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Kultur Dokumente
Masterstudiengang
Angewandte Kultur- und Medienwissenschaften der Hochschule Merseburg (FH)
Prof. Dr. Matthias Ehrsam:
Modul 3/1 Medienforschung II
Leipzig, März 2009
Kulturnation Deutschland
Über eine Rede des Bundespräsidenten Horst Köhler
„Die wichtigste Funktion der Kultur ist es, sich als Selbstverständnis zu geben.“
(Gürses 2003: 29)
Einleitung
Die Feierlichkeiten zum 18. Jahrestag der Deutschen Einheit, die 2008 mit einem dreitägigen
Bürgerfest in Hamburg, veranstaltet wurden, waren erstmals unter ein Motto gestellt.
Diesem Motto „Kulturnation Deutschland“ widmete sich das Staatsoberhaupt der
Bundesrepublik Deutschland Bundespräsident Horst Köhler in seiner Ansprache „Wo wir uns
finden“ beim Festakt am 3. Oktober 2008, der im „Theater am Hafen“ mit 1200 eingeladenen
Gästen abgehalten wurde. Der Festlichkeiten wurden durch einen ökumenischen Gottesdienst
eingeleitet.
Als erlebbares Event präsentierte die Stadt „Deutschland als Kulturnation (…): Wie ein roter Faden
führte das Thema Kultur durch die dreitägige Feier und wurde von allen Bundesländern auf der 1.400 Meter
langen Ländermeile aufgegriffen. (…) Berlin [war] mit dem Kabarett-Theater Distel zu Gast, im Rheinland-
Pfalz-Pavillon stellten sich die Nibelungen-Festspiele Worms vor und Bayern sorgte im Bierzelt für
Oktoberfeststimmung. Erstmals gab es zum Tag der Einheit eine Barkassenparade durch die Fleete, bei der die
einzelnen Bundesländer jeweils eine Barkasse mit regionaler Musik und modernen Inszenierungen füllten.“1
1 NDR: Festakt zum Tag der Deutschen Einheit; http://daserste.ndr.de/reportageunddokumentation/festakt100.html (Stand: März 2009)
Wie Max Fuchs darauf hinweist, ist die „Beeinflussung der öffentlichen Aufmerksamkeit und Meinung“
(Fuchs 2008), also die diskursive Setzung von Leitformeln und Problemen im öffentlichen
Bewusstsein, ein Instrument der strategischen kulturpolitischen Steuerung.
Welche Funktion erfüllt die aktuelle Platzierung der Kulturnation?
Der Begriff Kulturnation wird heute für ethnisch oder kulturell homogene Völker ohne
territoriale oder staatliche Einheit verwendet (Weigel 2008) und drückte bei seiner Einführung
durch den Historiker Friedrich Meinecke 1907 die Inkongruenz zwischen staatlicher Verfasstheit
und kultureller Identität im Deutschen Reich aus.
Die Nation ist eine Erfindung der Moderne, die im gesellschaftlichen Wandel begriffen, für viele
Bevölkerungsgruppen einen Zusammenhalt schaffen sollte, da vorhergehende religiöse,
ständische oder monarchische Sinnzusammenhänge ihre Wirkung einbüßten. Formte sich der
Willen zur Nation aus einem bestehenden Staatsgebiet (Staatsnation), wie im Falle Englands oder
Frankreichs, halfen staatliche Institutionen bei der Vereinheitlichung. Andere beriefen sich auf
gemeinsame Abstammung und kulturelle Gemeinsamkeiten, was eine Produktion von nationalen
Kulturgütern zur Folge hatte, mit dem Ziel innerhalb der Grenzen jener Kulturgemeinschaft
einen Staat zu errichten.
Geier weist diese Zusammenhänge ausführlich in seinem Buch ‚Hegemonie Nation’ nach.
Die Nation als ideologisches System zu verstehen, darf seine Wirkungsmacht in der Realität nicht
unterschätzen. Das „vorausgesetzte Kollektiv“ (Bielefeld 1998: 426), welches der nationalen Idee zu
Grunde liegt, muss geschaffen werden. „Schrift, Rede, Bild und Stimme schaffen gemeinsam mit den
konkreten Organisationen und Institutionen Schule, Heer, Bildung, Wahlrecht die Vorstellung der Einheit.“
(ebd.) Wird die Nation mit Ziel der Bildung eines Nationalstaates konstruiert, so kann sie ihre
integrative Funktion erst in staatlicher Gestalt ausüben. Die Arbeit an der Nation ist somit eine
fortwährende, um eine „affektive Bindung“ (Geier 1997: 134) seiner einzelnen „Mitglieder“ durch
nationale Liturgik, symbolische Verankerung in einem Formalisierungs- und
Ritualisierungsprozess herzustellen und zu rekonstruieren. Die erfundenen Traditionen, wie
Hobesbawm treffend formuliert, werden mittels Schulbücher, Tänze, Lieder oder mit Hilfe neuer
Symbole wie Nationalflagge oder Nationalhymne praktiziert. Zusätzlich können vorhandene
Materialien für die Konstruktion eines neuen Typs (Hobesbawm 1998: 104) modifiziert und
3 Als Wiederentdecker ist hier fairerweise Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin zu erwähnen, der 2005 die Kulturnation heraufbeschwor.
4 Über nationales Empfinden der Deutschen beispielhaft Bettina Westle (1999): Kollektive Identität im vereinten Deutschland, Opladen
Exkurs: Integration und Abgrenzung oder das Kulturelle als Substrat der Nation
Die konstruierten Nationen beruhen alle auf einem Mechanismus: etwas Eigenes, das die Nation
nach innen verbindet und nach außen abgrenzt, zu betonen. Die Idee der Nation basiert auf der
Annahme, dass eine bestimmte Eigenheit, die eine Nation von der anderen unterscheidet, durch
bestimmte Merkmale nachgewiesen und ausgedrückt werden könne. Fast jede Nation versucht,
durch bestimmte kulturelle Formen, geschichtliche Ereignisse oder gemeinsame Sprache,
ihre Existenz nachzuweisen. Je weiter sich diese Existenz in die Vergangenheit verfolgen ließe,
desto glaubwürdiger sei sie bestätigt. Sodann kann die Forderung nach politischer
Selbstbestimmung in Form des Nationalstaates nach außen gerechtfertigt werden. Nach innen
muss gleichermaßen ein Zugehörigkeitsgefühl zur Nation ausgebildet werden, so dass die
politischen und gesellschaftlichen Veränderungen von allen Gesellschaftsteilen mitgetragen
werden. Die Idee der Nation muss so in das Bewusstsein der Menschen verpflanzt werden, dass
sie ihnen als etwas ganz Natürliches und Selbstverständliches erwachsen würde. Eine kulturelle
Einheit nach scheinbar objektiven Kriterien vermittelt den Eindruck, eine Nation sei nicht nur
anhand dieser Merkmale bestimmbar, sondern auch zugleich Ergebnis dieser objektiven
Einflüsse. Sie entbindet den Einzelnen aus der subjektiven Entscheidung einer Zugehörigkeit.
"Kulturnation - Gemeinschaft von Menschen, die sich aufgrund ihrer Lebensweise, Sprache, Geschichte, Kunst,
Religion o.ä. einander zugehörig fühlen, auch unabhängig von Staatsgrenzen und Herkunft. Der Gedanke einer
deutschen Kulturnation kam Mitte des 18. Jh. auf; lange bevor der erste deutsche Gesamtstaat 1871 gegründet
wurde." (Bundeszentrale für politische Bildung 2008: 31), lautet die lexikalische Definition heute
und entschärft das ethnozentrische Prinzip.
