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Könige der Unterwelt


Hans Schmid 17.01.2009

Die Krays - Teil 1

Vor vierzig Jahren begann der bis dahin längste und teuerste Prozess der
britischen Kriminalgeschichte. Der Prozess markiert das Ende einer Ära und den
Beginn eines Mythos, der seither den britischen Gangsterfilm prägt. Es geht dabei
auch um ein Stück britische Sozialgeschichte.

Am Morgen des 7. Januar 1969, kurz vor 9 Uhr, wurden auf der Strecke zwischen dem
Gefängnis in Brixton und dem Gerichtsgebäude Old Bailey plötzlich die Ampeln auf
Rot geschaltet. Dann raste ein Polizeikonvoi, bestehend aus zwei gepanzerten
Wagen, mehreren Begleitfahrzeugen mit bis an die Zähne bewaffneten Elitepolizisten
und einer Motorradeskorte mit Blaulicht durch die britische Hauptstadt. Die
Verantwortlichen hatten zuvor sechs verschiedene Routen ausgearbeitet. Die
gewählte Strecke wurde den Fahrern erst mitgeteilt, als sich der Konvoi in
Bewegung setzte. Solche Sicherheitsvorkehrungen kannte man aus Palermo, wo damals
gerade ein spektakulärer Mafiaprozess endete. Für London waren sie völlig neu. So
stellte sich in dem Moment, in dem eigentlich demonstriert werden sollte, dass
Recht und Gesetz die Oberhand über eine Gangsterbande behalten hatten, das Gefühl
einer allgemeinen Bedrohung ein. Wenn solche Maßnahmen getroffen werden mussten,
um die Sicherheit zu garantieren, war das vor allem eins: beunruhigend.

Beim Prozess selbst ging es nicht nur um Schuld und Sühne. Im Court No. 1 des Old
Bailey, dem berühmtesten Gerichtssaal der Welt, trafen zwei Teile der britischen
Gesellschaft aufeinander, zwei Kulturen, die zeitweise so wirkten, als kämen sie
aus verschiedenen Ländern. Deutlich wurde das bereits durch die Sprache. Die
einen, die Angeklagten und die Zeugen, sprachen mit dem Akzent der Cockneys; die
anderen, der Richter und die Anwälte, mit dem Akzent der britischen Oberschicht.
Im Court No. 1 trafen die Vertreter des Rechts auf eine Welt, über die sie nichts
wussten und die sie nicht verstanden. Abgeurteilt wurden zehn Kriminelle, aber
auch das alte East End, das im Zweiten Weltkrieg durch deutsche Bomben schwer
beschädigt worden war und bald, durch die Bulldozer des Thatcherismus, weitgehend
ausradiert werden würde, so dass es heute nur noch in Romanen und in Filmen, in
nostalgischen Erinnerungen und in den Anekdoten der Fremdenführer existiert.

Leben am Abgrund: Das East End

Das East End gilt als eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Der Begriff, "East
End", wurde in den 1880ern geprägt, als es bei den Reichen Mode wurde, zum
wohligen Gruseln die Slums rund um die Docks zu besuchen. Aber der Osten Londons
existierte schon lange vorher als ein vom Rest der Metropole getrennter Bereich.
Zum Schutz vor Hochwasser bauten die Römer auf dem Gebiet des damaligen Londinium
Mauern, die den Westen bevorzugten und den Osten benachteiligten. Das war eine
bedeutende Kulturleistung und schuf zugleich die dunkle, von den
Unterprivilegierten bevölkerte Seite Londons. Die sächsischen Eroberer des fünften
und sechsten Jahrhunderts ließen sich im Westen nieder, die kelto-romanischen
Verlierer wurden in den Osten abgedrängt. Bei dieser Einteilung blieb es. Die
Reichen und Mächtigen wohnten im Westen; die Armen, die auf der Flucht vor
religiöser Verfolgung (französische Hugenotten, osteuropäische Juden) oder
Hungersnöten (die Iren) nach London gekommen waren, im Osten.

Eine wichtige Rolle spielte der entlang der Themse vorherrschende Westwind.
Seinetwegen wurde alles, was stank, im Osten angesiedelt: Fabriken, die Farben und
Lösungsmittel, Dünger, Knochenmehl, Klebstoff, Paraffin oder Streichhölzer
herstellten, Schlachthöfe, Gerbereien und Fischzuchtanlagen. Die Fabriken wurden
ständig mehr, und auch die Docks, ursprünglich auf das Gebiet zwischen dem Tower
und der London Bridge beschränkt, breiteten sich immer weiter aus. Man brauchte
billige Arbeitskräfte, die mit ihren Familien in menschenunwürdige Behausungen
gepfercht wurden, errichtet in ehemaligen Themsedörfern, von denen im
viktorianischen Zeitalter nur noch die Namen übrig waren: Whitechapel, Bethnal
Green, Stepney. Das East End - so das allgemeine Gefühl - war topographisch,
kulturell, spirituell und ökonomisch vom Rest Londons abgeschnitten. Die wenigen
Journalisten und Soziologen, die sich überhaupt für diese Slumgebiete
interessierten, verglichen die Bewohner mit afrikanischen Pygmäen und mit
polynesischen Wilden. Eine sehr eindringliche Beschreibung des Elends gibt Jack
London (Autor von Der Seewolf) in seiner 1902 erschienenen Sozialreportage People
of the Abyss.

Für die Mittelschicht war das East End ein Albtraum (gleichzeitig lebten viele
der braven Bürger - vom Fabrikbesitzer über den Geschäftsmann zum Slumlord - nicht
schlecht von der Ausbeutung des Ostens). Dieser Albtraum war umso bedrohlicher, da
der von Jack London geschilderte Abgrund gleich hinter dem Tower begann. Die City,
das reichste Finanzzentrum der Welt, lag in unmittelbarer Nähe des ärmsten Teils
der Stadt. Wie schnell Grenzen überwunden werden konnten, zeigte sich in den
1860ern, als 20 000 kurz vor dem Verhungern stehende Bewohner des East End durch
die City zum Trafalgar Square zogen, um für höhere Löhne zu demonstrieren (ohne
Erfolg). Die meisten Londoner aus dem Westen sahen in den Protestierern einen
gesetzlosen Mob, der darauf aus war, ihre Sicherheit und ihren Wohlstand zu
zerstören. Das hatte bleibende Folgen. In den letzten Jahrzehnten des 19.
Jahrhunderts wurde das East End zum Synonym für die kriminelle Unterwelt. In
Oliver Twist von Charles Dickens treiben Fagin und Bill Sykes ihr Unwesen von den
Elendsquartieren des East End aus (bei Dickens allerdings noch vor
sozialkritischem Hintergrund), Limehouse ist das Rückzugsgebiet von Sax Rohmers
Superverbrecher Fu Manchu, und die meisten der Bösewichter bei Edgar Wallace sind
Cockneys (der Begriff bezeichnete ursprünglich die Londoner insgesamt, dann aber
speziell die Bewohner des East End).

Natürlich waren das nicht nur Klischees. "Das East End", schreibt der Kriminologe
Dick Hobbs in Doing the Business, "war ein Land der lebenden Toten, ein Symbol für
all die Konsequenzen, die jene zu tragen hatten, die nicht an den normalen
Aktivitäten des Kapitalismus teilhaben konnten." Das East End war ein Land des
Schreckens, aber auch so etwas wie der Wilde Westen von London. Auf den großen
Straßenmärkten, etwa dem in der Middlesex Street (Petticoat Lane), wurde billiges
Diebesgut verkauft. Wer mit dem Vergnügungsangebot im West End nicht zufrieden
war, machte sich auf den kurzen Weg in den Osten. Dort gab es Prostitution,
Glücksspiel und Drogen - und Banden, die darauf warteten, den Besuchern ihr Geld
abzunehmen. Jack the Ripper schlitzte in Whitechapel und Bethnal Green Huren auf,
was die Aufmerksamkeit auf das dortige Elend lenkte, aber auch alte Klischees
bestätigte. Im East End, einem Labyrinth aus engen, nachts kaum beleuchteten
Straßen und Gassen, lebte man nach eigenen Regeln. Es gab ein
Zusammengehörigkeitsgefühl, das Historiker gern mit der Stammessolidarität bei
Eingeborenen vergleichen.

Heroes and Villains

Die Kooperation mit der Polizei, das Verpfeifen von anderen Cockneys war verpönt.
Polizisten, die oft als Streikbrecher eingesetzt wurden oder Demonstranten
niederknüppelten, wurden als Eindringlinge wahrgenommen und als Instrumente der
Mächtigen. In diese über Jahrhunderte gewachsene Kultur wurden 1934 die Zwillinge
Reginald und Ronald Kray hineingeboren (am 17. Oktober dieses Jahres werden die
East-End-Nostalgiker ihren 75. Geburtstag feiern). Das Verbrechen war damals noch
ein integraler Bestandteil dieser Kultur, eine Karriere als Krimineller nicht
etwas, wofür man sich unbedingt schämen musste. Das ist wichtig, um zu verstehen,
wie die Krays die berühmtesten britischen Gangster des 20. Jahrhunderts werden
konnten. Sehr vielsagend ist das Erinnerungsalbum, das die Mutter, Violet Kray,
über ihre Söhne anlegte. Dort klebte sie zuerst Zeitungsberichte über die
Boxkarriere ihrer Söhne ein, dann über ihre Strafprozesse, als wäre das kein
Unterschied. Violet belog regelmäßig die Polizei und hatte den Ruf einer
grundehrlichen Person, die immer die Wahrheit sagte. Im East End war auch das kein
Widerspruch.

Die Londoner Unterwelt war heterogener als beispielsweise die amerikanischer


Städte mit zentralistischen Mafiastrukturen. Soweit sie organisiert war, lässt sie
sich am besten mit einem Feudalsystem vergleichen. Feudalherren waren die
Villains. Ein Villain ist nicht einfach nur, wie das Lexikon behauptet, ein
Schurke oder ein Verbrecher. Es handelt sich um eine Berufsbezeichnung. Ein
Villain ist einer, der einen Anteil an der Beute anderer Gauner fordert, der von
der Einschüchterung lebt und von dem Ruf, dass er zu allem bereit ist, unabhängig
von den Konsequenzen. Villains waren bekannt, man sprach über sie, und sie
erfreuten sich eines gewissen Prestiges. Für Reggie und Ronnie Kray, selbst in
dieser Berufssparte tätig, waren sie die "Aristokraten des Verbrechens". John
McVicar, vom Räuber zum Unterwelt-Soziologen für den Hausgebrauch geworden, nennt
sie "Diebe und Zuhälter, die von Verbrechen lebten, die sie selber nicht begehen
konnten". Man kann es auch mit dem Vokabular des Kapitalismus sagen: Für einen
Villain ist die Gewalt eine Ware wie jede andere. Sie ist das Produkt, das er
verkauft und mit dem er sein Geld verdient. Der Prototyp des Villain ist Bill
Sykes in Oliver Twist.

Reggie und Ronnie Kray wuchsen in der Vallance Road in Bethnal Green auf, gleich
um die Ecke von dem Haus, wo Jack the Ripper Annie Chapman getötet hatte. Alte
Leute erzählten noch gern die Geschichte, wie sie dem Ripper auf der Straße
begegnet waren, so wie man später erzählte, dass man die Krays persönlich kannte
und wie man heute, wenn man dafür zu jung ist, sein Cockneytum dadurch
untermauert, dass man angeblich auf der Beerdigung von Violet oder eines ihrer
Söhne war. Das Haus Nummer 178, in dem die Krays wohnten, war das zweite von vier
winzigen Reihenhäusern. Dieses viktorianische "Cottage" (so die offizielle
Bezeichnung) hatte vier Zimmer und kein Bad. Das WC stand in einem kleinen
Hinterhof, der meistens voller Gerümpel war. Ronnie und Reggie gaben später an,
dass dieses "Cottage" die einzige echte Heimat gewesen sei, die sie je gehabt
hätten. Der Rest der Familie mütterlicherseits wohnte ebenfalls in der Vallance
Road oder in unmittelbarer Nachbarschaft. Jeder kannte jeden, man sperrte nur
selten die Haustür ab. Die Straße endete an einem rußgeschwärzten Viadukt, über
den die Hauptverbindungslinie zum fünf Minuten entfernten Bahnhof Liverpool Street
führte. Wenn die Züge vorbeiratterten, erzitterten die Reihenhäuser in der
Vallance Road. In den späten 1960ern wurden die Cottages, weil als menschliche
Behausung ungeeignet, abgerissen.

