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Pornografie statt Aufklärung

Experten warnen vor den Folgen:

Wie das Internet die Sexualentwicklung steuert

Zu dieser Problematik äußerten sich


Prof. Dr. Jakob Pastötter, Ingo Brehm, Ursula
Enders und Dr. Andreas Hill.

(SWR2, 27.08.2010)

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Jugendliche
"Bei Pornos geht's nur um das Eine. Also, es gibt – jetzt sag ich's mal so -
gute Pornos, und es gibt eklige und lustige." – "Geschlechtsverkehr zwischen
zwei oder halt mehreren Personen; halt gruppensexmäßig. Oder es gibt auch
Videos mit Tieren, wo Frauen mit Tieren verkehren oder Männer mit Tieren."
– "Wenn zum Beispiel ältere Damen oder – ja, Frauen... das ist schon eklig -
und lustig, ja." (lacht)

Sprecherin
"Wir haben viele, die wohl zu Hause unkontrolliert Zugang zum Internet
haben und sich dann dort verschiedene Sachen runterladen und das dann
unheimlich lustig und cool finden, wenn sie dann in kleinen Gruppen im
Schulhof zusammenstehen und sich dann diese Clips rüberschicken; und so
wird das halt auch ziemlich schnell weit verbreitet."

Prof. Pastötter
"Pornografie kann am besten beschreiben als Märchen für Erwachsene. Ein
Konsumgut, was wir Masturbationsfantasien nennen. Auf der anderen Seite
vernachlässigen aber diese Märchen für Erwachsene alles, was unser Leben
in der Realität tatsächlich ausmacht, nämlich das Konfliktpotenzial, das in der
Sexualität leider mit angelegt ist. Eine Seite, die eine enorme Sprengkraft
entwickeln kann."

Sprecher
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"Pornografie statt Aufklärung. - Wie das Internet die Sexualentwicklung


steuert." Eine Sendung von Wilm Hüffer.

Jugendliche
"Ja, ich denk, mit so 13, 14 fängt man mit Freunden so was vielleicht mal an
anzugucken; vielleicht hat's einer auf dem Computer, dann zeigt man's dem
anderen." – "O Gott, ich würd sagen, das fängt schon an bei 9, 10, bei den
jüngeren Schülern ist es schon so, dass sie sich das zusammen angucken
und dann der eine auch sagt: 'Ja, schick mir das doch mal bitte, und das ist
ja so geil.'" – "Eher von den unteren Klassen geben dann damit an oder
haben so was wie 'ne Sammlung auf dem Handy von kleineren Pornos."

Sprecher
Noch nie zuvor konnten Jugendliche derart leicht auf Pornografie zugreifen -
und tun es auch. Weit über die Hälfte aller Jugendlichen konsumiert
gelegentlich oder sogar regelmäßig Pornografie, vor allem über Internet und
Handy, das Ergebnis schwedischer Studien. Ein Umbruch - in früheren
Generationen lag die Zahl allenfalls im einstelligen Prozentbereich. Vor drei
Jahren berichtete Pfarrer Bernd Siggelkow, Leiter des Berliner
Jugendzentrums Arche, als einer der ersten in Deutschland über die Folgen:
sexuelle Verwahrlosung und Verrohung. Über Jugendliche in den Berliner
Armutsvierteln, die Pornos nachspielten. Über Kinder, die mit 14 schon über
fünfzig Partner hatten. Über Mädchen, die sich mit elf Jahren fragen, warum
sie noch keinen Sex hatten. Und die Frage entstand: Sind das Milieuprobleme
oder ist es ein breiter gesellschaftlicher Trend?

Prof. Pastötter
"Man muss natürlich sagen, dass Siggelkow sich mit einer gesellschaftlichen
Gruppe beschäftigt, die sehr eng zu begrenzen ist. Die Frage stellt sich:
Weshalb erfahren wir nicht etwas über alle Jugendlichen, und wir erfahren
deshalb nicht alles über die Jugendlichen, weil zum Beispiel die Mittelschicht
von entsprechenden Maßnahmen der Jugendarbeit überhaupt nicht erfasst
wird. Das heißt, wenn wir etwas nicht hören, muss das nicht heißen, dass
etwas nicht existiert. Es kann auch heißen, dass einfach nur niemand
nachfragt."