7 Wolf macht darauf aufmerksam, dass das Konzept des „Volksgeistes“ durch die Faszination des deutschen Bildungsbürgertums an der griechischen Antike angeregt
war, vornehmlich durch J. J. Winckelmanns Propagierung des hellenistischen Volksgeistes („paideia“). In dieser Betrachtung wurde Hellas als ganzheitliche,
vollkommene Kultur wahrgenommen und als Vorbild für die deutsche Kulturentwicklung. Wolf bezeichnet die „Leitidee eines ideellen Holismus“ (Wolf 1993: 341) als
konstitutiv für das Kulturverständnis deutscher Intellektueller des 19. Jahrhunderts. (ebd.)
„Die kulturelle Kommunikation verdichtete sich in dem Maße, wie sie sich verschriftlichte.“
(Weichlein 2002: 19)
Literarische Produkte bewerben eine "Imagination der Gesellschaft" (Geier 1997: 66) wie sie von
einer gesellschaftlich isolierten gebildeten Elite entworfen wird, die ihre politische Isolation zum
Ideal der Individualität stilisiert und politische Gestaltungskraft im Sinne "patriotischen
Tugenddienstes" (ebd.) entbehrt8. Georg Schmidts Kritik an Meineckes unpolitischer Fundierung
der Kulturnation verweist auf eine bis in das 16. Jahrhundert zurückreichende Tradition
konkurrierender Nationalkonzepte, die sich zum einen auf die Sprachgemeinschaft und zum
anderen auf das Reich berufen.9 Die Rückverlagerung der nationalen Bewegung in die Zeit der
Religionskriege wird auf dem Wartburgfest der Burschenschaften angeregt.
"(...) 1817 [zur 200 Jahrfeier der Thesenanschläge; Anmerkung der Autorin], da jetzt Luther zum
deutschen Helden und zum bürgerlichen Idealtypus avancierte – oft prachtvoll inszeniert in Festumzügen und
8 Kallscheuer und Leggewie versuchen das Dreiphasenmodell der Nationalbewegung von Miroslav Hroch auf Deutschland zu übertragen:
Es gilt allgemein:
Träger dieser Bewegung sind Intellektuelle, die Sprache, Volkslieder, Bräuche, und Sitten einer ethnischen Gruppe in einem bestimmten Gebiet studierten und
popularisierten. (A)
Die Ausweitung der Kulturgemeinschaft zur nationalen Gemeinschaft mit Ziel der Vermittlung eines Nationalbewusstseins. (B) Breite Verankerung der
Nationalbewegung in Massenorganisationen. Nationale Unabhängigkeit in Form des Nationalstaates wird gefordert. Besitzbürgertum und Akademiker stoßen zur
Führungsschicht. (C)
(vergleiche Weichlein 2006: 50)
Es gilt für Deutschland:
"Das vergessene beziehungsweise durch französische Aufklärung und Mode überfremdete deutsche Kulturgut muss von den Wortführern wieder erinnert
(“wiederentdeckt”) werden (A), um als lebendige Grundlage des Programms der nationalen Erhebung zu dienen (B), dem sich schließlich die durch diese authentische
kulturelle message “wieder erweckten” Volksmassen anzuschließen" (Kallscheuer; Leggewie 1994: 122)
9 vergleiche: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/zeitschriften/id=25 (Stand: Dezember 2008)
"Seit Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt schließlich auch die politische Karriere der Kultur: »Deutsche Kultur«
wird zum Synonym für einen Nationalismus, der darin vorerst Ersatz für seine fehlende staatlich-politische
Gestalt findet." (Kaschuba 2003: 118)
Die Idee der „Schicksalsgemeinschaft“ (Kaschuba 1999: 26) des deutschen Bürgertums,
die romantische und mythische Überhöhung deutscher Geschichte gegen die „Überfremdung“
(ebd.) durch die napoleonische Fremdherrschaft, wird mit dem Konzept der
„Abstammungsgemeinschaft“ durch Ludwig Jahn verkettet. Das „ethnozentrische Grundmotiv“ (ebd.: 27)
hält Einzug den „bürgerlichen Kulturnationalismus“ (ebd.: 26).10
Otto Dann zeichnet die Karriere des Kulturnationsbegriffs nach. Seit der Errichtung des Staates
1871 wird die Sprachzugehörigkeit zum Argument, eine großdeutsche Lösung über die
Reichsgrenzen hinaus zu rechtfertigen. (vergleiche Dann 1996: 49)
Unter nationalsozialistischer Herrschaft werden rassische und ethnische Zuschreibungen zum
Konzept des Volksdeutschen verknüpft.
10 Ist bis zum späten 18. Jahrhundert die Idee der Kulturgemeinschaft auch immer gestützt auf die Reichszugehörigkeit, so verlagert sich der Fokus im Zuge der
Reichskrise von 1798 – 1806 auf die Kultur als Legitimation einer Einheit gegenüber dem zerfallenden Reich (vgl. Dann 1996)
ZWEITER TEIL
Wie sich an den folgenden Ausführungen zeigen wird, verschieben sich die Kategorien Sprache,
Geschichte, Religion und kultureller Besitz, die die Kulturnation zu Zeiten Meineckes definieren
im aktuellen Diskurs verstärkt auf die Kategorien kulturelles Erbe und kulturelle Bildung.
11 Vorzüglich als Erfindung der ästhetischen Nation diskutiert und reflektiert in Daniela Gretz Dissertation zur Deutschen Bewegung, München 2007
12 In einem Prozess der Idealisierung sollte das Sonderwegsbild der Deutschen, sich durch bestimmte Eigenschaften besonders von anderen Staaten abzusetzen, durch
Zuhilfenahme von deutschtümelnden Geistesströmungen wie Romantik, Idealismus und Historismus zur Sonderwegsideologie avancieren.(Gretz 2007)
Mythenbildung resultiert nun darin, dass die Mythen frei zur Vereinnahmung unterschiedlicher
Interessensgruppen gegeben sind. Die Konstruktion einer Einheit, die so stark ist, dass die
Widersprüche nicht ihr Wesen berühren, also Handlungs- und Bedeutungsmodelle zugleich
angeboten werden, diese Differenzen zu vereinnahmen und zu synthetisieren, ist gefährlich.
Der Mythos bietet nicht mehr Erklärung für unvereinbare Phänomene, sondern fordert als
Ideologie Konsequenzen, die Unvereinbarkeit abzuspalten und zu entfernen.
Für die nachfolgende Untersuchung der Rede sollen also Hakan Gürses Worte mahnen:
„Es gibt, wie schon angesprochen, auch gute politische Gründe, dem Kulturbegriff mit Skepsis zu begegnen:
Der kolonialistische oder kulturalistisch-rassistische Stellenwert des Begriffs blieb in den letzten 300 Jahren
unverändert, ja er stieg sogar. Wer heute über kulturelle Identität redet, die Multikulturalistät preist oder für den
Kulturerhalt plädiert, ohne auf die problematischen Funktionen des Kulturbegriffs zu verweisen, macht sich
gewissermaßen »verdächtig«.“ (Gürses 2003: 28)
Das Zitat entstammt dem Lied „Kein schöner Land“ von Anton Wilhelm Florentin von
Zuccalmaglio, einem Volksliedsammler und Heimatdichter des 19. Jahrhunderts. Interessant für
den Zusammenhang Kulturnation sind in „Wo wir uns finden“ die Kategorien Ort,
Gemeinschaft und Geschichte.
Der Ort repräsentiert sich konkret durch das Fragepronomen und metaphorisch durch das Verb
finden, was Identität, und eine gewisse Qualität ausdrückt, weil, „Wo wir uns finden“ voraussetzt,
dass wir uns auf einer Suche befänden, die nun erfolgreich beendet werden kann.
