ten in derselben, sowie den geistigen Streit, wodurch der Teufel sie zu dieser Zeit abzulenken
versucht 24

Fortsetzung des Vorhergehenden 26

4
Inhalt

Was die Seele in der innerlichen Sammlung tun soll 28

Erklärung, wie die Seele, welche sich mit vollkommener Ergebung durch reine Glaubenskraft
in Gottes Gegenwart versetzt hat, immerdar in dem erlangten, wirksamen Schauen wan-
delt 31

Fortsetzung des Vorhergehenden 33

Ein Weg, auf welchem man zur innerlichen Sammlung gelangen kann,
ist die hochheilige Menschheit unseres Herrn Christus 35

Von dem innerlichen, mystischen Stillesein 38

Der Unterschied zwischen dem äußeren und inneren Menschen. 42

Fortsetzung des Vorhergehenden 43

Das Mittel zur Erlangung des innerlichen Friedens ist nicht sinnliches Lustgefühl, noch geis-
tiger Trost, sondern die Vernichtung der Eigenliebe. 45

Von zwei geistigen Martyrien, wodurch Gott die Seele reinigt,


welche Er mit sich vereinigt 47

Wie wichtig und notwendig es für die innerliche Seele ist, dieses erste und geistige Martyri-
um wie blind zu erdulden. 50

Innerliche Abtötung und völlige Ergebung sind nötig zur Erlangung


des innerlichen Friedens
53

Fortsetzung des Vorhergehenden 56

Um den inneren Frieden zu erlangen, ist es nötig, daß die Seele ihr Elend erkennt 58

Es wird gezeigt, welches die falsche und welches die wahre Demut ist,
nebst deren Wirkungen 59

5
Miguel de Molinos

Grundsätze, ein einfältiges, demütiges und aufrichtiges Herz zu erkennen 61

Die innerliche Abgeschiedenheit ist es vor allem, welche den Menschen


zur Erlangung des inneren Friedens führt 63

Es wird gezeigt, was verliehene und passive Beschauung ist,


und ihre wunderbare Wirkung vor Augen geführt 65

Von den zwei Wegen, auf denen die Seele zur eingeflößten Beschauung emporsteigt,
nebst einer Erklärung, welches und wieviele deren Stufen sind 67

Zeichen, um den inneren Menschen und das gereinigte Gemüt zu erkennen 69

Von der göttlichen Weisheit 71

Von der wahren und vollkommenen Vernichtigung 75

Es wird dargelegt, wie dieses Nichts der rechte Weg ist, Reinheit der Seele, vollkommene
Beschaulichkeit und den reichen Schatz des innerlichen Friedens zu erlangen 77

Von dem hohen Glück innerlichen Friedens und dessen wunderbaren Wirkungen 79

Ein Klageruf und schmerzlicher Seufzer zu Gott, wegen der geringen Anzahl von Seelen,
welche zur Vollkommenheit, liebenden Vereinigung und göttlichen Umwandlung gelangen
81

6
Inhalt

7
VORWORT

VORWORT

Der Weg zum inneren Frieden ist, in allen Dingen nach dem Gefallen und der Weisung des
göttlichen Willens zu leben. (In allem sollen wir unseren Willen dem göttlichen Willen un-
terwerfen, denn darin besteht der Friede unseres Willens, daß er in allen Stücken dem gött-
lichen Willen gehorsam ist / Hugo Cardinalis in Psalm 13). Diejenigen, welche wünschen,
daß alle Dinge gut und nach ihrer eigenen Lust ausfallen, sind nicht zur Erkenntnis dieses
Weges gekommen. (Sie haben den Weg zum Frieden nicht erkannt / Psalm 13). Und des-
halb führen sie ein rauhes und bitteres Leben, immer ruhelos und verdrossen, ohne den Weg
des Friedens zu betreten, welcher in vollkommener Ergebung in den Willen Gottes besteht.
Diese Ergebung ist das süße Joch, welches uns in die Regionen innerer Ruhe und Heiterkeit
einführt. Hieraus können wir entnehmen, daß die Widerspenstigkeit unseres Willens der
Hauptgrund unserer Ruhelosigkeit ist und daß, weil wir uns dem süßen Joche des göttlichen
Willens nicht fügen wollen, wir so viele Bedrängnisse und Aufregungen erdulden müssen.
O Seele! Wenn wir unseren eigenen dem göttlichen Willen unterordneten und alles Seiner
Führung überließen, welch eine Ruhe würden wir empfinden! Welch süßen Frieden! Welch
innere Heiterkeit! Welch wahrhafte Seligkeit und überschwengliches Glücksgefühl! Dieses
soll daher der Hauptgedanke dieses Buches sein. Möge mir Gott sein göttliches Licht dazu
geben, die Geheimnisse dieses inneren Weges und die süße Wonne des vollkommenen Frie-
dens zu enthüllen.

8
Miguel de Molinos

ERSTER
TEIL

9
ERSTER TEIL

VON DER DUNKELHEIT, DÜRRE UND DEN VERSUCHUNGEN,WODURCH


GOTT DIE SEELE REINIGT UND VON DER INNERLICHEN SAMMLUNG

10
Miguel de Molinos

Damit Gott in der Seele ruhen kann, muß das Gemüt in allem
Ungemach, Versuchungen und Leiden in Ruhe erhalten werden.

1 Du sollst wissen, daß deine Seele das Zentrum, die Wohnung und das Königreich Gottes
ist. Damit nun der Beherrscher dieses Reiches auf dem Throne deiner Seele ruhen kann, soll-
test du dich bemühen, denselben rein, ruhig, leer und friedvoll zu erhalten; rein von Schuld
und Fehlern, ruhig vor Befürchtungen, leer von Leidenschaften, Begierden, Vorstellungen
und friedvoll in Versuchungen und Trübsalen.

2 Du sollst dein Herz daher stets in Frieden erhalten, damit der Tempel Gottes rein bleibt
und sollst mit einem rechten und reinen Vorsatz arbeiten, beten, gehorchen und dulden,
ohne im mindesten beunruhigt zu werden, bei allein, was Gott gefällt, dir zu schicken. Denn
sicherlich wird Gott dem neidischen Erzfeind zulassen, die Stadt des Friedens und den Thron
der Seele durch Versuchungen, Einflüsterungen und Beschwerden zu beunruhigen, vermit-
telst der Kreaturen, durch quälende Sorgen, kränkende Verfolgungen usw. Sei standhaft und
gefaßten Sinnes, was für Pein solche Leiden dir auch bereiten mögen. Unterziehe dich ihr
willig, damit du sie zu überwinden vermagst, denn die göttliche Kraft ist in ihr verborgen,
welche dich verteidigt, beschützt und für dich kämpft. Wenn jemand eine sichere Burg be-
sitzt, so ist er nicht beunruhigt, obgleich ihm seine Feinde nachstellen, weil deren Absichten
vereitelt werden, da er sich ja in die Burg zurückziehen kann. Die starke Festung, welche dich
über alle deine sichtbaren und unsichtbaren Feinde, wie über deren Ränke und Kränkungen
triumphieren lassen wird, befindet sich in deiner eigenen Seele, weil in ihr die göttliche Hil-
fe und des Herrn Beistand wohnt. Ziehe dich in sie zurück und alles wird ruhig, sicher und
friedevoll sein.

3 Es sollte dein vornehmstes und unausgesetztes Bestreben sein, jenen Thron deines Her-
zens zu beruhigen, damit der höchste Herrscher darauf verweilen kann. Der Weg dazu wird
sein, in dich selbst, durch innerliche Sammlung, einzukehren; dein ganzer Schutz soll das
Gebet und eine liebreiche Sammlung in der göttlichen Gegenwart sein. Wenn du dich hef-
tiger angegriffen siehst, ziehe dich in jene Region des Friedens zurück, wo du die Festung
finden wirst. Wenn du dich schwächer fühlst, nimm deine Zuflucht zum Gebet, der einzigen
Waffe zur Überwindung des Feindes und zur Linderung der Trübsal. Du solltest im Sturm
nicht fern von ihm sein, damit du, ein zweiter Noah, Ruhe, Sicherheit und Klarheit erfahren
kannst, und damit dein Wille gelassen, ergeben, friedfertig und mutig zu werden vermag.

4 Sei endlich nicht bekümmert noch entmutigt, wenn du dich kleinmütig siehst. Er kehrt
wieder zu dir zurück, um dich zu besänftigen, damit er dich aufs neue bewegen (anfeuern)
kann, weil der göttliche Herr mit dir allein sein will, um in deiner Seele zu ruhen und darin
einen reichen Thron des Friedens zu errichten, damit du in deinem eigenen Herzen, vermöge
innerlicher Sammlung und durch seine himmlische Gnade,

11
ERSTER TEIL

nach Stille in Erregung, Einsamkeit in Gesellschaft, Licht in Dunkelheit, Vergessenheit in Be-


drückungen, Stärke in Verzagtheit, Mut in Furcht, Kraft in Versuchung, Friede im Streit und
Ruhe in Trübsal ausblicken kannst.

Wenn sich die Seele auch von der eigenen Verstandestätigkeit ledig fühlt, sollte sie doch im
Gebet ausharren und nicht bekümmert sein, weil dies ein größeres Glück für sie ist

1 Du wirst dich, gleich allen anderen Seelen, welche vom Herrn zu dem inneren Wege beru-
fen sind, voll Verwirrung und Zweifel finden, weil du im Gebet der Unzulänglichkeit deiner
Verstandeskraft gewahr geworden bist. Es wird dir scheinen, daß Gott dir nicht mehr wie
früher beisteht, daß die Ausübung des Gebets nicht in deiner Macht steht; daß du lange
säumst, bevor du mühsam und mit vieler Schwierigkeit ein einziges kurzes Gebet, wie du
gewohnt, sprechen kannst.

2 Dieser Mangel, dich in verstandesmäßiger Überlegung zu ergehen, wird in dir große Ver-
wirrung und Unruhe hervorbringen: Und wenn du in solch bedenklicher Lage nicht einen
geistlichen Vater hast, der erfahren ist auf dem mystischen Wege, wirst du gewiß glauben,
daß deine Seele in Unordnung sei und du zum Schutze deines Gewissens einer Beichte be-
dürfest. Damit erreichst du aber nichts als Scham und Bestürzung. Ach, wieviele Seelen sind
zu dem inneren Wege berufen, und werden durch die geistlichen Väter, aus Mangel an Ver-
ständnis, auf ihrer Bahn gehemmt und ins Verderben geführt, anstatt von ihnen geleitet und
vorwärts gebracht zu werden! Um nicht abfällig zu werden, wenn du im Gebete des eigenen
Denkens und Erwägens ermangelst, solltest du davon überzeugt sein, daß dies dein größ-
tes Glück ist, weil es klar bezeugt, daß der Herr dich durch Glauben und Stillschweigen in
seine göttliche Gegenwart kommen lassen will, was der nützlichste und leichteste Pfad ist.
Bedenke doch, daß die Seele mit einfältigem Hinschauen oder innigem (liebevollem) Auf-
horchen auf Gott, gleich einem demütigen Bittsteller vor ihrem Herrn erscheint, oder wie
ein unschuldiges Kind, welches sich an den süßen und sicheren Busen seiner treuen Mutter
wirft. Gerson drückte dies so aus: "Obgleich ich 40 Jahre mit Lesen und im Gebet verbracht
habe, konnte ich doch niemals etwas Wirksameres noch Kürzeres ausfindig machen, um zur
mystischen Theologie (Theosophie) zu gelangen, als daß unser Geist in Gottes Gegenwart
gleich einem kleinen Kinde oder einem Bettler werden sollte."

12
Miguel de Molinos

3 Diese Art zu beten ist nicht allein die leichteste, sondern auch die sicherste, weil sie von
der Tätigkeit der Vorstellung, welche immerdar den Fallstricken des Bösen ausgesetzt ist,
sowie von den Übertreibungen der Schwermut und Grübelei, worin sich die Seele leicht ver-
fängt und (in Spekulation vertieft) über sich selbst nachbrütet, entbunden ist. Als es Gott
gefiel, seinen Feldherrn Moses (2. Mose Kap. 24) zu unterweisen, und ihm die zwei in Stein
geschriebenen Gesetzestafeln zu übergeben, berief er ihn auf den Berg, welcher zu der Zeit,
da Gott mit Moses dort verweilte, verfinstert und mit dicken Wolken umhüllt war. Nachdem
Moses sieben Tage hindurch, ohne zu wissen was er denken und sprechen sollte, untätig
gewartet hatte, befahl ihm Gott, auf den Gipfel des Berges hinaufzusteigen, wo er ihm Seine
Herrlichkeit enthüllte und reichen Trost spendete.

4 So läßt Gott, wenn er nach einer außergewöhnlichen Leitung, die Seele in die Schule der
göttlichen und liebevollen Belehrung über das innere Leben einführen will, die se in Dunkel-
heit und Dürre wandeln, damit Er sie näher zu sich heraufzuziehen vermag. Denn die gött-
liche Herrlichkeit weiß sehr wohl, daß eine Seele nicht durch eigene Entschließung zu Ihm
empordringt, sondern durch ruhige und demütige Ergebung. Der Patriarch Noah gab hierfür
ein bedeutsames Beispiel. Er wurde von allen Menschen als Narr angesehen, weil er inmitten
des tosenden Meeres, welches die ganze Erde überflutete, ohne Segel und Ruder schwamm.
Von wilden Tieren umgeben, welche in der Arche eingeschlossen waren, zog er durch seinen
Glauben allein hinaus, ohne zu wissen, was Gott mit ihm zu tun gefallen würde.

5 Was dir vor allem frommt, o freigewordene Seele, das ist Standhaftigkeit, nicht abzulassen
vom begonnenen Gebet, obgleich du dabei dein eigenes Denken beherrschen mußt. Verharre
in festem Glauben und heiligem Frieden, deinem Ich mit all seinen natürlichen Bestrebungen
absterbend, im Vertrauen, daß Gott, welcher unveränderlich derselbe bleibt, niemals irren
kann und nur dein Bestes im Auge hat. Es ist klar, daß derjenige, welcher sich selbst abstirbt,
dies notwendigerweise schmerzlich empfinden muß. Aber wie wohl ist die Zeit angewendet
worden, wenn die Seele tot, stumm und ergeben in Gottes Gegenwart ist, um ohne Unruhe
und Zerstreutheit die himmlischen Eingebungen zu empfangen. Die Sinne sind für die gött-
lichen Gnadengaben nicht empfänglich; willst du daher weise und glücklich sein, so sei still
und beständig, glaube und dulde, und schreite vertrauensvoll vorwärts. Es ist dir weit besser,
Frieden zu halten und dich von Gottes Hand führen zu lassen, als dich aller Güter dieser Welt
zu erfreuen. Und ob es dir gleich scheinen mag, als ob du bei alledem nichts tust und müßig
bist, so ist dies doch von unendlichem Nutzen. Schaue das blinde Tier an, welches das Rad
der Mühle dreht, wie es, ohne zu sehen oder zu wissen was es tut, doch ein nützliches Werk
mit dem Mahlen des Kornes verrichtet. Wenn es auch nicht davon kostet, so empfängt doch
sein Herr die Frucht und genießt von ihr. Wer sollte, während der langen Zeit, da der Same in
der Erde schlummert, nicht glauben, daß derselbe zugrunde gegangen sei? Und doch sieht
man die Saat nachher aufgehen, wachsen und sich vermehren.

13
ERSTER TEIL

Das gleiche läßt Gott mit der Seele geschehen, wenn er ihr das eigene, überlegende Denken
nimmt. Während sie glaubt, müßig und gleichsam vernichtet zu sein, kommt sie nach gewis-
ser Zeit wieder zu sich selbst, veredelt, frei und vollkommen, ohne jemals auf eine so große
Gnadengunst gefasst gewesen zu sein.

6 Hüte dich darum, dich selbst zu quälen oder abfällig zu werden, wenn du durch dein ei-
genes Denken dich im Gebete nicht emporschwingen kannst. Dulde, bleibe ruhig und ergib
dich in Gottes Gegenwart. Harre standhaft aus und vertraue auf Seine unendliche Güte, wel-
che dir stetigen Glauben, wahre Erleuchtung und himmlische Gnade zu verleihen vermag.
Wandle, gleich als ob deine Augen verbunden wären, ohne zu denken und zu überlegen. Gib
dich in Seine gütigen, väterlichen Hände, mit dem festen Vorsatz, nichts zu tun, was nicht
nach Seinem göttlichen Willen und Gefallen ist.

Fortsetzung des Vorhergehenden

1 Es ist die gemeinsame Überzeugung aller heiligen Männer, welche über den Geist und alle
anderen mystischen Gegenstände geschrieben haben, daß die, Seele vermittelst der Betrach-
tung und Verstandestätigkeit nicht zur Vollkommenheit und Vereinigung mit Gott gelangen
kann, weil diese nur am Anfange des geistigen Weges förderlich sind, um einen gewissen
Grad von Kenntnis über die Schönheit der Tugend und die Häßlichkeit des Lasters gewinnen
zu können. Dieses Wissen kann nach der Meinung der heiligen Theresa innerhalb 6 Mona-
ten, und gemäß des heiligen Bonaventura in 2 Monaten erworben werden. Ach wie bedau-
ernswert sind in dieser Beziehung unendlich viele Seelen, welche von Beginn bis zum Ende
ihres Lebens mit bloßem Nachgrübeln beschäftigt sind, und sich ganz auf ihren Verstand
beschränken; und das obwohl der allmächtige Gott sie des eigenen Denkens beraubt, um
sie zu einem anderen Zustand zu erheben und zu einer vollkommeneren Art der Anbetung
heimzuführen. Sie aber bleiben viele Jahre unvollkommen und bleiben im Anfang stecken,
oder kommen nur einen Schritt auf dem Wege des Geistes voran. Sie quälen ihren Verstand
mit dem Suchen nach Örtlichkeit und Zeit, mit Einbildungen und angestrengten Erwägun-
gen, indem sie Gott, welcher doch in ihnen selbst wohnt, stets außerhalb suchen.

2 Darüber beklagte sich der heilige Augustinus, als ihn Gott auf den mystischen Weg brachte,
indem er zu der göttlichen Allmacht sprach: "Umherirrend wie ein verlaufenes Schaf, suchte
ich Dich, o Herr, während Du in mir selbst weiltest. Ich mühte mich ab, außen nach dir zu
suchen, und doch hast Du deine Wohnung in mir, wenn ich nach Dir verlange und an Dich
denke. Ich wanderte durch die Straßen und Plätze dieser Welt, um Dich zu suchen, und fand
Dich nicht, weil ich vergebens draußen nach Ihm forschte, der doch in meinem Inneren war."

14
Miguel de Molinos

3 Der Doktor Angelicus, St.Thomas, mag (ungeachtet seiner bedeutsamen Schreibweise)


doch derjenigen zu spotten scheinen, welche mittels Vernunftsschlüssen immer außen
nach Gott forschen, während Er doch in ihnen selbst gegenwärtig ist. Dieser Heilige sagt: "Es
herrscht eine große Blindheit und maßlose Torheit in jenen, welche unablässig Gott suchen,
fortwährend nach Gott seufzen und Gott täglich im Gebet anrufen, während sie (nach den
Worten des Apostels) selbst der lebendige Tempel Gottes und seine wahre Wohnung sind, da
in ihrer Seele der Sitz und Thron des Höchsten sich befindet, wo Er immerwährend verweilt.
Wer anders als ein Narr wird daher nach einem Werkzeug draußen suchen, welches er sich
erinnert, im Hause selbst eingeschlossen zu haben? Oder wer kann sich an der begehrten
Nahrung erquicken, ohne von ihr zu kosten: Geradeso ist das Leben von einigen tugendhaf-
ten Männern, welche immer forschen und sich des Besitzes niemals wirklich erfreuen. Des-
halb ist all ihr Tun unvollkommen."

4 Es ist gewiß, daß unser Herr Jesus Christus die Vollkommenheit allen lehrte, und alle zur
Vollkommenheit gelangen lassen will, besonders die Unwissenden und Einfältigen. Diese
Wahrheit bezeugte Er dadurch deutlich, daß Er zu seinen Aposteln geringe und unwissende
erwählte, indem Er zu seinem ewigen Vater sagte: "Ich danke dir, o Vater, Herr des Himmels
und der Erde, daß du diese Dinge vor den Weisen und Klugen verborgen und den Kindern
offenbart hast."

5 Es ist gewiß, daß diese, wenn sie auch nicht durch scharfsinnige Überlegungen und spitz-
findige Untersuchungen zur Vollkommenheit gelangen können, doch ebenso wohl wie die
gelehrtesten Männer fähig sind, diese zu erwerben und zwar durch Eingabe ihres Willens,
worin sie hauptsächlich besteht. Der heilige Bonaventura belehrt uns, keine Vorstellungen
von irgendetwas zu bilden, auch nicht von Gott, weil es Unvollkommenheit ist, Darstellun-
gen, Bilder und Ideen, wie fein und geistreich sie auch immer seien, entweder von dem Wil-
len, der Güte oder von der Dreieinigkeit und Einheit zu machen; ja sogar von dem göttlichen
Geiste selbst - in Rücksicht darauf, daß alle diese Sinnbilder, obgleich sie Gott ähnlich er-
scheinen, doch nicht Gott sind, welcher über jedes Bild und Gleichnis erhaben ist. Weiter
sagt der Heilige: "Wir dürfen hier nicht an etwas Erschaffenes oder Himmlisches noch auch
Göttliches denken, weil diese Weisheit und Vollkommenheit nicht durch feines und zielbe-
wußtes Forschen, sondern nur durch die Sehnsucht und Hingabe des Willens erlangt werden
kann." Der heilige Mann kann nicht klarer sprechen; und würdest du dich beunruhigen und
vom Gebet ablassen, weil du nicht weißt oder nicht zu sagen vermagst, wie du dich darin
emporschwingen kannst, obgleich du einen guten Willen, starkes Verlangen und eine reine
Absicht hast? Wenn die jungen Raben, welche von den Alten verlassen worden sind (weil
diese, da sie keine schwarzen Federn an ihnen sahen, sie für unecht hielten), von dem Tau
des Himmels ernährt werden, damit sie nicht zugrunde gehen; was wird Er tun, um Seelen
zu erlösen, obgleich sie nicht sprechen und denken können, wenn sie nur glauben, vertrauen
und ihr Antlitz zum Himmel emporwenden, um ihre Wünsche zu verkünden? Ist es nicht
gewisser, daß Gottes Güte für sie sorgen und ihnen die notwendige Speise geben wird?

15
ERSTER TEIL

6 Es ist offenbar ein großes Martyrium und keine geringe Prüfung des Herrn für die See-
le, welche sich der früheren Sinnesfreuden beraubt findet, mit innigem Glauben allein, die
dunklen und verlassenen Pfade der Vollkommenheit zu wandeln, welche sie nichtsdestowe-
niger niemals anders, als durch diese schmerzvollen aber sicheren Mittel erreichen kann.
- Deshalb bemühe dich, standhaft zu sein und nicht abfällig zu werden, obgleich du des eige-
nen Denkens im Gebet ermangelst. So glaube zu dieser Zeit fest, sei sanft und gelassen, und
harre geduldig aus, wenn du wünschest glücklich zu sein und zu der göttlichen Vereinigung,
erhabenen Ruhe und zum höchsten innerlichen Frieden zu gelangen.

Die Seele möge sich nicht bekümmern, noch ihre Andacht


unterbrechen, weil sie eine innere Leere empfindet

1 Wisse, daß es zwei Arten von Gebet gibt; die eine zart, angenehm, köstlich und voller Emp-
findung, die andere düster, trocken, öde, rauh und trübe. Die erste ist die der Anfänger, die
zweite diejenige der Fortgeschrittenen, welche der Vollkommenheit entgegengehen. Gott
gibt die erste, um Seelen zu gewinnen, die zweite, um sie zu läutern. Mit der ersten behan-
delt Er sie gleich Kindern, mit der zweiten beginnt er mit ihnen wie mit starken Männern
umzugehen.

2 Der erste Weg kann als das sinnliche Leben betrachtet werden, und gehört zu jenen, wel-
che den Pfad der gefühlten Hingebung wandeln, die Gott den Anfängern zu verleihen pflegt,
damit sie, erfüllt mit einem kleinen Vorgeschmack (wie der natürliche Mensch mit dem fühl-
baren Gegenstand), sich selbst dem geistigen Leben widmen mögen. Die zweite wird das
Leben des Menschen genannt und bezieht sich auf jene Menschen, welche gleichgültig gegen
sinnliche Genüsse, ihre eigenen Leidenschaften bekämpfen, damit sie sich Vollkommenheit,
das wahre Ziel des Menschen, zu erringen vermögen.

3 Sei überzeugt, daß die innere Trockenheit und Leere das Mittel zu deiner Glückseligkeit ist,
weit sie nichts anderes als ein Mangel an Empfindlichkeit ist. Denn der Mangel an Empfind-
lichkeit tut dem Aufschwung fast aller geistig strebenden Menschen Einhalt, und verleitet sie
sogar, abfällig zu werden und vom Gebet abzulassen, wie an vielen Seelen, welche nur aus-
harren, solange sie merkliche Tröstung fühlen, gesehen werden kann. Wisse, daß der Herr
sich des Schleiers der Gefühllosigkeit bedient, um nur Sein inneres Wirken nicht wahrneh-
men zu lassen, damit wir demutsvoll bleiben; weil sich, wenn wir fühlten und wüßten, was
Er in unseren Seelen schafft, Genügsamkeit und Eigendünkel in uns einschleichen würden,
indem wir uns einbildeten, irgend ein gutes Werk zu vollbringen und uns Gott sehr nahe
glauben würden, was unser Verderben wäre.

16
Miguel de Molinos

4 Präge dir als einen festen Grund in dein Herz ein, daß, um den inneren Weg zu beschreiten,
zuerst alle Empfindlichkeit ausgetilgt werden muß. Das Mittel, welches Gott hiezu anwen-
det, ist die innere Empfindungslosigkeit. Dadurch nimmt Er auch die Fähigkeit der Seele
hinweg, ihre inneren Vorgänge zu beobachten. Denn das ist etwas, das ihre Fortschritte ver-
sperrt und Gott daran hindert, sich ihr mitzuteilen und in ihr zu wirken. Du solltest dich
deshalb nicht betrüben noch glauben, daß du keine Früchte einerntest, wenn du nach einer
Kommunion oder Andacht nicht viele Empfindungen in deiner Seele wahrnimmst. Denn es
ist dies eine offenbare Täuschung. Der Ackermann sät zu seiner Zeit und erntet in einer an-
dern. So wird dir Gott bei Gelegenheit und zu Seiner eigenen, Ihm passenden Zeit beistehen,
Versuchungen zu widerstehen und dir, wenn du es am wenigsten denkst, heilige Vorsätze
und wirksame Wünsche für Seinen Dienst geben.

5 Damit du dich nicht durch die heftige Einflüsterung des Feindes verführen lässest, welcher
dich neidvoll zu überreden sucht, nichts zu tun, und Zeit zu vergeuden, und das Gebet zu
vernachlässigen, will ich dir einige von den unendlichen Früchten vor Augen führen, welche
deine Seele aus jener großen inneren Leere erntet:

1. Das erste ist, im Gebet auszuharren, von welcher Frucht viele andere Vorteile entspringen.
2. Du wirst einen Ekel an weltlichen Dingen empfinden, welcher sich allmählich auf die Ertötung
der üblen Begierden des früheren Lebens richtet, und andere neue Wünsche zum Dienste Gottes
erzeugt.
3. Du wirst über viele Fehler nachdenken, an die du früher nicht gedacht hast.
4. Du wirst, im Begriff etwas Böses zu tun, einen Widerwillen in deinem Herzen empfinden, wel-
cher dich von der Ausführung desselben und zu anderer Zeit von Sprechen, Klagen und Rachgier
zurückhält. Dies wird dich von einigen irdischen Genüssen abziehen, oder von dieser und jener
Gelegenheit und Unterhaltung, der du dich früher arglos, unbedenklich und ohne die geringsten
Gewissensbisse hingegeben hast.
5. Wenn du durch Schwachheit in einen leichten Fehler verfallen bist, wirst du einen Tadel darü-
ber in deiner Seele empfinden, welcher dich außerordentlich bekümmern wird.
6. Du wirst in dir den Wunsch fühlen, zu dulden und Gottes Willen zu tun.
7. Du erhältst ein Gefallen an der Tugend, größere Leichtigkeit in der Selbstüberwindung, Be-
herrschung der Leidenschaften und der auf deiner Bahn dich hindernden Feinde.
8. Du wirst dich besser von welcher erkennen lernen und voller Scham über deine eigene Unvoll-
kommenheit, eine hohe Ehrfurcht vor Gott in dir fühlen. Auch eine Geringschätzung der Kreatu-
ren, und einen festen Entschluß, nicht vom Gebet abzulassen, obgleich du weißt, daß es dir ein
sehr qualvolles Martyrium bereitet.
9. Du wirst in deiner Seele einen größeren Frieden gewahren, Liebe zur Demut, Vertrauen auf
Gott, Selbstverleugnung und Absonderung von alten geschaffenen Wesen. Schließlich wirst du
erkennen, daß die Sünden, welche du nun unterlassen kannst, ebenso viele Kennzeichen sind,
daß der Herr in deiner Seele (obgleich du es nicht weißt) vermittelst des empfindungslosen Ge-
bets wirkt; wenn du es auch nicht fühlst während dem Gebet. Du wirst es aber dann erfahren,
wenn Er es für gut hält.
17
ERSTER TEIL

6 Alle diese und viele andere Früchte entspringen aus dem Gebet, welches du aufgeben
möchtest, weil es dir nicht fruchtbringend zu sein scheint, und du keinen Vorteil daraus er-
wachsen siehst. Sei standhaft und harre geduldig aus, denn deine Seele hat dadurch lauter
Gewinne, wenn du es gleich nicht weißt.

