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Die Dosentelefonzentrale

„Papa?“ rief Lutz.


Aber Papa hörte nicht. Er war viel zu sehr in sein
Telefongespräch vertieft.
„Papa?“ rief Lutz noch einmal. Und diesmal wurde er wirklich
quengelig. Mit seinen Fäusten trommelte er gegen die Lehne
des Fahrersitzes. Und der Vater drehte sich wirklich zu ihm
herum, aber nur, um genauso genervt zurückzubrüllen.
„Sag mal, siehst du nicht, dass ich ein wichtiges Telefonat
führe? Da kannst du doch nicht ständig dazwischenrufen!“
„Aber ich will doch nur wissen, was hier los ist“, entgegnete
Lutz.
„Wir stehen im Stau“, antwortete der Vater. „Seit über einer
Stunde schon. Am Anfang ging es wenigstens noch etwas
voran, aber seit einer halben Stunde sind wir nicht einmal mehr
einen einzigen Zentimeter vorangekommen. Hast du davon
noch gar nichts mitbekommen?“
„Nee“, sagte Lutz. „Ich habe geschlafen. Und bevor ich
eingeschlafen bin, bist du gefahren wie der Sausewind. Aber
als ich aufgewacht bin, da haben wir gestanden. Und ich habe
erst gedacht, wir machen eine Pause. Aber dann habe ich
gesehen, dass wir ja immer noch auf der Autobahn sind.“
„Sei froh, dass du geschlafen hast!“ meinte der Vater. „Ich
habe nämlich schon eine ziemliche Krise bekommen, weil es
einfach nicht vorangehen will. Aber jetzt sei still, und lass
mich in Ruhe telefonieren. Es ist nämlich wirklich wichtig.“
Ein paar Minuten hielt Lutz es aus und lehnte sich im Sitz
zurück. Aber schon bald war die Langeweile so groß, dass er
ganz verrückt davon wurde.
Warum musste der Vater ausgerechnet dann telefonieren, wenn
sie im Stau standen? Da hätte er doch mal Zeit gehabt, um ihn
eine schöne Geschichte zu erzählen oder sich sonst mit ihm zu
beschäftigen. Wenn sie in Fahrt waren, brauchte er das ja nicht.
Da hatte Lutz genug damit zu tun, die Landschaft zu
beobachten, die Nummernschilder der vorbeifahrenden Autos
zu erraten, den Menschen, die darin saßen, zuzuwinken, und
all die anderen Spiele zu spielen, die ein Einzelkind spielt,
wenn es allein mit seinem Vater für mehrere Stunden im Auto
sitzt. Na ja, ein wirkliches Einzelkind war er ja nicht, aber er
kam sich manchmal so vor, weil seine einzige Schwester
Marina zwölf Jahre älter war als er. Bald würde sie von
Zuhause ausziehen, aber diesen Sommer war sie noch da und
hatte das Haus gehütet, während er und sein Vater Urlaub in
Frankreich gemacht hatten. Doch nun waren sie auf dem Weg
zurück nach Hause und er würde sie bald wiedersehen.
Lutz hörte genauer hin, was sein Vater sprach. Und es hörte
sich ganz danach an, als würde er sich mit Marina unterhalten.
Das Gespräch schien seinen Vater ziemlich aufzuregen, denn
manchmal fluchte er oder er kratzte sich wild durch die Haare.
Offenbar war zu Hause irgendetwas schief gelaufen, und nun
hatte Marina Handwerker im Haus und war ganz hilflos, weil
nicht alles so klappte, wie es sollte. Sie wusste nicht, wo im
Haus bestimmte Dinge waren, die für die Reparaturarbeiten
dringend notwendig waren. Ständig musste der Vater ihr
Anweisungen geben und er geriet ganz außer Rand und Band,
weil Marina in solchen praktischen Sachen ein bisschen
schwer von Begriff war.
Lutz hätte gerne gefragt, was zuhause passiert war, aber er
wusste, dass er den Vater damit noch wütender machen würde.
Deswegen ließ er lieber sein.
„Ach, wenn ich doch auch so ein Handy hätte“, seufzte er.
„Dann könnte ich jetzt mal bei meinen Freunden anrufen und
fragen, wie es denen so geht.“
Er schaute aus dem Fenster und sah sich das Treiben auf der
Autobahn an. Es war bereits später Nachmittag, aber die Sonne
schien immer noch warm zu ihnen herunter, sodass einige
Leute es in ihren Autos nicht mehr aushielten und auf der
Autobahn herumliefen und sich mit anderen Leuten
unterhielten. Ein paar hatten sich sogar auf der Wiese neben
der Fahrbahn Strandmatten hingelegt, wo sie sich sonnten und
Picknick machten. Er sah auch ein paar Kinder, die in seinem
Alter waren. Wie gerne wäre er zu ihnen gegangen und hätte
mit ihnen gespielt.
„Du, Papa?“ fragte er da. „Kann ich vielleicht auch ein
bisschen rausgehen, wie die anderen Leute?“
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?!“ war die
Antwort.
„Wieso? Die anderen Kinder tun es doch auch.“
„Da sind ja auch Erwachsene dabei, die auf sie aufpassen. Aber
meinst du vielleicht, ich habe Lust darauf, dass du mir mitten
auf der Autobahn verloren gehst? Stell dir mal vor, in ein paar
Minuten löst sich der Stau auf, und dann steh ich hier und weiß
nicht, wo du bist. Nein, nein, du bleibst hier, sonst binde ich
dich mit einem Strick am Sitz fest.“
Lutz seufzte. Er schaute ein bisschen aus dem Fenster, aber es
war so langweilig, wenn immer nur dieselbe Landschaft und
dieselben Autos mit denselben Menschen da waren.
Doch auf einmal entdeckte er im Auto links neben ihnen etwas,
was ihm bisher noch nicht aufgefallen war. Auf der Rückbank
des kleinen blauen Autos saß eine Oma mit einem lustigen und
gutmütigen Gesicht. Vor einer Minute hatte sie noch
geschlafen, doch nun war sie wach und schien sich genauso
über den Stau zu wundern wie er selber. Und als sie dann aus
dem Fenster sah, trafen sich ihre Blicke. Lächelnd zwinkerte
sie ihm zu.
Da lachte Lutz ebenfalls, winkte ihr zu und lachte noch mehr,
als sie ihm zurückwinkte. Er kurbelte das Fenster so weit
herunter, wie es ging.
„Hallo!“ rief er.
„Hallo, Hallo“ kam es von der Oma zurück, aber obwohl sie
nur ein paar Meter entfernt war, konnte er es kaum verstehen.
Zum einen lag es an dem Krach, der überall um sie herum
herrschte, und zum anderen daran, dass die Oma nicht mehr so
laut sprechen konnte.