Die Gemeinschaft spiegelt sich im Personalpronomen wir und seiner Reflexion uns und
vermittelt dahin Ganzheitlichkeit. Der geschichtliche Bezug wird durch das Format Volkslied, als
Gegenstand nationaler Dichtung, vollzogen.
Der erste einleitende Absatz thematisiert an einem Beispiel das Wesen und das Problem der
Kulturnation. Anekdotisch erzählt Horst Köhler von seiner Begegnung mit „Bürgern und
Bürgerinnen“ in Sachsen-Anhalt, die die Dorfkirche vor dem Verfall gerettet hätten, was kein
singuläres Phänomen sei.
H.K: Neulich bin ich in Sachsen-Anhalt unterwegs gewesen, im Burgenlandkreis, entlang der Unstrut.
Wir sind durch ein paar kleine Orte gewandert, die haben alle eines gemeinsam: Überall hatten sich Bürgerinnen und Bürger
zusammengetan, um ihre Kirche zu retten, die vom Verfall bedroht war.
Das fing schon Mitte der 80er Jahre an; die DDR gab es noch.
Der SED-Staat hatte weder Geld noch Sinn dafür, es in kleine Kirchen zu stecken, und die evangelische Kirche war zu arm dafür. Also
halfen sich die Leute selbst. Mitglieder der Kirchengemeinde setzten sich mit Menschen zusammen, die gar nicht mehr in der Kirche sind.
Gemeinsam sagten sie: „Die Kirche bleibt im Dorf.“
„Warum haben Sie das eigentlich gemacht?“, habe ich gefragt. Und die Antwort war: „Wir können doch unsere Kirche nicht einfach
verfallen lassen. Die gehört zu uns. Das ist doch unsere Heimat, unsere Geschichte.“
13 „Kein schöner Land in dieser Zeit / Als hier das uns're weit und breit / Wo wir uns finden / Wohl unter Linden / Zur Abendszeit./ Da haben wir so manche
Stund’ / Gesessen da in froher Rund / Und taten singen / Die Lieder klingen / Im Eichengrund. / Daß wir uns hier in diesem Tal / Noch treffen so viel hundertmal
/ Gott mag es schenken / Gott mag es lenken / Er hat die Gnad./ Nun Brüder eine gute Nacht / Der Herr im hohen Himmel wacht / In seiner Güte / Uns zu
behüten / Ist Er bedacht.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Wilhelm_von_Zuccalmaglio; Stand: März 2009) Auffällig auch hier schon die Bezüge Ort,
Gemeinschaft, Natursymbolik, Gott
Der Begriff Kirche ist hier natürlich mehrfach bedeutet: das Gebäude, das vom realen Verfall
bedroht ist, das symbolische Gebäude als Behausung Gottes, das symbolische Gebäude als
kulturelles Gedächtnis und die Institution.
Entgegen einer „Kultur ohne Zentrum“ (nach Richard Rorty14), also dem postkulturellen Phänomen,
das Kultur nicht mehr in seiner Wirkungsmacht aus einem örtlichen und geistigen Zentrum in
Richtung Peripherie und damit auch Marginalität verläuft, sondern Pluralität und Gleichzeitigkeit
die Gegenwart bestimmen, wird die regionale und rurale kulturelle Deutungsmacht der sich
traditionell im Dorfkern befindlichen (und das Dorf strukturierenden) Kirche zugewiesen.
Das Kulturgut Kirche stiftet also über Geschichte und Folklore (wo Heimat, Wandern, Kirche
und Unstrut ländliches Idyll versprechen) Identität und wirkt verbindend.
H.K.: Die Menschen aus dem Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt haben mehr bewahrt als Mauern, Steine und Türme. Sie haben etwas
bewahrt, was das Leben lebenswert macht und Zuversicht stiftet. Zu wissen:
Da waren welche vor uns, und wir kümmern uns um das, was sie hinterließen; zu wissen: da kommen welche nach uns, und die sollen
auch unsere Spuren finden und bewahren – das ist schon der Kern
dessen, was es braucht, damit unsere Kulturnation lebendig bleibt.
Die Überleitung zur symbolischen Bedeutung der Kirche fällt Köhler nicht schwer.
Das Kulturgut Kirche mit seiner geschichtlichen und folkloristischen Dimension birgt in Köhlers
Argumentation Lebensqualität und vermittelt Sinn und Halt. Die deutsche Kulturnation, die sich
im Kern über geschichtliches Bewusstsein (und kulturelles Erbe) definiert, funktioniert ähnlich
wie die Religion über ein emotionales Identifikationsangebot, dass weiter als das bloße
persönliche Leben reicht, indem es in den Fluss der Geschichte eingeordnet wird, in den „wir“
und nachfolgende Generationen über das Gebäude eintauchen. Geschichtliches Bewusstsein
(über geschichtliche „leblose“ Artefakte abrufbar) soll also der Kulturnation Leben einhauchen.
14 Rorty, Richard (1993): Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays, Stuttgart
15 Die Besonderheit bestünde darin, dass sich nicht Bürgertum vom Adel emanzipiert hätte, sondern dass die Abgrenzung unter Betonung sprachlicher und kultureller
Eigenheiten gegenüber anderen europäischen Staaten erfolgt wäre (Westle 1999)
H.K.: Heute vor 18 Jahren haben wir die Teilung Deutschlands endgültig hinter uns gebracht. Das Unrechtsregime DDR war
überwunden, denn seine Bürgerinnen und Bürger hatten die Mauer zum Einsturz gebracht.
Bei allem, was danach geschah; bei allem, was gelang, was schiefging: Was für ein Glück ist und bleibt diese friedlich und mutig
erkämpfte Einheit, was für ein Segen für unser Vaterland!
Die DDR ist Vergangenheit. Dabei vergessen wir nicht, dass die einzelnen Geschichten der Menschen in der DDR nicht nur vom
System und seinem Unrecht geprägt waren. Die meisten haben hart gearbeitet,
viel geleistet, sie haben sich umeinander gekümmert, miteinander gelebt, gelitten und gefeiert. Es gab in der DDR Glück, Erfolge und
Erfüllung.
Nicht wegen, sondern oft trotz der SED-Diktatur. Deshalb bitte ich um Anerkennung und Respekt für die Menschen, die in der DDR
ihren Weg gegangen sind, ohne sich schuldig zu machen. Dann kam die Wende, und vieles stürzte auf uns ein. Ich war mittendrin und
im Rückblick sage ich: Praktisch war es unmöglich, im Vereinigungsprozeß immer genau zu wissen, was die richtige Entscheidung ist.
Und deshalb wollen wir nicht länger so tun, als sei alles immer nur richtig gewesen.
Ich stoße heute in Ostdeutschland auf viel Freude am Erreichten, auf Stolz an der eigenen Leistung und auf Selbstbewusstsein. Sicher:
Manches dauert länger als gedacht, es gab und gibt Härten und Enttäuschungen.
Doch wer die Augen aufmacht, der sieht: Wir haben viel erreicht. Vielleicht ist es weniger, als manche in der ersten Euphorie erhofft
haben. In Wirklichkeit ist es sehr viel mehr, als manche sehen –
oder sehen wollen. Und ich denke: Wir sind auf dem gemeinsam zurückgelegten Weg erwachsener geworden.