7 Es soll nicht gesagt werden, daß die Seele träge ist, wenn der Heilige Geist in ihr wirksam
ist, auch wenn sie nicht tätig eingreift. Überdies ist sie nicht ganz untätig, indem sie wirkt,
obgleich nur geistig, voller Einfalt und Innigkeit. Denn auf Gott zu hören, sich Ihm zu nä-
hern, Seinen inneren Weisungen zu folgen, seine göttlichen Einflüsse in sich aufzunehmen,
Ihn in seinem eigenen inneren Zentrum anzubeten, mit frommer Hingabe des Willens Ihn
zu verehren, so vielerlei phantastische Einbildungen beiseite zu werfen und mit Milde und
Verachtung so viele Versuchungen zu überwinden; all dies, sage ich, sind wahre Handlungen,
obgleich einfach, ganz geistig und gewissermaßen unwahrnehmbar, durch die große Ruhe,
mit welcher sie die Seele ausübt.

Die Seele darf nicht unruhig werden, wenn sie sich von Finsternis umfangen sieht, weil dies
ein Mittel zu ihrer größeren Glückseligkeit ist

1 Es gibt zwei Arten von Finsternisse - die einen sind Glück, die andern zum Unglück. Die
ersten sind solche, welche aus der Sünde entstehen und Unheil bringen, weil sie die Seele
zu einem ewigen Abgrunde führen. Die zweiten sind diejenigen, welchen der Herr gestattet
in die Seele einzudringen, um in ihr die Tugend zu begründen und zu entwickeln; und diese
sind glückbringend, weil sie die Seele erleuchten, stärken und ihr höhere Erleuchtung brin-
gen. Du solltest dich deshalb nicht bekümmern und ängstigen, noch trostlos sein, daß du
dich von Dunkelheit umgeben findest, in der Meinung, daß Gott dich verlassen habe, weil
du das Licht, welches du früher empfunden, nicht mehr findest. Du solltest vielmehr gerade
jetzt beständig im Gebet verharren, da es ein deutliches Zeichen ist, daß Gottes unendliche
Barmherzigkeit dich auf den inneren Pfad und den segensreichen Weg zum Paradiese zu
führen sucht. O wie glücklich wirst du sein, wenn du die Dunkelheit mit Frieden und Erge-
benheit aufnimmst. Denn sie ist das Mittel, um zu einem stetigen, vollkommenen, wahren
Licht und zu allem geistigen Gut zu gelangen.

2 Wisse denn, daß der geradeste, beste und sicherste Weg für Fortgeschrittene der Pfad der
Finsternis ist, weil der Herr Seinen Thron in ihr aufrichtete, wie geschrieben steht: Und di-
cke, schwarze Wolken umhüllten den Ort, wo Er sich verborgen hatte (Ps.18,12). Denn durch
Dunkelheit flammt das übernatürliche Licht, welches Gott in der Seele entzündet, empor
und vergrößert sich.

18
Miguel de Molinos

In der Dunkelheit werden Weisheit und Liebe geboren; In ihr wird die Seele vernichtet und
werden die Elemente verzehrt, welche die richtige Anschauung der göttlichen Wahrheit hin-
dern. Auf diese Weise führt Gott die Seele durch den inneren Weg zum Gebete innerer Ruhe
und vollkommener Beschaulichkeit, von welcher so wenige Erfahrung erlangt haben. End-
lich läutert Gott durch Finsternis die Sinne und das Gefühl, welche den mystischen Fort-
schritt verhindern.

3 Siehe jetzt, ob die Finsternis nicht schätzenswert und aufnahmewürdig ist. In ihr soll-
test du glauben, vor dem Herrn in Seiner heiligen Gegenwart zu stehen. Aber du solltest
es mit sanfter und stiller Aufmerksamkeit tun, und nicht nach Feinheiten, Zärtlichkeiten
oder sinnlichen Andachtsübungen suchen, noch irgendetwas tun, was nicht nach Gottes
Willen und Gefallen ist. Andernfalls würdest du dich während deines ganzen Lebens nur
im Kreise herum bewegen und keinen Schritt zur Erreichung der Vollkommenheit tun

Damit die Seele den höchsten inneren Frieden erlangen kann, ist es nötig, daß Gott sie nach
Seiner Art läutert, weil die Übungen und Kasteiungen, welche sie aus eigener Kraft
vornimmt, nicht genügend sind

1 Sobald du dir fest vornimmst, deine äußeren Sinne zu ertöten, damit du dich zu dem erha-
benen Reiche der Vollendung und Vereinigung mit Gott emporschwingen kannst, wird die
göttliche Allmacht zur Läuterung deiner üblen Neigungen, unbeherrschten Begierden, eitler
Genussucht, Selbstliebe, Stolz und anderen verborgenen Lastern- schreiten, welche du nicht
kennst, die aber doch im Innern deiner Seele wohnen und die göttliche Vereinigung verhin-
dern.

2 Du wirst niemals zu diesem glücklichen Zustande gelangen, wenn du dich auch mit äußer-
lichen Taten der Abtötung und Entsagung abquälst, bis dein Herr dich innerlich reinigt und
dich auf Seine eigene Weise erzieht, weil Er allein weiß, wie die verborgenen Untugenden
auszurotten sind. Wenn du standhaft ausharrst, wird Er dich nicht allein von der Liebe und
Anhänglichkeit an natürliche und zeitliche Güter befreien, sondern dich zu Seiner Zeit auch
läutern von den übernatürlichen und erhabenen Gütern, als da sind innerliche Mitteilungen,
Verzückungen, Begeisterung und andere von Gott verliehene Gnadengaben, damit die Seele
zur Ruhe und Freude gelangen kann.

3 Dieses alles wird der Herr durch das Kreuz und die innere Leerheit in deiner Seele bewir-
ken, wenn du durch freiwillige Übergabe deine Zustimmung zu erkennen gibst, diesen dun-
keln und öden Pfad zu beschreiten. Doch darfst du dabei nichts aus deinem eigenen Willen
tun. Die Unterwerfung deiner Freiheit ist es, was du vollbringen solltest, daß du eine stille
Selbstverleugnung in allen Dingen übst.

19
ERSTER TEIL

Dadurch wird es der Herr für gut halten, dich innerlich und äußerlich absterben zu lassen,
weil dies das einzige Mittel ist, durch welches die Seele für die göttlichen Einflüsse empfäng-
lich werden kann. Also hast du die inneren und äußeren Trübsale mit Demut, Geduld und
Ruhe zu erdulden, und brauchst dir keine Bußübungen, Geißelungen und Qualen selber auf-
zulegen.

4 Der Ackersmann legt größeren Wert auf die Pflanzen, welche er in den Boden sät, als auf
die, welche von selbst aus ihm hervorsprossen, weil diese niemals rechtzeitig zur Reife kom-
men. In gleicher Weise hat Gott größeres Gefallen an der Tugend, welche Er in die Seele
einsät (während sie in stillem Frieden in ihrem eigenen Nichts ruht, zurückgezogen in ihr
innerstes Wesen und ohne jeden eigenen Willen), als an allen andern Vorzügen, welche die
Seele durch ihre eigene Wahl und Bemühungen zu erwerben vorgibt.

5 Es ist deshalb nur deine Aufgabe, dein Herz gleich einem reinen Papier bereitzuhalten,
damit die göttliche Weisheit Schriftzeichen nach ihrem eigenen Belieben darauf schreiben
kann.

6 O welch große Arbeit wird es für deine Seele sein, ganze Stunden im Gebet zu verbringen,
stumm, entsagend und demütig, ohne daß du selbst irgendetwas zu tun, zu wissen und zu
verstehen suchst.

Fortsetzung des Vorhergehenden

1 Nachdem du deine Zustimmung gegeben hast, so wirst du auf andere Weise als bisher
damit beginnen, das geheime und göttliche Wirken in dich aufzunehmen, um vom Herrn
geläutert und gesäubert zu werden. Das ist das einzige Mittel, wodurch du von deiner Un-
wissenheit und Zerfahrenheit rein und frei zu werden vermagst. Wisse jedoch, daß du in ein
bitteres Meer von Kümmernissen, von innerlicher und äußerlicher Pein, getaucht werden
wirst. Es sind Qualen, welche in die innersten Teile deiner Seele und deines Körpers eindrin-
gen werden.

2 Du wirst die Erfahrung machen, daß die Kreaturen dich verlassen, ja sogar jene, von wel-
chen du ein besonderes Wohlwollen und Mitgefühl in deinen Nöten erhofftest. Die Bäche
deiner Verstandesfähigkeiten werden so ausgetrocknet sein, daß du nicht imstande sein
wirst, irgendeinen Denkprozeß zu vollziehen. Es wird dir nicht einmal soviel übrigbleiben,
um einen guten Gedanken von Gott zu fassen. Der Himmel wird dir wie von Erz erscheinen,
und kein Licht wirst du von ihm empfangen. Doch wird dich der Gedanke trösten, daß in
früherer Zeit in deiner Seele viel Licht und frommer Trost geleuchtet hat.

20
Miguel de Molinos

3 Die unsichtbaren Feinde werden dich mit Skrupeln, lüsternen Eingebungen und unlaute-
ren Gedanken verfolgen, mit Verlockungen zur Ungeduld, Stolz, Zorn, Fluchen und Läste-
rung des Namens Gottes, Seiner Sakramente und der heiligen Mysterien. Du wirst eine große
Lauheit, Überdruß und Widerwillen gegen göttliche Dinge empfinden; eine Dumpfheit und
Dunkelheit in deinem Verstande, einen Kleinmut, Verwirrung und Erregung- des Herzens,
ja eine Kälte und Lässigkeit des Willens, Widerstand zu leisten, daß ein Strohhalm dir wie
ein Balken vorkommen wird. Deine Verlassenheit wird so groß sein, daß du glauben wirst,
es gäbe keinen Gott mehr für dich und es sei dir unmöglich gemacht, einen guten Wunsch
zu hegen. Du wirst dahinschreiten wie von zwei Wänden eingeschlossen, in fortwährender
Angst und Not, ohne einen Hoffnungsschimmer, jemals aus solch einer schrecklichen Be-
drängnis herauszukommen.

4 Sei jedoch ohne Furcht, da all dies notwendig ist, um deine Seele zu reinigen. Sie muß nicht
nur ihr eigenes Elend erkennen, sondern auch die Vernichtung aller Leidenschaften und un-
beherrschten Begierden empfinden, deren sie sich ehedem erfreute. Willst du nicht endlich
den Jonas der Sinnlichkeit in das Meer werfen, damit dich der Herr nach Seiner eigenen Wei-
se durch diese inneren Qualen zu veredeln und zu läutern vermag? Mit allen deinen äußerli-
chen Kasteiungen und Abtötungen wirst du niemals wahre Erleuchtung erlangen, noch der
Vollkommenheit um einen Schritt näher kommen. Du wirst im Anfang stillstehen, und deine
Seele kann nicht zu der lieblichen Ruhe und dem höchsten innerlichen Frieden eingehen.

Die Seele soll nicht unruhig werden oder sich von dem geistigen
Wege abwenden, weil sie von Versuchungen bestürmt wird

1 Unsere eigene Natur ist so verderbt, stolz und ehrsüchtig, so voll von ihren eigenen Lüsten
und Meinungen, daß sie ohne Rettung verloren sein würde, wenn Versuchungen sie nicht in
Schranken hielten. Der Herr, durch den Anblick unseres Elends und unserer verdorbenen
Neigungen von Mitgefühl bewegt, läßt uns daher von vielerlei Gedanken gegen den Glauben,
verabscheuungswürdigen Versuchungen, heftigen und qualvollen Verlockungen, durch Un-
geduld, Stolz, Völlerei, Prunksucht, Zorn, Lästerung, Fluchen, Mutlosigkeit und eine unen
liche Anzahl anderer Sünden befallen, um uns Selbsterkenntnis und Demut zu lehren. Durch
solche schreckliche Verführungen demütigt die unendliche Güte unseren Hochmut, und gibt
uns in ihnen die heilsamste Arznei.

21
ERSTER TEIL

2 Durch die Befleckung der Eitelkeit, des Eigendünkels und der Selbstliebe ist all unsere Ge-
rechtigkeit wie ein unflätig Kleid (Jes. 64, 6). Es ist nötig, daß sie durch das Feuer der Trübsal
und Versuchung gereinigt wird, um rein, lauter, vollkommen und den Augen Gottes ange-
nehm zu werden. Deshalb säubert der Herr die Seele, welche Er beruft und für Sich haben
will, mit der rauhen Feile der Versuchung, wodurch Er sie von dem Roste des Stolzes, der
Habsucht, Eitelkeit, des Ehrgeizes und Eigendünkels reinigt. Mit ihr demütigt, besänftigt
und lehrt Er sie, ihre eigene Unvollkommenheit zu erkennen. Durch sie läutert und entklei-
det Er das Herz, damit alle seine Funktionen rein und von unschätzbarem Werte sein mögen.

3 Viele Seelen, welche diese schmerzhaften Qualen erdulden, geraten dadurch in Verwir-
rung, Betrübnis und Unruhe, da es ihnen scheint, als ob sie schon in diesem Leben von der
ewigen Pein betroffen würden. Und wenn sie unglücklicherweise zu einem unerfahrenen
Beichtvater kommen, wird sie dieser (statt zu trösten) in noch größere Angst und Unruhe
versetzen. Um den inneren Frieden nicht zu verlieren, mußt du glauben, daß die Güte der
himmlischen Barmherzigkeit dich in solcher Weise demütigt, betrübt und versucht. Denn
dadurch gelangt deine Seele zu einer tieferen Erkenntnis ihrer selbst und hält sich für die
schlimmste, gottloseste und verabscheuungswürdigste Kreatur, und verabscheut sich daher
selbst in Demut und Niedrigkeit. Oh, wie glücklich würden die Seelen sein, wenn sie sich mit
dem Glauben beruhigen könnten, daß alle diese Versuchungen durch den Teufel veranlaßt
und aus Gottes Hand zu empfangen sind, zu ihrem Wohle und geistigen Nutzen.

4 Darauf wirst du erwidern, daß es nicht des Teufels Werk sei, wenn er dich vermittelst der
Kreaturen peinige, sondern es sei dies auf die Boshaftigkeit deines Nächsten zurückzufüh-
ren, der dir Unrecht tue. Wisse, daß dies eine andere Arglist und verkappte Versuchung ist.
Denn obgleich Gott nicht die Sünde eines andern wünscht, so hat er doch dabei seine ei-
gene Wirksamkeit in dir. Durch die Unruhe, welche dir aus den Untugenden eines andern
erwächst, kannst du durch die segensvolle Eigenschaft der Geduld vollkommener werden.

5 Wird dir von jemand ein Unrecht zugefügt, so ist dabei zweierlei zu unterscheiden: die Sün-
de dessen, der sie tut und die Strafe, welche du damit erleidest. Die Sünde ist gegen Gottes
Willen, und mißfällt Ihm, obgleich Er sie zuläßt. Die Strafe entspricht Seinem Willen und Er
wünscht sie zu deinem Besten. Daher sollst du sie wie aus Seiner Hand empfangen. Das Lei-
den und der Tod unseres Herrn Christus waren die Folgen der Gottlosigkeit und Sünde des
Pilatus; und dennoch ist es unzweifelhaft so, daß Gott den Tod Seines Sohnes um unserer
Erlösung willen wünschte.

6 Beachte wie der Herr zum Besten deiner Seele von den Fehlern eines andern Menschen
Gebrauch macht. O Größe der göttlichen Weisheit! Wer vermöchte die Tiefe der geheimnis-
vollen, außerordentlichen Mittel und all die verhüllten Wege zu ermessen, womit Gott die
Seele leitet, welche Er zu läutern, zu verwandeln und zu vergöttlichen wünscht?

*
22
Miguel de Molinos

Fortsetzung des Vorhergehenden

1 Damit die Seele die Wohnung des himmlischen Königs sein kann, sollte sie rein und ma-
kellos sein. Darum läutert sie der Herr gleich dem Golde im Schmelzofen schrecklicher und
qualvoller Versuchungen. Sicher ist es, daß die Seele niemals stärker in der Liebe, noch auch
fester im Glauben ist, als wenn sie von solchen Versuchungen bedrückt und gepeinigt wird.
Denn die Zweifel und Befürchtungen, welche die Seele befallen, sind Kennzeichen der Liebe.
Die in der Seele verbleibenden Nachwirkungen lassen dies deutlich erkennen. Sie bestehen
gewöhnlich in einem Ekel vor sich selbst, nebst einer ungemein tiefen Anerkennung der grö-
ße und Allmacht Gottes. Auch erwächst daraus eine große Zuversicht auf den Herrn, daß Er
sie aus aller Not und Gefahr befreien werde, sowie ein stärkeres Vertrauen in Seine Stärke,
weil die Seele merkt, daß Er es, ist, welcher ihr die Kraft verleiht, diese Qual der Versuchung
zu ertragen. Denn diese kommt zeitweilig mit einer solchen Gewalt, daß es unmöglich sein
würde, ihr mit eigener Kraft auch nur für eine Viertelstunde Widerstand zu leisten.

2 Wisse daher, daß die Versuchung ein großes Glück für dich ist. Statt daher bekümmert zu
sein, solltest du dich vielmehr freuen, und Gott für die Gnade danken, welche Er dir zuteil
werden läßt. Wenn du aber versucht wirst, so verachte all die hassenswerten Gedanken mit
kalter Gelassenheit. Nichts kränkt den Teufel mehr, als sich vernachlässigt und verac tet zu
sehen. Deshalb sollst du mit ihm so verfahren, als ob du ihn nicht bemerken würdest. Halte
fest an deinem Frieden, ohne Unwillen, ohne hin und her zu überlegen. Denn nichts ist ge-
fährlicher, als sich mit demjenigen in Verhandlungen einzulassen, der darauf ausgeht, uns zu
betrügen.

3 Alle Heiligen, bevor sie zur Vollkommenheit gelangten, mußten durch dieses schmerzvolle
Tal der Versuchung schreiten. Je größere Heilige sie wurden, mit um so größeren Versuchun-
gen hatten sie zu ringen. Ja auch nach Erlangung der Vollkommenheit, läßt sie der Herr noch
von heftigen Versuchungen befallen. Dadurch soll ihre Krone um so glänzender und der Geist
des Hochmuts von ihnen ferngehalten werden. Gott erhält sie auf diese Weise in der Demut
und in der allezeit nötigen Wachsamkeit. Schließlich sollst du wissen, daß die größte Versu-
chung die ist, ohne Versuchung zu sein. Darum sollst du froh sein, wenn sie dich überfällt,
denn so hast du Gelegenheit, ihr mit Ergebung, Ruhe und Standhaftigkeit entgegenzutreten.
Wenn du Gott dienen und zu der erhabenen Region des inneren Friedens gelangen willst,
mußt du den rauhen Pfad der Versuchung wandeln. Du sollst den glückbringenden Harnisch
anlegen, den heftigen, grausamen Krieg durchkämfen, und in dem brennenden Ofen dich
veredeln, reinigen, läutern und erneuern lassen.

23
ERSTER TEIL

Erklärung des Wesens der innerlichen Sammlung und Belehrung der Seele über ihr Verhal-
ten in derselben, sowie den geistigen Streit, wodurch der Teufel sie zu dieser Zeit abzulenken
versucht

1 Innerliche Sammlung ist Glaube und Schweigen in Gottes Gegenwart. Du solltest dich da-
her gewöhnen, in Seiner Gegenwart mit hingebungsvoller Aufmerksamkeit gesammelt zu
sein, gleich einem, der Gott ergeben und mit Ihm verbunden ist. Das soll geschehen in Ver-
ehrung, Demut und Unterwerfung, indem du Ihn in dem innersten Schrein deiner Seele er-
schaust, ohne Form, Gleichnis oder einer besonderen Art und Gestalt. Erschaue Ihn unter
dem Bilde und der allgemeinen Natur eines lebendigen, aufdämmernden und emporleuch-
tenden Glaubensgefühls, ohne irgendwelche Unterscheidung besonderer Eigenschaften und
Merkmale.

2 Da sollst du dann mit Achtsamkeit und innigem Aufhorchen, mit unbewegtem Ernst und
voller Liebe zum Herrn dich aufgeben und dich Ihm übergeben, damit Er nach Wollen und
Gefallen mit dir schalten und walten kann, ohne daß du dabei über dich selbst, noch über
das Ziel der Vollkommenheit nachdenkst. Du sollst hierbei die Sinne verschließen, Gott
mit aller Sorge um deine Wohlfahrt betrauen, und der Angelegenheit dieses Lebens nicht
mehr gedenken. Schließlich soll dein Glaube rein sein, ohne Vorstellung, ohne Einbildung,
schlicht, ohne Grübelei, umfassend, ohne besondere Unterscheidung. Das Gebet der inner-
lichen Sammlung wird gut durch jenes Ringen versinnbildlicht, welches der Patriarch Jakob
die ganze Nacht mit Gott hatte, bis der Tag anbrach und Gott ihn segnete (1. Mose 32, 22-32).
Darum soll die Seele ausharren, und mit den Schwierigkeiten, welche sie in der innerlichen
Sammlung findet, ringen ohne davon abzulassen, bis die Sonne der innerlichen Erleuchtung
emporsteigt und der Herr ihr seinen Segen gibt.

3 Kaum wirst du dich dem Herrn auf diesem innerlichen Wege hingegeben haben, als sich
auch die ganze Hölle gegen dich verschwören wird. Die Hölle führt gegen eine einzelne See-
le, welche in sich selbst gesammelt ist, einen weit hartnäckigeren Krieg, als gegen tausend
andere, welche im Äußeren wandeln; weil der Teufel bei einer solchen Seele unendlich im
Vorteil ist. Während der Zeit der Sammlung, des Friedens und der Ergebung deiner Seele,
wird Gott mehr Gewicht legen auf die mannigfaltigen, ungebührlichen, häßlichen und beun-
ruhigenden Gedanken, welche du in dir hast, als auf die guten Vorsätze und hochstrebenden
Empfindungen.

4 Wisse, daß die Anstrengung, welche du aus eigener Kraft machst, um den üblen Gedanken
zu widerstehen, ein Hindernis ist und deine Seele in noch größere Ängste bringen wird. Das
Beste, was du tun kannst, ist, sie ruhig zu verachten, deine eigene Erbärmlichkeit zu erken-
nen und all dies Ungemach Gott voller Friede zum Opfer zu bringen.

24
Miguel de Molinos

Wenn du auch von der Qual der Gedanken nicht loskommen kannst, wei sie die Schlingen
des Feindes sind. Wenn du kein Licht, keine Tröstung, auch keine geistige Empfindung hast,
so sei doch nicht bekümmert, noch lasse ab von der Sammlung. Opfere dich mit alter Kraft zu
dieser Zeit auf, ertrage mit Geduld und verharre in Seiner Gegenwart. Denn wenn du auf die-
se Weise ausharrst, wird deine Seele innerlich fortschreiten in der Vollkommenheit. Wenn du
meinst, daß es dir an richtiger Vorbereitung mangle, wenn du in der gleichen Weise, wie du
begonnen, mit leerem Herzen vom Gebet aufstehst, und es dir keinen Nutzen gebracht hat,
so ist dies eine Täuschung. Denn die Frucht des wahren Betens besteht nicht im Genusse des
Lichts, noch im Besitze der Kenntnis geistiger Dinge, da diese auch in einem forschenden
Verstande, ohne wirkliche Tugend und Vollkommenheit, gefunden werden können, sondern
sie besteht allein in geduldigem Ertragen und gläubiger, stiller Beharrlichkeit, indem du dich
in Gottes Gegenwart fühlst, und dein Herz sich mit Ruhe und Gemütsreinheit Ihm zuwendet.
Während du in dieser Weise aus harrst, wirst du die einzige Vorbereitung und Gesinnung ha-
ben, welche dir zu dieser Zeit nötig ist und wirst unfaßbar reiche Früchte ernten.

5 Bei dieser innerlichen Sammlung ist der Kampf sehr häufig vorhanden. Dieser wird dich
einerseits der Empfindung berauben, um dich zu versuchen, zu demütigen und zu läutern;
andererseits werden dich unsichtbare Feinde mit fortgesetzten Einflüsterungen überfallen,
um dich zu stören und zu beunruhigen. Die Natur selbst wird dich zu quälen scheinen, da
sie immerdar ein Feind des Geistes ist. Denn sie erleidet eine Höllenpein bei allen geisti-
gen Übungen, besonders während des Gebets, da sie dann der lustbringenden Vergnügen
beraubt, schwach, melancholisch und voller Verdrießlichkeit bleibt. Daher wird sie äußerst
ungeduldig ein Ende des Gebets verlangen, durch Unruhe der Gedanken, Mattigkeit des Kör-
pers, aufdringlicher Schlaf usw. Bist du da nicht imstande, die Sinne zu zügeln, so wird jeder
einzelne selbständig seinem eigenen Vergnügen folgen. Glücklich bist du, wenn du inmitten
dieses Martyriums auszuharren vermagst.

6 Jene große Lehrerin und Mystikerin, die heilige Theresa, bestätigt dies alles durch ihre
himmlische Lehre in dem Briefe, welchen sie dem Bischof von Osmia schrieb, um ihn zu
unterweisen, wie er sich im Gebet und bei anstürmenden, störenden Gedanken zu verhalten
habe. Sie schreibt: "Es ist notwendig, die Störung einer Schar von Gedanken, zudringlicher
Einbildungen und den Aufruhr natürlicher Neigungen zu ertragen, nicht nur seitens der
Seele, sondern auch des Körpers, hervorgerufen durch den Mangel an Gehorsam gegen den
Geist, den er besitzen sollte." (8. Brief). Man nennt diese geistlich "Trockenheiten", welche
indessen sehr nützlich sind, wenn sie mit Geduld entgegengenommen und ertragen wer-
den. Wer immer sich gewöhnt, sie ohne Murren zu erdulden, wird aus dieser Beschwerde
einen unermeßlichen Vorteil ziehen. Zwar ist es gewiß, daß der Böse die Seele während der
Sammlung oftmals sehr stürmisch mit einem Heer von Gedanken belästigt, um ihre Ruhe zu
zerstören und sie von jenem überaus lieblichen und sicheren inneren Verkehr abzuziehen,
indem er schreckliche Vorstellungen erregt und sie sehr häufig in einen Gemütszustand ver-
setzt, als ob sie einer furchtbaren Marter unterworfen werden sollte.

25
ERSTER TEIL

7 Die heilige Theresa schreibt im gleichen Briefe weiter: "Da die Vögel, welches die Teufel
sind, dies wissen, so stacheln und quälen sie die Seele mit Einbildungen, beunruhigenden
Gedanken und jenen Störungen, welche der Teufel bei dieser Gelegenheit hervorruft, indem
er die Gedanken ablenkt, sie von einer Sache zur andern schweifen läßt und (nachdem er da-
mit fertig ist) das Herz angreift. Es ist keine geringe Frucht des Gebets, diese Beunruhigung
und Zudringlichkeiten geduldig zu ertragen. Es ist eine Aufopferung seiner selbst in einem
wirklichen Brandopfer, d.h. man wird gänzlich in dem Feuer der Versuchung verzehrt und
kein Teil verschont."

8 Siehe, wie diese himmlische Frau uns ermutigt, Gedanken und Versuchungen zu erdulden
und zu ertragen, weil sie, vorausgesetzt daß ihnen nicht nachgegeben wird, den Gewinn ver-
doppeln.

9 So viele Male, wie du dich ruhig bemüht hast, diese nichtigen Gedanken abzuweisen, sovie-
le Kronen wird der Herr auf dein Haupt setzen. Und obgleich es dir scheinen mag, als wärest
du untätig, so laß dich doch nicht beirren, denn ein gutes Verlangen, mit Festigkeit und Be-
ständigkeit im Gebet, ist dem Herrn sehr wohlgefällig.

10 Die heilige Theresa schließt den Brief mit diesen Worten: "Aus diesem Grunde ist es keine
verlorene Zeit, ohne fühlbaren Gewinn dabei zu bleiben, sondern ein großes Glück, solange
jemand ohne Selbstinteresse arbeitet, allein zur Ehre Gottes. Und wenn es auch scheinen
mag, als wären es vergebliche Bemühungen, so ist dem doch nicht so, sondern es ist wie bei
Kindern, welche unter der Obhut ihrer Väter sich mühen und arbeiten - obgleich sie den
Lohn für ihr Tagewerk nicht am Abend empfangen; jedoch an dem Jahresende erfreuen sie
sich alle."

11 Kurzum du siehst, wie die Heilige unsere Darlegung durch ihre köstliche Lehre bestätigt.

Fortsetzung des Vorhergehenden

1 Gott liebt nicht den, welcher am meisten tut, am besten aufhorcht, noch auch den, der
die größte Liebe zeigt, sondern denjenigen, welcher am meisten duldet, indem er in Gottes
Gegenwart mit Glauben und Ehrfurcht betet. Es ist in der Tat ein hartes Martyrium für die
Seele, wenn das natürliche, sinnliche Gebet von ihr genommen wird. Doch der Herr hat Ge-
fallen daran, wenn sie so ruhig und ergeben ist. Unterlasse zu dieser Zeit das mündliche
Gebet, weil (wie gut und heilig es auch immer an sich sei) sein gegenwärtiger Gebrauch eine
offenbare Versuchung für dich sein würde, indem der Teufel dir vorspiegelt, daß Gott nicht
zu deinem Herzen spricht, unter dem Vorwande, daß du keine Empfindungen hast und Zeit
vergeudest.