„Ist dir auch so langweilig?“ fragte Lutz.
Die Oma nickte.
„In meinem Alter… gar nicht schön, so lange… Auto“, hörte
Lutz heraus.
„Ich find‘s auch total langweilig!“ rief er. „Mein Papa hat
nämlich keine Zeit, sich mit mir zu unterhalten! Und Radio hat
er auch nicht an, weil er die ganze Zeit am Telefonieren ist.“
„Wie schade“, antwortete die Oma. „Und schade… ich…
keinen Enkel…, Geschichten erzählen…“
Lutz musste noch einmal fragen, bis er es einigermaßen
verstand. Offenbar fand sie es sehr schade, dass sie keinen
Enkelkind wie ihn im Auto hatte, dem sie ein paar Geschichten
erzählen konnte.
Oh, am liebsten wäre er sofort zu der Oma herübergelaufen
und hätte sich auf dem freien Platz neben ihr gesetzt. Er wusste
von seinen eigenen Omas, wie gut sie Geschichten erzählen
konnten. Wenn sie bei ihm zu Besuch waren, saßen sie abends
manchmal über eine Stunde an seinem Bett und erzählten
Märchen und lustige Geschichten aus ihrer Kindheit. Aber er
wusste, dass sein Vater ihm das nicht erlauben würde. Und zu
ihm konnte die Oma auch nicht herüberkommen.
Doch auf einmal hatte er eine blendende Idee. Er erinnerte sich
an den Campingplatz zurück, wo er und sein Papa für über eine
Woche gezeltet hatten. In der Nähe des Campingplatzes hatte
es einen großen Abenteuerspielplatz mit mehreren Holztürmen
und Holzhütten gegeben. Er und die Jungs und Mädchen, die
er dort kennengelernt hatte, hatten fast jeden Tag dort gespielt.
Sie hatten sich in kleine Gruppen aufgeteilt und jede hatte
einen anderen Turm oder eine andere Hütte in Besitz
genommen. Manchmal hatten sie gegeneinander Krieg geführt,
wie die Cowboys und Indianer. Aber manchmal hatten sie sich
auch vertragen, und miteinander telefoniert. Natürlich nicht
mit echten Telefonen. Nein, sie hatten eine Schnur zwischen
zwei benachbarten Türmen aufgespannt und an jedem Ende
eine Blechbüchse angebracht. Wenn man dann hindurch
sprach, konnte man es am anderen Ende genau verstehen, auch
wenn man nur sehr leise flüsterte, genau wie bei einem echten
Telefon.
Lutz war sehr stolz darauf, dass ausgerechnet er die Idee
gehabt hatte. Und sein Vater war es auch, der die Blechdosen
gespendet hatte, weil sie auf ihrem kleinen Campingkocher
kaum etwas anderes als Konservenfutter warmmachen
konnten. Deswegen nahm auch er alle vier Dosentelefone, die
sie gebaut hatten, mit nach Hause. In seiner Nachbarschaft
wohnten nämlich viele andere Kinder, mit denen er das Spiel
noch einmal ausprobieren wollte.
Lutz drehte sich um und schaute nach hinten, in den
Kofferraum. Die Spielkiste, in der die Telefone zusammen mit
seinem Strandspielzeug lagen, lag sehr weit hinten. Aber wenn
sie im Stau standen, machte es ja nichts aus, wenn er sich
einmal kurz abschnallte und sich nach hinten beugte. Bald
hatte er eins der Telefone unter einem lauten Geschepper
hervorgekramt. Doch sein Vater merkte davon nichts, weil er
so tief in sein Gespräch vertieft war. Er bekam noch nicht
einmal etwas davon mit, als Lutz einmal kurz aus dem Auto
ausstieg, um der Oma eine der Blechdosen zu reichen.
„So!“ flüsterte er ihr ins Ohr. „Dadurch kannst du mir die
Geschichte erzählen, ohne dass du über die ganze Autobahn
brüllen musst.“
Natürlich war die Schnur viel zu lang, aber er hatte ja eine
Schere dabei. Er schnitt ein Stück der Schnur ab, knotete das
Ende neu zusammen und dann endlich konnte die
Märchenstunde losgehen.
Und die Oma konnte wirklich gut erzählen. Wenn man die
Stimme durch eine Blechbüchse hörte, klang die Geschichte
wahrscheinlich sogar noch spannender als abends auf der
Bettkante. Vor allem, als die Oma den Wolf nachmachte,
welcher der Prinzessin eines Tages im Wald begegnete.
„Grrrr!“
Da wackelte die Dose in Lutz‘ Fingern, dass er mitten im
heißesten Sommer eine Gänsehaut bekam.
Das Gespenst war aber fast noch gruseliger.
Als es laut „Huuuiii“ machte, hätte Lutz beinahe die Dose
fallen gelassen und wäre auf den freien Nachbarsitz
herübergerutscht, weil er glaubte, das Gespenst könnte
jederzeit aus der Dose hervorgespukt kommen.
Aber Lutz hatte überhaupt keinen Grund sich zu fürchten.
Ganz im Gegensatz zur Prinzessin in der Geschichte. Eines
Tages war sie so verzweifelt von all den Wölfen, Gespenstern
und bösen Rittern, die sie tagtäglich verfolgten, dass sie sich an
keinem Ort der Welt mehr sicher fühlte. So flüchtete sie auf
den höchsten Turm ihrer Burg hinauf, weil dort wenigstens die
Wölfe nicht hinkamen. Leider wurde sie dort von bösen Raben
bedroht, die wütend auf sie herabgeschossen kamen und an
ihren wunderschönen blonden Haaren zerrten. Voller
Verzweiflung rief die Ärmste nach Prinz Archibald, der sie
schon so oft beschützt hatte. Doch der war nicht da, denn der
böse Ritter, vor dem er sie so oft verteidigt hatte, hatte ihn
gefangengenommen. Und so sah sie am Ende nur noch eine
Möglichkeit, ihrem Schicksal zu entfliehen. Sie musste sich
vom Turm stürzten. Lieber wollte sie selbst in ihren eigenen
Tod springen, als dass sie sich von den Raben, Wölfen oder
Gespenstern um den Verstand bringen ließ.
„Aaaah!“ machte die Prinzessin, als sie in die Tiefe stürzte.
Aber sie war nicht die einzige, die schrie. Mit einem Ruck
wurde Lutz die Dose aus der Hand gerissen, doch das Schreien
erklang weiter. Nur kam es nicht mehr aus der Dose, es kam
von draußen, von der Autobahn. Zunächst war er so
erschrocken, dass er beinahe selber angefangen hätte zu
schreien. Aber er war so gelähmt, dass er keinen Ton
hervorbrachte.
