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Erfahrungs- und Forschungsbericht nationale Denkmäler in Bulgarien

Yvonne Chaddé
Sommer 2006

Sofia befindet sich circa 550 Kilometer vom schwarzen Meer entfernt. Ich sollte diese Strecke
insgesamt sechs Mal in elf Wochen fahren. Vier Mal mit dem Bus und zwei Mal mit der Bahn.
Zumeist auf unterschiedlichen Routen. Mit der Bahn bedeutete das scheinbar endloses Warten an
Provinznestern oder Sonnenblumenfeldern, manchmal alkoholisiert und öfters mit jammernden
oder deklamierenden Alten und der Hoffnung auf fließendes Wasser, im Bus die übliche
schlechte Luft, die Pause an der Raststätte und drei schlechte Hollywoodfilme.
Wer schlau ist, steigt unterwegs aus.
Es war eine kluge Entscheidung, mein Praktikum in der bulgarischen Hauptstadt, weg vom
Massentourismus und einen Katzensprung vom Gebirge entfernt zu absolvieren.
Ich kam donnerstags im Ethnographischen Museum und Institut in der uliza Moskovska, genau
im Kern des touristischen Interesses eines Sofiabesuchers gelegen, an, nachdem ich mir per Fax
einen Termin beim Chef erbeten hatte.
Der Praktikumsplatz wurde mir durch einen Bekannten unserer Bulgarischlehrerin Frau H., der
beim Bulgarischen Institut in Berlin arbeitete, vermittelt, nachdem ich erfolglos einige
Ökofirmen, Tourismusschulen oder sogar Touristeninformationen im Landesinneren angemailt
hatte. Ich wollte es vermeiden, den Sommer in der Stadt zu verbringen, war aber froh, auf diesem
Wege so unkompliziert in eine Einrichtung zu gelangen, die meinem Beruf Kulturarbeiter nicht
zu entfernt stand. Der Direktor des Museums und Instituts empfing mich in fließendem deutsch,
was mich aufatmen ließ, denn ich hatte schon mehrmals meinen fleißig gelernten Satz „Ich habe
einen Termin mit …“ anwenden müssen und die dazu unverhofften Reaktionen erhalten, die
meinerseits mit großen fragenden Augen beantwortet wurden. Wir regelten die Formalitäten und
ich verschaffte ihm einen Überblick über meine Interessenslagen sowie ich meinerseits über die
Abteilungen. Mir würden bei Recherche und Fragen alle Türen offen stehen und ich war frohen
Mutes. Ich bekam eine Führung in Englisch über die aktuelle Masken- und regelmäßige
Trachtenausstellung, wurde dem Kreis der meist älteren Damen des Besucherdienstes vorgestellt
und der mürrischen Bibliothekarin und fing sofort an, mich mit Hilfe eines Buches über die
Folklore Bulgariens zu informieren.
Nach zwei langweilgen Tagen im Besucherdienst, machte ich mir allerdings Gedanken über ein
eigenes Forschungsthema und landete, weil sie so zahlreich vorhanden waren, schnell bei
Denkmälern und ihrer nationalen Bedeutung.

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Meine erste Wochenendexkursion ging nach Mezdra, zwei Stunden nördlich von Sofia in den
Ausläufern des Balkangebirges gelegen, wo ich mir am Bahnhof eine Baniza (Blätterteiggebäck)
und einen Schirm kaufte und auf einen Zug wartete, der mich zurück nach Sofia durch den
berühmten Iskardurchbruch bringen würde. Ich bedauerte, nicht mitten im Gebirge ausgestiegen
zu sein, schaute mir einige kommunistische Denkmäler und die Landbevölkerung an und übte
Vokabeln: Koga sledwaschtia wlak triagwa? (Wann fährt der nächste Zug?)