26
Miguel de Molinos

2 Gott achtet nicht auf den Reichtum der Worte, sondern auf die Reinheit der Gesinnung. Er
hat zu dieser Zeit Sein größtes Gefallen daran, die Seele schweigend, sehnsuchtsvoll, demü-
tig, ruhig und entsagend zu sehen. Schreite vorwärts, harre aus, bete und bewahre deinen
Frieden, denn wo du kein Gefühl findest, wirst du doch eine Pforte finden, durch welche du
in dein eigenes Nichts eintreten kannst, erkennend, daß du nichts bist, nichts tun kannst, ja
sogar, daß du nicht einmal einen guten Gedanken in dir hast. Wieviele haben diese glück-
bringende Übung des inneren Gebets und der innerlichen Sammlung schon begonnen und
wieder davon abgelassen, unter dem Vorwand, daß sie keine Erquickung empfänden, Zeit
verlören, daß ihre Gedanken sie beunruhigten und jenes Gebet nichts für sie sei. Denn sie
könnten keinerlei Empfindung von Gott, noch irgendeine Fähigkeit zu denken und zu urtei-
len erlangen, nachdem sie doch Glauben, Ruhe und Geduld gezeigt hätten. All dies ist aber
nichts anderes als ein undankbares Jagen nach fühlbaren Genüssen, wobei sie sich durch
Eigenliebe fortreißen lassen und sich selbst suchen, und nicht Gott, weil sie nicht ein wenig
Schmerz und Trockenheit ertragen können, ohne über den unendlichen Verlust, welchen
sie erleiden, nachzugrübeln. Sie hätten aber durch die geringste Tat der Ehrerbietung gegen
Gott inmitten innerer Empfindungslosigkeit empfangen.

3 Der Herr lehrte der verehrungswürdigen Mutter Franziska Lopez von Valenzia und einem
Mönch des dritten Ordens von Sankt Franziskus drei Dinge von großer Bedeutung und Trag-
weite in Bezug auf die innerliche Sammlung: An erster Stelle, daß eine Viertelstunde Gebet,
mit Sammlung der Sinne und Fähigkeiten und mit Ergebung und Demut, der Seele mehr
Nutzen bringt, als 5 Tage Bußübungen, härene Gewänder, Kasteiungen, Fasten, Schlafen auf
unbedecktem Boden, weil dies nur Abtötungen des Körpers sind, aber durch Sammlung die
Seele geläutert wird.

4 Zweitens, daß es der göttlichen Allmacht wohlgefälliger ist, die Seele in stillem, ergebenem
Gebet während einer Stunde zu haben, als auf dem Wege zu großen Pilgerfahrten, weil es
Gott große Freude bereitet und sehr rühmenswert ist, wenn sie im Gebet sich selbst und an-
deren, für welche sie betet, Nutzen schafft. wogegen die Seele auf einer Wallfahrt gewöhnlich
zerstreut und die Sinne, bei einer Schwächung der Tugend, verwirrt werden, abgesehen von
vielen anderen Gefahren.

5 Drittens, daß beständiges Beten die Seele immer gerade auf Gott gerichtet hält und daß
eine Seele, um innerlich zu sein, sich mehr mit Hingabe des Willens, als mit Verstandesar-
beit betätigen sollte. - All dies kann in ihrer Lebensgeschichte nachgelesen werden. Je mehr
die Seele sich an Gefühlsliebe erfreut, je weniger Gefallen hat Gott an ihr und umgekehrt. Je
weniger die Seele an dieser Gefühlsliebe hängt, um so mehr Freude hat Gott an ihr. Wisse,
daß es der Gipfelpunkt des Gebets ist, den Willen, unter Beherrschung der Gedanken und
Versuchungen, mit der größtmöglichsten Ruhe auf Gott zu richten.

27
ERSTER TEIL

6 Ich will dies Kapitel schließen, indem ich dich von den gewöhnlichen Irrtümern derjeni-
gen befreie, welche sagen, daß bei dieser innerlichen Sammlung- oder dem Gebet der Stille
die Verstandeskraft nicht wirksam, und daß die Seele träge und gänzlich untätig sei. Es ist
dies eine offenbare Täuschung derjenigen, welche wenig Erfahrung besitzen, weil die Seele
nicht vermittelst des Gedächtnisses oder durch die sekundäre Funktion des Verstandes (wel-
ches die Urteilskraft ist), noch durch die dritte (das Schlußvermögen) tätig ist. Sie wirkt aber
durch die Hauptkraft des Verstandes, nämlich durch das einfache Erkennen, welches durch
den wahren Glauben erleuchtet und durch die göttlichen Gaben des Heiligen Geistes unter-
stützt wird. Der Wille ist mehr geneigt, eine Verrichtung fortzusetzen, als viele neue vorzu-
nehmen, so daß die Wirksamkeit des Verstandes (ebensowohl wie die des Willens) einfach,
unwahrnehmlich und geistig ist, so daß die Seele sich ihrer kaum bewußt wird, geschweige
denn über sie nachdenkt.

Was die Seele in der innerlichen Sammlung tun soll

1 Damit du dich völlig in Gottes Hand ergeben kannst, sollst du mit vollkommener Selbst-
entsagung zum Gebet schreiten, indem du durch Betätigung der Kraft des Glaubens dich
ganz in der göttlichen Gegenwart fühlst. Versenke dich hierauf in eine heilige Ruhe, mit Still-
schweigen und Gelassenheit; und suche jenen ersten Zustand der Betrachtung, durch Glau-
be und Liebe, zu bewahren einen ganzen Tag, ein ganzes Jahr, ja dein ganzes Leben hindurch.

2 Es ist nicht deine Aufgabe, diese Handlungen zu vervielfältigen, noch fühlbare Bezeugu gen
deiner Verehrung zu wiederholen, weil sie die Reinheit des vollkommen geistigen Willenak-
tes trüben. Da diese süßen Empfindungen außerdem unvollkommen sind (in Anbetracht
der Überlegung, die ihnen vorhergeht, der Selbstzufriedenheit und äußerlichen Tröstung,
auf welche sie sich richten und wodurch die Seele nach außen auf die äußeren Sinne abge-
lenkt wird), so ist es nicht notwendig, sie zu erneuern, wie der Mystiker Falcon ausgezeich-
net durch folgendes Gleichnis veranschaulicht hat: "Wenn ein einem Freunde geschenktes
Kleinod einmal in seine Hände gelegt worden ist, so ist es unnötig, diese schon vollzogene
Schenkung dadurch zu wiederholen, daß man täglich zu ihm sagt: "Mein Freund, ich schen-
ke dir dieses Kleinod"; sondern man läßt es einfach in seinem Besitz, und nimmt es ihm nicht
wieder, weil man (vorausgesetzt daß man es ihm nicht entzieht oder zu entziehen beabsich-
tigt) es ihm ganz sicher geschenkt hat."

3 Wenn du dich in gleicher Weise dem göttlichen Willen einmal gewidmet und voller Liebe
hingegeben hast, bleibt dir weiter nichts zu tun, als dies fortzusetzen, ohne neue und füh
bare Handlungen vorzunehmen, vorausgesetzt, daß du das einmal gegebene Kleinod nicht
wieder zurücknimmst, indem du einen groben Fehler gegen Gottes Willen begehst.

28
Miguel de Molinos

Wenn du auch äußerlich noch die Pflichten deines Berufs und Standes auszuüben hast, so
schadet das dir nicht, denn damit erfüllst du den Willen Gottes und verbleibst in einem fort-
währenden tugendhaften Lebenswandel. "Derjenige betet immerdar, der gute Werke tut. Er
vernachlässigt das Beten nur dann, wenn er aufhört tugendhaft zu sein." Du solltest daher
alle diese Empfindsamkeiten verachten, damit deine Seele geordnet wird und eine Gewöh-
nung an die innerliche Sammlung erlangen kann, welche so wirkungsvoll ist, daß der Ent-
schluß zu beten allein schon eine lebendige Gegenwart Gottes erweckt. Oder, besser ausge-
drückt, die innerliche Sammlung soll nichts anderes sein als die wirksame Fortsetzung des
unablässigen Gebets, in welches die betreffende Person sich versenken soll.

4 Wie gut erfüllte die verehrungswürdige Mutter von Chantal, die geistige Tochter des Sankt
Franzlskus von Sales, diese Aufgabe. In ihrer Lebensgeschichte findet sich folgende, an ihren
Meister geschriebene Worte: "Ich kann, mein teurer Vater, keine geistige Übung verrichten,
ohne daß mir folgendes als die festeste und sicherste Verfassung erscheint: Mein Geist, in
seinem oberen Teil, ist in einer höchst einfachen Einheit; er hat sich nicht vereinigt, weil,
wenn er die Einheit (wie er sich häufig zu tun anschickt) durch eigenes Tun zu erstreben
trachtet, er Schwierigkeiten findet und klar erkennt, daß er sich selbst nicht vereinigen kann,
sondern vereinigt wird. Die Seele möchte aus dieser Einheit Nutzen ziehen für die Frühmet-
te, die heilige Messe, Vorbereitung zur Kommunion und das Danksagungsfest; kurzum sie
möchte bei allem in jener höchst einfachen Gemeinschaft des Geistes verbleiben, ohne über
irgendetwas anderes nachzusinnen." Auf all dieses antwortete der heilige Vater zustimmend,
empfahl ihr darin auszuharren und wies sie darauf hin, daß im Frieden die göttliche Ruhe
liegt.

5 Ein andermal schrieb sie dem Heiligen folgendes: "Bei dem Bestreben, einige besondere
Ausübungen meiner einfältigen Betrachtung, vollkommenen Selbstentsagung und Aufopfe-
rung in Gott vorzunehmen, tadelte mich die göttliche Weisheit und ließ mich verstehen, daß
dies nur von der Liebe zu mir selbst ausgehe, und ich damit meine Seele schädige. "Durch
dies wirst du über deinen Irrtum aufgeklärt worden sein und erkannt haben, welches der
vollkommenste und geistige Weg des Gebets ist, sowie was bei der innerlichen Sammlung
getan werden soll. Du wirst einsehen, daß es förderlich ist, um die Liebe rein und vollkom-
men zu gestalten, die vielen empfindungsvollen und inbrünstigen Andachtsübungen zu be-
schränken. Erhalte die Seele friedvoll und verharre in jener inneren Schweigsamkeit. Denn
zärtliche Hingabe, innige Wonne und andere süße Empfindungen, welche die Seele bei ih-
rem Verlangen erfährt, sind keine reinen Geister, sondern mit der Empfindlichkeit der Natur
vermischte Zustände. Auch ist es nicht vollkommene Liebe, sondern sinnliches Vergnügen,
welches die Seele ablenkt und schädigt, wie der Herr der verehrungswürdigen Mutter von
Chantal bedeutete.

6 Wie glücklich und wohl gerichtet wird dagegen die Seele sein, wenn sie, in sich selbst zu-
rückgezogen, dort in ihr eigenes Nichts versinkt, in ihrer Mitte, wie in ihrem oberen Teil,
ohne auf ihr Tun zu achten; ob sie sich erinnert oder nicht;
29
ERSTER TEIL

ob sie gut oder übel wandelt; ob sie wirkt oder nicht; ohne sich um irgendein sinnliches Ding
zu kümmern oder seiner zu gedenken.

7 Dann glaubt der Verstand mehr mit reinem Vertrauen, liebt der Wille mit vollkommener
Liebe, ohne irgend ein Hemmnis, und empfindet jenen reinen und vollkommenen Zustand
der Betrachtung und Liebe, dessen die Seligen, nach der Schilderung der Heiligen, im Him-
mel genießen, mit keinem andern Unterschied, als daß sie dort einander von Angesicht zu
Angesicht schauen, wohingegen die Seele hier durch die Hülle eines dunklen Glaubensge-
fühls blickt.

8 Oh, wie wenige Seelen erlangen diesen vollkommenen Pfad des Gebets, weil sie nicht tief
genug in diese innerliche Sammlung und mystische Stille eindringen und weil sie sich nicht
von unvollkommener Grübelei und sinnlicher Lust freimachen! Daß doch deine Seele, ohne
nachdenkliche Aufmerksamkeit, sich im Gebet jener heiligen und geistigen Ruhe übergeben
und mit Augustinus sagen möchte: "Laß sie stille sein und nichts tun, sich selbst vergessen
und in jenes dunkle Glaubensgefühl versenken." Wie sicher und geborgen würde sie sein, ob-
gleich es ihr vorkommen mag, als wäre sie bei solcher Untätigkeit und Müßigkeit verloren!
Ich will diese Belehrung mit einem Brief beschließen, welche die erlauchte Mutter von Chan-
tal an eine Schwester und eifrige Dienerin Gottes schrieb: "Die göttliche Güte führte mich
auf diesen Weg des Gebets, wo ich mich durch einfache Betrachtung des Herrn Ihm gänzlich
hingegeben fühlte, in Ihm aufgegangen und ruhend. Er ließ mir diese Gnadengunst auch
dann noch zuteil werden, als ich ihr durch meine Untreue Widerstand leistete, indem ich der
Furcht Raum gab und mich in diesem Zustand als unnütz ansah, wodurch ich, in der Absicht
meinerseits etwas zu tun, alles vollkommen verdarb. Noch heute finde ich mich oftmals von
der gleichen Furcht ergriffen, wenn auch nicht im Gebet, so doch bei andern Übungen, wo-
mit ich mich etwas zu beschäftigen immer geneigt bin, obgleich ich sehr wohl weiß, daß ich
durch solches Tun aus meiner inneren Sammlung komme und insbesonders erkenne, daß
das einfache Schauen Gottes noch immer mein einziges Heilmittel und mein Trost in allen
Aufregungen, Versuchungen und den Ereignissen des Lebens ist."

9 "Und sicherlich würde ich, wenn ich meiner inneren Stimme gefolgt wäre, von keinem an-
dern Mittel (welcher Art es auch gewesen sein möchte) Gebrauch gemacht haben, weil ich
mich, wenn ich meine Seele mit besonderen Betrachtungen, Überlegungen und Selbstpei-
nigungen zu stärken rühme, neuen Verführungen und Bedrängnissen aussetzen. - Überdies
vermag ich solches nicht ohne große Anstrengung zu tun, welche mich erschöpft und inner-
lich verzehrt, so daß ich genötigt werde, eilends zu dieser einfachen Selbst-Hingabe zurück-
zukehren, wodurch mir Gott auf Seine Weise seinen Willen erkennen läßt, daß ich die Tätig-
keit meiner Seele vollkommen zur Ruhe bringen soll, da Er alles durch seine eigene göttliche
Wirksamkeit zu vollbringen wünscht. Zu meinem Glück erwartet Er nicht mehr von mir, als
dieses alleinige Schauen bei allen geistlichen Übungen und in all den Mühen, Versuchungen
und Trübsalen, welche mich in diesem Leben befallen mögen.

30
Miguel de Molinos

In der Tat gelingen mir alle Dinge um so besser, je ruhiger ich meinen Geist durch dieses Mi
tel erhalte, und meine Leiden und Nöte verschwinden mit einem Schlag. - Oftmals hat mich
mein gesegneter Franziskus von Sales dessen versichert."

10 "Unsere verstorbene Superiorin ermutigte mich, fest auf diesem Wege auszuharren, und
bei dieser einfachen Anschauung Gottes keine Furcht vor irgendetwas zu hegen. Sie sagte
mir, daß dies genug sei, und je größer die geistige Armut und Ruhe in Gott wären, umso
süßeren Trost und Stärkung empfinge die Seele, welche sich befleißigen sollte, so rein und
einfach zu werden, daß sie keinen andern Richtpunkt fände, als in Gott allein."

11 "Ich erinnere mich, vor einigen Tagen eine Erleuchtung gehabt zu haben, welche mir Gott
zu diesem Zweck zuteil werden ließ, und die einen solchen Eindruck auf mich machte, als
ob ich Ihn deutlich gesehen hätte. Dadurch wurde mir geoffenbart, daß ich niemals auf mich
selbst sehen, sondern mit geschlossenen Augen, mich an meinen geliebten Herrn lehnend,
dahinschreiten soll, ohne danach zu verlangen, den Weg zu sehen oder kennenzulernen, wo-
rauf Er mich führt. Ich solle meine Gedanken weder auf irgendetwas richten, noch selbst
Vergünstigungen von Ihm erbitten, sondern wie tot in mir selbst, gänzlich und wahrhaft in
Ihm ruhen." Soweit die Ausführungen dieser erleuchteten und mystischen Frau, deren Worte
unsere Belehrung bestätigen und beglaubigen.

Erklärung, wie die Seele, welche sich mit vollkommener Ergebung durch reine Glaubenskraft
in Gottes Gegenwart versetzt hat, immerdar in dem erlangten, wirksamen Schauen wandelt

1 Du wirst mir sagen (wie schon viele Seelen zu mir gesagt haben), daß du dir, wenn du dich
auch reinen Glaubens in Gottes Gegenwart versetzt hast, doch kein Verdienst erwirbst oder
vollkommener wirst, weil deine Gedanken so zerstreut sind, daß du sie nicht auf Gott zu
richten vermagst.

2 Laß dich nicht entmutigen, denn du verlierst weder Zeit noch Verdienst; auch lasse nicht
ab vom Beten. Denn es ist nicht notwendig, daß du während der ganzen Zeit der innerlichen
Sammlung wirklich immer an Gott denkst. Es genügt, daß du im Anfang aufmerksam ge-
wesen bist, vorausgesetzt, daß du dein Bestreben nicht unterbrichst, noch auch die von dir
erzeigte wirkliche Hingabe wieder zurücknimmst.

31
ERSTER TEIL

3 Gerade so erfüllt derjenige, welcher die Messe hört und die gottesdienstlichen Handlun-
gen verrichtet, seine Pflicht sehr gut, auch wenn er nur anfänglich aufmerksam gewesen ist,
und im Verlaufe seine Gedanken nicht immer fest auf Gott gerichtet hält. Dies bestätigt der
Doktor Angelikus Sankt Thomas mit den folgenden Worten: "Die erste Anstrengung allein
und das Denken an Gott hat Kraft und Wert genug, alles spätere Beten wahr, wirksam und
verdienstvoll bleiben zu lassen, obgleich in der Folge keine wirkliche Anschauung Gottes
vorhanden sein mag." Siehe jetzt, wie die Heiligen das bestätigen, was wir vorbringen.

4 So dauert (nach der Ansicht jenes Heiligen) das Gebet noch fort, obgleich die Phantasie
auf unzählige Gedankengebiete hinüberschweift, vorausgesetzt, man gibt ihnen nicht nach,
wechselt nicht den Ort, unterbricht das Gebet nicht, und ändert auch nicht den ersten an-
fänglichen reinen Vorsatz, mit Gott zusammenzusein. - Und sicherlich wird man ihn auch
nicht ändern, solange man seinen Platz nicht verläßt. Daraus folgt mit logischer Notwendig-
keit, daß man im Gebete verharrt, wenn auch die Einbildungskraft mit mannigfachen un-
freiwilligen Gedanken beschäftigt ist. Weiter sagt der Heilige: "Derjenige betet im Geist und
in der Wahrheit, welcher stets mit dem Geiste und dem Bestreben zu beten einhergeht, ob-
gleich durch Schwäche und Gebrechlichkeit seine Gedanken späterhin abschweifen mögen."

5 Aber du wirst sagen, ob du nicht wenigstens, wenn du in Gottes Gegenwart stehst, daran
denken und oft zu Ihm sprechen sollst: "Herr bleibe bei mir und ich werde mich Dir gänzlich
hingeben." - Hierauf antworte ich, daß dazu kein Grund vorliegt. Du hast die Absicht zu be-
ten und zu diesem Zweck jenen Platz aufgesucht. Glaube und Absicht sind genügend, und
diese wirken stets weiter. Ja sogar, je einfacher dieses Erinnern ist, ohne Worte und Gedan-
ken, um so reiner, geistiger, innerlicher und gotteswürdiger ist es.

6 Würde es nicht ungehörig und respektlos sein, wenn du in Gegenwart eines Königs oft zu
ihm sagen würdest: "Ich glaube, daß Eure Majestät zugegen ist:" Dies ist ganz das gleiche.
Mit dem Auge des reinen Glaubens sieht die Seele Gott, glaubt an Ihn und ist in Seiner Ge-
genwart. Hat die Seele demgemäß Glauben, so hat sie nicht nötig zu sagen: "Mein Gott, du
bist hier", sondern nur so zu glauben, wie sie glaubt, indem der Glaube und Wille sie zur
Zeit des Gebets, durch eben diesen reinen Glauben und völlige Ergebung zum Schauen Got-
tes führen. - Solange du nicht den Glauben und die reine Absicht, ergeben zu sein, aufgibst,
wandelst du stets im Glauben und der Ergebung und folgerichtig auch im Gebet. Du bleibst
in dem erlangten wirksamen Schauen, obgleich du es nicht wahrnimmst, nicht dessen ge-
denkst, noch auch neue Handlungen und Überlegungen dabei vornimmst.

7 Wir haben die Beispiele eines Christen, einer Frau und eines Mönchs gehört. So sagt der
Mönch, ohne sich von neuem zu besinnen, in Bezug auf sein Ordensgelübde: "Ich bin ein
Mönch". Die Frau sagt in Hinsicht auf ihren Ehestand: "Ich bin eine Frau"; und der Christ mit
Rücksicht auf die empfangene Taufe: "Ich bin ein Christ". Keiner von ihnen hört bei alledem
auf, getauft und verheiratet zu sein, oder das Ordensgelübde abgelegt zu haben.

32
Miguel de Molinos

Der Christ ist nur gebunden, gute Werke zur Bestätigung seines Glaubens zu tun und mehr
mit dem Herzen als mit dem Munde zu glauben. Die Frau soll Beweise ihrer Treue geben, die
sie ihrem Gatten versprochen hat und der Mönch von dem Gehorsam, den er seinen Oberen
gelobt hat.

8 In derselben Weise soll die Seele, welche einmal zur Gewißheit des Glaubens, daß Gott
in ihr weilt, gekommen ist, in allen Werken und Andachtsübungen in diesem Glauben und
Vorsatze in Zufriedenheit verharren, ohne neue Beweise solchen Glaubens oder dieser Er-
gebung zu erbringen. Sie muß nur entschlossen sein, nichts zu verlangen oder zu tun außer
durch Gott.

Fortsetzung des Vorhergehenden

1 Die wahre Lehre gilt nicht nur für die Zeit des Gebets, sondern auch für später, Tag und
Nacht, zu allen Stunden und für alle täglichen Obliegenheiten deines Berufs, deiner Pflicht
und Stellung.

2 Wenn du mir sagst, daß du manchmal während eines ganzen Tages vergissest, deine Erge-
bung zu erneuern, so antworte ich, daß du im Irrtum bist. Denn du glaubst, daß du durch
Erfüllung deiner täglichen Berufspflichten (wie Studium, Lesen, Predigen, Geschäfte oder
Essen und Trinken u.dgl.) abgelenkt wirst. Das eine stört aber das andere nicht. Durch sol-
ches Tun vernachlässigst du nicht Gottes Willen zu erfüllen, noch auch im wirksamen Ge-
bete Fortschritte zu machen. St. Thomas sagt: Diese Verrichtungen sind nicht gegen Seinen
Willen, noch auch deiner Ergebung hinderlich, da Gott sicherlich wünscht, daß du dich er-
nährst, studierst, arbeitest, Geschäfte machst usw. Aus diesem Grunde entziehst du dich
durch Betätigung dieser Pflichten, welche nach seinem Willen und Gefallen sind, nicht sei-
ner Gegenwart noch auch deiner eigenen Ergebung.

3 Wenn du jedoch während oder außerhalb des Gebets geflissentlich abgelenkt oder zer-
streut wirst, indem du dich bei wachem Geiste von der Leidenschaft hinreißen lässest, dann
wird es für dich gut sein, dich wieder zu Gott zurückzuwenden und in Seine heilige Gegen-
wart durch die Erneuerung der reinen Glaubenskräfte und Ergebenheit zurückzukehren. -
Es ist aber nicht notwendig, die Glaubenskräfte zu betätigen, wenn du dich empfindungslos
findest, weil die Empfindungslosigkeit gut und heilsam ist, und (wie hart sie auch immer sei)
die Seele doch nicht der göttlichen Gegenwart berauben kann, welche im Glauben begründet
ist. Niemals sollst du Empfindungslosigkeit Ablenkung nennen, da es doch bei den Anfän-
gern der Mangel an Empfindung und bei den Fortgeschrittenen die geistige Abgezogenheit
ist, durch welche deine Seele mehr und mehr innerlich werden und der Herr in ihr wunder-
same Dinge wirken wird.

33
ERSTER TEIL

Nur unterziehe dich der Empfindungslosigkeit mit Standhaftigkeit, und verharre in deiner
inneren, eigenen Leerheit.

4 Wenn du vom Gebete kommst, so strebe danach, nicht zerstreut und abgelenkt zu wer-
den. Verpflichte dich mit vollkommener Ergebung dem göttlichen Willen, damit Gott mit dir
und all dem deinen nach Seinem himmlischen Gefallen schalten und walten kann. Vertraue
Ihm wie einem gütigen und liebreichen Vater. Laß niemals ab von diesem Vorsatz, damit du
auch während den Berufsgeschäften im Gebet in Gottes Gegenwart und in fortwährender
Bezeugung deiner Ergebung verbleiben kannst. Aus diesem Grund sagt Chrysostomus: "Ein
tugendhafter Mensch läßt nicht ab vom Gebet, solange er nicht aufhört gerecht zu sein. Wer
immer gut handelt, der betet auch immer; der gute Wunsch ist schon Gebet. Und wenn das
Verlangen nach dem Guten fortgesetzt wird, so dauert auch das Gebet an."

5 Du wirst, was gesagt worden ist, durch folgendes klare Beispiel verstehen lernen: Wenn
jemand eine Reise nach Rom antritt, so geschieht jeder unterwegs gemachte Schritt mit
Absicht. Nichtsdestoweniger ist es aber unnötig, bei jedem Schritt sein ursprüngliches Ver-
langen kundzugeben oder einen neuen Willensakt auszuüben, indem er spricht: "Ich will
nach Rom gehen, ich gehe nach Rom." Denn nach seiner ersten Absicht, nach Rom zu reisen,
bleibt der Wille in ihm. Also schreitet er weiter, ohne davon zu sprechen, behält aber doch
dabei stets sein Ziel im Auge. Du wirst hierbei deutlich erkennen, daß dieser Reisende sich
mit einem einzigen, bestimmten Akt des Willens und Verlangens auf die Reise begeben hat.
Obwohl er auf der Reise spricht, hört, sieht, nachdenkt, ißt, trinkt und mancherlei andere
Dinge treibt, so wird doch seine erste Absicht und die wirkliche Reise nach Rom nicht unter-
brochen.

6 Gerade so ist es bei der betrachtenden Seele. Wenn jemand einmal den Entschluß gefaßt
hat, Gottes Willen zu tun und in Seiner Gegenwart zu sein, beharrt er in diesem Willen, so-
lange er ihn nicht zurücknimmt, obgleich er durch Hören, Sprechen, Essen oder anderenot-
wendige und nützliche Handlungen seines Berufs in Anspruch genommen wird.

7 Du wirst sagen, daß alle Christen in dieser Andachtsübung wandeln, weil alle Glauben
besitzen und diese Lehre befolgen. Auch wenn sie sich nicht verinnerlicht haben, so gehen
sie doch den äußerlichen Weg der Meditation und der logischen Schlußfolgerung. In der
Tat haben alle wahren Christen Glauben, besonders die, welche denken und Betrachtungen
anstellen. Jedoch der Glaube derer, welche auf dem innerlichen Wege vorwärts schreiten,
ist wesentlich anders, da er ein lebendiger, umfassender Glaube ist, ohne Unterscheidung.
Er ist demzufolge wirksamer, tätiger und erleuchteter. Denn der Heilige Geist ist es, der die
Seele, welche am besten gerüstet ist, zumeist erleuchtet. Es ist aber jene Seele dafür am emp-
fänglichsten, welche das Gemüt gesammelt hat, denn im Verhältnis zur Sammlung gibt der
Heilige Geist Erleuchtung.

34
Miguel de Molinos

Trotzdem ist es richtig, daß Gott dem Denkenden einiges Licht zuteil werden läßt. Es ist dies
aber so spärlich und verschieden von demjenigen, welches Er dem in einem reinen, umfas-
senden Glauben gesammelten Geiste spendet, daß sich das eine gegen das verhält wie zwei
bis drei Tropfen zu einem Meer. Beim Meditieren werden nämlich zwei oder drei besondere
Wahrheiten der Seele offenbart, in der innerlichen Sammlung jedoch und der Ausübung ei-
nes reinen, umfassenden Glaubens, ist die Weisheit Gottes ein weitausgebreitetes Meer. Sie
ergießt sich in einem emporleuchtenden, einfältigen, allgemeinen und umfassenden Wissen.

