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Ganzheitliche Betrachtungen

zur Sexualität

Auszug aus "Scobel - Mehr Wissen über: Sexualität und Sexualtherapie"


vom 29.01.2009

Trotz aller Offenheit heute: Die Zahl der Menschen, die sexualtherapeutische
Betreuung in Anspruch nehmen steigt. Das zeigt, dass das Ziel einer
problemlosen Sexualität noch längst nicht erreicht ist. Ein Thema, das viele
Menschen betrifft, über das aber wenig gesprochen wird. Mit Dr. Sophinette
Becker, Dr. Ulrike Brandenburg und Prof. Dr. Jakob Pastötter diskutiert
Gert Scobel, ab wann man von sexuellen Störungen spricht und wie man sie
behandeln kann.

(16:27, Thema Viagra)

Scobel: Ist das denn ein Meinungsstreit ein bisschen, also, arbeite ich mit
medizinischen Mitteln oder nicht, oder ist der Streit soz. längst schon
entschieden?

Prof. Pastötter: Der Streit ist ganz bestimmt noch nicht entschieden (lacht).
Das liegt einfach daran, dass man ganz klar sehen muss: Sexualität ist ein
bio-psycho-soziales Phänomen. Das heißt, ich kann Körperlichkeit und Seele
nicht voneinander trennen. Wenn ich das versuche, dann kommt dieser
Irrglaube raus, der dann auch zum Hype mit Viagra geführt hat: Ein Mann,
der eine Erektion hat, hat automatisch auch Lust auf Sex. Das glauben nach
wie vor sehr viele Männer. Tatsache ist aber, dass Sex nicht einfach
deswegen Spaß macht, weil ich die Erektion habe, sondern die Erektion ist
zwar ein ganz nützliches Hilfsmittel dazu. Aber nur als Erektion bringt sie erst
einmal überhaupt nicht weiter. Nicht dafür, dass hinterher Sexualität als
erfüllend oder befriedigend empfunden worden ist.

Es ist schade, dass wir über Jahrzehnte hinweg eigentlich vor allem Sexualität
als etwas wahrgenommen haben, das als eigenes Erlebnisphänomen existiert.
Das hat vielleicht auch damit zu tun - Sie wissen, dass alle... – Sexualität ist
ja eine ganz neue Kategorie. Die wurde ja erst im 19. Jahrhundert, im Anfang
des 19. Jahrhunderts, als körperliche, als physiologische Kategorie entdeckt.

Scobel: Wobei ich mir immer... – also, ich hab immer Schwierigkeiten bei der
Vorstellung, wie ist das früher gewesen? Ich mein, gut, da kann man jetzt
wahrscheinlich lange drüber reden, aber ich kann mir das schlecht vorstellen,
dass man früher das, was wir heute Sexualität nennen, gehabt hat, aber
offensichtlich irgendwie nicht hat drüber reden können oder es völlig anders
wahrgenommen hat.
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Dr. Brandenburg: Ja, die Bedeutung hat sich geändert. Sex oder Sexualität
bedeutet ja immens viel. Gelebt haben wir es ja immer, aber es hat einen
völlig anderen Stellenwert.

Ich würde aber gern auch noch ein Wort... darf ich noch ein Wort zu den
Medikamenten sagen? Obwohl ich das auch sehr kritisch sehe und Ihnen da
grundsätzlich völlig zustimme. Aber wir haben natürlich in der Klinik oder in
der Praxis auch die Fälle, wo ich schon auch mal sagen muss, manchmal
kommen auch Männer, die einfach froh sind, wenn sie mal eine Pille nehmen.
Also wir haben zum Beispiel doch eine Zahl auch von älteren Männern mit
organischen, also mit körperlichen Schäden, da muss ich ein bisschen die
Lanze dafür brechen, dass ich auch als Sexualtherapeutin und Ärztin ganz
froh bin...

Prof. Pastötter: Der berühmteste Mann ist Hugh Hefner, der gesagt hat,
ihm hat man ein neues Leben geschenkt durch Viagra.

Dr. Brandenburg: Das ist sicherlich – da ist immer noch der psychische Teil
dabei. Ich würde es nicht ganz unter den Tisch fallen lassen, ich bin schon
auch ganz froh, dass es das Zeug gibt.

Dr. Becker: Als Anschubfinanzierung ist es gelegentlich sehr nützlich.