Ich fand meine Bilanz für die erste Woche gar nicht so schlecht. Ich war durchs halbe Land
gefahren, hatte mich schon in den ersten landessprachlichen Konversationen geübt, war bereits
drei Mal im Theater (und dabei blieb es auch) und mindestens ein Mal im Museum, war erfolglos
ins Vitoshagebirge aufgebrochen, hatte mir Gedanken über meine Arbeit gemacht und, nicht
zuletzt, war dem Achtbettzimmer im Hostel durch einen guten Tipp der Bibliothekarin des
Goethe-Instituts in eine hübsche kleine Dreizimmerwohnung unweit des Museums entkommen.
Damit hatte ich echt Glück. Mein Vormieter, ein belgischer Austauschstudent regelte mit mir und
meinem Vermieter die Formalitäten und durch ihn sowie meiner Nachbar-WG deutscher
Erasmusstudenten war mein soziales Umfeld weitesgehend geregelt.
Jene WG wurde natürlich zu meinem zweiten Zuhause und ich verbrachte viel Zeit mit meinen
wanderfreudigen neuen Freunden und innerhalb ihres Bekanntenkreises.
Sofia war für mich als Berlinerin recht leicht zu erfassen, zumal ich nicht in die Trabantenstädte
fahren musste. Meine Wohnung befand sich fünf Minuten vom großen Borisgarten entfernt, der
nach dem letzten bulgarischen Zaren Boris III. von Sachsen-Coburg-Gotha benannt war. Jener
genoss bis in die 90-er Jahre, als sich sein Sohn als Bürgerlicher zur Wahl stellte und damit viel
Hoffnung auf sich versammelte, Anerkennung, da er der letzte Monarch vor den Kommunisten
war, obwohl er den Staat autokratisch regierte. Er gilt als einer der Retter der bulgarischen Juden
vor der Auslieferung in die Todeslager (ohne das bemerkt wird, dass Juden in den von Bulgaren
besetzten Gebieten ausgeliefert und einheimische Juden in Arbeitslagern interniert wurden). Der
Borisgarten wurde meine Oase in der Stadt. Ich besuchte ihn regelmäßig, zum Einen, da er mir
als Forschungsgebiet diente - die Stadt versammelte dort viele männliche Bürger in Stein
gemeißelt oder in Eisen gegossen auf Säulen platziert zum Andenken sowie das
Partisanendenkmal, zum Anderen drehte ich dort sportiv meine Runden oder nahm meine
Bücher dort hin zu den Vögeln, Eichhörnchen, herrenlosen Hunden, den vielen Kindern,
verliebten Pärchen und flanierenden Senioren. Wenn es dunkel wurde, versammelte sich dort die
Jugend im Lodki auf ein Bier. Mein zweiter Lieblingsort wurde die Bibliothek des Goethe-
Instituts. Später befreundete ich mich mit der auskunftsreichen Bibliothekarin.