8 In gleicher Weise ist die Entsagung in diesen Seelen vollkommener, weil sie der innerlichen
und von Gott verliehenen Kraft entquillt. Je länger nun die Ausübung des reinen Glaubens
mit Schweigen und Ergebung fortdauert, um so mehr vergrößert sich diese Kraft, so daß die
Gaben des göttlichen Geistes in den betrachtenden Seelen stetig zunehmen. Diese göttlichen
Gaben werden zwar in allen gefunden, welche sich in einem Zustand der Gnade befinden.
Doch sind sie in den einen gleichsam tot, ohne Stärke und von unendlich verschiedener Art
gegenüber denjenigen, welche in den innerlichen Seelen walten, infolge ihrer Erleuchtung,
Lebendigkeit und Wirksamkeit. Aus allen diesen Ausführungen solltest du die Überzeugung
gewinnen, daß die nach innen gerichtete Seele, welche gewöhnt ist, täglich zu bestimmten
Stunden mit dem dir beschriebenen Glauben und in Ergebung zu beten, unablässig in Gottes
Gegenwart wandelt. Alle Heiligen, alle erfahrenen und mystischen Meister, bezeugen diese
wahre und wichtige Lehre, weil sie allesamt einen und denselben Meister hatten, welches
der Heilige Geist ist.

Ein Weg, auf welchem man zur innerlichen Sammlung gelangen


kann, ist die hochheilige Menschheit unseres Herrn Christus

1 Es gibt zwei Arten geistiger Menschen, welche einander gerade entgegengesetzt sind. Die
einen sagen, daß man stetig über die Mysterien des Leidensweges Christi nachdenken und
meditieren soll. Die andern verfallen in das entgegengesetzte Extrem und lehren, daß dieBe-
trachtung der Mysterien des Lebens, Leidens und Sterbens unseres Heilandes kein Gebet sei.
Denn nur das erhabene Aufschwingen zu Gott, dessen heilige Größe die Seele schweigend
und ruhig betrachte, dürfe Gebet genannt werden.

2 Sicherlich ist unser Herr Christus der Führer, die Tür und der Weg, wie Er selbst mit den
Worten bezeugte: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Ehe die Seele imstande
ist, in die Gegenwart Gottes zu kommen und mit Ihm vereinigt zu werden, muß sie mit dem
kostbaren Blut des Erlösers gewaschen und mit den reichen Gewändern seines Leidens und
Duldens geschmückt werden.

35
ERSTER TEIL

3 Unser Herr Christus, mit Seiner Lehre und Seinem Vorbilde, ist der Spiegel, der Führer der
Seele, der Weg und die einzige Pforte, durch welche wir in die Gefilde des ewigen Lebens und
zu dem unermeßlichen Ozean der Gottheit gelangen können. Daraus folgt, daß die Erinne-
rung an das Leiden und Sterben unseres Heilandes nicht völlig verwischt werden soll. Ja,
es ist sogar gewiß, daß die Seele, zu welcher geistigen Höhe sie sich immer emporgehoben
werden mag, sich nicht von der heiligen Menschheit abscheiden soll. Man darf aber deshalb
auch nicht daraus schließen, daß die an innerliche Sammlung gewöhnte Seele immer über
die erhabenen Mysterien unseres Erlösers nachsinnen und grübeln soll. Die Meditation ist
heilig und weise; wollte Gott, daß alle Menschen in dieser Welt sie ausübten. Auch soll eine
Seele, die in der Meditation Nahrung und Nutzen findet, in ihrem Zustand gelassen und nicht
in einen höheren gedrängt werden.

4 Es bleibt Gott allein überlassen (nicht dem geistigen Führer), die Seele von der Meditation
zur reinen Beschauung emporzuheben. Denn wenn sie Gott nicht durch seine besondere
Gnade zu diesem Zustande des Gebets beruft, so vermag der geistige Führer mit all seiner
Weisheit und Belehrung nichts zu tun.

5 Um einen sicheren Mittelweg zu finden und jene zwei so entgegengesetzten Extreme zu


vermeiden, müssen wir annehmen, daß es zwei Arten gibt, der heiligen Menschenordnung
gerecht zu werden, und zur Tür des göttlichen Reichs zu gelangen, welche Christus, unser
Heil, ist. Der erste ist der Pfad der Betrachtung des Lebens, Leidens und Todes unseres Hei-
landes; der andere ist an Ihn zu gedenken durch den Verstandesgebrauch, den reinen Glau-
ben oder das Gedächtnis.

6 Wenn sich die Seele durch innerliche Sammlung vervollkommnet und verinnerlicht, dann
behält sie nach vorgenommener Beschauung der gedachten Mysterien Glauben und Liebe
zu dem fleischgewordenen Worte. Sie ist bereit, um Seinetwillen alles zu tun, was es ihr vor-
schreibt und sich nach Seinen Geboten zu richten, obgleich sie ihr nicht immer vor Augen
sind. Wenn man einem Sohn gebietet, seinen Vater niemals zu vergessen, so erwartet man
nicht, daß er denselben beständig vor seinen leiblichen Augen haben soll. Sondern er soll
nur seiner stets so gedenken, daß er stets bereit ist, seine Pflicht gegen ihn zu erfüllen.

7 Die mit Zustimmung eines erfahrenen Führers zur innerlichen Sammlung gelangte Seele
hat daher nicht nötig, sich einem beständigen Nachdenken über die heiligen Mysterien hin-
zugeben, da dies nicht ohne große geistige Anstrengung geschehen kann. Sie bedarf dieser
Verstandesarbeit garnicht, da diese nur dazu dient, den Glauben an dasjenige zu erlangen,
was sie ja bereits schon besitzt.

8 Für fortgeschrittene Seelen ist der beste Weg, durch die heilige Menschheit unseres Herrn
Christus in die innerliche Sammlung einzugehen und sich Seiner zu erinnern, indem sie die
heilige Menschwerdung und das Leiden des Herrn durch einen einfachen Glaubensakt be-
trachten und sinnend auf dieselben schauen,
36
Miguel de Molinos

als das Tabernakel der Gottheit, den Anfang und das Ende unseres Erlösers. Denn Jesus
Christus wurde um unsertwillen geboren und erduldete und erlitt um unsertwillen einen
schändlichen Tod.

9 Dies ist der Weg, welcher den in sich gekehrten Seelen Gewinn bringt. Diese heilige, from-
me, schnelle und augenblickliche Erinnerung an die Menschwerdung kann für sie kein Hin-
dernis auf dem Wege der innerlichen Sammlung bilden, solange sich die Seele, wenn sie sich
dem Gebet widmen will, nicht davon zurückgetrieben findet. Denn dann wird es besser für
sie sein, an der innerlichen Sammlung festzuhalten. Wenn sie sich aber nicht davon abgesto-
ßen fühlt, so bildet das einfache und schnelle Gedenken der Menschwerdung des göttlichen
Worts kein Hindernis, weder für die größte und erhabenste noch für die höchst geläuterte
und verwandelte Seele.

10 Dies ist der Weg, welchen die heilige Theresa den Betrachtenden empfiehlt, indem sie
die verwirrten Ansichten der Schulgelehrten verwirft. Dies ist auch der gerade, sichere Weg,
welchen der Herr vielen Seelen zur Erlangung der heiligen Ruhe der Beschauung gelehrt hat.

11 Die Seele soll daher, wenn sie in die Sammlung eingeht, sich an die Pforte der göttlichen
Barmherzigkeit stellen, nämlich an die liebenswerte und süße Erinnerung an das Kreuz und
Leiden des menschgewordenen und aus Liebe gestorbenen Worts. Dort soll sie in Demut
stehen, dem göttlichen Willen hingegeben, was auch immer der göttlichen Allmacht gefallen
wird, mit ihr zu tun. Und wenn ihr das Andenken an die Mysterien des Leidensweges Christi
wieder entschwindet, so ist es nicht nötig, es aufs neue zu erwecken, sondern sie soll still und
ruhig in der Gegenwart des Herrn verharren.

12 In wunderbarer Weise wird diese unsere Belehrung von Paulus bekräftigt, in dem an die
Kolosser geschriebenen Brief, worin er sie und uns ermahnt, daß wir, ob wir nun essen, trin-
ken oder sonst etwas tun, alles im Namen Jesu Christi und um Seinetwillen treiben sollen
(Kol. 3, 17).

13 Gebe Gott, daß wir alles mit Jesus Christus beginnen und daß wir in Ihm und durch Ihn
allein zur Vollkommenheit gelangen mögen.

37
ERSTER TEIL

Von dem innerlichen, mystischen Stillesein

1 Es gibt drei Arten des Schweigens. Die erste ist das der Worte, die zweite das des Begeh-
rens und die dritte das der Gedanken. Die erste ist vollkommen, die zweite vollkommener
und die dritte am vollkommensten. Durch das Schweigen der Worte erwirbt man Kraft;
durch das Schweigen des Begehrens erlangt man Ruhe; durch das Schweigen der Gedanken
kommt man zur innerlichen Sammlung. Durch Nichtsprechen, Nichtwollen und Nichtden-
ken gelangt man zur wahren und vollkommenen mystischen Stille, worin Gott mit der Seele
spricht, sich ihr mitteilt, und ihr im Abgrunde Seiner eigenen Tiefe die vollkommenste und
erhabenste Weisheit lehrt.

2 Gott beruft und führt die Seele zu dieser inneren Abgeschiedenheit und mystischen Stille,
wenn Er sagt, daß Er zu ihr allein sprechen will in dem geheimsten und verborgensten Ge-
mache des Herzens.

3 Du sollst in diese mystische Stille eingehen, wenn du die süße, innere und göttliche Stim-
me zu hören begehrst. Um diesen Schatz zu erlangen, genügt es nicht, die Welt zu verlassen,
noch auch allen eigenen Wünschen und geschaffenen Dingen zu entsagen, solange du nicht
auch alles eigene Wollen und Denken aufgibst. Darum ruhe in dieser mystischen Stille und
öffne das Tor, damit Gott sich dir mitteilen, sich mit dir vereinigen und dich in Sich umbilden
kann.

4 Die Vollkommenheit der Seele besteht nicht in vielem Reden oder Nachdenken über Gott,
sondern in rechter Liebe zu ihm. Diese Liebe wird durch vollkommene Ergebung und inner-
liches Stillesein erlangt; das Tun ist alles. Dies bestätigt und schärft uns Johannes, der Evan-
gelist, mit folgenden Worten ein: Meine Kindlein, laßt uns nicht lieben mit Worten noch mit
der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit (1. Joh. 3, 18).

5 Du bist nun darüber zur Klarheit gekommen, daß vollkommene Liebe nicht nur in liebe-
vollem Tun oder zärtlichen Ergüssen besteht, noch weniger im innerlichen Tun, womit du
Gott beteuerst, daß du eine unendliche Liebe zu Ihm empfändest und Ihn mehr liebtest wie
dich selbst. Es kann sein, daß du dich und deine Eigenliebe dabei mehr suchst, als die wahre
Gottesliebe, weil Liebe in den Werken, nicht in schönen Redensarten besteht.

6 Um einem Geschöpf, das mit der Vernunft begabt ist, den verborgenen Wunsch und Willen
deines Herzens erkennen zu lassen, mußt du dich mit Worten ausdrücken. Gott aber, wel-
cher das Herz prüft, bedarf deines äußerlichen Bekenntnisses und deiner Versicherungen
nicht, noch ist Er, nach den Worten des Evangelisten, mit der Liebe in Worten und mit der
Zunge zufrieden, sondern allein mit derjenigen Liebe, die wahr und tatkräftig ist.

38
Miguel de Molinos

7 Was nützt es, Ihm mit großem Eifer und Inbrunst zu versichern, daß du Ihn über alles, zärt-
lich und vollkommen liebst, du kannst dich aber bei einer dir zugefügten kleinen Beleidigung
nicht verleugnen, noch aus Liebe zu Ihm deine Persönlichkeit vergessen. Das ist ein offenba-
rer Beweis, daß deine Liebe eine solche mit der Zunge, nicht mit der Tat ist.

8 Trachte danach, bei allem ergebungsvoll zu sein und du wirst dadurch (ohne Ihm zu erklä-
ren, daß du Ihn liebst) die vollkommenste, ruhigste, wirksamste und wahre Liebe erlangen.
Petrus versicherte dem Herrn sehr eifrig, daß er gern bereit wäre, sein Leben für Ihn zu op-
fern. Aber auf die Frage einer jungen Magd verleugnete er Ihn, und mit seinem Eifer war es
zu Ende.

9 Maria Magdalena verlor nicht ein Wort, und dennoch wurde der Herr, freudig berührt von
ihrer vollkommenen Liebe, ihr Lobsprecher, indem Er sagte, daß sie viel geliebt habe. - Es ist
daher wahr, daß im stummen Schweigen die höchsten Tugenden des Glaubens, der Hoffnung
und Liebe ausgeübt werden, ohne daß es nötig ist, Gott zu beteuern, daß du Ihn liebst, an Ihn
glaubst und auf Ihn hoffst. Denn der Herr kennt besser als du die wirklichen Empfindungen
des Herzens. Wie gut wurde jene reine Art von Liebe von dem tiefen und großen Mystiker,
dem verehrungswürdigen Gregorius Lopes, erkannt und ausgeübt, dessen ganzes Leben ein
fortwährendes Gebet und eine anhaltende Beschaulichkeit von so reiner und geistiger Liebe
zu Gott war, daß er niemals Gefühlserregungen und sinnlichen Empfindungen Raum gab.

10 Nachdem er drei Jahre hindurch beständig innerlich gebetet hatte: "Dein Wille geschehe
in Zeit und Ewigkeit", mit jedem Atemzug diese Worte wiederholend, offenbarte ihm die
göttliche Allmacht den unerschöpflichen Schatz reiner und stetiger Glaubens- und Liebes-
kraft, in Schweigen und Ergebung, so daß er von sich sagen konnte, daß er während der 36
Jahre, welche er noch lebte, jene reine Kraft der Liebe ununterbrochen in seinem Innern
besessen habe, ohne jemals das geringste selbstsüchtige Verlangen oder irgendetwas Sinn-
liches oder der Natur Entsprungenes, an sich gezeigt zu haben. - O verkörperter Seraph und
vergöttlichter Mensch, wie wohl verstandest du es, dich in die innere, mystische Stille zu
versenken, und den äußeren von dem inneren Menschen zu unterscheiden!

***

39
ZWEITER TEIL

ZWEITER
TEIL

40
Miguel de Molinos

VON DEM GEISTIGEN MARTYRIUM, WODURCH GOTT DIE SEELEN LÄUTERT; VON
DER DURCH GOTT VERLIEHENEN UND PASSIVEN BESCHAULICHKEIT; VON DER
VOLLKOMMENEN ERGEBUNG, INNEREN DEMUT, GÖTTLICHEN WEISHEIT,
WAHRHAFTEN VERNICHTIGUNG UND DEM INNERLICHEN FRIEDEN

41
ZWEITER TEIL

Der Unterschied zwischen dem äußeren und inneren Menschen.

1 Es gibt zwei Arten geistiger Personen, innerliche und äußerliche.Die äußerlichen suchen
Gott draußen, durch Vernunftsschlüsse, Vorstellungenund Nachgrübeln. Sie bemühen sich
namentlich durch vielerleiFasten, Kasteiung des Körpers und Abtötung der Sinne, Tugend-
zu erlangen. Sie unterwerfen sich selbst strengen Bußübungen, kleidensich in grobes Tuch,
geißeln das Fleisch durch strenge Selbstzuchtund beobachten Stillschweigen. Sie fühlen sich
in der göttlichenGegenwart, indem sie sich Gott als gegenwärtig vorstellen nachder Idee,
welche sie von Gott haben. Sie haben ihr Wohlgefallen daran,fortwährend Gott zu forschen
und geben ihre Liebe oftmals inheißen Liebesbezeugungen zu erkennen. All dieses ist aber
Kunst und Meditation.

2 Auf diese Weise trachten sie nach Größe und suchen (vermöge ihrer freiwilligen und äußer-
lichen Selbstpeinigung) nach sinnlichen Gemütsbewegungen und warmen Empfindungen,
in dem Glauben, daß Gott nur dann in ihnen Wohnung nehme, wenn sie solche haben.

3 Dies ist der äußere Weg und der Pfad der Anfänger. Obgleich er nützlich ist, gelangt man
auf ihm doch nicht zur Vollkommenheit. Ja man kommt ihr darauf sogar nicht einen Schritt
näher, wie die Erfahrung an vielen lehrt, welche nach 50 Jahren äußerlicher Übungen leer
von Gott und voll ihrer selbst sind. Sie sind und bleiben nur dem Namen nach geistige Men-
schen.

4 Es gibt andere wahrhaft Geistige, welche den ersten Teil des inneren Weges, der zur Voll-
kommenheit und Vereinigung mit Gott führt, durchschritten haben. Denn Gott hatte sie
durch seine unendliche Liebe von dem äußeren Wege abberufen, auf welchem sie sich vor-
her bewegten. Diese Menschen zogen sich in das Innere ihrer Seelen zurück, mit wahrer Er-
gebung in die Hände Gottes, unter einem völligen Von-sich werfen und sogar Vergessen ihrer
eigenen Persönlichkeit. Sie wandeln erhobenen Geistes beständig in des Herrn Gegenwart,
durch reinen Glauben, ohne Bild, Form und Gleichnis, aber mit großer, in Seelenruhe und
Gelassenheit gegründeter Zuversicht. In der ihnen verliehenen innerlichen Sammlung wirkt
der Geist mit solch einer Kraft, daß er die Seele, das Herz, den Körper und alle seine Kräfte
inwendig zusammenzieht.

5 Insofern diese Seelen die innerliche Abtötung schon vollzogen haben und von Gott in dem
Feuer der Trübsal geläutert worden sind, durch lange und qualvolle Prüfungen, die alle an
Seiner Hand und nach seinem Willen geschickt werden, sind sie Herren über sich selbst, weil
sie sich gänzlich besiegt und aufgeopfert haben. Also leben sie in großer Ruhe und innerem
Frieden. Wenn sie auch bei manchen Gelegenheiten auf Widerstand und Versuchungen sto-
ßen, erringen sie doch bald den Sieg, weil sie bereits geprüft und mit göttlicher Kraft begabt
sind. Der Sturm der Leidenschaft kann in ihnen nicht lange toben, wenn auch heftige Versu-
chungen und lästige Einflüsterungen des Bösen geraume Zeit in ihnen wirken können. Doch
werden sie alle mit unschätzbarem Gewinn überwunden, denn Gott selbst kämpft in ihnen.
42
Miguel de Molinos

6 Diese Seelen haben sich bereits eine größere Erleuchtung und wahres Wissen von Christus,
unserem Herrn, errungen, sowohl in Bezug auf seine Gottheit, als auch auf seine Menschheit.
Das ihnen verliehene Wissen gebrauchen sie mit ruhigem Schweigen in der innerlichen Un-
terredung und in dem erhabenen Teil der Seele. Diese innerliche Unterredung geschieht mit
einem Geist, der frei ist von Vorstellungen und von außen kommenden Erinnerungen, mit
einer Liebe, die rein und ledig ist von allen Kreaturen. Auch haben sie sich von nur äußerli-
chen Handlungen zu der Liebe zu Gott und der Menschheit aufgeschwungen. Sie vergessen,
woran sie sich erfreuten, und in allem finden sie, daß sie ihren Gott von ganzem Herzen und
von ganzer Seele lieben.

7 Diese glückseligen und erhabenen Seelen finden kein Gefallen an weltlichen Dingen, son-
dern an Verachtung, am Alleinsein und daran, von jedermann vergessen und verlassen zu
werden. Sie leben so uneigennützig und abgezogen dahin, daß sie sich (obgleich ihnen fort-
gesetzt übernatürliche Gnadengabe zuteil werden) doch immer gleich bleiben. Sie hängen
ihr Herz an nichts, sondern hegen im Innersten eine große Demut und Selbstverachtung.
Beständig sind sie in die Tiefe ihrer eigenen Unwürdigkeit und Niedrigkeit hinabgebeugt.
Auf diese Weise sind sie immer ruhig, heiter und gleichmütigen Geistes, sowohl den außer-
ordentlichen Beweisen göttlicher Gnadengaben gegenüber, wie auch in den strengsten und
schärfsten Qualen. Es gibt keine Nachricht, welche sie zu erschüttern vermöchte, kein glück-
liches Ereignis, welches sie erfreuen könnte. Durch Trübsale werden sie nicht verstört, noch
auch durch die innere, fortwährende und göttliche Gemeinschaft eitel und eingebildet ge-
macht. Sie bleiben stets voll heiliger und kindlicher Furcht, in bewundernswürdigem Frie-
den, Beständigkeit und Heiterkeit der Seele.

Fortsetzung des Vorhergehenden

1 Die den äußerlichen Weg Wandelnden bemühen sich, fortwährend alle Tugenden nachei-
nander auszuüben, um sich dieselben für immer anzueignen. Sie streben danach, sich von
ihren Unvollkommenheiten mit angemessener Kraftanspannung zu befreien. Sie lassen es
sich angelegen sein, ihre selbstsüchtigen Neigungen, eine nach der andern, auszurotten,
durch verschiedene und einander entgegengesetzte Verfahren. Mit all ihren Bemühungen
aber erreichen sie nichts, weil wir nichts tun können, das nicht mit Unvollkommenheit und
Ungemach behaftet wäre.

43
ZWEITER TEIL

2 Auf dem innerlichen Wege dagegen und bei dem liebenden Verkehr in Gottes Gegenwart,
wirkt der Herr Selber. Die Tugend wird aufgerichtet, der Eigennutz ausgetilgt, Unvollkom-
menheiten zerstört und Leidenschaften entfernt. Das macht die Seele unerwartet frei, und
zieht sie von allem ab (auch wenn sich Gelegenheit bietet), ohne daß sie auch nur des Guten
gedächte, welches ihr Gott mit unendlicher Barmherzigkeit zugeteilt hat.

3 Es muß jedoch bemerkt werden, daß diese Seelen, obschon sie zu hoher Vollkommenheit
gelangt sind und wahre göttliche Erleuchtung besitzen, doch ihre eigene Gebrechlichkeit,
ihre Schwächen und Untugenden tief erkennen. Sie sehen, was sie noch bedürfen, um zur
Vollkommenheit zu gelangen. Sie sind bekümmert und verachten sich selbst. Sie üben sich
selbst in liebender Gottesfurcht und Verachtung ihrer selbst. Das geschieht aber mit wahrer
Zuversicht auf Gott und Mißtrauen gegen sich selbst. Je demütiger sie in wirklicher Selbs
verachtung und Selbsterkenntnis werden, um so größeres Gefallen hat Gott an ihnen, und
sie gelangen dadurch zu einer besonderen Achtung und Verehrung in Seiner Gegenwart. All
dem Guten, das sie tun und allem was sie fortwährend von innen und außen erleiden, mes-
sen sie vor der göttlichen Gegenwart keinerlei Bedeutung bei.

4 Ihr stetiges Bestreben richtet sich darauf, mit Ruhe und Stillschweigen in sich einzudringen,
in Gott, weil dort Sein Zentrum, Seine Wohnung und Freude ist. Sie legen größeren Wert auf
diese innere Abgeschiedenheit, als auf das Sprechen über Gott. Sie ziehen sich in das Seinen
göttlichen Einfluß mit Furcht und liebender Verehrung in sich aufzunehmen. Wenn sie aus
sich herausgehen, tun sie es nur zu dem Zwecke, sich selbst zu erkennen und zu verachten.

5 Wisse aber, daß die Zahl der Seelen, die diesen göttlichen Zustand erlangen, gering ist.
Denn es gibt nur wenige, welche gern Verachtung erleiden und sich läutern und reinigen las-
sen wollen. Aus diesem Grunde wird selten eine Seele gefunden, die weiter fortschreitet und
nicht auf der Schwelle beharren bleibt, obgleich viele diesen inneren Weg betreten. Der Herr
sagte zu einer Seele: „Dieser innere Weg wird von wenigen beschritten. Er stellt eine so hohe
Gnadengabe dar, daß sie niemand verdient. Sie wird nur wenigen zuteil, weil dieser Pfad
nichts anderes ist als ein Sterben der Sinne. Die Zahl derer ist aber klein, welche so sterben
und vernichtet werden wollen. Es braucht aber eine solche Gesinnung, um dieses so hohe
und herrliche Geschenk zu erhalten.“

6 Durch das was bisher gesagt worden ist, wirst du von deinem Irrtum befreit worden sein,
und voll und ganz den großen Unterschied erkennen, der zwischen dem äußeren und inneren
Wege besteht. Du siehst jetzt den Unterschied der Gegenwart Gottes, welche durch die Me-
ditation hervorgerufen wird, und welche von Gott verliehen und übernatürlichen Ursprungs
ist, die herbeigeführt wird durch die innere Vereinigung und durch passive Beschauung. Und
endlich wirst du den großen Unterschied erkennen zwischen dem äußerlichen und innerli-
chen Menschen.

*
44
Miguel de Molinos

Das Mittel zur Erlangung des innerlichen Friedens ist nicht sinnliches
Lustgefühl, noch geistiger Trost, sondern die Vernichtung der
Eigenliebe.

1 Es ist ein Ausspruch des heiligen Bernhard, daß Gott dienen nichts anderes heißt, als Gutes
tun und Böses erdulden. Wer auf dem Wege der Annehmlichkeit und des Trostes zur Voll-
kommenheit gelangen will, ist im Irrtum. Kein anderer Trost darf von Gott begehrt werden,
als daß wir aus Liebe zu Ihm unser Leben zum Opfer bringen. Der Weg unseres Herrn Chris-
tus war nicht der Weg der Annehmlichkeit und des Behagens, auch berief Er uns durch seine
Worte und Sein Beispiel nicht zu einem solchen Weg. Hingegen sagte Er: „Wer mir nach-
folgen will, der verleugne sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich, und folge mir nach.“
(Mark.8,34). Die Seele, welche danach verlangt, mit Christus vereinigt zu werden, muß Ihm
auf dem Wege des Leidens nachfolgen. Nur so kann sie Ihm ähnlich werden. Kaum wirst
du begonnen haben, die Süßigkeit der göttlichen Liebe im Gebet zu empfinden, so wird der
Feind mit seinen trügerischen Künsten in deinem Herzen den Wunsch nach Abgeschieden-
heit und Einsamkeit erwecken. Du möchtest ohne jedes Hindernis die Zeit in beständigem
und freudevollem Gebet verbringen. Öffne aber deine Augen und bedenke, daß dieser Rat
und Wunsch nicht der wirklichen Lehre unseres Herrn Christus entspricht. Er hat uns nicht
dazu eingeladen, der Annehmlichkeit und dem Behagen unseres eigenen Willens zu folgen,
sondern vielmehr dazu, uns selbst zu verleugnen. indem er sagte: „der verleugne sich selbst“,
wollte Er soviel sagen: Wer mir nachfolgen und zur Vollkommenheit gelangen will, möge sei-
nen Eigenwillen gänzlich dahingeben. Er möge alles verlassen, sich vollkommen dem Joche
des Gehorsams und der Unterwerfung ergeben, vermittelst der Selbstverleugnung, welche
das echteste Kreuz ist.

2 Es gibt viele gottergebene Seelen, welche aus Seiner Hand große Gedanken, Gesichte und
geistige Erleuchtungen empfangen. Und doch läßt ihnen der Herr bei alldem nicht die Gnade
zuteil werden, Wunder zu verrichten, verborgene Geheimnisse zu erkennen und zukünftige
Ereignisse vorauszusagen. Er begabt aber andere Seelen mit diesen Kräften, welche fortwäh-
rend unter Trübsalen, Versuchungen und dem wahren Kreuze gewandelt sind im Geiste voll-
kommener Demut, Gehorsams und Unterwerfung.

3 O welch ein großes Glück ist es für eine Seele, unterdrückt und untergeben zu sein: was
ist es für ein Reichtum, wenn man arm ist; was für eine hohe Ehre, verachtet zu sein; welch
eine Erhöhung, erniedrigt zu werden; welcher Trost, betrübt zu sein; welches Zeugnis wah-
ren Wissens, für unwissend gehalten zu werden. Und was ist es doch endlich für eine unau
sprechliche Seligkeit, mit Christus gekreuzigt zu werden.

45
ZWEITER TEIL

4 Das ist jenes Lob, welches der Apostel pries: „Es sei ferne von mir mich zu rühmen, denn al-
lein des Kreuzes unseres Herrn Jesu Christi“ (Gal.6,14). Laßt andere sich rühmen ihres Reich-
tums, ihres Ranges, ihrer Genüsse und Ehren, für uns aber gibt es keine größere
Ehre, als verachtet und mit Christus gekreuzigt zu werden.

5 Wie betrübend aber ist es, daß kaum eine Seele gefunden wird, welche geistige Genüsse
verachtet und bereit ist, um Christi willen sich zu verleugnen und sein Kreuz voller Liebe
zu umfangen. „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“, sagt der Heilige Geist. Vie-
le werden zur Vollkommenheit berufen, aber nur wenige gelangen dahin, weil wenige das
Kreuz mit Geduld, Standhaftigkeit, Frieden und Ergebung auf sich nehmen.

6 Sich selbst in allen Dingen zu verleugnen, dem Urteil anderer sich zu unterwerfen, alle in
sich wohnenden Leidenschaften ständig zu ertöten, seine Ichheit in jeder Beziehung zu ver-
nichten, immer dem zu folgen, was dem eigenen Wollen, Verlangen und Wähnen entgegen-
gesetzt ist, das sind Dinge, welche nur wenige zu vollbringen vermögen. Viele gibt es, welche
sie predigen, aber nur wenige, die sie ausüben.

7 Manche Seelen haben diesen Pfad in Angriff genommen und begeben sich täglich auf ihn.
Sie harren aus, solange sie den süßen Geschmack ihrer anfänglichen Begeisterung haben.
Kaum aber ist diese köstliche Empfindung und Sinnesfreude entschwunden, so werden sie
wankelmütig und welchen zurück. Sie scheuen sich vor dem hereinbrechenden Sturm von
Trübsal, Versuchung und Trockenheit, welche doch nötig sind, um die Höhe der Vollkom-
menheit zu erklimmen. Das ist, aber ein klares Zeichen, daß sie sich selbst suchten, nicht
aber Gott oder die Vollkommenheit.

