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Integrative Entwicklungsindikatoren - Ansätze zur

objektiven Einschätzung und Vorhersage.

(c) 1999 Stefan Thiesen, Ph.D. email: thiesen@uni-muenster.de

Was ist Entwicklung? Seit dem zweiten Weltkrieg ist Entwicklung im


wesentlichen durch das Wirtschaftsmodell der USA definiert.
Entwicklung bedeutet demnach Industrialisierung und exponentielles
Wirtschaftswachstum. Entwickung bedeutet erhöhte Produktivität,
Erschließung ständig neuer Absatzmärkte durch die Schaffung
ständig neuer Bedürfnisse. Traditionelle Wirtschaftsformen wurden
abgelöst durch die Geldwirtschaft.

Das Paradigma lautet, daß für jedes Land gut ist, was in der
Vergangenheit für West Europa und die USA gut war. In diesen
Ländern hat die freie Marktwirtschaft zunächst einmal zu erheblich
verbesserten Lebensumständen und nie zuvor gekanntem
allgemeinem Wohlstand geführt. Gleichzeitig aber hat sich der
Lebensstil der reichen Industrieländer als hochgradig schädigend für
die natürlichen Lebensgrundlagen erwiesen - als in keiner Weise
zukunftsfähig.
Für den hohen Entwicklungsstand wird mit krassen
Umweltschäden und einer Vielzahl sozialer Probleme ein hoher Preis
gezahlt. Traditionelle Lebensweisen wurden zerstört,
Familienverbände erodiert, und der einzelne ist gefangen in einer
Vielzahl von unüberschaubaren und unpersönlichen Abhängigkeiten.
Selbst so eindeutig positiv erscheinende Erfolge wie z.B. die
Steigerung der Lebenserwartung müssen relativiert werden, wenn
man die Umstände berücksichtigt, unter denen viele Menschen ihren
Lebensabend einsam in Pflegeheimen verbringen.

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Wenn der Entwicklungsstand einer Region oder einer Volksgruppe
objektiv eingeschätzt werden soll, dann ist es zunächst nötig zu
entscheiden, was Entwicklung bedeutet.
Die Definition als wirtschaftliche Entwicklung und Festlegung
starrer statistischer Indikatoren ist für den hohen Anspruch der
Objektivität wenig hilfreich, da sie lediglich einen Ausschnitt der
realen Situation widerspiegeln und spezifische kultur- und
naturräumliche Gegebenheiten außer acht lassen. Statistische Daten
wie pro-Kopf BIP, Lebenseinkommen, Kaufkraftentwicklung oder auch
Säuglingssterblichkeit und Lebenserwartung sind sehr verlockend, da
sie sich leicht in scheinbar objektiven Zahlenwerten erfassen,
vergleichen und repräsentieren lassen. Dennoch geben sie häufig ein
völlig falsches oder zumindest verzerrtes Bild wieder.
Die WTO sieht es als positive Entwicklung an, wenn in einem
Land, in dem 2000 Jahre lang erfolgreich von intakten dörflichen
Strukturen Subsistenzwirtschaft betrieben wurde, die Geldwirtschaft
Einzug hält, obwohl diese die Bevölkerung in tiefe
Abhängigkeitsverhältnisse führt, die Selbstversorgung zum Erliegen
kommt und mehr und mehr Menschen in den Armenvierteln am
Rande großer Städte unter menschenunwürdigen Verhältnissen
leben.

Das herrschende Entwicklungsparadigma bewertet einen schlecht


bezahlten Industriearbeiter, der mit seiner Familie in einer von
Armut, Krankheiten und Kriminalität geprägten Favela lebt, als höher
entwickelt, als traditionelle Subsistenzbauern in intakten
traditionellen Gemeinwesen die z.T. seit Jahrhunderten oder
Jahrtausenden existieren.

Ein objektiver Bewertungsansatz für den Entwicklungsstand muß


soziokulturelle Veränderungen und damit einhergehende Verluste an
Lebensqualität (weiche Faktoren wie "Familienverbände",
"Sinngefühl" etc.) sowie Umweltfaktoren mit einbeziehen.

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Zukunftsfähigkeit muß hier einen mindestens ebenso hohen
Stellenwert erhalten wie Wirtschaftswachstum, denn Wirtschaft wird
zur Farce, wenn die Menschen nicht von ihr profitieren und zugleich
die Lebensgrundlagen durch sie zerstört werden. In vielen Regionen
der Welt ist dies so eindeutig der Fall, daß man kein Geograph zu sein
braucht, um das zu erkennen.