Erst als er die Oma leise sagen hörte, „Oh, … armes
Mädchen… über… gefallen… tut mir Leid“, wagte er es, aus
dem Fenster zu schauen.
Und da sah er, dass auf der Straße, direkt zwischen ihren
beiden Autos eine junge Frau lag, die ungefähr so alt wie
Marina sein mochte.
Neben ihr lag das Dosentelefon, denn auch die Oma schien es
in der Zwischenzeit fallen gelassen zu haben. Offenbar hatte
sie die Schnur nicht gesehen und war darüber gestolpert.
Die Tür vom Beifahrersitz ging auf und die Tochter der Oma
trat heraus. Sie half dem Mädchen wieder auf die Beine, aber
sie meinte, sie wäre nicht verletzt, nur erschrocken habe sie
sich.
„Aber, was bitte schön, habt ihr hier gemacht?“ fragte sie.
„Warum spannt ihr mitten auf der Autobahn solche Fallen
auf?“
„Das ist doch nur wegen meinem Dosentelefon“, erklärte Lutz,
der etwas schuldbewusst dreinschaute. Und dann erzählte er
ihr die ganze Geschichte. Er glaubte, dass sie böse auf ihn
werden würde, aber stattdessen lachte sie nur.
„Das ist ja wirklich eine geniale Idee“, sagte sie. „Auf so etwas
muss man erstmal kommen. Mein Auto steht übrigens nur
wenige Meter weiter vorne. Glaubst du, dass die Schnüre bis
dahin reicht?“
Lutz‘ Augen leuchteten auf. „Klar! Ich habe im Kofferraum
noch ein Telefon mit einer ganz besonders langen Schnur.
Willst du etwa mitmachen?“
„Ich vielleicht nicht. Aber meine Freundin Bianca, die sitzt
schon die ganze Zeit auf der Rückbank und langweilt sich. Sie
hat sich nämlich eben auf einem Rastplatz den Fuß verstaucht.
Und nun kann sie nicht aufstehen und herumrennen wie ich
und meine Schwester Linda. Sie würde sich bestimmt freuen,
wenn sie mal mit jemand anderem sprechen kann. Vielleicht
weiß sie ja auch ein paar gute Geschichten.“
„Au ja“, rief Lutz und kramte sofort das nächste Telefon
hervor. Er befürchtete zwar, dass es ihm sein Vater verbieten
würde, aber der hatte von alldem noch gar nichts
mitbekommen. Aber das war eigentlich immer so, wenn er sich
über etwas ärgerte. Da vergaß er die gesamte Welt um sich
herum.
Es dauerte nicht lange, da war die zweite Schnur aufgespannt,
und Lutz benötigte beide Hände dazu, die beiden
Blechbüchsen festzuhalten.
„Na, ob ich jetzt wohl lieber auflegen sollte“, meinte die Oma.
„Och, nein!“ protestierte Lutz. „Die Geschichte ist doch noch
gar nicht zu Ende.“
„Na, dann erzähle ich es dir schnell“, sagte die Oma. „Also, als
die Prinzessin vom Turm fiel, da kam plötzlich ein Zauberer,
der mit dem Prinzen befreundet war und…“
„Hallo, Lutz!“ ertönte es aus der anderen Leitung. „Ich bin‘s
die Senta. Hörst du mich?“
„Ja“, antwortete Lutz.
„Wie ja?“ fragte die Oma. „Was meinst du damit?“
„Ach ich telefoniere doch gerade auch mit der Senta“, erklärte
er. „Vielleicht solltest du noch ein bisschen warten, bis wir die
Sache geklärt haben.“
„War das gerade die Oma, mit der du gesprochen hast?“ fragte
Senta.
„Ja, sie will mir gerade das Märchen zu Ende erzählen.“
„Ach so, dann sag Bescheid, wenn sie fertig ist, dann gebe ich
nämlich den Hörer weiter an die Bianca. In Ordnung?“
„In Ordnung“, antwortete Lutz.
„Gar nichts ist in Ordnung“, sagte hingegen die Oma. „Alles
kommt in Unordnung, wenn man mit so vielen Leuten
gleichzeitig telefoniert.“
„Och, jetzt sei doch keine Spielverderberin!“ meinte Lutz.
„Jetzt erzähl mir doch die Geschichte zu Ende.“
Und so erzählte ihm die Oma, wie im letzten Moment ein
Zauberer angeritten kam und einen Zauberspruch aufsagte,
dass die Zauberin mitten in der Luft erstarte und nicht weiter
zu Boden fiel. Der Zauberer wollte sich unter dem Turm
aufstellen und sie auffangen, doch wurde er auf einmal von
Gespenstern angegriffen, vor denen er fliehen musste. Oh, was
für ein Pech für die Prinzessin. Der Erstarrungszauber dauerte
nämlich nur fünf Minuten an, dann würde sie weiter fallen und
niemand war da, der sie retten konnte. Doch dann geschah
doch noch ein Wunder. Prinz Archibald hatte sich in der
Zwischenzeit aus der Gewalt des bösen Ritters befreit und war
sogleich zur Burg der Prinzessin geritten. Als er noch fünfzig
Meter entfernt war, verlor der Zauber seine Wirkung. Doch er
ließ sein Pferd so schnell losgaloppieren, dass er es in der
letzten Sekunde doch noch schaffte sie aufzufangen. Danach
nahm er die Prinzessin mit in sein eigenes Schloss, wo sie
sicher vor den bösen Mächten war, sie heirateten und wenn sie
nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
„Das war wirklich eine dolle Geschichte!“ sagte Lutz. „Kannst
du auch so gut erzählen, Senta?“
„Nein, nein“, kam es als Antwort. Dazwischen war immer ein
leises Kichern zu hören. „Ich gib den Hörer jetzt mal an die
Bianca, alles klar?“
„Klaro!“
„Hmhm“, räusperte sich fünf Sekunden später eine Stimme.
„Ja, bitte?“
„Tag, Bianca!“ rief Lutz. „Na, wie geht‘s so? Tut dein Fuß
noch sehr weh?.“
„Äh, mit wem spreche ich da überhaupt?“ fragte die Stimme
am anderen Ende der Leitung.
„Ich bin der Lutz“, antwortete er. „Wenn du ein bisschen
schräg nach hinten guckst, kannst du mich vielleicht sogar
sehen. Oder zumindest meinen Vater. Er fährt einen blauen
Audi.“
„Ja, ich glaube, euch habe ich eben schon ein paar Mal
gesehen, weil wir uns, als noch kein Stau war, mehrmals
gegenseitig überholt haben. Aber…“
„Sag mal kennst du die…“, rief Lutz dazwischen und dann
sprach er wieder in die andere Blechbüchse hinein.