Horst Köhler arbeitet hier teleologisch in der Weise, dass es zur Einheit Deutschlands keine
Alternative gegeben hätte. Ich will diese Frage nicht berühren, aber jede Kontingenz wird
ausgeschlossen und die staatliche Einheit wird (endgültig und somit als Wert unantastbar) als
gottgewolltes Produkt nationaler Einheit zelebriert. Das Einheitsprodukt wird als gut intendiert
(„friedlich und mutig erkämpft“), wobei dem Prozess seiner Fertigung Zugeständnisse gemacht
Ich möchte Ihnen berichten von Regionen, die vor großen Schwierigkeiten standen – in Ost und West. Ich war in Rostock, in Bitterfeld
und in Gotha, ich habe Selb und Zweibrücken besucht. An all diesen Orten habe ich erfahren, was es bedeutet, wenn der größte
Arbeitgeber von heute auf morgen wegfällt. Akademisch heißt das Strukturwandel, für die Menschen bedeutet es tiefe Verunsicherung, oft
Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Doch diese Städte stehen auch dafür, dass die Menschen die Herausforderungen tatkräftig anpacken.
Im Rostocker Hafen werden heute mehr Güter umgeschlagen als zu Zeiten der DDR. Bitterfeld ist wieder ein wichtiger Standort der
Chemieindustrie. In der Gothaer Fahrzeugtechnik sind die Auftragsbücher für die nächsten zwei Jahre gefüllt, vor allem dank der
Schweißer dort, die sind einfach Spitze. Das oberfränkische Selb fängt den Niedergang der Porzellanindustrie mit dem Aufbau einer
modernen Kunststoffverarbeitung auf. Und im rheinland-pfälzischen Zweibrücken hat man nach dem Abzug der amerikanischen
Streitkräfte aus der Not eine Tugend gemacht: Auf den frei gewordenen Flächen sind eine Fachhochschule und Unternehmen angesiedelt
worden, die florieren und neue Arbeitsplätze schaffen. Die Leute sagen überall: Es war hart, es war schwer, aber jetzt geht’s wieder
aufwärts. Diese Beispiele stehen für eine messbar positive Entwicklung: Die deutsche Wirtschaft hat Kraft bewiesen, hat sich erholt und
kann im internationalen Wettbewerb wieder gut mithalten, was uns auch in der aktuellen Finanzkrise hilft. Der Lohn der Anstrengung
in den letzten Jahren ist nicht zuletzt ein erfreulicher Rückgang der Arbeitslosigkeit. Keine Frage: Manche Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer mussten harte Anpassungen und zum Teil auch prekäre Beschäftigungsverhältnisse akzeptieren. Unser Ziel ist natürlich
gute Arbeit für alle. Und unser Ziel bleibt es, besonders energisch die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland abzubauen, die noch immer
doppelt so hoch ist wie im Westen. Ostdeutschland wird darum weiter unserer besonderen Unterstützung bedürfen. Ich freue mich, dass es
darüber einen parteiübergreifenden Konsens gibt.
Köhler leitet nun von der Kultur und der Vereinigung auf die Wirtschaft über und belegt den
positiv umgesetzten Strukturwandel an einigen Beispielen. „Am Anfang war die Tat“16 sagt Faust
sinnierend über dem neuen Testament, das er gerade ins Deutsche übersetzen will.
Anhand der Beispiele wird suggeriert, dass durch genügend Tatendrang dem von außen
einwirkenden Wandel begegnet werden kann. Dass diese „gesamtgesellschaftlichen und auch
international neoliberalen ökonomischen und politischen Umstrukturierungsprozesse“ (Lorey 2007: 80) also
auch genügend Handlungsmöglichkeiten bereithielten, nicht an ihnen zu scheitern. Nach Isabell
Lorey fungiert hier die Verantwortung für das eigene Schicksal, dessen Schmied man sei,
H.K.: Es bleibt also weiß Gott noch viel zu tun in unserem Land, doch wir sind gut vorangekommen. Und wir haben erlebt: Gegen
Wandel, den wir nicht aufhalten können, hilft der Wandel, den wir gemeinsam klug und beherzt ins Werk setzen. Dafür brauchen wir
weiterhin Aufbauwille, Tatkraft, Engagement, alles das, was ungezählte Menschen in unserem Land Tag für Tag beweisen.
In erster Linie gibt in Umbruchzeiten doch hier nicht die Kultur, sondern eine stabile Wirtschaft
Halt als auch die Erfahrung, dem Wandel nicht hilflos ausgesetzt zu sein. Die Wirkungsmacht des
Einzelnen ist quasi nichtexistent, weshalb hier die Gemeinschaft angerufen wird. Da sich aber in
wirtschaftlich prekären Zeiten die sozialen Gegensätze wahrscheinlich vergrößern17, muss die
Gemeinschaft auf einer höheren symbolischen Ebene hergestellt werden. So zum Beispiel am
Bild der Kulturgemeinschaft, die sich traditionell in Deutschland als Schicksalsgemeinschaft
stilisiert.
H.K.: Aber diese Kraft braucht auch Anker, sie muss sich erneuern können, sie braucht Orientierung, Maßstäbe für Qualität und
manchmal sogar Trost. Alles das finden wir in unserer Kultur. Sie ist ein Speicher an Erinnerungen, Erfahrungen und Gelerntem.
Immerfort sind wir in diesem Speicher beschäftigt, wir räumen auf, finden Vergessenes, legen anderes wieder beiseite. Wir prüfen, was
bewahrenswert bleibt, was veraltet ist, was vergessen werden darf. Wir fragen: Haben wir etwas dazugelernt? Haben wir etwas Wichtiges
vergessen? Was führt weiter?
Köhler weist der Kultur – unserer Kultur, welche bisher in der Rede nur durch die „Rettung der
Kirche“ definiert ist – eine Orientierungsfunktion zu, die dazu verhelfe, den Wandel tatkräftig
mitzugestalten. Der Halt in der bewegten Zeit, so die Metaphorik, biete die Verankerung in etwas
Grundsätzlichem, das neben der Orientierungsfunktion auch die Aufgaben der
Qualitätssicherung und des Trostes erfülle. Allegorisch stehe Anker für Treue, christlich für
Hoffnung.18 Die haltende Funktion der Kultur wird innerhalb Köhlers Reden schon tradiert, wie
dieses Zitat von 2005 belegt: „Gerade in Zeiten des Umbruchs, der auch für die individuellen Biografien
17 „die sich vertiefende Spaltung in zwei deutsche Gesellschaften, eine Verschärfung sozialer Ungleichheit, Ausgrenzung von sozialen Gruppen und Milieus, Rückzug
aus Institutionen, Fragmentierung von Lebenszusammenhängen, Zerstörung sozialer Beziehungen“ (Fuchs 2006: 66)
18 http://de.wikipedia.org/wiki/Anker (Stand: März 2009) und http://www.kath.de/kurs/symbole/anker.php (Stand: März 2009)
19 „Das Speichergedächtnis nimmt die ungeheuren Informationsmassen des anwachsenden wissenschaftlichen und historischen Wissens geduldig in sich auf, so
geduldig, wie es die materialen Speicher des Gedächtnisses eben zulassen, während das Funktionsgedächtnis aus dieser indifferenten Masse eine Auswahl herstellt, die
für lebendige Gedächtnisse erinnerbar ist, ein Identitätsangebot macht und Orientierungsfunktion besitzt. Das sich im Speichergedächtnis kumulierende Wissen ist
standpunkt- und perspektivenlos, unbewertet und in keine hierarchische Ordnung gebracht. All das sind umgekehrt Eigenschaften des Funktionsgedächtnisses. Mit
anderen Worten: Die im 19. Jahrhundert mit Historismus und Positivismus verbundenen problematischen Folgen der Relativierung, der Standpunktlosigkeit, der
Beliebigkeit von Wissen wurden gleichzeitig durch neue Institutionen beantwortet, welche umgekehrt Werte wie Verbindlichkeit, Identitätsbildung und
Orientierungskraft in den Mittelpunkt stellten. Die Ausweitungen und Entgrenzungen des Speicher-Gedächtnisses und die Verengungen des Funktionsgedächtnisses
sind dialektisch aufeinander bezogen.“ (Assmann 2001: 4)
So ruft Köhler anlässlich des Festaktes zur Wiedereröffnung der Herzogin Anna Amalia
Bibliothek am 24. Oktober 2007 in Weimar einen „Freudentag für die Kulturnation Deutschland“
(Köhler 2007: 2) aus, weil sich dort in Weimar die „geistige Heimat“ und das „kulturelle Herz
Deutschlands“ (Köhler 2007: 4) befänden. Nach der These von Sigrid Weigel wird die
Kulturnation, die sich über das kulturelle Erbe identifiziert, beworben20 auch in Hinblick auf die
Europäische Union, deren Identität nur schwer kulturell zu untermauern ist, weil „Ökonomie und
Kultur im System EU“ (Weigel 2008) als Wirtschaftsgemeinschaft angedacht, auseinandertreten.