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Auf das zweite Wochenende fiel mein Geburtstag. Dort bestieg ich das erste Mal einen richtigen
Berg und hatte eine Woche lang Muskelkater. Ich aß Schopska und trank Rakia mit meinen
neuen Freunden. Von einem Telefonapparat in einer Videothek sprach ich mit meiner Mutter,
die auf der Ostsee rumschipperte.
Meine Arbeitswoche gestaltete sich unvorhergesehen. Ich benötigte dringend einen Zahnarzt und
landete durch einen Mitarbeiter des Instituts bei einer sehr lustigen Frau mit Brille und großen
Zähnen, die mir dank ihrer zwanzig Jahre alten Englischkenntnisse, durch unauslöschlichen
Humor, viel Wissen, unvernünftige Offerten („Wollen Sie Eiskrem?“) und alten Geräten, die
mich an meine Kindheit erinnerten, die Angst vorm Zahnarzt nahm. Dort ging ich für die
nächsten drei Wochen alle zwei Tage hin und lernte viel über das bulgarische Leben. Den Rest
der Zeit verbrachte ich über Büchern oder dem Stadtplan, um mich in ungünstig gelegene
Museen zu manövrieren. Am schönsten wars auf der Terasse des ehemaligen
Präsidentenwohnsitzes am Fuß des Vitoshas, wo ich mich etwas von den dort untergebrachten
Exponate des nationalen Geschichtsmuseums erholte.
Dazu fand ich den Weg über die Denkmäler zur bulgarischen (nationalen) Identität. Woran sollte
sich der Bulgare erinnern, wessen sollte er gedenken und in welcher Form wurde dieses
Gedenken angeregt? Das waren eben die zahlreichen nationalen und regionalen Museen, die ein
bestimmtes Bild der bulgarischen Geschichte (als ein Träger der bulgarischen Identität)
vermittelten, als auch Denk- oder Mahnmale. Ich konzentrierte mich auf die Zeit der nationalen
Wiedergeburt, so wird die Epoche der Unabhängigkeitsbewegung Bulgariens (von der
osmanischen Herrschaft) im ausgehenden 18. und dem 19. Jahrhundert gemeinhin bezeichnet.
Ich hatte über Nationswerdung bereits in der baltischen Region geforscht. Dieser Zeit wird im
bulgarischen nationalen Bewusstsein eine große Bedeutung beigemessen. Die bulgarische
Identität präsentierte sich in den Museen anhand folgender Themen: thrakische
Kulturerzeugnisse, um eine möglichst zivilisierte, alte Herkunft abzuleiten, Herrschergeschichte
(um die lange Tradition bulgarischer Staatlichkeit zu beweisen), orthodoxe Kirchengeschichte
(des christlichen Europas und da der Kampf um eine eigenständige Kirche den
Unabhängigkeitskampf maßgeblich trug), Territorien, die geschichtlich wechselnde
Staatszugehörigkeit hatten, Folklore als Brücke zwischen urbaner und rural geprägter Kultur und
Krieg. Der bulgarische Volksheld war daher oft ein Held des Kampfes und des Widerstandes, der
für ein höheres Ziel ungerechterweise gefallen war und dem die bulgarische Nation lange Zeit
ihre Existenz mitschuldete. Nachdem ich diese Thesen aufgestellt hatte, war ich bemüht, in die
Regionen zu fahren, die mit dem bulgarischen Befreiungskampf gegen die osmanische Herrschaft
verbunden waren, als auch in den Orten, die ich touristisch besuchte, auf Denkmäler und neuere
geschichtliche Phänomene zu achten.

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Später erweiterte ich mein Forschungsinteresse auf die Denkmäler, die anlässlich der
Feierlichkeiten zum 1300-jährigen Bestehen des bulgarischen Staates 1982 erstellt wurden, da
Bulgariens Politik unter dem kommunistischen Regime starke nationale Züge trug.

Besonders waren für mich immer die Momente, in denen mir bewusst wurde, dass ich in
Bulgarien war. Recht am Ende meines Aufenthaltes war es nachts in einem Bergdorf 15
Kilometer vom Kloster der sieben Altäre, wo nur zwei Mal am Tag der Bus fuhr inmitten einer
rakiatrunkenen Feier an einem Tisch mit drei Opas, einer Oma, einer Familie, zwei bulgarischen
Bekannten und meinen Freunden B., die gut Bulgarisch sprach, und Celine, die zu Besuch war.
Ich scherzte und lachte und dachte bei mir, wer hätte das vor einem Jahr vermutet?
Einen dieser Momente hatte ich auch das Wochenende nach meinem Geburtstag in Bansko, ein
idyllisches Städtchen herrlich an den Eingang zum Pirinnationalpark an einen schneebedeckten
Gipfel gebaut, beliebtes Skigebiet und derzeit übersät von Baustellen, die sich nur im
Stadtzentrum mit seinen weißen Widergeburtshäusern, romantischen Gassen und seiner
imposanten Tschitalischte (Lesestube) vergessen lassen, inmitten junger, lachender und
scherzender Linguistinnen. Ich war zum Auftakt einer Pirinbergwanderung mit besagten
Wanderfreunden bei einem Kulturgeschichteseminar gelandet, dass bequemerweise dort in einem
Viersternehotel abgehalten wurde. Neben der Bildung konnte ich also Landeskunde betreiben
und war sichtlich beeindruckt, dass zu alten Diskohits aus der Heimorgel wie selbstverständlich
Choro (südosteuropäischer Kreistanz) getanzt wurde. Oben auf dem Berg spürte ich in meinen
puddingweichen Knien die Höhe und all die Freude, die Felder voller lila Krokusse, so viele
Schmetterlinge, das Rutschen auf Schneehängen und das Hineinfallen in Bäche und der
unendlich volle Sternenhimmel in mir auslösten. Berge sind toll!