„Du, Oma, wie heißt du eigentlich?“
„Ich heiße Marie“, antwortete die alte Frau.
„Kennst du die Marie auch? Die steht nämlich drei Autos
hinter euch. Ich glaube, sie fahren einen grauen Opel. Soll ich
sie mal von dir grüßen? Ich kann ja jetzt nicht nur die ganze
Zeit nur mit dir reden. Das wäre ja unfair der Marie
gegenüber.“
„Wenn du unbedingt willst“, meinte Bianca. „Aber sag mal,
Lutz, wie alt bist du eigentlich?“
„Ich bin acht, aber ich werde bald neun. Nächstes Jahr komme
ich sogar schon in die dritte Klasse.“
Da fing das Mädchen schallend an zu lachen.
„Was ist daran denn so komisch?“ fragte Lutz etwas beleidigt.
„Wie alt bist du denn?“
„Neunzehn.“
„Ha! Genauso alt wie meine Schwester Marina. Die sitzt aber
nicht bei uns im Auto. Hoffentlich bist du nicht genauso zickig
wie sie.“
Da musste das Mädchen wieder anfangen zu lachen, aber sie
kam bald wieder zur Beherrschung.
„Weißt du, was so komisch ist?“ fragte sie.
Für Lutz wurde es immer komplizierter, die beiden Dosen
immer im rechten Moment von Mund zu Ohr zu wechseln.
Denn gerade hatte er der Oma Marie Biancas Gruß übermittelt.
„Waaaas?“ fragte er, als er den Mund wieder an Biancas
Strippe hatte. Im nächsten Moment hatte er die Dose wieder an
sein Ohr gehalten.
„Die Senta hat gerade gesagt, da wäre ein junger Mann, der
mich unbedingt sprechen wollte“, fuhr Bianca fort. „Aber ich
habe ja nicht ahnen können, dass du so jung bist. Die ganze
Ferienzeit hat sie schon versucht, mich zu verkuppeln.“
Sofort führte Lutz wieder Maries Dose an den Mund.
„Du, Marie?“ fragte er leise. „Weißt du, was verkuppeln
bedeutet? Das hat das Mädchen nämlich gerade gesagt und
wenn ich sie frage, was es bedeutet, denkt sie bestimmt, dass
ich blöde bin.“
Die alte Frau lachte einmal kurz. Dann sagte sie: „Wenn man
jemanden verkuppelt, dann bedeutet das, dass man alles dafür
tut, damit sich ein Junge und ein Mädchen ineinander
verlieben.“
„Und warum macht man so etwas?“ fragte Lutz.
„Glaubst du nicht, dass du noch ein bisschen zu jung für so
etwas bist?“ fragte die Oma.
Aber weil Lutz es unbedingt wissen wollte, erklärte sie es ihm
trotzdem.
„Wenn man selber einen Freund hat und mit dem sehr
glücklich ist, dann tut es einem vielleicht Leid, wenn die beste
Freundin keinen hat. Man glaubt vielleicht, sie ist traurig,
wenn sie immer so alleine ist und dann macht man eben alles
dafür, dass sie auch einen Freund bekommt.“
Mit dieser Erklärung war Lutz zufrieden und er wandte sich
gleich wieder Bianca zu, weil ihn die Sache sehr interessierte.
„Du, Bianca, bist du eigentlich sehr traurig darüber, dass du
keinen Freund hast?“
Eine Weile herrschte Schweigen und Lutz glaubte schon, es
läge daran, dass er zu lange beim Wechseln zwischen Mund
und Ohr gebraucht hatte. Deswegen fragte er gleich noch mal.
„Sag mal, findest du nicht, dass du ein bisschen vorlaut bist für
dein Alter?“ fragte Bianca.
Aber Lutz war sogar noch viel vorlauter.
„Ich glaube, du bist traurig“, sagte er. „Denn sonst hättest du ja
einfach mit Nein antworten können. Stimmt‘s?“
„Na ja“, gab Bianca schließlich zu. „Ein bisschen vielleicht
schon. Aber es hat doch keinen Sinn, wenn die Senta mir
ständig Typen anquatschen will, die überhaupt nicht zu mir
passen.“
„Ja, das stimmt“, sagte Lutz. „Und ich passe wohl auch nicht
zu dir. Denn die Marie sagt, ich bin für so etwas noch viel zu
jung.“
Bianca lachte.
„Ja, das kann man wohl sagen.“
„Aber hier auf der Autobahn, da gibt es doch so viele
Menschen. Und jetzt, wo sie alle stehen, kannst du doch
einfach mal herumgehen und gucken, ob es jemanden gibt, der
dir gefällt.“
„Aber ich kann doch nicht laufen“, antwortete Bianca. „Mein
Fuß.“
„Ach ja, stimmt“, sagte Lutz. „Dann weiß ich leider auch nicht,
wie ich dir weiterhelfen kann.“
„Na ja…“, meinte Bianca. „Du telefonierst doch gleichzeitig
auch mit dieser Marie, stimmt‘s? Aber wenn du noch ein
drittes Dosentelefon hast, vielleicht kannst du dann ja noch
eine dritte Leitung eröffnen. Vielleicht gibt es hier ja irgend
einen jungen Mann, der nicht ganz so jung bist wie du.“
„Na klar, habe ich noch ein drittes Telefon“, rief Lutz. „Zur
Not auch noch ein viertes. Aber ich bin mir nicht ganz sicher,
ob ich einen Freund für dich finde. Eins der Telefone hat zwar
eine Schnur, die fast fünfzig Meter lang ist. Aber ich darf ja
nicht aussteigen und mich umschauen. Aber ich gebe trotzdem
mein Bestes. Einen Moment mal, ja.“
Lutz reckte seinen Kopf so weit aus dem Fenster, dass ihm
Marie an den Haaren hätte ziehen können. Er schaute sich die
Leute in den Autos hinter ihr an. Aber da war keiner dabei, der
für Bianca in Frage gekommen wäre. Zum Glück aber standen
sie auf dem Mittelstreifen. Also ließ er die Dosen los und
rutschte auf die andere Seite herüber. Und siehe da! Er hatte
Glück. Direkt im Auto neben ihnen saß ein einziger junger
Mann, der kaum älter als fünfundzwanzig Jahre sein mochte.
Eifrig kurbelte Lutz das Fenster herunter und schrie zu ihm
herüber.
„He, du da! Hast du eigentlich eine Freundin?“
Der Mann hatte eine Sonnenbrille auf und hatte sich vor lauter
Langeweile mit dem Kopf etwas zurückgelehnt. Aber als er
Lutz‘ Stimme hörte fuhr er hoch, als hätte bei ihm der Blitz
eingeschlagen.
„Wie bitte?“ fragte er.
