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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Kirchengeschichte IV

Die Kirche in der Neuzeit


Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart
03.03.2009
Einleitung: Epochengrenze – Einteilung – Schwerpunkte
In dieser Vorlesung wird die Kirchengeschichte der Neuzeit betrachtet, von der Französischen Revolu-
tion bis in die Gegenwart. Die Französische Revolution ist eine markante Zäsur in der abendländischen
Geschichte, so dass die Zeit davor und danach in anderem Licht erscheint. Mit der Französischen Revo-
lution beginnt die Moderne.
Das 19. Jh. steht klar unter den Modernisierungserscheinungen. Politisch, intellektuell, sozial. Es gibt
neue Formen des Zusammenlebens und der Abläufe, die sich grob von dem vorher unterscheiden. Wis-
senschaftlicher Fortschritt, Industrialisierung.
Das andere Ende der betrachteten Zeitspanne, die Gegenwart, ist vom Kontext schwieriger. Je näher
der Historiker seiner eigenen Zeit kommt, desto diffuser wird die Erkenntnis. Man braucht die Distanz
zum Erkennen. Wir wissen nicht, ob z.B. 2008 ein Epochenjahr ist. Auf jeden Fall ist das Jahr 1989 mit
dem Fall der Berliner Mauer und dem Zugrundegehen des Kommunismus eine Zäsur.
Unterteilung der betrachteten Epoche der letzten 2 Jahrhunderte
Es bieten sich die Jahrhunderte an. Ein langes 19. Jh. und ein langes 20. Jh. Was bedeutet lang? Die
Zeitrechnung beginnt nicht punktuell, sondern es gibt Überlappungen, das 19. Jh. endet nicht mit 1899,
in der Wahrnehmung und den Auswirkungen setzt es sich ins 20. Jh. fort. Gleiches gilt für das 20. Jh.
Das 19. Jh. stellt in der Tendenz (gipfelnd im I. Vatikanum) eine Zeit der Defensive, der Abwehr und
der selbst auferlegten Abgrenzung gegen die Moderne dar. Das 20. Jh. gipfelt im II. Vatikanum, und
bietet das genaue Gegenteil, die Öffnung zur Moderne. Dazwischen gibt es retardierende Momente,
Gegenbewegungen. Auch das ist ein Phänomen der letzten Zeit, das gab es vorher nicht.
Vor eine Pauschalisierung ist aber zu warnen. Die skeptische Sicht des 19. Jh. gegen die Moderne darf
man nicht als Fehlentwicklung aburteilen. Man darf auch nicht geschichtsnaiv werden und eine ideolo-
gische Fortschrittshaltung einnehmen, die alles Vorherige abwertet. In der Einstellung der skeptischen
Kirche gibt es viele Elemente der Modernität (Vereinsrecht der Katholiken, Einsatz neuer Medien).
Im 20. Jh. darf man nicht alles als Fortschritt bewerten, was sich der Moderne preis gibt. Das kann
schädlich sein, z.B. die vielfältigen Affinitäten und Anfälligkeiten moderner Theologen in der 1. Hälfte
des 20. Jh. für die Nazi-Ideologie.
Der Kampf der Kirche im 19. Jh. um einen eigenen Standpunkt gegen eine atheistisch-liberale Gesell-
schaft gab der Kirche ein neues Potential an Freiheit. Man konnte sich neu definieren ohne Rücksicht
auf staatskirchliche Dogmen. Die Frontstellung mit dem modernen Staat trug nicht nur zur Emanzipati-
on vom Staat bei, sondern man wurde auch eine moralische Autorität, die dem Staat gegenüber steht
und akzeptiert wird.
Man kann weitere Unterteilungen der Periodisierung vornehmen:
19. Jh.:
- 1790 (Französische Revolution) – 1815 (Wiener Kongress, staatliche Neuordnung)
- 1815 – 1848 (Revolution, Liberalismus auch in Mitteleuropa). Nationalstaaten hervorgebracht
- 1848 bis Ende des I. Vatikanum (1870)

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- Rezeption des Konzils innerhalb der katholischen Kirche, die bis nach dem 1. Weltkrieg dauert.
Benedikt XV. (1922)
20. Jh.:
- Ende 1. Weltkrieg (Ende der Monarchien) bis Ende 2. Weltkrieg
- von da bis in die Gegenwart

Für die kirchengeschichtliche Untersuchung bietet sich die chronologische Methode an. Selten war die
Entwicklung der Kirche so an die politischen Ereignisse gebunden wie in diesen Jahrhunderten. Nach
dem Untergang der Reichskirche verlor die Kirche Besitz, usw., sie musste sich neu orientieren und mit
den Gegebenheiten arrangieren. Man konnte im 20. Jh. mildernd mitgestalten.
Eine chronologische Betrachtung darf den Blick für die Kontinuität und die leisen Veränderungen im
Lauf der Zeit nicht verstellen.
Im 19. Jh. muss man achtgeben auf die Herausbildung eines katholischen Milieus. Der Katholizismus
mit seinen entsprechenden Charakteristiken entsteht erst jetzt. Die Konfessionalisierung erfasst alle
Lebensbereiche der Kirche. Es bildet sich eine Identität heraus, dass man katholisch ist. Eine Identität,
die nicht mehr abhängt von der Entscheidung des Reichsfürsten, sondern die auf privater Entscheidung
und persönlicher Lebensgestaltung beruht. Die gesellschaftliche und soziale Realität war früher weithin
von der Konfessionszugehörigkeit bestimmt.
Die Betrachtung des Milieus darf nicht zur falschen Annahme verleiten, dass solche Entwicklungen
ungleichzeitig verlaufen sind. Es tritt nicht über Nacht auf, es hat eine Entwicklung. Es besteht auch
aus den widerstreitenden Elementen. Das Leben der Kirche ist ab dem 19. Jh. ein Ringen zwischen
Akzeptanz und Ablehnung der Modernität. Es haben sich vermutlich verschiedene Katholizismen her-
ausgebildet. Die Züge von Einförmigkeit von Kirche im 19. und 20. Jh., die man gesehen und auch oft
beklagt hat, stimmen nicht. Die Kirche war disparat, es gab immer verschiedene Gruppen. Als Kon-
stante schält sich heraus, dass die Kirche als Ganze und einzelne Gläubige dazu sich irgendwie zur
Moderne verhalten mussten, und man sich dennoch bewusst blieb, eine Kirche zu bleiben. Die Einheit
der Kirche war in diesen Jahrhunderten aus genau diesem Grund niemals größer, und auch das Be-
wusstsein der Einheit von Kirche in der Gegenwart niemals größer. Ökumene, Einheit wird als Problem
wahrgenommen.
Schwerpunkte
Orientierung an der Papstgeschichte. Wie selten zuvor hing das Schicksal der lateinischen Kirche an
den Entscheidungen, Einstellungen, der Politik des Papstes. Da zeichnet sich aber auch eine Dialektik
ab. Je unbedeutender das Papsttum politisch wurde, desto mehr nahm die Bedeutung des Papsttums für
die innere Gestaltung der Kirche zu, auch die Bedeutung als moralischer Autorität. Den Höhepunkt
bildet das I. Vatikanum mit Jurisdiktion, Unfehlbarkeit und Primat. Genau zu der Zeit wurde der Papst
seiner Hauptstadt beraubt und somit politisch bedeutungslos. Wir müssen uns im Klaren sein, dass das
Papsttum nicht mit der Kirche identifiziert werden kann und darf. Die Geschichte des obersten Lei-
tungsamtes ist zwar repräsentativ, aber man darf beides nicht in eins setzen. Die Kirche hat sich auf
zahleichen anderen Gebieten manifestiert außer der Politik. Die Caritas richtete sich neu aus. Auf-
schwung des Ordenslebens. Katholische Vereine. Theologie und das Schulwesen, … das alles prägt das
Leben der Kirche. Wir müssen auch diesen Formen kirchlichen Lebens Aufmerksamkeit widmen. Die-
ses Leben der Ortskirchen und der einzelnen Gläubigen darf man nicht vom Geschick der gesamten
Kirche trennen.
Der Überblick beschränkt sich auf die katholische Kirche. Aufgrund der Konfessionalisierung muss
man sich von der Sache her auf eine Konfession konzentrieren. Man muss aber auch das Schicksal der
anderen Kirchen in den Blick nehmen. Vor allem die Geschichte der östlichen Kirchen. Wir werden
auch einen Blick auf die protestantische Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus werfen.

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Die Trennung ist rechtens, weil sich die Konfessionen voneinander getrennt haben. Die katholische
Kirche wählte einen Kurs der Isolation, wo sie Freiheiten suchte, die den Protestanten nicht wichtig
erschienen (sie sahen sich als Staatskirche).
Literaturliste (in großer Schrift die empfohlene Lektüre)
A) Übersichtsdarstellungen
• Von der Französischen Revolution bis 1989, hrsg. v. Hubert Wolf, Darmstadt: Wissenschaftli-
che Buchgesellschaft, 2007 (= Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 3). -- 464 S. [darin v.a.
die Beiträge von Hubert Wolf, S. 91-177, und von Josef Pilvousek, S. 271-349]
• Klaus Schatz: Kirchengeschichte der Neuzeit II, Düsseldorf: Patmos, 1989 (3. Paperbackaufl.
2008). -- 204 S.
• August Franzen: Kleine Kirchengeschichte. Erw. Neuausgabe, durchgesehen v. Bruno Steimer,
erw. bis in die Gegenwart v. Roland Fröhlich, Freiburg u.a.: Herder, 2006 [v.a. S. 335-442]
• Die Geschichte des Christentums, hrsg. v. Jean-Pierre Mayeur, Pierre Vauchez, Michel Mollat, u.a.
o Bd. 10: Aufklärung, Revolution, Restauration, 1750 – 1830, hrsg. v. Bernard Plongeron, Freiburg: Herder, 2000.
o Bd. 11: Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas, 1830 – 1914, hrsg. v. Jean-Marie-Mayeur, Charles Pietri, Luce Pietri,
Freiburg: Herder, 1997.
o Bd. 12: Erster und Zweiter Weltkrieg - Demokratien und totalitäre Systeme, 1914 – 1958, hrsg. v. Jean-Marie Mayeur, Kurt Meier,
Freiburg: Herder, 1992.
o Bd. 13: Krisen und Erneuerung, 1958 – 2000, hrsg. v. Jean-Pierre Mayeur, Freiburg: Herder, 2002.
• Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. Hubert Jedin;
o Bd. VI.1: Roger Aubert: Die Kirche zwischen Revolution und Restauration, Freiburg: Herder, 1971 (Nachdrucke 1985, 1999)
o Bd. VI.2: Roger Aubert: Die Kirche zwischen Anpassung und Widerstand, 1978-1914, Freiburg: Herder, 1973 (Nachdrucke 1985,
1999).
o Bd. VII: Die Weltkirche im 20. Jahrhundert, Freiburg: Herder 1979 (Nachdrucke 1985, 1999)
• Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte: Bd. 2: Reformation und Neuzeit, Gütersloh 1999 (3. Aufl. 2005)
• Karl Hausberger: Reichskirche - Staatskirche - »Papstkirche«: Der Weg der deutschen Kirche im 19. Jahrhundert, Regensburg 2008. -- 230 S.
• Manfred Weitlauff (Hrsg.), Kirche im 19. Jahrhundert, Regensburg 1998.
• Hubert Kirchner: Das Papsttum und der deutsche Katholizismus 1870 – 1958, Leipzig 1992. - 140 S. [= Kirchengeschichte in Einzeldarstellun-
gen, 3]

Erster Teil: Die Kirche im 19. Jahrhundert

1. Aufklärung und Staatskirche: Das Erbe des 18. Jahrhunderts


Blick auf die Situation der Kirche vor der Französischen Revolution.
1789 ist ein Schlüsseljahr, der Ausbruch der Revolution, die bis in die ersten Jahre des 19. Jh. mit den
napoleonischen Kriegen die Welt verändert. Es ist die stärkste Zäsur der abendländischen Geschichte.
In den Auswirkungen war es eine weltgeschichtliche Revolution, die auch vor der Kirche nicht Halt
machte. Das Königtum und alle Stände wurden hinweg gerissen (Feudalrechte, kirchliche Freiheiten,
…). Die Revolution brachte nicht die versprochenen Bürgerrechte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlich-
keit). Die Despotie des Königs wurde von der Despotie der Massen abgelöst, die Exzesse waren größer
als zuvor. Der Terror schreckte Adelige und Kirchenmänner ab, und begünstigte die Restauration, die
sich in der 1. Hälfte des 19. Jh. wieder durchsetzte. Die freiheitlichen Ideen der Revolution verloren
aber nichts von ihrer Anziehungskraft.
Kein europäisches Land und auch nicht die Kirche konnten sich den Ideen der Revolution entziehen.
Die Kirche war in der Haltung zu den Ideen ambivalent. Selbst die beharrenden Kräfte wurden von den
Ideen der Revolution geformt, und sei es nur in passiver Weise, dass man sich in totaler Ablehnung neu

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identifizierte. Die Sympathie für aufklärerisches Gedankengut in der Kirche darf nicht auf die Revolu-
tion selbst zurückgeführt werden. Es gab vor der Revolution ein hohes Maß an aufklärerischem Gedan-
kengut, Reformen, die nach der Revolution positiv zum Tragen kamen.

1.1 Gallikanische Kirche und Episkopalismus im Reich


Die Auswirkungen der Revolution in Europa waren nicht uniform, jedes Land war in einer anderen
gesellschaftlichen Situation. In Frankreich war es anders als im Reich, auch Österreich war anders.
Als Ecclesia Gallicana hatte die französische Kirche eine jahrhundertelange Eigenständigkeit und ei-
genständige Strukturen entwickelt, meist auf Kosten des römischen Primatialanspruches. Man kann
von einer quasi eigenständigen Kirche sprechen. Das Gründungsdokument der gallikanischen Kirche
war eine Klerusversammlung 1682, wo die berühmten 4 gallikanischen Artikel verabschiedet wurden.
Die wichtigsten Aspekte wurden zusammengefasst. Die Deklaration war ein königliches Gesetz. Autor
war der Theologe Bossuet.
- Petrus ist die Gewalt in der Kirche gegeben, aber nur über geistliche Dinge und jene die das
ewige Heil betreffen. Nicht aber über bürgerliche und zeitliche Belange. Ein Papst kann weltli-
che Herrscher nicht belangen und absetzen. Im Mittelalter war das ein unhinterfragtes Recht.
- Der zweite Artikel ist eine Anspielung auf „Haec sancta“. Der Papst hat auf das Konzil zu hö-
ren. Dieses Dokument gilt den Gallikanern als Glaubenswahrheit. Der apostolische Stuhl selbst
habe das Dokument genehmigt, die ganze Kirche hat es bestätigt, die gallikanische Kirche hat
es zu jeder Zeit beobachtet.
- Gemäß den ersten beiden Aussagen muss das Leben der Kirche reglementiert werden, auch die
Gewalt des Papstes. Unbeschadet der Primatialgewalt des Papstes gelten dennoch die Regeln,
Sitten und Einrichtungen der gallikanischen Kirche. Man kleidet die Infragestellung der Autori-
tät des Papstes in fromme Worte!
- Man bindet die Lehrgewalt des Papstes an den Konsens der Kirche, sonst ist kein Dekret unab-
änderlich. Später wurde das auf die Infallibilität angewendet. Darauf reagierte „Pastor aeternus“
am I. Vatikanum.
Die gallikanische Kirche war sehr stolz und selbstbewusst, sie regelte ihre Angelegenheiten selbst ohne
den Papst. Die Bischöfe wurden vom König eingesetzt, der Papst stimmte im Nachhinein zu. Die fran-
zösische Kirche hing völlig von der Gnade der Krone ab, der König unterstützte die Kirche, und forder-
te daher Loyalität der Kirche mit dem Königtum. Die Kirche in Frankreich war aber auch zweigeteilt,
weil die Bischöfe und das Domkapitel aus dem Adel stammten. Das sollte sich auswirken, weil die
Landbevölkerung mit den Pfarrern der Aufklärung gegenüber aufgeschlossener war.

Die Kirche im römischen Reich


Die Kirche im römischen Reich hatte Parallelen zu Frankreich. Man hatte Privilegien und Freiheiten,
die im Vergleich zum absolutistischen Frankreich ungleich größer waren. Das Reich bestand aus vielen
verschiedenen Einheiten, der Kaiser war eher moderierend tätig um das labile Gleichgewicht zu erhal-
ten.
Die Hochstifte, Reichsabteien z.B. genossen sehr große Privilegien. Die Bischöfe waren Landesherren
mit weitgehender Autonomie. Über die Unversehrtheit wachte der Reichstag. Der Kaiser war nur Pri-
mus inter pares. Ihm kam eine Schutzfunktion zu, die Macht gewann er aus eigenen Ländereien.
Das Reich war fragil, träge und schwer zu regieren, und man war stets auf Ausgleich der Interessen
bedacht. Das nennt man die deutsche Libertät, die Freiheiten, die die einzelnen Reichsstände genossen
haben. Vom Reich gingen keine imperialistischen Aggressionen aus, aber es gab auch keine Impulse,

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Aufbrüche, Reformen. Politisch betrachtet stärkten die geistlichen Fürsten eher die Position des Kai-
sers. Der Kaiser besetze Bischofsitze und Domkapitel.
Die größeren Staaten (Preußen, Österreich) im Reich dehnten sich über das Reich hinaus aus. Das ver-
lieh Selbststand und führte zu Machtpolitik auf Kosten des Reichs, was dort die Sympathien nicht
mehrte.
Die Reichskirche schwächte sich vor allem durch die Aristokratisierung derselben. Seit dem 16. Jh.
werden die geistlichen Territorien mehr und mehr zu Versorgungsstellen für Söhne von Fürsten und
Adelshäusern. Selbst der Papst sah dem teils machtlos, teils gewogen zu. Er wollte das katholische
Gleichgewicht in Europa wahren, er musste aber auch die Freiheiten berücksichtigen, die sich im Lauf
der Jahrhunderte gebildet hatten.
Die Fürstbischöfe benahmen sich mehr wie weltliche Fürsten, die kirchlichen Aufgaben nahmen Vika-
re, etc. wahr. Das stand im krassen Gegensatz zum Bild des Bischofs am Konzil von Trient. Es gab
aber auch verantwortungsvolle Reichsprälaten, die Reformen aufgeschlossen waren. Man bemühte sich
mit Erfolg um Veränderungen (v.a. auch in Österreich).

1.2 Katholische Aufklärung


Das Erbe des 18. Jh. zeigt, dass es eine katholische Aufklärung gab, sie reichte vom letzten Drittel des
18. Jh. bis ins erste Drittel des 19. Jh.
Nimmt man die Französische Revolution als Zäsur zur Moderne, dann darf man nicht übersehen, dass
es in der katholischen Kirche einen Nährboden gab, der die Reformen gern aufnahm und eine Brücke
zwischen den Epochen darstellt. Die Aufklärung war nicht nur kirchenkritisch, sie wurde auch von Kir-
chenmännern mitgetragen. Man darf und muss von einer katholischen Aufklärung sprechen.

Theologische und Praktische Punkte


- Die Theologie sollte offen sein für die Philosophie der Zeit. Idealistisch, Descartes. Man ver-
suchte das Evangelium mit der Vernunft zu versöhnen. Das eine schließt das Andere nicht aus.
Versöhnung zwischen Theologie und zeitgenössischer Philosophie.
- Die Sicht der Kirche als göttliche Erziehungsanstalt. Eine Ekklesiologie, die die Kirche als Leh-
rerin ansieht, die den Menschen bessert. Einfluss von Rousseau, Bildung ist immer Erziehung.
- Kritik der kirchlichen und päpstlichen Unfehlbarkeit zugunsten einer Wertschätzung der Lei-
stung der menschlichen Vernunft. Der Mensch ist fähig die Wahrheit zu erkennen, er ist nicht
auf das Lehramt verwiesen (gallikanische Motive).
- Quellenstudium, Exegese.
- Bestrebungen historischer Art, in denen man sich auf die Quellen besinnt. Besinnung auf die
Urkirche als Ideal. Produkte dieses Programms sind bedeutende Werke. „Acta sanctorum“ der
Donatisten. Sind die Heiligenviten historisch?
- In Verbindung mit dem Jansenismus (von Cornelius Jansen, Augustinus-Theologie, Gnadenleh-
re; im Gegensatz zur Scholastik der Jesuiten) entsteht eine innerkirchliche Reformbewegung.
Innere Bekehrung und Erneuerung der Theologie.
- Aufgeschlossen für naturwissenschaftliche Studien. Das stellt keinen Gegensatz zwischen Ver-
nunft und Offenbarung dar. Die Naturwissenschaft ist kein Schaden für die Offenbarung.
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Es kam im Einklang mit den Protestanten Kritik am absoluten Primat des Papstes auf. Diese Strömung
wird als Febronianismus bezeichnet.

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1763 erschien die Schrift „De statu ecclesiae et legitima potestate Romani pontificis liber singularis“.
„Über den Zustand der Kirche und über die legitime Gewalt des römischen Bischofs“. Autor war ein
Justinus Febronius, ein Pseudonym, was angesichts des Inhalts verständlich wird. Es war eine harsche
Kritik an den Ansprüchen des römischen Kirchenverständnisses, ein Plädoyer für eine eigenständige
deutsche Kirche und der Ruf nach Reformen (ausgerichtet am Altertum). Hinter dem Pseudonym stand
der Weihbischof von Trier, Johann Nikolaus von Hontheim. Er griff kursierende Verständnisse von
Kirche, Kirchenverfassung und Kirchenreform auf, die auch im gallikanischen Kontext bekannt waren
(4 Artikel), und die sich mit Hoffnungen verbanden, die Freiheiten, die die französisch-gallikanische
Kirche hatte, auch für das Reich umzusetzen. Ein Programm zu einer tiefgreifenden Reformation der
kirchlichen Verfassung. Vorbild war die alte Kirche, das Ideal stand im Vordergrund, wie es um 800
gegolten hat. Pseudoisidor wurde als eine Fälschung entlarvt, sie datiert im 9. Jh. In Pseudoisidor liegt
die Wurzel des Primatsanspruches. Wenn man davor zurückgeht, hat man die alte Verfassung wieder.
Die Kirche war damals bischöflich und nicht päpstlich verfasst. Hontheim lässt sich in den Episkopa-
lismus einordnen, eine auf den Bischof ausgerichtete Kirchenverfassung. Der Primat des Papstes wird
anerkannt, aber nur als Ehrenamt. Er sollte die Communio, die Einheit symbolisieren. Der Papst soll
wissen, was in der Ortskirche geschieht, aber keinen Einfluss haben. Man wollte die Wiedereinsetzung
der bischöflichen Rechte, sowie die Aufhebung bestehender Sonderrechte (exemte Bettelorden) bis hin
zur Aufwertung des Lehramtes der Bischöfe -> konziliare Idee.
Febronius traf die Stimmung der Zeit, er fasste sie zusammen in einer Art wie nie zuvor. Wenige Jahre
später hat eine weitere Veröffentlichung, die „Koblenzer Gravamina“, in 31 Artikeln das Anliegen des
Febronius aufgegriffen und ihm Ausdruck verliehen.
Die bischöfliche Strömung erhielt weiter Auftrieb durch ein Ereignis 1785. Der bayrische Erzbischof
errichtete eine Nuntiatur in München. Die Nuntiatur war immer mit besonderer Jurisdiktion verbunden.
Das lief dem Episkopalismus entgegen. Man protestierte gegen die Errichtung, 4 Erzbischöfe des Rei-
ches taten sich zusammen zur sogenannten „Emser Punktation“, ein letztes Manifest des deutschen
Episkopalismus. Es richtete sich gegen exemte Orden, Nuntiaturen, und forderte die Gestaltung der
deutschen Kirche durch nationale Synoden. Ähnlich der gallikanischen Kirche wollte man eine deut-
sche Reichskirche errichten. Das Manifest blieb ohne Folgen, der deutsche Episkopalismus kam über
die scharfen Formulierungen nicht hinaus.

1.3 Josephinismus
In Österreich fanden der aufgeklärte Katholizismus und der Episkopalismus eine Form im Josephinis-
mus, der sich aber nicht mit Febronianismus und katholischer Aufklärung deckt. Joseph II. hat aber
Elemente übernommen.
Joseph II. regierte seit 1769 gemeinsam mit seiner Mutter Maria Theresia, ab 1780 allein. Er preschte
früh mit den aufklärerischen Absichten vor. Seine Berater waren u.a. Kaunitz, van Swieten, Josef An-
ton Rehegger (ein Kanonist). Joseph ging es um eine Reform des Staates, die Reform der Kirche spielte
eine untergeordnete aber logische Rolle. Die Kirche hatte Bedeutung für die Erziehung und Bildung,
sie war unverzichtbar. Die Unterweisung und Erziehung sollte aber nach seinen Ideen stattfinden. Die
Studienreform 1776 war ein erstes Ergebnis.
Ab 1780 regierte Joseph II. alleine, er konnte nun die Ideen durchsetzen. Bis 1790 wurde Österreich
das Land, in dem die katholische Aufklärung am sichtbarsten zum Ausdruck kam. Nur hier gab es ein
Programm, das auch systematisch umgesetzt wurde. Eine Maxime war, dass der Staat Toleranz üben
musste. Hexenprozesse, Folter, Todesstrafe und Leibeigenschaft sind abzuschaffen. Joseph war es auch
ein Anliegen, dass die rechtliche Stellung der Bauern und Soldaten sich verbesserte, sowie aller unteren
Stände. Es gab auch die Besteuerung des Adels und des Klerus. Man arbeitete an einem einheitlichen
Staatsköper, wo alle gleiche Recht und Pflichten hatten. Am wichtigsten aber war das Toleranzpatent.

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Der Staat ist die alleinige politische Realität, in dem alle öffentlichen Unternehmungen zusammenge-
fasst sind, alles unterliegt damit der Ordnung des Staates – auch die Religionsausübung, er beaufsich-
tigt sie. Ziel war kein Überwachungsstaat, das Ideal war ein florierendes Staatswesen, zu dem alle
Kräfte beitragen sollten. Am wichtigsten waren Joseph die Förderung der Wirtschaft und die Konsoli-
dierung der Finanzen. Das ging nur durch die Erziehung des Volkes, man musste die Leute von den
Zielen überzeugen und andere widerstreitende Überzeugungen abstellen. Das waren weithin die christ-
lichen Gebräuche und abergläubischen Praktiken.
Das Ergebnis war ein Staatskirchentum, das man nicht verstehen darf als hätte der Staat die Stelle der
Religion eingenommen oder er definiere Glaubensartikel und Glaubenswahrheiten. Aber insoweit, dass
die Glaubenswahrheiten und die moralischen Grundsätze zur Erreichung des Staatszieles beitragen.
Das religiöse Leben war Teil des öffentlichen Lebens und hatte sich dem unterzuordnen.
Erster Lebenszweck war das bonum commune, die Kirche hatte sich daran zu halten. Die katholische
Kirche war damit wie alle anderen Religionsgemeinschaften der Staatshoheit unterstellt. Eine Orientie-
rung an etwas Außerstaatlichem (Papst) war unerwünscht -> der Einfluss des Papstes sollte reduziert
oder eliminiert werden. Die katholische Kirche büßte Privilegien und Freiheiten ein. Andere profitier-
ten davon, vor allem die Protestanten und Juden. Das wurde 1781 im Toleranzpatent festgelegt. Nicht-
katholiken, aber auch Orthodoxen wurde freie Religionsausübung und bürgerliche Rechte zugestanden.
Die Protestanten durften Kirchen bauen, aber mit Auflagen. Die Kirchen durften z.B. keine Kirchtürme
haben.
Träger der Reformen waren v.a. die kaiserlichen Beamten. Der Beamtenapparat teilte die Vorstellungen
des Kaisers und übte den nötigen Druck aus. Diese Beamten, die sich mit den aufgeklärten Zielen Jo-
seph identifizierten, waren der Grund, dass sich diese Ideen bis ins 19. Jh. hinein gehalten haben. Sie
waren eine Wurzel des Liberalismus, die sich in den Revolutionen des 19. Jh. äußerten.
Was änderte sich durch die Reformen in der Kirche?
Es kam zu Enteignungen und massiven Eingriffen in das Leben der Kirche. Es gab ein staatliches Dik-
tat dort wo die Kirche bisher autonom war. Man könnte ein negatives Bild zeichnen, aber man über-
sieht dabei, dass diese Kritik objektiv nicht zutrifft, es gab auch positive Ansätze, die die Kirche vom
Kaiser gegen ihren Willen bekam. Ein Modernitätsschub. Im 19. Jh. sind diese Modernitätsschübe
(aufgeschlossen gegen aufklärerische Ideen) der Kirche zugutegekommen.
8 Punkte wo Josephs Ideen die Kirche verändert haben:
- Die Liturgie der Kirche ist eine Unterweisung. Betonung des Lehrhaften. Alle Glaubensunter-
weisung hat aufklärerischen Wert. Predigt und Wortgottesdienst bekamen Aufschwung, die Ze-
remonien erfuhren Abwertung. Ein Aspekt war die Einführung der Volkssprache in den Lie-
dern. Die Leute sollen mit vollziehen.
- Joseph legte Wert darauf, dass die Untertanen von den vielfältigen religiösen Einflüssen befreit
werden und Zentren finden in Pfarren. Das ging gegen die Orden. Alle überpfarrlichen Aktivitä-
ten waren betroffen (Wallfahrten, Bruderschaften, Orden). Diese seien nur Ablenkungen von
einer gesamten Religionsausübung, da sie nicht regelmäßig und gegen die Optimierung der
Volksproduktivität waren. Die vielen Wallfahrten hielten die Leute von der Arbeit ab. Die Bru-
derschaften waren unbeliebt, weil sie enormes Vermögen und eigene Zusammenkünfte hatten.
Die Orden ließen sich nicht in eine schlüssige Organisation einfügen (~Episkopalismus).
- Joseph ordnete schnell an, dass sämtliche Diözesanseminare geschlossen werden. Stattdessen
gab es Generalseminare, die Lehrer wurden vom Staat bestellt. Der Klerus sollte in der richtigen
Gesinnung erzogen werden. Die Bildungsanforderungen für den Klerus stiegen an, man wollte
universitätsgebildete Pfarrer, und lehnte daher die Ausbildung an die Uniausbildung an. Man
dezentralisierte den Einfluss der Bischöfe. Die Einführung der Generalseminare war teuer, nach
dem Tod Josephs wurden sie wieder aufgelöst, die Bischöfe bekamen wieder die Kompetenz
die Kleriker auszubilden, allerdings musste man die Kurrikula der Generalseminare überneh-

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men. Die Zahl der Priesteramtskandidaten war aufgrund der teuren Ausbildungskosten gering.
Binnen 4 Jahren nahm die Zahl stark ab, was auch ein Grund zur Wiedereinführung der alten
Seminare war.
- Klostersturm. Von 1782-1787 wurden 800 Klöster aufgehoben und säkularisiert. Höhepunkt
war 1783. Gesichtspunkte: welche Klöster waren seelsorglich, pädagogisch und caritativ wert-
voll? Wo das nicht der Fall war, wurde der Besitz konfisziert, den Diözesen oder anderen Klö-
stern mit der Verpflichtung gegeben, Pfarr- oder Schulseelsorge zu betreiben. In dieser Zeit gin-
gen viele Kulturgüter verloren. Das hatte Vorbild für spätere Säkularisierungen (Frankreich und
Deutschland 1803). Positive Folgen: durch die aufgelassenen Klöster hatte man viele Priester
zur Verfügung, die per Dekret zur Seelsorge abkommandiert wurden. Das kam der Betreuung
der Katholiken zu Gute.
- Die Diözesanregulierungen. 1784 wurden die Diözesen Linz und St. Pölten errichtet, auf Kosten
der Diözese Passau. Die Kirche hat sich an die Grenzen des Staates zu halten, Verwaltungsbe-
zirk und Diözese fallen zusammen. Entsprechend verlief es mit der Diözese Salzburg, die nur
kleine Eigenbistümer hatte.
- Erlass einer neuen Gottesdienstordnung. Das Feiertagsläuten wurde verboten, die Glocken soll-
ten nicht so oft läuten. Das Aussetzen des Allerheiligsten wurde reduziert, der Messgesang re-
guliert.
- Neue Eheordnung, die Zustimmung des Vorgesetzten (bei minder Bemittelten) war nicht mehr
nötig zur Eheschließung.
- Neue Bestattungsordnung. Der berühmte Josephinische Klappsarg. Friedhöfe innerhalb der
Stadtmauern und Bestattungen in den Kirchen waren ab 1784 verboten.
Pius VI. protestierte dagegen und reiste 1782 nach Wien. Joseph II. nahm aber nichts zurück.
Die Reformen fanden Nachahmer. Josephs Bruder war Großherzog der Toskana, diese reichte bis vor
die Haustür des Papstes. Auf der Synode von Pistoia wurden von Klerus und Episkopat die 4 gallikani-
schen Artikel akzeptiert. Die Bischöfe wurden aus der päpstlichen Autorität befreit, man versuchte ein
eigenstaatliches Kirchenwesen zu errichten, das aber nicht so erfolgreich war wie in Österreich.