8 Möge es Gott gefallen, daß die Seelen, welche das Licht empfangen haben und zu dem in-
nerlichen Frieden berufen sind, die aber in Dürre, Trübsal und Versuchung keine Standhaf-
tigkeit zeigen und abfällig geworden sind, nicht in die äußerste Finsternis hinausgestoßen
werden, damit es Ihnen nicht ergeht wie jenem, der kein hochzeitliches Kleid anhatte. Denn
ob er schon ein Diener war, so war er doch nicht bereit, sondern von der Liebe zu sich selbst
besessen.

9 Dieses Ungeheuer muß bekämpft, die sieben Köpfe dieser Hydra der Eigenliebe müssen
abgeschlagen werden, damit wir auf den Gipfel des hohen Berges des Friedens gelangen kön-
nen. Dieses Ungetüm taucht an allen Orten auf. Oftmals geht es Beziehungen ein, welche
dann ein besonderes Hindernis bilden, weil sich die Natur leicht von ihnen beeinflussen läßt.
Bald verbirgt es sich, mit einem löblichen Anstrich von Dankbarkeit, unter leidenschaftli-
cher und rückhaltsloser Liebe zu dem Beichtvater (geistigen Vater); dann wieder unter der
Zuneigung zu höchst feiner, geistiger und weltlicher Hoffart und dem Flitterstaat der Ehre,
welche Dinge dem Menschen sehr stark anhaften.

46
Miguel de Molinos

Einmal trachtet es nach geistigen Genüssen, indem es sich sogar auf die Gnaden Gottes stützt,
welche Gott in Seiner Gnade dem Menschen großmütig gewährt. Ein andermal verlangt er es
maßlos nach Erhaltung der Gesundheit und sucht, unter dem Vorwand ein Werkzeug Gottes
zu sein, nur den eigenen Nutzen und die eigene Bequemlichkeit. Bisweilen umgibt es sich
auch, unter merkwürdig feinen Verhüllungen, mit dem Schein des Guten - und endlich hängt
es sich mit einer bemerkenswerten Zähigkeit in allen Stücken an das eigene Urteil und die ei-
gene vorgefaßte Meinung. Wozu die Wurzeln tief in seinem Willen begründet liegen. All dies
sind Äußerungen der Eigenliebe, und es ist unmöglich, bevor sie nicht überwunden werden,
die Höhe vollkommener Beschauung, die höchste Glückseligkeit liebevoller Vereinigung,
und den erhabenen Thron der innerlichen Friedens zu erreichen.

Von zwei geistigen Martyrien, wodurch Gott die


Seele reinigt, welche Er mit sich vereinigt

1 Zur Läuterung der Seelen, welche Gott vervollkommnen und erleuchten will, benutzt Er
zwei Wege. Der erste, welchem dieses und das folgende Kapitel handeln soll, geht durch das
bittere Meer der Trübsal, Versuchungen, Drangsale, Unterdrückungen und inneren Qualen.
Der zweite geht durch das brennende Feuer einer entflammten Liebe, einer ungeduldigen
und hungrigen Liebe. Bald bedient Er sich beider Wege bei denjenigen Seelen, welche Er
zum Gipfel der Vollkommenheit erheben will; bald versetzt Er sie in den unruhevollen Ab-
grund der Trübsal und innerer wie äußerer Bitterkeit, indem Er sie durch die Flammen har-
ter Versuchungen ausdörrt. Bald bringt Er sie in den Schmelztiegel einer ruhelosen und ei-
fersüchtigen Liebe, worin Er sie mit einer großen Gewalt zusammenzieht. Denn je größer die
Erleuchtung und Vereinigung ist, in welche der Herr die Seele zu führen beabsichtigt, um so
heftiger ist die Qual und Läuterung, da alles Wissen und die Vereinigung mit Gott aus Leiden
hervorgeht, welches der wahre Prüfstein der Liebe ist.

2 O daß du den hohen Wert der Trübsal erkennen lerntest. Sie ist es, welche die Sünden tilgt,
die Seele reinigt und Geduld erzeugt. Sie entflammt die Seele im Gebet, erweitert und bewegt
sie zur Ausübung der erhabensten Liebesarbeit. Sie macht die Seele fröhlich, bringt sie nahe
zu Gott, beruft sie und verschafft ihr Eintritt in den Himmel. Sie ist es auch, welche die, wahr-
haften Diener Gottes versucht, sie friedfertig, wachsam und standhaft macht. Sie bewirkt,
daß uns Gott schnell erhört. „Da mir angst war, rief ich den Herrn an und schrie zu meinem
Gott; Da erhörte Er meine Stimme aus Seinem Tempel“ (Ps.18,7). Sie vernichtet, läutert und
veredelt, kurz, sie ist das, was die Seele aus dem Weltlichen zum Himmlischen erhebt, aus
dem Menschlichen zum Göttlichen, indem sie dieselbe verwandelt und sie auf wunderbare
Weise mit dem menschlichen und göttlichen Wesen des Herrn vereinigt.

47
ZWEITER TEIL

Der heilige Augustinus sagte richtig, daß das Leben der Seele auf Erden Versuchung wäre.
Gesegnet ist die Seele, welche immerfort angegriffen wird, wenn sie der Versuchung stand-
haften Widerstand leistet. Es ist dies das Mittel, welches der Herr gebraucht, um sie zu de-
mütigen, zunichte zu machen, zu verzehren, zu ertöten, zu vervollkommnen und mit seinen
göttlichen Gaben zu erfüllen. Durch die Trübsal und die Versuchung krönt und verwandelt
er sie. Überzeuge dich nun selbst, daß Versuchungen und Kämpfe für den Fortschritt der
Seele notwendig sind.

3 O gesegnete Seele, wenn du nur standhaft und ruhig zu bleiben vermöchtest in dem Feu-
er der Trübsal und dich waschen lassen würdest mit dem bitteren Wasser des Leidens, wie
schnell würdest du dich reich sehen an himmlischen Gaben und wie schnell würde die himm-
lische Güte einen glänzenden Thron und eine liebliche Wohnung in deiner Seele aufrichten,
um sich in ihr zu ergötzen und zu trösten. Wisse, daß der Herr nur in ruhigen Gemütern
seine Ruhe findet. Das Feuer der Versuchung muß zuerst den Unrat der Leidenschaft aufge-
zehrt und das bittere Wasser der Betrübnis muß die schmutzigen Flecken unlauterer Begier-
den hinweggewaschen haben. Der Herr läßt sich nur dort nieder, wo der Friede herrscht und
die Eigenliebe verbannt ist.

4 Auch wenn du durch Gottes Gnade Herr über deine äußeren Sinne geworden bist, so wirst
du doch noch nicht das kostbare Unterpfand des innerlichen Friedens in deiner Seele fin-
den. Die Seele muß zuerst gereinigt werden von den unordentlichen Leidenschaften fleisch-
licher Begierde, der Wertschätzung des eigenen Begehrens und Denkens (wie geistig sie auch
immer sein mögen) und vielen andern üblen Neigungen und geheimen Lastern, welche in
deinem Inneren hausen. Denn dadurch wird der ungestörte Eintritt jenes großen Herrn,
der sich mit dir zu vereinigen wünscht, auf beklagenswerte Weise verhindert. Selbst die er-
rungenen, aber nicht geläuterten Tugenden bilden ein Hindernis für dieses große Geschenk
des innerlichen Friedens. Außerdem wird die Seele gehemmt durch das unlautere Verlangen
nach erhabenen Gnadengaben, durch den Wunsch geistigen Trost zu empfinden, durch das
Trachten nach göttlichen Gunstbezeugungen, sofern sie sich damit unterhält und ihrer mehr
zu empfangen wünscht, um sich an ihnen zu erfreuen, endlich auch durch die Begierde, groß
zu sein.

5 O wie vielerlei muß in einer Seele gereinigt werden, die auf den heiligen Berg der Vollkom-
menheit und Umwandlung durch Gott gelangen soll. O wie wohl geordnet, entblößt, selbst-
vergessen, vernichtet muß die Seele sein, welche den Eintritt dieses göttlichen Herrn in sich
nicht hindern, noch den fortwährenden Umgang mit Ihm nicht stören soll.

6 Die Anordnung dieser Vorbereitungen im Grunde der Seele für den göttlichen Eintritt muß
notwendigerweise durch die göttliche Weisheit geschehen. Wenn ein Seraph nicht genug ist,
um eine Seele zu reinigen, wie sollte eine Seele, die schwach, elend und ohne Erfahrung ist,
fähig sein, sich selbst zu reinigen?

48
Miguel de Molinos

7 Deshalb ist es der Herr, der dich lenkt und dich vorbereitet ohne dein Zutun. Von deiner
Seite braucht es keine Mithilfe, als nur die Bereitschaft zu dem inneren und äußeren Kreuz.
Dann reinigt dich der Herr durch das Feuer der Trübsal und der inneren Qual.

8 Du wirst in dir eine passive Trockenheit finden, Dunkelheit, Angst, Widersprüche, bestän-
diges Widerstreben, eine innere Verlassenheit, schreckliche Öde, unaufhörliche, starke Ein-
flüsterungen und heftige Versuchungen des Feindes. Schließlich wirst du so niedergedrückt
sein, daß du nicht mehr vermagst, dein leiderfülltes Herz emporzuheben, noch die geringste
Tat des Glaubens, der Liebe oder der
Hoffnung zu vollbringen.

9 Nun wirst du dich verlassen sehen, preisgegeben den Leidenschaften der Ungeduld, des
Zorns, der Wut, Lästerung und unlauterer Begierden. Du wirst dir selbst als das elendeste
Geschöpf erscheinen, als größter Sünder in der Welt, der von Gott Verworfenste, aller Tu-
gend beraubt und ledig. Du wirst dich in einer fast höllischen Pein so bekümmert und ver-
lassen fühlen, daß du glauben möchtest, Gott gänzlich verloren zu haben. Dies wird dir die
grausamste, schneidendste und bitterste Qual verursachen.

10 Aber wenn du dich auch auf diese Weise bedrängt siehst und dir selbst stolz, ungeduldig
und zornig vorkommst, so werden diese Versuchungen doch ihre Kraft und Gewalt über dich
verlieren. Sie haben keinen Platz in deiner Seele, da in deinem innersten Teil eine geheime
Tugend, eine erhabene Gabe innerlicher Stärke herrscht, welche die schrecklichste Marter
und Pein und die stärkste Versuchung überwindet.

11 Bleibe standhaft, o gesegnete Seele, bleibe standhaft, denn es wird dir nicht so gesche-
hen, wie du dir einbildest. Auch bist du Gott niemals näher als in solchem Zustande der
Verlassenheit. Denn wenn die Sonne auch hinter dem Gewölk verborgen ist, so verändert
sie doch nicht ihren Lauf, noch mindert sich im geringsten ihr strahlender Glanz. Der Herr
duldet diese qualvolle Verlassenheit in deiner Seele, um dich zu reinigen, zu läutern und dich
deiner selbst zu berauben. Du darfst deshalb ganz Ihm gehören und dich Ihm ganz zu eigen
geben, wie auch Seine unendliche Güte sich dir ganz hingibt, damit Er sein Wohlgefallen an
dir finden kann. Denn wenn du auch seufzest, klagst und weinst, so ist Er doch heiter und
freudevoll in dem geheimsten und verborgensten Gemache deiner Seele.

49
ZWEITER TEIL

Wie wichtig und notwendig es für die innerliche Seele ist, dieses
erste und geistige Martyrium wie blind zu erdulden.

1 Damit die Seele aus dem Irdischen zum Himmlischen emporgehoben wird und zu dem
höchsten Gut der Vereinigung mit Gott gelangen kann, ist es nötig für sie, in dem Feuer der
Trübsal und Versuchung geläutert zu werden. Es müssen zwar alle Diener des Herrn Mühse-
ligkeit, Verfolgungen und Ungemach erleiden. Aber die glücklichen Seelen, welche von Gott
den geheimen Pfad des inneren Lebens geführt werden, müssen schrecklichere und heftige-
re Versuchungen und Qualen erdulden, welche noch bitterer sind als diejenigen, womit die
Märtyrer der ersten christlichen Kirche gekrönt
wurden.

2 Die Märtyrer wurden, abgesehen von der kurzen Dauer ihrer Marter, mit hellem Licht und
besonderer Hilfe durch die Hoffnung auf die nahe und sichere Belohnung getröstet. Die ver-
lassene Seele aber, welche in sich selbst sterben und gänzlich von sich ausgehen und ihr Herz
reinigen muß, sieht sich ferne von Gott, umringt von Versuchungen, Finsternis, Bedrängnis,
Kummer, in beschwerlicher, strenger und seelischer Dürre. Sie empfindet die Schrecken des
Todes in jedem Augenblick ihrer qualvollen Versuchungen. Es ist eine schreckliche Trostlo-
sigkeit, ohne die geringste Linderung, eine so große Betrübnis, daß der Schmerz davon gleich
einem verlängerten Tod und einem fortwährenden Martyrium erscheint. Man kann deshalb
nicht ohne triftigen Grund sagen, daß - wenn es auch viele Märtyrer gibt, so gibt es doch
nur wenige Seelen, welche unserem Herrn Christus mit Frieden und Ergebung in solchen
Qualen nachfolgen. Zudem wurden die Märtyrer von Menschen gefoltert, und Gott tröstete
ihre Seelen. Hier aber ist es Gott, welcher Bedrängnis bringt und sich selbst verbirgt. Er läßt
die Dämonen, gleich grausamen Peinigern, tausend Wege finden, um Seele und Körper so zu
peinigen, daß der ganze Mensch innen wie außen gekreuzigt ist.

3 Dein Kummer wird dir unüberwindlich und deine Leiden durch keinerlei Trost heilbar er-
scheinen. Ja selbst der Himmel will keinen erquickenden Regen mehr auf dich herabsenden.
Du wirst dich von Schmerzen umfangen und von innerer Bangigkeit bedrückt fühlen, denn
deine Kräfte sind verdunkelt und dein Gebet zur Ohnmacht verurteilt. Heftige Versuchungen
werden dich bedrängen, ja auch quälende Zweifelsucht und lästiger Glaubensmangel. Ein-
sicht und Urteilskraft werden dich verlassen.

4 Alle Wesen werden dir Verdruß bereiten. Versammlungen geistlicher Art werden dir
Schmerz verursachen. Das Lesen von Büchern, wie heilig diese immer sein mögen, wird dir
nicht mehr wie früher Trost gewähren. Wenn man dir von Geduld spricht, so wird es dich
außerordentlich verstimmen. Die Furcht, Gott durch deine Undankbarkeit und durch den
Mangel an Erkenntlichkeit gegen seine Güte zu verlieren, wird deine Seele bis ins Innerste
durchwühlen. Wenn du seufzend zu Gott um Hilfe flehst,

50
Miguel de Molinos

wirst du anstatt Trost innerlichen Tadel und Ungunst von ihm empfinden. Es wird dir erge-
hen wie jenem kanaanitischen Weibe, dem Er zuerst keine Antwort gab, und das dann wie
ein Hündlein behandelt wurde.

5 Obgleich dich der Herr zu dieser Zeit nicht verlassen wird, da es unmöglich sein würde, ei-
nen Augenblick zu leben ohne Seinen Beistand, so wird die Hilfe doch so verborgen sein, daß
deine Seele sie nicht erkennen, und auch nicht der Hoffnung und des Trostes fähig sein wird.
Du wirst dich vielmehr ohne jedes Heilmittel glauben und wirst gleich den Verdammten die
Qualen der Hölle erleiden. „Stricke des Todes hatten mich umfangen, und Ängste der Hölle
hatten mich getroffen“ (Ps.116,3). Gerne möchtest du diese Qualen mit einem gewaltsamen
Tode vertauschen, denn das würde dir eine Erleichterung bringen. Und gleich wie die Ver-
dammten kein Ende ihrer Leiden und Bitterkeiten sehen, also wird es dir auch ergehen.

6 Wenn du aber wüßtest, o gesegnete Seele, wie sehr du von jenem göttlichen Herrscher
inmitten deiner langen Qualen geliebt und verteidigt wirst, so würdest du sie so süß finden,
daß Gott ein Wunder wirken müßte, um dich am Leben zu erhalten. Sei standhaft, o glückli-
che Seele, standhaft und guten Mutes. Denn wie unerträglich du dir selbst auch immer sein
magst, so wirst du doch beschirmt, bereichert und geliebt vom höchsten Gut. Es scheint
als hätte Gott nichts anderes zu tun, als dich der Vollkommenheit, den höchsten Stufen der
Liebe, zuzuführen. Wenn du dich nicht abwendest, sondern standhaft ausharrst, ohne von
deinem Unternehmen abzulassen, so wisse, daß du Gott das Ihm wohlgefälligste Opfer dar-
bringst. Wenn Gott Schmerzen empfinden könnte, so würde Er keine Ruhe finden, bis Er
diese liebende Vereinigung mit deiner Seele vollendet hätte.

7 Wenn Er durch Seine Allmacht aus deinem Chaos des Nichts so viele Wunder hervorge-
bracht hat, was wird Er dann in deiner Seele tun, welche nach Seinem eigenen Bilde und
Gleichnis geschaffen ist, wenn du nur standhaft, ruhig und ergeben ausharrst, in wahrer Er-
kenntnis deiner Nichtigkeit? Ob du schon von Leid verstört und jeden Trostes beraubt bist,
so bist du doch eine glückliche Seele, solange du darin festbleibst, nicht durch Verlangen
nach äußerlichem Trost aus dir selbst herauszutreten: Ängstige und beunruhige dich nicht
zu sehr wegen der Fortdauer dieses heftigen Martyriums. Harre aus in Demut und tritt nicht
aus dir hinaus, um nach Hilfe zu suchen. Denn dein ganzes Heil besteht darin, stille zu sein
und Friede zu halten mit Ruhe und Entsagung. Hierin wirst du die göttliche Kraft zur Über-
windung eines solch mühsamen Kampfes finden. Er ist in dir, der für dich streitet, und Er ist
die Stärke selbst.

8 Wenn du zu diesem qualvollen Zustand schrecklicher Verlassenheit gelangst, sind Weinen


und Wehklagen deiner Seele nicht untersagt, wenn sie nur in ihrem oberen Teil gefaßt bleibt.
Wer könnte auch des Herrn schwer lastende Hand ohne Tränen und Jammer ertragen? Sogar
jener große Kämpfer Hiob brach in Wehklagen aus. Auch unser Herr Christus klagte in Sei-
ner Verlassenheit, aber ihr Weinen geschah in Ergebenheit.

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ZWEITER TEIL

9 Sei nicht betrübt, wenn Gott dich auch kreuzigt und deine Treue erprobt. Folge dem Weibe
von Kanaan, das zurückgestoßen und geschmäht, den Herrn um so heftiger mit ihrer Bitte
bestürmte, obgleich sie recht erniedrigend von Ihm behandelt worden war.

10 Es ist nötig, den Becher zu leeren und nicht zurückzuweichen. Wenn die Schuppen von
deinen Augen genommen wären, wie von denen des Paulus, würdest du die Notwendigkeit
des Leidens erkennen und dich dessen rühmen. Paulus achtete es für höher, gekreuzigt
zu werden, als ein Apostel zu sein.

11 Dein Glück beruht nicht im Genießen, sondern im ruhigen und ergebenen Dulden. Die
heilige Theresa erschien nach ihren Tode einer gewissen Seele und sagte ihr, daß sie nur für
die erduldete Pein Belohnung empfangen habe, nicht aber für alle Entzückungen und Offen-
barungen, deren sie sich in dieser Welt erfreut hätte.

12 Dieses schmerzensreiche Martyrium fürchterlicher Verlassenheit und passiver Läuterung


ist so grauenvoll, daß es mit Recht den Namen „Hölle“ unter den mystischen Heiligen erhal-
ten hat. Denn es scheint unmöglich, daß jemand auch nur einen Augenblick in Qualen zu
leben vermag, die so bitter sind, daß (wie mit großem Recht gesagt werden kann) derjenige,
welcher sie leidet, sterbend lebt und im Sterben einen verlängerten Tod lebt. Nichtsdestowe-
niger sollst du wissen, daß es notwendig ist, sie zu ertragen, um zu dem süßen, erfreulichen
und überfließenden Reichtum erhabener Beschauung und liebender Vereinigung gelangen
zu können. Es hat keine heilige Seele gegeben, welche dieses geistige Martyrium und diese
schmerzlichen Qualen nicht durchgemacht hätte. Der heilige Papst Gregorius erlitt solche in
den letzten zwei Monaten seines Lebens. Franziskus von Assisi hatte sie zweieinhalb Jahre
zu ertragen. Maria Magdalena von Pazzi sogar fünf Jahre und Rosa von Peru 15 Jahre. Und
nach so vielen Wundertaten, welche die Welt in Staunen versetzte, erduldete sie der heilige
Dominikus bis nahezu eine halbe Stunde vor seinem glücklichen Tod.

13 Das andere nützlichere und verdienstlichere Martyrium der Seelen, die in Vollkommen-
heit und tiefer Beschauung schon fortgeschritten sind, ist ein Feuer göttlicher Liebe, welches
die Seele verbrennt und sie durch dieses Liebesgefühl in einen Schmerzenszustand versetzt.
- Bald stimmt die Abwesenheit ihres Geliebten die Seele traurig; bald wird ihr die süße, bren-
nende und willkommene Bürde der liebenswerten, göttlichen Gegenwart zur Qual. Dieses
süße Martyrium läßt sie immerdar seufzen; manchmal, wenn sie sich ihres Geliebten erfreut
und Ihn hat, weil das Gefühl dieses Besitzes so lieblich ist, daß sie es nicht zu fassen vermag.
Das anderemal, wenn Er sich nicht offenbart, seufzt sie wegen des heißen Dranges, womit
sie sich bestrebt, Ihn zu suchen, zu finden und zu genießen. All dies ist nichts anderes als
seufzen, dulden und sterben aus Liebe.daß du nur dazu gelangen könntest, die so entgegen-
gesetzten Zustande zu begreifen, welchen eine liebende Seele ausgesetzt ist.

52
Miguel de Molinos

Es ist ein Kampf, der auf der einen Seite furchtbar und wild und auf der andern Seite süß,
schmelzend und lieblich ist: Es ist ein Martyrium, so durchbohrend und scharf, womit die
Liebe sie quält, als auch ein peinvolles und süßes Kreuz zugleich, daß sich die Seele während
ihres ganzen Lebens nicht davon freimachen möchte:

14 In dem Grad, als Licht und Liebe sich vergrößern, wächst auch der Kummer über die Ab-
wesenheit jenes Guts, welches sie so innig liebt. Sich Ihm nahe zu fühlen, bereitet ihr Freud,
aber das niemals Fertigwerden mit dem Erkennen und der nie ganz vollkommene Besitz,
verzehrt ihr Dasein. Sie verlangt nach Speise und Trank und hat solche dicht vor ihrem
Mund, und kann sich doch nicht davon sättigen. Sie sieht sich verschlungen und versenkt in
einem Meer von Liebe, während die mächtige Hand, welche sie erretten könnte, ihr nahe ist
und es doch nicht tut. Sie weiß auch nicht, wann Er kommen wird, nach dem sie so sehnlich
verlangt.

15 Zuweilen vernimmt sie die innere Stimme ihres Geliebten, welche sie lockt und ruft. Es
ist ein sanftes, zartes Flüstern, das aus dein Geheimsten der Seele, wo Seine Wohnung ist,
hervordringt und sie mächtig ergreift. Sie wird wie zerschmolzen und aufgelöst, indem sie
sieht, wie nahe sie Ihn in sich selbst hat, und Er ihr doch so fern ist, daß sie nicht dazu gelan-
gen kann. Dies berauscht sie, erniedrigt sie, schreckt sie und erfüllt sie mit Unersättlichkeit.
Und das ist der Grund, daß man die Liebe so mächtig nennt, wie den Tod selbst, weil die
Liebe geradeso tötet wie der Tod.

Innerliche Abtötung und völlige Ergebung sind nötig


zur Erlangung des innerlichen Friedens

1 Der feinste Pfeil, welchen die Natur abschießt, ist der, uns zu dem Verbotenen zu verleiten,
unter dem Vorwand, daß es notwendig und unnützlich sein möchte. O wieviele Seelen hat
diese vergoldete Täuschung schon irregeführt und um den Geist betrogen: Niemals wirst
du das köstliche Manna schmecken, welches niemand kennt, außer dem, der es empfängt
(Offb.2,17), wenn du dich nicht gänzlich überwindest bis zur Abtötung deiner selbst. Derje-
nige, welcher sich nicht befleißigt, seinen Leidenschaften abzusterben, ist nicht wohl berei-
tet, die Gabe des geistigen Verständnisses zu empfangen. Und ohne dieses Verständnis ist es
für ihn unmöglich, in sich selbst einzudringen und in seinem Geiste verwandelt zu werden.
Denn diejenigen, welche draußen bleiben, haben nichts davon.

2 Niemals beunruhige dich wegen irgendeines Vorfalls, denn die Unruhe ist die Tür, durch
welche sich der Feind in die Seele einschleicht, um sie ihres Friedens zu berauben.

53
ZWEITER TEIL

3 Entsage und verleugne dich selbst vollkommen. Denn obwohl wahre Selbstaufopferung
anfänglich herb ist, wird sie dennoch In der Mitte leicht und am Ende sehr süß.

4 Du wirst erkennen, daß du von der Vollkommenheit noch fern bist, wenn du Gott nicht
in allen Dingen findest. Wisse, daß reine, vollkommene und wirkliche Liebe in dem Kreuze,
in freier Selbstverleugnung und Entsagung, in völliger Demut, geistiger Armut und Gering-
schätzung seiner selbst besteht.

5 In der Zeit heftiger Versuchung, Verlassenheit und Vereinsamung ist es notwendig für dich,
in das Innerste deines Wesens einzudringen, damit du nur auf Gott schauen und Ihn be-
trachten mögest, der Seinen Thron und Seine Wohnung im Grunde deiner Seele hat.

6 Du wirst Ungeduld und Herzensbitterkeit aus der Tiefe empfindlicher, hungernder und ge-
quälter Liebe emporwachsen sehen. Wahre Liebe mit ihren Wirkungen kennt man, wenn die
Liebe tief gedemütigt ist, und ernstlich wünscht, abgetötet und ausgelöscht zu sein. Es gibt
viele, die keinen Geschmack an Gott finden, obgleich sie sich dem Gebet gewidmet haben.
Denn am Ende ihrer Gebete sind sie weder abgetötet, noch dienen sie Gott länger. Um jenes
friedliche und beständige Dienen zu erlangen, ist es nötig, eine große Reinheit des Geistes
und Herzens, großen Seelenfrieden und eine umfassende Entsagung zu gewinnen.

7 Den Einfältigen und Abgetöteten ist die Wiedererweckung der Sinne eine Art von Tod, und
es geschieht ihnen auch niemals, wenn sie nicht durch Notwendigkeit oder zur Erbauung
ihrer Nächsten dazu berufen werden.

8 Der Grund unserer Seele, sollst du wissen, ist der Ort unserer Glückseligkeit. Dort zeigt uns
der Herr Wunder, dort stürzen wir und verlieren wir uns selbst in das unermessliche Meer
Seiner unendlichen Güte, in welcher wir fest und unbewegt verbleiben. Dort wohnt das un-
vergleichliche Labsal unserer Seele und ihre erhabene und süße Ruhe. - Ein demütiges und
ergebenes Herz, welches zu diesem Grunde gelangt ist, sucht nach nichts anderem mehr, als
nur Gott zu gefallen. Der heilige und liebende Geist lehrt sie alles durch Seine süße, erqui-
ckende Salbung.

9 Unter den Heiligen gibt es einige gigantische Gestalten, welche fortwährend körperliche
Leiden mit Geduld ertragen. Solchen nimmt sich Gott besonders an. Wahrlich, groß und
herrlich ist die Gabe derer, welche durch die Kraft des Heiligen Geistes, sowohl innere wie
äußere Qualen mit Zufriedenheit und Ergebung ertragen. Dies ist jene Art von Heiligkeit,
welche, je seltener sie ist, um so kostbarer vor Gottes Augen erscheint. Diejenigen, welche
diesen Pfad wandeln, sind selten, weil es in der Welt nur wenige gibt, die sich völlig selbst
verleugnen, um dem gekreuzigten Christus in Einfalt und Nacktheit des Geistes durch die
einsamen und dornigen Gebiete des Kreuzes nachzufolgen, ohne Grübeleien über sich selbst
anzustellen.

54
Miguel de Molinos

10 Ein Leben der Selbstverleugnung übertrifft alle Wundertaten der Heiligen. Ein solches
Leben weiß nicht, ob es lebendig oder tot sei, ob verloren oder gewonnen, ob es einwilligt
oder widerstrebt. Dies ist das wahrhaft entsagende Leben. Wenn es auch lange Zeit währen
wird, bevor du zu diesem Zustand gelangen kannst und du dich kaum um einen Schritt auf
ihm vorangekommen siehst, so darf dich dies doch nicht erschrecken, denn Gott pflegt die
Seele in einem Augenblick mit dem zu begnadigen, was Er ihr vorher viele Jahre hindurch
versagt hat.

11 Derjenige, welcher wünscht, blindlings Unrecht zu dulden, ohne den Trost Gottes oder
Seiner Geschöpfe, ist so weit fortgeschritten, daß er ungerechten Anschuldigungen keinen
Widerstand mehr entgegensetzen kann. Ja auch in der schrecklichsten, inneren Verlassen-
heit ist er unfähig dazu.