Der Kultur wird nun mit der europäischen Verfassungskrise, ein höherer Stellenwert zugerechnet
und mit der „Metaphorik vom kulturellen Herzen und der geistigen Heimat ein Zeichen [gesetzt] für den
Versuch, eine Art gefühlter Nation zu befördern. […] Diese metaphorische Erwärmung wird offensichtlich auch
gegen den Eindruck eines erkalteten Herzens aufgeboten, an dem der Verfassungs- und Versicherungsstaat
erkrankt scheint.“ (Weigel 2008: 2) Unter Anrufung des kulturellen Erbes, so Weigel, offenbart sich
der „Traum eines an-ökonomischen, moralisch unanfechtbaren, geistigen Reichtums“ (ebd.), sozusagen als
moralisches Gewissen gegen die Ökonomisierung.
20 „Im Programm ‚Kulturnation‘ soll nun das kulturelle Erbe eine emotionale Bindung an die Nation garantieren, ohne doch Xenophobie zu schüren.“ (Weigel 2008)
Der Kulturbegriff in seinem Wesen kann nicht eindeutig bestimmt werden, jedoch weist er
historisch abgeleitet nach Klaus P. Hansen21 vier Grundbedeutungen auf:
In der ersten Bedeutung betrifft Kultur vor allem die hergestellen Gegenstände der Kultur – er ist
also an die Kreativität gekoppelt und lagert Institutionen, in den kulturelles Schaffen ermöglicht
wird, an. Der Kulturbegriff nimmt einen beschreibenden Charakter an.
In der zweiten Bedeutung hat Kultur normativen Charakter: Kultur wird als Lebensart betrachtet.
In ihrem habituellen Wesen schwingt sogleich eine Höherwertung von Kultur gegenüber Natur,
von der sie sich absetzt, mit. Dort ordnet sich die deutsche Präferenz des Kulturbegriffs
gegenüber dem Zivilisationsbegriff ein. Der dritte Kulturbegriff ist weiter gefasst und enthält die
lebensbestimmenden Praktiken von Gemeinschaften, sozusagen die Gesamtheit von Sitte und
Brauchtum. Gegenüber den ersten beiden Grundbedeutungen, ist er neutral-integrativ. Die vierte
Bedeutung leitet sich aus der Quelle des Wortes Kultur ab: die lateinischen Worte colo und cultus
bedeuten pflegen und erbauen im agrarischen Sinne und zugleich anbeten, als einer spezifisch
menschlichen Tätigkeit. Viertens und ältestens bedeutet Kultur also die Erzeugnisse pflegerischer
Tätigkeit. Diese Grundbedeutung ist nicht-metaphorisch. (Hansen 2003: 14; Gürses 2003: 31)
Auch Hubertus Busche22 bietet ein hinreichend orientierendes Konzept eines historisch
abgeleiteten Kulturbegriffes:
Erstens: Kultur, die man betreibt – wobei sich ein Prozess der Verinnerlichung abgezeichnet hat,
der letztlich auf die Kultivierung des Geistes abzielt.
Zweitens: Kultur, die man hat, als Ergebnis eines kulturellen Prozesses der Vervollkommnung.
Drittens: Kultur, in der man lebt als Traditionszusammenhang von Normen, Institutionen,
Werten und Bräuchen
Viertens: Kultur, die man schafft und als Besitz ehrt.
Kultur im weiteren Sinne zielt also auf Naturbeherrschung und geregeltes Zusammenleben.
Inwieweit die Kultivierung des Natürlichen einer Bekämpfung der Unkultur Vorschub leistet, sei
dahingestellt, liefert aber den ideologischen Überbau für die Wertschätzung des Kulturellen.
23 in: Hermann Glaser: „Bürgerrecht Kultur“ – eine geistesgeschichtliche Vignette, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.): Jahrbuch
für Kulturpolitik, Bonn 2006: 127 - 134
Neue Schlagwörter, die mehr an den Segen der Kreativwirtschaft erinnern, als an einen
konservativen Kulturbegriff, wie ihn zum Beispiel die CDU favorisiert24, fallen: Kreativität,
Innovation, Diversität. Tugenden, die die gesellschaftliche Modernisierung begleitend
unterstützen und fördern.
H.K.: Kulturlosigkeit öffnet die Tür zur Barbarei. Aber, und das wissen gerade wir Deutschen, Kultur zu haben ist allein noch kein
Schutzschild gegen Verblendung. Wir haben zu zweifeln gelernt, und das sehe ich als eine Stärke – vorausgesetzt, wir nehmen diesen
Zweifel als Ansporn. Kultur haben bedeutet: Unterschiede erkennen und gelten lassen. Wer sich auf seine Kultur besinnt, findet sich
gebunden in das, was vor ihm da war, und in das, was um ihn herum ist, und er räumt jedem anderen Menschen auf der Welt dasselbe
Recht auf Halt in der eigenen Kultur ein: Kultur gibt innere Sicherheit und befreit dadurch auch dazu, andere auf ihre Weise leben zu
lassen, macht tolerant und frei.
Der Kulturbegriff gewinnt mit der Abgrenzung von anderen Begriffen an Schärfe und man mag
leicht in die Tradition von Gegensatzdenken verfallen. Horst Köhler löst das dialektische
Problem der Kultur, sich als Gegenteil von Barbarei zu begreifen, diese aber erstens nicht
verhindern zu können und zweitens zu erzeugen, geschickt (Seubold 2003: 12). In dieser „Krise der
Kultur“, die sich angesichts der Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts offenbart, fällt Kultur in der
Hinterfragung ihrer Grundlagen und ihres Selbstverständnisses eine kritische Rolle zu
(Konersmann 2003: 67). Die Krise der Kultur zeitigt die philosophische Reaktion auf den
hegemonialen Anspruch einer eurozentristischen Kulturauffassung mit ihrem segensreichen
Fortschrittsglauben der Aufklärung und einer totalen Berechenbarkeit der Welt (so Adorno und
Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung 2001). Die restlose Aufgeklärtheit der Welt, die sich
in der Hybris, alle Erscheinungen systematisieren zu können, mitteilt, öffnet der Barbarei ebenso
die Tür, wie etwas was Horst Köhler Kulturlosigkeit nennt, ich aber mit Sittenlosigkeit
umschreiben möchte. Da der Wandel der Verhältnisse nicht nur Sinn sondern auch pragmatische
Konsequenzen einfordert, obwohl in Zeiten der Unsicherheit die Rufe nach einem stabilen
sittlichen Korsett erschallen, fällt Horst Köhler die Verantwortung zu, diesen Wandel zu
24 Vergleiche Kulturpolitik der CDU, in: Politik und Gesellschaft, Nr. 06/07, November - Dezember 2007: 1-9
H.K.: Wir spüren, dass unsere Kultur zu dem gehört, was uns alle in Deutschland gemeinsam bestimmt. Wir spüren das noch einmal
neu, seit unser Land wieder vereinigt ist: Wir sind seither wieder erlebbar die eine Kulturnation, die als ganze unser Leben inspiriert.