„Ob du eine Freundin hast, will ich wissen!“ rief Lutz noch
einmal.
Er klappte seine Sonnenbrille herunter und schaute ihn mit
einem durchdringenden Blick an. Er schien ein recht cooler
Typ zu sein und war es offenbar nicht gewöhnt, dass ein
achtjähriger Junge ihm so direkte Fragen stellte. Aber Lutz war
so obenauf, dass er sich von so etwas nicht beeindrucken ließ.
„Kannst du nicht antworten, oder was? Hast du nun eine
Freundin, oder nicht? Du brauchst nur Ja oder Nein sagen, und
alles ist in Ordnung!“
„Ich wüsste nicht, was dich kleinen Knirps das angeht“,
antwortete er. Dann aber musste er grinsen.
„Aber nun mal raus mit der Sprache. Warum interessierst du
dich dafür? Habt ihr vielleicht ein nettes Mädel im
Kofferraum, das ihr gerne loswerden wollt?“
„Im Kofferraum nicht. Aber ich habe gerade ein Mädchen am
Telefon, die auch keinen Freund hat. Und ich dachte vielleicht,
dass ich euch da mal verkuppeln könnte.“
Langsam fing der junge Mann an, die Situation wirklich lustig
zu finden.
„Was für ein Mädchen soll das sein?“ fragte er. „Deine beste
Freundin aus dem Kindergarten?“
„So ein Quatsch!“ antwortete Lutz wichtigtuerisch. „Das ist
schon eine ganz Große. So groß, dass sie schon selber Auto
fahren kann. Nur im Moment geht‘s nicht, weil sie sich auf
dem Rastplatz den Fuß verknackst hat.“
„Deine Schwester?“ fragte der junge Mann.
„Nee, meine Schwester telefoniert doch die ganze Zeit mit
meinem Vater. Die ist nämlich so blöd, dass sie den
Handwerkern nicht richtig sagen kann, wo die Rohre in
unserem Haus verlaufen, die sie reparieren sollen. Das
Mädchen, das ich meine, steht hier auch auf der Autobahn. Ihre
Freundin habe ich eben getroffen und die hat das Gespräch
vermittelt, weil sie uns beide verkuppeln wollte. Aber die
andere hat gemeint, dass ich noch zu jung für sie bin.“
„Und wie sieht die andere aus?“ fragte der junge Mann. „Ist sie
hübsch? Kann ich sie von hier aus vielleicht sehen?“
Er wandte den Kopf von Lutz ab und streckte seinen langen
Hals nach vorn. Währenddessen sprang Lutz wieder auf den
anderen Sitz zurück, nahm die Blechbüchse, machte die
Leitung stramm und rief: „Du, Bianca, bist du eigentlich
hübsch?“
Bianca hatte es nicht geschafft, rechtzeitig die Dose ans Ohr zu
halten, und er musste die Frage noch einmal wiederholen.
„Ob ich hübsch bin?“ fragte sie kichernd. „Na, das lass ich mal
lieber jemand anderes beurteilen, ich will ja nicht eitel und
arrogant klingen. Aber selber schlecht machen will ich mich
dann auch wieder nicht.“
Eine Weile wackelte die Leitung etwas, dann aber hörte Nils
zum ersten Mal eine männliche Stimme: „Die Bianca ist die
schärfste Braut, die du die nächsten zehn Kilometer auf der
Autobahn finden kannst.“
Danach gab es einen neuen Wackelkontakt und die Schnur
erschlaffte. Vielleicht war es Sentas Freund gewesen, der das
Auto steuerte. Und nun war sie so wütend, dass sie ihm die
Dose aus der Hand gerissen hatte. Lutz aber sprang sofort
wieder auf die rechte Seite herüber, um den jungen Mann die
Botschaft Wort für Wort zu übermitteln. Der kam aus dem
Staunen gar nicht wieder heraus.
„Du kleiner Drei-Käse-Hoch willst mir also erzählen, dass
ausgerechnet du die schärfste Braut der ganzen Autobahn an
der Strippe hast?“
Lutz nickte stolz, dann aber fing er an zu kichern.
„Aber nicht nur die eine. Ich telefoniere nämlich gerade mit
zweien gleichzeitig.“
Ohne die Reaktion des jungen Mannes abzuwarten, griff er
wieder zur Dose, diesmal zu Maries.
„Marie?“ Es dauerte eine Weile, bis die alte Frau merkte, dass
ihr Gespräch weiterging. „Du Marie, hast du eigentlich einen
Freund oder einen Mann?“
„Nein“, war die Antwort. „Einen Mann habe ich leider schon
lange nicht mehr. Mein Knut ist leider vor dreißig Jahren
gestorben.“
Oh, wie traurig für sie. Aber was für ein Glück für ihn. Denn
nun konnte er den jungen Mann ein wenig veräppeln und ihn
einfach mit Marie verbinden, anstatt mit Bianca.
„Also, willst du jetzt, dass ich euch verbinde?“ rief er ihm zu.
„Dann musst du nämlich auch richtig mitmachen. Von diesem
vielen Gebrüll wird man ja ganz heiser.“
Noch ehe der junge Mann so genau mitbekam, was er
eigentlich gemeint hatte, hatte Lutz auch schon die Tür
aufgerissen, war zu ihm herübergeeilt und hatte ihm eine Dose
in die Hand gedrückt.“
„Was ist das denn?“ fragte er. „So etwas habe ich ja schon seit
fast zwanzig Jahren nicht mehr gemacht. Aber bei mir hat das
niemals funktioniert. Bist du dir sicher, dass du mich dadurch
wirklich verstehen kannst?“
„Total sicher. Wir können ja mal einen Test machen.“
„Hallo, wie heißt du eigentlich?“ rief er ein paar Sekunden in
die Dose hinein.
„Tatsächlich. Exzellent, du musst ein wahrer Meister auf
diesem Gebiet sein“, kam es ein paar Sekunden später zurück.
„Aber vielleicht liegt es daran, dass du Blechdosen genommen
hast und ich damals bloß Joghurtbecher aus Plastik. Ich heiße
übrigens David.“
„So und jetzt stellst du die Fragen in die Dose und ich
übermittle sie dann den beiden Mädchen“, sagte Lutz. „Aber
warte noch kurz ab, damit ich den anderen Bescheid sagen
kann.“
Marie musste lachen, als sie davon hörte, dass Lutz sie
verkuppeln wollte. Aber sie wollte ihm den Spaß nicht
verderben, und machte mit.
Als Bianca erfuhr, dass sie eine Konkurrentin bekommen hatte,
schlug sie vor, eine Art Quiz zu veranstalten. David sollte
ihnen Fragen stellen und sich dann anhand der Antworten für
eine von beiden entscheiden. Der Vorschlag wurde von Lutz
sofort angenommen.