Zwillinge und Schizophrenie

Die wichtigste Bezugsperson der Krays war ihre Mutter Violet. Für Violet waren
Ronnie und Reggie schon deshalb etwas ganz Besonderes, weil sie eineiige Zwillinge
waren. Sie waren ihr ein und alles - zum Nachteil ihres ein paar Jahre älteren
Sohnes Charlie, der immer und in jeder Hinsicht zu kurz kam. Violet nannte sie nur
"Twins" und nicht bei ihren Namen, zog sie identisch an und behandelte sie wie
eine Einheit, statt als eigenständige Personen. Das kann auch für die Zwillinge
selbst nicht ganz einfach gewesen sein. Weil sie gelernt hatten, gleich sein zu
müssen, beobachtete der eine den anderen ständig. Alles, was der eine tat, wurde
vom anderen beurteilt und kommentiert. Oft scheint der Druck so groß geworden zu
sein, dass er sich in Prügeleien entlud. Die Twins schlugen sich dann entweder
gegenseitig, oder sie verprügelten andere.
Mit dreieinhalb Jahren erkrankten die Zwillinge an Diphtherie. Reggie erholte sich
recht schnell. Ronnie verbrachte fast drei Monate auf der Isolierstation eines
Krankenhauses, wurde dann von Violet nach Hause geholt und mühsam gesund gepflegt
(die Ärzte hatten ihn bald aufgegeben). Im Leben der Zwillinge war das ein
einschneidendes Ereignis. Hinterher wirkten sie so unzertrennlich und so identisch
wie eh und je. Aber wer sie gut kannte, bemerkte Unterschiede, die langsam
deutlicher wurden. Ronnie war unbeholfener und weniger koordiniert, langsamer und
schüchterner als Reggie, und er war starken Stimmungsschwankungen unterworfen;
Reggie hatte eine schnellere Auffassungsgabe, war artikulierter und fand leichter
Freunde. Es liegt nahe, das mit der Diphtherie in Verbindung zu bringen, die das
Gehirn und das zentrale Nervensystem schädigende Neurotoxine produzieren kann. Bei
Ronnie wurde viel später eine paranoide Schizophrenie festgestellt. Einer Theorie
nach wird die Schizophrenie durch eine wiederholt auftretende Störung des
Hormonhaushalts im Gehirn ausgelöst, wie sie von der Diphtherie verursacht werden
kann. Man darf darüber spekulieren, ob alles anders verlaufen wäre, wenn Ronnie,
dank anderer sozialer Herkunft, medizinisch besser versorgt worden wäre. Die
Geschichte der Krays ist auch eine Geschichte des Klassensystems im
Gesundheitswesen.

Als Teenager waren beide Zwillinge erfolgreiche Amateurboxer. Reggie war der
begabtere, dem man eine Profikarriere zutraute. Ronnie glich die fehlende Technik
und Übersicht durch Brutalität und Unerschrockenheit halbwegs aus. Ihre ersten
Vergehen waren die übliche Ghettokriminalität von Jugendlichen, die nicht viel zu
verlieren haben: Diebstähle, Gewalttaten, Bandenkämpfe. Außerhalb des Rings, auf
der Straße, war Ronnie der Stärkere, weil er keine Rücksicht kannte. Bei
Schlägereien geriet er außer Rand und Band. Das machte sogar den abgehärteten
Berufsverbrechern im Viertel Angst. Reggie, der Konflikte auch anders als durch
Gewalt hätte lösen können, ließ sich regelmäßig mit hineinziehen. Ronnies Vorwurf,
dass er ein Feigling sei, wirkte immer. Reggie wurde dann genauso rücksichtslos
wie sein Bruder. Gemeinsam entwickelten sie eine unheimliche Synergie. Der
dauernde Konkurrenzkampf machte sie immer brutaler und gefürchteter. Die Krays
wären interessante Studienobjekte für die Zwillingsforschung.

Mit 16 waren die Brüder die Anführer einer Jugendbande, der keine andere Gang in
Bethnal Green gewachsen war. Sie kämpften mit allem, was beim Gegner großen
Schaden anrichtete: mit Fahrradketten, Eisenstangen, zerbrochenen Flaschen. Ronnie
hatte ein scharfes Fahrtenmesser, mit dem er anderen ins Gesicht schnitt. Solche
Gesichtsverletzungen wurden sein Markenzeichen. Warum Reggie seine Boxkarriere
aufgab, ist unklar. Wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass ihm Ronnie auf
diesem Weg nicht hätte folgen können; und eine Trennung war damals noch undenkbar.
Seine Technik setzte Reggie jetzt im Bandenkampf ein. Im Lauf der Jahre
perfektionierte er seinen "Zigarettenschlag". Mit der linken Hand bot er jemandem
eine Zigarette an. Wenn sein Gegenüber gerade dabei war, die Zigarette in den Mund
zu stecken, schlug er diesem mit der Rechten gegen das Kinn. Das machte er mit
solcher Wucht und Präzision, dass er den Gegnern das Kinn brach (bei geöffnetem
Mund ist das leichter als bei geschlossenem).

Das Gesetz des Schweigens

1950 wurde ein Schwerverletzter in eine Klinik eingeliefert. Die Polizei fand zwei
Zeugen, die Reggie und Ronnie als Täter identifizierten. Die Krays wurden
angeklagt. Beim Prozess hatten die Zeugen alles vergessen. Auch das Opfer konnte
sich an nichts erinnern. Es war der erste Triumph der Krays über das Rechtssystem.
Der Fall zeigte ihnen, dass im East End noch immer das Gesetz des Schweigens galt
(oder sich zumindest durch Gewalt und Einschüchterung durchsetzen ließ), und dass
es selbst dann einen Ausweg gab, wenn man bereits im Old Bailey vor Gericht stand.
Nach diesem Erlebnis agierten sie noch dreister und sorgloser als zuvor. 1953
wurden sie zu den Königlichen Füsilieren einberufen. Die meiste Zeit waren sie auf
der Flucht, oder sie saßen Disziplinarstrafen ab. Das Militärgefängnis, meint der
Kray-Biograph John Pearson, war ihre "Universität", die nächste Station auf dem
Weg zum Villain. 1954 wurden sie unehrenhaft aus der Armee entlassen. Inzwischen
waren sie entschlossen, Berufsverbrecher zu werden. Ihre Bande organisierten sie
nach "militärischen" Gesichtspunkten. Ronnie gefiel es, wenn man ihn "Colonel"
nannte.

Als Teenager wirkte Ronnie Kray als Statist in The Magic Box (1951) mit, einem
Film über William Friese-Greene, den Pionier der frühen Kinematographie. Ein Bild
aus dem Film ziert eines von Rons Büchern. "Junger Schauspieler" steht darunter,
und man weiß nicht genau, ob das ironisch gemeint ist oder nicht. Den Einfluss von
Film und Showbusiness auf die Karriere der Krays kann man wahrscheinlich gar nicht
überschätzen. Es ist deshalb stimmig, dass ihr Aufstieg in einem alten Kino
begann, dem Regal in der Eric Street, das in den 30ern zur Billardhalle umgebaut
worden war. Dort gab es plötzlich Schlägereien und Sachbeschädigungen. Als der
Betreiber genug hatte, war die heruntergekommene Halle günstig zu mieten. Die
Krays verpassten ihr einen neuen Anstrich und machten ein profitables Unternehmen
aus dem Etablissement. Auch Gangster wollen mal ausspannen und in Ruhe plaudern.
Die Zwillinge garantierten, dass bei ihnen keine alten Fehden ausgetragen wurden.
So entwickelte sich das Regal zum Treffpunkt der Unterwelt.

Wer von ehrbaren Bürgern Schutzgeld erpresst, muss damit rechnen, dass sie
irgendwann zur Polizei gehen. Kriminelle können das nicht. Die logischen Opfer der
Villains waren daher Diebe, Trickbetrüger, Betreiber illegaler Spielclubs,
Zuhälter, Hersteller von Pornofilmen. Ihnen wurde eine Gewinnbeteiligung
abgepresst. Im Regal erzählte man sich, wer gerade welches Ding am Laufen hatte.
Die Krays hörten aufmerksam zu und forderten dann ihren Anteil. Ron gehörte zu
denen, die Hitlers Mein Kampf tatsächlich gelesen haben. Das Werk sagte ihm nicht
besonders zu, aber er studierte es doch mit Gewinn, weil er ihm entnahm, wie
wichtig Propaganda und ein funktionierendes Spionagesystem waren. Die Krays waren
meistens besser informiert als andere. Das war eine ihrer Stärken.

Mord war gut für das Geschäft, solange es bei der glaubwürdigen Drohung blieb,
jemanden umzubringen. Den Argumenten eines Villain gab das mehr Durchschlagskraft.
Ein echter Toter gefährdete dagegen den Profit. Eine Leiche zwang die Polizei zum
Handeln, was die Geschäfte störte und zu einer Anklage oder gar einer Verurteilung
führen konnte. Reg berücksichtigte das. Ron war mehr an der Gewalt an sich als am
Geld interessiert und sprach immer häufiger davon, jemanden töten zu wollen. Das
ging zunächst gut, weil Reg seinen Bruder im Zaum hielt oder, wenn Ron wieder
einmal ausgerastet war, das tat, was er "Aufräumen" nannte. Das konnte bedeuten,
dass er Zeugen einschüchterte, Polizisten bestach, Opfern Angst machte, eine
kleine Entschädigung zahlte oder sie medizinisch versorgen ließ (die Twins hatten
für solche Fälle Doc Blasker, den Arzt ihres Vertrauens).

Ron Kray bewunderte Winston Churchill, Lawrence von Arabien und General Gordon,
der versucht hatte, Khartum gegen die Truppen des Mahdi zu verteidigen und dabei
gefallen war. In Krisenzeiten legte er seine Platten mit Churchills Kriegsreden
auf. Mit Reg bewohnte er weiter das gemeinsame Zimmer in der Vallance Road. Ron
sammelte alles, womit man andere schneiden konnte, vom Entermesser bis zum
Schwert, und unter den Dielenbrettern hatte er diverse Schusswaffen versteckt,
weshalb das Haus jetzt in Gangsterkreisen "Fort Vallance" hieß. Die Kray-Bande war
allgemein als "The Firm" bekannt.

Wahnsinn mit Attest

Die Firma kassierte Schutzgeld von den Gebrauchtwagenhändlern im East End. Einer
von ihnen hatte Streit mit einem Kunden und bat Ron um Hilfe. Tags darauf hatten
sich die Streithähne beruhigt. Ron schoss dem Kunden trotzdem ins Bein. Reg räumte
erfolgreich auf, was Ron in seinen Allmachtsphantasien bestärkte. Sein Ruf war
mittlerweile so furchterregend, dass andere Gangs lieber das Weite suchten, als
sich ihm zum Kampf zu stellen. Da Ron seine Aggressionen nicht unter Kontrolle
hatte, reagierte er sich hin und wieder an Unbeteiligten ab. Terry Martin spielte
im August 1956 im Pub Britannia Karten, als Ron mit einem Bajonett auf ihn
losging. Er überlebte mit viel Glück. Martin sagte vor Gericht aus, obwohl Reg ihm
gedroht und Geld geboten hatte. Ron wurde zu einer Haftstrafe von zwei Jahren
verurteilt.

Das erste Jahr verbrachte er in Wandsworth, einem berüchtigten Gefängnis für


Schwerverbrecher. Ron scheint das zugesagt zu haben. In Wandsworth traf er alte
Freunde wieder, und er fand neue. Besonders gut verstand er sich mit Frank
Mitchell, einem geistig zurückgebliebenen Riesen. Der enorm starke Mitchell wurde
ursprünglich wegen eines gewalttätigen Raubüberfalls verurteilt. Bei einem
Fluchtversuch bedrohte er ein altes Ehepaar mit einem Beil, was ihm den Beinamen
"der verrückte Axtmörder" einbrachte. Er galt als einer der gefährlichsten
Kriminellen im Land. Ron versprach, sich für seine Entlassung einzusetzen, als er
1958 nach Camp Hill verlegt wurde, einem Gefängnis mit niedrigerer
Sicherheitsstufe.