Sprecher
Der Sexualwissenschaftler Jakob Pastötter hat eine der ersten größeren
Befragungen in Deutschland durchgeführt. Auch deren Ergebnisse lassen
noch keine Schlussfolgerungen über die langfristigen Folgen des
Pornokonsums zu. Sie liefern jedoch erste Hinweise:

Prof. Pastötter
"Wir konnten mit dieser Online-Befragung über 55-tausend Teilnehmer
erreichen, ein Großteil davon im Altersbereich von 14 bis etwa 25 Jahren,
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und wir konnten selbst in dieser sehr jungen Spanne feststellen, dass sich
innerhalb weniger Jahre das Verhältnis zum eigenen Körper und zum Körper
des Partners, aber auch zur Sexualität, dramatisch verändert hat – nämlich
hin zu dem Gefühl, dass der Körper perfekt sein muss, und dass es einen
Zusammenhang gibt zwischen dem Pornografie-Konsum und diesen
Erwartungen, wie auch die Genitalien sich zu präsentieren haben."

Sprecher
Der Sexualwissenschaftler ist sich sicher: Pornografie färbt auf den Alltag
Jugendlicher stärker ab als bislang angenommen. Sexualaufklärung weiche
pornografischen Fiktionen. Dazu passen die Beobachtungen von
Sozialpädagogen. Sie stellen seit Jahren fest, dass wirkliches Wissen über
Sexualität eher abnimmt. Kinder und Jugendliche sind heute schlechter
aufgeklärt als die Generationen zuvor, sagt Sozialarbeiter Ingo Brehm aus
Villingen:

Ingo Brehm
"Wir Erwachsenen denken, Sex ist überall Thema in unserer Gesellschaft,
und deshalb müssten auch die Jugendlichen, die Kids, sehr gut Bescheid
wissen. Das ist definitiv nicht der Fall; viele haben vordergründig eine ganz,
ganz große Ahnung, und wenn's dann wirklich mal drauf ankommt, was ist
Sex überhaupt, wie entsteht ein Kind, beziehungsweise was passiert, wenn
die miteinander schlafen, kommt relativ schnell raus, dass einfach nicht so
viel Ahnung da ist."

Sprecher
Zu solcher Ahnungslosigkeit leistet Pornografie einen Beitrag - und nicht nur
dazu. Aus Sicht von Jakob Pastötter erzeugt sie eine folgenreiche Illusion:
die Vorstellung, Sexualität sei lernbar. Und zwar nicht als emotionale,
sondern rein körperliche Angelegenheit:

Prof. Pastötter
"Wir Menschen lernen ja alle Aspekte über das Zuschauen, alle Aspekte des
Lebens werden über das Zusehen vermittelt – außer: Sexualität. Wir wissen
nicht, wie andere Menschen a) Sexualität praktizieren. Wir wissen aber sogar
noch weniger, wie sie zu dieser Art von praktizierter Sexualität gekommen
sind. Was in den Menschen abläuft, kann ja nicht gezeigt werden. Die
Pornografie suggeriert aber das Gegenteil, dass nämlich nicht das Empfinden
der Sexualität das Entscheidende sei, sondern dass es auf die optischen
Reize darauf ankäme, unter Umständen auch noch auf die Reize, die hörbar
sind."

Sprecher
Entsprechend verändert sich, wie Kinder und Jugendliche über Sexualität
etwas lernen. Früher waren es fast ausschließlich emotionale Erfahrungen;
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vor allem die Partnerschaft der Eltern war wichtig als positives oder
negatives Beispiel. Heute treten an die Stelle des emotionalen Lernens
Pornofilme – omnipräsent auf den Schulhöfen. Ein 13-Jähriger aus Mainz
über seine Erfahrungen – ihm gefällt vor allem die Geschichte von
Schneewittchen und den sechs Zwergen: ein Comic-Film, der eine
Vergewaltigung zeigt.