12 Der geistige Mensch, welcher durch Gott und in ihm lebt, bleibt innerlich gleichmütig
inmitten alter Widerwärtigkeiten, weil Kreuz und Ungemach ihm Leben und Freude sind.
Die Trübsal ist ein großer Schatz, womit Gott die Seinen in diesem Leben auszeichnet. Des-
halb sind böse Menschen für die guten notwendig und auch die Dämonen, welche uns zu
verderben suchen, indem sie Drangsal über uns bringen. Sie können uns aber nicht schaden,
sondern nur den denkbar höchsten Nutzen schaffen.

13 Es muß Trübsal geben, denn nur so wird das Leben eines Menschen für Gott annehmbar.
Ohne Trübsal ist das Leben gleich dem Körper ohne Seele, der Seele ohne Gnade, der Erde
ohne Sonne. Mit dem Winde der Trübsal trennt Gott auf der Tenne der Seele die Spreu von
dem Korn. Wenn Gott in dem innersten Teil der Seele Schmerz schafft, vermag ihr kein Ge-
schöpf Trost zu bringen; ja Tröstungen sind sogar schwere und bittere Qualen für sie.

14 Wenn sie wohl unterrichtet ist über Gesetz und Ordnung der Wege reiner Liebe, in der
Zeit großer Verlassenheit und innerer Pein, so sollte sie nicht außerhalb unter den Geschöp-
fen nach Trost suchen, noch sich mit ihnen beklagen. Auch wird sie nicht fähig sein, geistige
Bücher zu studieren, weil dies ein geheimer Weg ist, sich dem Leiden zu entziehen.

15 Zu bedauern sind jene Heiligen, welche nicht zu der Einsicht kommen können, daß Trüb-
sal und Leiden der größte Segen für sie sind. Die Vollkommenen sollten immerdar nach dem
Tode und nach Leiden trachten, und jederzeit in einem Zustande des Todes und Leidens
sein. Nichtig ist der Mensch, welcher nicht duldet, denn er ist dazu geboren, daß er sich mü-
hen und leiden soll. Und das gilt ganz besonders für die Freunde und Erwählten Gottes.

16 Lege deinen Irrtum ab und glaube, daß es für die Seele notwendig ist, daß sie sich verneine
und verliere in ihrem Leben, Fühlen, Wissen und Können, um zur vollkommenen Umgestal-
tung in Gott gelangen zu können. Sie muß sterben lebend und nicht lebend, sterbend und
nicht sterbend, duldend und nicht duldend, sich verleugnend und nicht verleugnend, ohne
über etwas nachzugrübeln.
55
ZWEITER TEIL

Die Vollkommenheit derer, die ihr nacheifern, erlangt ihren Glanz nur durch das Feuer, durch
Martyrien, Schmerzen, Qualen, Bedrängnisse und Demütigungen, welche mit Tapferkeit
und Mut ertragen werden. Derjenige aber, welcher einen Rastpunkt zu haben wünscht, um
auszuruhen, und die Vernunftschlüsse des Denkens und der Sinneswahrnehmungen nicht
überschreitet, wird niemals in das geheime Gemach des Wissens eingehen, wenn er auch
durch Lesen vielleicht einen Vorgeschmack davon bekommen kann.

Fortsetzung des Vorhergehenden

1 Wisse, daß sich der Herr nicht eher in deiner Seele offenbaren wird, als bis diese in sich
selbst vernichtet und tot ist in allen ihren Sinnen und Kräften. Auch wird sie niemals zu
diesem Zustande gelangen, bevor sie nicht (nach vollkommener Selbstentäußerung) den
festen Entschluß gefaßt hat, ganz allein mit Gott zu sein. Ja sie darf keinen Unterschied mehr
machen zwischen Achtung und Verachtung, zwischen Licht und Finsternis, Kampf und Frie-
den. Kurz, damit die Seele zur völligen Ruhe und zu höchstem, innerlichem Frieden gelangen
kann, sollte sie zuerst in sich selbst sterben und allein in Gott und für Ihn leben. Je mehr sie
in sich selbst tot ist, umsomehr wird sie Gott erkennen. Wenn sie aber auf diese fortgesetzte
Selbstverleugnung und innerliche Abtötung nicht achtet, wird sie nimmermehr zu diesem
Zustande gelangen, noch auch Gott in sich erhalten. Sie wird immerfort leidenschaftlichen
Aufwallungen des Gemüts unter- worfen sein, wie Vorurteilen, Murren, Empfindsamkeit,
Entschuldigungen, Verteidigungen. Auch wird sie auf Ehre und einen guten Namen achten,
welche Dinge alle Feinde der Vollkommenheit, des Friedens und des Geistes sind.

2 Unter denjenigen, die auf geistigem Wege wandeln, ist das Absterben der Gemütszustände
nicht bei allen gleich. Groß ist der Unterschied, welcher zwischen Tun, Leiden und Sterben
besteht. Das Tun ist erfreulich und gehört den Anfängern. Das Leiden mit Verlangen kommt
den Fortgeschrittenen zu, und das immerwährende Sterben in sich selbst ist denjenigen
zu eigen, welche vollendet und vollkommen sind, von denen man nur wenige auf der Welt
findet. An den Glücklichen aber, welche einen fortwährenden Tod erleiden, hat Gott seine
Wonne, Seinen Ruhm und Sein Wohlgefallen. Wie glücklich wirst du sein, wenn du keinen
andern Gedanken hast, als in dir selbst zu ersterben. Du wirst dann nicht nur Sieger über
deine Feinde, sondern auch über dich selbst werden. Da wirst du dann finden reine Liebe,
vollkommenen Frieden und göttliche Weisheit.

3 Ein Mensch kann unmöglich mystisch denken und leben in einfältigem Verständnis der
göttlichen und eingeflößten Weisheit, bevor er nicht zuerst in sich selbst erstirbt durch voll-
ständige Aufgabe des Sinnlichen und allen intellektuellen Verlangens.

56
Miguel de Molinos

4 Für einen geistigen Menschen gilt die oberste Regel, alle Dinge ihren Lauf nehmen zu las-
sen und dich in nichts zu mischen, wozu du durch deine Pflicht nicht angehalten bist. Denn
eine Seele, welche alles verläßt um Gott zu finden, fängt an alles, was sie sucht, im Ewigen zu
besitzen.

5 Es gibt Seelen, welche nach Ruhe suchen; andere, welche sie nicht suchen, genießen sie;
andere haben Freude am Schmerz, und andere suchen ihn. Die ersten tun so gut wie nichts;
die zweiten machen Schritte; die dritten laufen; und die letzten fliehen.

6 Vergnügen geringzuschätzen und sie als Pein zu erachten, ist die Eigentümlichkeit eines
wahrhaft abgetöteten Menschen.

7 Frohgefühl und innerlicher Friede sind die Früchte des göttlichen Geistes, und niemand
erlangt ihren Besitz, wenn er nicht im Innersten der Seele ein Entsagender ist.

8 Du wirst erkennen, daß das Mißvergnügen geistlicher Menschen schnell verschwindet;


dessen ungeachtet aber bemühe dich, niemals mißvergnügt zu werden, noch darin zu ver-
harren, denn es schädigt deine Gesundheit, verstört die Vernunft und beunruhigt deinen
Geist. Von anderen heiligen Ratschlägen, die du beobachten mußt, präge dir die folgenden
gut ein: Schaue nicht auf die Fehler anderer, sondern nur auf deine eigenen. Beobachte Still-
schweigen, mit einem beständigen, inneren Verkehr mit dir selbst. Ertöte dich in allen Din-
gen und zu jeder Zeit, wodurch du dich von vielen Unvollkommenheiten befreien und zum
Herrscher über große Tugenden machen wirst.

9 Töte dich darin ab, daß du über niemand jemals übel urteilst, weil die Verdächtigung dei-
nes Nächsten die Reinheit des Herzens trübt, dasselbe beunruhigt, die Seele aus sich heraus-
führt und ihre Ruhe raubt.

10 Niemals wirst du die vollkommene Entsagung besitzen, wenn du Wert legst auf mensch-
liche Wertschätzung und Rücksicht nimmst auf das, was die Leute sagen mögen. Die Seele,
welche auf dem innerlichen Wege dahinschreitet, wird sich bald verlieren, wenn sie einmal
anfängt, unter den Geschöpfen und im Verkehr mit ihnen nach Vernunft zu suchen. Es gibt
nichts Vernünftigeres, als nicht nach Vernunft auszuschauen, sondern zu glauben, daß Gott
uns von Beschwerden überfallen läßt, um uns zu demütigen, zu vernichten und zu einem
völlig selbstlosen Leben zu führen.

11 Betrachte, wie Gott eine Seele höher schätzt, welche innerlich ergeben lebt, als eine ande-
re, welche Wunder verrichtet und sogar Tote auferweckt: Viele Seelen gibt es, welche trotz
allem Beten doch immer unvollkommen und voller Eigenliebe bleiben, weil sie nicht ertötet
sind. Als wahren Grundsatz mögest du in dein Herz fassen, daß niemand eine Seele kränken
oder schmähen kann, welche sich selbst verachtet und in ihren eigenen Augen nichts ist.

57
ZWEITER TEIL

12 Endlich hoffe, dulde, schweige und habe Geduld. laß dich von nichts ängstigen, durch
nichts erschrecken; denn alles nimmt ein Ende; nur Gott bleibt Sich gleich. Geduld erringt
alles. Wer Gott besitzt, hat alles; wer Ihn nicht hat, hat nichts.

Um den inneren Frieden zu erlangen, ist es nötig,


daß die Seele ihr Elend erkennt

1 Würde die Seele nicht in einige Fehler verfallen, so könnte sie niemals ihr eigenes Elend
verstehen lernen, auch nicht durch menschliche Rede oder geistliche Bücher. Darum muß
sie zuerst ihre eigene bejammernswerte Schwäche erkennen, wenn sie jemals den köstlichen
Frieden erlangen will. Denn wie kann eine Heilung geschehen, wo keine klare Erkenntnis des
Mangels ist. Gott wird bald diesen, bald jenen Fehler über dich verhängen, damit du durch
diese Erkenntnis deiner selbst, wenn du dich so oftmals straucheln siehst, zu der Überzeu-
gung kommen mögest, daß du ein bloßes Nichts bist. Denn erst im Nichts sind Wissen und
Glauben, wahrer Friede und vollkommene Demut gegründet. Und damit du dieses Geheim-
nis (von dem was du bist) tiefer erforschen und erkennen mögest, will ich versuchen, dich
über einige deiner mannigfaltigen Untugenden aufzuklären.

2 Du bist so unruhig und empfindlich, daß wenn du auch nur beim Gehen strauchelst oder
auf deinem Wege gehindert wirst, die Hölle selbst empfindest. Wenn dir deine Forderung
verweigert oder ein Vergnügen durchkreuzt wird, so brausest du sogleich zornig auf. Wenn
du an deinem Nachbar einen Fehler erspähst, tadelst du ihn unbesonnenerweise, anstatt
ihn zu bedauern und daran zu denken, daß du selbst solchen Untugenden unterworfen bist.
Wenn du einen für dich geeigneten Gegenstand erblickst, und kannst ihn nicht erlangen,
so wirst du betrübt und von Kummer erfüllt. Wenn du eine geringfügige Unbill von deinem
Nächsten erleidest, schiltst du auf ihn und beklagst dich darüber; und gerätst wegen einer
Kleinigkeit innerlich und äußerlich in Unruhe und verlierst dich selber.

3 Du möchtest zwar geduldig sein, aber mit der Geduld eines andern. Und wenn die Ungeduld
anhält, schiebst du die Schuld voller Verdruß auf deinen Gefährten, ohne zu bedenken, daß
du dir selbst unerträglich bist. Ist dein Groll dann verraucht, so hüllst du dich listig wieder in
das Gewand der Tugend, indem du sittliche Grundsätze aufstellst und geistige Redensarten
mit Verstandesschärfe vorbringst, ohne deine früheren Mängel zu bessern. Obgleich du dich
willig anklagst und deine Fehler vor andern tadelst, geschieht dies nicht aus vollkommener
Demut, sondern um dich vor demjenigen, welcher deine Gebrechen sieht, zu rechtfertigen,
damit du aufs neue zu deiner früheren Selbstschätzung zurückkehren kannst.

58
Miguel de Molinos

4 Bisweilen behauptest du voller List, daß du nicht durch lasterhafte Gewohnheit, sondern
von eifrigem Gerechtigkeitsgefühl dazu verleitet wirst, dich über deinen Nächsten zu bekla-
gen. Du hältst dich zumeist für tugendhaft, standhaft und mutig, so daß du selbst dein Le-
ben in die Hände des Tyrannen hingeben würdest, um der göttlichen Liebe willen. Indessen
vermagst du kaum das geringste verletzende Wort zu ertragen, sondern betrübst dich und
gerätst gleich darüber in Unruhe. Dies alles sind stets arbeitende Maschinen der Selbstliebe
und des verborgenen Stolzes deiner Seele. Wisse daher, daß die Eigenliebe in dir herrscht,
welche das größte Hindernis bildet zur Erlangung jenes köstlichen Friedens.

Es wird gezeigt, welches die falsche und welches die


wahre Demut ist, nebst deren Wirkungen

1 Du mußt wissen, daß es zwei Arten Demut gibt; die eine ist falsch und erlogen, die ande-
re wahr. Die erheuchelte Demut ist gleich dem Wasser, das emporsteigen soll und deshalb
künstlich abwärts getrieben wird, damit es nachher in die Höhe steigt. Solche Seelen vermei-
den jegliche Ehrbezeugung, damit sie für demütig gehalten werden. Sie sagen von sich selbst,
daß sie sehr böse seien, damit sie für gut gehalten werden möchten; und wiewohl sie ihre
eigene Fehlerhaftigkeit erkennen, so wünschen sie doch nicht, daß diese auch von andern er-
kannt werden sollen. Das ist falsche, erheuchelte Demut und nichts als ein geheimer Dünkel.

2 Die wahre Demut wird daran erkannt, daß sie zur vollkommenen Gewohnheit geworden
ist. Solche Seelen denken niemals an die Demut, sondern urteilen demütig von sich selbst.
Sie wirken mutig und geduldig, sie leben und sterben in Gott, sie machen sich weder aus sich
selbst noch aus den Kreaturen etwas. Sie sind in allen Dingen standhaft und ruhig, erdul-
den frohgemut Beschwerden und wünschen deren stets noch mehr, damit sie ihrem gelieb-
ten und verachteten Jesus nachfolgen können. Sie verlangen danach, der Welt ein Gespött
und Spielball zu sein. Sie sind zufrieden mit dem, was sie von Gott empfangen, und sind
mit einem wohltuenden Schamgefühl von ihren Fehlern überzeugt. Sie demütigen sich nicht
durch einen Entschluß der Vernunft, sondern durch einen inneren Willensdrang. Sie bleiben
stets unbewegt in ihrem Nichts und in sich selbst mit vollkommenem Frieden, so daß es
keine Ehre gibt, wonach sie verlangen, keine Beleidigung, welche sie aufregen könnte, kein
Unrecht, welches sie verstörte, keine Mühseligkeit, die sie bedrückte, kein Glücksfall, der sie
stolz machen könnte.

59
ZWEITER TEIL

3 Damit du bekannt werden mögest mit der innerlichen und wahren Demut, so wisse, daß
sie nicht in äußerlichen Handlungen besteht. Sie besteht nicht im Einnehmen des geringsten
Platzes, in dürftiger Kleidung, in unterwürfiger Redeweise, im Schließen der Augen, in zärt-
lichen Seufzern, im Verurteilen deiner Lebensführung, indem du dich einen Elenden nennst,
um andern verstehen zu geben, daß du demütig seiest. Sie besteht einzig und allein in der
Verachtung deiner selbst und in dem Begehren, verabscheut zu werden, mit einem tiefen
und gründlichen Wissen, ohne zu bekümmern, ob du für demütig gehalten wirst oder nicht
und wenn es gleich durch einen Engel geschähe.

4 Die Qual des Lichts, womit der Herr in Seiner Barmherzigkeit die Seele erleuchtet, bewirkt
zweierlei: Sie offenbart die Größe Gottes und bewirkt zu gleicher Zeit, daß die Seele ihre ei-
gene Hilflosigkeit erkennen kann. Keine Zunge vermöchte es auszudrücken, wie tief sie zu
Boden gedrückt ist, voll heißen Verlangens, jedermann ihre Niedrigkeit erkennen zu lassen.
Und dies ist so weit von Großsprecherei und Selbstgefälligkeit entfernt, als sie in jener Gna-
de Gottes nichts als Seine Güte und lautere Barmherzigkeit erblickt, welcher es gefällt, sich
ihrer zu erbarmen.

5 Niemals wird dir von Menschen oder Teufeln Schaden gebracht werden, sondern allein
durch dich selbst, durch deinen eigenen Stolz und dem Ungestüm deiner Leidenschaften. Sei
vor dir selbst auf der Hut, denn du bist dir selbst der größte aller Teufel.

6 Laß dich nicht nach Hochschätzung gelüsten, während doch Jesus, als Gott im Fleisch, ein
Narr und Trunkenbold genannt und bezichtigt wurde. Von Ihm sagten Menschen, Er sei vom
Bösen besessen. O welch eine Torheit der Christen! Gern möchten sie alle der Glückseligkeit
teilhaftig werden, ohne jedoch willens zu sein, Ihm auf dein Wege des Kreuzes nachzufolgen.
Sie wollen keine Schmähungen erdulden, keine Erniedrigung auf sich nehmen und nicht in
Armut leben und in anderen Tugenden. Der wahrhaft demütige Mensch ist ruhig und heiter
in seinem Herzen. Da besteht er die Prüfung, die ihm auferlegt wird von Gott und den Men-
schen, ja vom Teufel selbst. Er ist erhaben über alle Vernunft und Klugheit, selbstbeherrscht
und bleibt in der Ruhe und dem Frieden der Seele. Er sucht in aller Demut reines, göttliches
Genüge, sowohl im Leben als auch im Tod. Äußere Dinge beunruhigen ihn nicht mehr, als
waren sie gar nicht vorhanden.

7 Das Kreuz und der Tod sind ihm Entzücken, obgleich er es nicht äußerlich zur Schau trügt.
Aber ach: von wem sprechen wir eigentlich? Denn es gibt solche demütige Menschen nur
sehr wenige auf der ganzen Welt.

8 Hoffe du, verlange, dulde und stirb, ohne daß jemand darum weiß. Denn darin beruht die
demütige und vollkommene Liebe: O wieviel Friede wirst du in deiner Seele fin den, wenn du
dich gründlich demütigst und sogar die Verachtung in Liebe umfassest.

60
Miguel de Molinos

9 Niemals wirst du zu vollkommener Demut gelangen, solange du nicht begehrst, daß deine
eigene Sündhaftigkeit (die du erkannt hast) auch allen andern Menschen bekannt werden
möchte. Wenn das geschieht, so wirst du dann Lobeserhebungen vermeiden, Beleidigungen
ruhig über dich ergehen lassen und alles verschmähen, was einen schonen Schein, selbst auf
dein eigenes Sein wirft.

10 Wenn dich irgendein Mißgeschick überfällt, so klage niemanden deswegen an, sondern
halte dafür, daß es aus Gottes Hand kommt, dem Geber alles Guten. Wenn du die Fehler dei-
nes Nächsten zu ertragen wünschest, so richte deine Augen auf deine eigenen. Und wenn du
dir einbildest, einen Fortschritt in der Vollkommenheit durch eigene Kraft gemacht zu ha-
ben, so wisse, daß du keinesfalls demütig, noch einen Schritt vorangekommen bist auf dem
Wege des Geistes.

11 Die Stufen der Demut sind zu vergleichen mit den Zuständen eines begrabenen Körpers,
der am tiefsten Platz bestattet ist, gleich einem Toten, verfault und verwest. So sollst du sein
in der eigenen Meinung, nämlich Staub und Nichts. Endlich, wenn du wünschest gesegnet zu
sein, so lerne dich selbst verabscheuen und von andern verabscheut zu werden.

Grundsätze, ein einfältiges, demütiges und aufrichtiges Herz zu erkennen

1 Ermanne dich, demütig zu sein und Trübsal willkommen zu heißen, weil es zu deinem Bes-
ten dient. Freue dich der Geringschätzung und richte dein Verlangen darauf, daß Gott deine
heilige Zuflucht, dein Trost und Beschützer sein möge.

2 Wer in der Gunst Gottes steht, ist größer als jeder Mensch auf Erden und möchte er noch
so ein hohes Ansehen genießen. Daher verachtet der wahrhaft demütige Mensch alles Weltli-
che, sogar bis auf sich selbst und setzt sein Vertrauen und seine Zuflucht einzig und allein in
Gott. Der wirklich Demütige erträgt still und geduldig innere Beschwerden. Er legt in kurzer
Zeit eine lange Wegstrecke zurück, gleich einem, der vor dem Winde segelt.

3 Der wahrhaft Demütige findet Gott in allen Dingen. Er nimmt alles aus Gottes Hand, auch
die Verachtung, Beschimpfung und Unbill durch Kreaturen. Darum kann er alles mit großem
Frieden und innerlicher Ruhe entgegennehmen und das Werkzeug, womit Gott ihn prüft,
mit besonderer Liebe umfassen.

4 Zu gründlicher Demut ist noch nicht gekommen, wer an Lobsprüchen Gefallen findet, ob-
gleich er sie weder wünscht noch sucht, sondern ihnen vielmehr aus dem Wege geht. Denn
Lobeserhebungen verursachen einem demütigen Herzen bittere Pein, wenn es dabei auch
vollkommen ruhig und unbewegt bleibt.
61
ZWEITER TEIL

5 Derjenige besitzt keine innerliche Demut, welcher sich nicht selbst verabscheut mit einem
tödlichen, aber dabei friedlichen und ruhigen Hasse. Keiner jedoch wird in den Besitz dieses
Schatzes gelangen, welcher nicht eine tiefe und gründliche Erkenntnis hat von seiner eige-
nen Schlechtigkeit, Verderbtheit und Schwäche.

6 Wer sich zu entschuldigen und zu rechtfertigen sucht, besitzt kein einfältiges und demü-
tiges Herz, besonders wenn er dies gegen seine Vorgesetzten tut. Denn Entgegnungen ent-
springen einem geheimen Dünkel, welcher in der Seele wohnt und zu einem völligen Verder-
ben gereicht.

7 Falschheit ist ein Zeichen geringer Unterwerfung. Und eine geringe Unterwerfung ist ein
Zeichen noch geringerer Demut. Sowohl das eine als das andere ist der Nährboden von Un-
frieden, Zwietracht und Verwirrung.

8 Das demütige Herz kommt nicht in Unruhe bei Unvollkommenheiten. Es wird aber doch
bis ins Innerste betrübt, weil sie Gott nicht gefallen können. Einem Demütigen ist es auch
gleichgültig, wenn er keine großen Dinge ausüben kann, denn er verharrt immerdar in sei-
ner eigenen Unwürdigkeit und seinem Nichts. Ja er verwundert sich sogar, daß er überhaupt
etwas Tugendhaftes zu tun vermag und dankt dem Herrn sogleich dafür, wohl wissend, daß
es Gott ist, der alles tut. Hingegen ist er unzufrieden mit seinem eigenen Wirken.

9 Obgleich der wirklich Demütige alles sieht, bückt er doch auf nichts, um es zu verurteilen,
weil er nur über sich selbst übel urteilt. Der wahrhaft Demütige findet stets eine Entschul-
digung für den, welcher ihn kränkt, zum mindesten darin, daß er es in einer guten Absicht
getan habe. Und wer könnte wohl einem Menschen zürnen, welcher das Gute beabsichtigt?

10 Gott mißfällt die falsche Demut mehr als der wirkliche Stolz, weil jene außerdem Heuche-
lei ist.

11 Der wahrhaft Demütige wird, wenn auch alles für ihn einen widrigen Ausgang nimmt,
doch dadurch weder beunruhigt noch betrübt, weil er darauf vorbereitet und überzeugt ist,
er verdiene es nicht anders. Er gerät unter dem Ansturm lästiger Gedanken, womit ihn der
Böse zu quälen sucht, weder in Anfechtungen noch in Unruhe. Er bekennt vielmehr seine
Unwürdigkeit und ist erfreut darüber, daß der Herr ihn durch den Teufel züchtigt, obgleich
es durch ein gewöhnliches Werkzeug geschieht. All sein Leiden erscheint ihm ein Nichts und
alles ist ihm unbedeutend, was er auch immerzu tun vermag.

12 Wer die vollkommene, innere Demut erlangt hat, empfindet es als große Pein, sich selbst
ertragen zu müssen. Trotzdem kommt er bei keiner Gelegenheit aus der Fassung, weil er sich
selbst verabscheut und seine Unvollkommenheit, seine Undankbarkeit und Gebrechlichkeit
in allen Dingen erkennt. Dies ist das Merkmal, woran die wahre Herzensdemut erkannt wird.

62
Miguel de Molinos

Die glückliche Seele aber, welche zu diesem heiligen Haß ihrer selbst gelangt ist, lebt über-
wältigt, ertränkt und verschlungen in der Tiefe ihrer eigenen Nichtigkeit. Der Herr erhebt sie
aber daraus empor, indem er ihr göttliche Weisheit verleiht und sie mit Licht, Frieden, Ruhe
und Liebe erfüllt.

Die innerliche Abgeschiedenheit ist es vor allem, welche den


Menschen zur Erlangung des inneren Friedens führt

1 Obgleich die äußere Einsamkeit viel dazu verhilft, den inneren Frieden zu erlangen, so
meinte der Herr doch diese nicht, wenn Er durch den Mund des Propheten sagt: „Ich will
sie in die Einsamkeit führen und im Verborgenen mit ihr reden“ (Hos.2,16). Denn hier ist die
innerliche Einsamkeit gemeint, welche (verbunden mit der äußeren) zur Erlangung des kost-
baren Kleinods des inneren Friedens führt. Die innerliche Einsamkeit besteht im Vergessen
der Kreaturen, in der Loslösung seiner selbst von ihnen, in einer vollkommenen Entäuße-
rung von allen Zuneigungen, Gedanken, Wünschen und dem Eigenwillen. Dies ist die wahre
Einsamkeit, wo die Seele mit süßer, innerer Heiterkeit in den Armen ihres höchsten Gutes
ruht.

2 O welch unendlicher Raum ist in einer Seele, welche zu dieser göttlichen Abgeschiedenheit
gelangt ist. Da breitet sich eine innere, umfassende, verborgene und unermessliche Weite
aus in einer solchen glücklichen Seele, die dazu gelangt ist, wahrhaft einsam zu sein. Dort
unterredet sich der Herr und verkehrt innerlich mit der Seele; dort erfüllt Er sie mit Sich
selbst, weil sie leer ist. Er umhüllt sie mit Licht und mit Seiner Liebe, weil sie nackt ist. Er
liebt sie empor, weil sie erniedrigt ist und verwandelt sie und vereinigt sie mit Sich, weil sie
allein ist.

3 O wonnevolle Einsamkeit und Gleichnis ewiger Seligkeiten: O Spiegel, in welchem der ewi-
ge Vater immerdar erblickt wird: Mit Recht hat man dich Einsamkeit genannt, denn du bist
so sehr allein, daß sich kaum eine Seele findet, welche nach dir sucht, welche dich liebt und
dich kennt. O göttlicher Herr! Warum streben die Seelen von der Erde nicht nach dieser Herr-
lichkeit! Warum verscherzen sie sich ein so hohes Gut allein durch die Liebe zu erschaffenen
Dingen und durch das Verlangen nach ihnen‘ O wie glücklich würdest du sein, gesegnete
Seele, wenn du alles verließest um Gottes willen: Suche einzig und allein Ihn, verlange nach
nichts als nur nach Ihm; laß deine Seufzer nur für Ihn sein. Wolle, nichts, so wird dir nichts
Beschwerde bereiten. Und so du etwas Gutes begehrst, wie geistig es auch immer sei, tue es
in solcher Weise, daß es dich nicht verstört, wenn du es nicht erlangen kannst.

63
ZWEITER TEIL

4 Wenn du mit solcher Unabhängigkeit Gott deine weltentfremdete, freie und abgeschiedene
Seele übergibst, so wirst du das glücklichste Geschöpf auf Erden sein. Denn in dieser heiligen
Einsamkeit hat der Höchste seine geheime Wohnung. In dieser Einöde und diesem Paradies
erfreuen wir uns des Verkehrs mit Gott. Nur in dieser innerlichen Zurückgezogenheit kann
jene wunderbare, machtvolle und göttliche Stimme vernommen werden.

5 So du einzutreten wünschest in diesen irdischen Himmel, vergiß jede Sorge und jeden Ge-
danken. Tritt aus dir selbst heraus, damit die Liebe Gottes in deiner Seele leben kann.

6 Lebe, soviel du vermagst, abgezogen von den Kreaturen. Weihe dich gänzlich deinem
Schöpfer und bringe dich Ihm zum Opfer dar mit friedlichem und ruhigem Geist.

7 Je mehr die Seele sich selbst entäußert, desto weiter geht sie ein in diese innere Einsamkeit,
wo sie mit Gott bekleidet wird. Je weiter sie in eine größere Abgeschiedenheit und Leerheit
ihrer selbst gelangt, um so mehr erfüllt sie der göttliche Geist.