2. Die Kirche in der Französischen Revolution


2.1 Zivilkonstitution des Klerus 1790
Die Kirche in Frankreich war am Vorabend der Revolution trotz der sich anbahnenden Dechristianisie-
rung und der Verbreitung der aufklärerischen Ideen ungebrochen in Stand, Ansehen und Akzeptanz.
Der Klerus war ein eigener gut organisierter Stand. Die Kirche hatte 10% des Grundbesitzes. Der Kle-
rus war aber nicht homogen. Die Kritik am Klerus bezog sich auf die Bischöfe (die alle aus dem Adel
waren) und die Orden (sie hatten Freiheiten die sich nicht mit den bürgerlichen Freiheiten vereinbaren
ließen). Es gab eine Trennung zwischen adeliger Oberschicht und einfachem Klerus. Der niedere Kle-
rus äußerte selbst Beschwerden über die Tyrannei der Bischöfe. Es wurden die Forderungen nach Ver-
sammlungsfreiheit und Altersversorgung erhoben. Der niedere Klerus war wegen einer falschen Abga-
benpolitik verarmt, der Zehnt landete meist beim Episkopat. Darum sympathisierte der niedere Klerus
sofort mit den Revolutionären.
In der Revolution selbst verlor der Klerus alle Privilegien (Steuerbefreiung, Immunität vor weltlichen
Gerichten). Die Erhebung des Zehnten (als Haupteinkunft) wurde gestrichen. Der Klerus als Stand hör-
te auf zu existieren. Mit einer Erklärung der Menschenrechte wurde der Ordensstand, in dem man einen
Verstoß gegen die menschliche Freiheit sah, abgeschafft. 1789/90 wurden alle Kirchengüter verstaat-
licht und verkauft. Große Teile der Kleriker und Bischöfe standen dem nicht abgeneigt gegenüber. Die
Taten kamen dem niederen Klerus zu Gute, eine Reform der Kirche war möglich (nötig?), weil durch
den Adel Eigeninteressen mit der Kirche vermischt worden waren.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Zivilkonstitution des Klerus im Jahr 1790, komplette Neuordnung der Kirche. Die Diözesangrenzen
wurden neu gezogen und an die politischen Grenzen angepasst. Damit wurden auch Diözesen völlig
liquidiert, es gab nun 83 statt 135. Die geistlichen Ämter sollten nur durch Mehrheitswahl vergeben
werden, alle Bürger waren wahlberechtigt (auch Protestanten und Juden!). Den Geistlichen stand eine
staatliche Besoldung zu, sie waren Staatsbeamte. Die Kirche hätte damit im Sinn der Revolutionäre
einen Platz in der staatlichen Oberaufsicht eingenommen. Die Revolution war noch nicht antichristlich,
sie war vom Klerus mitgetragen. Der reformoffene Klerus unterstützte die Revolution, weil man darin
ein Mittel zur Reform und eine Möglichkeit der Rückkehr zur Urkirche sah, die sich auf das Wesentli-
che konzentrieren konnte.
Pius VI. wusste nicht, wie er mit der Zivilkonstitution umgehen sollte. Er wartete ab, ob die Revolution
zusammenbricht. Schließlich rang er sich dazu durch, die Zivilkonstitution rundum abzulehnen. Das
brachte eine Verschärfung innerhalb Frankreichs. Die Beziehung zwischen Nationalversammlung und
französischer Kirche wurde brisant. Man verlangte seitens des Staates einen Treueeid des Klerus (135
Bischöfe und 44.000 Priester) auf die Zivilkonstitution. Das führte zum Schisma.
Zwei Gruppen im Klerus:
- Ein Teil unterstützte die Revolution (55% des Klerus sowie 7 Bischöfe).
- Die Eidverweigerer. Sie konnten sich mit den massiven Eingriffen in die Kirche nicht anfreun-
den und standen zur Entscheidung des Papstes.
Der Papst bezog nochmals Position und verurteilte die Zivilkonstitution und damit die Idee der Men-
schenrechte. Die Idee einer angeborenen Gleichheit aller Menschen sei sinnlos, absurd. Damit hat er
ein schweres Erbe gelegt, weil er damit die Revolution als Ganzes verurteilt hatte.
Es folgte eine grausame Phase, die Kirche kam unter die Räder. Als Reaktion auf die Eidverweigerer
kam es zu einer Verfolgung der Kirche. Beim Septembermassaker 1792 wurden in einer Nacht mehr
als 225 Priester ermordet. 30.000 Priester gingen ins Exil.
Eine beachtliche Zahl Eidverweigerer blieb und wirkte im Untergrund. 1793 erstreckte sich als Reakti-
on darauf die Verfolgung auch auf die zur Revolution loyalen Priester. Es kam zur Zerstörung von Klö-
stern, Kirchen und Kirchengut. Eine Christenverfolgung. Entchristlichung, man versuchte einen Ge-
genkult vom Staat her einzuführen: Freiheitsbäume, Vaterlandsaltar, Menschenrechtstafeln (statt Evan-
gelium und 10 Gebote), Trikolore, … Straßen wurden umbenannt. Republikanischer Katechismus.
Trauungen und Taufen fanden zivil statt (eine Nachäffung). Der Bürgermeister leistete die Dienste, die
der Priester früher verrichtete. Die Verfassung diente als Bibel.
Der Gipfel war die Einführung des Revolutionskalenders, einer neuen Zeitrechnung ab der Revolution.
Gott wurde durch die Göttin der Vernunft ersetzt. Die Folgen waren unabsehbar. Hauptopfer war der
Klerus, auf der Strecke blieb auch der Typ des sozial engagierten Pfarrers, er wurde durch Leute er-
setzt, die die Macht des Staates radikal ablehnten und ihr Ideal im Ultramontanismus suchten.
Nach der Kirchenverfolgung wurde die bis heute in Frankreich andauernde strikte Trennung von Kir-
che und Staat eingeführt.
1799 wurden die Jakobiner durch Napoleon in einem Staatsstreich abgelöst. Er sah, dass er seine Ziele
nur in Kooperation mit der Kirche erreichen konnte. Die Kirche ließ sich nicht ausrotten, daher musste
man sie sich zum Freund machen. Er schützte den Katholizismus, denn er brauchte die Zusammenar-
beit mit Bischöfen und Papst um seine Herrschaft zu stützen. Das Christentum war nötig um die Ge-
sellschaft zusammenzuhalten und um Konsens zu einer Regierung seiner Art zu erhalten. Dafür war es
nötig, das Schisma zu beseitigen, das die Revolution ausgelöst hatte. Aber wie ging das? Mit der kon-
stitutionellen Kirche hatte er keine Sorge, dieser Zweig folgte den Anweisungen des Staates. Schwerer
war das mit den Eidverweigerern, die teilweise im Untergrund oder im Ausland waren. Diese hofften
auf die Rücknahme der Revolution und opponierten weiter gegen die Regierung. Aber dem Papst wür-
den sie folgen, also suchte Napoleon den Ausgleich mit dem Papst. Dem Papst fiel unerwartete eine
Schlüsselrolle zu.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Die Situation des Papsttums war aussichtsloser als je zuvor. Aufgrund der Autoritätseinbuße durch die
absolutistischen Staaten wurden dem Papst mehr und mehr Konzessionen abgerungen. Das Ansehen
war kläglich, er war machtlos wie selten zuvor.
1789 ist Rom selbst von den Revolutionstruppen eingenommen und okkupiert worden. Ein Revoluti-
onsstaat in Rom. Der Papst wurde als Staatsoberhaupt abgesetzt und musste in die Toskana emigrieren.
Fast ein halbes Jahr lebte er in einer Kartause in Florenz, er hatte keinen Kontakt zur Kurie, er konnte
nicht regieren. 1790 wurde der Papst todkrank nach Frankreich geführt, wo er unter Hausarrest starb.
Viele glaubten, dass das Papsttum damit erledigt war. Pius VI. hat Wochen vor dem Tod angeordnet,
dass nach seinem Tod an einem sicheren Ort ein Notstandskonklave stattfinden sollte. Unter österrei-
chischem Schutz fand das Konklave in Venedig statt, Pius VII. wurde gewählt. Er hat sich schon als
Kardinal mit fortschrittlichen Ideen hervorgetan. Zwischen Christentum und Demokratie muss es nicht
zum Konflikt kommen. Dank seiner aufgeschlossenen Ideen und seines genialen Staatssekretärs Con-
salvi vermochte er eine Wende in der vatikanischen Politik und der Kirchengeschichte herbeiführen.
Pius VII. überzeugte Österreich und das Königtum Neapel, militärisch einzugreifen um den Kirchen-
staat zurückzuerobern. Nachdem das geschehen war, führte er einige Reformen im Kirchenstaat durch,
damit man sieht, dass man es ernst meinte. Dann wollte man offensiv einen Ausgleich mit Frankreich
suchen. Hier trafen sich die Vorstellungen des Papstes mit Napoleon. 1801 wurde ein Konkordat abge-
schlossen, in dem es gelang, dass der Katholizismus die Religion der großen Mehrheit in Frankreich
wurde. Napoleon ließ sich das aber teuer abkaufen, er wollte die Vollmacht bei Bischofsernennung,
dafür sollten die Priester ein Beamtengehalt erhalten. Beides sollte aber den Klerus enger an den Staat
binden. Der Papst wollte die totale Enteignung der Kirche zurückgenommen haben sowie ein paar
Standesfreiheiten. Damit war er aber erfolglos, er musste auf die Forderungen Napoleons eingehen.
17.03.2009
2.2 Die Religionspolitik Napoleons: das Konkordat von 1801 und die "Organischen Artikel"
Das Konkordat schien der Kirche die Freiheit wiederzugeben, die sie für die innere Restrukturierung
benötigte. Napoleon wollte staatskirchlich und absolutistisch angehaucht die Vollmacht der Bischofs-
ernennungen für sich haben. Das war auch bis weit ins 19. Jh. hinein so. Das Papsttum hatte wenig Ein-
fluss. Aber das Nominationsrecht der Könige sollte nicht als angeboren angesehen werden, sondern es
war ein Privilegrecht, das durch den apostolischen Stuhl eingeräumt ist. Der apostolische Stuhl behielt
sich die Bestätigung vor.
Wichtigste Punkte des Konkordats von 1801
- Artikel 2: Der Heilige Stuhl stimmte der Neueinteilung der französischen Diözesen zu. Der
Papst wies kraft seines Amtes alle Bischöfe an, auf ihr Amt zu verzichten (von beiden Parteien,
als Grundlage für einen Neuanfang).
- Artikel 4: Nominationsrecht.
- Artikel 6 und 7: Bischöfe und Priester müssen den Eid auf die Verfassung ablegen.
- Artikel 9 und 12: Garantien von Napoleon, die innere Autonomie der Kirche zu respektieren
(Pfarrerbesetzung, Ausbildung).
Die Umsetzung verlief nicht reibungslos. Zunächst war der Rücktritt der Bischöfe ein Problem. Jene
Bischöfe, die der Staat eingesetzt hatte, traten in staatsbürgerlicher Solidarität zurück. Von den Wider-
standsbischöfen, von denen die meisten im Exil waren, resignierten 48 aus Gehorsam gegen den Papst.
38 weigerten sich, weil sie die Tragweite des Vorgangs sahen. Der ganze Episkopat wurde abgesetzt.
Weiter sahen sie durch ihren Rücktritt ihr Zeugnis (Verfolgung) in Frage gestellt.
Pius VII. erklärte daraufhin diese Bischofssitze für vakant. Der Papst musste Bischöfe, die ihm und der
alten Ordnung treu waren, absetzen, und zwar in hoher Zahl (38). Das Papsttum wurde da hinein ma-
növriert, was man damals als enorme Schwäche der Kirche sah. In zweiter Hinsicht bewirkte das eine
Umkehr, weil man dem Papst zutraute, dass er von seiner Jurisdiktionsvollmacht Gebrauch machte.
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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Der Austausch des Episkopats war ein Zeichen der Vollmacht, auch wenn sie unter Druck ausgeübt
wurde. Es wurde überdies ein Gremium ausgewechselt, das den gallikanischen Artikeln anhing. Die
gallikanische Kirche wurde faktisch ausgelöscht.
Napoleon hielt sich nicht immer an das Konkordat. Er wurde dafür kritisiert, dass er der Kirche zu viele
Rechte eingeräumt hat. Er sah sich gezwungen, Teile zurückzunehmen, das geschah in den organischen
Artikeln (77 Stück).
Vor allem ließ sich der Anspruch des Katholizismus als Staatsreligion der Mehrheit nicht halten. Man
behielt aber bei, dass es sich beim Katholizismus um die Religion der großen Mehrheit handele. Die
gallikanischen Artikel wurden teilweise wieder eingesetzt. Die Professoren an der Universität mussten
den Eid auf die gallikanischen Artikel ablegen und demgemäß lehren. Synoden dürfen nicht ohne Ge-
nehmigung des Staates durchgeführt werden. Die Errichtung von Nuntiaturen wurde verboten, wenn
der Staat nicht zustimmte.
Eingriff ins Disziplinarecht: „recursus ab abusu“. Jeder Geistliche, Kleriker, der eine geistliche (kir-
chenrechtliche) Strafe zu erdulden hat, kann sich an die staatliche Stelle um Rechtsschutz wenden.
Pius VII. protestierte erfolglos gegen die Artikel. Napoleon konterkarierte die verheißungsvollen Aus-
sichten des Konkordats und unterstellte die Kirche der staatlichen Kontrolle.
Das machte Schule: man brauchte die Kirche, gestand ihr etwas zu und reduzierte es dann durch ein
Landesgesetz. Preußen und Bayern folgten Anfang des 19. Jh. diesem Beispiel.
Es gab aber auch positive Aspekte. Es konnte ein Neuanfang gemacht werden, der Kirche wurde Raum
für ihre Mission gegeben. Es kam der Kirche nach den Exzessen der französischen Revolution auf Mis-
sion und Neuevangelisierung an.

2.3 Napoleon und Papst Pius VII.


Pius VII. hegte große Hoffnungen durch das Konkordat, er willigte ein mit der Republik Italien 1803
ein ähnliches Konkordat abzuschließen. Er wollte auch mit dem Reich Konkordate abschließen. Die
organischen Artikel bewirkten, dass die Kurie den Rat gab, schärfer gegen Napoleon vorzugehen. Um
ihn umzustimmen entschloss sich Pius VII. 1804 zur Kaiserkrönung Napoleons nach Paris zu reisen.
Der Papst war nicht der Krönende, er segnete nur nachher. Napoleon krönte sich selbst. Pius hoffte,
dass der Kaiser einige Artikel zurücknahm, aber das geschah nicht. Er wollte auch erreichen, dass die
von den Revolutionstruppen besetzten Teile des Kirchenstaates restituiert werden, aber auch das ge-
schah nicht.
Es kam zum Krieg. Napoleon machte eine Seeblockade gegen England, er wollte dass der Papst ihn
dabei unterstützt. Doch der Papst besann sich auf die Tradition, dass der Kirchenstaat in keinen Krieg
in Europa eintritt. 1808 besetzten daraufhin napoleonische Truppen Rom und verleibten sich die letzten
Reste des Kirchenstaates ein. Der Papst exkommunizierte alle Räuber des Kirchenstaates. Napoleon
ließ ihn am 5. Juli 1809 verhaftet. Man hielt ihn lange in Savona fest. Der Papst war völlig isoliert.
1811 legte ihm Napoleon eine Liste von Bischöfen und Metropoliten vor, die er sich vom Papst bestä-
tigen lassen wollte. Er widerstand anfangs, stimmte dann aber nur mündlich zu. Napoleon war darüber
erzürnt und verschärfte die Haftbedingungen. Damit zwang er dem Papst ein neues Konkordat ab,
(Fontainebleau), mit dem vollständigen Verzicht des Kirchenstaates.
Pius VII. unterzeichnete es, er wurde daraufhin freigelassen und widerrief es sofort wieder, weil es un-
ter Zwang geschehen war. So wurde er wieder verhaftet, befreit wurde er erst nach der Niederlage Na-
poleons. Nach 6 Jahren kehrte er in den Vatikan zurück, er hatte viele Sympathien in Europa gewon-
nen. Der Kirchenstaat hatte eine gute Ausgangsposition für den Wiener Kongress. Das Papsttum ging
als einzige Autorität aus den Auseinandersetzungen hervor. England dankte dem Papst dafür, dass er in
den Krieg gegen England nicht eingetreten war. Als Gegenleistung erfreuten sich die Katholiken in
England besonderer Freiheiten.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Pius VII. konnte auf dem Wiener Kongress erreichen, dass der Kirchenstaat fast in der vollen Größe
wieder errichtet wurde. Die französischen Besitzungen in Avignon musste man aber abgeben.
Von 1815 bis 1823 arbeitet Pius daran, die Position der Kirche und der Katholiken in Europa und der
Welt zu verbessern. Er strebte Konkordate an, die er aber nicht überall erreichte.
Consalvi erließ Reformen im Kirchenstaat, die vor allem Österreich gefielen. Handelsreformen, … Pius
war mehr Hirte als Staatsmann. Er hat besser erkannt, dass eine neue Epoche angebrochen war, eine
Neuorientierung der Kirche war nötig. Wie kann man die Kirche religiös stärken? Dem galt sein be-
sonderes Augenmerk. Die Kirche brauchte einen Kirchenstaat, aber die Rolle der Kirche in der Welt ist
nicht hauptsächliche eine Staatliche.
Ein Aspekt seines Verständnisses von Kirche drückt sich auch in der Wiederzulassung der Jesuiten aus.
1773 wurden sie auf Druck von Österreich, Spanien und Frankreich verboten, da sie als Geheimbund
galten.

2.4 Die Säkularisationen 1802/1803


Der zweite große Schlag, den die katholische Kirche erleiden musste, war neben der Französischen
Revolution die Säkularisation, die Beraubung der materiellen Grundlagen. Vor allem in den Ländern
des deutschen Reiches.
Der Gedanke einer großflächigen Enteignung der Kirche war seit dem 30jährigen Krieg im Raum. Die
Fürsten begehrten nach Besitz, aber auch das Bürgertum, Schriftsteller, … An der Schwelle zum 19. Jh.
warf das französische Vorgehen einen bedrohlichen Schatten auf die Reichskirche. Man sah wie eine
Säkularisierung aussehen konnte. Die Mächtigen im Reich wurden davon beeindruckt.
Die Maßnahmen Joseph II. beeinflussten ebenfalls, er hat die österreichische Kirche den Staatsgrenzen
angepasst und die Kirche der Staatsräson unterstellt. Joseph II. nahm auch Reichsrechtsbrüche in Kauf,
er sollte an sich ja die Kirche schützen. Nun war Feuer auf dem Dach.
Die öffentliche Stimmungsmache kam hinzu, vor allem gegen die Orden (und da besonders gegen die
Bettelorden). Literarische Sturmzeichen vor der Säkularisierung. Die Klöster galten als Orte des Mü-
ßiggangs und des Schmarotzertums. Die aufgeklärten Philosophen fielen ein. Kant, 1779, Metaphysik
der Sitten: die Kirche ist eine fiktive Institution, die Gewalt und Besitz nicht verdient.
Selbst der Weltklerus sägte am eigenen Ast. Der Professor für Philosophie in Landshut, ein Freund des
Staatsministers, polemisierte gegen den Mönchstand, dass der sich von der arbeitenden Menschheit
getrennt habe. Nur Chorsingen und Kontemplieren. Hegel führte aus, dass die drei evangelischen Räte
zutiefst antimodern und antibürgerlich sind.
Der Boden war bereitet, dass die Besitzungen der Kirche unrechtmäßig und die Orden unnötig waren.
Es brauchte nur noch einen Auslöser. Das war die Französische Revolution. 1792 marschierten franzö-
sische Truppen ins Reich ein. Alle Gebiete links des Rheins wurden annektiert und das Kircheneigen-
tum konfisziert. Mit dem Napoleonischen Konkordat fand das eine nachträgliche Bestätigung, der
Papst stimmte zu. Die Gebiete links des Rheins sollten beim Frieden 1802 mit geistlichen Territorien
rechts des Rheins entschädigt werden. Eine Reichsdeputation sollte Vorschläge erarbeiten, wie das aus-
sehen sollte. 1803 legte man ein Ergebnis vor. Den „Reichsdeputationshauptschluss“, welcher das Ende
der Staatskirche alten Zuschnitts bedeutete. Es war die größte Enteignung jemals. Die Kirche verlor mit
einem Federstrich nicht nur alle weltlichen (landeshoheitlichen) Rechte, sondern auch ihr Vermögen
wurde konfisziert. Herrschaftssäkularisation und Vermögenssäkularisation. Es gab keine Fürstbischöfe
mehr, etc. Sämtliche Güter der Hochstifte (die eigenständigen Landbesitz hatten) und auch die Güter
der Domkapitel, usw. wechselten die Besitzer. Die staatlichen Rechte gingen in die Verfügungsgewalt
der Landesherren über, der Landbesitz wurde verkauft. Nur die Pfarr- und Schulgüter wurden vorerst
nicht verkauft (weil sie zur Bildung beitrugen).

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

25 Fürstbistümer, 44 Reichsabteien, 287 landsässige Abteien und 41 Reichsstädte wechselten den Be-
sitzer und wurden in ein sich neu formierendes Europa eingegliedert.
Die reichsunmittelbaren Territorien gingen von über 1000 auf 35 zurück. Die Entstehung von Flächen-
staaten wurde im Reich gefördert. Die Entschädigung war ungleich aufgeteilt. Hätte man nur kompen-
siert, wäre sie nicht so arg ausgefallen. Preußen gewann fünfmal so viel Gebiet wie es links des Rhei-
nes aufgeben musst, Baden sogar zehnmal mehr.
Die geistlichen Territorien fielen weithin an protestantische Dynastien. Katholiken kamen unter die
Landeshoheit von protestantischen Landesherren, die bis dahin die Konfession der Untertanen be-
stimmten. Die Landesherren übten die geistliche Oberhoheit auch über die Katholiken aus.
Damals sagte man, dass die Säkularisation nötig war, weil die geistlichen Territorien verwahrlost wa-
ren. Diese Gebiete waren aber im Gegenteil besser entwickelt. Man lebte in den kleinen Einheiten mehr
vom Handel, weil keine großen Flächen für die Landwirtschaft da waren. Händler hatten mehr Bildung
als Bauern. Die Infrastruktur wurde durch die Säkularisierung zerstört, die Bildung (die von den Bi-
schöfen und Abteien gepflegt wurde) ging zurück. Ein solides Gemeinwesen wurde zerstört. Säkulari-
sation und Reichsdeputationshauptschluss waren eines der größten Verbrechen.
Geistliche Folgen
Jegliche überpfarrliche Kirchenstruktur zerfällt. Man drängte das geistliche Leben ganz auf die Pfarre
zurück. Allein 18 katholische Universitäten wurden aufgelöst, ebenso die Orden in den betroffenen
Gebieten. Wallfahrten wurden verboten oder verunmöglicht. Mit der Konfiszierung blieb das Geld für
den Klerus aus. Das Ideal war ein Staatskirchentum ähnlich Joseph II.
Es begann eine bischofslose Zeit, die abgesetzten Bischöfe zogen sich resigniert zurück. Sie waren ge-
wohnt, Fürsten zu sein. Auch die Domkapitel, die von ihrem Besitz lebten und wegen ihrer finanziellen
Unabhängigkeit dem Bischof entgegentreten konnten, fielen als Leitfiguren aus. Der Papst protestierte
als einziger lautstark. Eine große Zahl an Stellen verwaiste. Jetzt wurde die katholische Kirche Konfes-
sionskirche, weil kein Reich mehr da war. Mit der Aufgabe der Reichskirche wurde die Idee des Rei-
ches aufgegeben.

3. Die Neuordnung der Kirche nach 1803


3.1 Der Kampf um ein Reichskonkordat
Es war klar, dass die Neuordnung der Kirche im Reich nicht ohne das Papsttum geschehen konnte. Das
Vorgehen in Frankreich stand Pate. Den neuen Staaten, die sich an der Kirche bereichert hatten, lag
nicht an der Aufrechterhaltung der Reichskirche. Die febronianischen Ideen waren nicht beliebt, denn
die Bischöfe hatte man ja eben entmachtet.
Die Säkularisation brachte zum Ausdruck, dass die Kirche sich dem Staatsziel der Erziehung und Ver-
besserung der Sittlichkeit unterzuordnen hatte. Mit der Säkularisation hat man die Vertreter der Kirche
beseitigt, die mitreden konnten. Es lag nahe, dass man nun Abkommen mit Rom suchte. Man wollte die
Kirchenangelegenheiten ordnen, hatte aber die Ansprechpartner abgesägt. Gegen die katholische Be-
völkerung hatte man die Verpflichtung einer minimalen Religionsausübung zu gewährleisten. Welche
Rolle die Kirche bekommen sollte war aber nicht klar.
Drei Richtungen kristallisierten sich heraus:
- Der letzte Fürsterzbischof von Mainz (der Bischof von Mainz war stets der Sprecher der
Reichskirche), Karl Theodor von Dalberg, war im deutschen Episkopat eine führende Figur. Er
war gebildet, hatte Visionen und erfreute sich großer Autorität. Beim Reichsdeputationshaupt-
schluss wollte man ihn nicht beschädigen, daher transferierte man ihn nach Regensburg. Dal-
berg befürwortete ein Reichskonkordat. Er suchte einen Mittelweg zwischen Papalismus und
Episkopalismus. Er wollte die Rechte der deutschen Kirche Aufrecht erhalten, die starke Stel-
lung der Bischöfe bewahren und auch die Stellung eines Primas als Sprecher aller nach außen in
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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

der deutschen Kirche einrichten. Dalberg hat aber nicht realisiert, dass es die Reichskirche nicht
mehr gab. Das Ideal der inneren Einheit der Reichskirche und Deutschlands sollte ebenso ge-
wahrt werden wie die geschichtliche Kontinuität. Durch die Revolution und die napoleonischen
Kriege waren seine Vorstellungen aber veraltet.
- Die Position der Mittelstaaten. Die neuen Königreiche Bayern, Baden und Württemberg. Sie
wollten den gewonnen Einfluss durch ein Reichskonkordat nicht abgeben, sondern selbst mit
dem Papst verhandeln (Länderkonkordate).
- Preußen und die anderen großen protestantischen Staaten. Auf der pragmatischen Ebene erkann-
te man an, dass man für die katholische Bevölkerung Regelungen brauchte. Man wollte aber mit
dem Papsttum nicht verhandeln. Der Papst darf Vorschläge bringen, denen man sich später mit
Landesgesetzen anschließt. Offizielle Verhandlungen gab es nicht. Vorbild waren die gallikani-
schen Artikel, ein Abschluss von Verhandlungen nach den Bedingungen des Landesherrn. Die
Preußen wussten aber, dass man nicht um das Papsttum herumkam.
Die Kurie nahm Kontakt auf, lehnte aber ein Reichskonkordat ab. Das würde mit dem Primas (Dal-
bergs Idee) nur dem Febronianismus Vorschub leisten.
Napoleon verhinderte durch die Kriege vorerst eine Regelung. Gegen Österreich und Preußen errichtete
er den Rheinbund. Er sollte als ein drittes Element Preußen und Österreich entgegentreten. Er wuchs
mit der Zeit langsam an und bestand aus allem, was sich geographisch zwischen Preußen und Öster-
reich schob. Napoleon diktierte politisch dieses Staatsgebilde. Er erhob Dalberg zum Primas dieses
Staates. Mit der Annahme akzeptierte Dalberg, dass die Reichskirche endgültig Geschichte war.