Im sehr streng (heute würde man sagen: sadistisch) geführten Wandsworth war Ron
gut zurecht gekommen. In Camp Hill erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Er starrte
sich stundenlang im Spiegel an, weil er überzeugt war, dass er sich veränderte,
hatte Weinkrämpfe oder prügelte auf Mitgefangene ein. Schließlich wurde er in die
psychiatrische Abteilung des Gefängnisses von Winchester verlegt. Dort brachte ihm
Reg die Nachricht, dass Tante Rose gestorben war. "Battling Rose" war, wie Ron,
auf jeden losgegangen, der sie ärgerte, ohne Rücksicht auf Verluste, und sie war
seine Lieblingstante. Ron reagierte so wie der Gangster Cody Jarrett (James
Cagney) in White Heat auf den Tod seiner Mutter: mit einem Amoklauf. Als die
Wärter es geschafft hatten, ihn in eine Zwangsjacke zu stecken, wurde er für
verrückt erklärt und in das Long Grove Hospital bei Epsom verlegt. Long Grove ist
eines einer ganzen Reihe von ziemlich gruseligen, identisch gebauten Irrenhäusern,
die um 1900 rings um London errichtet wurden, um die wachsende Zahl von
Geisteskranken aufzunehmen. Wer für verrückt erklärt wurde und aus den Slums von
Bethnal Green, Whitechapel und Hackney stammte, landete in Long Grove. Daran hatte
sich gar nichts geändert. "Ein einfacher Mann von geringer Intelligenz, mit
geringem Bezug zur Außenwelt", schrieb der behandelnde Arzt in Rons Akte. Genauere
Untersuchungen hielt er für überflüssig.

Gangster-Chic

Während Ron in verschiedenen Anstalten einsaß, gründete Reg, unterstützt von


seinem älteren Bruder Charlie, sein erstes legales Unternehmen: einen Club, den er
Double R nannte (für Ron und Reg). Der Zeitpunkt war günstig, denn das East End
kam gerade groß in Mode. Wer in sein wollte, verabredete sich beim Chinesen in
Limehouse oder in Pubs wie dem Prospect of Whitby. Joan Littlewood eröffnete ihr
experimentelles Theater, das Theatre Royal, und der Photograph Tony Armstrong-
Jones, der spätere Lord Snowdon, kaufte sich eine Wohnung mit Blick auf die Isle
of Dogs, in der er sich heimlich mit seiner zukünftigen Frau traf, Prinzessin
Margaret. An Filmen wie Carol Reeds Rührstück A Kid for Two Farthings (mit Diana
Dors, der Cockney-Antwort auf Marilyn Monroe) kann man sehen, dass die
Sentimentalisierung des East End begonnen hatte.

In den Double R Club strömten die Westlondoner, weil sie wussten, dass sie bei Reg
ihren Whisky mit schweren Jungs trinken konnten, ohne Angst haben zu müssen. Zu
seinen Gästen gehörten die Schlagersängerin Lita Rose, die Autorin Jackie Collins,
Diana Dors und die Soubrette Barbara Windsor, ein anderes Starlet aus dem East
End. Sogar Edmund Purdom schaute vorbei, der Star der TV-Serie Sword of Freedom
(Robin Hood nach Italien verlegt). Im East End galt diese Westentaschenausgabe von
Errol Flynn aus unerklärlichen Gründen als Inbegriff der Eleganz. Regs Stilikonen
waren der frühe Humphrey Bogart und George Raft. Er ließ sich ein paar von jenen
dunkelblauen Zweireihern schneidern, wie sie George Raft in den Gangsterfilmen
trug. Seine Gäste fanden das sehr sexy.

In Long Grove wusste man nicht genau, woran Ron litt, aber man fand eine Kur, auf
die er ansprach. Stematol war ein Sedativum, das die Symptome einer
Geisteskrankheit abmilderte, ohne den Patienten völlig ruhigzustellen. Mit
Stematol wurde Rons Zustand so weit stabilisiert, dass er von der geschlossenen in
die offene Abteilung verlegt werden konnte. Aber da er offiziell für verrückt
erklärt worden war, fürchtete er, nun endlos festgehalten zu werden wie sein
Freund Frank Mitchell. Von Violet zum Eingreifen gedrängt, entwickelte Reg einen
Plan. Er fußte darauf, dass Ron eine "Nervensache" gehabt hatte, jedoch keineswegs
verrückt war. Das war die Ansicht der Familie, von der Violet bis an ihr
Lebensende nicht abrückte. Ron sollte daher befreit werden, sich von einem
Psychiater die geistige Gesundheit bestätigen lassen und sich mit diesem Gutachten
im Gefängnis melden, um den Rest seiner Strafe abzusitzen.

Die Befreiungsaktion lief ab wie im Film. Ron bekam Besuch von der Familie. Unter
seinem Mantel trug Reg den gleichen Anzug wie sein Zwillingsbruder. Ron zog den
Mantel an und verließ als Reg das Krankenhaus. Reg spielte den Unschuldigen, wies
seine Identität nach und durfte gehen. Das Problem war nur, dass Ron tatsächlich
geisteskrank war und bald wieder unter den Angstzuständen litt, in denen er alle
seine Feinde umbringen wollte. Zum Glück gab es Doc Blasker, der auf dunklen
Kanälen genug Stematol besorgte, um ihn so zu stabilisieren, dass ein bekannter
Psychiater nichts Auffälliges bemerkte. Mit dem so erworbenen Gutachten meldete
Ron sich im Gefängnis zurück. Alles klappte wie geplant. Aber daraus ergab sich
ein neues Problem. Keiner der Gefängnisärzte hielt es für angebracht, in Long
Grove Erkundigungen einzuziehen. Da Ron als geistig gesund eingestuft worden war,
hatte er keinen Anspruch auf die übliche Medikation. Als er nach sechs Monaten
entlassen wurde, litt er unter solchen Angstzuständen, dass Blasker gleich wieder
gut zu tun hatte.

Der Doc versorgte seinen paranoid-schizophrenen Privatpatienten jahrelang mit


Stematol, um zu verhindern, dass er sich selbst oder andere Leute umbrachte (Ron
Kray führte eine Feindesliste wie Richard Nixon). In der Hoffnung auf Heilung
konsultierte Ron Dutzende von Psychiatern. Keiner konnte ihm helfen. Um zu
vergessen, betrank er sich. Verbunden mit großen Mengen von Alkohol, ist der
Effekt von Stematol schwer kalkulierbar. Die Droge greift das zentrale
Nervensystem an. Als Ron in Long Grove saß, glichen sich die Zwillinge so sehr,
dass man den einen mit dem anderen verwechseln konnte. Jetzt begann Ron, sich
körperlich zu verändern. Er wurde bulliger, bekam einen Stiernacken, seine
Gesichtszüge wurden gröber, das Kinn breiter.

Attila, der Hunnenkönig

Reg hatte Kontakte zu anderen Gangstern geknüpft, um das Kray-Imperium Stück für
Stück ins West End mit seinen lukrativen Vergnügungsetablissements auszudehnen.
Ron ging das zu langsam. Er konsultierte regelmäßig eine Hellseherin. Von ihr
hatte er erfahren, dass er die Reinkarnation von Attila dem Hunnenkönig und zu
Großem bestimmt sei. Also führte er seine Truppen in die Schlacht. Reg, inzwischen
auch ein starker Trinker, machte wie immer mit. 1959 erlebte das West End einige
brutale Bandenkämpfe. Regs Partner verstanden sich als Geschäftsleute, wollten
keinen Ärger mit der Polizei und brachen den Kontakt ab. Ron machte so in ein paar
Monaten kaputt, was sein Bruder über Jahre aufgebaut hatte.

Ron hatte einige vermögende Freunde, die mit ihm angaben und ihm dafür Geld
liehen, das er nie zurückzahlte. Der Autohändler Daniel Shay war ein mehrfach
vorbestrafter Betrüger, aber kein Gangster. Durch den häufigen Umgang mit den
Krays scheint er das vergessen zu haben. Ron bezog Schutzgeld von mehreren
Ladenbesitzern. Shay wollte das auch. Sein erster, äußerst stümperhaft
vorgetragener Coup sollte ihm eine Aktentasche und 100 Pfund einbringen. Als er
kassieren wollte, wartete die Polizei auf ihn. Reg war als Verstärkung
mitgekommen. Er wurde zu 18 Monaten verurteilt. Ron leitete die Firma in der Zeit
allein und vergrößerte sein Waffenarsenal.

1961 wurde in Großbritannien das Glücksspiel legalisiert. Durch das Gesetz sollten
die Gangster von den Spielclubs ferngehalten werden. Das Gegenteil trat ein. Wer
schon einen Spielclub betrieb, führte ihn nun legal weiter. Die Unterwelt hatte
durch ihr Knowhow einen großen Wettbewerbsvorteil. Und wer als Nicht-Krimineller
einen neuen Club eröffnete, erhielt Besuch von einigen Herren, die ihre "Hilfe"
anboten. Einen der erfolgreichsten dieser Clubs betrieben bald die Krays. Das
hatten sie vermutlich der Tatsache zu verdanken, dass Ron, während Reg in
Wandsworth saß, Peter Rachman als Klienten der Firma gewann.

Der englischen Sprache hat Rachman ein hässliches Wort beschert. Das Concise
Oxford Dictionary definiert den Begriff "Rachmanism" als "Ausbeutung von
Slumbewohnern durch skrupellose Vermieter". Rachman gebot über ein
Immobilienimperium, das vorzugsweise aus Slumwohnungen bestand. Seine Wuchermieten
wurden von einem Schlägertrupp eingetrieben. Ron wollte einen Anteil. Er lud
Rachman nach Fort Vallance ein, stellte ihm seine Mutter vor und zog sich dann mit
ihm in das kleine Wohnzimmer im ersten Stock zurück, in dem er gern - bei einer
Tasse Tee - das Geschäftliche besprach. Nach anfänglichem Widerstand scheint
Rachman beschlossen zu haben, regelmäßigen Forderungen zu entgehen, indem er eine
Art Einmalzahlung leistete.

Im vornehmen Teil Londons, vom Luxuskaufhaus Harrod's ein Stück die Straße
hinunter, gab es den Spielclub Esmeralda's Barn. Rachman half bei der Übernahme.
Die Verhandlungen führte Rons neuer Ratgeber Leslie Payne, Beiname "The Brain".
Der gebildete und kultivierte Payne hatte eine Frau, zwei Kinder, ein Haus in der
Vorstadt und war mit einem komplizierten Firmengeflecht in die Insolvenz
geschliddert. Mit Hilfe der Krays löste er seine finanziellen Probleme. Der "Mann
mit der Aktentasche" machte seine Partner mit gewinnbringenden Geschäftsmodellen
wie dem der long-firm vertraut. Eine long-firm ist eine Firma, die ein Lagerhaus
mietet, Waren bestellt und pünktlich bezahlt. Wenn das Vertrauen der Lieferanten
gewonnen ist, wird in großem Stil bestellt, bis das Lagerhaus voll ist. Dann wird
alles an einem Tag und zu einem Drittel des Marktpreises verkauft, die Firma
verschwindet und die Lieferanten bleiben auf ihren Forderungen sitzen. Payne
zufolge verdienten die Krays allein 1962 mehr als 100 000 Pfund mit solchen long-
firms.

Ronnie, Reggie und die Schickeria

Payne kannte den sechsten Earl of Effingham. Der Earl war ein direkter Nachkomme
des Mannes, der beim Sieg über die spanische Armada die englische Flotte
kommandiert hatte. Außerdem war er ein Spieler, ein Trinker und bankrott. Er lebte
von den 13 Pfund, die an täglichem Sitzungsgeld ausbezahlt wurden, wenn das House
of Lords tagte. Nur zu gern ging er auf den Vorschlag ein, als einer von drei
Direktoren des Spielclubs zu fungieren; dafür bekam er jede Woche zehn Pfund. Auf
dem Briefpapier von Esmeralda's Barn stand sein Name neben dem seiner
Direktorenkollegen, den Herren Ronald und Reginald Kray. Der Club hatte bestens
geschultes Personal, einen Earl auf dem Briefkopf und zwei Gangster-Geschäftsleute
zum Begrüßen der Gäste. Esmeralda's Barn war eine der angesagtesten Adressen der
Stadt. Jeder der Zwillinge erhielt einen jährlichen Gewinnanteil von etwa 40 000
Pfund. Ganz legal und ohne Risiko.
Teile der sentimentalen Cockney-Komödie Sparrows Can't Sing wurden im Double R
Club gedreht. Im März 1962 war große Premiere im East End. Die Snowdons,
Prinzessin Margaret und ihr Gatte, fuhren im Rolls vor. Nach der Premiere feierten
die Schauspieler und die High Society im Kentucky, dem neuesten Club der Krays.
Die Zwillinge unterstützen wohltätige Organisationen, und zufällig war immer auch
ein Pressephotograph dabei, wenn die "bekannten Geschäftsleute" den Scheck
überreichten. Später, auf dem Sterbebett, erzählte Reg von Billy Hill, der sein
"Mentor" gewesen sei. Hill war einer der führenden Londoner Villains der
Nachkriegszeit und ging als reicher Mann in Rente. In Spanien genoss er das
Luxusleben eines Gangsters im Ruhestand, gab Interviews und posierte bereitwillig
für britische Zeitungen, mit Zigarre und in teuren Anzügen (nachgestellt wurden
PR-Photos von Edward G. Robinson). Seine Auftritte an der "Costa del Crime"
inspirierten eine Reihe von britischen Kriminalfilmen; die besten sind The Hit von
Stephen Frears (mit Musik von Eric Clapton, der in Esmeralda's Barn einige seiner
ersten Auftritte hatte) und Sexy Beast von Jonathan Glazer.