Das Wochenende darauf eine Nacht (und ich wusste, ich würde es hassen) mit dem Zug ans
nordöstliche Ende Bulgariens („Hier sieht’s ja aus wie in Brandenburg.“) nach Silistra gefahren,
wo sich die Einheimischen betont über unsere Sprachkenntnisse freuten (obwohl ich antwortete:
dem Tier (zhiwotno) geht es gut und das Leben (zhivot) meinte) und ich verwirrt in die Donau
starrte, die ich mir so unglaublich vorstellte und die mich mit Ruderboot und Datsche an einen
wasserreichen Berliner Vorort erinnerte, wo’s stank.
Wandern in 36 Grad auf einer Schotterstraße mit Schlangenkadavern. Ich stank inzwischen nach
der Zugnacht auch, bekam Fieber und verlor meine Stimme. Meine Mitwanderer verloren die
Geduld, denn ich wollte nicht im Zelt schlafen (noch eine Nacht ohne Dusche). In einem
idyllischen Dorf mit Naturschutzparadies für Pelikane Srebarna las mich eine Lehrerin mit
autoritärer Tendenz auf, strapazierte mein Bulgarisch und meine Gesundheit und vollzog an Baba

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Riba (Oma Fisch) Folklore. Ich machte Fotos. Wir aßen Fisch und fragten uns (rhetorisch),
warum alle im Dorf stolz erzählten, dass ihr Ort rein, dass heißt ohne Ausländeranteil sei. Die
Dobrudscha, in dessen Gebiet Silistra fällt, war 1940 für 27 Jahre noch Rumänien zugehörig und
zeichnete sich im Jahrhundert davor durch seine hohe ethnische Vielfalt aus.
Ich kam bei Engländern in einer Pension mit Dusche und Kamillentee unter. Der Ausflug endete
erfreulich mit Blick auf kreisende Pelikane, Bier und Eiskrem. Ich war glücklich, weil uns die Ufer
der Donau den Weg abschnitten und ich 10 Kilometer weniger wandern musste.
Von dort aus zog ich allein weiter, denn ich befand mich ja nur zwei Stunden von Varna entfernt
und wollte meine Kollegen besuchen. In Varna kam ich bei einem Mann unter, der seine
Wohnung privat untervermietete (und den ich immer wieder bei allen Besuchen dort am
Busbahnhof traf: „Du musst allen Deinen Freunden von mir erzählen, wir sind doch Freunde!?“),
denn der letzte Bus nach Balchik war weg und ich aß mit seiner gebrechlichen Mutter Banane. Sie
erzählte mir Geschichten, die ich nicht verstand. (Mittendrin fragte sie mich: „Du verstehst nicht
alles, oder?“, ich grinste.) Ich dachte, sie hielt mich für blöd, weil ich wie gewohnt bei Bejahen
nickte, was in Bulgarien Ablehnung und Verneinen bedeutete und noch nicht gelernt hatte, mit
dem Kopf zustimmend zu wackeln. Zudem hatte ich inzwischen gar keine Stimme mehr. Ein
paar Tage später, nach ausführlichem Erholen und wissenschaftlichem Erkunden der Balchiker
Kultur und der Albener Verhältnisse .
Ein paar Tage später, nach ausführlichem Erholen und wissenschaftlichem Erkunden der
Balchiker Kultur und ihrer Denkmäler sowie der Albener Verhältnisse, brach ich zur Exkursion
in den Norden nach Ruse auf. Eigentlich wollte ich perverserweise den abgetrennten Schädel von
Stefan Karadzha, den Baba Tonka, die Mutter der Befreiungsbewegung im Norden Bulgariens,
die sogar in den Erzählungen Ivan Vazovs auftaucht, weil sie Vasil „den Löwen“ Levski
versteckte, nach der Vollstreckung seines Todesurteils auflas und der laut Reiseführer in ihrem
Haus beherbergt sei, sehen, doch jenes wurde renoviert. Im Pantheon der Widerstandskämpfer
stand ich vor ihrem Grab, dem ihrer Angehörigen und der weiteren bedeutenden Kämpfer und
danach mal wieder an der Donau. Obitscham Ruse, damit warb der Kandidat der
Kommunalwahl und ich liebte es trotz seiner horrenden Preise auch. Über Veliko Tarnovo -
gegenüber dem Zarendenkmal hörte ich die Frösche quaken - wo ich endlich den
Originalvorlagen für die Bebilderung Levskis und Karadzhas entgegentrat und zudem 90 Prozent
aller Denkmäler analysierte und dokumentierte und an einem Kiosk mit dem Verkäufer das
Viertelfinale anschaute, kam ich nach Gabrovo. Dort stand ich verzweifelt vor der
Touristeninformation, die nur wochentags geöffnet hatte, aß einen halben Bäckerladen leer und
bestrafte alle Denkmäler mit Nichtachtung. Später ärgerte ich mich. Auch darüber, dass ich mal
wieder nicht unterwegs austieg, wie zum Beispiel in Drjanovo, Geburtsort des bekanntesten