Für Entwicklung nach westlichem Vorbild wird ein hoher Preis bezahlt.
Sogar hochgradig positive Resultate wie die erwähnte höhere
Lebenserwartung und geringere Kindersterblichkeit verursachen
Probleme. Bei zumeist fehlender Geburtenkontrolle (Beispiel
Philippinen) sind massives Bevölkerungswachstum, immer höherer
Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung, explodierende
Gesundheitskosten und brutale soziale sowie ethnische Konflikte
unter anderem die Folge.

Die Anzeichen mehren sich, daß für viele Regionen aus kulturellen
und naturräumlichen Gründen das westliche Entwicklungsmodell
ungeeignet und zum Scheitern verurteilt ist - tatsächlich ist es ja
nicht einmal auszuschließen, daß das Projekt "Westliche
Marktwirtschaft" langfristig als Ganzes ein Fehlschlag ist.

Der Versuch, integrative Entwicklungsindikatoren zu definieren, soll


einen Weg aufzeigen, die rein monetären und klassischen
statistischen Indikatoren um eine Komponente zu ergänzen, die sich
im (nicht erreichbaren) Idealfall an der Gesamtsituation einer Region
orientiert. Was nützt die Steigerung des Fischfanges, wenn die als
Brutgründe nötigen Korallenbänke zerstört werden. Was für eine
Bedeutung hat steigender Holzexport, wenn zugleich die
Bodenerosion örtlicher Nutzflächen drastisch zunimmt, wiederum
Riffe zerstört werden (Sedimentablagerungen) und die Einnahmen
vor allem wenigen reichen Familien und internationalen Konzernen
zugute kommen. Welchen Wert hat es, wenn der Absatz an

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elektronischem Spielzeug, die Zahl der Telefone, Fernseher und
Faxgeräte pro Person und der Umsatz an ungesunden
Nahrungsmitteln die den Namen kaum verdienen, wie Fast-Food und
Soft-Drinks, zunimmt, in einem Land, in dem es nicht einmal ein
Krankenversicherungssystem gibt.

All dies sind Beispiele aus den Philippinen, einem offiziell


demokratischen Land, dessen Wirtschaft und Politik von wenigen
Familien kontrolliert wird und in dem alle Fernsehsender sich in
Privatbesitz befinden. Die Philippinen haben eine der niedrigsten
Analphabetenquoten der Welt, und zugleich eine der höchsten
Geburtenraten. Es herrscht freie Marktwirtschaft, und tatsächlich ist
der Markt frei. Die Menschen sind es nicht. Es ist erstaunlich und
beängstigend, wie es den örtlichen Massenmedien gelingt, in
verarmten Menschen unsinnige Bedürfnisse zu wecken und von
tatsächlich vorhandenen Problemen abzulenken. Da gibt es nicht
wenige Menschen, die ohne Zukunftsaussichten sind und monatelang
sparen, um sich die Attrappe einer Zahnklammer leisten zu können,
da dies ein Statussymbol ist. Obwohl es allerorts kostengünstige und
sehr gute asiatische Restaurants gibt, zieht es die Leute in Massen zu
den erheblich teureren amerikanischen Fast-Food Ketten. Selbst in
entfernten Bergdörfern gibt es Fernseher, aus denen die bunt
flimmernde amerikanische Konsumwelt in die Bambushäuser der
Einwohner quillt und sie in die ausufernden Städte lockt.

Wenn man vor Ort ist, sieht man solche Zusammenhänge, doch wie
entwickelt man aus solchen Beobachtungen eine systematische
Methodik zur Definition von Indikatoren? Wie kann man die
Zufriedenheit der Bevölkerung erfassen und bewerten oder ihren
Informationsstand? Wie lassen sich lokale Umweltprobleme und
Sozialstandards im Licht globaler Wirtschaftsinteressen einordnen?
Wie lässt sich „Lebensqualität“ messen – oder überhaupt erst

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definieren, und wie kann man aus diesem Wust unklarer
Informationen Voraussagen für die Zukunft ableiten?