3.2 Der Wiener Kongress


Die Kirchenfrage konnte erst hier behandelt werden. Nach der Niederlage Frankreichs und Napoleons
dominierte die Heilige Allianz bestehend aus Russland, Österreich und Preußen. Man beschwor wieder
die Einheit von Thron und Altar. Restauration, revolutionäre Änderungen wurden revidiert. Der Altar
war aber dem Thron mehr zu Diensten als dass er gleichwertiger Partner war. Die Kirche hatte die
Monarchien zu stützen.
Die Kirche war durch Consalvi sowie durch den Generalvikar des untergegangenen Bistums Konstanz,
Ignaz Heinrich von Wessenberg, vertreten. Er verstand sich als Vertreter Dalbergs und brachte die Idee
der Reichskirche ins Spiel, mitsamt einem eigenen Primas. Consalvi lag aber an der Freiheit der Kirche
von staatlichem Einfluss und Oberaufsicht (so wie es in Frankreich in den gallikanischen Artikeln er-
folgt ist). Vor allem bei Bischofsernennungen forderte Consalvi ein Selbstbestimmungsrecht der Kirche
gegen den Staat. Er forderte die Neuerrichtung der zerstörten Klöster und eine Rückerstattung von un-
verkauften konfiszierten Gütern. Wessenberg wollte ein Reichskonkordat mit Primus sowie die alten
Bistumsgrenzen beibehalten. Konstanz sollte als Diözese wieder errichtet werden (ein großes Gebiet
bis in die Schweiz und dem Elsass), es war der größte Verlierer von Säkularisation und Wiener Kon-
gress und wurde auf deutscher Seite durch Freiburg und Rottenburg/Stuttgart ersetzt (die Schweizer
Gebiete fielen an Chur und Basel). Konstanz wurde aber nicht wieder errichtet, auch deshalb, weil man
es als Symbol von Febronianismus und Reichskonkordat sah.
24.03.2009
Die Kirche ist kein monolithischer Block mehr. Es gab verschiedene Erwartungen. Es gab eine Gruppe
die versuchte die Reichskirche in die neue Zeit hinüberzuretten (Dalberg). Consalvi arbeitete gegen
diese Bestrebungen. Es gab auch die Vorstellungen der Länder, die sich durchsetzten. Die Kirche wird
kontrolliert.
Im Juni 1815 wurden die Beschlüsse in der Bundesakte zusammengefasst. Das Ergebnis fällt enttäu-
schend aus für jene, die sich mehr Rechte für die Kirchen erhofften.
Artikel 16 der Bundesakte:

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Die Verschiedenheit der christlichen Religionen darf in den Ländern des deutschen Bundes keinen Un-
terschied in der Wahrnehmung der bürgerlichen und politischen Rechte begründen. Die Bundesver-
sammlung wird darüber beraten, wie auf eine möglichst übereinstimmende Weise die bürgerliche Ver-
besserung der Bekenner des jüdischen Glaubens in Deutschland zu bewirken sei.
Auf den ersten Blick sind es nur Auskünfte über die Juden. Sie erhalten Religionsfreiheit. Darüber hin-
aus gibt es Religionsfreiheit für alle, also keine Sonderstellung für die katholische und evangelische
Kirche. Die Staaten waren durch die Offenheit des Artikels in der Lage, eigene Regelungen zu treffen.
Nachdem die Regelungen für die Kirchen also eher dünn waren, überließ man die Initiative zur Rege-
lung von Kirchenangelegenheiten den Einzelstaaten. Sie sollten selbst mit dem Papst verhandeln. Die
Hoffnung, dass man die materielle Grundlage retten konnte, wurde enttäuscht. Die materielle Dotation
der Bistümer bedurfte der Regelung.

3.3 Länderkonkordate
Österreich
Österreich hat die Neuordnung der Kirche selbst in die Hand genommen. Ein Konkordat stand nicht zur
Debatte, man brauchte und wollte es nicht. Es kam in Österreich erst 1855 als Ergebnis der Revolution.
Die Neueinteilung der Diözesen blieb, Staat und Kirche waren gebietsmäßig in Deckung.
Bayern
Bayern hat 1817 ein Konkordat mit dem Hl. Stuhl abgeschlossen. Man überließ die Verhandlungen
dafür einem Gesandten. Der bayrische Graf von Häffelin reiste nach Rom um das Konkordat zu gestal-
ten. Er kam der Kurie so weit entgegen, dass man ihn von Seiten der Kurie mit dem Kardinalsrang be-
lohnte. In Bayern freute man sich darüber nicht. Ähnlich wie bei Napoleon wurde das Konkordat nach-
träglich beschnitten durch das Religionsedikt, in dem Zusagen zurückgenommen wurden.
Häffelin unterzeichnete, dass der Katholizismus als Staatsreligion gilt. Die katholische Religion be-
kommt einen besonderen Schutz. Bücher gegen die katholische Kirche unterliegen der staatlichen Zen-
sur. Es wurden zwei Kirchenprovinzen errichtet (Bayern gehörte vorher zu Salzburg). München und
Freising für den Süden, sowie Bamberg für den Norden des Königreiches. Das Königreich verpflichtete
sich auch dazu, einige säkularisierte Klöster wiederherzustellen, das erfolgte aber erst unter Ludwig I.
Der König erhält das Nominationsrecht für die Bischöfe, aber auch für die Domdekane und einen Teil
der Domkapitulare. Am wichtigsten war aber die Regelung, dass sich das Königreich verpflichtete bis
zum Schaffen eines Entschädigungsfonds die Bischöfe und Domkapitulare vom Staat her zu entlohnen.
Diese Zugeständnisse an die Kirche ließen sich nicht aufrechterhalten. 1818 wurde ein Religionsedikt
als Reaktion darauf erlassen, das vor allem auf eine Gleichberechtigung der Religionen Wert legte. Die
Könige heirateten oft Protestantinnen.
Preußen
Man weigerte sich mit dem Papst auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Man hatte aber große Lan-
desteile gewonnen, die fast rein katholisch waren. Man konnte die Kirchengesetze von Preußen nicht
direkt umsetzen. Man führte Gespräche mit dem Hl Stuhl. Der Papst dürfe eine Bulle, Enzyklika erlas-
sen, in der er die Kirchenbelange regeln soll, und Preußen würde nachträglich diese Bestimmungen
zum Landesgesetz machen. Damit wurde fiktiv die Unabhängigkeit voneinander gewahrt. Das geschah
in der Zirkumskriptionsbulle von 1821, in der Rom eine Neuordnung der norddeutschen Bistümer vor-
nahm. Der König stimmte zu, und damit auch zur Neuerrichtung der Bistümer Köln und Gnesen. Köln
erhielt die Suffragane Trier, Münster und Paderborn.
Ein Kommissar beaufsichtigte das Geschehen. Ein Vertreter des Staates diktierte z.B. dem Domkapitel,
wer gewählt werden sollte. Der Papst bestätigte dann.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

4. Staatskirchentum und Restauration: Die Kirche in der Abhängigkeit des Staates, 1815-1848
Der Wiener Kongress und die Vereinbarungen zwischen Papsttum und den Staaten gaben Freiheiten, in
denen man Dinge neu regeln konnte. Es war ein Anfang, man hatte Rechtssicherheit. Auch wenn viele
Probleme noch ungelöst und die Konkordate unbefriedigend waren, muss man auch den positiven As-
pekt sehen. Das betraf auch die materielle Ausstattung.
Durch die Standhaftigkeit Pius VII. und der Märtyrerbischöfe in Frankreich hatte die Kirche enormes
Ansehen gewonnen. Exil, Tötung, Verfolgung – das verfehlte nach dem Erwachen der napoleonischen
Kriege den Eindruck auf die Öffentlichkeit nicht. Die Aufklärung war durch die Exzesse in weiten Tei-
len diskreditiert. Die neue Geisteshaltung der Romantik förderte zudem die Attraktivität der katholi-
schen Kirche, was zu vielen Konversionen führte. Das Klima für den Katholizismus war gut.
Das Papsttum verbündete sich mit den Siegermächten des Kongresses in der Idee der Restauration, der
Wiederherstellung der Monarchien und deren politischer und religiöser Legitimation. Eine Verbindung
von Thron und Altar, der Kirche kam eine tragende Rolle in der Rechtfertigung zu.
Diesen Versuch bezeichnete man mit Legitimismus. Staatsrechtler und Theologen ziehen an einem
Strang um die Monarchie gegen Revolution und Demokratie zu legitimieren. Die im Zuge der Revolu-
tion eingeforderten Menschenrechte werden als unrechtmäßig verurteilt, damit die alte Ordnung vertei-
digt werden kann. Eine solche Parteinahme war für die Kirche zweischneidig. Sie schaffte sich damit
eine Hypothek indem sie einerseits lange ambivalent zu den Menschenrechten war, zum anderen aber
weil sie mit der Legitimismustheorie auch Herrscher unterstützte, die nicht katholisch waren (Preußen
und die Zaren). Die Kirche vermochte das Freiheitspotential der Revolution nicht unzweideutig auf-
zugreifen und fruchtbar zu machen.
Das Papsttum selbst war in den Verhandlungen mit den Staaten nach wie vor vom Ideal des christli-
chen Staates geleitet. Das war nicht der Staat, der Religionsfreiheit gewährte. Die andere politische
Wirklichkeit führte dabei zu keiner Neueinschätzung. Man bemühte die Unterscheidung von These und
Hypothese. Die These war das Ideal. Der Staat sollte katholisch sein. Der katholische Staat ist gottge-
wollt, er sollte Autonomie und Mitbestimmung im öffentlichen Leben garantieren.
Die Vorstellung war aber nicht durchzusetzen, dass wusste auch Rom. Man behalf sich daher mit einer
Hypothese: die These war nicht umsetzbar in der Zeit. Man war in der Hypothese flexibel, ohne die
Standpunkte der These aufzugeben. Ist das nicht doppelbödig? Auch weil man in der Hypothese in
Ländern mit katholischer Minderheit Freiheitsrechte für die katholische Minderheit forderte, die man in
der These anderen nicht zugestehen wollte. Man forderte also Toleranz ohne anderen das zuzugestehen.
In der Kurie gab es verschiedene Ansichten. Man kann zwei Gruppen sehen: die „Zelanti“ und die „Po-
liticanti“. Die Zelanti waren die Eiferer, die eher auf den Prinzipien beharrten, eher harte, fundamenta-
listische Positionen. Intolerant und kompromisslos bei der Verfolgung kirchlicher Ziele. Die Politicanti
waren pragmatisch, sie sahen dass nicht alles so war wie man es gern hätte. Man konnte sich auch Re-
formen vorstellen. Die Diplomatiegeschichte des Vatikans ist vom Streit zwischen diesen beiden Grup-
pen geprägt.
Die Realität in der Kirche sah längst nicht ideal aus. Die restaurierten Monarchien wollten die Kirchen
streng nach staatlichen Richtlinien reglementieren. Was sich vorher nicht umsetzen ließ, wurde jetzt
verwirklicht. Die Zeit zwischen 1815 und 1848 war eine bedrückende Zeit der Gängelung. Von innerer
und äußerer Autonomie war keine Rede. Die katholische Kirche hat das in den katholischen Ländern
ebenso erfahren wie in denen, wo sie die Minderheit war.
Das begann schon bei der Politik mit dem Hl. Stuhl. Metternich nahm entschieden Einfluss auf die
Papstwahlen (1823, 1830, 1832), teilweise erfolgreich. Es gilt als gesichert, dass er seinen Einfluss gel-
tend gemacht hat. Metternich war flexibel. Es musste ihm daran liegen, dass jemand Papst wird der den
Legitimismus unterstützt. Die Zelanti konnten aber auch Schaden anrichten, daher musste man auch
Kandidaten nehmen, die der Aufklärung aufgeschlossen waren um das Revolutionspotential in der Ku-

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

rie zu minimieren. Im Vordergrund standen aber die Loyalität zur Hl. Allianz und die Gegnerschaft
zum Liberalismus.
Ortskirchen. Das deutlichste Mitspracherecht war das Nominationsrecht für die Bischöfe. Rom gewähr-
te dieses Privileg relativ kampflos. Diese Auswahl der Bischöfe durch den Staat geriet in die Kritik der
Kämpfer für die Kirchenfreiheit. Entgegen früherer Ansichten aber ist der Episkopat, der in diesen Jah-
ren ernannt wurde, ein guter Episkopat gewesen.
Gravierender waren die diversen Aufsichtsrechte, die der Staat über die Kirche beanspruchte. Die Er-
laubnis für jegliche Publikation. Alles nach Staatsräson, das Revolutionspotential sollte niedrig gehal-
ten werden. Es gab auch die Aufsicht über den Religionsunterricht. Die Lehrer werden vom Staat aus-
gewählt, die Katechismen erstellte der Staat, und die Professoren an den Seminaren wurden auch vom
Staat bestellt. Es gab darüber hinaus eine Genehmigungspflicht für alles was über die Pfarre hinaus
ging. Wallfahrten. Volksmissionen. Die kritische Massenbildung war gefährlich. Die Gründung von
Vereinen mussten genehmigt werden.
Die Orden waren suspekt, weil sie über- und nebenpfarrlich waren. Sie wurden entweder massiv in die
Pfarrseelsorge eingebunden, oder sie wurden im Apostolat behindert. Ordensniederlassungen konnten
nur schwer errichtet werden. Sie waren für den Staat nicht wichtig oder kontraproduktiv. Sie konnten
sich nur eingeschränkt entfalten, z.B. die Jesuiten waren zeitweise verboten. Ausnahmen gab es im
angelsächsischen Raum und in Nordamerika.
Die Ideologie, die das Staatskirchentum trug, war neben dem Josephinismus auch der vom Bürgertum
getragene Liberalismus. Staatskirche, philosophisches und politisches Gedankengut, lose Weltanschau-
ung. Weitere Elemente sind auch eine latente Religionsfeindlichkeit und der Antiklerikalismus.
Der Staat ist die ausschließliche Quelle aller Normen und der alleinige Gesetzgeber. Die Kirche durfte
keine eigenen Rechtsbereiche reklamieren. Das Gut der Freiheit wurde als staatliches Privileg gesehen
und nicht als vorstaatliches Menschenrecht, das man gegen den Staat einklagen konnte.
Der liberale Staat wich nicht vor der Einflussnahme auf die Kirche zurück. Selbst katholische Länder
waren wahre Vorreiter im Staatskirchentum. Ein besonderes Konfliktfeld waren Ehe/Familie und Bil-
dung. Der Staat drängte den Einfluss in der Bildung zurück und führte die Zivilehe ein. Die Kirche
setzte nun alles daran, diese Kompetenzen zu behalten. Der Liberalismus trat mit immer mehr Antikle-
rikalismus auf. Die Eheschließung war ein zentrales Thema. Entzündet hat es sich an der Mischehever-
ordnung des preußischen Staates, die gezielt gegen die Vorstellungen der katholischen Kirche waren.

„Das Kölner Ereignis 1837“


Im Königreich Preußen war es im Landrecht von 1794 so, dass bei Mischehen die Wahl der Konfession
der Kinder den Eltern überlassen wurde, vorausgesetzt sie waren sich einig. Sollte das nicht so sein,
dann gehörten die Söhne der Konfession des Vaters und die Töchter der Konfession der Mutter an.
Damit hatte niemand ein Problem.
1803 ändert sich die Politik des preußischen Staates. Preußen hatte katholische Gebiete dazugewonnen.
Nun sollten alle Kinder aus Mischehen auf die Konfession des Vaters getauft werden. Das wurde 1825
verschärft und dezidiert auf die katholischen Gebiete ausgeweitet. Die Absicht war durchsichtig. Der
preußische Staat wollte in den katholischen Gebieten eine protestantische Führungsschicht errichten.
Die preußischen Beamten sollten dort, wenn sie katholische Frauen heirateten, protestantische Kinder
bekommen. Über 2-3 Generationen würde so eine indigene protestantische Führungsschicht entstehen.
Die Kirche war zuerst nachgiebig. Ehen sah man für gültig an, selbst wenn sie vor keinem Priester ge-
schlossen wurden. Man assistierte bei der Eheschließung, aber es gab keinen Segen, keine Zeremonie.
Die passive Eheassistenz suggerierte, dass das keine von der katholischen Kirche unterstützte Art der
Eheschließung war. Man zwang daher die Priester zu einer aktiven Eheassistenz.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Der neue Kölner Erzbischof Clemens August Droste zu Vischering (1836) war ein Eiferer, dem diese
Regelung ein Dorn im Auge war. Er lehnte Mischehen grundsätzlich ab. Wenn sie dennoch zustande
kamen, dann dürfe ein Pfarrer höchstens passive Eheassistenz leisten. Das wurde von den staatlichen
Behörden als Vergehen gegen die staatlichen Anordnungen aufgefasst, und der Erzbischof wurde inhaf-
tiert. Damit hatte die katholische Kirche einen Märtyrer und einen Beweis für die zynische antiklerikale
Machtausübung des Staates. Katholische Publizisten stürzten sich auf das Thema, allen voran Joseph
Görres (ein ehemaliger Jakobiner). Er wurde zum Sprachrohr und schlachtete das Ereignis aus. Die
Schrift hieß „Athanasius“ (nach Athanasius von Alexandrien), sie mobilisierte die Massen.

5. Die innere Erneuerung der Kirche nach 1803


Die Kirche im deutschen Reich besann sich nach der Wende von 1803 auf eine Erneuerung von innen
her. Man sah sich im Gegensatz zu Frankreich als Hüter der Frömmigkeit und der wahren Religion.
Politisch stand die Zeit unter dem Zeichen der Restauration. Kulturell stand die Romantik auf dem Pro-
gramm. Restauration und Romantik warfen den Blick zurück auf die Zeit vor der Aufklärung. Man
beschwor die Geschichte und die Tradition. Damit wurden Anliegen aus der Aufklärung abgelehnt und
nur teilweise aufgenommen. Die Kirche im deutschsprachigen Raum war sich im Kampf gegen die
radikalen Folgen der Revolution einig. Es gab aber feine Schattierungen, die sich in Nähe und Ferne
von der Aufklärung unterscheiden lassen. Einfache Unterscheidungen greifen zu kurz. Die Romantik
verschloss sich der Aufklärung nicht gänzlich, sie wäre ohne die Aufklärung nicht verständlich.
Zunächst besann man sich auf Frömmigkeitsformen, die der aufgeklärte Staat verboten hatte. Wallfahr-
ten wurden wieder abgehalten, die Herz-Jesu-Verehrung, die aus Frankreich stammte, breitete sich aus.
Dazu kam eine bewusstere Passionsfrömmigkeit. Die Visionen der Anna Katharina Emmerick wurden
ein Bestseller. Die Heiligen- und Marienverehrung nahm zu, Marienerscheinungen traten verstärkt auf.
Das alles hat mit dem Kontext der katholischen Kirche zu tun, die sich in der Defensive befindet.
Die Romantik dauerte ca. von 1750 – 1850. Der Höhepunkt war 1815 nach dem Wiener Kongress. In
der Literatur kehrt man zur mittelalterlichen Mystik zurück. Der Begriff wird nun erst geprägt. Dem lag
ein antirationalistischer Zug zugrunde. Gefühle faszinierten statt der Logik. Aufgeschlossenheit für
Wunder, Märchen, Novellen, Romane, … das schuf eine romantische Lebensauffassung. Der Mensch
ist mehr als Vernunft mit Wurzeln im Dunkeln. Novalis, Joseph von Eichendorf als wichtige Vertreter.
Verbindung von Katholizismus und Romantik. Der Protestantismus galt als Religion der Aufklärung.
Das Mittelalter wird als die Epoche der eigenen christlich-katholischen Wurzeln gesehen. Das schlug
sich am sichtbarsten in der Kunst nieder. Neugotik, Romantik statt Klassizismus.
In Theologie und Philosophie bewirkte das eine Renaissance des Thomismus. Thomas von Aquin wird
als der christliche Theologe und Philosoph entdeckt.
Die Romantik war eine elitäre Bewegung. Sie fand aber eine flächendeckende Äußerung in Literatur
und Kunst. Ein paar romantische Kreise wurden besonders wirkmächtig. Es war keine Bewegung von
oben, sie kommt von den gebildeten Laien her.
5 Kreise, die das deutsche Sprachgebiet abdecken.

5.1 „Sailer Kreis“, „Görres-Kreis“, „Mainzer Kreis“


- Münster, um die Fürstin Amalie von Gallitzin. Zusammen mit einem Domherrn in Münster
(Franz von Fürstenberg) richtete die Fürstin einen Salon für schöngeistige Gespräche ein. Ur-
sprünglich für die Aufklärung offen, suchte er mehr und mehr das katholische Proprium. Er war
ökumenisch, man suchte das Gemeinsame in den Konfessionen. Es kam aber zu Konversionen
(spektakulär: von Stollberg zu Stollberg, hoher Beamter), da mehr und mehr katholische
Schwerpunkte waren.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

- Johann Michael Sailer (1751-1832). Er wollte Jesuit werden, machte auch den philosophischen
Doktor in Ingolstadt bei ihnen, dann wurde der Orden aufgehoben. Er trat in den Dienest der
Diözese Augsburg, man bestellt ihn dort an die Uni Dillingen als Professor für Ethik und Pasto-
raltheologie. Pastoraltheologie ist eine der neuen Disziplinen. Sie sollte den neuen Pfarrertypus
hervorbringen.
Er wurde 1783 mit einem Bestseller bekannt, einem vollständigen Lese- und Gebetbuch für die
Katholiken. Er ging von einem phänomenologischen Verständnis des Betens aus, erst ging es
darum, warum man betete. Er wird dann aber auch angefeindet. In seinen Werken „Vernunftleh-
re für Menschen, wie sie sind. Nach den Bedürfnissen unsrer Zeit.“ und „Glückseligkeitslehre
aus Vernunftgründen, mit Rücksicht auf das Christenthum“ versucht er die Offenbarungsreligi-
on und die Aufklärung zu versöhnen. Beide Werke greifen Kant auf, was ihm nicht nur Freunde
einbringt. 1794 verliert er seine Professur. Er wurde in Rom angeschwärzt, der Münchner Nun-
tius belegt ihn mit Predigtverbot.
Als Aufklärer gesehen wird er an die staatliche Uni nach Landshut berufen. Es geht ihm um ei-
ne Erneuerung der Theologie, die die Anliegen der Philosophie aufgreift, aber die Tradition
nicht vergisst. Er hat enormen Einfluss, er bildet eine ganze Generation des süddeutschen Kle-
rus aus, der der Aufklärung aufgeschlossen ist und dennoch der Tradition treu bleibt.
Der Seminarregens schwärzt ihn aber an und unterstellt ihm, dass er gegenüber dem Staat nicht
loyal ist. Das gelingt aber nicht. In dieser Zeit schreibt er Werke über die Erziehung des Klerus.
Er schreibt auch ein dreibändiges Handbuch der christlichen Moral (Hauptwerk?). In Landshut
bildet er auch einen Kreis aus Schülern und Kollegen um sich. Sailer wird zum Begründer der
Münchener Romantik, der König war auch dabei. Ludwig I. gelang es, ihm einen Bischofsstuhl
zu übergeben. Sailer wurde 1821 Weihbischof von Regensburg, 1829 ebendort Bischof. Er soll-
te schon vorher Bischof von Augsburg werden, was aber von Rom verhindert wurde.
Sailer war einer der originellsten katholischen Denker. Er machte den Spagat zwischen Rückbe-
sinnung auf die Quellen und der gesamten katholischen Tradition auf der einen und den Gedan-
ken der Aufklärung auf der anderen Seite. Er begründet damit eine neue Theologie, die christo-
zentrisch ist. Sie ist auch ökumenisch. In der Moraltheologie hat er die Kasuistik überwunden,
er propagierte eine Tugendethik.
Sailer war lange verschrien, erst im 20. Jh. gelang eine Rehabilitierung.
31.03.2009
Sailer stand zwischen den Fronten. Den Montanisten war er zu aufklärerisch, den Aufklärern zu
montanistisch.
- Aus dem Sailer-Kreis ging der Kreis um Joseph Görres hervor. Er lernte Seiler in Landshut
kennen, wurde zum Professor berufen. Als die Uni München gegründet wurde, gründet er dort
ein geistliches Zentrum. Görres war von den Ideen der Französischen Revolution angetan, war
Jakobiner und schloss sich den Ideen an. Er bekehrte sich angewidert von den Exzessen und
kehrte zum Katholizismus zurück, den er via Sailer kennenlernte. Er wurde zu einem der wort-
gewandtesten Verteidiger des Katholizismus. Berühmt der Kommentar zum Kölner Vorfall.
„Athanasius“. Ein früher Text für den späteren Kulturkampf.
Die Katholiken in Deutschland brauchen eine Stimme, die sie auf die Ebene des aufgeklärten
Bürgertums hob. Er gründete eine Zeitschrift als Sprachrohr und Organ. Wichtige Leute wie
W.E. Ketteler und Kolping erfuhren dadurch ihre Formung. Aber auch Döllinger in München.
- Kreis in Mainz. Dort wird 1804 ein neues Priesterseminar gegründet. Die Kirche erwacht neu,
hebt sich von der staatlichen Gängelung ab. Innerhalb des Seminars gab es Lehrer, die den ul-
tramontanen Ideen aufgeschlossen waren. Theologisch der Scholastik und der Theologie des
Thomas von Aquin verschrieben. Zeitschrift „Der Katholik“. 1821 erschienen. Untertitel „eine

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

religiöse Zeitung zur Belehrung und Warnung“. Anspruch, Programm: es ist auch ein Kampf-
blatt; programmatische Dinge, Katholizismus formieren, die Gegner warnen.
Schwerpunkte waren die Priesterausbildung und die Öffentlichkeitsarbeit. Erste Konzentration auf die
enge Bindung mit Rom und dem Papst. Bewusst werden des Ursprungs, der Heimat der Katholiken.

5.2 Der „Wiener Kreis“ um Clemens Maria Hofbauer


1751 in Mähren/Znaim geboren, gestorben 1820. Eine außergewöhnliche Erscheinung, Bäckergeselle,
Einsiedler, er hat in Wien 5 Jahre studiert, und ging im letzten Jahr des Studiums nach Rom. Dort trifft
er den jungen Orden der Redemptoristen, der von Alfons Maria von Liguori in Neapel gegründet wur-
de, um der Landbevölkerung das Christentum näher zu bringen. Gedanke der Volksmissionen. In Rom
wurde Klemens Maria Hofbauer zum Priester geweiht, die Oberen schickten ihn zurück über die Alpen,
er geht nach Polen. Er war 1787-1808 in Warschau, bis Napoleon ihn vertrieb. Er wollte die Redempto-
risten nördlich der Alpen einführen. In den neuen Staaten waren die Redemptoristen ähnlich der Jesui-
ten suspekt. Die Anerkennung wurde ihnen überall verweigert. Hofbauer blieb auf sich gestellt. Er hatte
große Pläne zu einer Missionierung Deutschlands -> noch suspekter. Es gab auch Wiederstände in der
Kirche. 1808 musste Hofbauer Polen verlassen (wg. Napoleon), er kommt nach Wien. Hier hat er größ-
ten Einfluss bei Volk und Studenten. Er war ein guter Prediger und Beichtvater. Ihm schließen sich
Leute aus allen Schichten an, vor allem auch Konvertiten. Es bilden sich Gelehrtenzirkel um ihn. Der
Hofbauerkreis entsteht, ein kirchlicher Mittelpunkt in Wien. Er wirkte in St. Ursula als Kirchenrektor,
Kloster durfte er aber keines errichten. Der damalige Erzbischof unterstützte ihn. Der Grund für den
Erfolg Hofbauers war einerseits seine Persönlichkeit, er war einfach und dennoch glühender Katholik.
Er übte eine Art Seelsorge aus, die neu war. Sie richtete sich nach den individuellen Bedürfnissen. Das
bedeutendste Mitglied des Kreises war der Schriftsteller F. Schlegel. Auch weitere hochstehende Leute
schlossen sich ihm an. Das ist erstaunlich, weil er das Staatskirchentum und auch die Aufklärung be-
kämpfte. Die Kritik ging weniger gegen Österreich, sondern mehr gegen Deutschland und Bayern. Dort
war sein Hauptziel Sailer, der sich zu sehr aufklärerische engagierte. Hofbauer war ein kompromisslo-
ser Anhänger Roms.
Die Redemptoristen wurden erst 1820 zugelassen, 5 Wochen nach dem Tod Hofbauers. Damit startete
eine europaweite Ausbreitung. 1831 Nordamerika, 1841 Bayern (Altötting), Schweiz, Elsass, Belgien,
Holland, England, 1859 Norddeutschland. Apostolat: Volksmissionen. Aber diese waren dem Staats-
kirchentum ein Dorn im Auge, sie waren unvorhersehbare Ereignisse. Sie gingen über die überschauba-
re Pfarrseelsorge hinaus und waren suspekt.
Das 2. Standbein war die Beichtseelsorge. Ein Kloster in Wien konnte nicht gleich gegründet werden,
erst Ende der 20er Jahre. Dann auch ein streng kontemplativer Frauenzweig.
Hofbauer wurde der Vertreter des österreichischen Ultramontanismus. Er hatte in Wien Verehrer über
den Tod hinaus. Aber der eigentliche Kult kam erst mit der Unfehlbarkeit Papst beim I. Vatikanum ins
Rollen. Die Seligsprechung erfolgte 1880, die Heiligsprechung 1909. Sie wurden von Wien betrieben.
1914 wurde er Stadtpatron von Wien.
Er war ambivalent: prophetisch, er sprach Menschen an. Aber er war auch ein Eiferer, was ihn in der
Forschung dann verschrien machte. Er wollte keine Aussöhnung zwischen den Strömungen, sondern
einen klaren Katholizismus. Empfohlen sei hier das neue Buch von Otto Weiß.

6. Ultramontanismus
6.1. Kennzeichen – Vertreter – Formen
Allgemein meint man damit eine klare Ausrichtung nach Rom, ohne jegliche Wertung. D.h. auch eine
Unterstützung des Papsttums. Das wuchs im 19. Jh. an, um der katholischen Kirche einen neuen

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Selbststand zu suchen. Eine neue Mitte, die jenseits der Alpen lag. Ultra montes. Das hat nur Sinn von
Norden aus gesehen.
Es gab viele Schattierungen, es war keine einheitliche Bewegung. Die allgemeinen Kennzeichen teilten
aber alle. Der Begriff Ultramontanismus stammt aus einem polemischen Kontext. Die Ultramontani-
sten wurden von den Liberalen kritisiert. Jene wurden kritisiert, die eine vom Staat unabhängige Orga-
nisation wollten. Später verwendeten die Ultramontanisten den Begriff ironisch für sich. Sonst nannte
man sich selbst nicht so.
Im Nationalsozialismus wurden die Katholiken als Ultramontane bezeichnet, die Katholiken seien ähn-
lich der kommunistischen Internationale.
Kennzeichen des Ultramontanismus
- Strikte Romorientierung. Das Kirchenbild das Rom wollte und seit dem Konzil von Trient pre-
digte gehört umgesetzt. Der Ultramontanismus ist der Versuch eines sehr späten Einlösens der
tridentinischen Reformen. Ein Beispiel sind die Priesterseminare. Das geschah nur in den roma-
nischen Staaten, anderswo erfolgte es durch Orden oder den Staat. Das meint aber auch die Li-
turgie. Man ahmte die römische Liturgie nach. Man suchte nach dem Ursprung, das entwickelte
sich mancherorts zu einer Rommystik (dort ist das ursprüngliche Christentum). In Deutschland
entstand der Bonifaziuskult (Bonifazius kam aus Rom). In Frankreich gab es Bemühungen der
Rückgewinnung der alten Liturgie (Abt von Solesmes). Hier stand als Leitbild das Römische
vor Augen. Man stellte fest, dass es schwierig war, die römische Liturgie wiederzufinden. Mai-
andachten, stärkere Marienfrömmigkeit, Marienerscheinungen
- Kampf gegen das Staatskirchentum. Freiheit der Kirche. Das Haupt ist der Papst, nicht der je-
weilige Monarch. Die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat sah man verschieden: größere Au-
tonomie vom Staat (Sailer), radikaler in Mainz: strenge Trennung Kirche und Staat, die der Kir-
che Freiheiten einräumt und vor staatlichen Verstrickungen schützt.
Ultramontanismus als Wirken für Trennung von Kirche und Staat: die Ultramontanisten waren
immer latent antiliberal und antiloyal. Die Katholiken waren für den Staat keine guten Verbün-
deten.
- Abwehr der Moderne. Was war damals modern? Die Gedanken der Französischen Revolution.
Diese wollte man nicht eins zu eins umsetzen oder teilen. Aufklärung, Idealismus, Menschen-
rechte waren antikirchliche Ideen, die gegen die göttliche Ordnung verstießen.
- Der Ultramontanismus favorisierte eine papstzentrierte, papstorientierte Idee von Kirche. Vom
Papst her muss sich alles andere ableiten. Man sieht an den Lehrbüchern der Ekklesiologie im
19. Jh. aus wessen Geist sie kommen. Die Ultramontanen beginnen mit dem Papsttum. Andere
mit dem Leib Christi. Schließlich noch welche, die mit der Offenbarung beginnen, was mehr
von der Aufklärung und von Sailer geprägt ist. Dieser Punkt, der immer wichtiger wurde, findet
Abrundung und Höhepunkt am I. Vatikanum. Man darf insofern die Kirchengeschichte des 19.
Jh. als konsequente Hinführung auf das I. Vatikanum lesen.