Doppelleben und Schwulenouting

So etwas strebte auch Reg an. Zu seiner Vorstellung vom Glück gehörten außerdem
eine Frau und Kinder. Das war natürlich ein Problem, denn die Kray-Zwillinge waren
schwul. Reg litt darunter und führte ein Doppelleben. Dadurch kam Frances Shea ins
Spiel. Frances wohnte in der Ormsby Street, gleich um die Ecke von der Vallance
Road. Sie galt als die Schönste im Viertel, und als "Reggies Mädchen". Zu beneiden
war sie darum nicht. Kein anderer Mann traute sich, mit ihr auszugehen. Wenn Reg
mit Männern schlief, meistens mit sehr jungen Männern, bekam er früher oder später
Schuldgefühle und beschloss, sich zu bessern. In diesen Hetero-Phasen präsentierte
er Frances als seine Freundin, führte sie groß aus und überhäufte sie mit
Geschenken. Aber das hielt nie lang vor.

Ron war selbstbewusster als sein Bruder und stand zu seiner sexuellen
Orientierung. Anfangs war er für seine Verhältnisse noch diskret, schon um seiner
Mutter Violet keinen Kummer zu machen. Dann sah er keinen Grund mehr, etwas zu
verbergen. Im Gegenteil. Schließlich hatten die Swinging Sixties angefangen, die
nicht nur aus der Carnaby Street bestanden, sondern auch daraus, dass man in eine
fremde, ebenso faszinierende wie gefährliche Welt eintauchte. Von heute aus
gesehen hat man den Eindruck, dass der Gangster Ronnie Kray genau der Mann war,
auf den die Schickeria von Chelsea gewartet hatte. Aber die Schickeria musste ihn
erst kennenlernen. Dabei half David Litvinoff.

Litvinoff, der Sohn eines russischen Schneiders in Bethnal Green, war ein
begnadeter Geschichtenerzähler und so etwas wie der Hofnarr der Reichen und der
Schönen. Und er war spielsüchtig, hatte Schulden bei den Krays. Ron erließ sie ihm
und übernahm dafür sein Apartment im vornehmen Kensington, das er zusammen mit
seinem aktuellen Liebhaber bezog. Litvinoff blieb auch dort wohnen und wurde eine
Art PR-Mann der Krays, die er seinen Freunden vorstellte. Einer dieser Freunde war
der Maler Francis Bacon, der erzählte, Ron habe das furchterregendste Gesicht, das
er je gesehen habe. Ein anderer war Christopher Gibbs. Der Ästhet Gibbs hatte
einen Antiquitätenladen in Chelsea und richtete Rockstars, Adeligen und Neureichen
die Wohnung ein. Er kannte viele Leute, die auch gern einmal echte Villains
treffen wollten. Litvinoff entwickelte eine Kray-Obsession und erzählte auf jeder
Party von ihnen. So waren die Zwillinge auch denen ein Begriff, die ihnen nie
begegnet waren. Heute kann niemand mehr genau sagen, ob die Geschichten von mit
einer Machete abgeschlagenen Fingern, abgeschossenen Testikeln und abgeschnittenen
Nasen wahr sind oder nicht. Wichtig war, dass man sie den Krays zutraute.

Ein Türöffner war auch Rons offen ausgelebte Homosexualität. Sie verschaffte ihm
Zugang zu einem Zirkel schwuler oder bisexueller Stützen der Gesellschaft, für die
er Sexpartys und Filmvorführungen organisierte. Einer seiner neuen Freunde war der
Labour-Abgeordnete Tom Driberg, von dem später die Nachrufschreiber sagten, er sei
der unwürdigste Parlamentarier aller Zeiten gewesen. Driberg stellte den Kontakt
zum konservativen Politiker Lord Boothby her, dem früheren Privatsekretär von
Winston Churchill. Boothby trat regelmäßig im Fernsehen und im Radio auf, um zu
aktuellen Fragen Stellung zu nehmen. Im Kreis seiner Freunde teilte er mit, dass
er nicht genau wisse, wen er lieber mochte: Frauen oder Jungen. Ron half ihm
dabei, das herauszufinden.

Figuren wie Driberg und Boothby wurden durch den intimen Umgang mit den Krays
erpressbar, was sie offenbar nicht kümmerte (oder erst dann, als ihnen die Krays
kompromittierende Briefe und Photos vorlegten). Es war chic, sich mit Gangstern zu
zeigen. Vielleicht wird irgendwann jemand ein Photobuch mit den vielen Bildern
veröffentlichen, auf denen die Krays oder die Richardsons mit Adeligen,
Wirtschaftsführern oder Stars wie Frank Sinatra, Judy Garland und Stanley Baker zu
sehen sind. Es wäre ein spannender Beitrag zur Sozialgeschichte. Sogar George
Raft, die Stilikone der Krays, kam nach London, ließ sich von den Zwillingen die
Sehenswürdigkeiten zeigen und revanchierte sich mit Weisheiten wie der, dass man
länger jung bleibt, wenn man abends unter Leute geht, statt vor dem Fernseher zu
sitzen. Man kann das alles in den autobiographischen Werken der Brüder nachlesen.
Rafts Sentenzen werden präsentiert, als stammten sie von Konfuzius.

Der Lord und der Gangster

Am 12. Juli 1964 brachte der Sunday Mirror auf Seite 1 einen Artikel mit der
Überschrift "DER ADELIGE UND DER GANGSTER". Berichtet wurde, dass Scotland Yard
demnächst Verhaftungen in einem Fall vornehmen werde, in dem es auch um die
Beziehung eines allseits bekannten Adeligen zu "einem homosexuellen Schläger an
der Spitze der Londoner Unterwelt" gehe. Namen wurden zunächst nur in Deutschland
genannt (im Stern vom 22. Juli), aber es war kein großes Geheimnis, wer gemeint
war: Lord Boothby und Ron Kray. Tatsächlich wurde ermittelt. Doch Sir Joseph
Simpson, der Polizeichef, ließ dementieren.

Was folgte, war eine Vertuschungsaktion, an der sowohl die Regierung als auch die
Opposition beteiligt waren (darüber muss man nicht mehr spekulieren, weil
entsprechende Unterlagen seit dem Ablauf der 30-jährigen Sperrfrist im Public
Records Office einzusehen sind). Im Jahr davor war der konservative
Premierminister Macmillan wegen der Profumo-Affäre zurückgetreten. Christine
Keeler, eine Hauptfigur der Affäre, war die Geliebte von Rachman gewesen, dem
Geschäftsfreund der Krays. Schon wieder ein Sexskandal hätte das äußerst
ramponierte Image des Landes weiter beschädigt. Neue Enthüllungen hätten die
Regierung von Macmillans Nachfolger Sir Alec Douglas-Home zu Fall bringen können.
Für die Konservative Partei war die Sache deshalb so brisant, weil Lord Boothby
eines ihrer Aushängeschilder war. Außerdem war er der langjährige Liebhaber von
Lady Dorothy. Das war die Gattin Macmillans, dem er seinen Adelstitel verdankte.

Eigentlich, möchte man meinen, war das Ganze ein gefundenes Fressen für die
Opposition. Aber Harold Wilson, der Chef der Labour Party, hatte schon bei der
Profumo-Affäre sehr zögerlich agiert, weil er mit solchem Schweinkram nichts zu
tun haben wollte. Wilson hatte beste Chancen, die anstehenden Wahlen auch so zu
gewinnen und wollte sich hinterher nicht nachsagen lassen, er sei wegen eines
Sexskandals Premierminister geworden. Das war der ehrenhafte Teil der
Überlegungen. Den Ausschlag gab aber wohl, dass in den Polizeiakten von Treffen
Boothbys mit Londoner Gangstern und Tom Driberg die Rede war. Der schwule, in
mehrere Korruptionsaffären verwickelte Driberg (später Lord Driberg) war Labour-
Abgeordneter. Das hätte auch die Opposition in Turbulenzen bringen können.

So kam es, dass sich plötzlich prominente Mitglieder der Labour Party für den
konservativen Lord Boothby stark machten. Auch anwaltlich vertreten wurde er von
zwei prominenten Labour-Juristen: Arnold Goodman (später Lord Goodman) war der
Lieblingsanwalt von Harold Wilson; Gerald Gardiner (später Lord Gardiner) wurde im
Jahr darauf von Wilson in sein Kabinett berufen. Auf ihr Anraten ging Boothby in
die Offensive. Er schrieb einen Brief an die Times, der am 2. August
veröffentlicht wurde. Darin erklärte er sich zum unschuldigen Opfer einer
Schmutzkampagne. Boothbys Erklärung war zwar von A bis Z erlogen, aber ohne die
Mithilfe von Sir Joseph Simpsons Polizei konnte der Mirror das nicht beweisen.
Vorteilhaft war auch, dass der Chefredakteur und der Aufsichtsratsvorsitzende der
Mirror-Gruppe die Labour Party unterstützten und (zu Recht) hofften, nach deren
Wahlsieg für ihre Verdienste um das Allgemeinwohl geadelt zu werden. Das half nun
einem Konservativen. Der Mirror einigte sich außergerichtlich mit "Mr. Fixit"
Goodman, widerrief alle seine Behauptungen, entschuldigte sich bei Boothby und
zahlte ihm ein Schmerzensgeld von 40 000 Pfund (plus Anwaltskosten). Heute wäre
das weit mehr als eine halbe Million.

Ein Photo vom schwulen Schläger

Lord Voldemort, der Bösewicht bei Harry Potter, ist so gefürchtet, dass Hexen und
Zauberer meistens nur als "You-Know-Who" oder als "He-Who-Must-Not-Be-Named" von
ihm sprechen. J.K. Rowling sagt in einem Interview, der Einfall gehe auf die Krays
zurück, deren Namen auch tabu gewesen sei. Das ist ein Mythos. Die Krays wollten
nicht die anonymen Herrscher der Unterwelt sein. Ihr Ziel war es, jemand zu sein
("to be somebody"). Als sich der Mirror in großen Lettern bei LORD BOOTHBY
entschuldigte, bei Ron aber nur indirekt und ohne Namensnennung, war das
ärgerlich. Also musste etwas unternommen werden.

Ein Photograph hatte dem Mirror eine Reihe von Bildern verkauft, die Boothby
zusammen mit Ron Kray zeigten. Ein paar Tage später hatte der Mann eine
Einstweilige Verfügung erwirkt, die der Zeitung die Veröffentlichung untersagte.
Der Mirror hatte daraufhin (16. Juli) von einem Photo berichtet, das er nicht zu
drucken wage; das Bild zeige "ein bekanntes Mitglied des House of Lords, auf einem
Sofa sitzend mit einem Gangster, der den größten Ring von Schutzgelderpressern
leitet, den London je gesehen hat". Ron suchte jetzt das Bild von sich und Boothby
aus, das er am schmeichelhaftesten fand und ließ es für 100 Pfund an ein
Konkurrenzblatt verkaufen. Der Daily Express brachte das Photo am 6. August auf
Seite 1. Damit war ein für allemal klargestellt, wer mit "homosexueller Schläger"
gemeint war.