„Aber pass auf, dass er nicht so direkte Fragen stellt“, rief sie
ihm noch zu, bevor er wieder von der Dose weg war. „Nicht
nach dem Namen, dem Alter, oder woher wir kommen, das
wäre zu langweilig. Er soll lieber so Fragen nach unserem
Lieblingslied und unserem Lieblingsessen oder so fragen, alles
klar?“
„Alles klar“, stimmte Lutz zu.
„Na, dann wollen wir mal losgehen“, meinte David, nachdem
er die Spielregeln erklärt bekommen hatte. „Einen Moment
noch, ich denke mir gerade eine Frage aus. Aber du sagst sie
auch genau so weiter, ja! Und wehe du erzählst denen
irgendeinen Mist über mich.“
„Wieso sollte ich denn Mist erzählen?“ erwiderte Lutz ein
bisschen beleidigt.
„Keine Ahnung“, er musste wieder lachen. „Mein Gott, das ist
wirklich eine der verrücktesten Sachen, die ich jemals gemacht
habe. Aber wenigstens hast du mich vor der Langeweile
gerettet. Du bist wirklich ein lustiger Typ.“
„Nun, schwafel‘ doch nicht solange rum, sondern stell endlich
deine Frage!“ rief Lutz. „Schließlich müssen wir fertig sein,
bevor sich der Stau aufgelöst hat.“
„Also gut. Ich darf also nicht fragen, wo die beiden Süßen
wohnen, ja? Na gut, dann frage ich einfach mal, wohin sie
fahren. Und wenn sie nach Hause fahren, dann eben, wo sie als
Letztes gewesen sind.“
„Wo ich jetzt gerade gewesen bin, sage ich nicht“, war Biancas
Antwort. „Das ist mir schon wieder zu direkt. Ändern wir die
Frage also ein bisschen ab. Ich sage ihm, wo ich letztes Jahr
Urlaub gemacht habe, und das war an der italienischen Riviera,
um genauer zu sein, in dem kleinen Städtchen Portovenere.“
Marie dagegen hatte kein Problem damit, ihm zu sagen, woher
sie kam. Ihre Tochter und deren Ehemann holten sie gerade
von einem Kuraufenthalt in Bad Tölz ab.
„Die Bia…, ach verdammt!“ fluchte Lutz und biss sich wütend
auf die Zunge, als er die Antworten übermittelte. „Die
Kandidatin eins war in Portovenere in Italien, aber das war
letztes Jahr. Woher sie jetzt kommt will sie nämlich nicht
sagen. Und Kandidatin zwei kommt aus Bad Tötz, ach nein,
Bad Tölz.“
Doch dafür schien sich David gar nicht mehr zu interessieren.
Lutz sah, wie er plötzlich sehr nachdenklich zu Boden schaute,
aber er konnte nicht verstehen, was er dabei vor sich hin
murmelte.
„Sag mal, wie war ihr Name doch noch gleich?“
„Das darf ich doch nicht sagen!“ entgegnete Lutz. „Das ist
gegen die Regeln.“
„Ach ja richtig, du hast natürlich vollkommen Recht. Deshalb
ist es wohl nur gut, wenn ich gleich mit der nächsten Frage
weitermache. Frag die Kandidatin eins doch mal, welches ihr
liebstes Getränk ist… und Moment, warte noch einmal. Frag
sie vor allem, welches Getränk sie am liebsten an einem richtig
schönen Sommerabend trinkt.“
„Aber ich kann doch nicht nur Kandidatin eins fragen“,
beschwerte sich Lutz. „Das wäre doch unfair.“
„Ja, von mir aus, frag alle beide“, sagte David. „Aber er biss
sich so seltsam auf den Fingernägeln herum, als ob er nicht
mehr ganz richtig bei Sache war.
„Sag mal, hast du etwa geschummelt?“ fragte Lutz. „Kannst du
von deinem Fenster aus etwa sehen, mit wem ich mich
unterhalte?“
„Nein, ich kann nichts sehen!“ war die etwas gereizte Antwort.
„Aber es ist doch wohl nicht schwer zu verstehen, dass ich eine
Mädchen das Urlaub im Süden macht, irgendwie interessanter
finde als eines, das ihre Zeit in Bad Tölz verschwendet.“
Lutz wusste nicht einmal, wo Bad Tölz überhaupt liegt. Aber
er wollte keine weitere Zeit mehr verschwenden und ging
deshalb schnell zur Weiterleitung der Frage über.
„Kandidatin eins, ach nein, Kandidatin zwei trinkt am liebsten
Eierlikör und am Abend im Sommer meistens Bitter Lemon“,
sagte er. „Und Kandidatin zwei sagt, sie mag am liebsten
irgend so ein komisches Teekiller-Getränk. Teekiller Sanreis,
oder so.“
„Tequila Sunrise“, murmelte David und lachte. Aber nicht sehr
lange. Langsam fing er an wirklich komisch zu werden.
„Also, ich glaube fast, dass ich mich bereits jetzt entschieden
habe“, sagte er ein paar Minuten später. „Aber eine letzte Frage
habe ich dann doch noch. Vielleicht auch noch zwei, mal
sehen, wie die Antwort ist. Also, ist es ihr schon einmal
passiert, dass sie den Mann ihres Lebens getroffen und der
dann nach wenigen Tagen ganz plötzlich verschwunden war?“
Lutz musste sich die Frage zweimal sagen lassen. Erstens weil
er sie sehr komisch fand, und zweitens, weil die Stimme des
Mannes ziemlich aufgeregt zitterte. Als er sie als erstes Marie
übermittelte, war die Antwort nichts weiter als ein schlichtes
Nein. Aber bei Bianca schien ebenfalls etwas Seltsames vor
sich zu gehen.
„Diese Frage möchte ich nicht…“, war das erste, was sie sagte,
aber dann überlegte sie es sich doch noch anders. „Ja“, sagte
sie. „Und das merkwürdigste ist, es ist genau damals vor einem
Jahr, in diesem Ort Portovenere passiert. Wir saßen draußen
vor einer Taverne, direkt in der Nähe des Strandes. Er hatte mir
gerade einen Tequila Sunrise ausgegeben, weil ich den so
gerne trank. Und ich bin noch einmal kurz auf die Toilette
gegangen. Aber als ich wiedergekommen war, war er
verschwunden.“
Bianca hörte sich beinahe ein bisschen traurig an, als sie das
erzählte und Lutz wollte sie schon fragen, ob sie weinen
würde, als sie meinte: „Mein Gott, ich muss verrückt sein, dass
ich das einem achtjährigen Jungen, den ich nicht kenne, mitten
auf der Autobahn erzähle. Aber es ist alles so merkwürdig. Bei
den ersten beiden Fragen habe ich mir noch nichts dabei
gedacht, weil sie nicht sonderlich aufregend waren. Aber in
Kombination mit der dritten…“
„Ich übermittle das jetzt mal weiter“, unterbrach Lutz sie
schließlich.