8 Es gibt kein gesegneteres Leben als ein einsames, weil in einem solchen Leben sich Gott
selbst ganz der Kreatur hingibt. Gleichzeitig gibt sich die Kreatur ganz ihrem Gott hin durch
ein inniges und köstliches Liebesband. O wie wenige gelangen dazu, diese wirkliche Einsam-
keit zu schmecken:

9 Damit die Seele wahrhaft einsam sei, sollte sie alle Kreaturen und sogar sich selbst verges-
sen, da sie sonst niemals Gott näher kommen kann. Viele Menschen verlassen alles, kommen
aber nicht los von ihren Neigungen, ihrem eigenen Willen und von sich selbst. Daher werden
so wenige dieser wahrhaft Einsamen gefunden. Denn solange die Seele nicht frei wird von
eigener Begierde und Verlangen, von ihrem eigenen Willen, von geistigen Gaben, ja selbst
von der Ruhe im Geist, wird sie niemals zu diesem hohen Glück der innerlichen Einsamkeit
gelangen können.

10 Schreite vorwärts, o gesegnete Seele, vorwärts zu dieser Glückseligkeit der inne-


ren Einsamkeit. Siehe wie Gott dich ruft einzutreten in dein innerliches Zentrum, wo Er
dich erneuern, dich verwandeln, dich erfüllen, dich bekleiden und dir ein neues, himm-
lisches Königreich zeigen will, das voll ist von Freude, Friede und Heiterkeit der Seele.

64
Miguel de Molinos

Es wird gezeigt, was verliehene und passive Beschauung ist,


und ihre wunderbare Wirkung vor Augen geführt

1 Wenn die Seele einmal an die innerliche Sammlung und erworbene Betrachtung (von wel-
cher wir gesprochen haben) gewöhnt ist, wenn sie einmal ertötet ist und ihren Lüsten zu
entsagen wünscht, wenn sie einmal kraftvoll innere wie äußere Erniedrigung willkommen
heißt und willig ist, aufrichtigen Sinnes ihren Leidenschaften und eigenem Tun abzusterben,
so pflegt Gott sie allein zu Sich zu nehmen, und sie (mehr als ihr bewußt ist) zu einer voll-
kommenen Ruhe zu erheben. Da läßt Er sein Licht, seine Liebe und seine Kraft lieblich und
innerlich in sie einströmen und erschafft und entzündet in ihr eine wahre Fähigkeit zu jeder
Art von Tugend.

2 Daselbst versetzt sie der göttliche Bräutigam, indem Er das Wirken ihrer Kräfte aufhebt,
in eine sanfte und wohltuende Ruhe. Es ist eine entzückende, wonnige Ruhe, da die Seele im
Schlafe empfängt und genießt, ohne zu wissen was sie genießt. Sie sieht sich erhoben und
emporgezogen zu diesem passiven Zustande, vereinigt mit ihrem höchsten Gut, ohne daß
es ihr irgendeine Mühe und Anstrengung kostet, diese Vereinigung zu erlangen. In dieser
erhabensten Region und dem heiligen Tempel der Seele findet Gott Seine Zufriedenheit. Da
offenbart Er sich und schafft ein Wohlgefallen aus der Kreatur, in einer Weise, die erhaben ist
über alle menschliche Fassungskraft und Vernunft. Da regiert sie auch allein der reine Geist,
welcher Gott ist und gelangt (da die Reinheit der Seele für sinnliche Dinge unempfänglich
ist) zur Herrschaft über sie, indem Er ihr Erleuchtungen und diejenigen Empfindungen zuteil
werden läßt, welche zu der vollkommensten und reinsten Vereinigung nötig sind. Wenn die
Seele aus diesen lieblichen und göttlichen Umarmungen wieder zu sich selbst gekommen ist,
wird sie reich an Licht und Liebe, an einer tiefen Ehrfurcht vor der göttlichen Grüße, sowie
an Erkenntnis ihrer eigenen Ohnmacht. Sie sieht sich ganz göttlich verwandelt und befähigt,
liebend zu umfassen, zu dulden und vollkommene Tugend auszuüben.

3 Eine einfältige, reine, verliehene und vollkommene Beschauung ist deshalb eine erkannte
und innerliche Offenbarung, welche Gott von Sich selbst, von Seiner Güte, von Seinem Frie-
den und von Seiner Milde gibt. Da zeigt sich Gott rein, unaussprechlich, abgezogen von allen
besonderen Gedanken, inmitten einer innerlichen Stille. Aber es ist Gott voller Seligkeit, ein
Gott, welcher uns an Sich zieht, ein Gott, welcher uns wonnesam emporhebt auf eine geistige
und höchst reine Weise. Das ist ein wunderbares Geschenk, welches die göttliche Majestät
gewährt wem sie will, wie sie will, wann sie will und für welche Zeit sie will. Und doch ist der
Zustand dieses Lebens mehr ein solcher des Kreuzes, der Geduld, der Erniedrigung und des
Leides, als der des Genießens.

65
ZWEITER TEIL

4 Niemals wirst du dich an diesem göttlichen Wein erlaben, solange du nicht fortgeschritten
bist in der Tugend und der innerlichen Abtötung, solange du dich nicht mit aufrichtigem
Herzen bemühst, in deiner Seele einen großen Frieden, Stillschweigen, Vergessenheit und
innerliche Abgeschiedenheit zu befestigen. Wie kann die liebliche, innere und machtvolle
Stimme Gottes vernommen werden inmitten des Getöses und der Unruhe der Kreaturen?
Und wie ist es möglich, auf den reinen Geist zu lauschen mitten in der Welt und inmitten
künstlich gefügter Gedanken und Verstandesarbeit? Wenn die Seele nicht fortgesetzt in sich
selbst ersterben will, indem sie sich von all diesen materiellen Dingen und Ergötzlichkeiten
losreißt, so wird die Beschauung für sie nichts anderes sein als bloße Eitelkeit, selbstgefälli-
ges Vergnügen und Vermessenheit.

5 Nicht immer teilt sich Gott mit gleicher Fülle in dieser süßesten und eingeflößten Beschau-
ung mit. Manchmal gewährt Er diese Gnade reicher als zu andern Zeiten; zuweilen erwartet
Er nicht, daß die Seele so tot und vernichtet sei. Denn da dieses Geschenk bloße Gnade ist,
verleiht Er es wann es Ihm gefällt und wie es Ihm gefällt, so daß keine allgemeine Regel dar-
aus gemacht, noch irgendein bestimmtes Maß für seine göttliche Größe aufgestellt werden
kann. Ja, Er bewirkt sogar durch diese Beschauung, daß sie sich verleugnet, vernichtet und
erstirbt.

6 Manchmal gibt der Herr dem Verstande größeres Licht und manchmal dem Willen größere
Liebe. Es ist hierbei nicht nötig, daß die Seele sich anstrenge oder bemühe. Sie muß empfan-
gen was Gott ihr gibt und so vereinigt bleiben wie Er es wünscht, weil Seine Majestät Herr ist.
Und zur gleichen Zeit, da Er sie in Schlummer bringt, bemächtigt Er sich ihrer und erfüllt sie,
um in ihr mächtig und lieblich zu walten, ohne jedes Bemühen und Wissen ihrerseits. Und
ehe sie dieser unvergleichlichen Barmherzigkeit noch gewahr wird, ist sie schon gewonnen,
überführt und verwandelt.

7 Die Seele, welche sich in diesem glücklichen Zustande befindet, muß zweierlei meiden:
Erstens die Tätigkeit des menschlichen Geistes und zweitens die eigenen Interessen. Unser
menschlicher Geist ist nicht gewillt, in sich selbst zu ersterben, sondern liebt es, sich nach
seiner Weise zu betätigen, da er in seine eigenen Handlungen verliebt ist. Es ist eine große
Pflichttreue und Selbstverleugnung erforderlich, damit der Mensch zur vollkommenen und
passiven Empfänglichkeit für die göttlichen Einflüsse gelangen kann. Seine fortwährende
Gewohnheit, nach eigenem Gutdünken zu handeln, bildet ein Hindernis zu Seiner Vernich-
tigung.

8 Das zweite ist, daß du an der Beschauung selbst interessiert bist. Du mußt daher in deiner
Seele eine vollkommene Entäußerung von allem, was nicht Gott ist, zustande bringen, ohne
irgendein anderes Ziel oder Interesse im Innern oder im Äußern zu suchen, als nur den gött-
lichen Willen.

66
Miguel de Molinos

9 Mit einem Wort, was du deinerseits vollbringen mußt, um dich für dieses reine, passive
und vollkommene Gebet tauglich zu machen, ist eine gänzliche und unbedingte Hingabe
deiner selbst in die Hände Gottes mit vollkommener Unterwerfung unter Seinen heiligsten
Willen, damit du beschäftigt werden mögest nach seinem Gefallen. Du mußt nach Seiner
Anordnung mit gleichmütiger und vollkommener Ergebung alles entgegennehmen, was Er
dir zuteilt.

10 Du mußt wissen, daß es wenige Seelen gibt, welche zu diesem verliehenen und passiven
Gebet gelangen, weil nur wenige tauglich sind für diese göttlichen Einflüsse. Denn es braucht
eine vollkommene Nacktheit und einen Tod der eigenen Tätigkeit und Kraft. Nur diejeni-
gen, welche es fühlen, können wissen, daß diese vollkommene Nacktheit erworben wird (mit
göttlicher Gnadenhilfe) durch beständige und innerliche Abtötung, indem der Mensch allen
eigenen Neigungen und Begierden abstirbt.

11 Niemals (ganz besonders aber hier) darfst du auf die Wirkungen schauen, welche in dei-
ner Seele hervorgebracht werden. Denn dies würde das göttliche Walten hemmen, statt es
zu bereichern. Du hast nur nach Gleichgültigkeit, Entsagung und Vergessenheit zu ringen.
Dadurch wird, ohne daß du es gewahr wirst, das höchste Gut in deiner Seele eine geeigne-
te Anlage zurücklassen zur Ausübung der Tugend, eine wahre Liebe zu deinem Kreuz, zur
Selbstverachtung, zur eigenen Vernichtung, und ein noch stärkeres Verlangen nach größerer
Vollkommenheit und Vereinigung.

Von den zwei Wegen, auf denen die Seele zur eingeflößten Beschauung
emporsteigt, nebst einer Erklärung, welches und wieviele deren Stufen sind

1 Es gibt zwei Wege, auf denen die Seele zu dem Glück der Beschauung und hingegebenen
Liebe emporsteigt: die Lust und das Verlangen danach. Gott pflegt zuerst die Seele mit sinn-
lichen An- nehmlichkeiten zu erfüllen, weil sie so schwach und elend ist, daß sie ohne die-
sen vorherigen Trost sich nicht aufschwingen könnte zum Genusse himmlischer Dinge. Auf
dieser ersten Stufe wird sie durch Zerknirschung vorbereitet und in Reue geübt, indem sie
über die Leiden des Erlösers nachdenkt und mit größerem Eifer alle weltlichen Begierden
und lasterhaften Lebensgewohnheiten ausrottet. Denn das Himmelreich duldet Gewalt, und
das schwache, zaghafte Herz erringt es niemals, sondern nur diejenigen, welche Gewalt und
Zwang mit sich selbst ausüben.

67
ZWEITER TEIL

2 Der zweite Weg ist das Verlangen. Je mehr man sich an den himmlischen Dingen erfreut,
um so mehr werden sie begehrt. Auf die geistlichen Freuden folgt das Verlangen nach himm-
lischen und göttlichen Segnungen, und eine Verachtung der weltlichen Freuden. Aus diesem
Verlangen wird das Streben geboren, Christus unserem Herrn nachzufolgen, welcher sagte:
„Ich bin der Weg“.

3 Die Stufen Seiner Nachfolge, welche der Mensch erklimmen muß, sind die Barmherzigkeit,
Demut, Sanftmut, Geduld, Armut, Selbstverachtung, das Kreuz, das Gebet und die Abtötung.
Es gibt drei Stufen eingeflößter Beschauung. Die erste ist Sättigung. Wenn die Seele von Gott
erfüllt ist, empfindet sie einen Haß gegen alle weltlichen Dinge. Dann ist sie ruhig und läßt
sich allein an göttlicher Liebe genügen.

4 Die zweite ist Trunkenheit. Diese Stufe ist eine Gemütsausschreitung und eine Erhebung
der Seele, welche aus der Fülle der göttlichen Liebe entspringt. Die dritte ist Sicherheit. Diese
Stufe vertreibt alle Furcht. Die Seele ist so von göttlicher Liebe durchdrungen, und dem gött-
lichen Willen so hingegeben, daß sie willig zur Hölle gehen würde, wenn es Ihm gefällig wäre.
Auf dieser Stufe empfindet sie eine solche sichere Bürgschaft der göttlichen Vereinigung, daß
es ihr unmöglich erscheint, jemals von ihrem Geliebten getrennt zu werden.

5 Es gibt sechs andere Stufen der Beschauung, nämlich die folgenden: Feuer, Vereinigung,
Erhebung, Erleuchtung, Seligkeit und Ruhe. Durch die erste wird die Seele entzündet; ist
sie entzündet, wird sie gesalbt; ist sie gesalbt, wird sie erhoben; erhoben gelangt sie zur Be-
schaulichkeit und beschauend empfindet sie Wonne; in dem Wonnegefühl findet sie Ruhe.
Durch diese Stufen hebt sich die Seele höher empor, abgesondert, und erfahren auf dem geis-
tigen und innerlichen Wege.

6 Auf der ersten Stufe, welche das Feuer ist, wird die Seele erleuchtet. Das geschieht durch
einen göttlichen und feurigen Strahl, welcher das göttliche Liebesgefühl entzündet und das
menschliche austrocknet. Die zweite ist die Salbung, welche eine liebliche und geistig-bele-
bende Substanz ist. Diese breitet sich über die ganze Seele aus. Sie lehrt, stärkt und macht
fähig, die göttliche Wahrheit zu empfangen und zu betrachten. Bisweilen dehnt sie sich auf
die Natur selbst aus, sie durch Geduld bestätigend, mit einer fühlbaren Lust, welche himm-
lisch erscheint.

7 Die dritte ist die Erhebung des innerlichen Menschen über sich selbst, um ihn tauglich zu
machen für den klaren Quell reiner Liebe.

8 Die vierte Stufe, die Erleuchtung, ist ein eingeflößtes Erkennen, durch welches die Seele in
süßer Weise die göttliche Wahrheit betrachtet. Sie schwingt sich auf von Klarheit zu Klar-
heit, von Licht zu Licht, von Erkenntnis zu Erkenntnis, unter Führung des göttlichen Geistes.

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Miguel de Molinos

9 Die fünfte Stufe ist ein Schmecken der göttlichen Süßigkeit, ein Wonnegefühl, welches dem
reichen und köstlichen Quell des heiligen Geistes entströmt.

10 Die sechste ist eine liebliche und wunderbare Ruhe, herrührend von dem siegreichen Aus-
gang des innerlichen Kampfes und dem häufigen Gebet. Aber davon haben sehr wenige eine
eigene Erfahrung. Hierbei ist die Fülle von Glück und Frieden so groß, daß die Seele in einem
lieblichen Schlummer befangen scheint, worin sie sich erquickt und ausruht an der göttli-
chen Brust der Liebe.

11 Viele andere Stufen der Beschaulichkeit gibt es noch, wie Verzückungen, Entrückungen,
Verschmelzung, Küsse, Frohlocken, Umarmungen, Erhebung, Vereinigung, Umwandlung,
Verlöbnis und Vermählung, welche zu erklären ich unterlassen will, um nicht Grund zu ge-
ben zur Vernunftsforschung und weil es ganze Bücher gibt, welche von all diesen Dingen
handeln. Zudem sind diese Sachen für diejenigen, welche noch nie so etwas empfunden ha-
ben, wie Farbe für den Blinden oder Musik für den Tauben. Kurz gesagt, auf diesen Stufen
steigen wir hinauf zu dem Gemach und der Ruhestätte des Friedenskönigs und wahren Sa-
lomos.

Zeichen, um den inneren Menschen und das


gereinigte Gemüt zu erkennen

1 Es gibt vier Zeichen, womit man den innerlichen Menschen erkennen kann. Als erstes,
wenn der Verstand keine anderen Gedanken faßt, als solche, welche zu dem Licht des Glau-
bens emporstreben, und der Wille so erzogen ist, daß er keine anderen Handlungen der Lie-
be hervorbringt, als für Gott und um Seinetwillen. Zweitens, wenn das Denken und der Wil-
le, nach Beendigung einer Arbeit, mit welcher er beschäftigt war, sich leicht und schnell zu
Gott hinwenden. Drittens, wenn er zum Gebet schreitend, alle äußeren Dinge vergißt, als ob
er sie niemals gesehen oder sich mit ihnen beschäftigt hätte. Viertens, wenn er gegen äußere
Dinge eine natürliche Abscheu hat und in Furcht steht, sich in weltliche Angelegenheiten zu
verfangen, es sei denn, daß die Nächstenliebe solches von ihm fordert.

2 Eine solche Seele ist frei vom äußeren Menschen und gelangt leichter zur innerlichen Ab-
geschiedenheit, worin sie nichts sieht als Gott. Sie sieht sich in Gott, und liebt Ihn mit Ruhe
und Frieden und wahrer Liebe. Dort, in jenem verborgenen Zentrum, redet Gottfreundlich
zu ihr und unterrichtet sie von einem neuen Königreich und von wahrem Frieden und Freu-
de.

69
ZWEITER TEIL

3 Diese geistliche, abgezogene, weltfremde und zurückgezogene Seele sieht ihren Frieden
nicht mehr gestört, wenn sie auch äußerlich Kämpfe zu bestehen haben mag. Infolge der un-
endlichen Entfernung dringen die Stürme niemals bis zu jenem ungetrübten, inneren Him-
mel, wo reine und vollkommene Liebe herrscht. Wenn sie auch bisweilen nackt, verlassen,
geschlagen und vereinsamt sein mag, so ist dies doch nur die Wut des Sturmes, welcher
nur draußen drohen und wüten kann. Diese geheime, innerliche Liebe hat vier Wirkungen.
Die erste wird Erleuchtung genannt, die eine geschmeckte und auf Erfahrung beruhende Er-
kenntnis der Größe Gottes und des eigenen Nichts ist. Die zweite ist Entflammung, ein leb-
haftes Verlangen, in diesem gütigen und göttlichen Feuer gleich dem Salamander verzehrt
zu werden. Die dritte ist Süßigkeit, ein friedvoller, freudiger, lieblicher und inniger Genuß.
Die vierte ist ein Verschlungenwerden von den Kräften in Gott, durch welches Eintauchen
die Seele so von Gott durchdrungen und erfüllt wird, daß sie nun nichts anderes mehr su-
chen, begehren oder wollen kann, als ihr höchstes und ewiges Gut.

4 Aus dieser völligen Sättigung entspringen zwei Wirkungen: Die erste ist ein großer Mut, um
Gottes willen zu leiden. Die zweite ist eine bestimmte Hoffnung oder Gewißheit, Ihn niemals
verlieren noch von Ihm getrennt werden zu können.

5 Hier in dieser innerlichen Zurückgezogenheit hat der geliebte Jesus sein Paradies. Zu ihm
können wir uns erheben, obwohl wir noch auf der Erde wallen müssen. Wenn du aber be-
gehrst zu wissen, wer zu dieser inneren Zurückgezogenheit durch das göttliche Vorbild hin-
gezogen wird, so wisse daß es der ist, welcher im Unglück, in geistiger Betrübnis und tiefer
Armut fest und unerschüttert bleibt. Diese standhaften und innerlichen Seelen sind von al-
ter Eigenheit gänzlich entblößt und völlig in Gott eingegangen, den sie ununterbrochen be-
schauen. Sie sind ohne Makel; sie leben in Gott und durch Ihn; sie scheinen heller als tausend
Sonnen; sie sind dem Sohne Gottes teuer, die Lieblinge Gottes des Vaters und die erkorenen
Bräute des Heiligen Geistes.

6 An drei Merkmalen wird ein geläutertes Gemüt erkannt, wie der heilige Thomas in einer
seiner Abhandlungen sagt. Das erste Zeichen ist Eifer, welcher eine Kraft der Seele ist, die
alle Lässigkeit und Trägheit tilgt, um sie mit Ernst und Vertrauen zum Streben nach Tugend
anzuleiten. Das zweite ist Strenge, welche ebenfalls eine Kraft der Seele ist, die sich gegen die
sinnlichen Begierden richtet, begleitet von einer heißen Liebe zu Mühseligkeit, Niedrigkeit
und einer heiligen Armut. Das dritte ist Gütigkeit und Sanftmut des Gemüts, welche allen
bitteren Groll, Neid, Widerwillen und Haß gegen den Nächsten vertreiben. Bevor nicht das
Gemüt gereinigt, die Liebe geläutert, das Gedächtnis leer, der Verstand erhellt, der Wille ve
leugnet und entflammt ist, vermag die Seele niemals zu einer innigen und zärtlichen Vereini-
gung mit Gott zu gelangen. Die Seele muß deshalb, weil der Geist Gottes Reinheit, Licht und
Stille ist, große Reinheit, Frieden, Aufmerksamkeit und Ruhe besitzen, denn Gott wünscht in
ihr Seine Ruhestätte zu nehmen. Der kostbaren Gabe eines gereinigten Gemüts werden aber
nur diejenigen teilhaftig, welche sie mit fortwährendem Eifer suchen, lieben und bewahren.
Solche wünschen gerne, als die niedrigsten in der Welt angesehen zu werden.
70
Miguel de Molinos

Von der göttlichen Weisheit

1 Die göttliche Weisheit ist eine übersinnliche und eingeflößte Erkenntnis der göttlichen
Vollkommenheiten und ewigen Dinge, welche vielmehr Beschaulichkeit als Vernunftsfor-
schung genannt werden sollte. Die Wissenschaft wird erworben und führt zur Erkenntnis
der Natur. Die Weisheit wird verliehen und erzeugt ein Erkennen der göttlichen Güte. Die
Wissenschaft begehrt das zu wissen, was man nur mit Mühe und Schweiß erlangen kann;
die göttliche Weisheit verlangt danach, selbst das nicht zu wissen was sie weiß, obgleich sie
alles versteht. Kurz gesagt: Die Leute der Wissenschaft beschäftigen sich mit der Erkenntnis
weltlicher Dinge, und der göttlich Weise lebt versunken in Gott selbst.

2 Die erleuchtete Vernunft in dem Weisen ist eine erhabene und einfache Erhebung des Geis-
tes, wodurch er mit klarem und scharfem Auge alles sieht, was unter ihm ist und was sein
Leben und Sein betrifft. Dies macht die Seele einfältig, erleuchtet, gleichförmig, geistig und
gänzlich in sich gekehrt und abgezogen von jedem erschaffenen Ding. Die Weisheit bewegt
und entführt mit sanfter Gewalt die Herzen der Demütigen und Gelehrigen und erfüllt sie
mit überschwenglicher Klarheit, Frieden und Freudigkeit. Endlich sagt der Weise von ihr,
daß sie ihm alles Gute auf einmal gebracht habe: „Gekommen sind mir alle Güter mit ihr
zugleich“ (Weish.7,11).

3 Wisset, daß der größte Teil der Menschheit in Meinungen lebt und nach dem trügerischen
Schein der Einbildung. Der natürliche Mensch urteilt nach der äußeren Wahrnehmung,
der geistlich-weise Mensch beurteilt jede Sache gemäß der wahren, ihr zugrunde liegenden
Wirklichkeit. Seine Aufgabe ist es zu verstehen, zu begreifen, einzudringen und hinauszu-
kommen über jedes geschaffene Ding, sogar über sich selbst.

4 Es ist die besondere Eigentümlichkeit eines weisen Menschen, viel zu tun und wenig zu
sagen.

5 Die Weisheit offenbart sich in den Werken und Taten des Weisen. Er ist ein unumschränk-
ter Herrscher über all seine Leidenschaften, Erregungen und Neigungen. In seinem ganzen
Tun ist er wie ein unbewegtes und stilles Wasser, worin die Sonne der Weisheit sich in voller
Klarheit spiegelt.

6 Das Verständnis der mystischen Wahrheiten ist geheim und verschlossen für die rein schul-
mäßig Gelehrten, sofern sie nicht demütig sind. Denn es ist die Wissenschaft der Heiligen
und niemand kennt sie, außer denen, welche herzlich lieben und die eigene Verachtung su-
chen. Deshalb dringen die Seelen, welche durch Ergreifung dieser Mittel dahin gelangen, rein
mystisch und wahrhaft demütig zu werden, zu der tiefsten Erfassung der Gottheit hindurch.
Je sinnlicher aber die Menschen leben, nach dein Willen des Fleisches und Bluts, um so ent-
fernter sind sie von dieser mystischen Wissenschaft.

71
ZWEITER TEIL

7 Gewöhnlich findet man, daß in dem Menschen, welcher viel Schulgelehrsamkeit und er-
forschtes Wissen besitzt, die göttliche Weisheit nicht vorherrscht. Hingegen bilden sie eine
bewundernswerte Vermischung, wenn beide zusammenkommen. Die Gelehrten, welche
durch Gottes Gnade diese mystische Erkenntnis erlangt haben, sind würdig der Verehrung
und des Preises im religiösen Leben.

8 Die äußeren Handlungen der Mystiker und Weisen, welche sie mehr passiv denn aktiv voll-
bringen, werden doch klug von ihnen geregelt, nach Zahl, Maß und Gewicht, wenn sie ih-
nen auch sehr lästig sind. Die Predigten der gelehrten Leute, welche des Geistes ermangeln,
sind keineswegs das Wort Gottes, sondern nur Menschenrede, übertüncht mit falschem Gol-
de, obwohl sie aus mannigfachen Geschichtchen, eleganten Schilderungen, scharfsinnigen
Schlüssen und erwählten Beweisen zusammengesetzt sein mögen. Diese Prediger verderben
die Christen, indem sie dieselben mit Wind und Nichtigkeiten füttern, so daß sowohl sie
als die Hörer Gottes leer sind. Diese Lehrer füttern ihre Zuhörer mit dem Winde verderbli-
cher Spitzfindigkeiten, indem sie ihnen Steine statt Brot geben, Blätter statt Frucht, und ge-
schmacklose Erde, vermischt mit vergiftetem Honig, anstatt wirklicher Nahrung. Sie sind es,
welche nach Ehre jagen, ein Götzenbild des Ruhmes und Beifalls aufrichten und keinesfalls
Gottes Preis und die Erbauung der Menschen suchen.

9 Diejenigen, welche mit Eifer und Aufrichtigkeit predigen, predigen um Gottes willen; die
andern predigen um ihretwillen. Diejenigen, welche Gottes Wort mit Geist verkündigen, las-
sen es Eindruck machen auf das Herz. Was die andern ohne Geist predigen, geht nicht weiter
als bis zu den Ohren.

10 Vollkommenheit besteht nicht im Lehren der Vollkommenheit, sondern im Vollbringen.


Denn nicht der ist der größte Heilige oder weiseste Mensch, welcher die Wahrheit am besten
kennt, sondern derjenige, der sie ausübt.

11 Es entspricht einer ständigen Erfahrung, daß göttliche Weisheit Demut erzeugt. Die Weis-
heit aber, welche von Gelehrten erworben wird, bringt Stolz hervor. Heiligkeit besteht nicht
darin, tiefe und scharfsinnige Begriffe zu bilden von der Erkenntnis und den Eigenschaften
Gottes, sondern in der Selbstverleugnung und der Liebe zu Gott. Deswegen ist auch die Hei-
ligkeit mehr unter den Einfältigen und Demütigen zu finden, als unter den Gelehrten.

12 Wieviele arme, alte Frauen gibt es auf der Welt, welche wenig oder nichts besitzen von
menschlicher Wissenschaft, aber reich sind an Liebe zu Gott: Wie viele Gottesgelehrte sehen
wir dagegen, die bis über die Ohren in ihre leere Weisheit versunken und doch sehr arm sind
an wahrem Licht und Liebe! Wenn du redest, rede so wie einer der am Lernen ist und nicht
wie einer, der alles weiß. Rechne es dir zu größerer Ehre an, für einen Unwissenden gehalten
zu werden, als für einen weisen und klugen Mann.

72
Miguel de Molinos

13 Wenn auch die rein forschenden Gelehrten einige kleine Funken von Geist besitzen, so
steigen doch diese nicht aus dem schlichten Grunde erhabener und göttlicher Weisheit.
Denn wer recht weise ist hat einen tödlichen Haß gegen Formen und äußeres Ansehen. Die
Untermischung mit ein wenig Wissenschaft bildet immerdar ein Hemmnis für die ewige,
tiefe, reine, einfältige und echte Weisheit.

14 Es gibt zwei Wege, welche zur Erkenntnis Gottes führen, der eine ist entfernt, der andere
nahe. Der erste wird Vernunftsforschung genannt, der andere Beschaulichkeit. Die Gelehr-
ten, welche wissenschaftlich forschen durch die Annehmlichkeit der sinnenfälligen Schluß-
folgerung, steigen vermittelst derselben zu Gott empor, so gut sie es vermögen, damit sie
durch diese Hilfe fähig werden mögen, ihn zu lieben. Aber keiner von denen, welche diesen
schulmäßigen Weg verfolgen, gelangt jemals allein auf ihm zu dem mystischen Pfade oder
zu der Hoheit der Vereinigung, Umwandlung, Einfalt, Licht, Friede, Ruhe und Liebe. Anders
ist es bei demjenigen, der durch die göttliche Gnade auf dem mystischen Pfad der Beschau-
lichkeit geführt worden ist.

15 Diese Gelehrten, welche bloße Schulweisheit haben, wissen nicht, was der Geist ist, noch
was es heißt, in Gott verloren zu sein. Auch haben sie noch nicht den Geschmack des süßen
Hiimmelsbrots empfunden, welches in der innersten Tiefe und im Grunde der Seele ruht
und von dort aus einen unfaßbaren, innigen und köstlichen Überfluß mitteilt. Ja es gibt sogar
einige unter ihnen, welche dieses mystische Wissen verdammen, weil sie es weder verstehen
noch empfinden.