Interview mit einem Jugendlichen


"Ja, also, sechs kleine Zwerge wollten eine Frau ficken. Und die Frau, die ist
so eingeschlafen - nicht eingeschlafen, da haben die der so 'ne Schlaftablette
ins Glas gemacht, damit die einschläft. Ja, und danach haben die die...
gefickt."
- Verschickst Du solche Sachen auch an andere?
"Nein, ich hab nur geschickt bekommen."
- Aber ihr guckt euch das zusammen an, oder?
"Ja, es ist zum Lachen. Ich weiß auch nicht, warum."
- Was ist denn daran so witzig?
"Ich weiß nicht. Da muss man irgendwie lachen, wie die der so die
Schlaftablette reinmachen."
- Wie fühlten die sich denn dabei? Habt ihr darüber auch mal nachgedacht?
"Ja... bestimmt Scheiße."
- Was sagen denn deine Eltern dazu?
"Ich soll so was nicht auf Handy haben."

Sprecher
Dieser Junge gilt an seiner Schule als einer der auffälligen Porno-
Konsumenten. Neuere Studien aus den USA und Schweden bestätigen:
Pornografie ist vor allem Jungensache. Etwa 85 Prozent der 14- bis 18-
jährigen Porno-Konsumenten sind Jungen. Fast alle empfinden Pornografie
als erregend. Und zwei Drittel geben an, das Gesehene wenigstens teilweise
selbst ausprobieren zu wollen, während Mädchen überwiegend Ekel
empfinden. Sexueller Leistungsdruck – das ist es, was Jungen und Mädchen
gleichermaßen spüren.

Prof. Pastötter
"Was etwas erschütternd ist, ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass heute viele
Jungs so einen großen Erwartungsdruck vor dem ersten Mal haben, dass sie,
sozusagen prophylaktisch, sich Viagra besorgen und dieses auch einwerfen,
um eben dann im entscheidenden Moment agieren zu können. Auf der
anderen Seite ist es bei den jungen Mädchen so – wir wissen da aus
Umfragen, dass mittlerweile viele spätestens vor dem ersten Mal zum ersten
Mal zum Rasierapparat greifen, weil sie die Vorstellung für unglaublich
beschämend halten, ihrem Geliebten da die Haare präsentieren zu müssen.
Das sind zwei Verhaltensweisen, wo man doch sehr klar einen
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Zusammenhang zu Pornografie tatsächlich ausmacht, die ja die ständige


ästhetische Bereitschaft der Körper signalisiert."

Sprecher
Kein Zweifel: Pornografie beeinflusst die Vorstellungen Jugendlicher von
Sexualität. Und beeinflusst immer stärker auch die Jugendkultur, prägt Musik
und Fernsehunterhaltung. Gewinner ist, wer andere dominiert und erniedrigt.
Der andere wird, auch sexuell, zum Opfer – meistens sind es die Frauen. Seit
Jahren gelten Rapper wie Sido oder Bushido als Klassiker, ja, schon als
Oldies der Porno-Subkultur. Jugendliche aus Villingen und Mainz erzählen,
was an ihrer Hauptschule angesagt ist:

Jugendliche
"Sachen wie von Frauenarzt, King Orgasmus, Prinz Porno, wo es wirklich nur
darum geht: Ich nehm die und die in dieser gewissen Stellung, und ich
besorg's der mal richtig und so was – das ist schon für mich niveaulos. Ja,
man kann schon sagen, dass die Texte frauenfeindlich sind." – "Nach dem
Motto, dass alle Frauen Schlampen sind eigentlich." – "Da werden halt die
Frauen dargestellt, als ob sie also so... zweiter Stand wären, dass die
Männer da Oberhand haben und die Mädels da unten halt so nix zu sagen
hätten."

Prof. Pastötter
"Einer dieser Entwicklungsstränge geht dahin, dass wir den über wohl
Jahrhunderte gewachsenen Trend zu einer Formalisierung, also zu immer
förmlicheren Verhaltensweisen, aufgegeben haben hin zu einem Trend der
Informalisierung – das heißt: Man überbietet sich heute nicht mehr dadurch,
dass man den steiferen Zylinder hat, man überbietet sich heute dadurch,
dass man sich immer noch lockerer und immer noch rotziger aufführt. Und
Pornografie ist einer der Faktoren, die in unserer Gesellschaft dazu führen,
dass ein immer informelleres Verhalten mittlerweile zum guten Stil gehört."

Sprecher
Chauvinismus und Sexismus im Porno-Rap färben ab auf den
Sprachgebrauch. Sexistische Beschimpfungen sind unter Jugendlichen
inzwischen normal. Andere abzuwerten, bedeutet in erster Linie, sie zu
sexuell Minderwertigen zu stempeln – für Ältere abstoßend, für Jüngere
durchaus vertraut.