6.1.1 Infallibilität als Souveränität: Mauro Capellari und Joseph du Maistre


1799 veröffentlichte der Kamaldulensermönch Mauro Capellari ein Werk, das schon damals ein un-
gläubiges Kopfschütteln hervorrief. „Der Triumph des Heiligen Stuhls“. Das sprach der Situation
Hohn. 1799 ist das Jahr, wo Pius VI. gefangen genommen wurde, man dachte an das Ende des Papst-
tums. Der Mönch schrieb das in der Einsamkeit in einem Kloster nahe Venedig.
Der Triumph gegen die Angriffe der Erneuerer. Er arbeitete 4 Jahre an dem Werk. Die Gegner waren
jene, die 1784 die Synode von Pistoia feierten, wo man Episkopalismus und Febronianismus auch in
Italien einführen wollte.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

In der Hauptthese verfolgt er einen Beweis der Notwendigkeit der Unfehlbarkeit des Papstes, und das
zu einer Zeit, wo Macht, Autorität und Ansehen des Papstes in Scherben lagen.
Die Kirche ist Monarchie, der Papst ist Monarch. Das Privileg des Monarchen ist, dass er keiner ande-
ren Kontrolle unterliegt. Das Privileg des Monarchen ist Souveränität (staatsphilosophisch ausge-
drückt). Er ist höchster Richter und kann nicht verurteilt werden. Es gibt nach seinem Urteil keine Ap-
pellation. Der Papst ist damit einem absolutistischen Herrscher gleichgestellt. Die Unfehlbarkeit ist
eine notwendige Konsequenz dieser Souveränität. Wenn Gott eine Monarchie als Kirche eingesetzt hat,
dann müssen die Entscheidungen der Leitung unfehlbar sein (nicht abänderbar, nicht in Zweifel zu stel-
len, sonst wäre der Monarch nicht souverän).
Der Traktat fand zur Zeit des Entstehens nur begrenzte Beachtung, auch wegen der strikten italieni-
schen Perspektive. Das ändert sich als 1831 Capellari zum Papst Gregor XVI. gewählt wird. Jetzt riss
man sich um diese Schrift. Sein Pontifikat hat den Ultramontanismus und die Diskussion um die Un-
fehlbarkeit des Papstes beschleunigt.
Gregor XVI. und sein Buch waren es auch, die die Unfehlbarkeit des Papstes immer mehr zu der Idee
des Ultramontanismus machten und die Autorität des Papstes wie zu einem Glaubensbekenntnis für die
Katholiken werden ließ.
Der Ultramontanismus kannte aber verschiedene Ausfaltungen, es wäre falsch wenn man ihn nur auf
die Unfehlbarkeitsdebatte einschränken würde. Der Ultramontanismus kannte auch Positionen, die
Gregor XVI. verurteilt hatte.
In der Theologie findet sich am Anfang neben Capellari der erste greifbare Ultramontanismus in den
Aktivitäten des Mainzer Priesterseminars in der Zeitschrift „Der Katholik“. Auch in den anderen ro-
mantischen Zirkeln finden sich romfreundliche Haltungen, wenn auch nicht immer so dezidiert. Der
Hofbauerkreis in Wien ist da sicher eine Ausnahme, wo Romantik und Ultramontanismus wie kaum
anderswo verbunden waren.
Der Ultramontanismus des 19. Jh. war eine Bewegung von unten. Er kam aus dem Volk und wurde vor
allem von einigen Laien getragen, dann erst wurde der Klerus ergriffen.
Nach den dramatischen Ereignissen der napoleonischen Kriege schauten sich die Katholiken nach Insti-
tutionen um, die der Kirche einen Weg nach vorne weisen konnte. Das Staatskirchentum konnte diese
Ideen nicht befriedigen, im Gegenteil.
Es blieb das Papsttum als einzige Instanz, von der man Zukunft, Freiheit und Selbstbestimmung des
Katholizismus erwarten konnte. Ihm flogen nun die Herzen zu, auf ihn richteten sich die Hoffnungen.
Der Ultramontanismus hat starke emotionale Wurzel. Politische und weltanschauliche Ansichten
kommen dazu. Das erstaunlichste Kennzeichen ist, dass er von Laien getragen wurde und damit schnell
weite Teile des katholischen Volkes erfasste. Vermutlich haben wir es hier mit einer der ersten katholi-
schen Laienbewegungen überhaupt zu tun. Wortführer waren gelehrte Laien, die entweder konvertier-
ten, oder Katholiken waren, die sich von der Kirche entfernt hatte und nach der Erfahrung von Revolu-
tion und Aufklärung den Glaube neu entdeckten.
Der Ultramontanismus hatte Vertreter in allen Staaten, nicht nur in Italien.
- Deutschland: George Phillips (Laie, Kirchenrechtler); Joseph Görres (Laie, Publizist)
- England: Edward Manning (Konvertit, später Erzbischof v. Canterbury)
- Irland: George Ward (Laie, Konvertit, Theologe, Publizist)
- Frankreich: Joseph de Maistre (Laie, Staatsrechtler, Publizist); Felicité Lamenais (Laie, Publi-
zist)
Joseph De Maistre als besonderes Beispiel
Savoyer, Staatsdienst, Gesandter an den Hof des Zaren nach St. Petersbirg (1802-1817). Er erlebte die
napoleonischen Kriege mit und musste die Revolution verarbeiten. In ihr sah er ein Attentat gegen

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Gott. Das machte ihn vom Freimaurer zu einem Kritiker der Aufklärung und der Revolution. Sein
Hauptwerk war aber das Buch „Über den Papst“. 1819 erschienen, aber zuvor in St. Petersburg ge-
schrieben.
Er setzt auch die Unfehlbarkeit als drängendstes Problem an, wenn man über den Papst spricht. Er
macht keinen Unterschied zwischen Glaubenswahrheiten und philosophischen Wahrheiten. Daher ist
Unfehlbarkeit eine notwendige Konsequenz aus der Souveränität. Der Gedanke der Unfehlbarkeit ist
philosophisch und zwingend, bei De Maistre findet sich keine theologische Argumentation.
Er war getrieben vom Versinken der alten Ordnungen, er suchte nach einer unverrückbaren Autorität.
Woran soll sich ein moderner Mensch noch halten? Das Prinzip der Kritik zerstört jede Autorität. Das
Papsttum ist die Instanz, die die Wirren der Zeit überdauert, weil sie sich der Unfehlbarkeit erfreut. Das
Papsttum als Garant für die Stabilisierung der Gesellschaft.
Die Unfehlbarkeit des Papstes als Fundament des Autoritätsprinzips. Das wurde mehr und mehr zu
einem Leitmotiv des Ultramontanismus. Das entsprach zur Gänze den Ideen der Restauration, was auch
im Sinne Metternichs sein sollte.
Der Gedanke der päpstlichen Unfehlbarkeit wurde damit populär, denn aus den theologischen Büchern
fand das Thema nicht in die Diskussionen. Der Einfluss für das I. Vatikanum und seine Idee der Infal-
libilität kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Haltung zur päpstlichen Unfehlbarkeit wurde
damit auch ein Kennzeichen des Ultramontanismus.
Mit der Zeit waren auch die Theologen von der Idee angetan. Damit gerät aber ein Verständnis von
Unfehlbarkeit in den Mittelpunkt, das nicht das traditionell Katholische war. Diskutierten die mittelal-
terlichen und neuzeitlichen Theologen die Unfehlbarkeit im Zusammenhang von Tradition, Glaubens-
bezeugung und Kontinuität mit dem Petrusamt, so rückte nun das Schlagwort der Autorität und Souve-
ränität in den Mittelpunkt.
Rom nahm mit Gregor XVI. den Ultramontanismus selbst auf und wandelte ihn in ein realpolitisches
Programm um. Auch wenn der Papst keine Truppen hatte, so vermochte man durch erfolgreiche Politik
(Konkordate) politischen Einfluss auszuüben. Vor allem war die Errichtung von Nuntiaturen in den
wichtigen katholischen Staaten wichtig. Sie waren nicht nur für den diplomatischen Kontakt zuständig,
sondern sie griffen massiv in das kirchliche Leben vor Ort ein. Meist wurde den Nuntien der Rang ei-
nes Erzbischofs gegeben, damit er auf Augenhöhe mit den Ortsbischöfen war, und damit er auch geist-
liche Vollmachten hatte. Daneben wurden Nuntiaturen zur ersten Anlaufstellen von Denunziationen
gegen moderne Theologen. Man sprach von den „Denunziaturen“.
Die Wiederzulassung der Jesuiten 1814 war ein weiterer Markstein für die Verbreitung des Ultramon-
tanismus. In Deutschland wurden sie zunächst vom Papst mit der Publizistik betraut. Man gab eine
Zeitschrift heraus: „Stimmen aus Maria Laach“ (heute „Stimmen der Zeit“). Die Jesuiten wurden auch
bevorzugt Spirituale in den neu errichteten Priesterseminaren. Den neuen Klerus konnte man so zur
Romtreue erziehen. Erst langsam wurde den Jesuiten Zugang zu den akademischen Institutionen selbst
gegeben (heutige Gregoriana). Eng verbunden damit waren die Nationalkollegien. Germanicum, Hun-
garicum.
Nach der Jahrhundertwende wurden den Jesuiten auch im deutschsprachigen Raum theologische Fakul-
täten übertragen. Die Erste war Innsbruck 1857, später folgte Frankfurt St. Georgen (Anfang 20. Jh.).

6.1.2 Der politisch liberale Ultramontanismus


Er erhoffte sich vom Papst eine aktive Mitwirkung an der Befreiungsbewegung. Diese Form ist un-
trennbar mit Lamennais verbunden. Er wollte eine integrale christliche Gesellschaft hervorbringen. Er
ist ein Antipode zu den restaurativen Bestrebungen des Ultramontanismus. Der Papst soll sich an die
Spitze einer Befreiungsbewegung stellen, um den unterdrückten Kirchen und katholischen Völkern
Unabhängigkeit und Eigenstand zu geben. Belgien wurde nach dem napoleonischen Krieg Holland
zugeschlagen, es setzte eine Emanzipationsbewegung ein, Belgien wurde dann 1830 nach der Revolu-
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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

tion als eigenständiger Staat gegründet. Dasselbe erhoffte sich Lamennais für Polen, das zwischen
Preußen und Russland geteilt war. Lamennais unterstützte die katholischen Polen und forderte den
Papst auf, ein Machtwort zu sprechen (was erst Johannes Paul II. im 20. Jh. tat), aber Gregor XVI.
konnte nicht über seine restaurativen Prämissen und Dogmen hinweggehen. Er sagte, dass selbst der
Zar die gottgewollte Autorität für das Volk sei. Weil Lamennais zu progressiv und liberal war, wurde
er sogar in einer Bulle („Mirari vos“) verurteilt.
VO am 07.04., 14.04., 21.04.2009 entfallen
28.04.2009
Rückblick
Wie hat die neue Bewegung des Ultramontanismus eine Hinwendung für alles Römische und
Katholische gebracht? Der Ultramontanismus war nicht verfasst, es gab keine Partei, keine Phi-
losophie. Er wurde retrospektiv so bezeichnet. Er umfasste verschiedene Felder und Personen.
Er fasste verschiedentlich Fuß. Wiener Kreis, Mainzer Priesterseminar, Münster.
Die Kennzeichen waren (siehe Merkblatt?) unter anderem die Bindung an Rom, der Kampf ge-
gen die Gängelung durch das Staatskirchentum, die Abwehr der Moderne und eine papale bis
papalistische Kirchenidee.
Abwehr der Moderne. Moderne ist ein problematischer Begriff, was ist sie, was zeichnet sie
aus? Die Moderne im 19. Jh. war eine positive Akzeptanz der neuen Freiheiten und Einsichten,
die im Zuge der französische Revolution Fuß gefasst haben. Von daher ist das 19. Jh. ein großes
Schlachtfeld zwischen Katholizismus und Moderne. In welchem Maße kann sich die Kirche an-
schließen?
Neben den Vertretern die wir betrachtet haben sind wir auf verschiedene Ausrichtungen ge-
kommen. Die Vertreter wurden den Kategorien nachträglich zugeordnet. In der Wirklichkeit
findet man immer die fließenden Übergänge.
Befürwortung der Unfehlbarkeit als die letzte Konsequenz des Autoritätsprinzips. De Maistre,
Cappellari.
Dann gab es einen Ultramontanismus, den man in der Theologie feststellt. Eine bewusste Hin-
kehr zu allem was Rom zu bieten hat. Jesuiten, mit ihrer Rombindung und Papsttreue. Das
Mainzer Priesterseminar als die erste Keimzelle der Neuscholastik im deutschsprachigen Raum.
Matthias Josef Scheeben.
Der Ultramontanismus hat ein seelsorgliches Anliegen, man will die Katholiken erreichen. Die
Kirche soll das Recht haben Volksmissionen durchzuführen, die Pfarrseelsorge soll nicht nur
auf die wenigen Aktivitäten beschränkt bleiben, die vom Staat erlaubt werden. Wallfahrten soll-
ten stattfinden, sie sind ein typisches Kennzeichen des neuen katholischen Selbstbewusstseins.
Politisch liberaler Ultramontanismus. Selbst die Linke hat auch gesehen, dass man eine stärkere
Anbindung an den Papst mit modernen fortschrittlichen Theorien verbinden kann, d.h. eine Ab-
kehr und Distanzierung vom Staatskirchentum.
Im Lauf des 19. Jh. wurde die politisch-restaurative und antimoderne Haltung das Kennzeichen
des Ultramontanismus, was dann im ersten Vatikanum und der päpstlichen Unfehlbarkeit mün-
dete.
Der Ultramontanismus will der Kirche ein neues Selbstbewusstsein geben, das Erstarken des
bewussten katholisch Seins zielte auf die Befreiung der Kirche von staatlicher Gängelung. Sie
zielte auf eine Emanzipation der Frömmigkeit, die unterdrückt wurde, weil sie widernatürlich
gegen die Aufklärung schien. Der Kampfruf der Freiheit für die Kirche des Mittelalters wurde
wieder aufgegriffen. Diese libertas ecclesiae hatte immer zwei Seiten. Das konnte man zurück-
führen auf die Gegensätze von katholischem Glauben und den Errungenschaften der Moderne.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Hubert Wolff spricht über die Zeit von 1789 – 1864 von einem „Koordinatensystem, dessen
Achsen katholische Kirche und Moderne bilden“. Einerseits wurde die Unvereinbarkeit heraus-
gestellt, die Kirche sollte aus den Verstrickungen mit der Moderne befreit werden. Die andere
liberale Seite der Katholiken wollte eine größere Freiheit innerhalb der Kirche erzielen. Die po-
sitiven Errungenschaften sind auch für Kirche, Theologie und Glaube fruchtbar zu machen.
In der 1. Hälfte des 19. Jh. waren beide Kräfte nebeneinander. Doch dann kam es zu Verdächti-
gungen der antimodernen Ultramontanen gegen die liberalen ultramontanistischen Kräfte, sie
wurden als schlechte Katholiken abgestempelt. Es kam zur Polarisierung innerhalb der katholi-
schen Kirche selbst, diese Gräben gibt es bis heute.
Einen ersten Rückschlag erlitt der Ultramontanismus, der der Aufklärung aufgeschlossen war
und der Freiheit auch mit Fortschritt verband, durch die Verurteilung der Ideen von Lamennais
durch Gregor XVI. in der Bulle „Mirari vos“ 1831.
Ende Rückblick
Lamennais unterschied sich deutlich von De Maistre (der auf Autorität und Souveränität pochte und
daher zu einem Prinzip der Unfehlbarkeit kam). Er war überzeugter Katholik und nahm die Hoffnungen
der französische Revolution mit, um damit eine Befreiung der Katholiken vor Unterdrückungsregimen
zu propagieren.
Lamennais arbeitete vor allem in Belgien (das traditionell katholisch war), wo sich Katholiken und po-
litisch Liberale zusammengeschlossen haben, um eine Loslösung des Landes von den reformierten
Niederlanden zu erreichen. Mit der geglückten Revolution von 1831 ist das auch gelungen. Lamennais
hatte daran Anteil. Er gründete einen Zirkel, eine politische Plattform, die er um eine Zeitschrift ver-
sammelt hat („L’Avenir“, „Die Zukunft“). Das Motto war „Gott und Freiheit“. Man kann den Glauben
leben und gleichzeitig für Freiheit und Selbstbestimmung sein. Zu Lamennais gesellt sich als Mitstrei-
ter Charles de Montalembert. Er greift die Ideen auf und setzt sie fort. In der Zeitschrift finden sich
Forderungen nach Glaubens- und Gewissensfreiheit, aber auch Traditionalismus. Man kann fromm
katholisch sein, aber auch die fortschrittlichen Ideen verfolgen. Man favorisiert eine Trennung von
Staat und Kirche, nach ultramontanen Ansichten. Die katholische Kirche muss arbeiten können, der
Staat ist nicht Feind, sondern Partner. Die Kirche kommt aus der Kontrolle durch den Staat, der Staat
unterstützt sie aber. Das fand in ganz Europa begeisterte Zustimmung, umso mehr als sich dann ab
1831 der Vormärz und der Biedermeier ausbreiteten, jene Stimmung die in Europa die Revolution wie-
der anfacht, und die auf 1848 hin vorbereitend freiheitliche Ideen verdichtet. In Belgien gelang die
Staatsgründung. In Polen erhob sich ein Aufstand gegen den russischen Zaren. In Frankreich wurde die
neue Monarchie, das Bourbonenkönigtum, abgesetzt, in Deutschland wurde Joseph Görres inspiriert,
den Kölner Bischof in Schutz zu nehmen und in seiner Streitschrift („Athanasius“) die Ideen Lamen-
nais aufzunehmen.
Diesen politischen Ultramontanismus nannte man wegen der freiheitlichen Stoßrichtung den liberalen
Ultramontanismus. Liberal meint freiheitlich, nicht relativ. Er war eine der ersten Befreiungstheologien
in der Kirche.
In der Kirche wurde aber die Anerkennung versagt, er wurde gar verurteilt. Das Papsttum, das durch
Lamennais Ideen eigentlich unterstützt wurde, war mit den freiheitlichen modernen Ideen überfordert.
Man hat sich auch schon vorher auf die Seite der Restauration festgelegt. Man betrachtete im Papsttum
und in der Kurie die Ideen Lamennais als eine Bedrohung der Autorität und der wiedererstandenen
Monarchien aus der Restauration. Gregor XVI. war die Rolle des Völkerbefreiers fremd. Die Kirche
war für diesen Papst (laut seinem Schreiben „Der Triumph des apostolischen Stuhles“) nicht nur eine
perfekte Monarchie, sondern diese Regierungsform allein sei die gottgewollte Staatsform. Lamennais
und „L’Avenir“ wurden in „Mirari vos“ (ihr wundert euch) verurteilt (es war eine seiner ersten Aktio-
nen nach der Papstwahl 1831).
Der eigentliche Anstifter zu dieser Bulle war wohl der österreichische Kanzler Fürst Metternich. Er
hatte ganz Europa im Auge um das Gleichgewicht, das am Wiener Kongress erzielt wurde, zu erhalten.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Er wollte auch bei der Besetzung der Päpste sicher stellen, dass die politische Linie stimmt. Lamennais
und „L’Avenir“ werden in der Bulle nicht namentlich genannt, aber sie waren gemeint. Die Zeitung
wurde eingestellt, Lamennais zog sich zurück und brach mit der Kirche. Ihm wurde Heilsrelativismus
vorgeworfen, es ginge nur um sittlich rechtes Tun, aber nicht um die richtige Glaubenslehre (Indiffe-
rentismus). Die Gewissensfreiheit wird als Wahn dargestellt, als irrige Behauptung. Weiterhin wurde
die „ungezügelte“ Meinungsfreiheit verurteilt, aus der angeblich ein Vorteil erwachse. Das römische
Lehramt hat hier erstmals Meinungs-, Presse-, und Gewissensfreiheit verurteilt. Damit entfremdete
Gregor XVI. nicht nur den gesamten liberalen Katholizismus von der Kirche, sondern errichtet eine
schwere Hypothek der Kirche bis in unsere Tage. Es dauerte bis zum II. Vatikanum, ab dem man einen
rückhaltlos positiven Zugang zu Freiheits- und Menschenrechten hatte. Die Geschichte der Meinungs-
freiheit und Religionsfreiheit ist sehr schmerzhaft gewesen, daher sollte man diese Errungenschaft um-
so mehr würdigen.
Gibt es eine Kontinuität von „Mirari vos“ zu „Gaudium et spes“, blieb sich die Kirche treu in ihrer
Lehre? Lässt sich da die Widerspruchsfreiheit finden, auf die die Kirche so viel Wert legt? Punkto Ge-
wissensfreiheit und Religionsfreiheit ist das aussichtslos. Die Ansichten des Lehramtes haben sich ge-
ändert, das Magisterum vertritt verschiedene Positionen im Lauf der Zeit.
Die Reaktion auf „Mirari vos“ war schon 1831 eine große Betroffenheit auch innerhalb der Kirche. Die
Hoffnung der Katholiken in Aufbruchsstimmung war enttäuscht. Joseph Görres (der sich vom Revolu-
tionär zum Katholizismus bekehrt hatte) bemerkte „seitdem die Römer sich anstatt an der Spitze der
Geschichte zu gehen sich an ihren Schwanz gesetzt haben, beschränken die Alpen ihren Gesichtskreis,
und sie können das Wort nicht mehr finden, in dem sie zur Zeit sprechen sollen“. Lamennais vollzog
1834 nach Ignorierung des Publikationsverbots den Bruch mit Rom und trat aus der Kirche aus. Die
Haltung des Papstes im katholischen Aufstand in Polen (er verdammte ihn und ergriff Partei für den
Zaren) war für Lamennais Verrat an Polen. Die Verurteilung des liberalen Katholizismus blieb auch in
Deutschland nicht ohne Folgen. Man ließ von den politischen Visionen ab, wendete sich einer mehr
pragmatische Haltung zu und suchte konkrete Ziele umzusetzen. Die großen Visionen Lamennais wa-
ren begraben.
An erster Stelle stand aber immer noch der Kampf um die Pressefreiheit im obrigkeitlichen Staat. Man
wollte der Kirche die Mittel der Demokratie sichern, auch wenn man sie selbst nur zögerlich der eige-
nen Klientel anbieten wollte. Im Kirchenstaat braucht man keine Pressefreiheit, wohl aber im liberalen
Deutschland, wo die Katholiken unterdrückt sind.

6.2 Der Siegeszug des Ultramontanismus


6.2.1 Das Revolutionsjahr 1848
Die Revolutionen von 1848 und 1849 markieren nicht nur eine Zäsur in der politischen Geschichte des
19. Jh., sie brachten auch für die katholische Kirche eine neue Situation. Mit dem Ende der Restaurati-
on durch die Revolutionen 48/49, die in der Regel mit einer fortgesetzten staatskirchlichen Kontrolle
und Abhängigkeit verbunden war, gewannen die Katholiken neue Möglichkeiten sich als Gruppe in-
nerhalb des Staates zu artikulieren und zu entfalten. In Deutschland kulminierte die Revolution im Zu-
sammentreten der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848/49. Dort wurden Pläne für
eine Reichsverfassung verabschiedet (Klein-/Großdeutsche Lösung).
Durch die preußische Verfassung, die daraus hervorging, gewann die katholische Kirche in Preußen
eine nie gekannte Freiheit und Autonomie. Das gab Hoffnung für andere Länder. Die Katholiken traten
in Frankfurt nicht als eigene Partei auf, das geschah erst 1870. Man traf sich aber im katholischen Club,
man schloss sich lose zusammen um Probleme in Kirche und Staat zu diskutieren. Der Club war
durchwegs ultramontanistisch eingestellt. Man sah in der Revolution die Chance als gleichberechtigte
große Volksreligion im deutschen Reich anerkannt zu werden. Idee der Freiheit der Kirche vom Staat,
die durch enge Bindung an Rom garantiert werden sollte. Mit den neuen Verfassungen war es nun der
Kirche erlaubt, Vereine zu gründen. Versammlungsfreiheit als große politische Errungenschaft. Es war

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

die Geburtsstunde eines blühenden katholischen Vereinswesens. Ein freies katholisches Pressewesen
erstand und erblühte. So gesehen ist die Revolution von 1848 die Geburtsstunde des modernen Katho-
lizismus, des Vereinskatholizismus, in dem sich die Laien organisieren und zusammenschließen. Der
Vereinskatholizismus wurde typisch für die Bildung des katholischen Milieus im 19. Jh. Die wichtig-
sten Zusammenschlüsse waren die „Piusvereine“ (benannt nach dem Namen des Papstes). Neu sind
auch die Katholikentage als Massenveranstaltungen. Hubert Wolf: „Die Revolution von 1848 und die
Gründung der katholischen Vereine stellen einen wesentlichen Beitrag zur Politisierung breiter Schich-
ten der katholischen Bevölkerung dar. Hier schlägt die Geburtsstunde des politischen Katholizismus“.
Die katholischen Massen wurden mobilisiert, das entsprach dem katholischen Freiheitsdrang. Der Trä-
ger der liberalen Ideen, das liberale Großbildungsbürgertum, blieb immer eine kleine elitäre Gruppe. Es
verstand sich zwar als Träger der Moderne und der Staatsreformen, es blieb aber eine kleine Gruppe.
Dem Ultramontanismus und den katholischen Bemühungen haftete stets die Hinwendung zu den gro-
ßen Massen an, die eingeschworen werden sollten auf das katholische Selbstbewusstsein. Je mehr es
aber den antimodernen Ultramontanen gelang die katholischen Massen zu erreichen, umso aussichtslo-
ser wurde das Unterfangen des liberalen Katholizismus (Lamennais), der eine Aussöhnung von Aufklä-
rung und Christentum, eine Aussöhnung von Katholizismus und Moderne suchten. Der liberale Katho-
lizismus sollte auch auf die Theologen Auswirkungen haben. Wahre Theologie lässt sich immer mit
Philosophie versöhnen. Der liberale Katholizismus fand sich auch stark unter jenen Theologen, die der
historischen Forschung mehr Recht einräumten. Einer der Führer dieser Bewegung war der Münchener
Kirchenhistoriker Ignaz Döllinger.

6.2.2 Die Situation in Österreich


Es kam nicht zur großdeutschen Lösung, Österreich entschied sich eigenständig zu bleiben. Die März-
revolution 1848 richtete sich auch gegen die Kirche, weil man auf Seite der liberalen Kräfte in der Kir-
che eine der wichtigsten Verbündeten des Systems Metternich fand, was in der Tat so war. Als Folge er
Unruhen in Österreich wurde Kaiser Ferdinand gezwungen, der Aufhebung der Redemptoristen und der
Jesuiten im Kaiserreich zuzustimmen. Damit gewannen zunächst die kirchenfeindlichen Kräfte die
Oberhand. Die nach dem Sturz Metternichs erlassene sogenannte „oktroyierte“ Verfassung brachte aber
auch der österreichischen Kirche neue Möglichkeiten der Entfaltung. Glaubens-, Gewissens-, Rede-
und Pressefreiheit, was auch der Kirche nützte. 1848 gründete Sebastian Brunner die Wiener Kirchen-
zeitung, ein Kampfblatt gegen Staatskirchentum und Liberalismus. Johann Emanuel Veith, Dompredi-
ger und Mitglied des Hofbauerkreises, gründete 1848 den österreichischen Katholikenverein. Es wur-
den damit Instrumente zur Umsetzung der neuen ultramontanen Ansätze geschaffen. Die Veränderun-
gen der Revolution ermöglichten, dass ultramontane Ideen auch politisch verwirklicht wurden. Das
prägte das Bild der österreichischen Kirche nachhaltig. Beim Regierungsantritt Franz Josefs 1848 be-
kannte dieser sich zur Freiheit der Kirche. Wichtige katholische Persönlichkeiten unterstützten diesen
neuen Staatskurs. Fürst Felix von Schwarzenberg, ein Bruder des Prager Kardinals, wurde Ministerprä-
sident. Othmar Rauscher, der Lehrer des jungen Kaisers (und auch Mitglied des Hofbauerkreises) wur-
de 1849 Fürstbischof von Seckau, 1853 Erzbischof von Wien. Rauscher wurde eine der führenden Per-
sonen der kirchlichen Freiheitsbewegung. Er sollte auch die entscheidende Rolle beim Zustandekom-
men des österreichischen Konkordats 1855 spielen.
Der größte Erfolg für die Kirche Österreichs durch die Revolution war der Abschluss des Konkordats.
Es beinhaltete die umfassende Regelung des Verhältnisses von Kirche zur Staatsgewalt. Die Kirche
und die Bischöfe sind frei im Verkehr mit Papst und Klerus, Diözesen. Der Staat hat sich nicht in die
Geschäfte der Diözesen einzumischen. Die Anstellung der Religionslehrer und Theologieprofessoren
wird geregelt. Bezahlt werden sie vom Staat, bestellt von der Kirche. Regelung der Gestaltung der
Theologischen Lehranstalten, Seminarien. Die Kirche wird auf die Einhaltung wissenschaftlicher Stan-
dards verpflichtet. Die größten Widerstände gab es in Zusammenhang mit der Ehe. Die Kirche sah sich
ausnahmslos zuständig wo Katholiken beteiligt sind, also auch bei Mischehen. Das wurde genehmigt,
die kirchliche und staatliche Ehegesetzgebung wurde angeglichen. Das Kirchenrecht erhielt weite Zu-
geständnisse.
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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Z.B. der ganze Unterricht in allen Schulen wird der Lehre der katholischen Kirche angemessen sein.
Die volle Zuständigkeit der Kirche über das Schulwesen, eine massive Bevorzugung der katholischen
Kirche. In zwei Feldern wollte man sich behaupten: Familie und Schule (Erziehung). Das wollte man
geradezu naturrechtlich sichergestellt haben.
Artikel 10: nur bei bürgerlichen Wirkungen (Besitz) der Ehe ist die Kirche nicht zuständig. Das Kir-
chenrecht im Bereich der Ehe ist Staatsrecht.
Der Abschluss der kirchlichen Neuordnung fand 1858 statt. Kardinal Rauscher schloss die erste Wiener
Provinzialsynode ab. Das Recht auf eine Synode war im Konkordat festgeschrieben. Man demonstrier-
te damit, dass man die kirchlichen Angelegenheiten frei regeln konnte.
Das Konkordat hatte also weitreichende Zugeständnisse gebracht. Ab 1860 gab es massive Kritik am
Konkordat. Es sei eine ungebührliche Bevorzugung der Kirchen und die Preisgabe zentraler staatlicher
Kompetenzen. Liberale Abgeordnete polemisierten dagegen und sahen darin eine Unterwerfung unter
eine ausländische Macht. Eduard Herbst (1867): der Kirchenvertrag gefährde die Lebensfähigkeit des
Staates. Graf Anton Auersperg: das Konkordat ist ein gedrucktes Canossa.
Die Maigesetze von 1868 ordneten an, dass Ehe- und Schulwesen objektiver geregelt werden müssen.
Der Staat hatte wieder die volle Schulaufsicht, auch über den Religionsunterricht, die Ehegesetzgebung
unterlag wieder ganz den weltlichen Gerichten. Als 1870 der Primat des Papstes erklärt wurde, nahm
man das in Österreich zum Vorwand und kündigte das Konkordat einseitig auf.