Die an der Vertuschung Beteiligten würden sich wahrscheinlich auf die Staatsraison
herausreden. Mag sein, dass das Ansehen Großbritanniens in der Welt geschützt
werden musste. Das ging aber auf Kosten der künftigen Kray-Opfer. Die
Kriminalreporter des Mirror hatten gerade mit einer Artikelserie über die Londoner
Unterwelt begonnen, in der es auch um bestochene Beamte gehen sollte (die Simpson-
Ära gilt als besonders korrupt). Die Serie wurde nun eingestellt. Die Botschaft
erreichte auch die anderen Zeitungen. Boothby hatte 40 000 Pfund bekommen, obwohl
in jeder Redaktion bekannt war, dass er gelogen hatte. Daraus zog man den Schluss,
dass er Protektion von ganz oben habe - eine Protektion, der sich offenbar auch
die Krays erfreuten. Von ihnen ließ man besser die Finger. So ähnlich sah man es
bei Scotland Yard. Auch Polizisten wollen Karriere machen. Nachdem der Polizeichef
behauptet hatte, es sei nie gegen die Firma ermittelt worden, galten solche
Ermittlungen als nicht besonders förderlich für die Karriere. Die Krays hielten
sich nun für "unberührbar". Sie hatten damit nicht ganz unrecht.

Im Januar 1965 demolierte die Firma den Nachtclub von Hew McCowan, der die Krays
daraufhin wegen Schutzgelderpressung anzeigte. Der Fall kam zur Anklage, als
McCowan seine Anzeige wider Erwarten aufrechterhielt. Die Zwillinge engagierten
zwei der teuersten Strafverteidiger und besorgten sich zur Sicherheit Namen und
Adressen der Geschworenen. Mindestens ein Juror wurde kontaktiert, und ein Juror
bekannte auf unschuldig. Ohne einstimmiges Urteil musste neu verhandelt werden
(der Fall trug dazu bei, dass später das Gesetz geändert wurde). Bis zum zweiten
Prozess hatten die Krays Unschönes über McCowans Vergangenheit herausgefunden.
Nachdem die Glaubwürdigkeit des wichtigsten Zeugen zerstört war, wurden die
Zwillinge freigesprochen. Die BBC lud sie ins Fernsehstudio und gab ihnen
Gelegenheit, sich über ein Polizeikomplott zu beklagen. In den nächsten drei
Jahren konnten sie fast nach Belieben Schalten und Walten, ohne von Scotland Yard
groß belästigt zu werden.

Der Al Capone von London

Ronnie Kray wollte kein Frühstücksdirektor sein, sondern ein richtiger Gangster,
der sein Geld durch harte (und für die Betroffenen sehr schmerzhafte) Arbeit
verdient. Leslie Payne wurde er immer unheimlicher. "The Brain" begann, seine
Geschäftsverbindungen mit den Krays zu lösen. Rons neuer Berater in allen
Lebensfragen wurde Alan Cooper, der Chef der privaten Europan Exchange Bank. Mit
seiner Hilfe machten die Krays gestohlene Wertpapiere aus den USA zu Geld, im
Auftrag der Mafia. Die Mafia streckte auch deshalb die Fühler nach London aus,
weil dort nun das Glücksspiel legalisiert war. Geplant waren Pauschalreisen für
reiche US-Kunden, auf denen auch alle sexuellen Wünsche befriedigt wurden. Die
Krays sollten sich darum kümmern, dass man ein Rundumsorglos-Paket buchen konnte
und weder von der Polizei noch von örtlichen Kriminellen belästigt wurde.

Ron träumte davon, der Al Capone von London zu werden (wie Reg hatte auch er sich
ein paar jener dunkelblauen Zweireiher anfertigen lassen, die George Raft in
seinen Gangsterfilmen trägt). Wie weit die Zusammenarbeit mit der Mafia 1968
tatsächlich gediehen war, wurde nie richtig aufgeklärt. Der beste Film zum Thema
ist John Mackenzies The Long Good Friday (1979), mit Eddie Constantine als nur am
Geschäft interessiertem Mafioso und Bob Hoskins als von den Krays inspiriertem
Gangsterboss, der daran scheitert, dass er Probleme weiter so lösen will wie
früher im East End. Als der Film angelaufen war, bekam Hoskins Post aus Broadmoor,
einer geschlossenen Klinik für geisteskranke Straftäter. Ron Kray lobte ihn für
die gelungene Darstellung. Damit beginnt nun endgültig der Teil dieser ziemlich
verrückten Geschichte, den man nur erzählen kann, weil er sich wirklich so
abgespielt hat. Wäre die Geschichte erfunden, müsste man sich sagen lassen, dass
sie unglaubwürdig ist und man sich etwas Besseres ausdenken soll.

Morgen in Teil 2 (1): Mörder und Götter

LINKS

(1) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29517/1.html

Telepolis Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29545/1.html

Copyright © Heise Zeitschriften Verlag

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Mörder und Götter
Hans Schmid 18.01.2009

Die Krays - Teil 2

Teil 1 (1): Könige der Unterwelt

Im März 1965 gaben die Krays zwei Reportern der Sunday Times ein Interview. Die
durch Boothby alarmierten Juristen des Blatts sorgten dafür, dass in dem Artikel
nichts über die kriminellen Aktivitäten der beiden Herren stand. Gewalt, Betrug,
Zuhälterei und Pornofilme wurden durch Lokalkolorit ersetzt. Die Times berichtete
deshalb über zwei farbige Charaktere aus dem East End, die bereits Teil der
Londoner Folklore seien. Zum ersten Mal wurden in Verbindung mit den Krays Worte
wie "Mythos" und "Legende" gebraucht. Damit begann ihr Aufstieg zu Helden des Pop.
Der Artikel sprach sogar davon, dass sie in Verbindung mit dem Boothby-Fall
"entdeckt" worden seien wie irgendein Starlet oder ein Schlagersänger.

Popstars

Francis Wyndham arbeitete für das Magazin der Sunday Times, wollte auch über
Gangster schreiben und bat vier führende Familien um ein Gespräch. Nur die Krays
antworteten. Sie kamen sogar persönlich vorbei. Wyndam war fasziniert, als er sich
zwei Charakteren gegenüber sah, die direkt aus einem Dickens-Roman zu kommen
schienen. Die Photos zum Artikel sollte David Bailey beisteuern. Bailey, der
berühmteste Modephotograph der 60er (und das Vorbild für die Hauptfigur in
Antonionis Blow-up), war ein Perfektionist. Die besten Bedingungen boten die
Studios der Zeitschrift Vogue. Also lichtete Bailey die beiden Villains da ab, wo
er sonst Supermodels photographierte.

Der Times wurde das irgendwann zuviel, sie verzichtete auf Wyndhams Artikel.
Bailey arbeitete gerade an seiner "Box of Pin-ups", einer Sammlung mit Photos
berühmter Persönlichkeiten der Sixties. Das inzwischen berühmt gewordene
Doppelportrait der Krays nahm er mit auf. Bald konnte man es zusammen mit Bildern
von Michael Caine, Peter O'Toole, Marianne Faithfull, Mick Jagger und den Beatles
kaufen. Die Rückseite des Photos mit den Krays war mit dem von der Times
abgelehnten Wyndham-Text versehen. Er erklärte sie zur "East-End-Legende",
verglich sie mit Jesse James und anderen: "Sich in der Gegenwart der Zwillinge
aufzuhalten bedeutet, sich in die Atmosphäre (lakonisch, üppig, gefährlich) eines
frühen Bogart-Films zu begeben." Das Doppelportrait tauchte später auf dem Cover
der Taschenbuchausgabe von John Pearsons The Profession of Violence (1972) auf,
einem Kultbuch, das - obwohl sehr kritisch - ebenfalls dazu beitrug, dass die
Krays Popstars wurden.

Die beiden Bücher von Pearson (2001 erschien noch The Cult of Violence) sind die
besten, die man über die Krays lesen kann. Wir verdanken sie auch den beiden
Gangstern. Die Krays waren sehr angetan von der Idee eines Verlegers, ein Buch
über sie zu veröffentlichen - und noch mehr von dem Gedanken, dass man aus dem
Buch einen Film machen könnte. Schreiben sollte das Buch John Pearson, der Autor
von The Life of Ian Fleming. Das erste Treffen zwischen den Krays und ihrem
Biographen fand 1967 in einem stattlichen Landhaus statt, vor dem ein hellblauer
Rolls-Royce geparkt war. Beides hatte ihnen ein Freund zur Verfügung gestellt,
weil im Film Gangster ein Landhaus und eine Nobelkarosse hatten. Pearson bemerkte
Regs verletzte Hand und fragte, wie das geschehen sei. Die Antwort wurde später
zum geflügelten Wort: "Gärtnern." Tatsächlich hatte er acht Tage zuvor Jack
McVitie umgebracht und sich dabei mit einem Küchenmesser am Daumen verletzt.
Dieser Mord war der Anfang vom Ende.

Ron sah das allerdings ganz anders. Wenn man ihn noch fragen könnte, würde er
wahrscheinlich sagen, dass alles die Schuld von Frances Shea war, Regs zehn Jahre
jüngerer Vorzeigefreundin für die Hetero-Phasen. Ron konnte Frances nicht leiden.
Aber Reg hatte die Tendenz, sich in Frauen zu verlieben, die ihm Briefe ins
Gefängnis schickten. Frances schrieb ihm regelmäßig, als er wegen der McCowan-
Sache in Untersuchungshaft saß. Das war kurz nachdem Ron bekanntgemacht hatte,
dass er der schwule Gangsterfreund Lord Boothbys war. Reg war besorgt, dass man
auch ihn für homosexuell halten könnte. Noch im Gefängnis brachte er Frances dazu,
seinen Heiratsantrag zu akzeptieren.
Die Hochzeit des Jahres

Geheiratet wurde im April 1965. Im East End war es die "Hochzeit des Jahres".
Unter den Gästen befanden sich berühmte Boxer, Diana Dors, die Regisseurin Joan
Littlewood und David Bailey, dem die Zwillinge erst vor ein paar Wochen Modell
gesessen hatten. Er machte die Hochzeitsbilder. Eines davon (Ronnie, Reggie und
Frances im Wohnzimmer in der Vallance Road) wurde 2007 in der National Portrait
Gallery im Rahmen einer Ausstellung mit berühmten Pressephotos gezeigt. Den Krays
hätte das sicher gefallen.

Für Reg war es Zeit, bei seiner Mutter auszuziehen. Weil er glaubte, das seinem
Ruf schuldig zu sein, mietete er für sich und Frances eine Luxuswohnung am Marble
Arch, die beide nicht wirklich wollten und wo sie todunglücklich waren. Sie
wollten zurück ins East End. Ron hatte sich inzwischen ein im "marokkanischen
Stil" eingerichtetes Apartment in Cedra Court zugelegt, einem jener luxuriösen
Wohnblocks, an denen man bereits ablesen konnte, dass Teile des East End dabei
waren, von der gehobenen Mittelschicht übernommen zu werden. Reg mietete die
Wohnung unter der von Ron. Das war weder klug noch sehr zartfühlend. Bald ging er
immer häufiger nach oben, wo Ron seine Sexpartys feierte. Frances verbrachte die
Nacht allein, hörte durch die Decke Stimmen und Gelächter und in den
Morgenstunden, wie die männlichen Gäste nach Hause gingen. Nach acht Wochen floh
sie zu ihren Eltern. Ihrer Mutter erzählte sie, dass sie noch Jungfrau und dass
ihr Gatte ein Perverser sei. Die Mutter erzählte das weiter. Als man im East End
zu tuscheln begann, reichte eine Serviererin eine Vaterschaftsklage gegen Reg ein.
Das wirkt wie ein verzweifelter Vertuschungsversuch des Mannes, der nicht schwul
sein wollte.

Reg und Frances kamen nicht voneinander los. Reg fuhr täglich zum Haus der Sheas,
die ihn nicht einließen. Also blieb er auf der Straße, wo Frances sich durch das
geöffnete Schlafzimmerfenster mit ihm unterhielt. Oft stundenlang. Frances
versuchte zweimal, sich umzubringen und wurde jeweils im letzten Moment gerettet.
Während Reg bemüht war, sein nicht existierendes Eheglück zu retten, hegte Ron,
der paranoide Schizophrene, weiter Mordgedanken. Auf seiner Feindesliste standen
inzwischen auch die Richardsons. Einen Grund dafür gab es eigentlich nicht, weil
man sich kaum in die Quere kam.