Dazu gehören die Dresdner Frauenkirche und der Kölner Dom, das Gewandhausorchester in Leipzig und die Berliner Philharmoniker,
das Bauhaus in Dessau und die Ulmer Hochschule für Gestaltung. Goethe gehört nach Frankfurt und nach Weimar, Schiller nach
Marbach und nach Jena, und wenn wir an Martin Luther denken, der unsere gemeinsame deutsche Sprache wie kein anderer geformt und
gestaltet hat, dann gehören zur Erinnerung an ihn Wittenberg und Worms. Übrigens gab es auch in den Jahren der Teilung Projekte, die
das kulturelle Erbe der Nation bewahren halfen und in Ost und West gemeinsam weiterbetrieben wurden – auch wenn davon nicht viele
wussten: Da ist die Deutsche Akadamie der Naturforscher Leopoldina zu Halle an der Saale, eine jahrhundertealte Vereinigung von
Gelehrten aus Ost- und Westdeutschland und aus aller Welt, die jüngst zu unserer Nationalen Akademie der Wissenschaften erhoben
wurde. Da ist die Neue Bach-Ausgabe, die im letzten Jahr vollendet wurde, und da ist die Arbeit an der Schiller-National-Ausgabe, die
im kommenden Jahr vollendet sein wird.
Kultur ist etwas, was der Gemeinschaft Erfahrung ermöglicht – in ihrer Trennung und stärker in
ihrer Vergemeinschaftung. Die kulturelle Gemeinschaft - „wir“ – spürt, das heißt erlebt sinnlich
ihre kulturelle Determination. Via Inspiration, also geistiger und sinnlicher Anregung, durch die
Kulturnation können wir selbst uns als Kulturnation erleben. Diese Metapher ist, obwohl als
kulturnationaler Körper konzipiert, höchst abstrakt, weshalb zu ihrer Verbildlichung und
sozusagen sinnlicher Erlebbarkeit kulturelle Phänomene nationaler Bedeutsamkeit herangezogen
werden. Der Einheitsfeier geschuldet sind die zu nationalen Symbolen aufgestiegenen kulturellen
Güter, die längst dem Kanon des kulturellen Erbes zugeordnet sind, in Teilen beider deutscher
Staaten zu finden, beziehungsweise erinnern sie an die Zeit vor der Teilung Deutschlands, ohne
auch nur einmal Auschwitz zu erwähnen. Deutsche Helden Schiller, Goethe, Luther, Bach als
Grenzen überwindende universale Denker; Stätten der Religion, der Musik und Wissenschaft und
H.K.: Das SED-Regime hatte Stasi-Leute, die nannten sich allen Ernstes „Abwehroffiziere Kunst und Kultur“. Aber als die DDR
1976 ihr offiziöses "Deutsches Lesebuch" veröffentlichte, da stand darin als erster Text Luthers Choralgedicht nach dem 46. Psalm:
"Ein feste Burg ist unser Gott." Selbst die DDR musste zugeben: Zur Kulturnation Deutschland gehört ihre christliche Prägung. Heute
braucht es keine Verrenkungen mehr, um deutsches Kulturgut zu bewahren und zu pflegen. Und ungezählte Menschen tun das mit
Freude, begeistert und kreativ – in Schülerbands, in Literaturkursen, in Theatergruppen, in Orchestern, in Chören, in der Organisation
von Orts- und Stadtteilfesten oder in der Gestaltung von tausenden von Web-Seiten im Internet.
Die Kulturnation lebt von dieser Kreativität, vom kulturellen Erbe, sie lebt von der Hochkultur. Sie lebt aber nicht minder von der
Alltagskultur. Die Kulturnation lebt vom Selbstverständlichen und Alltäglichen, das aber auch selbstverständlich und alltäglich bleiben
sollte. Sie lebt vom respektvollen Umgang miteinander, von der Freundschaft zwischen Jung und Alt, von Höflichkeit und Achtung vor
dem anderen, von der Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen, von Respekt vor öffentlichem Eigentum und ganz allgemein von
Achtsamkeit und Anstand. Ich glaube, an der Stelle müssen wir aufpassen: Da ist schon einiges eingerissen, an das wir uns besser nicht
gewöhnen.
Hier werden noch mal die entscheidenden Zutaten, der Kulturnation Leben einzuhauchen,
genannt: Geschichte – christliche Identität, Kulturgüter – objektivierte Kultur, die sich durch
gemeinschaftliches und individuelles Pflegen und Bewahren erhalten, kulturelle,
zivilgesellschaftliche Institutionen, die diese (kreative) Kulturpflege ermöglichen.
Schöpfungskraft, Erbe, Hochkultur, am Rande erwähnte Alltagskultur, sowie Sittlichkeit als
Bollwerke gegen die Unkultur – glänzende, soziale Widersprüchlichkeiten und Ungerechtigkeiten
glättende Lasur. „(…) ein Wunsch nach »Gerechtigkeit«, nach innerem Frieden und sozialer Harmonie steckt
ja in aller Lust an »Nationalbewußtsein« wie an »Volk«“ (Seeßlen 1993: 6)
H.K.: Es ist das entschiedene Interesse, die Kreativität und das Engagement er Bürger, was die Kulturnation ausmacht. Es geht darum,
Raum und Unterstützung dafür zu schaffen. Ich finde, der Schlussbericht er Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in
Deutschland“ ist eine Fundgrube praktischer Vorschläge dafür. So genau ist die kulturelle Landschaft Deutschlands noch nie vermessen
worden. Den Abgeordneten und allen beteiligten Experten sage ich dafür heute meinen herzlichen Dank.
25 „Mit den sehr vielfältig organisierten und verantworteten internationalen kulturellen Aktivitäten liefern die Kirchen wertvolle Beiträge für die Außendarstellung der
Kulturnation Deutschland, die auch staatlicherseits Anerkennung verdienen.“ (Deutscher Bundestag 2007: 148)
H.K.: Unsere Nation steht vor großen Aufgaben. Es geht um Arbeit, die wir schaffen müssen; um Bildung, die allen gerechte Chancen
gibt; um Integration, die uns zusammenhält: Stadt und Land, Ost und West, Alt und Jung, Arm und Reich, einheimisch und mit
Wurzeln von weit her.
Hier verschiebt sich die Rede, die bisher deutlich eine Volksgemeinschaft als Kulturgemeinschaft
unter Anrufung der Ahnen als „eine Reihe grüßender Denkmäler“ (Gretz 2007: 116) konstituierte,
um sich diese kulturellen Tugenden ins Gewissen zu rufen, auf die Nation, um mit ihnen sinnvoll
zu handeln. Wurde die Identität erst über das Erreichte, dann über das Wesen, das sich in
bestimmten Aktivitäten ausdrückt, definiert, so wird jetzt der Zeitstrahl in die Zukunft
fortgesetzt. Strategisch geht es hier um das Moment der Steuerung. Die Kulturnation wird
angerufen, weil sie Aufgaben erfüllen soll. Kraft ihres integrativen Potentials, soll sie die
Menschen durch Arbeit als sinn- und ordnungsgebendes Moment, Bildung als „spezifische Form des
nationalen Gedächtnisses im Kontext gesellschaftlicher Modernisierung“ (Gretz nach Assmann 2007: 136)
und innere Integration dichotomer Verhältnisse zusammenhalten.