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Brückenbauers Bulgariens, Koljo Ficheto, dem auch mindestens ein Denkmal gestiftet wurde, um
ins Gebirge hineinzuwandern zum gleichnamigen Kloster. Viele bulgarische Klöster fungierten
als konspirative Orte der Versammlung und zum Verbergen von Aufständischen, soweit sie
Ärger mit den osmanischen Behörden riskierten und sind daher nicht nur kirchengeschichtlich
interessant, sondern Zeugnisse der Wiedergeburtszeit. Mit einer Wanderkarte ausgestattet, die ich
mir aus Verzweiflung über die schlechte Informationslandschaft in der Stadt kaufte, stieg ich in
Gabrovo in Buslinie 1 zum Museumsdorf Etara und war zwar angesichts der ländlichen Gegend
entzückt, vom Konsumverhalten der Besucher und von der Butzelhaftigkeit der dargebotenen
Folklore, die dieses anregte, wenig begeistert. Endlich identifizierte ich das Haus mit den bunten
Teppichen über der Terrassenbrüstung, mit dem die bulgarischen Dorftourismusanbieter warben.
Ich lief bergauf ins Sokolskikloster und stand an einem der schönsten Orte der Welt. Ich
überlegte zum ersten Mal, ob ich mein Leben auch der Kirche weihen wollte, wenn ich dann an
einem solchen Ort sein durfte mit Blumenpflege und Studium. Über der Tafel im Speisesaal hing
ein Portrait von V. Levski, was mich schmunzeln ließ. Euphorisch brach ich mit der Wanderkarte
in der Hand zum Shipkapass, Schauplatz bedeutender Kampfhandlungen zwischen der
russischen und osmanischen Armee, die die nach Norden stürmenden „feindlichen“ Truppen
aufhielten, was den endgültigen Schlag unter Skobelevs Führung in Pleven begünstigte und was
man als Motiv in jedem dritten Denkmal nachschauen konnte, auf. Ich wollte unbedingt das
Shipka-Denkmal, zwischen 1926 und 1929 von Spenden der bulgarischen Bevölkerung gebaut,
anschauen und stand 12 km später auf dem Nachbarhügel an einer Straße – es begann zu regnen
und der Tankstellenwart meinte, Sonntag Nachmittag käme weder ein Bus, noch würden sich die
Eingangstore öffnen. Er hatte recht und ich musste mit einem türkischen LKW trampen, dessen
Fahrer, wie mir erst später klar wurde, immer dann, wenn ich gar nichts verstand, nicht
bulgarisch, sondern türkisch sprach.
Das Denkmal sah ich später noch einmal von Süden aus, wie es in einer Reihe mit den höchsten
Gipfeln des Balkans neben dem riesigen Denkmal für die Gründung der bulgarischen
Sozialdemokraten 1891 stand, als ich mit dem Zug nach Kalofer, sechs Fußstunden vom
höchsten Berg des Stara Planina entfernt und Geburtsort Christo Botevs, der anderen
bedeutenden Persönlichkeit Bulgariens, fuhr.
In Kazanlak war ich der Kultur dann schon müde, informierte mich über urbanes Leben im 19.
Jahrhundert, erkundete das historische Museum und die thrakische Grabkammer und fragte
mich, wie sie es für die Aufnahmen im Beadeker schafften, dort fünf Personen
hineinzubekommen, denn für ein Leben nach dem Tod (so der thrakische Glaube), war es ganz
schön eng. Über das Mittelgebirge fuhr ich nach Stara Zagora, die einzige Stadt Bulgariens mit
geraden Straßen, was einen betrunkenen Heimweg erleichtern würde, aber ich sah nur den