Quantitative Indikatoren vermitteln häufig die Illusion handfester


Informationen. Tatsache ist aber leider, daß sich sowohl menschliche
Gesellschaften als auch die natürliche Umwelt und selbst das um ein
vielfaches simplere Welt-Wirtschaftssystem nicht mit einfachen
Zahlenwerten erfassen lassen. Es handelt sich offensichtlich um
komplexe, nicht lineare und eng miteinander verzahnte dynamische
Systeme, von denen niemals alle Elemente - oder auch nur ein
signifikanter Teil davon - bekannt sein können. Jegliche theoretische
Modellrechnung ist stark vereinfachend und arbeitet mit zuvor
festgelegten Randbedingungen, die es so in der realen Welt
überhaupt nicht gibt.

Die wirkliche Herausforderung für die Geographie könnte hier sein,


sich mit dem schwer Definierbaren auseinanderzusetzen. Die größte
Stärke der Geographie ist es, daß sie eine Wissenschaft der Synthese
ist, die größere Zusammenhänge aufzuzeigen vermag. Die
fortschreitende Spezialisierung innerhalb der Geographie könnte aber
letztlich dazu führen, daß sie in den Randgebieten der
Nachbarwissenschaften aufgeht, wobei das verbindende Element
verloren ginge.

Integrative Entwicklungsindikatoren sind dagegen eine Anwendung


der klassischen geographischen Methodik auf das Thema
Veränderung. Die klassische Geographie ist bemüht,
Zusammenhänge aufzuzeigen, wie sie in einem bestimmten Raum
oder der Erde als Ganzes gegeben sind. Das Ergebnis ist eine
Systemvorstellung mit durchlässigen Randbedingungen. Der
integrative Ansatz - gleich, ob im Bereich Umwelt-Impakt-Forschung
oder im Bereich Entwicklungsforschung - bezieht den Umstand ein,
daß das reale System zudem seine eigenen Randbedingungen

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ständig ändert. Dabei muß mit einbezogen werden, daß sich nicht
alle Faktoren durch mathematisch leicht handhabbare numerische
Werte repräsentieren lassen.

Zunächst einmal muß eine Standortbestimmung erfolgen. Welche


Ansätze existieren bereits, und welche Methodik kann in ein solches
Konzept einfließen? Dabei wird vor allem auf die vorhandenen
Ergebnisse im Bereich der integrierten Umweltforschung einerseits
(Dowlathabadi et. al, Batelle Institut, Lange et al. etc.) sowie der
klassischen und kritischen Entwicklungsforschung andererseits
zurückgegriffen. Ein Ausgangspunkt ist es, die Schwächen der
weltweit angewandten Weltbank- und IMF-indikatoren anhand
konkreter Beispiele aufzuzeigen.

Die Erfahrung mit Computermodellen hat gezeigt, daß diese


häufig zu einer Art elektronischem "Neuplatonismus" führen, und der
Kontakt zum Forschungsgegenstand - in diesem Falle zu den
betroffenen Menschen und ihrer natürlichen Umgebung - verloren
geht. Für die Geographie ist das eine fatale Entwicklung. Zwar sind
quantitative Methoden eine notwendige Ergänzung zur
geographischen Methodik, jedoch bin ich zu der Überzeugung
gelangt, daß der menschliche Experte unverzichtbar ist, um die
vielen unterschiedlichen Fäden zu verbinden. Das Konzept der
integrativen Entwicklungsindikatoren benötigt den Experten als
Vermittler einer "Länderkunde der Veränderung". Wie Erwin
Schrödinger 1943 in Dublin sagte:

“... We have inherited from our forefathers the keen longing for
unified, all-embracing knowledge. The very name given to the
highest institutions of learning reminds us that from antiquity
throughout many centuries the universal aspect has been the only
one to be given full credit. But the spread, both in width and depth,
of the multifarious branches of knowledge during the last hundred

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odd years has confronted us with a queer dilemma. We feel clearly
that we are only now beginning to acquire reliable material for
welding together the sum-total of what is known into a whole; but, on
the other hand, it has come next to impossible for a single mind fully
to command more than a small specialized portion of it. I can see no
other escape from this dilemma (lest our true aim to be lost forever)
than that some of us should venture to embark on a synthesis of
facts and theories, albeit with second-hand and incomplete
knowledge of some of them, and at the risk of making fools of
themselves. So much for my apology.”

Erwin Schrödinger,Trinity College, Dublin, 1943

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