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Der Delfin

Nachdem sie gegangen war und hatte ich dem Schlagen der Türen minutenlang
nachgelauscht. Auf dem Bett liegend, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, an
die Decke starrend. Bis ein nächtlicher Güterzug, der quietschend und ratternd
durch mein Zimmer fuhr, die Stille und mein Lauschen zerstörte. Danach war es
noch stiller. Dicke, staubige Stille füllte den Raum.
Allein.
Die Decke bot nichts Interessantes. Flackriges Zwielicht der Kerzen. Spinn-
weben in einer Ecke. Ich sollte mal wieder so richtig saubermachen, dachte ich.
Dachte ich nochmal. Dann gab ich den Gedanken auf.
Ich drehte mich auf die Seite und versuchte eine embryonale Haltung einzu-
nehmen, aber es war nicht wirklich bequem. Man wird geboren, dachte ich, weil
es einem schließlich zu eng wird, auch wenn es noch so warm und kuschlig ist.
Man muss raus, weil man nicht mehr genügend Raum hat und und auch nicht
ständig gekrümmt liegen will. Die Glieder verlangen ab einem gewissen Punkt
nach Streckung und Dehnung. Ja, dachte ich, aus keinem anderen Grund wird
man geboren.
Mein willenloser Blick fiel auf das kleine blaue Quadrat, dass sie (voller Trotz?,
achtlos?) zurückgelassen hatte. Es hatte etwa die Größe einer CD und war von
einer Plastikfolie umhüllt, die sehr schön glänzte im Kerzenschein. Ich streckte
den Arm aus, aber meine Fingerspitzen erreichten das Plastik nur knapp. Mit
viel Geduld gelang es mir schließlich das blaue Quadrat heranzuholen. Vorsichtig
betrachte ich es. Es war leicht und flach. Das Blaue im Inneren der Folie war
auch aus Plastik. Eine kleine Pappe, auf der die Zeichnung eines Delphins mit
großen Augen zu sehen war, lag darauf.
Die Folie wollte zuerst nicht aufgehen, aber schließlich hielt ich das blaue
Plastikquadrat in der Hand. Es roch wie die bunten Wasserbälle meiner Kind-
heit, wie das Planschbecken der Nachbarkinder, wie meine knallroten, verhassten
Schwimmflügel. Ich hielt eine Weile meine Nase daran und berauschte mich an
Erinnerung. Gleichzeit roch es unglaublich neu.
Als ich von dem Rausch genug hatte, faltete ich das blaue Quadrat sorgfältig
auf. Ein erstaunlich großer und platter Plastikdelfin breitete sich vor mir aus.
Ich musste mich sogar aufsetzen, um ihn zu voller Größe zu entfalten. Neugierig
musterte ich den Delfin und fand ein durchsichtiges Ventil an der Seite. Eine
Zeitlang saß ich unschlüssig da und starrte auf das Ventil, während wieder ein
Zug durch mein Zimmer fuhr. Kein Güterzug diesmal, denn das Rattern war
sanfter, das Quietschen weicher.
Wenn man einen blauen Plastikdelfin mit einem Ventil zum Aufblasen in den
Händen hält, dann, so dachte ich, hat man wohl die heilige Pflicht dieses auch
zu tun.

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Ich würde mich also fügen. Aber bevor ich begänne, würde ich noch ich eine
Zigarette rauchen, das war ich mir schuldig.
Das Aufblasen war qualvoll und es dauerte einige Intercitys und Güterzüge
länger als ich gedacht hatte, doch dann konnte ich stolz mein Werk betrachten.
Was einmal ein kleines, blaues Quadrat gewesen war, lag nun als über einen
Meter langer, glänzend blauer Delfin mit großen, aufgemalten Augen vor mir auf
dem Bett. Manchmal, dachte ich, wird man auch geboren, weil man leer und
aus Plastik ist und jemand einem netterweise seinen Atem einhaucht. Bei diesem
Gedanken hätte ich fast lachen müssen.
Nun hieß es keine Zeit vergeuden, was ich angefangen hatte musste ich auch
zu Ende bringen. Mit unerwartetem Schwung stand ich auf, löschte die Kerzen,
nahm den Delfin unter meinen Arm, wobei er leicht aufquietschte und verließ das
Haus.
Die Nacht war mild und klar. Auf der Brücke vor meinem Haus rauschten die
Lichter eines Zuges vorbei und wie jedes Mal versuchte ich mir die Reisenden vor-
zustellen, die um diese späte Uhrzeit ihrem Endbahnhof entgegenfuhren und was
der Sinn ihrer Reise sei. Und wie jedes Mal überfiel mich dabei eine merkwürdige
Mischung aus Fernweh und Einsamkeit. Vielleicht, dachte ich, liegt ja das Ferne
oft viel näher als das Nahe.
Aber im Moment hatte ich wichtigeres zu tun als mich mit derartigen Ge-
danken aufzuhalten. Ich unterquerte die Brücke, wandte mich an der Kreuzung
nach rechts und ging die großen Straße entlang, während ich den Delfin immer
wieder tätschelte und ihm Mut zusprach.
Ich ging durch die um diese Uhrzeit immer noch belebten Straßen der Stadt,
während ich die Passanten zu ignorieren versuchte, denn ich bildete mir ein, dass
sie mit dem Finger auf mich zeigten und über mich tuschelten, sobald ich an
ihnen vorüber war. Aber im Grunde war mir das gleichgültig und es stimmte
auch nicht. Nicht mal mit einem blauen Plastikdelfin unter dem Arm fiel man in
dieser Stadt auf.
Auf halben Wege traf ich plötzlich den Dreiviertelschluckspecht vor seiner
Tränke. Ich mochte den Dreiviertelschluckspecht wirklich gerne, aber im Moment
passte mir unser Zusammentreffen gar nicht. Er machte keine Bemerkung zum
Delfin, sondern drängte mich, mit in die Tränke zu kommen. Nur auf ein Bier, so
sagte er, na, komm schon. Ich willigte schließlich ein. Ich war höflich. Aber ich
war nicht begeistert. Es würde unnötige Zeit kosten.
Die Tränke war dunkel und verraucht und voller Menschen, die uns und den
Delfin ignorierten. Nichts brachte sie von sich und ihren Zigaretten und Bieren
ab. Ich ließ den Delfin nicht los, als der Dreiviertelschluckspecht von der Theke
wiederkam und mir eine kühle Flasche in die Hand drückte.
Erzähl mal, wie geht es dir, fragte der Dreiviertelschluckspecht freundlich und
hatte schon eine Zigarette im Maul. Er bot mir auch eine an. Ich würde zwar