7. Papst Pius IX.


7.1 Lebensdaten und Persönlichkeit
Geboren als Giovanni Mastai-Ferretti. Er hat das petrinische Alter erreicht, er war über 30 Jahre Papst
und hat darin – so dachte man – die Jahre die Petrus Papst war übertroffen. Man sah das als besonderen
Gnadenerweis.
Er war eine äußerst kontroverse Persönlichkeit, seine Seligsprechung 2000 ändert daran nichts. Sie er-
folgte übrigens gleichzeitig mit Johannes XXIII. Beide Päpste haben ein Konzil einberufen. In der Kir-
chengeschichtsschreibung wird Pius einerseits sehr optimistisch als gütig, heilig, ideal gesehen. Ihm
flogen im 19. Jh. die Herzen zu, er war Kristallisationspunkt katholischer Hoffnung. Auf der anderen
Seite wird er als unzurechnungsfähig, cholerisch, aufbrausend, krank (epileptisch) gezeichnet. August
Bernhard Hasler, „Pius IX.“ 1977, dann 1979 wiederholt in „Wie der Papst unfehlbar wurde“. Vorwort
von Hans Küng. Es ist schwer ein gerechtes Bild zu zeichnen, da er schon zu seiner Zeit die Geister
geschieden hat.
Als er 1848 Papst wurde, flogen ihm wirklich die Herzen entgegen. Es war ein Kontrast zu dem asketi-
schen Mönch Gregor XVI. Der Papst war nun ein gut aussehender überzeugter italienischer Patriot. Die
Kirchenzeitungen brachten sein Bild um die ganze Welt. Die Photographie entstand, es gab ein Bild
des Papstes in fast jedem katholischen Haushalt. Die Papstfrömmigkeit entsteht, man reist nach Rom
um den Papst zu sehen. Das ist anders als früher die Wallfahrt zu den Gräbern der Apostel, um einen
Ablass zu gewinnen. Der Papsthysterismus hat hier den Ursprung.
Der Ultramontanismus und seine Vertreter setzen alles daran um diese emotionale Bindung an den
Papst zu fördern. Die Publizisten schworen die Massen auf den Papst ein, der Titel des „Heiligen Va-
ters“ wird nun benutzt.
Pius IX. war eine sympathische Figur die zum Aufschwung passte, der sich abzeichnete. Nach dem
Celante Gregor XVI. hatte man einen Politicante gewählt, der ausgleichend wirkte und aufgeschlossen
schien. Pius IX. stand der italienischen Nationalbewegung sehr aufgeschlossen gegenüber. Er begrüßte
den Patriotismus der Freiheitskämpfe, auch als es bereits zu Spannungen mit Österreich kam. Öster-
reich hatte norditalienische Besitzungen und war der erste Feind in der Einigung Italiens. Im Kirchen-

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

staat selbst führte er liberale Reformen durch (wenige, aber doch). Man hoffte seitens der italienischen
Nationalliberalen auf Unterstützung für die Bildung einer eigenen italienischen Nation.
Die Piusvereine in Deutschland zeigen durch die Namensgebung schon die Hochschätzung des Papstes.
Das übersieht aber, dass Pius alles andere als ein Revolutionär war. Er teilte die Autoritätsvorstellungen
der Vorgänger. Die Revolution lehnte er ebenso wie Gregor XVI. ab, sie sei ein fehlgeleiteter Gebrauch
der Vernunft, ein Aufstand gegen die göttliche Autorität und Weltordnung. Er verstand sich als Vertre-
ter der Autoritätspartei. Schon in seiner Antrittsenzyklika steht, dass die unverrückbare Autorität des
Papstes auch die Unfehlbarkeit einschließt.
Manche wünschten, Pius IX. sollte sich an die Spitze der politischen liberalen Bewegung stellen, gar
als italienischer Staatspräsident. Er war zwischen persönlichem nationalem Empfinden und der Ver-
pflichtung zum universalen Amt für alle Katholiken hin- und hergerissen. Erst als er sich weigerte ge-
gen Österreich in den Krieg einzutreten, kippte die Stimmung. In Rom erhoben sich 1848 die Massen,
der Papst wurde gezwungen vor ihnen nach Gaeta zu fliehen. In Rom wurde die Republik ausgerufen,
erst unter dem Schutz französischer Soldaten kann der Papst zurückkehren. Die Erfahrung von Revolu-
tion und Aufstand traumatisiert ihn. Er wandelt sich zum antimodernen Hardliner. Die Gegner waren
nicht nur die antiklerikalen Revolutionäre und die linken Liberalen, sondern auch die innerkirchlichen
Reformer, die liberalen Katholiken, die für eine maßvolle Annäherung von Kirche und Moderne eintra-
ten.

7.2 Die „ultramontane Offensive“


Zwei Dokumente vor dem ersten Vatikanum kennzeichnen den Schwenk Pius‘: Die Definition der
„Immaculata conceptio“ (Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens) und die Enzyklika
„Quanta cura“ (mit dem Syllabus als Anhang).

7.2.1 Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Mariens


Die Lehre, dass die Jungfrau Maria vom Augenblick der Empfängnis an von aller Erbschuld bewahrt
war, wurde seit dem Mittelalter kontrovers diskutiert. Vor allem die Franziskaner favorisierten diese
Lehre (im Anschluss an D. Scotus). Dagegen argumentierten die Dominikaner, die sich auf Thomas
von Aquin beriefen, dass kein Mensch außer Christus von der Erbsünde verschont blieb, aber dass be-
stimmte Menschen schon im Mutterschoß geheiligt wurden, eine „Sanctificatio“. Minimale Unter-
schiede. Im Laufe des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit schlossen sich immer mehr Universitäten
und Theologen der Lehre von der „Immaculata conceptio“ an. Die Dominikaner standen bald alleine
da. Aus Rücksicht auf die hohe Autorität Thomas von Aquins nahmen die Päpste von einer früheren
Dogmatisierung Abstand. Das Konzil von Basel gilt als Ausnahme, dort wurde 1439 ein Dogma dieser
Art erlassen, aber durch den fragwürdigen Ruf des Konzils ließ man es in Vergessenheit geraten.
Seit Beginn des 19. Jh. erfuhr die Marienverehrung im Zuge der Romanisierung einen neuen Auf-
schwung, und damit auch die Vorstellung der „Immaculata conceptio“. Eine Frau erhielt 1830 in einer
Vision den Auftrag eine wundertätige Medaille zu prägen, mit einer entsprechenden Aufschrift.
1840 baten 50 französische Bischöfe den Papst, die Lehre der „Immaculata conceptio“ als Glaubens-
wahrheit definieren zu lassen. 1845 folgten die Amerikaner, die das auch befürworteten. Das Land
Amerika wurde unter den besonderen Schutz der unbefleckten Empfängnis gestellt. Die Anrufung Ma-
ria immaculata wurde in die lauretanische Litanei eingefügt. Die Dominikaner passten sich an.
Mit dem Regierungsantritt Pius IX. trat man in Rom dem Ansinnen einer Definition dieses Dogmas
näher. Man setzte im Vatikan eine Gruppe ein. Die Theologie stand auf schwachen Füßen, es fand sich
nichts in der Bibel, auch nicht bei Kirchenväter und bedeutenden Theologen (außer bei Scotus).
Der Ausbruch der Revolution und die Flucht veranlassten Pius, die Macht des Papstes zu demonstrie-
ren. Er schrieb an alle Bischöfe und bat um Nachricht, wie sehr die „Immaculata conceptio“ in der

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Volksfrömmigkeit verankert war und ob man eine lehramtliche Definition (ein Dogma) wünschte. 600
kamen dem nach, 550 sprachen sich dafür aus. Diese Aktion war beispiellos, ein schriftliches Konzil.
Die Bedenken kamen v.a. aus dem deutschen Sprachraum wegen der fehlenden theologischen Schlüs-
sigkeit und der Opportunität. Soll man den subtilen Unterschied zwischen frommer Meinung und ex-
plizitem Dogma den einfachen Gläubigen zur Unterscheidung vortragen? Das übersteige die Fassungs-
kraft der Gläubigen. Die große Mehrheit des Weltepiskopats stimmte aber zu.
Es wurde oft behauptet, Pius IX. habe mit der Definition der „Immaculata conceptio“ 1854 einen Test-
lauf zur Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit 1870 gemacht. Das stimmt so nicht, man muss
davon ausgehen, dass zwei Momente sich trafen. Das echte Anliegen einer Marienfrömmigkeit und die
Furcht des Papstes, dass er in den Wirren der Revolution untergeht.
Nicht wenige Bischöfe und ultramontane Theologen sahen dennoch in der Definition das Ziel, den
Papst als obersten Lehrer aller Christen in Erinnerung zu rufen. Das sahen längst nicht alle Bischöfe so.
Insgesamt stand das Unfehlbarkeitsproblem eher am Rande der Definition der „Immaculata conceptio“.
Für den Papst stand die Definition aber in einem engen Zusammenhang mit den politischen und kultu-
rellen Vorgängen, die er als Bedrohung von Kirche, Glaube und Religion ansah. Angesichts des Chaos
in Italien bzw. im Kirchenstaat und der Bedrohung der weltlichen Herrschaft des Papstes reifte in ihm
der Entschluss mit einer klaren Stellungnahme an die Öffentlichkeit zu treten, worin die Autorität des
Papstes und die Reichweite der päpstlichen Gewalt zum Ausdruck kommen sollten. So gesehen hat die
Definition der „Immaculata conceptio“ auch einen politischen Hintergrund. Umso mehr als Pius plante
zusammen mit der Dogmatisierung eine Reihe von zeitgenössischen Irrtümern zu verurteilen, welche
den Verstand der Menschen verdunkelten und sich gegen das Christentum richteten. Dass „Immaculata
conceptio“ und Syllabus nicht gemeinsam veröffentlicht wurden verdanken wird der Kurie, wo man
sah, dass es zwei verschiedene Inhalte waren.
Am 8.12.1854 wurde die „Immaculata conceptio“ verkündigt. Danach ging man daran eine Sammlung
von Sätzen zusammenzustellen, die als Irrtümern verurteilt werden sollten. Dieser „Syllabus errorum“
erschien 1864.
05.05.2009
Drei Aspekte. Der erste war die unbefleckte Empfängnis.

7.2.2 Syllabus errorum


Der zweite war die Verabschiedung des „Syllabus errorum“. Die Irrtümer der Zeit sollen in einem Do-
kument verurteilt werden. Der Plan dies gleichzeitig mit der „Immaculata conceptio“ zu veröffentlichen
zeigt die politische Dimension. Die Kurie hielt den Papst aber davon ab, das zu tun. Als aber neue Auf-
stände im Norden des Kirchenstaates in der Emilia-Romagna auftraten, sah sich Pius IX. gezwungen,
die Liste der Irrtümer voranzubringen. Zunächst wurde lose aus allen möglichen Schriften, Zeitungen,
Äußerungen eine Liste von Irrtümern zusammengestellt. 1860 gab es schon eine Liste mit 79 Thesen,
die zirkulierte. 1861 publizierte der Bischof Gerbet von Perpignan (Südfrankreich) einen Hirtenbrief, in
dem er die Absicht des Papstes vorwegnahm und ebenfalls 85 Irrtümer der Zeit auflistete, die der ka-
tholischen Lehre widersprächen. Diese Liste erreichte auch Rom, Pius war davon begeistert, man woll-
te sich dem anschließen. Als aber die liberale Presse v.a. in Frankeich davon erfuhr, erhob sich ein
Sturm der Entrüstung. Deshalb wurde der Papst nochmals von einer frühen Veröffentlichung abgehal-
ten, man überzeugte ihn davon, dass man die Liste mehr fundieren musste. 1863 kam es aus Sicht des
Papstes zu einer weiteren Zuspitzung. Drei Dinge fanden statt, die dem Papst gegen den Strich gingen.
- Ein Roman, der in Frankreich erschienen ist. „Das Leben Jesu“ von Ernest Renan. Er war im
19. Jh. ein vielgelesener Sachbuchautor, auch in der Theologie. Theologie sei weithin historisch
erklärbar, meinte er. In „Das Leben Jesu“ bot er ein Leben Jesu, das sich an den damals neue-
sten Erkenntnissen der protestantischen exegetischen Forschungen orientierte. Jesus als morali-
scher Weltverbesserer, kein göttlicher Heiland, sondern ein menschliches Lebensbild Jesu.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

- Eine Rede von de Montalembert (der die Ideen Lamennais fruchtbar machen wollte) am Katho-
likentag 1863 in Belgien: „Die freie Kirche im freien Staat“. In dem Titel ist das gesamte Pro-
gramm des politischen liberalen Katholizismus zusammengefasst. Ein Ja zum freiheitlichen
aufgeklärten Staat, weil das ein Ja zur freien Kirche bedeutet. Freie Kirche auch im Sinne einer
größeren Aufgeschlossenheit und Freiheit der Mitglieder innerkirchlich gesehen. De Monta-
lembert leistet darin ein Bekenntnis zur belgischen Verfassung, und zu den liberalen Prinzipien,
die seiner Ansicht nach den besten Schutz für die Kirche und die kirchlichen Freiheiten darstel-
len.
- Eine Rede von Ignaz Döllinger, Kirchenhistoriker in München. Er war eine der Leuchten in der
neu gegründeten Landesuniversität. Er begann als Ultramontaner, wandelte sich dann aber hin
zum liberalen Katholiken. Die Rolle der katholischen Wissenschaft im Deutschland des 19. Jh.
sollte diskutierte werden. Die katholische Theologie sollte eine Führerschaft im geistigen Dis-
kurs einnehmen, zusammen mit den protestantischen Wissenschaftlern. Nur die Theologie kann
die Kirchenspaltung überwinden. Er plädierte für ein offenes Zugehen der Theologie auf die
moderne Wissenschaft, vor allem auf die neuen Möglichkeiten der Geschichte. Er wehrte sich
gleichzeitig gegen die Verschreibung des Lehramtes an die Neuscholastik, das implizit immer
auch das neue Wissenschaftsideal Humboldts (freies, unvoreingenommenes Forschen) kritisier-
te. Auch die Theologie könne sich diesem Ideal nähern. Das war auch ein Angriff auf die inner-
kirchliche Politik und Dialogunfähigkeit.
Der Papst dachte dass er handeln musste, um mit den Irrtümern der Neuzeit abzurechnen. Er zielte gar
nicht so sehr auf die Irrtümer, die von außen an die Kirche kamen (Atheismus, Kirchenfeindlichkeit,
Behinderungen der Kirche) sondern es ging gegen die innerkirchlichen Kritiker, die Moderne und Ka-
tholizismus vereinen wollten.
Am 8.12.1864 wurde „Quanta cura“ (welch große Sorge) veröffentlicht. Die Enzyklika schildert zu-
nächst die dramatische Flucht des Papstes vor den Revolutionären aus Rom. Die Wurzel der Revoluti-
on war für ihn das falsch verstandene Freiheitsideal, das seit der Französischen Revolution durch die
Köpfe geisterte. Diese Freiheit ist die Wurzel aller zeitgenössischer Irrtümer und Übel.
Nach der allgemeinen Einleitung folgen lose gruppiert 16 verabscheuungswürdige Irrtümer und ent-
setzliche Meinungen. Z.B.:
- Neutralität des Staates
- Monopol des Staates auf den Unterricht, Ansichten die der Kirche die Schulaufsicht verbieten
- Entkirchlichung der Bereiche Ehe und Familie
- Das Zurückdrängen der Kirche auf den rein religiösen und geistlichen Bereich. Dazu gehören
Tendenzen wie sie von vereinzelten Katholiken schon geteilt wurden, dass die katholische Kir-
che und der Papst keinen Staat brauchten um das Amt ausüben zu können. Pius IX. war über-
zeugt, dass der Kirchenstaat und die weltliche Herrschaft des Papstes geradezu notwendig und
glaubensrelevant seien. Intellektuelle sahen im Kirchenstaat eher ein Hindernis für die Aus-
übung des Leitungsamtes.
Als Anhang an die Enzyklika findet sich eine Liste von 80 Sätzen, das ist der eigentliche Syllabus
(=Liste, Verzeichnis). Der Syllabus verurteilt Ansichten aus folgenden Themenbereichen (Überschrif-
ten):
1. Pantheismus, Naturalismus und unbedingter Rationalismus
2. Gemäßigter Rationalismus
3. Indifferentismus, Latitudinarismus
4. Sozialismus, Kommunismus, geheime, biblische und klerikal-liberale Gesellschaften
5. Irrtümer über die Kirche und ihre Rechte

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

6. Irrtümer über die bürgerliche Gesellschaft in sich und ihrer Beziehung zur Kirche
7. Irrtümer über die natürliche und christliche Moral
8. Irrtümer über die christliche Ehe
9. Irrtümer über die weltliche Obergewalt des römischen Bischofs
10. Irrtümer, die sich auf den heutigen Liberalismus beziehen
Trotz der Bemühungen um Ordnung bleibt es ein Loseblatt-Verzeichnis. Innerhalb der Überschriften
gibt es eine große Unordnung und Zufälligkeit, kein System. Der Papst hatte keinen bestimmten Autor
oder eine bestimmte Partei vor Augen. Es war ein Sammelsurium von Meinungen in Philosophie,
Theologie, Politik, Rechtswissenschaft, die man verurteilte.
Es fällt auch auf, dass es eine reine Ablehnung ist. Im Gegensatz zu anderen kirchlichen Dokumenten
wurde auf eine positive Lehre verzichtet. Es wurde nicht gezeigt, was richtig ist. Der gläubige Katholik
erfährt nicht was richtig ist, sondern nur was als falsch anzusehen ist. Im Syllabus finden sich Ansich-
ten unterschiedlicher wissenschaftlicher Ebenen. Teilweise geht es gegen einen blanken Atheismus, der
zurückgewiesen werden muss. Aber daneben finden sich politische Ansichten, die mit Glaube, Gottes-
bild und Kirche nichts zu tun haben. Dann finden sich Verurteilungen von Ansichten der liberalen Ka-
tholiken (Forderung nach Religionsfreiheit, Trennung von Kirche und Staat, …). Der Papst hat sich
nicht nur auf theologische Irrtümer beschränkt, sondern auch philosophische Ansichten verurteilt.
Satz 80 kennzeichnet den Papst besonders, quasi als Ausrufezeichen am Schluss. „Der Römische Papst
kann und muss sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und mit der modernen Kultur aussöhnen
und verständigen“. Katholizismus und Moderne sind unvereinbar.
Liest man die Sätze in der Gesamtheit, dann wundert das Aufsehen nicht. Selbst Papst und Kurie waren
über die Reaktionen überrascht. Manche jubelten zwar, dass der Papst endlich Stellung bezogen hat
(vor allem die ultramontane Presse), aber das Entsetzen überwog. Das größte Aufsehen erregte die
Aussage, dass die Freiheit des Gewissens als Recht jedes Menschen ein Wahngebilde sei. Der Mensch
habe kein freies Gewissen, damit wurde die Meinungs-, Gewissens- und Pressefreiheit erneut verurteilt.
Auch treue Katholiken bekamen damit Probleme. Wie kann man nach einem solchen Lehrschreiben
noch in einem toleranten Staat leben?
Der Syllabus war eine der schärfsten Ablehnungen der freiheitlichen Errungenschaften, die die Kirche
jemals vornahm.
Auch die Regierungen waren besorgt, denn wenn man das für bare Münze nahm entstand die Frage, ob
ein Katholik noch ein loyaler Staatsbürger sein kann. Diese Frage stellte Frankreich an die Kurie. Die
staatsrechtlichen Folgen hatte man nicht bedacht. Man war daher dankbar, dass der Bischof von Or-
léans, Dupanloup, eine Auslegung gegeben hat, die dem Syllabus etwas von der Schärfe nahm und die
Regierungen beruhigte. Er meinte es bedürfe einer bestimmten Hermeneutik um kirchliche Dokumente
zu lesen. Es werden nur Ideen, nicht aber Menschen verurteilt. Weiters muss man bei römischen Do-
kumenten immer die zwei Seiten des Ideals und der Realität berücksichtigen und die These von der
Hypothese unterscheiden können.

8. Das Erste Vatikanische Konzil


8.1 Voraussetzungen und Vorbereitungen
Das letzte Ereignis, das den Sieg des Ultramontanismus im 19. Jh. besiegelte. Es kam nicht überra-
schend (politische Bedrohung des Kirchenstaates, Syllabus, „Immaculata conceptio“). Der Papst sah,
dass die Kirche ums Überleben kämpfte, es brauchte Maßnahmen. Die Bedrohung des Kirchenstaates
bewirkte aber auch eine Solidarisierung der Katholiken mit dem Kirchenstaat. Der Angriff widergöttli-
cher Kräfte auf den Stellvertreter Christi brachte Pius auch viele Sympathien. Viele Katholiken melde-
ten sich freiwillig für die päpstlichen Truppen.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Die äußeren Umstände waren für den Papst der eine Aspekt sich zu isolieren. Die öffentlichen Medien
trugen aber auch dazu bei. Die Jesuitenzeitschrift „Civilta Cattolica“ ist hier an erster Stelle zu nennen.
Angesichts der Bedrohung von Kirchenstaat und Papst wurde ein dreifacher Tribut gefordert: man
brauchte Geld (Einführung des Peterspfennig); man brauchte Leben, Freiwillige, die sich in den Dienst
der Armeen stellte; und auch das Opfer des Verstandes (den man dem Papst opfern musste, Unterwer-
fung unter das Autoritätsprinzip) wurde gefordert. Dem gegenüber standen die liberalen Katholiken wie
Döllinger: der Untergang des Kirchenstaates war eine Möglichkeit zur besseren Verwirklichung des
Evangeliums und des kirchlichen Auftrags, keine Katastrophe.
Am 26.06.1867 kündigte er ein allgemeines Konzil für 8.12.1869 an. Es waren 1800 Jahre der Wieder-
kehr des Martyriums der Apostel Petrus und Paulus (ein symbolträchtiger Termin).
Die öffentliche Meinung: was soll man von dem Konzil halten? Man dachte an die konziliaristische
Haltung auf der einen Seite, ein Forum der Mitsprache, freier Gedankenaustausch und Mitbestimmung.
Wenn ein Papst aber ein Konzil ohne Zwang einberuft, dann vermutete man, dass es eine autoritative
Konzilsführung werden würde (ähnlich Innozenz III. am 4. Laterankonzil, wo alle Dekrete schon fertig
waren).
Die öffentliche Meinung bildete die beiden Haltungen ab: die strengen Ultramontanisten, die das
Papstprinzip gestärkt haben wollten, und die liberalen Katholiken, die mehr Freiheit wünschten.
Die Bedeutung der Presse zeigte sich für die Herausbildung der öffentlichen Meinung. Beide Seiten
bedienten sich dieses Mediums für die Mobilisierung der Klientel. Auf der konservativen Seite war es
die Jesuitenzeitschrift „Civilta Cattolica“ unter dem Herausgeber Matteo Liberatore, in Frankreich die
Zeitschrift „Univers“, die der Priester Louis Verillot herausgab. In Deutschland hatte die katholisch-
liberale Presse das Übergewicht, was der Haltung des Episkopates und der katholisch-theologischen
Fakultäten entsprach. Die konservativen Zeitschriften radikalisierten die Ansichten des Ultramontanis-
mus. Sie weckten schon vor dem Konzil die Hoffnungen, dass das Konzil die Unfehlbarkeit des Pap-
stes definieren sollte. Man propagierte eine Definition der Unfehlbarkeit per Akklamation, der Heilige
Geist spricht im Konzil selbst, eine Erörterung und Diskussion sei nicht nötig. Auch die Kurie versuch-
te die Stimmung zu testen und zu beeinflussen. Der Papst hielt sich vorerst zurück, nahm aber dann mit
der Zeit Partei für die Infallibilisten. In Deutschland reagierte vor allem Ignaz Döllinger, um der einsei-
tigen Mobilisierung der Massen entgegenzuwirken. Er bediente sich der Augsburger allgemeinen Zei-
tung, wo er unter dem Pseudonym Janus eine Reihe von Artikeln unter der Überschrift „Das Konzilium
und die Civilta“ veröffentlichte, in der er deren Machenschaften aufzeigte. Er wandte sich gegen die
Unfehlbarkeit und beklagte auch den Hass einiger ultramontaner Kreise gegen alle freiheitlichen Ideen.
Er befürchtete, dass der Papst mit der Unfehlbarkeit als 2. Quelle der Inspiration festgeschrieben wür-
de. Er spottete gegen das inspirierte Orakel vom Tiber, das jede andere Autorität erblassen lasse. Es
wurde auch anderenorts gespottet.
Die deutschen Bischöfe nahmen eine besorgte Haltung ein und baten in einem Brief von der Definition
abzusehen. Es gab auch forsche Kritik von liberaler Seite. All das war aber nur Wasser auf den Mühlen
der Ultramontanen. Jetzt erst recht, war die Devise.
In Frankreich war der Episkopat gespalten. Es gab starke Befürworter der Definition der Unfehlbarkeit
(Bischof Deschamps von Mechelen). Der treibende und expliziteste Befürworter im Episkopat über-
haupt war aber der Engländer Edward Manning, Erzbischof von Westminster. Er war Konvertit und
kam über John Henry Newman mit dem Katholizismus in Kontakt. Er wurde zum Eiferer für den Ul-
tramontanismus.
Die Gegner der Unfehlbarkeit im französischen Episkopat waren der Bischof Dypanloup und ein Titu-
larbischof, der Dekan der theologischen Fakultät Sorbonne in Paris, Maret. Dypanloup entschloss sich
1868 angesichts der Hetze in der ultramontanen Presse einen Hirtenbrief an den Klerus zu schreiben,
worin er theologische und praktische Gründe gegen eine Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit dar-
legte. Viele rühmten das Schreiben als große Tat, weil ein gemäßigter aber bedeutsamer Bischof das
Wort ergriff. Die Reaktion auf das Schreiben aber war, dass das ultramontane Lager umso schärfer da-

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

zu aufrief, die Definition der Unfehlbarkeit nicht zu behindern. Alles andere trage zur Zersetzung der
katholischen Kirche bei. Es sei notwendig diese Definition durchzuführen. Man muss sagen, dass die
Initiative in der Regel immer von den Ultramontanen ausging. Die Liberalen antworteten meist nur.
Die Auseinandersetzungen verhärteten die Fronten.
Erstmals nahmen an einem Konzil keine Gesandten der Staaten teil. Noch in Trient und im Mittelalter
war es selbstverständlich, dass die Nationen Beobachter und Vertreter zu Konzilen entsandten. Hier hat
die Trennung von Kirche und Staat schon stattgefunden, auch wenn sie der Syllabus als Irrtum beklag-
te. Verschiedene Staaten versuchten auf das Geschehen am Konzil Einfluss zu nehmen, weil man durch
eine Radikalisierung der katholischen Kirche auch innenpolitische Spannungen Probleme befürchtete.
So wollte der bayrische Ministerpräsident von Hohenlohe die deutschen Fürsten zu einer Zirkulardepe-
sche überreden, womit man in Rom gegen die Festschreibung des Primats protestieren wollte. Der
preußische Kanzler Bismarck lehnte aber eine Einmischung in kirchliche Angelegenheiten prinzipiell
ab. Ein Interesse an einer solchen Intervention hätten nur die liberalen Katholiken gehabt. Ein Ein-
schreiten der Staaten würde vielleicht ein Einlenken des Papstes bewirken.
Die Vorbereitungen fanden heimlich und abgeschottet statt. Keine Planungen, Dokumente und Sche-
mata sollten an die Öffentlichkeit gelangen. Dazu kam, dass man von Seiten der Kurie darauf verzichtet
hat, internationale Theologen einzuladen um an der Vorbereitung mitzuarbeiten. Die Haustheologen
hatten einen eingeschränkten Erfahrungshorizont und von der Situation der Ortskirchen und den pasto-
ralen Nöten wenig Ahnung. Sie hatten alle nur die gleiche römische neuscholastische Ausbildung.
Der Kardinal von Prag, Fürst Schwarzenberg, beschwerte sich über die einseitigen Vorbereitungen, es
erfolgten daraufhin Korrekturen, weitere Leute wurden eingeladen. Sie wurden aber nur in jenen Vor-
bereitungsgremien eingesetzt, wo sie keinen Schaden anrichten konnten.
Der Papst und die Kurie stimmten nicht zu, die Reden weder vorweg noch im Nachhinein zu drucken.
Man wollte sie nicht an die Öffentlichkeit kommen lassen. Es beeinträchtigte aber auch die Kommuni-
kation innerhalb des Konzils und auch zwischen den Bischöfen. Die Bischöfe kannten die Vorlagen
und Schemata bis eine Woche vor dem Konzil nicht. Sie wussten nicht, was sie erwartete.
Von der fehlenden Transparenz und der Geheimhaltung waren nicht nur die Konzilsväter selbst betrof-
fen, sondern auch die katholische Öffentlichkeit, die nun auf Spekulationen angewiesen war. Die Ge-
heimhaltung bestärkte die Meinung, dass das Konzil schon eine gemachte Sache sei und es nichts mehr
zu entscheiden gab. Der Augsburger allgemeinen Zeitung gelang es dennoch, immer wieder von den
Vorgängen auf dem Konzil zu berichten. Die Quelle war der englische Privatgelehrte Lord Acton. Er
konnte als Konzilsbeobachter durch die Kontakte zu verschiedenen Bischöfen immer wieder Interna
erfahren. Über Döllinger ging das dann an die Augsburger allgemeine Zeitung. Veröffentlicht unter
einem Pseudonym als „Quirinius Briefe“.