Jugendliche
"Man hört halt schon sehr viel: 'Wichser', 'Hurensohn', 'ich fick Deine Mutter',
'Missgeburt'. Ich glaub, das ist teilweise schon recht ernst." – "Bei uns im
Freundeskreis weiß man, dass es aus Spaß ist, dass wir das nicht ernst
meinen. Aber bei wirklich fremden Leuten ist es schon dazu da, um die
runterzumachen, auf jeden Fall." – "Nein, also ich denke, man meint's gar
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nicht so. Man kann auch zu jemandem sagen: 'He, du bist so schwul, und
man meint's gar nicht, dass er schwul ist, sondern zum Beispiel einfach nur
viel zu weiblich. Das muß ja nicht heißen, dass der mit anderen Jungs schläft
oder so. Also man meint es wirklich nicht so, wie man's sagt, ja."

Sprecher
Sexistisches Niedermachen in Raptexten, auf der Straße, in Internetforen –
alles nicht so gemeint? Die Pädagogin Ursula Enders vom Verein Zartbitter in
Köln therapiert seit zwanzig Jahren sexuell misshandelte Kinder und sieht
das ganz anders:

Ursula Enders
"Die Jugendlichen sagen immer: 'Es ist nicht so gemeint, es ist nur Spaß, es
ist Gag, regt euch nicht so auf!' Wir bekommen aber in der
Beratungssituation mit, dass Jugendliche dadurch zutiefst verletzt sind und
häufig in der Schule noch ein cooles Gesicht dazu machen, weil sie Angst
haben, wenn sie ihre Verletzung zeigen, als uncool zu gelten oder noch mehr
abzubekommen. Und das beobachten wir besonders bei männlichen Opfern,
denn viele haben im Kopf: 'Das passiert nur Mädchen', aber wir bekommen
hier mit, dass auch gerade Jungen Opfer von Erniedrigungen werden,
sexistischer Erniedrigung und Mobbing."

Sprecher
Ob spielerisch oder verletzend, Pornografie bringt einen neuen Ton in die
Jugendkultur. Einen schärferen, menschenverachtenden Akzent, wenn es um
die Frage geht, wer der Stärkere ist, wer sich behauptet - und zwar
behauptet, indem er andere herabsetzt. Die Pädagogin Ursula Enders sieht
darin mehr als nur eine Pornografisierung der Sprache. Sie spricht von einer
Kultur der Erniedrigung:

Ursula Enders
"Es ist ein Kommunikationsstil, dass Jugendliche dann gesehen werden,
wenn sie niedergemacht werden – auch mit Worten, nicht nur mit Taten.
Wenn Sie sich heute Fernsehsendungen angucken wie zum Beispiel die
Casting-Shows oder Top-Model-Shows – dort werden Jugendliche
abgewertet. Schauen wir uns doch einfach Dieter Bohlen an, mit welchen
sexistischen Sprüchen er wirklich Jugendliche bloßstellt, und ich finde, auch
Heidi Klum – die Abwertung, wie sie die jungen Frauen vorführt, das ist
wirklich schon eine Form seelischer Grausamkeit. Das beobachten wir auch
unter den Jugendlichen, z. B. dass Jugendliche sich in Internetforen
gegenseitig beschimpfen, niedermachen und sagen: 'Das ist doch nicht so
gemeint, das ist nur ein Spaß – wir ballern uns halt an, und das ist witzig'."

Prof. Pastötter
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Immer spielt die Anballerei auch in den sexuellen Bereich hinein. Denn das
ist der Kern der Beschimpfungen: Der andere wird zum Objekt gemacht.
Auch zum Sex-Objekt. Ein beliebtes Mittel: Andere mit dem Handy in
peinlichen Situationen zu filmen oder zu fotografieren.

Ursula Enders
"Zum Beispiel, indem Jugendliche die Köpfe von Mitschülerinnen und
Mitschülern auf Pornografie montieren, diese dann als Plakat in der Schule
aufhängen oder ins Netz stellen oder per Handys rummailen. Vor drei, vier
Jahren war das selten, da hörte man das in Einzelfällen. Inzwischen haben
wir dieses Thema in sehr vielen öffentlichen Veranstaltungen auch, und die
Kinder berichten immer wieder davon, dass Ältere oder Gleichaltrige sie
wirklich über pornografische Darstellungen zutiefst verletzt haben."