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in Bedrängnis kommen mit Delfin, Bier und Zigarette, aber ich nahm an. Wir
rauchten. Mir geht’s gut, sagte ich, und dir? Kann nicht klagen, sagte der Drei-
viertelschluckspecht. Wir rauchten weiter. Und, fragte ich, als mir das Schweigen
zu lang und zu eng wurde, wann besäufst du dich endlich mal richtig? Er grinste
und zeigte dabei seine Zähne. Eine gute Frage, eine wirklich gute Frage. Mehr
sagte er nicht. Wir nahmen einen tiefen Schluck. Musik dröhnte. Wir schwiegen
wieder
Ich trat die Zigarette aus und mein Blick fiel in die lachenden, aber toten
Augen des Delfins, der immer noch unten meinem Arm klemmte und mir wur-
de ganz seltsam zumute. Es drängte mich. Ich hatte mich schon viel zu lange
aufhalten lassen.
Mit einem Zug leerte ich mein Bier. Du, ich muss mal weiter, sagte ich und
der Dreiviertelschluckspecht sah auf einmal etwas traurig aus. Sein Grinsen war
auf jeden Fall verschwunden. War schön dich mal wieder getroffen zu haben,
sagte er.
Mir war klar, wenn ich ginge, würde er hier weiter herumstehen und sich wie
jeden Abend zu Dreivierteln besaufen und er tat mir einen Moment lang Leid.
Aber ich konnte heute keine Rücksicht nehmen. Ein anderes Mal wieder. Ich
drehte mich um, um zu gehen. Du, hielt er mich auf. Ja, sah ich ihn an. Du hast
einen Delfin unter deinem Arm, sagte er. Ich weiß, sagte ich, ich weiß.
Ich setzte meinen Weg durch die Nacht fort und dachte eine Weile an den
Dreiviertelschluckspecht und dann nur noch an mein Ziel.
Je näher ich zum Fluss kam, desto kühler und frischer wurde die Luft. Meine
Schritte beschleunigten sich. Einmal wäre mir beinahe der Delfin unter der Armen
weg auf die Straße geflutscht. Aber ich reagierte schnell genug und rettete ihn.
Ich redete auf ihn ein und konnte ihn beruhigen.
Endlich tauchten die ersten gelben Lichter des Hafens zwischen den Häusern
auf. Bald darauf sah ich den Mond grinsend über den Docks hängen. Ein Wind
kam auf. Der Delfin freute sich. Ich freute mich mit ihm.
Nun dauerte es nicht mehr lange. Wir gelangten unten am Anleger an, der still
und leer dalag. Der schwarze Fluss ließ müde kleine Wellen kräuseln. Schweiß-
geräusche und das Heulen der Containerfahrzeuge drangen leise vom anderen
Ufer herüber. Sofort überfiel mich und den Delfin eine wohltuende Friedlichkeit.
Zum ersten Mal seitdem ich von zuhause fort war ließ ich den Delfin los, legte
ihn vorsichtig neben einen der gelben Stahlpilze am Rand des Pontons, die zum
Vertäuen der Schiffe dienten, und setzte mich selber auf das leicht kühle Metall.
Ich tätschelte den Delfin. Bald hast du geschafft, sagte ich.
Ich rauchte eine letzte Zigarette, während ich den Spiegelungen des Mondes
zuschaute, die auf dem Strom sachte tanzten. Dann erhob ich mich, nahm den
Delfin und hielt ihn mit beiden Armen vor mich. Mach’s gut, sagte ich, und warf
ihn ins Wasser.

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Eine Weile sah ich dem blauen Plastikdelfin nach, wie er langsam in die Nacht
hinausschaukelte. Dann ging ich beruhigt nach Haus.

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