8.2 Der Konzilsverlauf


8.12.1869 Konzilseröffnung, 700 Bischöfe. Es war bis dahin das größte Konzil. Ein Real-
ökumenisches Konzil. Überwiegend Europäer, aber auch Teilnehmer aus Nordamerika, Südamerika,
Asien, aus den Missionen, aus den orientalischen Riten; allerdings niemand aus Afrika.
Die Unfehlbarkeitsfrage wurde dem Konzil von außen aufgedrängt. Pius wollte das am Konzil nicht
thematisieren. Es ging ihm mehr um eine konziliare Neufassung des Syllabus.
War die Frage nach der Unfehlbarkeit neu? Nein, De Maistre und Capellari brachten sie schon zu Be-
ginn des 19. Jh. als Konsequenz des Primats des Papstes ins Spiel.
Gleichwohl bildeten sich auf dem Konzil zwei große Gruppen, die der Befürworter der päpstlichen
Unfehlbarkeit und die deren Gegner. Infallibilisten und Fallibilisten. Neutralität gab es nicht. Die Mi-
norität waren die Fallibilisten: 140 Bischöfe, 20%. Majorität: 560 Bischöfe, 80%.
Bedeutendste Vertreter:

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- Majoritätspartei: Erzbischof Manning (Westminster); Bischof Ignaz von Senestrey (Regens-


burg); Bischof Dechamps (Mechelen); Bischof Gasser (Brixen); Bischof Fesßler (St. Pölten – er
wurde später zum Generalsekretär des Konzils ernannt); Bischof Martin (Paderborn); Bischof
Spalding (Baltimore). Die Italiener und Spanier waren auch fast alle auf dieser Seite, aber sie
brachten keinen namhaften Sprecher hervor.
- Minoritätspartei: Bischof Josef von Hefele (Rottenburg/Stuttgart – ein Kirchenhistoriker, der
die Konziliengeschichte wie kein anderer auf dem Konzil kannte); Bischof Ketteler (Mainz);
Erzbischof Rauscher (Wien); Bischof Stroßmayer (Kroatien); Bischof Schwarzenberg (Prag);
Bischof Dupanloup (Orléans); Bischof Guidi (Bologna, Dominikaner – er versuchte zu vermit-
teln, die Position des Thomas von Aquin wäre ein Mittelweg gewesen).
Manning und Senestrey waren die treibenden Kräfte. Bereits 1867 bei der Ankündigung legten die bei-
den vor dem Grab des Apostels Petrus ein Gelübde in die Hände des Chefredakteurs der Civilta ab. Sie
wollen sich am Konzil bis zum Blut für die Definition der Unfehlbarkeit des Papstes einsetzen. Die
Impulse und Intrigen kamen von ihnen. Sie manipulierten die wichtige Wahl der dogmatischen Kon-
zilsdeputation. Nur Theologen, die der Unfehlbarkeit aufgeschlossen waren, wurden berufen. Als die
Gegenseite das merkte, präsentierte man eine alternative Liste auf der nur Gegner waren, diese wurde
nicht angenommen.
Hinderlich war auch, dass Pius IX. als Tagungsort die Peterskirche selbst auswählte. Dort war das Grab
des Apostels, es sollte eine Demonstration des Primats Petri und seines Nachfolgers sein. In einem
Querschiff fanden die Konzilssitzungen statt. Es war akustisch unmöglich, den Reden zu folgen. Das
frustrierte viele Väter derart, dass sie gleich wieder abreisten. Es wurde nur auf Latein gesprochen, aber
wenn ein Franzose und ein Amerikaner Latein reden, ist beides unverständlich wenn man nicht mitle-
sen kann. Man hat versucht das zu verbessern, und man gewöhnte sich auch langsam an die Umstände.
Am Ende waren die Reden einigermaßen verständlich, wenn man sie verstehen wollte.
Die Verhandlungsgegenstände wurden von den vielen gemachten Eingaben auf 5 reduziert, 5 Kommis-
sionen sollten ein Schema erarbeiteten zu den Themen: Dogmatisches Dokument; Kirchendisziplin;
Ordensleben (über die neuen Orden); Ostkirchen; Missionen (zusammen mit den Ostkirchen).
Letztlich wurden nur zwei Themen behandelt: die Konstitution „Dei filius“ (veröffentlicht am
24.12.1869) über die Quellen der Offenbarung (fundamentaltheologisch) und „Pastor aeternus“ am
18.07.1870 als Kirchenkonstitution.
„Dei filius“ wurde einstimmig und recht schnell verabschiedet, es gab einen guten Text der vom Konzil
nochmals revidiert wurde. Darin wurden Rationalismus, aber auch Fideismus und Traditionalismus
verurteilt. Man hat versucht die Würde des Glaubens zu definieren, es ist nicht widernatürlich zu Glau-
ben. Der Glaube braucht die Vernunft sogar, aber der Glaube ist auch eine autonome Zugangsweise zur
Erkenntnis Gottes.
Das Kirchenschema ist aber einseitig ausgefallen. Es sollte die ganze Kirche darstellen, was auch das
Schema vorsah. Man stellte aber fest, dass es viel zu lange dauern würde alles zu diskutieren. Ange-
sichts der herannahenden Revolutionstruppen und dem sich abzeichnenden Krieg zwischen Deutsch-
land und Frankreich drängte der Papst, die Fragen des Papsttums herauszunehmen und vorweg zu be-
handeln. Die Kirche in ihren anderen Aspekten wurde erst am II. Vatikanum in „Lumen gentium“ be-
handelt.
Senestrey und Manning ließen im Dezember 1869 eine Unterschriftenliste kreisen, wo sie darum war-
ben, die päpstliche Unfehlbarkeit in das Kirchenschema einzubauen. Die Zustimmung lag bei 60%. Die
Minorität arbeitete dagegen, man brachte aber bei einer Umfrage nur 144 Stimmen zusammen. Im Jän-
ner war es auch Pius IX. klar, dass die Unfehlbarkeit des Papstes definiert werden muss. Aufgrund der
Diskussion, die es in der der Öffentlichkeit schon gab, würde eine Zurücknahme dieses Ansinnens als
Schwäche interpretiert werden.
12.05.2009

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8.3 Päpstlicher Primat und Unfehlbarkeit: Die Konzilskonstitution „Pastor aeternus“


Die Polarisierung begann nicht erst am Konzil, sie erfolgte schon Jahre vorher durch die katholische
Öffentlichkeit. Das Konzil musste auf die Frage nach der Unfehlbarkeit des Papstes Antwort geben.
Das Schema wurde ab Jänner 1870 diskutiert, der Papst selbst wünschte nun ein neues Kapitel in der
Kirchenkonstitution, das sich mit der Unfehlbarkeit des Papstes beschäftigen soll.

Majorität – Infallibilisten Minorität – Fallibilisten

Betonung des Autoritätsprinzips gegen alle Formen Anerkennung der neuzeitlichen Freiheitsentwicklung
des Liberalismus („Heil durch Autorität“) (Idee der Freiheit ist evangeliumsgemäß)

Kirche und „Welt“ stehen in unauflöslichem Konflikt Verhinderung des totalen Auseinanderdriftens von
zueinander (totale Ablehnung der Moderne als wider- Kirche und profaner Gesellschaft (Notwendigkeit von
göttlich) -> Syllabus! Modernisierungen auch in der Kirche)

Eliminierung aller historischen Bedingtheiten und Anerkennung der Geschichtlichkeit der Kirche (Das
künftiger Unwägbarkeiten in der kirchlichen Lehre neue Dogma sei kirchengeschichtlich nicht verbürgt;
(bis heute ein Thema: wie kann man Wahrheit und vielmehr gebe es historische Beispiele für päpstlichen
Geschichte zusammendenken?) Irrtum1)

Rückbindung des Papstes bei unfehlbaren Entschei- Päpstliche Unfehlbarkeit muss an die vorgängige Un-
dungen an die Kirche darf an keine Bedingungen ge- fehlbarkeit der Kirche gebunden bleiben. Vor einer
knüpft werden. – (Papst als „Quelle“ der Unfehlbar- unfehlbaren Entscheidung muss der Papst bestimmte
keit wurde nur von extremen Infallibilisten vertreten, Bedingung einhalten. (Antoninus-Formel: „den Rat
wie etwa Senestrey und Manning.) und den Konsens Kirche suchend“)

Individuelle päpstliche Unfehlbarkeit als effizientes Höchste Lehrentscheidungen werden üblicherweise


Instrument für schnelle Entscheidungen auf Ökumenischen Konzilien getroffen

Die Antoninusformel ist nach dem Dominikaner und Erzbischof Antoninus von Florenz benannt, der
Mitte des 15. Jh. lebte, und ein Lehrbuch, eine Summa geschrieben hat. Die Minorität konnte sich gut
darauf berufen, weil Antoninus anerkannt war. Die Majorität wollte die Rückbindung an die Kirche
vermeiden. Wenn man Bedingungen aufstellt, dann kann man immer einwenden, dass der Papst diese
nicht oder nicht richtig eingehalten hätte. Es gab sogar extreme Positionen, die den Papst aufgrund der
Nicht-Rückbindung gar als die Quelle der Unfehlbarkeit sahen, nicht die Kirche.
Aus dem Mittelalter wurden Texte angeführt wo unterschieden worden ist, dass der Papst zwar als Per-
son fehlbar sei, aber nicht in seinem Amt, wenn er als Hirt und Lehrer der ganzen Kirche spricht.
Die Mehrheit sah die Unfehlbarkeit als notwendiges Gegendogma zur Französischen Revolution. Rela-
tivismus, Subjektivismus, … müssen in die Schranken gewiesen werden. Die Autorität muss ihren
Rang zurückerlangen.
Die Minorität wandte sich gegen eine Unfehlbarkeit die völlig von der Kirche getrennt war. Sie wollte
keine absolute und persönliche Unfehlbarkeit des Papstes, er sollte immer als Lehrer der Kirche spre-
chen. Kardinal Guidi wies darauf hin, dass der Papst vom Glaubenszeugnis der Gesamtkirche abhänge.
Man hätte so formulieren können, dass der Papst nicht an die formelle Zustimmung der Bischöfe ge-
bunden ist, aber an den Glaubenssinn der Kirche.
Wichtig wurde für die Schlussabstimmung eine lange Rede des Bischofs Gasser von Brixen. Er kam in
der Auslegung des Schemas der Minorität weit entgegen. Der Papst sei an den Glaubenssinn der Kirche

1
Z.B. Papst Honorius I. – er meinte, dass Christus nur einen Willen hatte, etc.

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gebunden. Auch der Glaubenssinn ist vom päpstlichen Urteil nicht getrennt, aber er darf nicht als for-
melle Bedingung aufgenommen werden, sondern ist in sich gegeben. Damit wurde auch der maximali-
stischen Auslegung der Unfehlbarkeit Einhalt geboten, es wurde eine Brücke gebaut, damit auch die
Minorität zustimmen könnte. Bei einer Probeabstimmung gab es 450 Ja-Stimmen, 88 Gegenstimmen,
62 lehnten ab oder stimmten zu, waren aber für weitere Verbesserungen (juxta modum). Eine 2/3
Mehrheit zeichnete sich ab. Der Papst war über den Widerstand dennoch verärgert und verschärfte den
Text. Jegliche Anspielung auf Konsens und Mitwirkung der Kirche musste eliminiert werden. Der
Papst sei unfehlbar aus sich heraus, nicht aber durch die Zustimmung der Kirche.
Die Minorität konnte damit nicht leben und beschloss, Rom zu verlassen. Man wollte nicht an einer
Abstimmung teilnehmen, wo man mit „Nein“ votieren musste. Dahinter stand die Vorstellung, dass
eine Entscheidung auf einem ökumenischen Konzil immer einstimmig zu erfolgen habe, man wollte
dem Konzil diese Schande ersparen. Dahinter stand die taktische Überlegung, die Majorität aufzurüt-
teln, dass eine Lehre verabschiedet wurde, die keine Einigkeit fand. Man stimmte dennoch am 18. Juli
1870 ab: 533 Stimmen für den Text, 2 Gegenstimmen. Die Minorität war schon abgereist. Die Verle-
sung des Dokumentes, die der Papst selbst vornahm, war von einem schweren Gewitter begleitet, so-
dass man die Stimme des Papstes kaum hören konnte. Danach erhielten die Konzilsväter Urlaub, man
reiste angesichts der Kriegsgefahr zwischen Frankreich und Deutschland schnell ab. Damit war das
Konzil zu einem Ende gekommen.
Am 20. September 1870 wurde Rom von den Revolutionstruppen des Risorgimento eingenommen. Die
Hauptstadt des Papstes war besetzt, es war nicht daran zu denken, das Konzil fortzuführen.
Blick in den Text: Dogmatische Konstitution „Pastor aeternus“, der ewige Vater. Über die Kirche Chri-
sti. In der Eile hat man aber nur eine Lehre über das Papstamt zustande gebracht. Dieses Schreiben be-
steht aus 4 Kapiteln.
Erstes Kapitel: Der apostolische Primat wurde von Christus im Hl. Petrus eingerichtet.
Zweites Kapitel: Beispiele aus der Tradition, dass dieser Primat in den römischen Bischöfen fort-
dauert über den Tod Petrus hinaus.
Drittes Kapitel: Das Wesen des Amtes wird beschrieben. Es ist ein bischöfliches Amt, der Papst hat
unmittelbare Autorität über alle Gläubigen. Es ist ein Jurisdiktionsprimat.
Viertes Kapitel: das unfehlbare Lehramt des römischen Bischofs. Der letzte Satz wurde von Pius IX.
hinzugefügt. Er ist eine Verschärfung, aber kein Plädoyer für eine von der Kirche losgelöste Unfehl-
barkeit. Er ist eine Antwort auf die gallikanischen Artikel 1683, wo die Unfehlbarkeit des Papstes an
die Zustimmung der Kirche gebunden ist.
Meint Unfehlbarkeit Unveränderlichkeit, oder die innere Wahrheit und Richtigkeit einer Lehre?
Wenn man den letzten Satz weglässt ist der Text doch recht zahm, Feßler und Gasser konnten eine
Auslegung geben, die auch der Minorität entgegenkam. Es wird gesagt, dass die Unfehlbarkeit bei der
Kirche liegt und der Papst sie wahrnimmt. Der Papst ist nicht die Quelle.
Die Unfehlbarkeit ist eingeschränkt auf Glaube und Sitte. Alle anderen Aspekte (Politik, Philosophie,
Wissenschaft) fallen nicht unter dieses Dekret. Auch das ist eine Korrektur der großen Erwartungen,
die viele hatten.
Durch die Form des Urteils ist eine weitere Einschränkung gegeben. Der Papst muss ex cathedra spre-
chen, also explizit formulieren, dass er eine unfehlbare Lehre verkünden möchte.
Der Papst wird nicht von der Kirche getrennt, er definiert als Hirt der Kirche für die Kirche in Rück-
bindung an die Kirche. Die Bischöfe Ketteler, Feßler, … haben dieser Lesart des Dogmas auch im
deutschsprachigen Raum Vorschub geleistet. Innerhalb eines halben Jahres hat sich die Minorität bereit
erklärt, das Dokument zu unterschreiben. Einzig Bischof Stroßmayer hat verweigert. Er hat erst 1887
unter dem Nachfolger von Pius IX. die Unterschrift geleistet.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Die Bischöfe der Minorität waren der Meinung, dass das Konzil das Dogma nicht durchsetzen würde,
weil man an das Prinzip der moralischen Einstimmigkeit glaubte. Man bemühte sich bald nicht mehr
stark genug darum, die gemäßigten Mitglieder der Majorität zu gewinnen. Die Minorität leistete sich
den harten Widerstand bis zuletzt und nahm eine vorzeitige Abreise in Kauf. Das Prinzip der Einstim-
migkeit bei Konzilien war in der Geschichte immer ein Ideal, das aber wohl nie erreicht worden ist
(außer am II. Vatikanum).
Summa summarum: die Väter am Konzil waren frei, es gab keine Gängelung. Natürlich gab es Behin-
derungen. Der Papst legte sich nicht immer die nötige Zurückhaltung auf. Es lässt sich aber nicht hal-
ten, dass die Definition nur durch Manipulation, Täuschung und Behinderung zustande kam. Die Majo-
rität muss geachtet werden, der größte Teil der Kirche weltweit stand dahinter.
In den Jahren nach dem Konzil setzte sich eine moderate Interpretation des Dogmas durch. Die Päpste
machten von dem neuen Instrument keinen Gebrauch. Allein 1950 wurde die leibliche Aufnahme Ma-
riens in den Himmel dogmatisiert. Es hat aber seit 1870 die Aufmerksamkeit dafür geschärft, welche
Lehren verbindlich sind. Es war also nicht ganz verkehrt, dieses Dogma zu erlassen.

8.4 Die Folgen des Konzils: Rezeption und Kulturkampf


Altkatholische Kirche
Eine der schmerzlichsten Folgen des I. Vatikanums war die Entstehung der altkatholischen Kirche. Die
größte Opposition gegen das Dogma fand sich unter den Gelehrten. Aber auch das akademisch gebilde-
te katholische Bürgertum brachte dem Dogma größten Widerstand entgegen. Ihren Führer erblickte
diese Bewegung in Ignaz Döllinger. Aus dem Episkopat schloss sich keiner dem Protest an.
Die Gegner wollten aber dennoch katholisch bleiben. Döllinger wurde 1871, weil er sich nicht fügte,
aus der Kirche ausgeschlossen und exkommuniziert, wie auch andere. Er wollte aber kein Schisma und
trat der sich formierenden altkatholischen Kirche nicht bei. Er wollte nicht eine neue, sondern eine re-
formierte Kirche. Bis an sein Lebensende weigerte er sich das Dogma anzuerkennen.
Es erfolgte eine Appellation von 32 Professoren, die an ein freies Konzil in deutschen Landen ging (->
Reformation, Luther). Dieses Konzil sollte den Fehler im römischen Konzil korrigieren. Der Antrag
war utopisch. Im September 1871 traf man sich zu einem Kongress der Altkatholiken in München. Da-
nach kam es zu einer Gründung einer Reihe altkatholischer Vereine, in kürze hatten sie 60.000 Mitglie-
der. Am 14. Juni 1873 erfolgte das Schisma, als man den Priester Josef Hubert Reinkens (Diözese
Köln) zum Bischof weihte. Die Weihe spendete ein Bischof der Utrechter Kirche, die sich schon früher
mit Bischöfen von der katholische Kirche getrennt hat. Die Bischöfe stehen so bis heute in der aposto-
lischen Sukzession.
Die höchste Autorität der Altkatholiken ist die Synode, sie hat das Recht zur Bischofswahl. Die Messe
sollte in der Landessprache gehalten werden. Der Zwangszölibat wurde aufgehoben, man schuf die
Ohrenbeichte ab und ersetzt sie durch eine allgemeine Bußandacht. Weltweit gibt es heute eine halbe
Million Mitglieder, in Österreich sind es ca. 14.000.
Die katholische Kirche entfremdete sich von den Nationalstaaten. In Österreich wurde als Reaktion auf
das I. Vatikanum und die Definition der Unfehlbarkeit das Konkordat einseitig aufgekündigt. In
Deutschland reagierte man ähnlich, die katholische Kirche wurde benachteiligt und verfolgt („Kultur-
kampf“). Frankreich zog als Reaktion auf die Definition der Unfehlbarkeit seine Truppen aus dem Kir-
chenstaat ab (Frankreich war die letzte Macht, die dem Papst militärischen Beistand gab), was dann den
Zusammenbruch des Kirchenstaats beschleunigte. Deutschland reagierte aber am Heftigsten, die Ka-
tholiken waren rund 20 Jahre diskriminiert. Den Krieg zwischen Frankreich und Deutschland gewann
Deutschland, Elsass-Lothringen wurde in der Folge Deutsch.
Seitens der europäischen Mächte zeigte man, dass man die Definition der Unfehlbarkeit nicht gut hieß.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Kulturkampf
2 Bedeutungen:
- Allgemein als Oberbegriff für den gesamteuropäischen Weltanschauungskampf zwischen den
modernen Nationalstaaten und der katholischen Kirche. Die katholische Kirche wird von der
freiheitlichen Gesellschaft her verdächtigt.
- Die Auseinandersetzung zwischen dem preußischen Kulturprotestantismus und dem Katholi-
zismus. Vor allem 1870-1890. Sie wurde durch die Haltung des preußischen Ministers Bis-
marcks ermöglicht. Er sah sich zwei Situationen gegenüber:
o Erst 1870 kam man zur Schaffung des Deutschen Reiches. Man suchte verstärkt eine natio-
nale Identität zu finden, die vom Protestantismus geprägt war. Die Katholiken waren in der
Minderheit.
o Neues Selbstbewusstsein nach dem Sieg über Frankreich.
Es hat sich im Zuge der Staatenbildung auch eine neue Partei gebildet, die Partei des Zentrums, in dem
sich die Katholiken wieder fanden. Dieses Zentrum hat bei den ersten Wahlen fast 30% der Stimmen
erreicht, was Bismarck ein Dorn im Auge war. Das war ein weiteres Motiv, um gegen die Katholiken
gezielt vorzugehen.^^
Man war nach dem I. Vatikanum auch um die Loyalität der Katholiken besorgt, wenn sie einem aus-
ländischen Souverän verpflichtet sind, der noch dazu Unfehlbarkeit beansprucht? Wie würden sie sich
bei nationalen Interessen verhalten? Würden sie einer Einberufung folgen?
1870 erfolgte die erste Kampfansage: man löste die Abteilung für den Katholizismus im preußischen
Kultusministerium auf. Es folgte der berühmte Kanzelparagraph, die Pfarrer durften nicht gegen den
Staat predigen. Es gab vom Staat her das Recht auf Zensur von Predigten und bei Verstößen auch
Sanktionen. Ein neues Schulaufsichtsgesetz wurde erlassen, das die katholische Kirche in ihren Mög-
lichkeiten beschnitt. Die Jesuiten und die Redemptoristen wurden wieder aufgehoben.
1873 wurden die berüchtigten Maigesetze erlassen, es wurde verfügt, dass der Klerus die deutsche
Staatsangehörigkeit besitzen musste (das ging gegen Ordensgeistliche aus dem Ausland). Hinzu kam,
dass der Klerus einen deutschen Universitätsabschluss haben musste. Das ging gegen das Germanicum
- die Bischöfe die in Rom studiert hatten, waren betroffen. Der Klerus bedurfte auch eines Kulturex-
amens in Philosophie, Geschichte und deutscher Literatur. Das war pure Schikane.
Jede Stellenbesetzung (Bischof, Pfarrer, Kaplan) musste bei den Behörden angezeigt werden. Man
schuf erstmals die Möglichkeit eines Kirchenaustrittes vor weltlichen Gerichten.
Der Schlusspunkt 1874/75 war, dass die Wiederbesetzung der frei gewordenen Bistümer der staatlichen
Genehmigung bedurfte. Der Papst reagierte mit der Ernennung von Geheimdelegierten, denen die Lei-
tung der Diözese oblag.
Die obligatorische Zwangszivilehe vor der kirchlichen Trauung wird eingeführt.
Schließlich setzte der Staat bei den Finanzen an. Der Klerus wurde bisher vom Staat besoldet. Dies
wird nur fortgesetzt, wenn der Priester dem Staat gegenüber eine Treueerklärung unterschreibt, was nur
24 Priester taten.
Bismarck hatte mit der Unterdrückung den Bogen überspannt. Die Maßnahmen haben die katholische
Kirche gefestigt, nicht zermürbt. Das Zentrum als Partei wurde stärker, auch das katholische Milieu
wurde gestärkt. Der Kulturkampf hat langfristig mehr genützt als geschadet.
Bismarck sah das und lenkte ein. Das war umso wichtiger, als er im Sozialismus und Kommunismus
größere Gefahren sah. Er benötigte die Katholiken um eine Einheitsfront gegen den Sozialismus zu
bilden. Der Tod Pius IX. 1878 trug dazu bei, mit der Kurie ein Abkommen zu erreichen. Den deutschen
Klerus überging man. Leo XIII. war offener.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

1880-1883 werden Milderungsgesetze erlassen. Die amtsenthobenen Bischöfe, die den Treueeid nicht
leisteten, wurden begnadigt. Vom Kulturexamen, das man von den Pfarrern forderte, wurde dispensiert.
1886/87 werden die Friedensgesetze durchgesetzt, das Kulturexamen wird ganz abgeschafft, geschlos-
sene Priesterseminare wieder eröffnet. Der königliche Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten, der
eigens geschaffen worden war, wurde auch aufgehoben. Die Anzeigepflicht der Stellenbesetzung wur-
de reine Formsache. Auch die Orden wurden wieder zugelassen.
Leo XIII. erklärte im Mai 1887, dass offiziell Friede zwischen dem Deutschen Reich und der katholi-
schen Kirche hergestellt sei. Damit war ein modus vivendi in Deutschland gefunden, Kirche und Staat
kooperierten freundschaftlich. Diese Kooperation hat sich seither bewährt.

9. Die Kirche unter den Päpsten Leo XIII. und Pius X.


9.1 Die „Römische Frage“
Die erste Frage die sich den Päpsten nach dem I. Vatikanum stellte war jene nach dem Kirchenstaat.
Was macht man mit dem Kirchenstaat, der endgültig besetzt war? Das war das beherrschende Thema
für die Päpste bis in die 20er Jahre des 20. Jh. Der Kirchenstaat wurde erst 1929 durch die Lateranver-
träge wieder errichtet.
Nur wenige Wochen nach der Abreise der Bischöfe vom I. Vatikanum nahm der Widerstandskämpfer
Garibaldi mit seinen Truppen Rom im Oktober 1870 ein. Man leistete nur symbolischen Widerstand.
Die Stadt war militärisch nicht zu verteidigen, ein Großteil der Bevölkerung sympathisierte mit den
Rebellen. Man hatte nun ein einheitliches Staatsgebiet mit Rom als Hauptstadt.
Der Papst zog sich in den Vatikan zurück, er trug das Unrecht trotzig zur Schau, indem er sich nicht
mehr sehen ließ. Er verließ den Vatikan nicht mehr und betrat Rom nie wieder. Er wurde als Gefange-
ner im Vatikan vermittelt, wofür er sehr viele Sympathien bekam. Er war zu keinerlei Zugeständnissen
an die liberale Regierung des neuen Königreichs Italiens bereit. Der König Vittorio Emanuele war ex-
kommuniziert, auch die Revolutionäre.
Damit war die Frage wieder aufgeworfen: benötigt der Papst zur Amtsausübung überhaupt einen Kir-
chenstaat? Ist das weltliche Territorium, das der Petrusnachfolger besitzt, göttlichen Rechtes? Was pas-
siert wenn man dem Papst das Gebiet nimmt? 2 Meinungen:
- Die Kurie strich den praktischen Aspekt heraus. Die Freiheit des Papstes und seine Unabhängigkeit
sind nur gewährleistet, wenn er über einen eigenen Staat verfügt und ein eigener Souverän ist. Nur
das Territorium verleiht die Freiheit. Der Papst konnte nicht italienischer Staatsbürger und damit
Untertan sein.
- Im liberalen Katholizismus fanden sich Stimmen, die in der Aufgabe des Kirchenstaates für das
Papsttum und die Kirche große Vorteile sahen. Der Papst kann sich ganz auf sein Amt konzentrie-
ren, er muss sich nicht mit Kompromissen als staatlicher Herrscher abgeben. Vorbild war doch der
arme Jesus.
Italien erließ einseitig am 13.05.1871 das Garantiegesetz. Es regelte das Verhältnis zum Papst sehr
großzügig und sollte die ausländischen Mächte beruhigen. Die Person des Papstes sei heilig und unver-
letzlich, vom italienischen Staat respektiert. Sein Gesandtschaftsrecht ist aufrecht, er kann frei Gesand-
te empfangen und ausschicken. Er kann Konzilien und das Konklave abhalten. Bezüglich des Territori-
ums gestand man den Vatikan, den Lateranpalast und den Sommersitz Castel Gandolfo zu. Die
Schweizergarde durfte bestehen bleiben, man stellte dem Papst auch eine jährliche Rente in Aussicht.
Pius IX. lehnte das Garantiegesetz ab. Die Besetzung des Kirchenstaates war ein Unrecht, nicht ver-
gebbar, ein Raub des Erbes Petri. Mit Rücksicht auf die ausländischen Mächte hielt sich Italien den-
noch an das Garantiegesetz.
„Urbi et orbi“ wurde zu dieser Zeit nur in der Peterskirche nach innen gespendet. Der Papst weigerte
sich Staatsbesuche zu empfangen, die zuvor beim italienischen König vorgesprochen hatten. Den Ka-

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

tholiken untersagte der Papst, an den Wahlen teilzunehmen („es geziemt sich nicht“). Damit überließ er
die politische Neugestaltung des Staates kampflos den bürgerlichen Parteien, was letztlich sehr unklug
war. Wählen durfte damals nur die besitzende Klasse.
Erst die Lateranverträge 1929 sollten eine endgültige Lösung bringen. Mit Pius XI. erschien zum ersten
mal wieder ein Papst auf der Loggia, was ein Zeichen an die italienische Regierung und die Welt war.
19.09.2009
Leo XIII. (Vincenzo Gioacchino Pecci). Er war schon 68 Jahre als er 1878 Papst wurde. Das Alter und
die relative Unbekanntheit zeigten, dass die Kardinäle bei der Wahl unschlüssig waren, wie der Kurs
der Kirche weitergeht. Man wollte einen Übergangspapst und nach Pius IX. nicht noch einen langen
Pontifikat. Leo XIII. verstand sich aber nicht als Übergangspapst. Er deutet schon mit dem Namen an,
dass er eine Zäsur zum Vorgänger wollte. Pecci kam aus der päpstlichen Diplomatie. 1846 bekam er
die Diözese Perugia übertragen, 3 Jahre zuvor war er Nuntius in Belgien, einem damaligen Hot-Spot.
Er lernte die Kontroversen aus erster Hand kennen (z.B. den liberalen Katholizismus Lamennais). Er
war gebildet durch viele Reisen. Mit einem gewissen pragmatischen Zugang zu Problemen und seinem
Sinn für Mäßigung geriet er aber bald zwischen die Fronten der extremen Parteien. Als er noch Nuntius
in Belgien war, nahm er eine Mittelposition ein, als es um die Gründung einer katholischen Universität
in Löwen ging. Die liberalen Katholiken erwarteten eine positive Präsentation des Katholizismus zur
Welt, auch der Katholizismus habe kluge Köpfe und könne etwas zum Diskurs der Gegenwart beitra-
gen. Die Hardliner waren ängstlich, sie wollten in der katholischen Universität den Katholizismus ge-
gen Forschung und Wissenschaft abgrenzen. Der Streit konnte nicht behoben werden, Pecci stand in
der Mitte. Er wurde dann auf Wunsch des belgischen Königs nach Rom zurückberufen.
Pecci war durchaus ein Mann der Gelehrsamkeit und der Bildung. Er las lieber als er regierte. Er ging
unverkrampft an die Probleme der Moderne und er setzte Zeichen. Er öffnete das Geheimarchiv des
Vatikans für die Forschung, zumindest ausgewählten Forschern. Allen voran einem Professor für Ge-
schichte aus Innsbruck, Ludwig von Pastor. Er hatte das Privileg, die Bestände als Erster zu sichten und
zu exzerpieren. Als Frucht schrieb er eine über 20bändige Geschichte des Papsttums in der Neuzeit.
Leo XIII. regte die Forschung weiter an durch die Enzyklika „Aeterni patris“ von 1879, die erst auch
kritisiert wurde. Das Studium der Werke des Thomas von Aquin wurde als vorbildlich für die katholi-
schen Lehranstalten empfohlen. Die liberalen Katholiken sahen darin eine Verengung des katholischen
Bildungsideals. Eine vergangene Philosophie und Theologie war nun Vorbild. Aber die Enzyklika führ-
te auch dazu, dass bei den Dominikanern eine kritische Edition der Thomaswerke vorgenommen wur-
de, die Editio leonina. Sie wurde vorbildlich in der Editionstechnik in den Anforderungen an die histo-
risch-kritische Methode. Jede Edition heute muss sich an diesen Standards messen. Die Franziskaner
hatten schon vorher eine Edition von Bonaventura herausgegeben. Über die Hintertür wurden katholi-
sche Studien in der europäische Forschungslandschaft vorbildlich. Leo berief in diesem Zusammen-
hang auch bedeutende deutschsprachige Wissenschaftler an die Kurie. Bibliothekar wurde der schwäbi-
sche Jesuit Franz Ehrle, ihm zur Seite stand ein Dominikaner aus dem Brixental, Heinrich Denifle. Das
päpstliche Archiv wurde dem Würzburger Kirchengeschichtler Josef Hergenröther anvertraut. Rom
wurde zu einem neuen Zentrum der Geschichtswissenschaft. Auch protestantische Forscher kamen
nach Rom.
In politische Hinsicht strebte Leo XIII. die Lösung des Kulturkampfes an. Es kam zum Ausgleich mit
Bismarck. Am Berühmtesten war aber sicher die Sozialenzyklika „Rerum novarum“.
Ein bevorzugtes Mittel seiner lehramtlichen Unterweisung wurde die Enzyklika, das Lehrschreiben.
Pius warf man vor, dass er im Syllabus nur verurteilt hat, ohne positive Lehre. Leo erließ 48 päpstliche
Lehrschreiben in 25 Jahren. Er wollte ein positive Darstellung der katholischen Ansichten darlegen,
aber auch die Beschränkungen, die sich die Kirche in der Bewertung der Moderne auferlegt hat, auf-
brechen. Der Schwerpunkt lag auf einer Herausarbeitung einer christlichen Staatslehre im Kontext der
Moderne. Wie soll sich der Katholizismus der modernen Staatslehre annähern?