Nun offenbart sich der problematische Charakter des Kulturbegriffs (siehe dazu Gürses 2003),
der in seiner politischen Verwendung eines ein- und ausgrenzenden Mechanismus nur bestimmte
Funktionen zulässt. Seit es dem Kulturbegriff an Abgrenzungsmöglichkeiten fehlt, spaltet er sich
in sich selbst: „Kultur ist gleichsam sichtbar und unsichtbar, sie ist das Erklärte und die Erklärungsinstanz,
Frage und Antwort zugleich. Sie wird als eine Größe ins Spiel gebracht, die von ihrem unsichtbaren Olymp aus
Handlungen, Sprache, Denken und sogar menschliche Körper durchdringt und determiniert.“ (Gürses 2003:
26). Der Kulturbegriff kann daher leicht Eigenschaften annehmen, die ihn in seinem
konstruktivistischen Wesen zweckdienlich werden lassen: Mit Possessivpronomen ausgestattet,
teilt sich Kultur in eigene und fremde und legt sich in seiner Differenzierung auf eine bestimmte
Identität fest. Sein spaltendes Potential leistet Klassifikationen und deren Bewertung Vorschub.
Innere Gegensatzpaare ersetzen die wirkliche begriffliche Abgrenzung. So tut es nicht Wunder,
dass Köhler das Land in Gegensätzen misst.
H.K.: Vor diesen Aufgaben braucht uns nicht bange zu sein. Unser Land hat ja selbst in der jüngsten Geschichte weit größere
Herausforderungen gemeistert – nach 1945, nach 1989.
26 „Ziel eines solchen Verzeichnisses ist ein verbesserter koordinierter internationaler Auftritt der Bundesrepublik Deutschland als Kulturnation.“ (ebd.: 202)
27 „Es gehört zum Selbstverständnis Deutschlands als Kulturnation, das kulturelle Erbe der früheren deutschen Siedlungsgebiete ebenso wie das Gedenken an Flucht
und Vertreibung zu bewahren.“ (ebd.: 209)
28 „Die neuen Länder haben eine alte und vielfältige Kulturlandschaft in das vereinigte Deutschland eingebracht. In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur –
trotz unterschiedlicher gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – für die Menschen in Ost und West eine wichtige Brücke und verbindendes Element einer
fortbestehenden deutschen Kulturnation.“ (ebd.: 200)
H.K.: Außerdem: Wir haben ja noch nicht einmal alle Kräfte erschlossen, die uns bei den neuen Aufgaben helfen werden. Dabei denke
ich zum Beispiel an die Vitalität und Erfahrung der Älteren unter uns, die sowohl im Arbeitsleben als auch im bürgerschaftlichen
Engagement eine viel größere Rolle spielen können und spielen sollten. Und ich denke an die Frauen in Deutschland, deren
Gleichberechtigung in Familie, Beruf und Karriere noch längst nicht völlig verwirklicht ist. Übrigens: Die Gleichberechtigung von Frau
und Mann ist eines der attraktivsten Angebote, das unsere Kultur begabten und fleißigen Menschen aus anderen Kulturkreisen überhaupt
machen kann.
Unter den Kategorien „Außerdem“ und „Übrigens“, falls noch wenige Übriggebliebene zu
überzeugen seien, werden nun die Randgruppenpotentiale „Ältere“ und „Frauen“ erschlossen.
Als Preis der gesellschaftlichen Integration wartet die Ausbeutung schlummernder Ressourcen.
Die gesellschaftliche Teilhabe gleicht einem Tauschhandel. Als Zivilisationsleitung der westlichen
Welt wird die Rolle der modernen fast gleichberechtigten Frau Menschen aus anderen Kulturkreisen
unter der Bedingung angeboten, dass die vermeintlich deutsche Tugend Fleiß gepaart mit
Begabung als willentliche Grundlage eingebracht wird. Es fragt sich, ob hiermit die Begabung
zum westlichen Lebensstil oder jene für die erfolgreiche Teilnahme am Arbeitskreis Kulturnation
gemeint ist?
H.K.: Und es gibt noch eine wichtige Quelle für Orientierung und Kraft, die wir noch nicht recht erschlossen haben: Das ist die
Überzeugung, als Nation mehr zu sein als eine Wohngemeinschaft und ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, die Überzeugung, als
Nation und als Staat eine Aufgabe zu haben, die über das Hier und Jetzt hinausweist, die groß ist und anstrengend, aber gut und
erreichbar und gerade für uns gemacht. Stellen wir uns deshalb ruhig die Frage: Was ist eigentlich gut daran, deutsch zu sein? Ich finde,
es ist vor allem, dass wir gelernt haben aus der Geschichte, und wir lernen weiter. Lernfähigkeit ist Teil unserer Kultur, unseres
Charakters, geworden.
Hier verwirklicht sich Sigrid Weigels Vermutung, die Nation, sobald sie sich auf den Staat und
seine verwaltende Tätigkeit beschränke, bereite Unbehagen. Köhler arbeitet an der
Mythenbildung der deutschen Nation, indem er sie auf eine Aufgabe vorbereitet, die über die
eigenen territorialen Grenzen und über das Jetzt hinausweist. Die deutsche Kulturnation hat
Kraft ihrer Geschichte und Prägung die kulturelle Mission zu leisten, Europa in die Moderne zu
führen. Hier wird die Geschichte des deutschen Sonderbewusstseins kontinuierlich
fortgeschrieben: Die Katastrophe des Nationalsozialismus (1945) und die Überwindung der
deutschen Teilung (1989) werden nun als pädagogische Erfahrung konzipiert.
H.K.: Wir sind auf rücksichtsvolle Weise neugierig, wenn wir uns ernsthaft in der Welt umschauen; wer draußen etwas anders macht als
wir, der weckt unser Interesse, nicht unsere Ablehnung. Wir arbeiten gern daran, hinter der Unterschiedlichkeit der Nationen das
gemeinsame Anliegen zu entdecken und uns dafür einzusetzen, dass alle etwas davon haben. Dabei gibt uns das Wissen um unsere
Leistungsfähigkeit Gelassenheit, und wir bleiben bescheiden. Das ewige Schwanken zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt
kann ein Ende haben. Wir können einfach lebenstüchtig sein und mit Vernunft und Augenmass daran arbeiten, unser Land zu
verbessern, anderen zu helfen und die Welt heiler zu machen. Unser Volk ist frei und politisch geeint. Wir leben in sicheren Grenzen,
umgeben von Freunden und Partnern. Wir genießen so großen Wohlstand wie wenige, und wir halten die Demokratie und das Recht
hoch.
Hier wird Deutschland zum Unternehmen und Nation zur Ware (vergleiche Seeßlen 1993: 5).
Der Unternehmergeist des Kapitalismus, wo der Eigennutz dem Allgemeinwohl dienlich ist,
überträgt sich auf die Nation lieber im Sinne eines positiven Fortschrittsglaubens, der sich schon
in der Beschreibung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands („aufwärts“, „messbar positive
Entwicklung“) anbot, als durch die trockene Vorsicht eines Versicherungsvereins. Das Bild des
lebendigen, beherzten aber vernünftigen Unternehmens mit dem unerschütterlichen Glauben die
Welt zu verbessern, ist bald schon antiquiert und scheint wie die Parodie einer eurozentrischen
Kulturwallfahrt. Vielleicht liegt es aber auch am prophetischen Auftreten Köhlers, dass diese
Kulturmission als Heilsversprechen via Wirtschaft seltsam anmutet. Deutschland lebt, ohne die
Welt in Lager teilen zu wollen, in Wohlstand nicht nur aufgrund seiner Leistungsfähigkeit,
Gelassenheit, seines Augenmaßes und seiner Vernunft, sondern auch, weil es in einer
geopolitisch, wirtschaftlich und geschichtlich sicheren Position ist.
H.K.: Wir haben keinen Grund, uns größer zu machen als wir sind. Aber auch nicht kleiner. Deshalb bin ich dafür, dass wir auch
unserer Führungsverantwortung in Europa nicht ausweichen. Unsere europäischen Partner erwarten das auch gar nicht.