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Bahnhof. Als ich knapp drei Tage vor meiner Rückreise über Kalofer und Kazanlak, wo ich
obligat noch mit meinen Freundinnen das Rosenmuseum beschaute (und wir uns die ganze Zeit
fragten, wo das eigentliche Museum sei; meine Freundin wurde vom Wachpersonal daran
gehindert ins Roseninstitut zu gelangen und entschuldigte sich mit den Worten: aber ich will
doch nur etwas über Destillation lernen) wieder in Stara Zagora war, befand ich mich unter 400
Roma, die auf einer ostigen Parkbühne Chalga (Balkanpop) zelebrierten und versuchte mich im
Hüftschwung.
Die nächsten Wochen in Sofia verbachte ich mit viel Lesen und der Erkundung des nahen
Umlands. Freunde machte ich daneben auch. Nach sechs Wochen Praktikum trat ich erneut den
Weg zu einer Exkursion an, um nördlich des Balkans, entlang der Eisenbahnstrecke die Städte
Pleven und Shoumen zu besichtigen. Pleven wegen seines Panoramas „Plevener Epopöe 1877“,
welche sehr plastisch die bedeutende vierte Plevener Schlacht nachstellte und nicht vor
Theaterrequisiten Halt machte (erstaunlicherweise befanden sich auf dem nachempfundenen
Schlachtfeld nur osmanische tote Dummies). Pleven, die Stadt der Kanonen, war ein Paradies für
Kriegsdenkmalfreunde und ich war inzwischen so gut in das Thema eingeführt, dass ich diesen
Besuch sehr genoss. Neben den berühmten schönen Frauen dort (was sich bewahrheitete und
dem höchsten Kinderquotienten, wie ich feststellte), bot Pleven eine der hervorragendsten
Sammlungen historischer Museen im Land und war vorbildlich auf seine Geschichtsträchtigkeit
abgestimmt.
Dann wieder Küste: Balchik und Albena inzwischen altbekannt. Meine Kollegin ermöglichte mir
einen Ausflug nach Nessebar. Wären all die Menschen weg, wäre es dort sehr schön. Wir
besuchten unsere Landeskundelehrerin in ihrer Heimatstadt Burgas zusammen mit zwei anderen
Kollegen, die das Vogelparadies umsorgten. Viele Mücken und viele Geschichten gegenüber dem
Lichterhafen von Burgas lassen den Abend in Rakia ausklingen. Wir erhalten eine vorzügliche
Führung samt Vogelbeobachtung („Und wo hängt jetzt der tote Kormoran?") und lassen uns von
einem Verrückten im öffentlichen Bus zurück nach Varna fahren.
Nächsten Tag fuhr ich bei Hitze bis Shoumen und brach sofort zum, auf dem Naturreservat
Shoumener Plateau befindlichen und dreißig Kilometer sichtbaren Denkmal der „Gründer des
bulgarischen Staates“ auf. Dieses brannte vor Bedeutsamkeit und symbolischer Anspielung. Das
erste Mal, dass ich einen Berg via Treppen bestieg. 1300 Stufen in circa 12 Minuten. Oben
angekommen, notierte ich: „Hier oben schallt es! Mein hört jeden Flügelschlag der Mauersegler.
Mein erster Gedanke: Mein Gott, ist das hässlich! Kein Wunder, dass sich der Mensch gewaltig
klein fühlt, er ist nach einer viertel Stunde Treppensteigen gut darauf vorbereitet. Andere
erreichen kichernd wegen Erschöpfung den Komplex. Ein Wind weht. Wenn das hier der
bulgarische Staat war, möchte ich nicht dabei gewesen sein. Alles wirkt zornig, ruppig und leblos