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Das hing zusammen mit dem Hauptproblem, der Lösung der römischen Frage. Der Papst wollte die
Italiener ein wenig unter Druck setzen, indem er zuerst Abkommen mit anderen Staaten schloss, um
seine Souveränität zu zeigen. Leo erlaubte den Katholiken, sich aktiv in den Staatsapparat einzubrin-
gen. Den Italienern versagte er es aber, solange das Problem nicht gelöst war.
Dem Papst kam es darauf an, als Souverän gleichberechtigt in einer Reihe mit den europäischen Staa-
ten zu stehen. Das Bündnis hatte aber auch einen gemeinsamen Feind vor Augen, den Sozialismus.
In einer zweiten Periode seiner Amtszeit, ab Mitte der 1880er, wandte er sich immer stärker den De-
mokratien zu. Sie waren mit dem Makel der Revolution behaftet. Der Schwenk war auch dem neuen
Kardinal- Staatssekretär zu verdanken, Mariano Rampolla. Die vatikanische Außenpolitik gewann un-
ter ihm ein neues Gepräge. Rampolla öffnete sich zuerst Frankreich und den USA. In den USA sah
man stabile Verhältnisse, in denen sich die Kirche entfalten konnte.
Die Situation in Frankreich spitzte sich zu, als nach der Niederlage gegen Deutschland das Kaisertum
Napoleons III. gestürzt wurde. In Wahlen ergab sich nach Aufständen eine dünne Mehrheit für die
Monarchie. Die Monarchisten waren gespalten, eine Gruppe war entschieden monarchistisch, die ande-
re Gruppe wollte eine konstitutionelle Monarchie. Der neue König machte zusätzliche Fehler, er schlug
sich auf die ganz rechte Seite. Er lehnte die Trikolore ab und bevorzugte das Bourbonenbanner. Ein
Aufstand war die Folge, die Republik wurde ausgerufen. Die Republik geriet zunehmend in antikleri-
kales Fahrwasser, weil Kirche und Klerus zum Großteil die Monarchie unterstützten. Die Folge: Kul-
turkampf, Spaltung der französischen Bevölkerung. Rampolla in seiner Weitsicht deutete eine Unter-
stützung der Ralliemont-Politik an. Das ist das Bemühen der Kirche in Frankreich, sich der Demokratie
zu öffnen, um von der politischen Gestaltung nicht ausgeschlossen zu werden.
In Frankreich gab es einen wichtigen Vertreter dieser Politik, Kardinal Charles Lavigerie, Erzbischof
von Algier, Gründer der Weißen Väter (Missionsorden), Exponent eines demokratiefreundlichen katho-
lischen Frankreichs.
Man hoffte daher auf einen Ausgleich in Frankreich zwischen Staat und Kirche, Christentum und Ge-
sellschaft. Das erlitt in der Dreyfuss-Affäre einen Rückschlag. Der jüdische Offizier wurde des Lan-
desverrates verdächtigt, unbegründet wie sich zeigte. Fatal für die Kirche war, dass sich ein Großteil
hinter die Verurteiler von Dreyfuss stellte. Nach dem Auffliegen des Komplotts war die gesamte Kir-
che diskreditiert. Die Folge war eine antiklerikale Gesetzgebung, die in der Aufkündigung des Konkor-
dats, das mit Napoleon geschlossen worden war, mündete. Es kam zur radikalen Trennung von Kirche
und Staat, die bis heute besteht.

9.2 Die katholische Sozialbewegung


Eine Erfolgsgeschichte der Kirchengeschichte des 19. Jh. ist die Rolle der Kirche bei der Wahrneh-
mung und Lösung der wachsenden sozialen Ungleichheit, die Folge der Zeitumstände war. Die Kirche
hat instinktsicher dazu gefunden, dass sie aufgrund des Evangeliums eine Option für die Armen vertre-
ten muss. Es gilt Maßnahmen zu treffen um das soziale Ungleichgewicht zu mildern. Die Ansichten
setzten sich nicht überall gleich schnell durch. Es gab auch Hindernisse in der Kirche. Es brauchte Zeit
um eine angemessene Form der sozialen Hilfe zu finden. „Rerum novarum“ (1891) ist das wichtigste
Dokument in dieser Hinsicht.
Gründe für die Verarmung großer Teile der Bevölkerung (Pauperismus). Die Bevölkerung nahm enorm
zu, die Lebensmittelproduktion konnte damit nicht standhalten. Es gab Missernten, in der Folge Hun-
gersnöte. Ein anderer Punkt war die Industrialisierung, traditionelle Formen des Handwerks wurden
verdrängt. Die Arbeitslosigkeit vor allem am Land stieg an. Die Lohnverhältnisse in der Stadt waren
ungerecht. Erst im letzten Viertel des 19. Jh. stabilisierte sich die Lage, der Lebensstandard stieg
(„Gründerzeit“). Vorher war die Industrialisierung ein Grund für die Verelendung. 1846 und 1848 wa-
ren Tiefpunkte.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Die Kirche reagierte auf die Auswirkungen. In manchen Gegenden traten die Fragen früher auf, also in
den Industriezentren. Oberschlesien, Ruhrgebiet, Belgien, Frankreich, England. Dort dachte man zuerst
über eine Reaktion der Kirche nach. Erzbischof Manning von Westminster tat sich als Parteinehmer für
die soziale Frage hervor. Man geriet in Konkurrenz zu den neuen Ideologien von Sozialismus und Ka-
pitalismus. Die Antwort der Kirche auf die sozialen Verhältnisse war zunächst konservativ, man wollte
mit Caritas, Nächstenliebe und Spenden die Ungleichheiten auffangen. Man wendet sich aus Mitleid
zu, um zu helfen, aber nicht um die Verhältnisse zu ändern. Die Notwendigkeit von strukturellen Ände-
rungen sah man erst mit „Rerum novarum“.
Die Dringlichkeit der sozialen Frage wurde nicht von den elitären, liberalen, gebildeten Katholiken
getragen, sondern von den ultramontanen Kräften, die gegen Liberalismus und Moderne kämpften, und
die die katholischen Massen repräsentierten. Die katholische Soziallehre ist ab 1870 (Ende des Konzils)
aus antiliberalen Wurzeln erwachsen.
3 Hauptakteure: Papst und Bischöfe – Laieninitiativen – Neue Orden, die die soziale Frage als Pro-
gramm haben

9.3 Der "Ordensfrühling" im 19. Jahrhundert


Neue Orden, die die soziale Frage als Programm hatten
Aufschwung des religiösen Lebens im 19. Jh. Viele Menschen (wie nie zuvor) schlossen sich einem
Orden an. Viele neue Gemeinschaften wurden gegründet, mehrheitlich durch Einzelpersonen. Kirchen-
rechtlich waren Kongregationen leichter zu gründen, man schloss sich einer Regel an und legte als Pro-
prium einen bestimmten Zweck fest. Die meisten Gemeinschaften waren bischöflichen Rechtes. Die
Gründungen wurden auch unterstützt, weil sie kein Protestpotential hatten. Der Schwerpunkt lag auf
dem tätigen Leben. Krankenhaus, Bildungsbereich. Unterricht und Bildung waren damals auch Werke
der Barmherzigkeit.
Unterstützt wurde das alles durch den pragmatischen Zug den die josephinischen Reformen entfalteten.
Die Orden sollten eine Funktion für die Gemeinschaft haben. Felder waren Erziehung, Schule, aber
auch Krankenpflege. Der Schwerpunkt auf die Caritas wurde im deutschsprachigen Bereich durch den
Kulturkampf noch verstärkt.
Gründungen:
In Bayern waren fast alle Klöster säkularisiert worden. Unter Ludwig I. wurden z.B. die Benediktiner-
klöster Metten, Augsburg und München neu gegründet. Es waren Gründungen in der Stadt, die eine
Schule übernahmen. Auch bei den Frauen wurden Konvente wieder errichtet.
Ende des 19. Jh. entstehen die Missionsbenediktiner in St. Ottilien (1884).
In Frankreich wurde durch Dom Prosper Guéranger die Abtei von Solesmes neu gegründet. Sie wurde
ein Zentrum der liturgischen Erneuerung und der Feier der Liturgie.
Solesmes fand einen Nachahmer in der Abtei Beuron (durch die Brüder Maurus und Placidus Wolter
gegründet). Es geht um die würdige Feier der Liturgie. Davon aus wurde in Belgien gegründet, und
auch Maria Laach.
Redemptoristen (CSsR), durch C.M. Hofbauer in Österreich eingeführt; Zulassung 1820 in Wien.
Pallottiner, gegründet 1824 durch Vincenzo Pallotti; Schwerpunkt Schulen und Erziehung.
Salesianer (SDB) gegr. 1859 durch Johannes Don Bosco in Turin; Schwerpunkt Jugendpastoral.
Gesellschaft des göttlichen Wortes (SVD), „Steyler Missionare“, gegr. 1875 durch Arnold Janssen im
niederländischen Steyl; Schwerpunkt Mission.
Salvatorianer (SDS), gegr. 1881 durch Johannes B. Jordan in Rom; Schwerpunkt Presseapostolat.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Der Ordensfrühling sind aber die Frauenorden. Zwischen 1800 und 1880 entstanden 400 neue Kongre-
gationen allein in Frankreich. An die 200.000 Frauen traten ein (das waren zu bestimmten Zeiten 1%
der Bevölkerung). In Deutschland gab es 1910 67.000 Schwestern.
- Barmherzige Schwestern. Überbegriff, Orientierung an den Idealen des Vinzenz von Paul. Man
hat sich lose oder enger an die Idee angeschlossen, blieb organisatorisch aber unabhängig.
- Bayern: Arme Schulschwestern. 1833 von Theresia Gerhardinger gegründet; 1846 gab es in
Bayern bereits 132 Niederlassungen.
- Schwestern vom göttlichen Erlöser („Niederbronner Schwestern“), erste Gemeinschaft 1847 in
Niederbronn/Elsass. -- heute weltweite Kongregation; v.a. Krankenpflege.
- (unzählige) Franziskanerinnen. Regel war die Terziarregel, wodurch man in der Gestaltung des
Ordenslebens flexibler war. Beispiele (allesamt bis heute sehr große Krankenhaus-
Kongregationen):
o Franziskanerinnen Vöcklabruck: 1859 in Vöcklabruck gegr.
o Franziskanerinnen von der christlichen Liebe (Hartmann-Schwestern), 1857 in Wien
gegr.
o Mallersdorfer Schwestern (Bayern); gegr. 1855.
o Dillinger Franziskanerinnen (Schwaben); mittelalterliche Franziskanerinnenniederlas-
sung (1241); 1827 erlaubte König Ludwig wieder die Aufnahme von Novizinnen; 1829
neue Statuten durch den Augsburger Ortsbischof.
Materialblatt: Chronik „Barmherzigen Schwestern“ Wien-Gumpendorf.
Das Ordensleben gab jungen Frauen die Möglichkeit, Tätigkeiten auszuüben, die ihnen im bürgerlichen
Leben versagt blieben. Nicht nur in der Ausbildung, sondern auch in einem erfüllten Arbeitsleben, das
Anerkennung und Selbstbestätigung bringt. Man kann den festgefahrenen Rollen entkommen. Die
Frauenorden leisteten einen wichtigen Beitrag zur Emanzipation.
Es stellte sich auch ein, dass die Fokussierung auf den Krankenbereich sie zu Experten auf dem Gebiet
machte. Das große Erfahrungspotential kam den Kranken zu Gute. Die Caritas wurde damit professio-
nalisiert. Die ordensinterne Karriere hing von der Leistung und Klugheit ab, nicht von der Abstam-
mung. Die Leitungspositionen wurden demokratisch gewählt.
Die neuen Orden leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Herausbildung des katholischen Selbstver-
ständnisses und der sozialen Unterstützung.

Laieninitiativen
Es ging nicht nur darum die Symptome der sozialen Probleme zu bekämpfen, sondern auch die Ursa-
chen. Das ging vor allem von Laien aus. Frankreich war führend, von dort drangen viele Impulse auch
in den deutschsprachigen Raum ein. Federico Ozanam. Die Möglichkeiten der Freiheiten der Revoluti-
on soll man für eine sozialere Welt nützen. Er gründet 1833 die Vinzenzkonferenzen. Das waren Ver-
einigungen von Bürgern die sich trafen und in der Gesellschaft im sozialen Bereich wirkten. Man weist
auf die Not hin und hilft gezielt. 1848 gibt es diese Konferenzen auch in Deutschland.
Diese Versuche führten ein Umdenken herbei, man konnte die soziale Frage in Katholizismus und Poli-
tik nicht ignorieren. Die Möglichkeit der Vereinsgründung wurde genützt, um die Anliegen durchzu-
setzen.
Eine Gallionsfigur in Deutschland war Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (+1877), der später
Erzbischof von Mainz war und als solcher auch am I. Vatikanum teilnahm. Als Kaplan predigt er über
die Ursachen der sozialen Missstände. Er klagt die wachsende Ungleichheit zwischen Besitzenden und
Nichtbesitzenden an. Die caritativen Maßnahmen können das Problem nicht lösen, es braucht grundle-

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

gende Maßnahmen um die Kluft zu schließen. Die Kirche bekennt sich zum Recht auf Eigentum, aber
das Eigentum schließt auch eine Verpflichtung mit ein. Man soll im Interesse des Friedens in der Ge-
sellschaft offen für eine Umverteilung der Güter sein. Er gründet katholische Arbeitervereine als
Selbsthilfegruppen, die konkret anpacken. 1870 haben sie über 200.000 Mitglieder.
Dem Beispiel Kettelers folgte Kolping, er arbeitete vor allem mit den wandernden Handwerksgesellen.
Er gründet den deutschen Gesellenverein, es entstehen zahllose Gesellenhäuser.
In den 1870ern folgen dem Beispiel Kettelers und Kolpings viele Priester, die sich für die katholische
arbeitende Bevölkerung einsetzen und damit im bürgerlichen Lager Widerstand hervorrufen. Man
spricht von den Hetzkaplänen. Das alles hat mit dem Entstehen der kommunistischen und sozialisti-
schen Bewegung zu tun. Gerade die Sozialisten drängten nach der Revolution 1848 auf gewaltsame
Veränderung der herrschenden Besitz- und wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Sozial engagierten Ka-
tholiken gerieten so in Verdacht mit den Sozialisten gemeinsame Sache zu machen. Später wird sich
die Diskussion um die Berechtigung von Gewerkschaften zuspitzen. Im Episkopat fand die soziale Be-
wegung kaum Unterstützung. Die Mehrheit war eher dem Ideal einer hierarchischen Gliederung der
Gesellschaft verpflichtet. Die Dynamik der Bewegung war auch unheimlich.
Daher wurde es eher eine Bewegung der Laien. Erst mit „Rerum novarum“ positionierte sich die Kir-
che neu. Die „sozialen Kapläne“ wurden in Deutschland durch den Laien Franz Joseph Buß unterstützt.
Er war Präsident des 1. Deutschen Katholikentags. Auf seine Initiative geht zurück, dass die Piusverei-
ne eine immer stärkere soziale Komponente in ihren Tätigkeiten entfalteten. Gründung von Waisenhäu-
sern, Kinderheimen, Unterstützungskassen für arbeitslose Arbeiter. Durch den deutschen Vereinskatho-
lizismus (Arbeitervereine, Gesellenvereine, Piusvereine) wurde die soziale Frage bei der Reichsgrün-
dung 1870/71 ein so fester Bestandteil, dass sie von der Politik nicht mehr ignoriert werden konnte.
Institutioneller Träger wurde die neu gegründete katholische Zentrumspartei, die christlich-sozial aus-
gerichtet war. Dafür sorgte deren Mitgründer und langjähriger Vorsitzender, Ludwig Windhorst. Er war
ein harter Verhandler, der als einer der wenigen auch Bismarck die Stirn bot, dem klar wurde, dass er
seine Politik nicht gegen das Zentrum machen konnte. Das schlug sich auch in der Beendigung des
Kulturkampfes nieder. Windhorst war auch Mitbegründer des wichtigsten katholischen Vereins, des
Volksvereins für das katholische Deutschland, der sich vor allem der katholischen Bildung und der
politisch-gesellschaftlichen Schulung widmete. Politische und soziale Ideen wurden in breitem Maße in
die Bevölkerung getragen, die katholische Basis wurde informiert. Dieser Verein war wichtig für die
Herausbildung des katholischen Selbstverständnisses. Er war wichtig für die Sozialgesetzgebung und
für den Schritt aus dem Ghetto, in das die Katholiken geraten waren. Dieser Verein verbreitete auch die
Ideen von „Rerum novarum“. „Rerum novarum“ verwarf klugerweise nicht die Idee einer christlichen
Gewerkschaft. Die Gesellenvereine sahen, dass man eine organisierte Arbeiterschaft brauchte. Die Ku-
rie sah aber in den Gewerkschaften ein Einfallstor des Sozialismus.
Damit blieb eine andere Alternative offen: die paternalistische oder emanzipatorische Antwort auf die
soziale Frage.
Der paternalistische Ansatz geht von einem eher hierarchischen Gedanken aus, dass die Gesellschaft
eine Ordnung aus dem Naturrecht hat, die sie nicht verlieren sollte. In dieser Ordnung haben die Hier-
archien ihr Recht und damit auch die einzelnen Berufsgruppen. Innerhalb dieser Ordnung muss man
paternalistisch, von oben herab, vom Herrscher und den oberen Schichten her Sorge tragen, dass die
unteren Schichten ihren gebührenden Lohn, das Geschuldete erhalten. Die Gruppen haben ihre Rechte.
Das emanzipatorische Modell favorisierte, dass jede Gruppe in der Gesellschaft frei ist, daher steht es
den Arbeitern frei, sich zusammenzuschließen und ihre Interessen in Parteien und Gewerkschaften zu
bündeln und auch zur Geltung zu bringen. Das passte besser zur Demokratie. In der Kirche wurde noch
lange mit der Frage nach der idealen Gesellschaftsordnung gerungen.
Drei Antworten innerhalb der Kirche auf den Pauperismus zeichnen sich ab:
- Caritative Antwort. Man versucht im Nachhinein die Symptome zu behandeln. Anbieten von
Krankenhäusern, Hilfsmaßnahmen, Häusern, Schaffung eines sozialen Netzes. Ein reaktives

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Modell. Es ist eher eine Aktion „für die Arbeiter“, nicht „der Arbeiter“. Der Episkopat unter-
stützt den Ansatz weithin, in der ganzen Kirche gab es ungeteilte Zustimmung.
- Berufsständisch-Korporatives Modell. Der Versuch der Rückkehr hinter die liberal-
kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Eine Gesellschaft aus Ständen zusam-
mengesetzt, die Korporationen hat, in der Handwerker, Klerus, Frauen, etc. ihren Stand haben.
Die Freiheit des Einzelnen war zwar eingeschränkt, weil es keinen Wechsel des Standes gab,
aber durch die klare Ordnung erhoffte man Frieden in der Gesellschaft. Dieses Modell lehnte
Gewerkschaften und Streiks natürlich ab. Die Stände sollten in Selbstverpflichtung die Spielre-
geln einhalten. Es war ein Mittelweg zwischen dem aggressiven kapitalistischen Liberalismus
und dem sozialistischen Klassenkampf. Der wichtigste Vertreter dieser Vorstellungen, Freiherr
Carl von Vogelsang, entfaltete sein Wirken in Österreich. Er war Preuße und dort im Staats-
dienst. Er hörte in Berlin die Predigten Kettelers und dachte davon beeindruckt über die soziale
Frage nach, was ihn zur Konversion veranlasste. Er wurde Katholisch und zog nach Wien. Er
arbeitete in verschiedenen Zeitschriften und gründete 1879 die österreichische Monatsschrift für
Gesellschaftswissenschaft und Volkswirtschaft und wurde dadurch zum geistigen Vater der
christlich-sozialen Bewegung in Österreich. Er war der einzige Sozialreformer des 19. Jh., der
eine Schule gründete und Nachfolger hinterließ. Der Bekannteste war der Wiener Bürgermeister
Lueger. Ein Jahr nach dem Tod Vogelgsangs erschien „Rerum novarum“, das viele Ideen Vo-
gelsangs rezipiert hat.
- Sozialreformerische Antwort. Diese Haltung akzeptierte die gesellschaftspolitische Entwicklung
der Neuzeit und Moderne und versuchte innerhalb des liberalen Wirtschaftssystems humane
Ordnungen zu finden, ohne dass man ein staatliches oder gesellschaftliches Überkorsett ent-
wickelte. Gefordert wurde konkret der Schutz der Arbeiter vor Ausbeutung und die Zulassung
von Gewerkschaften. Dieses Modell war weniger theorielastig als die Vogelsang-Schule, und
zog die konkrete praktische Arbeit in den Vereinen der Theorie vor. Tragend war das vor allem
beim späten Ketteler und einigen Politikern des Zentrums. Dieses Modell bereitete den konser-
vativen Kräften in der Kurie Sorgen. Man meinte, dass die katholische Lehre auf Abwege gerät,
dass die Lehre des Naturrechts beeinträchtigt werde, und dass man in zu große Nähe zum Sozia-
lismus kam. Von daher sind die heftigen Kämpfe vor allem in Italien zu erklären, als es darum
ging eine katholische Partei zu gründen. Die Democrazia Cristiana wurde vom Vatikan in den
ersten Jahren nicht gut geheißen. Der Priester der sie gründete wurde exkommuniziert und des
Landes verwiesen. Es gab den langen „Gewerkschaftsstreit“, der bis zum 1. Weltkrieg dauerte.
26.05.2009
Unter Leo XIII. kam man aus der Sackgasse nach dem I. Vatikanum heraus.

9.4 Pius X. und die Modernismuskrise


Nach dem Tod Leos im Jahr 1903 gab es wie selten zuvor einen Papabili, einen Spitzenkandidaten. Es
war der damalige Kardinal-Staatssekretär Mariano Rampolla. Er wurde aber nicht Papst. Er hat den
Schwenk in der päpstlichen Politik vollzogen, an der Hinwendung zu Frankreich und an der Lösung der
römischen Frage gearbeitet. Rampolla wendete sich wieder Frankreich zu, das innenpolitisch geschüt-
telt war. Ein erheblicher Unsicherheitsfaktor, der nicht abzusehen war. Rampolla hat erkannt, dass man
versuchen musste die Isolation aufgrund der ungelösten römischen Frage aufzubrechen. Es brauchte
einen breiten europäischen Konsens. Er war der demokratischen Bewegung in Frankreich sehr gewo-
gen, was ihm angeblich der österreichische Kaiser übelgenommen hat. Rampolla bewunderte auch die
Vereinigten Staaten, wo die Kirche aufgrund der politischen Verhältnisse blühte.
Im Konklave zeichnete sich ab, dass er die Mehrheit der Stimmen bekommen würde. Es kam dann zu
einem einmaligen Ereignis in der Papstgeschichte. Der Bischof von Krakau, Kardinal Puzyna de Ko-
zielsko, legte im Namen Kaiser Franz Josefs von Österreich ein Veto gegen diesen Kandidaten ein. Wie
das genau ging, weiß man nicht. Angeblich hat der Krakauer Kardinal zunächst die anderen Kardinäle

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

und die französischen Bischöfe verständigt, und zum Schluss auch Rampolla selbst über das Veto un-
terrichtet.
Wie kann ein Monarch ein Veto in einem Konklave einlegen? Seit dem 17. Jh. haben sich katholische
Monarchen in Europe das Recht bestätigen lassen, eine „Exclusive“ einlegen zu können für den Fall
dass im Konklave ein unangenehmer Kandidat das Rennen machen würde. Die Päpste haben das Recht
nie anerkannt, aber nachdem man es über längere Zeit immer wieder behauptet hat, glaubte man, dass
ein Anspruch bestand. Rampolla protestierte heftig gegen die Einmischung von außen und von Seiten
eines säkularen Monarchen, aber es zeichnete sich ab, dass sich das restliche Kardinalskollegium be-
eindrucken hat lassen. In den weiteren Wahlgängen erhielt er immer weniger Stimmen, man wollte
keine Konfrontation mit der wichtigsten katholischen Macht Österreich. Man brauchte einen Kompro-
misskandidaten, und fand ihn im Patriarchen von Venedig. Giuseppe Sarto, ein frommer Mann der sich
auch Pius X. nannte. Eine Anbindung an das Pontifikat Pius IX. Tendenz und Haltung kamen damit
zum Ausdruck. Die Öffnung unter Rampolla konnte er nicht gut heißen, wie er überhaupt eher ein un-
politischer Papst war. Er setzte sich lieber für eine geistliche Erneuerung in der Kirche ein. Franz Josef
hat die Gründe für das Veto nie offengelegt. Die plausibelste Erklärung könnte sein, dass Rampolla für
österreichische Begriffe zu viel Sympathie für Frankreich gezeigt hatte. Dafür spricht auch, dass die
größten Unterstützer Rampollas im Konklave aus dem französischen Episkopat kamen. Der Kaiser be-
fürchtete damit eine Verlagerung des politischen Gleichgewichtes und der Bündnisse.
Zu den ersten Dingen, die Pius X. veranlasste, zählte ein Dokument, in dem er sich gegen Einfluss von
außen wehrte. Eingriffe diese Art würden künftig abgewehrt, man würde diese Angriffe auf die Freiheit
der Kirche nicht mehr hinnehmen. Das klingt seltsam, denn man hätte sich ja schon im Konklave hinter
den Kandidaten stellen können.
Es ging ihm um eine allgemeine Erneuerung vor allem der Priester. Er wollte eine fromme Kirche, die
sich auf die wesentlichen Aufgaben konzentrierte und nicht in der Welt verlor. Er legte großen Wert
auf die Verbesserung der Klerusausbildung. Er sollte eine gute Unterweisung in der Homiletik bekom-
men. Er zeigte Aufgeschlossenheit für liturgische Reformen, einem ernster Nehmen der Liturgie wie es
in den neuen benediktinischen Gemeinschaften (Solesmes, Beuron) praktiziert wurde. Den tiefsten
Eindruck beim Volk hinterließ er, weil er wünschte dass die Kinder früher zur Kommunion geführt
werden sollten, er wünschte auch einen häufigeren Kommunionempfang.
Sein Wahlspruch war „Alles wiederherstellen in Christus“. Es ging um eine Verchristlichung der ge-
samten Gesellschaft, nicht um politische Einflussnahme. Eine Reform der Gesellschaft von innen her.
Daneben setzte sich im organisatorischen Bereich eine zunehmende Zentralisierung durch, also auch
eine organisatorische Erneuerung. Er arbeitete darauf hin, dass ein neues Kirchenrecht erstellt wurde,
was erst 3 Jahre nach seinem Tod vollendet wurde. Weiters gab es eine Neuorganisation der päpstli-
chen Kurie. Viele Strukturen kamen noch aus der Zeit des Kirchenstaates und waren überkommen.
Der fromme, zurückgezogene Pius X. kam der Kirchenpolitik eher aus Pflicht nach. Die Kontakte mit
den europäischen Mächten überließ er lieber den Mitarbeitern (Kardinal-Staatssekretär Gasparri). Aus
diesem Nichteinmischen lassen sich auch einige Pannen und Unstimmigkeiten in der päpstlichen Poli-
tik verstehen. Dazu zählt der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Frankreich und Spanien,
beides Länder mit stark antiklerikalem Kurs.
In den Auseinandersetzungen um die christlichen Gewerkschaften und den politischen Katholizismus
bezog Pius eine reserviertere Haltung als Leo. Freie Gewerkschaften waren mit seinem Kirchenbild
nicht zu vereinbaren. Da war zu viel Eigeninitiative, Sozialismus darin. Er verurteilte die christlichen
Gewerkschaften nicht, aber mit dieser Form der christlichen Arbeiterschaft konnte er nichts anfangen.
Sein Ideal war die katholische Aktion. Das war die Antwort auf den Vereinskatholizismus in den
deutschsprachigen Ländern. Der Versuch, dass man in der Sorge um das öffentliche Leben die Laien
einbindet, aber diese Initiative (im sozialen, politischen und wissenschaftlichen Bereich) sollte unter
einer klerikalen Führerschaft stehen. Ein Kirchenbild, das sich auf die Welt übertragen lässt. Damit war
man in Deutschland und Österreich nicht erfolgreich, aber in Italien wurde das von den Päpsten sehr

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

gefördert. Interkonfessionelle Gewerkschaften wie sie seit den 1880ern in Belgien und Deutschland
entstanden waren, wurden gerade noch toleriert.
Auch in Italien, wo aus Protest gegen den liberalen Staat den Katholiken die Teilnahme an der Politik
verboten war, wurde das Verbot gelockert, aber das politische Handeln sollte unter dem Schirm der
katholischen Aktion erfolgen. Einer der Gründungsväter der Partei Democrazia Cristiana, der Priester
Romolo Murri, wurde wegen des Beharrens auf die Selbständigkeit der Partei suspendiert und exkom-
muniziert.
Im Gewerkschaftstreit der ersten Jahre des 20. Jh. trafen die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen
Vorstellungen des Katholizismus aufeinander. Paternalismus – emanzipatorische Ideen. Dieser Streit
wurde durch den Kriegsausbruch 1914 beendet. Ein versöhnliches Ende fand der Streit erst unter Pius
XI. In „Quadragesimo anno“ 1931 zog er einen Schlussstrich. Er anerkannte das Recht auf Organisati-
on in Gewerkschaften an. Die Enzyklika entstand 40 Jahre nach „Rerum novarum“. 1991 kommt das
zum Abschluss mit „Centesimus annus“ von Johannes Paul II.
Der Konservativismus des Papstes äußerte sich nicht nur in seiner sozialen Einstellung zur Arbeiterfra-
ge und in den Ansichten über die politische Betätigung von katholischen Laien, sondern vor allem in
seiner Bewertung und Ablehnung der zeitgenössischen Theologie.