Sprecher
Solche Fälle zeigen: Die Kultur der Erniedrigung ist auf dem Vormarsch.
Jugendliche lernen, andere zum Objekt zu machen – werden aber genauso
schnell auch selbst zum Opfer. Laut Studien aus den USA macht jeder dritte
Jugendliche solche Erfahrungen, beispielsweise beim Chatten in öffentlichen
Chatforen. Die stehen zwar unter Aufsicht – die Inhalte werden angeblich
regelmäßig kontrolliert - wie effektiv die Kontrolle ist, steht jedoch dahin. Die
Pädagogin Ursula Enders hat im Selbstversuch getestet, was Jugendliche
erleben, wenn sie in öffentlichen Chatforen unterwegs sind:

Ursula Enders
"Ich selbst habe mich in Chaträumen über drei Jahre lang als Jugendliche,
11- und 13-Jährige, ausgegeben, und mir ist sexuelle Anmache, sexuelle
Gewalt, Konfrontation mit Pornografie, tagtäglich begegnet, auch wenn ich
mich total passiv verhalten habe. Sobald die Leute gefragt hatten: 'Nutzt du
diesen Internetanschluss alleine oder sind deine Eltern da?' – und ich 'nein'
gesagt habe, hatte ich Exhibitionisten auf dem Bildschirm; ich habe ganz
massive Kinderpornografie geschickt bekommen, ich bin in Gespräche
verwickelt worden, es haben sich zig Leute mit mir verabreden wollen."

Sprecher
Mögliche Missbrauchstäter nutzen dabei aus, dass Jugendliche cool wirken
wollen, sich freizügig geben, auf sexistische Anmache souverän zu reagieren
versuchen. Auch die meisten dieser Kontakte entstehen in öffentlichen
Chatforen. Zwei Mädchen aus Mainz und Villingen-Schwenningen
beschreiben, was sie in solchen Foren erlebt haben:

Jugendliche
"Das stimmt schon auch, dass man da dann auf Personen trifft, die halt einen
dann irgendwie komisch anschreiben, oder man versteht's nicht – da gibt's ja
diesen Ausdruck "CS" – Cybersex ist das ja. Und das blickt man halt am
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Anfang überhaupt nicht." – "Und man kriegt halt auch hier und da Nachricht,
ja: 'Hast du Bock auf ein geiles Erlebnis?' oder: 'Hast du 'ne Webcam, siehst
du geil aus?' So Sachen." – "Das hab ich am Anfang eigentlich immer zu spät
gemerkt, wenn dann halt schon diese sexistischen Antworten oder Fragen
oder so was kamen, es wurde halt gefragt: 'Wie siehst du aus?'. Erst mal
das. Dann guckt man halt, so dass man sich nicht ganz blöd dastehen läßt,
ist ja irgendwo klar. Und dann kam aber auch immer die Frage gleich, also
wirklich: 'Willst du das mit mir?' Und der hat auch gefragt: 'Auf dem Bild
siehst du ja schon mal voll geil aus, hast du nicht auch ein Ganzkörperfoto,
und was weiß ich, in Unterwäsche oder im Bikini?', und er würde sich da so
drüber freuen und kann sich ja nur vorstellen, dass mein Körper toll aussieht
nach dem Gesichtsfoto, was ich online habe und so was. Man soll darauf gar
nicht eingehen."

Sprecher
Für die Pädagogin Ursula Enders ist klar, worauf das hinausläuft: Die Täter
versuchen auszunutzen, dass Jugendliche glauben, in einen öffentlichen
Wettbewerb treten zu müssen um Sex-Appeal, den schönsten Körper – sie
sieht hier die Gefahr für Jugendliche...

Ursula Enders
"...dass sie im Chat überredet werden, sich selbst zu zeigen vor der Webcam,
das auch schick finden, das Gegenüber diese Bilder mitzeichnet, und wenn
sie dann zum Beispiel sexuelle Handlungen vor der Kamera ausgeführt
haben, sind sie für die Produktion von Pornografie missbraucht worden. Das
heißt, dieses pornografische Produkt bleibt bestehen und kann überall
verwendet werden."