(Lachen)

Prof. Pastötter: Das ist ja auch ein Fehler, den wir im Westen gerne machen
nach dem Motto "Das Seelische ist irgendetwas, das schon mit dem
Körperlichen zusammenhängt, aber irgendwie ist es dann doch nachgeordnet.
Man muss ganz klar sagen: Beides gehört miteinander verschränkt.

Dr. Becker: Jetzt sind wir aber schon wieder munter dabei, uns nur auf die
männliche Sexualität zu beschränken. Und die weibliche Sexualität macht ja
den Forschern so viel Mühe, weil die Frauen immer, wenn man gerade was
messen kann, empfinden sie nichts, und wenn sie was empfinden, können die
Forscher nichts messen. Also die lassen sich in dieses einfache Modell nicht
pressen, und es gibt auch kein Medikament wie Viagra, das man den Frauen
einfach geben muss. Die Frauen haben immer schon ihre Sexualität, ihren
Körper, ihre Seele doch stärker als eine Einheit begriffen, wobei ich sagen
muss: Die Männer ziehen nach. Früher hatte ich viel mehr den Eindruck, dass
Männer kommen, die sagen: Hier ist mein Penis, Sie sind der TÜV, bitte
bringen Sie den in Ordnung, ich möchte nichts damit zu tun haben.
Inzwischen gibt es viel mehr Männer, die schon kommen mit dem Wissen,
dass ihr Penis, der Probleme macht, mit ihnen als Gesamtperson, mit ihnen
als Mann, mit ihrer Biografie etwas zu tun hat.

Dr. Brandenburg: Ich würde sogar sagen, auch dieses... – Du hast eben
darauf verwiesen – die zunehmende Anzahl von lustlosen Männern. Das ist ja
erstaunlich, also, ich hatte nicht vor... – ich weiß nicht, wie es Ihnen ging –
vor fünf Jahren oder zehn die Paare da sitzen, wo sie sagt: "Hier, er hat keine
Lust mehr!" Und er auch fast still da und stumm sitzt und sagt: "Es ist so,
weil es gibt einen Leidensdruck darum - ich weiß nicht, ich weiß nicht, woher
es kommt, ich weiß auch nicht warum."
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Dr. Becker: Fehlt fast nur noch die Migräne. (Lachen)

Dr. Brandenburg: Ja, aber manchmal...

Scobel: Jetzt muss ich doch mal fragen: Haben Sie eine Ahnung, woran das
liegt?

Dr. Brandenburg: Ich wollte gerade sagen: Wir versuchen natürlich auch
herauszukriegen, was steckt dahinter? Und manchmal habe ich schon den
Eindruck - auch die Männer selbst sagen das – so ein kleines bisschen legen
sie darüber natürlich auch den Finger drauf: "Wir haben auch keinen Bock
mehr als Mann, dass es sich stets nur darum dreht, dass wir funktionieren
müssen." Also ich glaube, es hat verschiedene Gründe. Es ist einmal dieses
"ich will diesen Funktionsdruck als Mann auch nicht mehr stets als so einen
Uralt-Auftrag erfüllen." Ich glaube, es hat auch was damit zu tun mit der
neuen Offensivposition der Frau innerhalb der Sexualität. Die Frauen, die
doch deutlich – das merkt man gerade bei den jungen Frauen – also die
deutlich aktiver sind, die deutlich auch klarer ihre Bedürfnisse benennen
können, das schafft natürlich auch eine Einflussverschiebung innerhalb der
Beziehungsdynamik.

Scobel: Ist das tatsächlich neu?

Dr. Brandenburg: Ich würde sagen, das ist deutlich neu.

Dr. Becker: Eine große Differenz, die in den letzten zwanzig Jahren
stattgefunden hat, ist, dass die Frauen sehr viel früher masturbieren, also
Selbstbefriedigung machen, Erfahrung damit haben. Früher war es so:
99,999 Prozent aller Jungen hat – ob mit Schuldgefühl oder ohne –
Selbstbefriedigung gemacht.

Scobel: Meist mit...

Dr. Becker: Meist mit, aber hat gemacht. Und sehr viele Frauen hatten die
Erfahrung nicht und haben ihre erste sexuelle Erfahrung mit einem Mann
gemacht. Das hat dem Mann natürlich einen großen Druck gegeben, aber
auch die große Möglichkeit, die "Blume wachzuküssen" und vieles mehr. Jetzt
kommen die Frauen mit einem viel größeren Wissen über ihren Körper in die
sexuelle Beziehung. Das entlastet den Mann von dieser Riesenverantwortung,
aber es bringt auch viel mehr Ansprüche, es bringt das Geschlechter-
Arrangement auch ein bisschen noch mal in eine andere Bewegung.