„Neeein!“ kreischte Bianca noch. „Tu das bloß nicht! Erzähl
bloß nicht alles so weiter, wie ich es dir gesagt habe!“
Aber Lutz hatte die Blechdose längst beiseite gelegt.
„Kandidatin zwei nein, Kandidatin eins ja“, übermittelte Lutz.
„Und es hat auch mit diesem Portovenere und diesem
Teekiller-Zeugs zu tun, hat sie gesagt.“
„Das gibt‘s nicht, das gibt‘s einfach nicht“, sagte David
daraufhin immer wieder.
„Was gibt‘s nicht?“ wollte Lutz wissen. Und er musste zu ihm
herüberbrüllen, weil er gar nicht daran dachte, sich die
Blechdose ans Ohr zu halten.
„Junge, wenn das gerade stimmt, was du gesagt hast, dann
machst du mich zum glücklichsten Menschen dieser Welt. Und
das bedeutet, dass ich diese Reise doch nicht ganz so umsonst
war, wie ich bisher gedacht hatte.“
„Wieso?“ fragte Lutz. „Wo warst du denn im Urlaub?“
„Ob du‘s jetzt glaubst oder nicht, aber ich war ebenfalls in
Portovenere. Diesen Sommer genau wie letzten Sommer. Aber
diesmal bin ich dorthin gefahren, weil ich etwas verloren hatte,
was ich wiederfinden wollte, verstehst du?“
Nein. Lutz war wohl noch etwas zu klein, um diese Situation
wirklich zu begreifen. Und deshalb wartete David auch gar
nicht erst auf die Antwort ab.
„Tu mir noch einen letzten Gefallen. Frag Bianca, ob es einen
bestimmten Grund gehabt hat, warum sie ausgerechnet dort
Urlaub gemacht hat. Frag sie doch, ob es vielleicht daran lag,
dass eine alte italienische Austauschschülerin gerade in diesem
Ort ihre Hochzeit gefeiert hat.“
„Hey!“ brüllte Lutz. „Du hast ja doch geschummelt! Ich habe
dir doch gar nicht gesagt, dass sie Bianca heißt.“
„Also ist sie es!“ rief David. Und dann gab es nichts mehr, was
ihn noch auf seinem Sitz halten konnte. Mit einem Ruck ging
die Tür auf, er sprang hinterher und ließ sein Auto ganz allein
auf der Fahrbahn zurück. In der Eile vergaß er sogar, die Tür
wieder zu schließen. Aber vielleicht war das auch gar nicht
nötig, denn es konnte ja niemand mit dem Auto wegfahren.
Und wenn jemand etwas klauen wollte, gab es zig Augen, die
ihn dabei erwischten.
Wie ein geölter Blitz rannte er vor Lutz‘ Vaters Auto her, folgte
der Schnur und blieb schließlich neben dem Auto von Senta
und Bianca stehen.
Irgendetwas aufregendes geschieht hier gerade, dachte Lutz,
und überlegte sich schon, ob er einfach aussteigen und
hinterher rennen sollte. Aber er blieb sitzen, als er merkte, wie
eine der Dosen über seinem Schoss hin und her zappelte. Es
war Marie die ihn sprechen wollte.
„Na, damit bin ich jetzt wohl aus dem Rennen“, sagte sie, aber
sie hörte sich eher belustigt als traurig an. „Das ist ja wirklich
ein hübscher Junge, mit dem du mich da verkuppeln wolltest.
Früher hätte ich ihn gern genommen, aber heute nicht. Dazu ist
er viel zu schade, als sich mit einer alten Schachtel wie mir
abzugeben. Aber wenn sich da gerade zwei gesucht und nur
durch dich gefunden haben, dann hast du ja eine richtige kleine
Heldentat vollbracht.“
„Eher wiedergefunden“, korrigierte sie Lutz. „Ich glaube
nämlich, die kennen sich schon.“
„Na so was“, sagte die Oma. „Da stehen sie über eine Stunde
lang kaum mehr als zehn Meter voneinander entfernt und
merken es noch nicht einmal.“
„Du, ob ich mal kurz zu ihnen hinlaufe?“ fragte Lutz, als er
sah, wie Bianca halb aus ihrem Auto herauskam und David
umarmte.
„Da musst du aber erst deinen Papa fragen, ob er dir das
erlaubt“, meinte Marie.
Lutz schaute seinem Vater über die Schultern herüber. Er
telefonierte immer noch, aber vor lauter Aufregung hatte er
davon genauso wenig mitbekommen, wie sein Vater von seinen
Gesprächen.
Doch noch ehe er dazu kam, ihn zu fragen, wackelte plötzlich
die andere Leitung.
„Wir wollen die noch einem einen schönen Dank sagen“, hörte
er Biancas und Davids Stimme durch die Dose erklingen.
„Ohne dich hätten wir uns wohl niemals wiedergefunden.
Doch nun musste du schnell die Dosen einräumen, denn wir
haben gerade gehört, dass sich in ein paar hundert Metern
Entfernung der Stau langsam auflöst.“
„Och, wie schade“, jammerte Lutz. „Da haben wir uns gerade
erst kennen gelernt, und nun fahren wir alle wieder
auseinander.“
Dann wandte er sich schnell Marie zu.
„Du bist wirklich die beste Märchenerzählerin der Welt“, sagte
er. „Aber leider musst du mir jetzt die Dose zurückgeben. Der
Stau ist nämlich gleich vorbei.“
„Das ist wirklich das erste Mal, dass ich es beinahe ein
bisschen traurig bin, dass ein Stau zu Ende geht“, sagte Marie.
Sie wollte gerade die Dose fallen lassen, als sie plötzlich
zögerte.
„Warte noch einmal“, sagte sie schnell und am Ende gab sie
ihm die Dose zusammen mit einem Zettel zurück.
„Mein Schwiegersohn hat mir schnell meine Telefonnummer
daraufgeschrieben“, sagte sie ihm. „Ruf mich doch einmal an,
wenn du wieder eine spannende Geschichte hören willst. Ich
langweile mich so, weil ich nämlich keinen Mann und auch
keine Enkelkinder habe.“
„Das mache ich ganz bestimmt“, sagte Lutz und nahm die
Dose an.
„Und richte schöne Grüße an das junge Paar aus, falls sie
schon ein Paar sind“, sagte sie noch. Aber das konnte sie auch
gerade selber tun, denn nun sahen sie, wie Bianca aus dem
Auto ausstieg, und auf David gestützt zwischen den
Autoreihen entlang humpelte.
