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Danke für den Brief. Ich habe O. geschrieben, wer das Reich Gottes
ernsthaft erstrebe, müsse einsam sein, und demjenigen, der diesen
Weg beschreite, gebe Gott Tröstungen, neben denen sämtliche
irdischen Freuden nichts seien. Man darf nur nicht
"zurückschauen", nach dem Beispiel von Ignatij Brjantschaninow
21. Wir müssen alle um die geistliche Weisheit bitten, da es ja
auch eine dämonische Weisheit gibt (vgl. Jak 3, 15).
Die Menschen sind ihrem Wesen nach und im Grunde ihrer Seele
alle besser als in ihrem sichtbaren Leben. Im Sakrament der Taufe
haben wir das Ebenbild und die Gnade Gottes erhalten, unsere
Persönlichkeit, unser Ich. Dies ist eine gewaltige Gottesgabe: Aus
dem Nichtsein ersteht ein neuer Mittelpunkt der Selbsterkenntnis,
das Ich, welches sich selbst und die ganze Welt erkennt. Das Ich
ist dem ganzen All gleich, denn es hat als selbsterkennende
Persönlichkeit nicht nur das Universum, sondern auch Gott zum
Objekt. Das Ich strebt danach, zu erkennen, zu verstehen, d. h.
das ganze Universum und Gott selbst einzunehmen und sich
einzuverleiben. "Ihr seid Götter und Söhne des Allmächtigen." Zum
Erkennen ist der Mensch von seinem Schöpfer auch aufgerufen,
aber nur "auf gesetzlichem Wege".
So großartig ist der Mensch! Deshalb scheint er bisweilen auch so
schön, obwohl sein wunderbarer Wesensgrund wie begraben liegt,
verschüttet vom Unrat der Empirie, d. h. von armseligen
Kenntnissen und Gefühlen, kleinem Krimskrams, belanglosen
Interessen und Aufgaben usw. ( ... ) In der Jugend - manchmal
auch später - verfügen wir über die Fähigkeit, die Tiefe der
menschlichen Seele durch diese Empirie hindurch zu erfassen. Mit
zunehmenden Jahren zwingt uns der ständige Konflikt mit dem
Alten Menschen in uns zur Vorsicht diesem gegenüber - dazu ruft
uns ja auch der Erlöser auf. Ich möchte mich nicht länger darüber
auslassen, obwohl es noch manches dazu zu sagen gäbe. Ich hoffe,
daß Du mich auch so verstehst.
http://www.scribd.com/doc/27159986/Briefe-Eines-Russischen-Starzen-an-
Seine-Geistlichen-Kinder