Mord im Blind Beggar

Charlie und Eddie Richardson betrieben auf der anderen Seite der Themse, in
Südlondon, einige Schrottplätze, einen Pharmazie-Großhandel und eine Reihe von
Schwindelfirmen. Als sie anfingen, ein paar wenig einträgliche Clubs in einem
besonders tristen Viertel von South London zu übernehmen, erledigten sie sich
selbst. In den Morgenstunden des 8. März 1966 trafen sie auf eine lokale Bande,
die Widerstand leistete. Ein Gangster wurde erschossen. Es gab mehrere Verletzte.
Eddie Richardson wurde mit einer Schusswunde ins Krankenhaus eingeliefert. Fast
alle Mitglieder der Richardson-Bande waren an der "Battle of Mr. Smith's Club"
beteiligt gewesen, und dafür gab es auch Beweise. Die Bande war am Ende.

Bis heute wird darüber gerätselt, warum Ron Kray und sein Leibwächter Ian Barry am
9. März 1966, kurz vor fünf Uhr abends, den Blind Beggar betraten. In dem Pub
stand George Cornell und trank sein Bier (was man dort noch immer tun kann).
Cornell war einer der Folterknechte der Richardsons und das einzige wichtige
Bandenmitglied, das nicht festgenommen, auf der Flucht oder im Krankenhaus war.
Vielleicht wollte Ron der Bande den Rest geben. Vielleicht wollte er sich dafür
rächen, dass Cornell ihn angeblich "that fat poof" genannt hatte (dieser fette
Schwule). Oder er wollte einfach nur wissen, wie es ist, wenn man jemanden tötet
(später erzählte er seinen Freunden, dass er dabei einen Orgasmus gehabt habe).
Ron war kurzsichtig und schoss fast so schlecht, wie er Auto fuhr. Er trat so nah
an Cornell heran, dass sogar er treffen musste. Cornell sagte "Schau mal, wer da
ist." Dann schoss ihm Ron Kray in die Stirn.

Als Reg davon erfuhr, organisierte er eine Wohnung, in der sich sein Bruder
verstecken konnte. Ron betrank sich dort, während er seine Platten mit Churchills
Kriegsreden hörte. Bald konnte er wieder auftauchen. Im Blind Beggar soll es
ungefähr 30 Zeugen gegeben haben. Niemand war zu einer Aussage bereit. Einmal auf
den Geschmack gekommen, schoss Ron weiter um sich. Dabei gab es mehrere Verletzte.
Es war ein offenes Geheimnis, dass Ron Kray Cornell getötet hatte. Zu beweisen war
es vorerst nicht, und die Polizei gab sich auch keine besondere Mühe. Ron genoss
jetzt, wie es in Gangsterkreisen heißt, mehr "Respekt" als je zuvor (das heißt, er
war noch gefürchteter als zuvor). Anfangs war der Mord gut für das Geschäft, weil
niemand Ron einen Wunsch abschlagen konnte. Aber auf lange Sicht zahlt es sich
nicht aus, wenn die Freunde (wie Leslie Payne) mehr Angst vor einem haben als die
Feinde. Von Zeit zu Zeit muss auch der brutalste Gangster zeigen, dass er gut zu
seinen Leuten ist. Das ist in jedem Film so, und Ron Kray kannte alle
Gangsterfilme. Vielleicht war es also eine PR-Maßnahme, als er beschloss, seinen
alten Freund Frank Mitchell zu befreien.

Der verrückte Axtmörder

Mitchell saß jetzt in Dartmoor, wo sich der Direktor für seine Entlassung stark
machte. Weil fest mit einer Begnadigung gerechnet wurde, hatte Mitchell viele
Privilegien. Bei Arbeitseinsätzen im Moor hatte niemand etwas dagegen, wenn er
ausgedehnte Spaziergänge unternahm. Eine Befreiung war also völlig unnötig.
Trotzdem schickte Ron am 12. Dezember 1966 zwei Männer zu einem Pub in Dartmoor.
Dort erschien Mitchell und stieg ins Auto. Dann fuhren die Drei davon. Das war die
Befreiung. Das größte Problem bestand darin, dass keiner der beiden Befreier einen
gültigen Führerschein hatte. Bevor sie das Fluchtauto mieten konnten, musste erst
eine Fahrerlaubnis besorgt werden. Mitchell stand geistig auf der
Entwicklungsstufe eines kleinen Kindes. Passend zum Anlass trug er eine schwarze
Strumpfmaske. Seine Retter überredeten ihn, sie abzunehmen, um nicht unnötig
aufzufallen.

Mitchell wurde in eine vorbereitete Wohnung im East End gebracht. Er sollte es so


machen wie Boothby und einen Brief an die Times schreiben, in dem er von den 18
Jahren berichtete, die er nun schon im Gefängnis saß. Dann würde er begnadigt
werden. Das war der Plan. Die Times druckte den Brief tatsächlich ab, aber die
Begnadigung ließ auf sich warten. Ronnie auch. Der beste Freund des "verrückten
Axtmörders" hielt sich gerade wieder versteckt. Er litt unter Depressionen und
fühlte sich verfolgt. Schon lange konnte er nicht mehr allein schlafen, weil er
Angst vor der Dunkelheit hatte (er hatte auch Angst vor Mäusen). Jede Nacht trank
er sich bewusstlos; wie üblich zu Churchills Kriegsreden. Auch wie üblich musste
Reg sich allein um den Schlamassel kümmern, den Ron angerichtet hatte. Der Riese
Mitchell wollte nicht mehr länger in seinem Versteck eingesperrt sein und zu
Violet in die Vallance Road gehen (mit seiner Strumpfmaske, damit ihn niemand
erkennen würde), um mit ihr seine Probleme zu besprechen. Um ihn zu beruhigen,
besorgte ihm die Firma eine Frau, die Bardame Lisa, die für 100 Pfund in bar
bereit war, ihm ein paar Tage Gesellschaft zu leisten. Mitchell verliebte sich in
Lisa und wollte sie nicht gehen lassen.

Mitchell war viel zu groß und zu auffällig, um ihn außer Landes zu schmuggeln.
Aber was sonst? Jemand kam auf die Idee, dass er für die Firma so gefährlich
geworden war wie ein tollwütiger Hund. Und man wusste, was mit einem tollwütigen
Hund zu tun war. Am Abend des 24. Dezember 1966 wurde er unter dem Vorwand, dass
man ihn in das Landhaus der Zwillinge bringen werde, wo er mit Lisa Weihnachten
feiern könne, in einen Lieferwagen gelockt. Dort wurde er vom Gangsterboss Freddie
Foreman und einem seiner Leute erschossen. 1969 wurden Foreman und die Zwillinge
deshalb unter Mordanklage gestellt. Es gab keine Leiche und keine Beweise. Alle
drei wurden freigesprochen. 1996 veröffentlichte Freddie Foreman seine
Autobiographie. Darin und in einer Fernsehsendung gestand er den Mord (das war gut
für die Auflage, und Foreman konnte nicht zweimal wegen derselben Straftat
angeklagt werden). Den Körper warf er angeblich vor Newhaven ins Meer. Es kann
sein, dass er mit der Behauptung jemanden schützen wollte. Bis heute gibt es
Gerüchte, dass die Krays einen Bestattungsunternehmer dafür bezahlten, Leichen zu
entsorgen. Mindestens zwei weitere Männer aus ihrem Umfeld sind spurlos
verschwunden.

Die Beerdigung des Jahres

Reg fuhr fast jeden Abend zum Haus der Sheas und sprach mit Frances. Danach
betrank er sich und saß brütend herum. Frances war schon immer sehr nervös
gewesen. Reg empfahl ihr die Amphetamine, die er auch selber nahm. Im Juni 1967
wohnte sie bei ihrem Bruder. Dort beging sie ihren dritten Selbstmordversuch.
Diesmal mit Erfolg. Nach der Hochzeit des Jahres organisierte Reg die Beerdigung
des Jahres, mit zehn Limousinen für die Trauergäste. Im Chingford-Friedhof kaufte
er eine Grabstätte, die groß genug für sie beide war. Jedes Mitglied der Firma und
zahlreiche Gangster schickten einen Kranz. Reg kaufte drei: darunter ein fast zwei
Meter hohes Herz aus roten Rosen, durch dessen Mitte eine Linie aus weißen Rosen
lief; das sollte Regs gebrochenes Herz symbolisieren. Bald glaubte er, dass die
Sheas an allem schuld waren. Frances' Eltern hatten ihre große Liebe zerstört. Er
fuhr regelmäßig zum Grab, mitunter mehrmals am Tag. Dort weinte er und hielt lange
Monologe über ihre unsterbliche Liebe.

Die Heirat war auch ein Versuch gewesen, von seinem wahnsinnigen Zwilling
loszukommen. Nach Frances' Tod brachte Ron Reg wieder ganz unter seine Kontrolle.
Das machte er so, wie er es schon immer getan hatte: indem er ihn in seine
Gewalttaten mit hineinzog. Bei einer Geschäftsreise nach Afrika hatte er vom Kult
der Leopardenmänner gehört und davon, dass neue Mitglieder als Initiationsritual
einen Mord begehen mussten. So etwas stellte er sich auch für die Firma vor. Er
selbst hatte mit Cornell den Anfang gemacht. Jetzt war sein Bruder an der Reihe.

Reg trank jeden Abend Gin und dazu starken Kaffee, um nicht einzuschlafen. In der
ersten Phase erzählte er Rührseliges über sich und Frances. Dann schlug die
Sentimentalität in Aggression um. Im East End musste man damit rechnen, dass Reg
jederzeit irgendwo auftauchen konnte, um jemanden dafür zur Rechenschaft zu
ziehen, dass er angeblich ihn oder seine Frau beleidigt hatte. Er war ein genauso
schlechter Schütze wie Ron. Meistens schoss er daneben. Aber mindestens zwei
Männern schoss er ins Bein. Ron spornte ihn an. Weil Reg alles egal war, musste
sich nun Charlie, der ältere Bruder der Zwillinge, darum kümmern, dass
"aufgeräumt" wurde.

Rons Paranoia schien ansteckend zu sein und nun auch Reg erfasst zu haben. Das war
beängstigend. Altgediente Bandenmitglieder setzten sich ab und erhielten
Morddrohungen. Aber die Firma war auch attraktiv. Im Grunde war es, wie sich vor
Gericht zeigte, ein ziemlich trauriger Haufen. Doch der Ruf der Firma war enorm.
Die Kray-Bande galt als die gefährlichste des ganzen Landes. Wer ihr angehörte,
zahlte die Drinks selten selbst, kam leichter an Frauen heran, hatte ein sicheres
Einkommen und konnte sich durch private Schutzgelderpressung etwas dazuverdienen.
Ronnie Hart, ein Cousin der Krays, wurde zum Fremdenführer. Besondere Gäste der
Zwillinge chauffierte er persönlich zum Blind Beggar, wo Ron George Cornell
ermordet hatte.

Mord bei Blonde Carol

Eine im Grunde traurige Figur war auch Jack "The Hat" McVitie, der seine Glatze
unter einem Hut verbarg und den supertoughen Villain gab. Um das durchzuhalten,
nahm er extrem starke Aufputschmittel ("black bombers"). Er war ein Alkoholiker
und Frauenheld. Eine seiner Liebschaften warf er aus dem fahrenden Auto, das Opfer
erlitt eine schwere Verletzung des Rückgrats. Im September 1967 glaubte Ron, dass
sein früherer Ratgeber Leslie Payne die Firma an die Polizei verraten habe.
McVitie sollte ihn erschießen. Er bekam eine Anzahlung von 100 Pfund, vermasselte
den Auftrag und machte eine für die Firma peinliche Szene in einem von Freddie
Foremans Clubs. Als er wieder nüchtern war, entschuldigte er sich bei Reg. McVitie
erzählte von seinen schlechten Nerven, seinen Schulden und seinem kranken Kind.
Reg war sentimental und in seinen guten Phasen ein sehr netter Mensch. Er gab
McVitie noch einmal 50 Pfund. Aber Ron wollte die Anzahlung zurück. Im Suff stieß
McVitie Drohungen gegen die Krays aus. Das alles, oder ein Teil davon, wurde bei
nachträglichen Rationalisierungen als Grund für den Mord angeführt. Doch
eigentlich scheint es nur darum gegangen zu sein, dass auch Reg endlich töten
sollte.