Dr. Brandenburg: Das ist ja auch dieses, wenn die Frauen sagen zum
Thema Orgasmus – also, es gibt ja viele Befragungen zum Orgasmus –
mittlerweile sagen ja fast alle Frauen sehr ehrlich: Allein ist es am
einfachsten. Diesen Druck – wenn ich schon merke, er bemüht sich, und dann
wieder der gesamte Erwartungsdruck oben drauf, dann komme ich unter
Stress, und die Kompetenz, es mir alleine nett zu machen, die haben sie.
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Scobel: Ich bin jetzt – Entschuldigung – ich bin jetzt mal ganz platt, ja? Das,
was Sie mir sagen, das scheint danach zu klingen, das eigentliche Problem
beim Sex ist die Psyche, das eigentliche Problem ist das Seelische, also,
sagen wir mal erweitert, die Kommunikation der Partner.

Prof. Pastötter: Nein, ganz so einfach ist es tatsächlich nicht. Also wir von
der DGSS finden es im Moment unglaublich spannend, dass wir mit der
chinesischen sexualwissenschaftlichen Vereinigung kooperieren und immer
mehr entdecken, dass sehr vieles von dem, was uns im Moment noch ganz
ganz neu ist – zum Beispiel ja auch so etwas wie diese vaginalen Schmerzen
– da gab es vor ein paar Jahren die allererste Untersuchung, die gesagt hat:
Tatsächlich Frauen – auch junge Frauen – haben durchaus unangenehme
Gefühle in den Genitalien, die nur bedingt mal etwas mit Sexualität zu tun
haben, aber sie existieren. Und Frauen war das natürlich immer bekannt,
dass es so etwas gibt, aber man hat das etwas zur Seite geschoben, und mit
dem Arzt konnte man nicht drüber reden, weil der – häufig auch männliche –
Arzt sowieso überhaupt nicht verstehen konnte, was daran unangenehm sein
kann, Gefühle in den Genitalien zu haben.

Dr. Brandenburg: Auch die weiblichen Ärzte, also auch...

Prof. Pastötter: (Lacht) Danke. Und für die Chinesen ist das ein uraltes
Phänomen, das übrigens auch mit Sexualität als westlich verstandene
Kategorie... – die haben große Probleme, unser Konzept von Sexualität
überhaupt zu verstehen, weil sie sagen, ja aber Sexualität gibt es doch gar
nicht isoliert. Sexualität hängt eben immer auch mit den Gefühlen
zusammen, hängt immer mit der Psyche zusammen und hängt aber eben
auch mit den verschiedensten organischen Zusammenhängen zusammen.
Und in dem Fall würde jetzt ein chinesischer Arzt sagen: "Das ist interessant,
ich schau nach, welche Symptome finden wir hier vor", wird feststellen: "Ach,
das hat erst einmal mit dem, was da die dummen Westler mit "Sexualität"
meinen, gar nicht so viel zu tun. Wir behandeln was anderes, behandeln das
erst mal und schauen dann, ob sich entsprechend die Gefühle verändern, und
ob dann eventuell auch sich die Sexualität wieder verändern kann. Also von
Anfang an ein ganzheitlicher Ansatz von Sexualität.

Dr. Becker: Nein, es ist sowieso eine Einschränkung, von einem seelenlosen
Körper und einer körperlosen Seele auszugehen. Es gibt nicht nur den Körper
als Maschine, der dann mit einem Medikament repariert wird, es gibt ein
körperliches Erleben, und das muss auch ein guter Psychotherapeut sehr
nahe und auch in einer körpernahen Sprache gerade bei der Sexualität mit
einbeziehen. Das Seelische ist nichts Abgetrenntes vom Körper, es bezieht
den Körper auch mit ein, aber das heißt noch lange nicht, dass man mit
Medikamenten oder unmittelbar körperwirkenden Methoden arbeitet. ...

Quelle:
http://www.3sat.de/mediathek/mediathek.php?obj=11190&mode=play
oder:
http://www.3sat.de/scobel/podcast/scobel_feed.xml (herunterscrollen)
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