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mit durchstochenen Pupillen und eingefallenen Oberkörpern wie böse Actionfiguren. Allein die
Vögel und Besucher machen Sinn. Ein grausamer Löwe sitzt über Shoumen zum Sprung bereit.
Holde Ernsthaftigkeit.“ Ich labe mich unten in der Stadt an der leckersten Baniza, mir geht die
Schreibunterlage und der Fotofilm aus und ich checke im 1980 noch hochmodernen Hotel am
Ende des Boulevard Slavjanski ein, muss eine Stunde schlafen und laufe dann unbemerkt
systematisch an allen Öffnungszeiten der wichtigen Museen vorbei. Barfuß stehe ich in der
größten Moschee Bulgariens und eine Stunde später wieder vor den Staatsgründern, um durch
die Sommerfrische zur abgelegenen Festung zu gelangen. Auch die fand ich nicht, dafür die erste
Frau im Heldenkanon der Säulenheiligen im Stadtpark.
Plötzlich von Shoumen aus bekam ich Heimweh nach Sofia und fuhr heim und beschäftigte mich
drei Tage mit Büchern und am Wochenende lud mich mein Bekannter ins nahegelegene
Gebirgsdorf Zhelen ein, um einen Ökobauernhof zu besuchen, das war sehr hippiesk, aber
trotzdem unvergesslich, da ich unter dem Sternenzelt nächtigte und Sternschnuppen sah und fror
und seltsame Geräusche hörte.
Dann fragte ich Frau K.: „Nun, bin fuer eine Woche zur Gebirgswanderung ins Rila eingeladen
mit Dauerdraussennaechtigung und nehme dieses Angebot unter der Ausrede "naehere
Tourismusforschung" an und hoffe, dass dies mein Praktikumsplan anerkennt (?!), weil ich das
sonst niiieee mehr machen kann und ich hoffe, dass die Schuhe und die Blasenflaster und mein
neuer Schlafsack halten.“
Wer sollte wissen, dass meine Wanderbegleiter meine liebsten Gefährten und Zhelen mit seinen
Bergen, Quellen und Pferden der liebste Ort werden würde?
Endlich sah ich das Rila-Kloster. Wir fuhren zu neunt in einem Mazda Kleinbus, der nur aus
Liebe zu uns noch funktionierte, in das Gebirge hinein und versorgten uns im letzten Ort vor der
Tourismushochburg mit frischem Gemüse. Es gewitterte böse und wir kicherten über Melonen
und Bier, die im örtlichen Brunnen lagerten. Der Besuch des Klosters war sehr lohnenswert,
obwohl ich das Herz des Zaren Boris, welches die Klosterkirche als Heiligtum aufbewahrte,
vergaß, weil ich mir die äußerst amüsanten Darstellungen frevelhaften Lebens, der Hölle und der
Versuchungen anschaute („This is a church cartoon, isn’t it?“). Ich dachte bei mir, dass dies ein
wahrer Pilgerort sei – Bataillone von Rucksäcke warteten auf ihre Besitzer und ich war aufgeregt
wie in junges Pferd vor dem Start, nun endlich in die Berge zu kommen. Zu siebt vier Stunden
Aufstieg durch dunkle Wälder, lichte Wälder und duftendste Kräuterwiesen, bis wir einen ebenen
Schlafplatz fanden, ein pferdehütender Roma wies den Weg zu einer Quelle und machte mit fünf
von uns für den nächsten Tag ein Geschäft („Ich fühlte mich wie Marlboro-Man!“), als diese auf
Pferderücken mit geschenktem Rakia den Gebirgsgrat entlangtapperten. Ich lief sechs Stunden
entlang grüner Wiese mit blauem Himmel, was mir ein bisschen öde wurde zu den sieben Seen,