Sprecher
Gegenüber dieser Variante gibt es eine noch gefährlichere Möglichkeit: Dass
nämlich Missbrauchstäter beim Chatten die Identität der Jugendlichen zu
knacken versuchen, um sie dann im wirklichen Leben zu belästigen, ihnen
beispielsweise an der Schule aufzulauern. Der Psychotherapeut Andreas Hill
beschäftigt sich unter anderem mit solchen Täter-Persönlichkeiten. Er
arbeitet am Hamburger Institut für Sexualforschung und Forensische
Psychiatrie. Den Anstieg sexueller Übergriffe im Internet beobachtet er seit
Jahren.

Dr. Hill
"Mir berichten Staatsanwälte und Polizisten zunehmend von solchen
Kontaktversuchen. Das Internet ist letztendlich wahrscheinlich ein Ort
geworden, wie das früher vielleicht mal der Spielplatz oder das
Jugendzentrum gewesen ist oder andere oder das Schwimmbad, wo
entsprechende Personen - Täter - versucht haben, solche Kontakte
aufzubauen. Und das Internet ist eben leichter zumindest, weil man eben
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auch virtuelle Identitäten annehmen kann; und das gibt es eben in extremen
Fällen, aber das gibt es auch in weniger extremen Fällen."

Sprecher
Unabhängig davon, wie weit der Austausch solcher Fantasien im Chat geht –
Jugendliche machen die Erfahrung, dass mehr möglich ist als der bloße
Konsum der Inhalte. Sie können eine aktive Rolle übernehmen, abseitige
Vorstellungen gemeinsam weiterentwickeln:

Dr. Hill
"Man kann ja in diesem Chat immer weiter gehen, und was der eine dann an
Stimulus bringt und an Idee bringt, das törnt den anderen wiederum an, und
das schaukelt sich so hoch. Und das sehen wir gerade bei Patienten, die so
süchtig progredient im Internet in diesen Chats sich verhalten, dass dann
eben auch die Fantasien sich immer mehr nach oben schrauben; und das ist
leichter, wenn ich mit jemandem kommuniziere, als wenn ich einfach nur ein
Bild sehe."

Sprecher
Was der Sexualwissenschaftler hier beschreibt, sind Ausnahmefälle. Die
Forschungsergebnisse zeigen aber auch, dass es in der Internet-Pornografie
klassische Opfer- und Täterrollen nicht mehr gibt. Jugendliche, die sich
darauf einlassen, sexuelle Vorlieben zu diskutieren, selber pornografisches
Material herzustellen oder weiterzuverbreiten, werden automatisch zu
Mittätern, ob gewollt oder ungewollt. Sie werden, anders als früher, zu
Mitproduzenten des pornografischen Mainstreams.

Dr. Hill
"Das ist ja in der normalen Pornografie sehr klar abgegrenzt gewesen, aber
es gibt ja ganz viele Erwachsene, aber auch Jugendliche, die sehr explizite
Bilder, Filme, Texte von sich ins Netz stellen, die dann auch ein Eigenleben
entwickeln - man hat ja darüber keine Kontrolle. Jugendliche sind da, glaube
ich, auch zum Teil etwas naiv, auch Erwachsene, was dann alles mit diesen
Bildern vielleicht auch passieren kann. Es verschwimmen zunehmend im
Internet die Grenzen zwischen demjenigen, der konsumiert, der produziert
und der vertreibt."

Sprecher
Nicht nur im Internet verschwimmen diese Grenzen. Was dort eingeübt wird,
in der Musik und in der Unterhaltungsszene, übertragen Jugendliche auch auf
ihren Alltag. Das Rollenspiel im Internet, die verbale Anmache im Chat - das
alles funktioniert auch in der Realität, auf dem Schulhof oder auf der Straße:
eine Pornografisierung des Sozialverhaltens; eine Imitation von
pornografischen Musik- und Videoclips, von Gangster-Rap und Casting-Show.
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Wer nicht mitspielt, ist "uncool". Ein Mädchen aus Mainz schildert eine solche
Atmosphäre an ihrer Schule:

Jugendliche
"Hier laufen generell schon jüngere Schülerinnen schon sehr – sag ich mal -
aufreizend angezogen rum – und da springen halt die Jungens in deren
Klasse auch direkt drauf an und grabschen die halt mal an oder sagen
irgendwas von wegen: 'Ja, hast Du heute Nacht mal Zeit?' oder so was, und
das finde ich in dem Alter von 10, 11 schon ein bisschen krass. Also, ich
glaub, die ziehen sich hauptsächlich so an, wie die Jungens auch, weil die
das bei ihren Stars so sehen: Beyonce läuft so rum, Rihanna läuft so rum,
die sind halt alle sehr freizügig gekleidet, und ich denke, da nehmen sie sich
ein Beispiel dran. Und da springen die Jungens natürlich drauf an, vor allem
wenn die solche Texte hören wie zum Beispiel von Prinz Porno oder King
Orgasmus."