Der Mord war alles andere als glamourös. Schauplatz war eine Kellerwohnung in
Hackney. Dort lebte die Blondine Carol Skinner mit ihren beiden Kindern und einem
Angestellten der Krays. Blonde Carol gab eine Party und wurde mit ihren Gästen in
eine Kneipe geschickt. Die Krays brauchten die Wohnung für eine "private Feier".
Die arbeitslosen Lambrianou-Brüder, Chris und Tony, waren eng mit McVitie
befreundet und wollten unbedingt in die Firma aufgenommen werden. Als Eignungstest
lockten sie McVitie zur Party bei Blonde Carol. Da warteten die Krays mit ihrem
Cousin Ronnie Hart und ein paar anderen ihrer Leute.

Die genaueste Beschreibung des Mordes stammt von Hart. Reg wollte McVitie in den
Kopf schießen, aber die Pistole hatte Ladehemmung. Ron schrie Reg an, ein Mann zu
sein und McVitie umzubringen. Chris Lambrianou war klar geworden, was er getan
hatte; er saß draußen vor der Tür und weinte. Einer von der Bande holte ein
Küchenmesser. McVitie versuchte, durch ein Fenster zu entkommen, blieb stecken und
wurde zurück in die Wohnung gezerrt. Ron hielt ihn von hinten fest, als Reg ihm
mit dem Küchenmesser ins Gesicht stach, knapp unterhalb des Auges. McVitie ging in
die Knie. Reg stach ihm in den Bauch und in die Brust. Als McVitie immer noch
nicht tot war, stach ihm Reg durch den Hals, drehte das Messer mehrfach in der
Wunde um. In der brutalsten Version des Tathergangs nagelte er ihn mit dem Messer
an den Fußboden. Hart stopfte McVitie ein Taschentuch in den Mund, aus dem Blut
quoll. Diese Details werden hier erzählt, weil der Mord später glorifiziert wurde.
Dazu gibt es überhaupt keinen Anlass.

Überall in der Wohnung war Blut. Als Blonde Carol nach Hause kam, hatten die
Lambrianous wenigstens den blutgetränkten Teppich halbwegs gereinigt. Sie stellte
keine Fragen. Tags darauf kamen Abgesandte der Firma und wechselten die komplette
Wohnungseinrichtung aus. Die Leiche wurde noch in der Nacht, in eine Daunendecke
gewickelt, in den Kofferraum eines Autos verfrachtet. Jemand sollte sie irgendwo
im East End entsorgen, überquerte aber stattdessen die London Bridge nach Süden
und stellte das Auto bei einer Kirche ab. Als Charlie Kray davon erfuhr, rief er
bei Freddie Foreman an. Danach ging es stümperhaft weiter. Foreman musste schon
deshalb mitmachen, weil er sonst selbst in Verdacht geraten wäre. Die Firma hatte
das Auto mittlerweile in seiner Straße geparkt. Freddie musste es erst suchen und
aufbrechen, weil er keinen Schlüssel hatte. Auf dem Rücksitz lag die Leiche, in
die blutige Daunendecke gewickelt. Foreman ließ das Auto auf einem Schrottplatz
verschwinden. McVitie versenkte er, nach seinen Angaben, wie Mitchell im Meer.
Auch diese Leiche wurde nie gefunden. 1969 wurden Charlie Kray und Freddie Foreman
wegen Beihilfe zum Mord an McVitie verurteilt.

Bisher hatten die Zwillinge immer Glück gehabt. Aber im Herbst 1967 starb
überraschend Sir Joseph Simpson, für viele die Personifizierung der Korruption im
Polizeiapparat. Simpsons Nachfolger als Polizeichef war ein Mann des Übergangs.
Sein Stellvertreter, Peter Brodie, machte sich Hoffnungen auf den Posten. Dafür
brauchte er einen spektakulären Erfolg. Bei einer Pressekonferenz erklärte er, das
organisierte Verbrechen in London ausmerzen zu wollen. Das war gerade sehr
populär, weil im Prozess gegen die Richardsons viele abstoßende Details über
Folterungen bekannt geworden waren. Leonard "Nipper" Read, Mitglied der
Mordkommission, leitete die Ermittlungen gegen die Krays. Read war ein Polizist
der neuen Generation. Statt sich auf Instinkt und Schnelligkeit zu verlassen wie
die alten Helden von Scotland Yard, setzte er auf ein gut organisiertes Team, auf
das geduldige Zusammentragen von Beweismaterial. Offiziell klärte er einen Mord in
Nordirland auf, weil Brodie den eigenen Leuten nicht traute. Leslie Payne hätte
vermutlich nie gegen die Krays ausgesagt, wenn sie nicht versucht hätten, ihn
umbringen zu lassen. Jetzt fürchtete er um sein Leben. Er erzählte Read, was er
über die Firma wusste. Das Protokoll mit seiner Aussage umfasst mehrere hundert
Seiten. Das war ein Durchbruch. Es gab kaum Vorarbeiten seiner Kollegen, auf die
Read hätte aufbauen können. Offenbar hatte man sich bei Scotland Yard nur wenig
für die Kray-Bande interessiert.

Giftspritzen und Autobomben

Alan Cooper, der Mann mit der Privatbank und Rons neuer Ratgeber, war immer für
eine filmreife Idee gut. Im April 1967 organisierte er eine USA-Reise, damit Ron
die führenden Köpfe der Mafia treffen konnte. Aber diese waren misstrauisch und
ließen sich nicht blicken. Cooper gab später zu, dass er einen befreundeten
Schauspieler bat, als Mafioso aufzutreten, damit Ron einen Gangsterboss treffen
konnte. Wieder in London, wollte Ron endlich die Idee verwirklichen, eine
international operierende Agentur für Auftragsmorde zu gründen. Cooper schien auch
dafür der richtige Mann zu sein und hatte bereits bewiesen, dass er Sprengstoff
und Schusswaffen aller Art beschaffen konnte (darunter zwei Maschinenpistolen der
Marke Browning, mit der Filmgangster traditionell ihre Opfer durchlöchern).

Cooper dachte sich interessante Methoden aus, Leute umzubringen und zeigte Ron die
Instrumente, mit denen man die Morde ausführen konnte, vom
Hochgeschwindigkeitsbogen mit Stahlpfeilen über eine Autobombe bis zu einer in
einem Koffer mit Sprungfeder versteckte Todesspritze mit Zyankalifüllung. Cooper
hatte auch einen Killer zur Hand, einen Mann namens Elvey. Es ging aber immer
etwas schief, wenn Elvey versuchte, einen Konkurrenten der Krays oder einen
gefährlichen Zeugen zu töten. Read bekam schließlich einen Tipp von einem
Gangsterfreund Leslie Paynes. Cooper wurde festgenommen, als ihm ein Kurier sechs
Pfund Dynamit übergab. Beim Verhör behauptete er, seit zwei Jahren als V-Mann für
John du Rose zu arbeiten, den Chef der Mordkommission. Das war keine Erfindung.

Cooper, früher Rauschgift- und Goldschmuggler, war dem FBI ins Netz gegangen und
arbeitete seitdem als Undercover-Agent, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Direkt
unterstellt war er einem pensionierten, der US-Botschaft in Paris angegliederten
Admiral, der ein guter Freund von John du Rose war. Du Rose und der Admiral
hofften, mit Coopers Hilfe die Krays und amerikanische Mafiabosse dingfest machen
zu können. Read und Brodie wussten davon nichts. Elvey, der verhinderte
Profikiller, wurde festgenommen. Er war geistesgestört. Cooper erklärte, er habe
ihm die Mordaufträge gegeben, weil sicher gewesen sei, dass er sie nicht ausführen
könne. Aber die Spritze im Koffer, die Autobombe und der Bogen funktionierten so
gut wie die Maschinenpistolen. Das alles wurde von Scotland Yard zur Verfügung
gestellt. Es war einfach nur Glück, dass Ron Kray und Elvey niemanden damit
umgebracht hatten. Read überzeugten die aberwitzigen Pläne davon, dass mit
weiteren Morden zu rechnen war und er schnell handeln musste, obwohl die
Ermittlungen noch lange nicht abgeschlossen waren.

In den späten 60ern und den frühen 70ern wurden viele von den tristen
Reihenhaussiedlungen, die bis dahin das East End geprägt hatten, abgerissen.
Familien, die seit Jahrzehnten Tür an Tür miteinander gelebt hatten, wurden
dadurch auseinandergerissen. Betroffen war auch die Vallance Road. Violet und ihr
Mann bezogen das oberste Apartment in einem modernen Wohnblock in der Bunhill Row.
Im März 1968 richteten die Zwillinge dort ihr Hauptquartier ein. Am frühen Morgen
des 7. Mai 1968 brach die Polizei die Wohnungstür auf. Die Krays wurden im Schlaf
überrascht und festgenommen. Es war Teil einer großangelegten Operation, bei der
zeitgleich alle führenden Mitglieder der Kray-Bande festgenommen wurden. Read
wollte sicherstellen, dass diesmal keine Zeugen eingeschüchtert wurden.

Monster vor Gericht

Ronnie und Reggie scheinen von da an nur noch an ihrem Ruhm interessiert gewesen
zu sein. Bei der Voruntersuchung (sie war öffentlich, weil die Krays dem
zugestimmt hatten) erfuhr man allerlei Sensationelles, von dem in der
Hauptverhandlung nicht mehr die Rede war. Deshalb wurde nie endgültig geklärt, ob
die Krays wirklich geplant hatten, einen afrikanischen Politiker aus dem Gefängnis
zu befreien und an die Spitze einer ihnen genehmen Regierung zu setzen (daraus
wurde der Film The Wild Geese mit Richard Burton) und wie ernst es ihnen damit
gewesen war, den Papst zu entführen (die Ausgangsidee für Hitchcocks Family Plot).
Es ging nicht darum, wie die Krays ihr Geld verdient hatten, ob die Londoner
Unterwelt strukturiert war wie die Mafia und ob es in Großbritannien ein
organisiertes Verbrechen gab. Die zehn Angeklagten wurden nur des Mordes bzw. der
Beihilfe zum Mord an Cornell und McVitie beschuldigt; der Mitchell-Mord wurde
getrennt verhandelt. Offiziell wurde das damit begründet, dass der Prozess nicht
übermäßig in die Länge gezogen werden sollte. Der Polizei ersparte die
eingeschränkte Anklage einige Peinlichkeiten (Cooper und seine verrückten Pläne).
Man musste auch nicht darüber verhandeln, wie sehr sich kriminelle Strukturen in
der britischen Gesellschaft verfestigt hatten. Und keiner der berühmten Freunde
und Geschäftspartner der Krays musste aussagen.

Ronnie Hart, einer der Hauptbeteiligten am McVitie-Mord, gab im Verhör alles zu


und wurde Kronzeuge. Der Cousin, der den Bandenchef verrät, ist seitdem ein
beliebter Bestandteil des Gangsterfilms. Das gilt sogar für American Gangster mit
Denzel Washington, der auch sonst voller vom East End nach Harlem verlegter Kray-
Elemente steckt. Die Zwillinge hätten das bestimmt als Triumph empfunden. Ihre an
The Public Enemy, Little Caesar, Scarface und The Roaring Twenties ausgerichtete
Karriere beeinflusst nun ihrerseits den amerikanischen Gangsterfilm. Noch besser
war allerdings das, was der Prozess bereithielt: im Publikum saß einer von Rons
Kulturhelden, General Gordon - zumindest in Gestalt von Charlton Heston, der ihn
im Film verkörpert (Khartoum, 1966). Heston und die Krays korrespondierten später
miteinander.

Insgesamt sagten 28 Kriminelle gegen die Krays aus. Sie alle hatten mit den
Justizbehörden einen Handel gemacht und ein Interesse daran, dass die Zwillinge
nie mehr freikamen. Der Öffentlichkeit wurden zwei Monster in Menschengestalt
präsentiert. Für Motive und Hintergründe war da kein Platz. Niemand machte
mildernde Umstände geltend. Es ging nicht darum, dass Ron Kray schizophren war und
auch nicht darum, dass Reg Kray betrunken war und unter Drogen stand, als er
McVitie tötete. Die Zwillinge hatten ihre Anwälte entsprechend instruiert. Sie
wollten als die legendären Könige der Unterwelt verurteilt werden, als Jesse und
Frank James und nicht als ein krimineller Geisteskranker und sein von ihm
abhängiger Zwilling. Der Richter hätte sie gern gehängt, aber die Todesstrafe war
seit 1964 abgeschafft. Er verurteilte die Kray-Zwillinge (beide 34) zu
lebenslangen Haftstrafen und empfahl, sie mindestens 30 Jahre lang ins Gefängnis
zu stecken. Auch die acht Mitangeklagten erhielten sehr hohe Haftstrafen von 7 bis
20 Jahren. Normalerweise werden Verbrecher schnell vergessen, wenn sie erst hinter
Zuchthausmauern verschwunden sind. Nicht in diesem Fall. Der Prozess war der
Beginn der großen Kray-Show.
Und wenn sie nicht gestorben sind...