David musste ein wenig lachen, als er sah, welches die andere
einsame Dame war, die er zur Auswahl gehabt hätte. Aber
umso zufriedener war er mit seiner eigenen Entscheidung. Er
nickte der Dame einmal freundlich zu, dann ging er zu Lutz,
um ihm die Dose zurückzugeben und sich bei ihm zu
bedanken.
„So ein Mist, dass der Stau gleich vorübergeht“, sagte er. „Ich
wünschte, wir hätten noch die Zeit, dass wir dir die ganze
Geschichte erzählen könnte, aber wie ich an eurem
Nummernschild feststelle, wohnen wir noch nicht einmal in
der Nähe.“
„Und was ist jetzt mit der Bianca?“ fragte er. „Wieso ist sie
ausgestiegen?“
„Sie kommt gleich mit mir mit. Sie hat noch eine Woche
Urlaub, und weil wir uns ein Jahr lang nicht gesehen haben,
wollen wir jetzt keine Zeit…“
„So ein Mist! Ich habe doch noch den Koffer im Auto“, fiel es
Bianca plötzlich ein.
„Natürlich!“ rief David und haute sich die Hand gegen die
Stirn. Dann aber eilte er los, um ihn zu holen. Und es war
wirklich höchste Eisenbahn. Gerade als er den Kofferraum
zugeworfen hatte, fuhr plötzlich das Auto vor Lutz‘ Vaters
Augen an.
„Wie wunderbar!“ sagte dieser und rieb sich die Hände,
nachdem er das Handy zur Seit gelegt hatte. „Gerade jetzt, wo
ich höre, dass die Sache mit den Handwerkern doch noch ein
gutes Ende genommen hat, geht es auch hier voran.“
Er drehte sich zu seinem Sohn um und erschrak, als er sah,
dass eine junge Dame den Kopf durch das Fenster gesteckt
hatte.
„Was tun Sie da, mein Fräulein?“ fragte er etwas erbost.
„Ich stehe hier und unterhalte mich mit Ihrem Sohn“,
antwortete sie etwas erschrocken.
„Da stehen Sie aber leicht ungünstig, mein Fräulein“, war
seine Antwort. „Wäre ich nämlich losgefahren, ohne mich nach
Ihnen umzudrehen, dann wären sie jetzt einen Kopf kürzer.“
„Ist ja gut“, sagte Bianca, als hinter ihnen gerade ein lautes
Hupkonzert losging.
Auf der linken Fahrbahn war das Auto von Marie schon längst
um mindestens zwanzig Meter an ihnen vorbeigefahren, aber
in der Mitte waren sie es, und rechts Davids leeres Auto, die
den Weg versperrten.
„Ich fasse es nicht, noch so ein Verrückter!“ schimpfte Lutz‘
Vater, als er sah, wie David mit dem Koffer in der Hand vor
seiner Motorhaube entlang flitzte. Und als er dann sah, wie er
das junge Mädchen an der anderen Hand nahm, murmelte er
nur noch: „Ja, da haben sich wohl die Richtigen gefunden.
Jetzt aber schnell aus dem Weg, bevor ich euch über den
Haufen fahre!“
Als er dann aber endlich aufs Gaspedal treten durfte, war es
sein Sohn der ihn daran hinderte.
„Nein!“ schrie er. „Nein, nein, noch nicht! Da hängst doch
noch eines der Dosentelefone halb auf der Straße!“
„Ja, Menschenskind warum zum Teufel hängst du denn deine
komischen Telefone auf die Straße?“ schimpfte der Vater.
„Los, rein damit, aber schnell!“
„Oh, kannst du nicht noch ein bisschen warten“, bettelte Lutz.
„Wenn du zur gleichen Zeit wie das Nachbarauto startest und
auch genauso schnell fährst, dann können wir…“
„Rein damit, aber flott!“ brüllte der Vater und Lutz wusste,
dass er nun keinen Widerspruch mehr wagen durfte. Schnell
zog er die Schnur mit den Dosen wieder in den Wagen.
Natürlich kamen sie viel früher in Fahrt als das Auto von
David. Da der Vater versuchte, die verlorengegangene Zeit
schnellstmöglich wieder einzuholen, verlor Lutz bald alle
Hoffnung, dass er David und Bianca jemals wiedersehen sehen
würde. Natürlich schaute er immer wieder hoffnungsvoll zur
Seite, aber jedes Mal wurde seine Hoffnung enttäuscht.
Doch am Abend, als sie nur noch etwa hundert Kilometer von
zuhause entfernt waren, geschah dann doch noch ein Wunder.
Als sie im Restaurant einer Autobahnraststätte saßen und zum
Abendbrot Schnitzel mit Pommes aßen, wer kam da plötzlich
zur Tür herein?
Natürlich, David und Bianca. Da an ihrem Tisch auch noch
zufälligerweise zwei Stühle frei waren, setzten sie sich auch
gleich zu ihnen. Und so erfuhr doch noch die spannende,
lustige, aber auch etwas traurige Geschichte, wie sich kennen
gelernt und aus den Augen verloren hatten, weil David damals
plötzlich die Nachricht empfangen hat, dass seine Mutter einen
schlimmen Unfall gehabt hatte. Er war ohne einen Brief zu
hinterlassen abgereist. Und da sie auch ihre Telefonnummern
und Adressen nicht getauscht hatten, hatten sie nie wieder
etwas voneinander gehört. So war David in diesem Jahr zurück
in den italienischen Ferienort gefahren, um nach Biancas
ehemaliger Austauschschülerin zu suchen. Er glaube, mit ihrer
Hilfe wieder an den alten Kontakt anknüpfen zu können, doch
da er ihren Namen nicht kannte, und nur wusste, dass ihre
Familie aus dieser Region stammte, hatte er bei seiner Suche
keinen Erfolg. Auch Bianca hatte in der Zwischenzeit versucht,
ihn übers Internet oder übers Radio wiederzufinden, aber sie
war ebenso erfolglos gewesen wie er selber.
Einzig und allein Lutz hatten sie es zu verdanken, dass es mit
ihnen vielleicht doch noch etwas werden konnte. Zum Dank
dafür kauften sie ihm im Geschäft nebenan einen großen
Teddybär. Sie tauschten auch ihre Telefonnummern und
Adressen aus und versprachen ihm, mal wieder etwas von sich
hören zu lassen. Denn natürlich wollte er wissen, wie es
weiterging mit ihnen, wo er sie doch so erfolgreich
miteinander verkuppelt hatte. Und da sollte Marina, seine
dumme Schwester noch einmal behaupten, dass er ihr ständig
ihre Freunde aus dem Haus ekeln würde.

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