Sprecher
Nur eine pubertäre Spielerei? - Eher ist es ein Beispiel für das, was
Sozialpädagogen befürchten: Im frühesten Alter gewöhnen sich Jugendliche
an sexuelle Übergriffe - Mädchen daran, dass sie befummelt und begrapscht
werden; Jungen daran, dass Begrapschen männlich und normal ist. Ein
Umfeld entsteht, in dem sexuelle Übergriffe zumindest einfacher werden.
Der Hamburger Sexualwissenschaftler Andreas Hill:

Dr. Hill
Ein Indiz dafür, dass sich sexuell aggressives Verhalten bei Jugendlichen in
den letzten Jahren verstärkt hat, ergibt sich aus den polizeilichen
Kriminalstatistiken, Strafverfolgungsstatistiken. Da gibt es Anstiege, die sind
auch deutlich, und die betreffen eben insbesondere die Kinder und
Jugendlichen, während in den anderen Altersgruppen das nicht wahrnehmbar
ist. Es ist nicht bekannt, auch unter Experten nicht, dass Jugendliche
und Heranwachsende die höchsten sogenannten Tatverdächtigen-
Belastungsziffern haben – für Kindesmissbrauch und auch für
sexuelle Gewaltdelikte. Also bezogen auf den Anteil, den sie an der
Bevölkerung haben, werden von Kindern und Jugendlichen am häufigsten
sexuelle Missbrauchstaten gegenüber Kindern und Jugendlichen begangen
und auch sexuelle Gewaltdelikte, also Nötigung und Vergewaltigung.

Sprecher
Der Jugendliche als Missbrauchstäter Nr. 1. Der Beginn einer längerfristigen
Entwicklung? Ob Pornografie auch die Entwicklung von Verhaltensauffälligen
beeinflusst und verschlimmert, wird sich wohl erst Jahre später zeigen.
Heute schon verhaltensauffällige 8- bis 12-Jährige gelten als mögliche
Gewalttäter von morgen. Was bedeutet es für sie, wenn sexuelle Übergriffe
kaum noch ein Tabu darstellen? Die Pädagogin Ursula Enders:
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Ursula Enders
"Herrscht aber eine Kultur der Grenzverletzung, in der Jugendliche von Eltern
und von Pädagogen kein Stopp-Zeichen bekommen, dann wird dies zur
Gruppennorm; und einige Jugendliche, die hinterher massive Täter sind,
steigen genau über diese Gruppensituation in die Karriere ein. Gelingt es
uns, am Anfang dieser Karriere, gerade bei den 8- bis 12-Jährigen, andere
Normen zu etablieren, so können wir viele davor bewahren, langfristig
gewalttätig zu werden."

Sprecher
Vorläufig sind das Wunschvorstellungen. Die langfristige Entwicklung vermag
noch niemand abzuschätzen. Und damit auch nicht die langfristigen Folgen
des Porno-Konsums. Der Sexualwissenschaftler Jakob Pastötter warnt vor
Verharmlosung. Aus seiner Sicht sind insbesondere die Folgen für
Partnerschaftsverständnis und Bindungsfähigkeit noch nicht genügend
erforscht. Er beobachtet eine soziale Verwahrlosung quer durch alle
Schichten.

Prof. Pastötter
"Soziale Verwahrlosung hat aber nicht in erster Linie etwas mit Prekariat zu
tun; sie hat etwas damit zu tun, ob sich Eltern für ihre Kinder interessieren.
Je anfälliger Kinder und Jugendliche - aber auch Erwachsene - für soziale
Schwierigkeiten sind, umso häufiger stellen wir auch ein verändertes
sexuelles Verhalten fest. Sexualität wird quasi zu einem Zufluchtsort, der es
einem ermöglicht, positive - körperliche, emotionale positive Erfahrungen zu
machen. Das hat aber sehr wenig mit dem zu tun, was Sexualität für die
Erwachsenen eigentlich sein sollte, nämlich die Erfahrung auch der
Verbundenheit mit einem Partner. Es ist vielmehr ein isoliertes Gefühl von
Lust und von Bestätigung, das wir hier zu beobachten haben."