Nach dem Urteilsspruch trauten sich viele, über das zu reden, was nicht zu dem
geschönten Bild passte, das Reg und Ron gern von sich zeichneten (tolle Boxer,
Robin Hoods des East End, erfolgreiche Geschäftsleute und Philanthropen). Ihr
Biograph John Pearson konnte deshalb ein ganz anderes Buch schreiben als das, das
sich die Zwillinge vorgestellt hatten. Sie hassten The Profession of Violence.
Dann fingen sie an, Exemplare davon im Gefängnis zu verteilen. Welcher andere
Häftling konnte schon die eigene Biographie verschenken? Später ließen sie von
einer bekannten Fernsehpersönlichkeit ihre Autobiographie schreiben, der weitere
Werke folgten. Als sie starben, hatten sie mehr Bücher veröffentlicht als die
Brontës oder Jane Austen, wie Iain Sinclair es einmal formuliert hat.

David Litvinoff, der die Zwillinge in die Schickeria von Chelsea eingeführt hatte,
half Donald Cammell beim Schreiben des Drehbuchs für Performance. Christopher
Gibbs übernahm das Produktionsdesign und richtete das Haus des Rockstars Turner
(Mick Jagger) ein - im marokkanischen Stil, den Ron Kray auch für seine Wohnung in
Cedra Court gewählt hatte. Zur Vorbereitung auf den Film tauchte Litvinoff mit
James Fox (Chas) einige Wochen ins East End ab; Johnny Shannon bereitete er auf
seine Rolle als schwuler Gangsterboss vor. Kurz vor Drehbeginn, im Herbst 1968,
nahm Francis Wyndham Fox mit ins Gefängnis von Brixton und stellte ihn Ron Kray
vor, der da auf seinen Prozess wartete. Herausgekommen ist ein Film, den man
unbedingt gesehen haben sollte. Mit Get Carter (1971) hat Mike Hodges das zweite
von den Krays inspirierte Meisterwerk des britischen Gangsterfilms gedreht. Eine
kaum bekannte, in England jetzt endlich auf DVD erschienene Perle des Genres ist
Villain (1971) von Michael Tuchner. Richard Burtons shakespeareanische Ron-Kray-
Interpretation ist so neurotisch-unheimlich wie keine andere. Dem Prozess gegen
die Krays verdanken wir die "goldenen Jahre" des britischen Gangsterfilms.

Nur die Verfilmung von The Profession of Violence ließ auf sich warten. Aber Reg
hielt im Gefängnis seine schützende Hand über den Manager der Popgruppe The Who,
der wegen Raubes verurteilt worden war, dann seine Unschuld beweisen konnte und
Reggie ewig dankbar war. Er stellte den Kontakt zu Rock- und Popstars sowie deren
Managern her. Sie alle halfen mit, dass die Krays nicht vergessen wurden. 1979
ließ sich Ron ein zweites Mal für geisteskrank erklären, weil er danach aus dem
Hochsicherheitsgefängnis in das Krankenhaus Broadmoor verlegt wurde. Dort durfte
er so viel Besuch empfangen wie er wollte. Damit begann die lange Prozession der
Produzenten, Regisseure, Autoren und Stars, die zu Ronnie Kray pilgerten, um über
das Filmprojekt zu reden. Roger Daltrey, Leadsänger der Who, war genauso für eine
Hauptrolle im Gespräch wie Robert Duval und Richard Burton, der Ronnie kurz vor
seinem Tod noch im Gefängnis besuchte.

1982 starb Violet Kray. Die Zwillinge organisierten eine pompöse Beerdigung. Es
war ihr erster gemeinsamer Auftritt in der Öffentlichkeit nach 13 Jahren und eine
triumphale Heimkehr. Als sie am 12. August vor der alten Kirche von Chingford
eintrafen (jeweils mit Handschellen an einen besonders großen Beamten gefesselt,
damit sie klein und unbedeutend wirkten), wurden sie von Gangstern, ehemaligen
Nachbarn und Schaulustigen begeistert empfangen. Die Beisetzung war ein
Medienevent. "Die Leute aus dem East End", hieß es später in einem
Zeitungsartikel, "sprechen mit viel Zuneigung von den Kray-Zwillingen. Man
betrachtet sie, wenn nicht gerade als Robin Hoods, so doch bestimmt als zwei
Männer, die Frieden und Sicherheit in den Straßen aufrechterhielten." Vielleicht
stimmte das sogar. Im milden Licht der Erinnerung verklärt sich so manches.

Charlie Kray wurde 1974 entlassen, gründete eine erfolglose Popgruppe und
verdiente dann sein Geld damit, dass er der Bruder der berühmten Kray-Zwillinge
war. Der Name Kray war Gold wert. Der Medienrummel rund um Violets Beerdigung
kurbelte den Verkauf von Merchandising-Produkten an, vom T-Shirt mit dem Konterfei
der Zwillinge bis zum Computerspiel "The Firm". Weil verurteilte Straftäter keinen
Profit aus ihren Verbrechen ziehen dürfen, leitete Charlie das Unternehmen
Krayleigh Enterprises, das außer Fanware auch Türsteher sowie Personen- und
Objektschutz anbot. Eine berühmte Kray-Anekdote ist die mit dem Finanzbeamten, der
zu Ronnie nach Broadmoor kam und eine Steuerforderung in Höhe von 370 000 Pfund
präsentierte. Bezahlt wurde nie, weil Ron offiziell kein Geld hatte. Keiner hat je
behauptet, das Finanzamt habe zuviel verlangt.

Der schwule Ron war ein Mann mit Humor. 1985 gab er bekannt, dass er doch
bisexuell sei und heiratete die 29-jährige Elaine. Für den Exklusivbericht über
die Hochzeit zahlte das Boulevardblatt Sun angeblich 20 000 Pfund; die Photos
kosteten extra. In den folgenden Jahren verkaufte Ron immer neue Geschichten an
die Presse, etwa über seine Anträge, die Ehe endlich vollziehen und Zwillinge
zeugen zu dürfen. Als Elaine von dem Theater genug hatte, verkaufte er die
Geschichte über die Scheidung. Reg, offiziell noch immer heterosexuell, schrieb
romantische Briefe an diverse Damen. Deren Inhalt landete immer irgendwie in der
Zeitung, wo dann spekuliert wurde, wer wohl die Auserwählte sein würde.

Gangster-Apotheose

1989 kaufte der Manager von Queen die Filmrechte an The Profession of Violence.
Martin und Gary Kemp von Spandau Ballet (Lady Dis Lieblingsgruppe) spielen in The
Krays die Zwillinge. Wenn man den von Peter Medak inszenierten Film sieht, sollte
man daran denken, dass er nur mit Ronnies und Reggies Einverständnis gedreht
werden konnte. Das erklärt so manches. Violet ist die Mutter mit dem Herz aus
Gold. Ron ist ein Pate wie Marlon Brando in The Godfather, bei dem sich die Frauen
des East End über den brutalen McVitie beklagen. Reg ist nicht schwul, und Frances
bringt sich um, weil sie jung und von der Situation überfordert ist. Cornell ist
der "Wurm", als den Ron ihn nachträglich beschrieben hat. Etc. Warum aber Philip
Ridley für sein ziemlich abenteuerliches Drehbuch einen Bafta-Award erhielt (der
britische Oscar), bleibt rätselhaft. Vielleicht liegt es am Anfang und am Ende des
Films. Da träumt Violet, dass sie ein Schwan ist und ein Ei legt. Im Ei hört man
Kinderstimmen. Als die Schale aufbricht, bringt sie die Zwillinge zur Welt. Das
soll scheinbar eine Anspielung auf Leda sein, die von Zeus (in Schwanengestalt)
begattet und dann Mutter zweier Halbgötter wird. Reg und Ron Kray als Castor und
Pollux. Ironiesignale sind nicht zu erkennen.

The Krays löste in Großbritannien eine Welle von neuen Gangsterfilmen aus (statt
Lock, Stock, and Two Smoking Barrels von Guy Ritchie sollte man sich besser
Gangster No. 1 oder Sexy Beast anschauen). Ron heiratete Kate, die ihm nach der
Lektüre von The Profession of Violence einen begeisterten Brief geschickt hatte.
Zur Hochzeit in Broadmoor ließ er sie in einem weißen Rolls-Royce bringen. Weil
Lord Snowdon nicht zu bekommen war, zahlte er Lord Lichfield, einem Cousin der
Königin, 2000 Pfund für ein Photo von der Braut. Harrod's lieferte das
Hochzeitsfrühstück. Aber Kate war eine Enttäuschung. Sie äußerte sich respektlos
über Ron und schlief mit einem von Regs Liebhabern, der aus dem Gefängnis
entlassen worden war.

Ron Kray starb am 17. März 1995 an den Folgen eines Herzanfalls. Reg richtete ihm
ein prächtiges Begräbnis aus - später wurde es mit der Beisetzung von Winston
Churchill verglichen. Die Sargträger waren Repräsentanten der kriminellen Bezirke
Londons. In den Medien erfuhr man, dass es sich um eine alte Tradition der
Londoner Unterwelt handelte (eine "Tradition", die Reg gerade erst erfunden
hatte). Am Ende der Trauerfeier in der Kirche St. Matthews wurde eine Platte mit
Rons Erkennungsmelodie aufgelegt: Frank Sinatra sang "I did it my way". Sechs
Rappen zogen den gläsernen Leichenwagen mit Rons Sarg durch Bethnal Green, von der
Kirche zum Chingford Mount Cemetary. Es folgten 26 Luxuslimousinen mit
ausgewählten Trauergästen. Als der Sarg in die Grube gelassen wurde, flog eine der
letzten noch existierenden Spitfires aus der Schlacht um England über den Friedhof
und erwies dem toten Gangster ihre Referenz. Ganz wie bei Churchill. Wie Reg das
angestellt hatte, weiß man bis heute nicht so genau.

1997 heiratete Reg, jetzt 63, die 36-jährige Roberta. Im Gefängnis. Auch nach
Ablauf der vom Richter empfohlenen 30 Jahre wurde er nicht freigelassen. Das
geschah erst, als er unheilbar an Darmkrebs erkrankt war und bereits im Sterben
lag. Er starb am 1. August 2000. Kurz zuvor hatte er der BBC noch ein Interview
gegeben. Roberta hatte drei Jahre lang, unterstützt von
Menschenrechtsorganisationen, für seine Haftentlassung gekämpft. Sie wollte ihren
Mann beerdigen, nicht den Gangster, und war deshalb gegen Villains als Sargträger.
Die Londoner Unterwelt war empört und beklagte den Verlust einer
"jahrhundertealten Tradition". Freddie Foreman, der alte Leichenentsorger der
Krays, boykottierte die Feierlichkeiten. Gesichtet wurde dafür Nipper Read. Ihm
hatte man nach dem Prozess eine große Karriere bei Scotland Yard prophezeit. Aber
der Mann, der die Robin Hoods vom East End zur Strecke gebracht hatte, war bei
seinen Ermittlungen zu vielen wichtigen Leuten auf die Füße getreten, wurde
befördert und in die Provinz abgeschoben. Wohin? Genau: nach Nottingham.

Die Geschichte der Krays ist damit nicht zuende. Sie faszinieren noch immer.
Anders als die meist anonymen Investmentbanker, die Milliarden verzocken, sind sie
Gangster zum Anfassen. Mörder sind sie auch. Aber bei aller Brutalität hatten die
Verbrechen der Krays immer etwas Unwirkliches, weil sie sich an Filmen
orientierten. Das macht sie so gut konsumierbar. Kein Gangsterfilm kommt ohne eine
Anspielung auf die Zwillinge aus. Alljährlich wird die baldige Fortsetzung von The
Krays angekündigt. Und es gibt ein Gerücht, das nicht verstummen will. Kurz vor
seinem Tod, heißt es, habe ein Anhänger Reggies Sperma in eine Londoner Samenbank
gebracht. Die Geschichte kann also weitergehen. Jurassic Park mit Gangstern. Die
Zukunft könnte noch spannend werden.

LINKS

(1) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29545/1.html

Telepolis Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29517/1.html

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