Diese Führungsverantwortung verlangt von uns, dass wir sagen, was wir in der Europäischen Union als deutsche Nation selber wollen;
dass wir unser eigenes Haus in Ordnung halten und dass wir gleichzeitig jederzeit zum fairen Interessenausgleich mit unseren Partnern
Das europäische Modell ist ein friedenssicherndes Projekt gegen nationalstaatliche Willkür mit
einem historisch gewachsenen Wertekanon (Rüsen 2007).
In diesem Absatz aber vermischt sich die strukturelle mit der kulturellen Ebene.
Die Diskrepanz, dass die Europäische Union eine politische Wirklichkeit ist, in der natürlich auch
policy und politics Aspekte miteinander um Aufmerksamkeit ringen29, bedeutet, dass eine
politische Führungsverantwortung sich aus der Geschichte der Europäischen Union, nicht aus
der Kulturnation ableitet. Es ist ein rhetorischer Trick, diese Führungsverantwortung als so
unwiderrufliche, quasi vom Schicksal gestellte, Aufgabe auszulegen, dass eine abgelehnte
charismatische Führerschaft mit Vergeltung gestraft würde, wie es das Gesetz des Mythos
vorsieht (Adorno, Horkheimer 2001). Kultur spielt im europäischen Einigungsprozess allerdings
die Rolle, jenen strukturell und institutionell durchzuführen, sozusagen als sinngebendes
Moment.
So beansprucht eine kulturelle europäische Identität mehr, als Kreativität, Hoch- und
Alltagskultur im kulturnationalen Sinne Köhlers gewährleisten:
„ (…) der auf die Polis gerichtete Gemeinsinn, der Logozentrismus der Philosophie, römische Rechtsvorstellungen
und stoischer Humanismus, durch das Christentum gesteigerte Individualität, wissenschaftliche Rationalität mit
allgemeinen Wahrheitsansprüchen, wissenschaftlich fundierte Technologie, ästhetisch verstandene und erfahrene
Kunst, hermeneutische Fähigkeit des Fremdverstehens, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, demokratische
Organisation politischer Herrschaft, universell geltende Menschen- und Bürgerrechte.“ (Rüsen 2007: 36)
Nach Rüsen kann aber das europäische Modell nur zur vollen Entfaltung kommen, wenn das
dialektische Verhältnis von Kultur und Barbarei darin integriert wird, „indem wir uns bewusst beider
Seiten unserer Geschichte, der zivilisatorischen Erfolgsgeschichte und der desaströsen Geschichte des
Destruktionspotentials unserer Kultur vergewissern (...)“ (ebd.: 37)
Und ferner: „Wir sollten nicht in den alten ethnozentrischen Fehler verfallen und uns allein diese Errungenschaft
selbstkritischer Ambivalenz zubilligen, aber wir sollten ein neues historisches, historisch begründetes
Selbstbewusstsein in unserem Verständnis europäischer Identität genau daran festmachen, dass wir nicht mehr
einseitig unsere Errungenschaften beschwören, sondern sie in ihrer inneren Widersprüchlichkeit deutlich machen
und an uns selbst wahrnehmen.“ (ebd.: 38)
29 Problembewusstsein und Problemlösung kennzeichnen die policy-Perspektive, die Politics-Perskektive betrachtet die Funktionsweise von Politik als
Machtgewinnung innerhalb der relevanten Prozessbedingungen des politischen Feldes. Siehe dazu: Tils, Ralf (2005): Politische Strategieanalyse. Konzeptionelle
Grundlagen und Anwendung in der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik. 1. Aufl. Wiesbaden
Der Wert der kulturellen Bildung wird noch einmal als Synopsis aus Kreativität und kulturellem
Erbe an einem Beispiel manifestiert. Der verantwortungsvolle Staat schenkt mittels eines
kulturpolitischen Leuchtturmprojektes eine Bildungsmöglichkeit, um die kulturelle Tradition der
Hausmusik - aus einer bürgerlichen Bildungsidee geboren – nun demokratisch und egalitär
fortzusetzen. Hier ist das lernbereite Kind, egal mit welchem kulturellen Habitus ausgestattet, die
Hoffnung der Kulturnation.
H.K.: Wir alle wissen es: Die nächste Generation unseres Landes wird noch viel stärker von Menschen geprägt sein, deren Wurzeln fern
von Deutschland liegen. Ich sehe eine große, aber eben auch eine schöne Aufgabe darin, sie für unsere Kulturnation zu gewinnen. Das
wird diese Kulturnation verändern, weil noch mehr Traditionen, Herkünfte, Glaubensgewissheiten, Talente und Familiengeschichten in
ihr aufgehen. Unsere Liebe zur Freiheit und das Bekenntnis zur Selbstverantwortung, das Streben nach Glück und die Achtung der
Würde und der Rechte eines jeden Menschen bleiben dabei unveräußerlich. Auf die Kraft dieser Werte können wir vertrauen.
Die Menschen in Deutschland zeigen mit gemeinsamem Engagement dass sie unsere Kulturnation lebendig halten und liebenswert.
Kümmern wir uns alle um unsere Heimat.
Gott segne unser deutsches Vaterland.
Soziologisch betrachtet sind die Formen der Gesellschaft nicht naturgegeben, sondern Resultate
von Verhandlungen. Vertragliche Bindungen kommen, so Emile Durkheim, nicht aus Gründen
des Utilitarismus (Nutzenfaktor) zustande, sondern weil der Vertrag sozial reglementiert ist.
Nichtkontraktuelle Grundlagen des Vertrages sind die konsensuellen Kernpunkte des
gesellschaftlichen Zusammenlebens. Horst Köhler umrahmt diese Kerne als kulturgeschichtliche
Ergebnisse europäischer Identität, wie sie Rüsen aufgezählt hat: Freiheit und Selbstverantwortung
des Individuums (obwohl das Paradigma der Selbstverantwortung diskursiv besetzt ist),
das Streben nach Glück (das zwar in der amerikanischen Verfassung als ‚pursuit of happiness’
staatstragend ist, nach Freud aber die menschliche Gattung bestimmt) und die Menschenrechte.
Ist ein hohes Maß an Konformität gegeben, können so gesellschaftliche Unterschiede über diesen
Konsens integriert werden und das System stabilisieren.
Schlussbemerkung
Es sollte in der Mythenbildung, bevor sie in Ideologie umschlägt, gefragt werden, was mit dem
Mythos Unvereinbaren geschieht?
„Die Einheit des manipulierten Kollektivs besteht in der Negation jedes Einzelnen, es ist Hohn auf die Art
Gesellschaft, die es vermöchte, ihn zu einem zu machen.“ (Horkheimer; Adorno 2001: 19)
Kultur wird als Mythos der Integrierbarkeit von Unterschieden zelebriert, um eine Gemeinschaft
der Gleichen zu konstruieren, die sich durch verinnerlichten und veräußerlichten Kulturbesitz
von Anderen absetzt, um eine Führungsrolle zu beanspruchen und sich einer geschichtlichen
Aufgabe zu stellen. Nach innen wird diese Gemeinschaft fortwährend an diese Aufgabe durch
rituelle Kulturpflege mittels kultureller Bildung ermahnt. Im rituellen Vorgang der Einheitsfeier
ordnet sich die Anrufung dieser Kulturgemeinschaft in die Geschichte ein und soll damit zur sich
immer wieder als Ereignis wiederholenden Natur der Sache werden. Die Kulturnation wird
Wirklichkeit in dem Moment, indem sie in das Ritual eingebettet und durch die Rede manifestiert
Anlage 1
Rede vom Bundespräsidenten Horst Köhler beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3.
Oktober 2008 in Hamburg (pdf)
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