Sprecher
Was der Sexualwissenschaftler befürchtet, ist letztlich eine Trennung von
Sexualität und Liebe. Eine Abspaltung der Sexualität aus dem sozialen
Leben, aus der Anbahnung von Partnerschaft – und dem Alltag der Partner.
Mit möglicherweise beträchtlichen Folgen:

Prof. Pastötter
"Wer von Früh auf daran gewöhnt ist, dass Pornografie etwas ist, was
eigentlich nur funktioniert, wenn ständig neue Reize auftauchen - sprich:
wenn ständig neue Partner präsentiert werden, dann hat das natürlich auch
wieder Auswirkungen auf die reale Sexualität. Denn wie wir wissen, nach
einigen Jahren ist der anfängliche Kitzel des neuen Partners mehr oder
weniger verloren gegangen; es ginge dann darum, eine tiefergehende
Beziehung aufzubauen, Sexualität auch immer wieder neu gemeinsam mit
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dem Partner zu entdecken. Aber davor scheuen dann viele Leute zurück,
denn sie haben ja gelernt: Die einfachste und die bequemste Möglichkeit,
eine sexuelle Beziehung immer wieder prickelnd zu gestalten, ist, sie immer
wieder mit einem neuen Partner prickelnd zu gestalten."

Sprecher
Trübe Aussichten. Eltern und Lehrer überlegen seit Jahren, wie sie die
Pornoflut an den Schulen stoppen sollen. Viele Schulen haben Handyverbote
eingeführt – doch die Wirkung ist begrenzt. Der Bundestag hat sogenannte
Stopp-Schilder für Kinderpornografie im Internet beschlossen. Doch die
Sperren sind leicht zu umgehen und auch rechtlich nicht unumstritten. Eine
breite öffentliche Debatte über den Umgang mit Pornografie gibt es nicht.
Wie noch nie zuvor sind Jugendliche in ihrer Sexualentwicklung auf die
eigene Vernunft angewiesen. Auf eigene soziale Erfahrung anstelle
irreführender Fiktionen.

Jugendlicher
"Ich denke, dass Jugendliche von solchen Pornos eine völlig falsche
Einstellung gegenüber Sex bekommen, da das sich einfach so nicht abspielt,
auch nicht beim ersten Mal, nicht beim zweiten Mal, und nicht beim dritten
Mal. Das sind einfach Filme, die zur Befriedigung von Lustgefühlen da sind.
Ich denke nicht, dass das den Jugendlichen weiterhilft."
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Die Sendung ist hier abrufbar:

http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/pornografie-
aufklaerung/-/id=660374/nid=660374/did=6660192/7zn2fn/index.html

Weitere Informationen zu diesem Thema:

http://www.swr.de/ratgeber/familie/pornographie-statt-
aufklaerung/-/id=1778/nid=1778/did=6692230/199g8lh/index.html

Wie sich Jugendsexualität verändert


http://podster.de/episode/315244

ZDf nachtstudio - "Ich lad's mir runter"


http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1035100/nachtstudio-vom-
9.-Mai-2010?bc=rub#/beitrag/video/1035100/nachtstudio-vom-9.-Mai-2010

Pornos statt Zärtlichkeit


http://www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/bdwlive/heftarchiv/index2.php?
object_id=31591380

Porno-Kids
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http://www.swr.de/odysso/-/id=1046894/nid=1046894/did=2258746/1ist5s
9/index.html

Schon Kinder werden durch harte Pornografie geprägt


http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article8263381/Schon-Kinder-
werden-durch-harte-Pornografie-gepraegt.html

Generation Porno: "Höchste Zeit, dass wir uns aufregen!"


http://www.zeit.de/zeit-wissen/2009/03/Aufklaerung-Kasten-Interview

ARTE – "Generation Porno" - Gesprächsrunde


http://www.arte.tv/de/Willkommen/suche/2041840.html

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