16 Wenn ein Göttlicher die Köstlichkeit der Beschauung nicht schmeckt, so kann kein ande-
rer Grund dafür angegeben werden, als daß er nicht eingeht durch die enge Pforte, auf wel-
che Paulus hinweist, wenn er sagt: „Welcher sich unter euch dünkt weise zu sein, der werde
ein Narr In dieser Welt, daß er möge weise sein. Er zeige seine Demut, indem er sich selbst für
unwissend hält“ (1.Kor.3,18).

17 Es ist ein allgemeines Gesetz und auch ein Grundsatz in der mystischen Theologie, daß
die Ausübung vor der Theorie erworben werden sollte. Es sollte eine tatsächliche Ausübung
der übernatürlichenBeschauung vorhanden sein und zwar vor dem Suchen nach Erkennt-
nisund dem Forschen nach einem umfassenden Verständnis.

18 Obgleich das mystische Wissen gewöhnlich den Demütigen und Einfältigen eigen ist,
so sind doch dessen ungeachtet Gelehrte seiner nicht unfähig, wenn sie sich nicht selbst
suchen, noch viel Gewicht auf ihr eigenes künstliches Wissen legen. Besser wäre noch, sie
könnten ihr Wissen vergessen, als ob sie es niemals besessen hatten. Sie sollten nur von ihm
Gebrauch machen am geeigneten Ort und zur passenden Zeit, bei der Predigt und einer ge-
lehrten Unterredung, wenn sich ihnen dazu Anlaß bietet. Nachher aber sollten sie ihr Gemüt
wieder der schlichten und einfältigen Betrachtung Gottes ohne Form, Gestalt oder Unter-
scheidung hingeben.
73
ZWEITER TEIL

19 Das Studium, welches nicht zur Gottes Ehre allein betrieben wird, ist nur ein kurzer Weg
zur Hölle, weil es den Wind des Hochmuts hervorruft. Bejammernswert ist der größte Teil
der Menschen In dieser Zeit, deren einziges Studium es ist, die unersättliche Wißbegierde
der Natur zu befriedigen.

20 Viele suchen Gott und finden Ihn nicht, weil sie mehr von Neugierde als von aufrichtiger,
reiner und edler Absicht getrieben werden. Sie begehren mehr geistliche Erquickung als Gatt
selbst und da sie Ihn nicht mit Wahrheit suchen, finden sie weder Gott noch geistige Freu-
den.

21 Wer nicht die vollkommene Verleugnung Seiner selbst erstrebt, wird nicht wahrhaft abge-
schieden werden. Daher kann er niemals tauglich für die Wahrheit und das Licht des Geistes
sein: Um zur mystischen Erkenntnis zu gelangen, darf sich der Mensch nie mit äußeren Din-
gen befassen, außer mit kluger Vorsicht und nur dort, wo seine Pflicht es erheischt. Wenige
Menschen gibt es, welche einen größeren Wert darauf legen, zu hören als zu sprechen. Der
wahrhafte Mystiker spricht jedoch nur, wenn er es nicht umgehen kann. Er läßt sich in nichts
ein, es sei denn ein Gebot der Pflicht. Solche Dinge führt er aber mit großer Klugheit aus.

22 Der Geist der göttlichen Weisheit erfüllt die Menschen mit Milde, regiert sie mit Mut und
erleuchtet diejenigen mit Vortrefflichkeit, welche sich Seiner Leitung unterworfen haben.
Dort, wo der göttliche Geist wohnt, ist immer Einfalt und heilige Freiheit zu finden. Aber List
und Falschheit, Lüge und Verschlagenheit, Verstellung und weltliche Schlauheit, sind für den
weisen und aufrichtigen Menschen die Hölle selbst.

23 Wer das mystische Wissen erlangen will, muß losgelöst und abgeschieden sein von fünf
Dingen: Erstens, von den Kreaturen; zweitens, von zeitlichen Dingen; drittens, von den Ga-
ben des Heiligen Geistes; viertens, von sich selbst; fünftens, muß er in Gott verloren sein.
Dieses letztere ist das vollkommenste von allen, weil nur die Seele dahin gelangt, welche
versteht, so entrückt zu sein und welche allein weiß, wo Sicherheit zu finden ist. Gott hat
mehr Gefallen an der Hingabe des Herzens als an weltlichem Wissen. Das Herz von allein zu
reinigen, was es gefangen hält und befleckt, ist weit ein anderes als gut und heilig zu leben,
ohne auf die Reinheit des Herzens zu achten. Denn ein reines Herz ist das wichtigste zur Er-
langung der göttlichen Weisheit.

24 Niemals wirst du diese höchste und göttliche Weisheit erlangen, so du keine Stärke hast,
dich nicht nur von deiner Anhänglichkeit an vergängliche und natürliche Güter zu reinigen,
sondern auch von solchen übernatürlicher und erhabener Art, als da sind innerliche Mit-
teilungen, Verzückungen, Entrückungen und andere freiwillig gewährte Gnadengaben, in
welchen die Seele ruht und sich damit unterhält.

74
Miguel de Molinos

25 Obwohl manche Seelen viele Stunden im Gebet verbringen und täglich das Abendmahl
empfangen, mißlingt es ihnen doch, zur ruhigen Beschauung, zur göttlichen Weisheit und
zur wahren Erkenntnis zu gelangen. Das aber kommt daher, weil sie sich nicht voll und ganz
ihm unter werfen. Sie verleugnen und überwinden sich nicht und geben sich nicht ganz Gott
zum Opfer hin mit vollkommener Selbstentäußerung und Uneigennützigkeit. Kurzum, ehe
die Seele nicht geläutert ist in dem Feuer der inneren Pein, wird sie nimmermehr zu einem
Zustand der Erneuerung, der Umwandlung, der vollkommenen Anschauung, der göttlichen
Weisheit und zärtlichen Vereinigung gelangen.

Von der wahren und vollkommenen Vernichtigung

1 Wisse, daß dieser ganze Prozeß der Vernichtigung seinen Grund nur in zwei Prinzipien hat.
Das erste ist, sich selbst und alles Weltliche für gering und niedrig zu achten. Daraus muß die
praktische Ausübung dieses Selbstverzichts und der Selbstentsagung und das Verlassen aller
erschaffenen Dinge ihren Ursprung nehmen und zwar mit Eifer und in Wirklichkeit.

2 Das zweite Prinzip muß eine große Ehrfurcht vor Gott sein, Ihn zu lieben, Ihn anzubeten
und Ihm zu folgen ohne das geringste eigene Interesse und möge es noch so heilig sein. Aus
diesen zwei Prinzipien entspricht noch eine völlige Übereinstimmung mit dem göttlichen
Willen. Dieser mächtige und werktätige Einklang mit dem göttlichen Willen in allen Dingen
führt die Seele zur Vernichtigung und Umgestaltung in Gott, ohne die Beimischung von Ent-
zückungen, äußerlichen Ekstasen oder ungestümer Hingebung. Denn dieser Weg ist vielen
Täuschungen unterworfen, verbunden mit der Gefahr der Schwäche und den Kämpfen des
Erkenntnisvermögens, so daß selten jemand auf diesem Pfade zu dem Gipfel der Vollkom-
menheit empordringt. Er wird aber erreicht auf dem anderen Wege, welches ein sicherer,
fester und wirklicher Weg ist, wenn auch nicht ohne ein gewichtiges Kreuz. Denn im Kreuz
ist der hohe Weg der Vernichtigung und Vollkommenheit begründet, welcher nebenbei noch
von vielerlei Gaben des Lichts, göttlichen Wirkungen und unerschöpflichen weiteren Gna-
denbeweisen begleitet ist.

3 Doch die Seele, welche vernichtet ist, muß von alldem entblößt sein, wenn es ihr nicht ein
Hemmschuh werden soll auf dem Wege zur Vergöttlichung.

4 Wenn die Seele unablässig fortgeschritten ist aus ihrer eigenen Niedrigkeit, sollte sie weiter
zu der Ausübung der Vernichtigung übergehen, welche im Verachten von Ehre, Würde und
Lob besteht. Denn es liegt kein Grund vor, seine eigene Schlechtigkeit und sein bloßes Nichts
mit Würden und Ehren zu umgeben.

75
ZWEITER TEIL

5 Der Seele, welche ihre Niedrigkeit erkennt, scheint es unmöglich, auf irgendetwas Anspruch
zu erheben. Sie ist vielmehr von Scham erfüllt und hält sich unwürdig der Tugend und des
Lobes. Sie heißt mit Gleichmut jede Gelegenheit zur Verachtung, Verfolgung, Schande, Ent-
ehrung und Beschimpfung willkommen, als ob sie solche Schmach wirklich verdient hätte.
Sie bringt dem Herrn Dank dar, wenn solche Gelegenheiten auftauchen, wo sie so behandelt
wird, wie sie es verdient. Auch erkennt sie sich für unwürdig, daß Er seine Gerechtigkeit an
ihr ausübe; vor allem aber freut sie sich der Verachtung und Schmach, weil dadurch ihr Gott
großen Ruhm erlangt.

6 Eine solche Seele erwählt stets den niedrigsten, den schlechtesten und verachtetsten Rang,
sowohl hinsichtlich des Platzes, wie auch der Kleidung und aller anderen Dinge. Und das tut
sie nicht auf eine besondere Weise, weil sie der Meinung ist, daß auch die tiefste Niedrigkeit
noch immer zu hoch für sie ist, und sie sich derselben für unwert achtet. Eine solche Ausfü
rung bringt die Seele zur wahren Vernichtigung ihrer selbst.

7 Die Seele, welche zur Vollkommenheit strebt, beginnt ihre Leidenschaften zu ertöten.
Schreitet sie darin fort, verleugnet sie sich selbst. Alsdann geht sie, mit göttlichem Beistand,
zu dem Studium ihrer Nichtigkeit über, worin sie sich verachtet, vor sich zurückschaudert
und sich niederwirft in der Erkenntnis, daß sie nichts sei, nichts zu tun vermöge und nichts
wert sei. Daraus folgt, daß sie in sich selbst erstirbt, in ihrem Empfinden, auf viele Arten und
zu allen Stunden. Aus diesem geistigen Tode endlich leitet die wirkliche und vollkommene
Vernichtigung ihren Ursprung ab, insofern als von der, ihrem Wollen und Verstehen einmal
abgestorbenen Seele mit Fug und Recht gesagt werden kann, daß sie zu dem vollkomme-
nen und glücklichen Zustand der Vernichtigung gelangt sei. Dieser Zustand ist die letzte
Bedingung für die Umwandlung und Vereinigung, welche die Seele selbst nicht versteht, weil
sie nicht vernichtet sein würde, wenn sie dahin gelangte, sie zu begreifen. Und obgleich sie
diesen glückseligen Zustand der Vernichtigung erlangt hat, soll sie doch daran erinnert wer-
den, daß sie immer noch weiter fortzuschreiten hat und sie mehr und mehr gereinigt und
vernichtet werden muß.

8 Wisse, daß diese Vernichtigung, um sie in der Seele vollkommen zu machen, sich in des
Menschen eigenem Urteil vollziehen muß, in seinem Wollen und Wirken, seinen Neigungen,
Wünschen, Gedanken und in ihm selbst. Die Seele muß ihrem Wollen, Begehren, Bestreben,
Verstehen und Denken erstorben sein. Sie muß wollen, wie wenn sie nicht wollte, begehren,
wie wenn sie nicht begehrte, verstehen, wie wenn sie nicht verstände, denken, als ob sie
nicht dächte, ohne sich zu irgendetwas hingezogen zu fühlen. In gleicher Weise muß sie will-
kommen heißen Verachtung und Ehre, Auszeichnungen und Zurechtweisungen.

9 O wie glücklich ist die Seele, welche so erstorben und vernichtet ist: Sie lebt nicht länger
in sich selbst, weil Gott in ihr lebt. Jetzt kann sehr wahr von ihr gesagt wer den, sie sei ein
wiedererstandener Phönix, weil sie verwandelt, vergeistigt, umgestaltet und vergöttlicht ist.

76
*
Miguel de Molinos

Es wird dargelegt, wie dieses Nichts der rechte Weg ist, Reinheit der Seele, vollkommene Be-
schaulichkeit und den reichen Schatz des innerlichen Friedens zu erlangen

1 Der Weg, diesen erhabenen Zustand eines umgeschaffenen Gemüts zu erreichen, wodurch
ein Mensch unmittelbar zu dem größten Gut, zu unserem ersten Urquell und zum höchsten
Frieden gelangt, ist das Nichts. Bemühe dich, o Seele, immerdar in dieser Armut begraben zu
ruhen. Dieses Nichts und dieses erkannte Elend ist das Mittel, durch welches der Herr in dei-
ner Seele Wunder wirkt. Hülle dich in dieses Nichts und in diese Armut und sorge, daß dieses
Nichts und dieses Elend deine fortwährende Nahrung und Wohnstätte ist, bis du gänzlich
vernichtet bist; und dann darfst du fest versichert sein, daß wenn du auf diese Weise das
Nichts geworden bist, der Herr in deiner Seele das Alles sein wird.

2 Warum, denkst du, hindern unzählige Seelen den überquellenden Strom göttlicher Gaben?
Nur deshalb, weil sie wünschen, etwas zu tun und das Verlangen haben groß zu sein. All dies
führt sie aber heraus aus der innerlichen Demut und aus ihrem eigenen Nichts, und dadurch
verhindern sie die Wunder, welche die göttliche Güte in ihnen wirken mochte. Sie klammern
sich an die geistigen Gaben und bleiben daran haften, um aus dem Zentrum des Nichts her-
auszukommen. Dadurch verderben sie aber das ganze Werk. Sie suchen Gott nicht in Wahr-
heit und finden Ihn deshalb nicht. Denn du mußt wissen, daß Er nur durch Unterschätzung
unseres eigenen Selbst und im Nichts gefunden werden kann.

3 Wir suchen uns selbst, sooft wir aus unserem Nichts herausgehen, und deshalb gelangen
wir niemals zur stillen und vollkommenen Beschaulichkeit. Krieche hinein, so weit du im-
mer kannst, in die Wahrheit deines Nichts und dann wird dich nichts beunruhigen. Ja du
wirst demütig und beschämt sein, da du öffentlich Ansehen und Achtung verlierst. - O was
für eine starke Schutzwehr wirst du in diesem Nichts finden: Wer kann dir je Beschwerde
verursachen, wenn du dich einmal in diese Festung zurückziehst? Denn die Seele, welche
von sich selbst verachtet und von sich selbst als Nichts erkannt wird, kann von niemand
Unrecht oder Kümmernis empfangen. Die Seele, welche in ihrem Nichts bleibt und innerlich
still ist, lebt ergebungsvoll in jeder Widerwärtigkeit, da sie solche für geringer hält als sie ver-
dient. Sie meidet den Argwohn gegen ihren Nächsten, schaut niemals auf anderer Menschen
Fehler, bloß auf ihre eigenen. Sie ist frei von zahllosen Unvollkommenheiten, und wird zum
Herrscher über hohe Tugenden.

4 Während die Seele still und ruhig verharrt in ihrem Nichts, macht sie dasselbe vollkommen
und bereichert sie. Der Herr prägt ihr Sein eigenes Bild und Gleichnis ein, ohne dabei ein
Hemmnis zu finden.

77
ZWEITER TEIL

5 Durch das Nichts mußt du dahin kommen, dich in Gott zu verlieren, welches die letzte
Stufe der Vollkommenheit ist. Und wenn du dich so zu verlieren weißt, wirst du glücklich
sein. Du wirst dich selbst gewinnen und dich ganz sicherlich finden. In dieser Werkstätte
des Nichts wird die Einfalt erzeugt, innerliche und eingeflößte Sammlung gefunden, Ruhe
erlangt und das Herz von jeglicher Art Unvollkommenheit gereinigt. O welch einen Schatz
wirst du entdecken, wenn du einmal deine Wohnung aufschlägst im Nichts: Und wenn du
einmal recht warm im Zentrum des Nichts liegst, so wirst du dich niemals um etwas küm-
mern, das außerhalb ist (welches die große, häßliche und breite Stufe ist, woran sich so viele
tausend Seelen stoßen), falls du nicht durch deine Pflicht dazu berufen bist.

6 Wenn du dich nur im Nichts einschließest (wo die Wechselfälle des Geschicks keinen Zu-
tritt haben), so wird dich nichts beängstigen oder deinen Frieden stören. Dies ist der Weg, die
Herrschaft über dich selbst zu gewinnen, weil die völlige und wahrhaftige Herrschergewalt
allein im Nichts regiert. Mit dem Helm des Nichts bist du gewappnet gegen heftige Versu-
chungen und die schrecklichen Einflüsterungen des boshaften Feindes.

7 So du erkennst, daß du nichts bist, nichts tun kannst und soviel wie nichts wert bist, wirst
du passive Trockenheit ruhig willkommen heißen. Du wirst schreckliche Verlassenheit er-
tragen und dich geistigen Martyrien und innerlichen Qualen unterziehen. Vermittelst dieses
Nichts mußt du in dir selbst sterben, auf vielerlei Art, jederzeit und zu allen Stunden.

8 Wer vermöchte die Seele aus diesem süßen und angenehmen Schlaf zu erwecken, wenn sie
einmal im Nichts zur Ruhe gekommen ist? Dies ist der Weg, auf welchem David zur völligen
Vernichtigung gelangte, ohne es zu wissen (Psalm 17). Im Nichts verharrend, wirst du die Tür
gegen alles verschließen, was nicht Gott ist. Du wirst dich auch von deinem eigenen Selbst
zurückziehen und jener innerlichen Einsammlung entgegengehen, wo der göttliche Bräuti-
gam in dem Herzen Seiner Braut spricht, sie hohe und göttliche Weisheit lehrend. Ertränke
dich selbst in diesem Nichts und du wirst darin eine heilige Zufluchtsstätte gegen jegliches
Unwetter finden.

9 Auf diesem Wege sollst du zurückkehren zu dem glücklichen Stande der Unschuld, dessen
unsere ersten Eltern verlustig gingen. Durch diese Pforte sollst du in das gesegnete Land
der Lebendigen eingehen, wo du das höchste Gut, den Reichtum der Liebe, die Schönheit
der Rechtschaffenheit, die gerade Bahn der Billigkeit und Gerechtigkeit und alles in allem,
nämlich die Vollkommenheit, finden wirst. Endlich, schaue nach nichts aus, verlange nichts,
wolle nichts, bemühe dich um nichts; und dann wird deine Seele (in allem zur Ruhe gekom-
men) still und voller Freude leben.

10 Dies, dies ist der Weg, Reinheit der Seele, vollkommene Beschauung und innerlichen Frie-
den zu erlangen. Wandle daher diesen sicheren Pfad und versuche, dich selbst in diesem
Nichts zu begraben, dich selbst zu verlieren und tief darin zu versinken. Doch mußt
du den Willen haben, vernichtet, vereinigt und umgestaltet zu werden.
78
Miguel de Molinos

Von dem hohen Glück innerlichen Friedens und dessen wunderbaren Wirkungen

1 Wenn die Seele einmal vernichtet und in völliger Nacktheit (Selbstentäußerung) erneu-
ert worden ist, so erfährt sie in ihrem oberen Teil einen tiefen Frieden und eine süße Ruhe,
welche sie zu einer so vollkommenen Liebesvereinigung führt, daß sie gänzlich von Freude
durchdrungen wird. Solch eine Seele ist schon zu so hohem Glücke gelangt, daß sie sonst
nichts mehr will noch begehrt, als was ihr Geliebter will. Sie stimmt in allen Fällen, im Hoch-
gefühl des Glücks wie im Leide der Bedrängnisse, mit diesem Willen überein und findet auch
ihre Freude daran, in allem nach Seinem göttlichen Wohlgefallen zu handeln.

2 Da gibt es nun nichts mehr, was sie nicht erquickte; noch verlangt sie etwas, was sie nicht
wohl verlangen dürfte. Sterben ist ihre Lust und Leben ihre Freude. Sie ist ebenso zufrieden
hier auf Erden, wie sie es im Paradiese sein könnte. Sie ist nicht weniger frohgemut bei Ent-
behrung als im Besitze, in Krankheit als in Gesundheit, weil sie weiß, daß dies der Wille des
Herrn ist. Dieser ist ihr Leben, ihr Ruhm, ihr Paradies, Ihr Friede, ihr Ort des Ausruhens, ihre
Ruhe, ihr Trost und ihre höchste Glückseligkeit.

3 Eine solche Seele, welche durch die Stufe der Vernichtigung die Region des Friedens er-
reicht hat, würde (wenn sie wählen könnte) die Verlassenheit der Tröstung und die Verach-
tung der Ehre vorziehen, weil sie weiß, daß solches ihrem liebreichen Jesus mehr gefällt.

4 Sie hat nun keinen Hunger mehr nach den himmlischen Dingen, keinen Durst nach Gott,
keine Furcht Ihn zu verlieren, keine Trauer des Herzens und Kampf mit dem Bösen. Denn
nun haben sich alle Dinge verändert und der Hunger ist verwandelt in Sattheit, der Durst in
Befriedigung, die Furcht in Sicherheit, die Traurigkeit in Freude, das Weinen in Lachen und
der wilde Kampf in den höchsten Frieden.

5 O glückliche Seele, die du auf Erden schon ein so hohes Glück genießest: Wisse, daß diese
Art Seelen (obgleich es nur wenige sind) die stärksten Säulen sind, welche die Kirche tragen
und den göttlichen Zorn niederhalten. Diese Seele, welche in den Himmel des Friedens ein-
gegangen Ist, sieht sich erfüllt von Gott und Seinen übernatürlichen Gnadengaben. Weil sie
auf die reine Liebe gegründet ist, hat sie gleiches Gefallen an Licht und Dunkelheit, an Nacht
und Tag, an Betrübnis und Erquickung. Durch diesen heiligen und himmlischen Gleichmut
verliert sie niemals ihren Frieden, auch nicht im Mißgeschick. Sie verliert ihre Ruhe auch
nicht in Quälereien, sondern sieht sich voll von unaussprechlichen Gefühlen der Wonne.

6 Und wenn auch der Fürst der Finsternis alle Stürme der Hölle mit schrecklichen Anfech-
tungen gegen sie entfesselt, so bietet sie ihnen doch Trotz und steht fest gleich einer starken
Säule. Es geschieht ihr dadurch nicht mehr, als was einem hohen Berg und tiefen Tal wäh-
rend einem Sturm und Unwetter widerfahren kann.

79
ZWEITER TEIL

7 Das Tal ist verdunkelt durch dicke Wolken, wildtobende Hagelschauer, Donnerschlag und
Blitz, daß es ein Anblick ist gleich dem Bild der Hölle. Zur gleicher Zeit aber ist der Gipfel
des Berges überflutet von hellem Sonnenglanz und bietet einen Anblick von feierlicher und
erhabener Ruhe.

8 Das gleiche geschieht dieser gesegneten Seele. Das Tal des unteren Teil erleidet Trübsal,
Kämpfe, Finsternis, Verlassenheit, Qualen, Martyrien und Einflüsterungen. Zu derselben
Zeit ergießt die wahre Sonne ihre Strahlen über den erhabenen Berg des oberen Teils der
Seele, entzündet und erleuchtet ihn, und so wird er hell, friedvoll, glänzend, ruhig, heiter
und ein lauterer Ozean der Freude. Die Ruhe dieser reinen Seele, welche auf den Berg der
Gelassenheit gelangt ist, ist so groß, daß ein Abglanz und Widerschein des Göttlichen sogar
in ihrem Äußern zum Ausdruck kommt. So geht es auch mit dem Frieden ihres Geistes und
der Fröhlichkeit ihres Innern. Denn auf dem Throne der Ruhe werden die Vollkommenheiten
geistiger Schönheit offenbar, als da sind das wahre Licht der geheimen und göttlichen Mys-
terien unseres heiligen Glaubens, die vollkommene Demut, die umfassendste Entsagung, die
Keuschheit, die Armut des Geistes, die Aufrichtigkeit und Unschuld der Taube, die äußere
Bescheidenheit, Schweigsamkeit und innerliche Einsamkeit; Freiheit und Herzensreinheit.
Dazu gehört auch das Vergessen aller erschaffenen Dinge, frohe Einfalt, himmlische Gleich-
gültigkeit, beständiges Gebet, eine gänzliche Selbstentäußerung, vollkommene Uneigennüt-
zigkeit, eine sehr weise Beschaulichkeit, himmlischer Verkehr und endlich der erhabenste
und heiterste innere Friede, von welchem diese glückliche Seele sagen kann, was der Weise
von der Weisheit sprach: „Es kamen aber zugleich mit ihr alle anderen Güter in meinen Be-
sitz, und ungezählten Reichtum brachte sie mit“ (Weish.7,ll).

9 Dieses ist der reiche und verborgene Schatz; dies der verlorene Groschen des Evangeliums,
dies das gesegnete Leben, das glückliche Leben, das wahrhaftige Leben und die Seligkeit auf
Erden. O du liebliche Größe, die du übertriffst das Wissen der Söhne der Menschen: O vor-
treffliches, übernatürliches Leben, wie wundervoll und unbeschreiblich bist du. Du bist das
Abbild der Seligkeit selbst: Wie erhebst du die Seele vom Irdischen, welche durch dich alle
Nichtigkeiten der Erde aus dem Auge ve liert: Du bist arm anzuschauen, aber innerlich voller
Reichtum. Du erscheinst niedrig, stehst aber außerordentlich hoch. Kurzum, du bist dasjeni-
ge, was die Menschen schon hienieden dazu bringt, ein göttliches Leben zu führen. Gib mir,
o Herr, du größte Güte, einen vollgemessenen Teil dieses himmlischen Glücks und wahren
Friedens, welches die Welt, sinnlich wie sie ist, weder verstehen noch empfangen kann.

80
Miguel de Molinos

Ein Klageruf und schmerzlicher Seufzer zu Gott, wegen der geringen Anzahl
von Seelen, welche zur Vollkommenheit, liebenden Vereinigung
und göttlichen Umwandlung gelangen

1 O göttliche Majestät, in deren Gegenwart die Säulen des Himmels zittern und beben: O du
gütige, mehr als unendliche Macht, in deren Liebe die Seraphe brennen! Gib mir, o Herr, die
Erlaubnis, unsere Blindheit und Undankbarkeit zu beklagen. Wir alle leben in Irrtümern,
suchen die törichte Welt und verlassen Dich, der du unser Gott bist. Wir alle verlassen dich,
die Quelle lebendigen Wassers um des stinkenden Schmutzes der Welt willen. O wir Kinder
der Menschen! Wie lange noch wollen wir der Lüge und Eitelkeit nachlaufen? Wer ist es, der
uns so in die Irre geführt hat, daß wir Gott, unser höchstes Gut, verlassen sollten? Wer ver-
kündet uns mehr Wahrheit? Wer liebt uns am meisten? Wer verteidigt uns am meisten? Wer
erweist sich mehr als Freund, bezeugt sich zärtlicher als ein Bräutigam und besser als ein
Vater? Sollte unsere Blindheit denn so groß sein, daß wir alle diese größte und unendliche
Güte verlassen sollten? O göttlicher Herr; wie wenige Seelen gibt es in der Welt, welche dir
in Vollkommenheit dienen: Wie gering ist die Zahl derer, welche willig sind, de gekreuzigten
Christus nachzufolgen, das Kreuz zu umfangen und sich selbst zu verleugnen und zu ver-
dammen! O wie klein ist die Schar der Uneigennützigen und vollkommen Entblößten! Wie
wenige sind jener Seelen, die sich selber tot, doch für Gott lebend und Seinem göttlichen
Wohlgefallen gänzlich dahingegeben sind! Wie wenige sind, welche mit einfältigem Gehor-
sam, tiefer Selbsterkenntnis und wahrer Demut geschmückt sind! Wie groß ist der Mangel
an Seelen, welche mit gänzlicher Gleichgültigkeit sich in Gottes Hände geben, auf daß Er mit
ihnen tue was Ihm gefällt. Wie wenig reine Seelen mit einfältigem und selbstlosem Herzen
gibt es, welche alles eigene Verstehen, Wissen, Begehren und Wollen von sich werfen und nur
nach Selbstverleugnung und dem geistigen Tode trachten! Wie gering ist die Zahl der Seelen,
welche zulassen wollen, daß der göttliche Schöpfer in ihnen ein Gemüt schaffe, um zu leiden
und zu sterben: Wie wenige Seelen wollen sich selbst vergessen, wollen ihr Herz frei machen
von eigenen Liebhabereien, von Wünschen, Genugtuungen und eigener Liebe. Wenige sind
gewillt, sich auf der Heerstraße der Selbstverleugnung und des innerlichen Weges führen
zu lassen, sich vernichten zu lassen, sich selbst und ihren Sinnen abzusterben. Wenige sind
bereit, innerlich leer, geläutert und entkleidet zu werden, damit Gott sie erfüllen, kleiden
und vollkommen machen möge! Mit einem Wort; wie klein, o Herr, ist das Häuflein derer, die
blind, taub, stumm und vollkommen beschauend sind!

2 Schande über uns, den Kindern Adams, die wir um einer schlechten Sache willen wahres
Glück verachten; die wir unser größtes Gut, den reichen Schatz und die unendliche Güte
verscherzen! Große Ursache hat der Himmel zu klagen, daß so wenige Seelen sind, welche
seinem köstlichem Pfade folgen wollen. „Die Straßen Zions sind verödet, weil niemand zum
Feste kommt.“ (Klagel. 1, 4)

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ZWEITER TEIL

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