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die diese Langeweile wettmachten. Wir zelteten wie in einem Werbeprospekt für Outdoorfirmen
und badeten im eiskalten, glasklaren Wasser. Den nächsten Tag schafften wir den Abstieg
Richtung Maljowitza und freuten uns am Ende des Tages am Rande des Naturparks über ein
kaltes Bier und Selbstgebrannten. Den Nachmittag darauf warteten wir mit der besten
Versorgung seit Tagen auf einen Bus, schnatterten mit der Dorfbevölkerung, weinten den Bergen
nach und trampten („Ach, DAS war der letzte Bus?“) von Samokov nach Sofia. Immer noch
Ferienlagerstimmung. Dann Plovdiv: Birthe kannte einen Mitarbeiter des Bulgarischen
Fernsehens, der in der Altstadt wohnte. Auf einem der drei Plovdiver Hügel konnte ich meine
neuen Freundschaften pflegen und gen Norden in eine sozialistische Vorstadt und gen Süden in
eine orientalische Altstadt schauen. Mitten in der „Großstadt“ verbrachten wir die ruhigste
idyllische Zeit auf der Terrasse eines dreihundert Jahre alten Holzhäuschens, denn mich nervte
das zweitausend Jahre alte Straßenpflaster vor der Haustür, also blieb ich ihm fern.
Mich zog es in die Rhodopen und ich saß einen Abend später auf dem Balkon einer
Privatpension der kleinen Stadt Tschepelare zwei Stunden südlich von Plovdiv bei Gewitter und
Nebel und freute mich auf die bevorstehende Wanderung nach Shiroko Laka. Drei Omas, die ich
nach dem Weg fragte, gaben mir Gottes Schutz mit auf den Weg und warnten mich vor
gefährlichen Schäferhunden (und Bären?!) und auf meiner sechsstündigen Wanderung betete ich,
dass mich dieser Schutz auch nicht verlassen würde …der Schäfer holte seinen raubtierhaften
Köter noch zurück. Im typischen Regen besuchte ich abends das zweitwichtigste Kloster
Bulgariens, hatte mein Plansoll also erfüllt und nächtigte in Plovdiv im lautesten und
unbequemsten Hotel der Stadt, was mich zum Lachen brachte. Morgens suchte ich das
historische Museum, dass sich bis heute vor mir versteckt, aß die zweitleckerste Baniza nach
Shoumen, nahm mir den ethnographischem Museum Vorlieb und bemerkte, dass ich mich nun
schon ganz gut in Plovdiv auskannte.
Die letzten Wochen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Zhelen, Heimatgefühl und Abschied.
Viele spontane Ausflüge ins Balkangebirge, die näheren Einblick in den alternativen Tourismus
boten, noch mehr Nächte am Lagerfeuer und im Zelt und fünf Akademiker, die mit der
Spitzhacke Zu- und Abwassergräben für ein Häusle in die Schiefer hauten. Einige Waldläufe, von
denen der durchschnittliche Stadtjogger nur träumte. Ich spazierte für gewöhnlich zwei Mal am
Tag ins 50 Minuten abgelegene Dorf, um den Einkauf zu erledigen („Haben Sie heute Brot?“),
denn ich wollte mich nach Tritt und Biss nicht um die Pferde kümmern. Schokolade gab es nie,
aber viele Konserven. Mein Kulturarbeiterstudium zahlte sich aus, denn ich konnte meine
Jugendtheaterprojekt organisierenden Freunde gut beratschlagen. Ich fühlte mich so zu Hause,
dass ich nicht zurück in die Stadt wollte. Ich wusste, warum ich schon am ersten Wochenende
genau dort aus dem Zug aussteigen wollte. War ich in der Stadt, vollendete ich die letzten

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Denkmalarbeiten. Am letzten Tag in Zhelen, das eine Bahnstation neben der „Schokoladenstadt“
Svoge gelegen war, fragte mich der freundliche alte Nachbar: „Kennst Du die Geschichte
„Väterchen Jotzo schaut“ von Ivan Vazov?“ Zufällig hatte ich sie Wochen vorher gelesen und sie
beeindruckte mich sehr, weil sie die bulgarische Identität anhand von Merkmalen wie
Verwaltung, Militär und technischem Fortschritt zu greifen versuchte, also alles Gebiete, die sich
vor der Bulgarischen Unabhängigkeit in osmanischer Zugehörigkeit befanden. Sie handelte von
einem erblindeten Alten in einem abgelegenen und von Information und Bildung
abgeschnittenen Bergdörfchen zu Zeiten der Erbauung der Eisenbahnstrecke entlang des Iskar-
Durchbruchs. Ich dachte mir, dass es irgendwo da spielen musste, wo ich den Balkan selbst
kannte. „Nun, (wir standen an der Bahnstation von Svoge und er zeigte etwas nördlich auf einen
Hügel), genau hier hat Vazov die Inspiration für die Geschichte erhalten.“

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