Die Modernismuskrise
Die Haltung zur Moderne durchzieht die Kirchengeschichte des 19. und 20. Jh. wie ein Leiden. Man
muss sich heute, wo der Begriff der Moderne selbst fragwürdig geworden ist, kritisch vor Augen füh-
ren, was damals mit Moderne gemeint war. Was machte die antimoderne Haltung der Würdenträger
damals aus?
Es lässt sich zum Teil nur auf Stimmungen, Gefühle, unbegründete Befürchtungen zurückführen. Sen-
timentalitäten des Verlorenen, Ängste. Aber das ist zu wenig. Man darf daher selbst bei Pius X. das
Problem des Modernismus nicht auf eine Phobie, ein Wahrnehmungsproblem zurückführen, aber ver-
nachlässigen darf man diesen Aspekt auch nicht. In der Angst vor der Moderne verbargen sich Ängste
vor Angriffen auf die katholischen Grundwahrheiten und Lehren.
Fünf Aspekte sind von Bedeutung:
- Politischer Bereich. Ablehnung der politischen Entwicklung seit der Revolution. Alles was
nicht Monarchie war, wurde argwöhnisch betrachtet und als Ergebnis der Moderne gesehen.
Die damit verbundenen Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge wurden abgelehnt. Di-
stanz zu den Nachfolgestaaten der Monarchien, zum Liberalismus, zur Demokratie als Staats-
form.
- Verhältnis und Einstellung zur Wissenschaft. Die Ablehnung des aufgeklärten Weltbildes, da-
mit ist die Aufklärung in Philosophie, Naturwissenschaft, Geschichte, Literaturwissenschaft seit
dem 18. Jh. gemeint. Vor allem die Einsichten der Geschichtswissenschaft, das neue Ernstneh-
men von Quellen, und der Erkenntnisgewinn der sich über Geschichte und Historismus erzielen
lässt – die Minimalsierung dessen und die Furcht davor kennzeichnen den Antimodernismus.
Den Modernismus kennzeichnet ein Optimismus über das Geschichtsstudium als Erkenntnis-
quelle bis hin zu einem Euphorismus, dass man alles durch Geschichte erklären könne. Es muss
nur das richtige Dokument zur richtigen Zeit gefunden werden, um Aufschluss zu geben, wie es
wirklich war und was Wahrheit ist.
Die Geschichte ist aber immer auch eine gedeutet Geschichte, das Dokument das es gibt ist ein
Filtrat von Wahrnehmungen. Ein Dokument ist zu wenig, man braucht mehrere. Dazu kommen
auch verschiedene Wahrheitsbegriffe. Man darf sie nicht einengen auf das was historisch fak-
tisch ist, die Wahrheit ist noch nicht was geschehen ist, sie liegt noch sehr viel tiefer, vor allem
im Bereich der Philosophie, Theologie und Moral. In der Wissenschaft im antimodernen Kon-

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

text verzichtet man bewusst auf historische Wissenschaft und Einsichten, man bevorzugt theo-
logisch-philosophische Referenzsysteme, die sich über Jahrhunderte bewährt haben: die Schola-
stik in der Form der Neuscholastik, ein System, das auf der aristotelisch-mittelalterlichen Syn-
these beruht.
- Antimodernismus ist auch die Ablehnung eines Bildungsideals. Die Ablehnung des Gedankens
der Universität als ein freier Raum der Bildung, des Austauschs von Ideen und Argumenten in
der Autorität. Der Verzicht, dass man international einen Gelehrtendiskurs über alle Dinge füh-
ren kann. Die Bildung wird als Angriff und Bedrohung eines in sich konsistenten Weltbilds ge-
sehen. Die Bildungsoffenheit der Universitäten wird als Angriff auf das Deutungsmonopol von
Welt, Kirche und Wirklichkeit gesehen. Man tat sich schwer diese Deutungshoheit zu teilen.
- Modernismus ist der Versuch innerhalb des Katholizismus eine Versöhnung mit dem aufgeklär-
ten Staat und einen Platz der Kirche im aufgeklärten freiheitlichen Staat zu suchen. Indem man
den neutralen Staat, den Verfassungsstaat der die Menschenrechte anerkennt, als einen Ermög-
lichungsraum von religiöser und kirchlicher Freiheit akzeptiert, tun sich größere Möglichkeiten
für die Kirche auf, als in einem von einer Monarchie oder anderen System aufgezwungenen
Freiheitsraum. Der Modernismus bejaht den freiheitlichen Staat als Ermöglichung von Freiheit,
der Antimodernismus lehnt ihn ab, weil er darin eingestehen würde, dass das Christentum viel-
leicht doch nur eine Möglichkeit unter vielen Weltdeutungen wäre und es damit seinen univer-
salen Anspruch aufgeben würde.
- Der Antimodernismus ist geprägt von dem Gefühl einer Belagerungsmentalität angesichts einer
Moderne, die man als aggressiv, kirchenfeindlich, glaubensfeindlich und zerstörerisch wahr-
nimmt. Das ideale Gegenmodell ist eine katholische Gegengesellschaft, in sich stimmig ge-
schlossen, die aber keine Kompromisse eingeht mit einer Gesellschaft, die sich mit anderen
Schwerpunkten identifiziert.
Modernismus ist die Überzeugung, dass der Katholizismus keine Gegengesellschaften benötigt,
sondern dass er in den Gesellschaften seinen Beitrag bieten und sich entfalten kann. Die Grenze
ist fließend. Wann kooperierte der Katholizismus, und wann gibt er sich preis?
Zu Beginn des 20. Jh., als die Modernismuskrise unter Pius X. eskaliert, taucht nur eine neue Termino-
logie auf. Die Probleme sind die Alten, wie wir sie schon im Umfeld des I. Vatikanums finden. Theo-
logen, die z.B. die Ideale eines Ignaz von Döllinger vertreten, werden nun als Reformkatholiken be-
zeichnet, oder als Modernisten. Hier taucht der Begriff erstmals auf, er ist diffamierend gemeint.
Wie begann die Krise?
Leo XIII. malte das Schreckgespenst schon 1899 in der Enzyklika „Testem benevolentiae“ an die
Wand. Er verurteilte darin einen amerikanischen Theologen, Isaak Hecker. Dieser war 1899 allerdings
schon 11 Jahre tot, er erregte zu seinen Lebzeiten keine Aufmerksamkeit des Papsttums. Bekannt wur-
de er durch eine Biographie, die in Europa ins Französische übersetzt wurde. Die Übersetzung wurde
aber auch zugespitzt. Hecker war ein Konvertit, er wurde später auch Geistlicher und gründete die Ge-
meinschaft der Paulisten. Er war auch ein typisches Produkt des amerikanischen Katholizismus, er
merkte dass die Kirche durch Demokratie mehr Möglichkeiten als Einschränkungen hatte. Er forderte
von den Katholiken Amerikas, sich mehr einzusetzen, den Auftrag des Evangeliums in die Hand zu
nehmen und erfindungsreich zu sein. In diesem Aufruf haben die französischen Katholiken eine Er-
munterung gesehen, dass sich Katholizismus und Demokratie vereinbaren lassen, was eine Bedrohung
für Kirche und Staat war. Man riet dem Papst den „Amerikanismus“ zu verurteilen. Die Bischöfe in
Amerika waren über die Enzyklika erstaunt, sie fanden sich in dem dargestellten Zerrbild nicht wieder.
Sie verteidigten in Rom den amerikanischen Katholizismus.
In der Verurteilung Leos XIII. kam aber nicht nur ein Argwohn gegen Neuerungen heraus, es war auch
das Unwohlsein darüber, dass sich eine Kluft zwischen einer alten guten Welt in Europa und einer neu-
en verdorbenen Welt in Amerika (die in Europa Fuß zu fassen droht) auftat. Hecker war ein vorbildli-
cher Missionar, er wurde sogar selig gesprochen. In seinen Schriften entfaltete er eine tiefe Theologie

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

des Heiligen Geistes, damit war er aber modern. Theologie war nicht Wahrheit von Sätzen, sondern es
ging um ein lebendiges Christentum, das vom Geist inspiriert ist.
Einer der wichtigsten Vermittler der Gedanken Heckers im deutschsprachigen Raum war der Würzbur-
ger Dogmatiker Hermann Schell. Er wollte die Bildungsfeindlichkeit im deutschen Katholizismus
überwinden und plädierte theologisch gesehen für eine Öffnung. Er war von der Anpassungsfähigkeit
und dem Potential des Katholizismus überzeugt. Seine beiden Reformschriften „Der Katholizismus als
Prinzip des Fortschritt“ (1897) und „Die neue Zeit und der alte Glaube“ (1898) brachten das Programm
zum Ausdruck und machten ihn international bekannt. Nicht allzu lang später wurden die Bücher indi-
ziert. Schell war davon sehr betroffen, er war loyal und engagiert, er wollte nicht kritisieren. Er unter-
warf sich dem Urteil, litt aber darunter. Seitens der Kurie und einiger neuscholastischen Theologen sah
er sich einer Hetzjagd ausgesetzt. Der Bischof von Würzburg, Ferdinand von Schlör, stellte sich vor
ihn, was aber nicht viel half. Schell starb 1903. Als unrühmlicher Stimmungsmacher im deutschen
Raum tat sich der Bischof von Rottenburg hervor, Paul von Keppler. Im Jahr 1902 hielt er eine vielbe-
achtete Rede: „Wahre und falsche Reform“. Darin polemisierte er eines Bischofs unwürdig gegen die
„Reformsimpel“, die einen „Margarinekatholizismus“ verbreiten und ein „Christentum für Mindestbie-
tende“ verkünden würden.
Die Stimmungsmache gegen Ende des 19. Jh. fand den Höhepunkt im Pontifikat Pius X. als im Juli
1907 das Heilige Offizium (die jetzige Glaubenskongregation) ein Dokument erließ, das mit dem Wort
„Lamentabili“ (beklagenswert) begann. Es war formal ein Syllabus, 65 Sätze wurden verurteilt. Die
Thesen richteten sich vor allem gegen den französischen Exegeten Alfred Loisy. Insbesondere verur-
teilte die Kongregation, die Loisy nicht beim Namen nannte, in dem Dokument die Anschauung dass es
in Exegese und Dogmatik den Gedanken der Entwicklung gebe. Die Verbalinspiration wäre so in Frage
gestellt. Daneben wurde die exegetische Methode Loisys (historisch-kritisch) kirchenamtlich verurteilt.
Ferner wurde verurteilt, dass selbst die Evangelien eine Entstehungsgeschichte haben und die Worte
darin nicht von einem Autor geschrieben sind. Weiters, dass die Auferstehung Christi nicht historisch
zu verstehen sei, sondern übernatürlich. Das Offizium hielt fest, dass die Auferstehung ein historisches
Faktum war. Das wird analog auf die frühe Kirchengeschichte übertragen. Es wird verurteilt dass es
eine Entwicklung in der Kirchenverfassung gegeben habe (d.h. dass sich das Papsttum entwickelt hat
und nicht auf Mt 16 zurückgeht). Etc.
Loisy war ins Visier geraten, weil er durchaus polemisch und auf Konfrontation ausgerichtet der katho-
lischen Exegese den Spiegel vorgehalten hat, damit sie zur Kenntnis nimmt, was andernorts längst zur
Kenntnis genommen wird. Ein berühmter Ausspruch: „Jesus kündete das Reich Gottes an, und ge-
kommen ist die Kirche“. Er meinte das nicht ironisch, sondern historisch.
Er bestritt die Irrtumslosigkeit der Bibel, im Sinne einer Wahrheit die sich nur auf Historie festlegt.
1893 wurde er vom Lehrbetrieb suspendiert, er arbeitete weiter, distanzierte sich aber von der Kirche.
Im September 1907 erließ der Papst eine Enzyklika mit Namen „Pascendi dominici gregis“ („Die zu
weidende Herde des Herrn“). Darin wurde der Modernismus als System definiert, verworfen und verur-
teilt.
- Der Modernismus hat eine verkehrte wissenschaftliche Neugier.
- Er besteht auch in einem Stolz und einer Arroganz, dass man die Autorität des kirchlichen
Lehramtes verachtet und lächerlich macht.
- Der Modernismus fröne einem falschen Geschichtsbegriff.
- Der Modernismus ist ein Sammelbecken aller Häresien.
Als Gegenmaßnahme empfiehlt er die Scholastik als alleinige Grundlage des theologischen Studiums,
und eine Absetzung der modernen Theologen. Das geht einher mit einem Angriff auf die Fakultäten an
den staatlichen Universitäten, die man meiden soll. Die Theologenausbildung soll man in den kirchli-
chen Seminaren durchführen.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Die modernistischen Bücher und Ansichten sollten einer scharfen Zensur unterworfen werden, die Bi-
schöfe haben Wachhunde einzusetzen, Modernismusaufspürer, die alle drei Jahre einen Bericht nach
Rom liefern sollten in dem klar gesagt wird, welcher Professor welche modernistische Häresie lehrte
und verurteilt und denunziert werden sollte. Das hat eine Stimmung erzeugt, die von Misstrauen und
Angst geprägt war, viele Unschuldige wurden Verdächtigungen ausgesetzt.
Als letzte Maßnahme erließ Pius 1910 den Antimodernismuseid, den alle Bischöfe, Priester, Professo-
ren und Religionslehrer zu leisten hatten. Darin mussten sie sich von jeglichen modernistischen Lehren
distanzieren und dem Lehramt Gehorsam und Treue versprechen. Er galt immerhin bis 1967. Ironischer
weise musste der Papst die deutschen Theologen von dem Eid dispensieren, weil der Druck und das
Empören in der Öffentlichkeit so groß waren. Die Front der deutschen Bischöfe war einheitlich, man
ließ sich nicht pauschal verurteilen.
Inhalt des Antimodernismuseid (Beispiele): Festhalten an Wundern. Die Kirche wurde direkt von Chri-
stus gegründet. Der Fortschritt wird verdammt. Diskrepanz zwischen Geschichte und Glaube.

Theologen in der Modernismuskrise

Franzosen

Alfred Firmin Loisy (1857-1940), Exeget


• Les évangiles synoptiques (1893-1896). Literargeschichte über die synoptischen Evangelien.
• L'évanglie et l'église (1902). Scharfe Schrift. Darstellung seiner Einsichten, dass Evangelium und
Kirche zwei nicht kompatible Religionen darstellen. Das war klar nicht katholisch, das Lehramt musste
zu Recht eingreifen.

Albert Lagrange, OP (1855-1938), Exeget; Gründer der École biblique in Jerusalem; er geriet allein
wegen seiner exegetischen Arbeit in Verdacht. Er zeigte sich archäologischen und historischen Einsich-
ten offen.
• Jerusalemer Bibel geht auf ihn zurück.
• gründete die Zeitschrift Revue biblique

Louis Duchesne (1843-1922), Kirchenhistoriker; arbeitete unter anderem über die Geschichte des
Papsttums. Der Primatsanspruch des Papstes lässt sich in den ersten Jahrhunderten nicht finden. Das
war aber mit der Fundamentaltheologie des 19. Jh. nicht vereinbar.

Engländer

George Tyrrell (1861-1909). Ein Konvertit, er geriet in den Bann von John Henry Newman und der
Oxfordbewegung.
• External Religion: Its Use and Abuse (1899). Innere Theologie als positiver Gegenpol. Wie Hecker
war Tyrrell ein Proponent einer stärker innerlichen erfahrungsbetonten Theologie.
• Through Scylla and Charybdis: or, The Old Theology and the New (1907).

Deutsche

Hermann Schell (1850-1903), Dogmatiker in Würzburg


• Katholische Dogmatik (1889-1893)
• Der Katholicismus als Princip des Fortschritts (1897)
• Die neue Zeit und der alte Glaube. Eine culturgeschichtliche Studie (1898)

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Immer wieder kamen auch die Kirchenhistoriker ins Visier der Modernismusjäger:
Franz Xaver Kraus (1840-1901), Kirchenhistoriker in Freiburg i. Br.

Albert Erhardt (1862-1940), Kirchenhistoriker in Wien (1898-1902). Er war dem modernen Bildungs-
ideal sehr aufgeschlossen. Es kam zu einer regelrechten Hetzjagd auf Erhardt, nach 4 Jahren verließ er
Wien.
• Der Katholizismus und das 20. Jahrhundert (1901). Er drückte den Wunsch aus, dass man Moderne
und Katholizismus versöhnen könnte.

Gegner Erhardts und des Modernismus in Wien:


Erzbischof Kardinal Anton Joseph Gruscha
Albert Maria Weiß, OP
Augustin Rösler, CSsR
Ernst Commer, Professor an der theol. Fakultät der Philosophie unterrichtete
Richard v. Kralik, Schriftsteller und "Kulturphilosoph"
Anton Mauß, Schriftleiter des Wiener Katholischen Sonntagsblattes

Zweiter Teil: Die Kirche im 20. Jahrhundert

10. Das Papsttum unter Benedikt XV. und Pius XI.


10.1 Benedikt XV. und der Erste Weltkrieg
Benedikt XV. ist erst wieder ins Bewusstsein gerückt, als der jetzige Papst an den Namen anknüpfte.
Man würdigt ihn nun wieder stärker und merkt, dass er eine enorm beindruckende Persönlichkeit war,
der sich massiv für den Frieden während des 1. Weltkriegs eingesetzt hat. Er hat Wegmarken gesetzt
und in Stil und Politik Vorgaben getätigt, an die sich spätere Päpste hielten.
1914 sind auch alle kirchlichen Probleme hinweg gespült (Gewerkschaftsstreit, Modernismusstreit).
Die Katholiken stimmen ein in den patriotischen Rausch, in antifranzösische Ressentiments. In Frank-
reich ist es nicht viel anders, der Patriotismus feiert fröhliche Urstände, man zieht freudig mit Sieges-
liedern in den Krieg, in Italien sieht es später nicht anders aus. Man vermisst plötzlich die Solidarität
der Katholiken der früheren Jahrzehnte, wo man sich stärker als eine internationale Gruppe wahrnahm
und solidarisch sah. Das war in diesen patriotischen Jahren verschwunden. Auch die Bischöfe und Prie-
ster stimmten ein. Der Papst warnte als Einziger, er sah Europa an den Abgrund treiben. Er wurde aber
nicht gehört, die nationalen Episkopate haben sich in der Rechtfertigung des gerechten Krieges überbo-
ten.
Wie ist dieser Umschwung möglich? Wahrscheinlich muss man in Rechnung stellen, dass die Katholi-
ken nach Kulturkampf und Jahren der Benachteiligungen endlich als gleichberechtigte Bürger aner-
kannt worden sind und sie ihre Staatsloyalität und ihren Patriotismus beweisen wollten. Während die
Katholiken in fast allen neuen Nationalstaaten, die dann in den Krieg zogen, den Krieg begrüßten,
mahnte allein der Papst zum Frieden. Im Juli 1915 bezeichnete er den Krieg als grauenhafte Schlächte-
rei. Die Katholiken reagierten auf den Friedensaufruf des Papstes mit Widerstand, das kam eher aus
den Kreisen des Reformkatholizismus, von den Befürwortern der Ideen der Moderne. Die Katholiken,
die in Distanz zur Moderne standen, brachten den Aufrufen des Papstes mehr Verständnis entgegen.
Ein ähnliches Schema lässt sich dann im 3. Reich finden.
Giacomo della Chiesa stammte aus Genueser Adel, er war bereits Sekretär unter Rampolla. Er war
Nuntius in Madrid, kam wieder zurück und war wichtigster Mitarbeiter Leo XIII. und Rampollas. Er
kritisierte in dieser Stellung auch die Haltung Pius X., was zu einem Karriereknick führte. Man versetz-

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

te ihn nach Bologna, wo er Erzbischof wurde, erst 1914 kurz vor dem Tod Pius X. wurde er zum Kar-
dinal ernannt. Seine Wahl zum Papst war überraschend. Er nannte sich Benedikt XV.
Währende des Weltkrieges war Benedikt XV. trotz seiner Herkunft als Italiener und seiner Neigung zu
Frankreich bestrebt, strengste Neutralität zu bewahren. Auch als Italien an Seite der Entente in den
Krieg trat und damit der freie diplomatische Verkehr aufhörte, wankte Benedikt nicht. Italien verwahrte
sich auch dagegen, den Papst zu Friedensverhandlungen hinzuzuziehen. Trotz größter diplomatischer
Anstrengungen hatte Benedikt XV. keinen Einfluss und keinen Erfolg um den Krieg zu beenden. Er
wurde überhört und ignoriert. Die politische Neutralität hielt er ein, nur aus dieser Position konnte er
seine Friedensinitiativen entwickeln, was ihn glaubwürdig machte.
1915 schickte er Pacelli als Nuntius nach Wien um mit Kaiser Karl zu verhandeln. 1917 wird Pacelli
als Nuntius nach München zu Verhandlungen mit dem deutschen Kanzler zusammen mit Kaiser Wil-
helm und Kaiser Karl gesandt. Die Vorschläge Benedikts für einen Friedenskompromiss werden aber
von den deutschen Militärs Ludendorf und Hindenburg abgelehnt.
Nachdem man nicht gehört wurde, verstärkte man die karitativen Interventionen. Man kümmerte sich
vor allem um die Kriegsgefangenen. Das berühmteste Dokument wurde die Friedensinitiative vom
01.08.1917, die Zirkularnote an die Oberhäupter der kriegsführenden Völker. Darin legte der Papst
einen Kompromissfrieden vor, alle müssen Zugeständnisse machen, weil es keinen Sieger gibt. Alle
sind Verlierer. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker soll geachtet werden, ohne dass er jedoch vor-
schlägt, die Donaumonarchie zu zerschlagen. Es muss Abrüstung stattfinden, und ein internationales
Schiedsgericht eingerichtet werden. Keiner hätte das Gesicht damit verloren, aber es wurde abgelehnt.
Das päpstliche Friedensangebot wurde von den Mächten der Entente nicht einmal beantwortet.
Deutschland lehnte es ab wegen der von ihm erwarteten Gebietsabtretungen. In Frankreich und Italien
hatte man ideologische Vorbehalte gegen den Papst als Friedensvermittler, er sollte keine Rolle spielen.
Benedikt XV. wurde weder bei Friedensverhandlungen in Versailles einbezogen noch in den Völker-
bund aufgenommen, aber das Papsttum gewann durch seine Haltung und seine Maßnahmen außeror-
dentlich an internationalem Ansehen. Ende 1914 ernannte England im Interesse der Entente einen Ver-
treter beim Vatikan, Holland folgte 1915. Portugal und Frankreich stellten nach Ende des Krieges die
abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wieder her. Die preußische Gesandtschaft beim Vatikan
wurde 1919 in eine offizielle Botschaft des deutschen Reiches umgewandelt, 1920 war dann der Heili-
ge Stuhl mit einem Nuntius in Berlin vertreten.
1921 gab es doppelt so viele diplomatische Vertretungen beim Vatikan als 1914. Nach dem Krieg wur-
de verstärkt am Abschluss von Konkordaten gearbeitet. Der Papst wurde als wichtige diplomatische
Adresse in Europa gesehen, was den Abschluss der Lateranverträge beschleunigte.
09.06.2009
Der Untergang der Monarchien war für die Kirche schlimm, es brauchte viel Zeit um sich auf den Um-
gang mit den Nationalstaaten einzustellen.

10.2 Pius XI. und die Konkordatspolitik


Dieser Herausforderung musste sich Pius XI. stellen. Er wurde als Achille Ratti geboren und war 1922-
1939 Papst. Zuvor war er schon in die Diplomatie des Vatikans eingebunden, er gilt als der Papst der
Konkordate. Pius XI. war ein Gelehrter und wollte als solcher Karriere machen. Er war kurz Professor
am Seminar in Mailand, 1888 wurde er auf die einflussreiche und angesehene Stelle der Bibliotheca
Ambrosiana in Mailand gestellt, wo er mit der damaligen Gelehrtenwelt enge Verbindungen knüpfte.
Der Papst holte ihn als Bibliothekar der vatikanischen Bibliothek nach Rom, was er von 1907-1914
gewesen ist. Man erkannte rasch seine organisatorischen und menschlichen Talente. 1919 wurde er mit
61 Jahren als apostolischer Visitator und Nuntius nach Polen geschickt. Er lernte dort die Schwierigkei-
ten kennen, die Polen als katholisches Land zwischen Russland und Deutschland hatte, zwischen den
beiden großen Totalitarismen. Wie geht man mit den Totalitarismen um? 1921 wurde er Erzbischof von

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Mailand, bald darauf Kardinal und 1922 überraschend Papst. Seine Namensgebung sollte Kontinuität
herstellen, aber er setzte andere Akzente, weil er politisch erfahrener war.
Sein Pontifikat begann mit einem Paukenschlag, er trat wieder auf die äußere Segensloggia des Peters-
domes und gab den Segen „Urbi et orbi“ erstmals wieder auch in Richtung der Stadt Rom. Damit si-
gnalisierte er die Bereitschaft, die selbst auferlegte Isolation zu überwinden, was ihm einen Vertrauens-
vorschuss in Italien einbrachte. Unter ihm kam es 1929 zu einem Vergleich in den Lateranverträgen.
Vor allem durch Konkordate und Vereinbarungen versuchte Pius XI. der Kirche die Freiräume zu
schaffen oder zu erhalten, die sie für ihr Wirken benötigte. Er knüpfte an die Bemühungen seiner Vor-
gänger an. Sein Wirken erhielt nach dem Krieg eine neue Qualität. Es waren andere politische Verhält-
nisse, und Kirche und Papst hatten sich zuvor hohes Prestige erworben. Die Zwischenkriegszeit ist eine
Frühlingszeit, eine Blütezeit für die Kirche. Bedeutende Konversionen fanden statt (Max Weber, Ger-
trud von Lefort, …). Eine Neugier für das Katholische breitete sich aus, viel Gutes war zu erhoffen.
Höhepunkt des Pontifikates war die Beilegung der römischen Frage und der Abschluss der Lateranver-
träge. Wichtig dafür war auch das Team, Kardinal-Staatssekretär war Pietro Gasparri, der als Diplomat
die Grundlagen für die Konkordatspolitik schuf.
Gasparri war schon vor dem Pontifikat Pius XI. als Kirchenrechtler verantwortlich für die Ausarbeitung
des CIC/1917 als Ergebnis des I. Vatikanums und der neuen politischen Situation. Gasparri hat auch
ein diplomatisches Talent in die Kurie geholt, Eugenio Pacelli (später Pius XII.)

Konkordatsabschlüsse unter Papst Pius XI.


Lettland 1922 (3. November)
Bayern 1924 (29. März)
Polen 1925 (10. Februar)
Rumänien 1927 (10.Mai)
Litauen 1927 (27. September)
Italien 1929 (10. Februar
Preußen 1929 (14. Juni)
Baden 1932 (12. Oktober)
Österreich 1933 (5. Juni)
Deutschland 1933 (20. Juli), Reichskonkordat
Jugoslawien 1935 (nicht ratifiziertes Konkordat)
Vereinbarungen wurden getroffen mit
Tschechoslowakei 1921
Frankreich 1928
Portugal 1928
Ecuador 1937

Lateranverträge
Voraussetzung für den Abschluss der Lateranverträge war, dass mit Mussolini das faschistische Re-
gime ans Ruder kam. Erst mit ihm konnte die Kirche verhandeln. Die bürgerlichen Regierungen zuvor
waren ideologisch noch zu sehr aufgeladen und beharrten zu sehr auf Prinzipien, die eine Lösung un-
möglich machten. Mussolini wollte damit auch außenpolitisches Prestige erlangen. Das wird sich später
bei Hitler wiederholen, der auch einen frühen internationalen Achtungserfolg suchte.
Mussolini kam 1922 an die Macht, er sah dass er seine faschistische Bewegung nicht gegen oder ohne
die katholische Kirche durchführen konnte, daher kam er der Kirche sehr entgegen. Der Vatikan stellte
keine großen Gebietsforderungen, man war zufrieden mit dem was Italien dem Vatikan überlassen hat-
te. Allerdings bestand das Papsttum darauf, dass man nicht nur toleriert und geduldet wurde, sondern

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

dass man als souveränes völkerrechtliches, unabhängiges Staatsobjekt anerkannt wurde. Mussolini ge-
stand das zu. Das Papsttum wurde damit aufgewertet.
Die Lateranverträge bestanden aus drei Abkommen: Dem Versöhnungsvertrag, in dem man die Ge-
bietsansprüche und Verstimmungen beilegte. Einem eigentlichen Konkordat, wodurch die Beziehungen
zwischen Kirche und Staat vertraglich geregelt wurden. Und einer Finanzkonvention: der Vatikan be-
kam eine großzügige Abgeltung für die Gebietsverluste. 5 Punkte:
- Der apostolische Stuhl ist als souveränes völkerrechtliches Subjekt anerkannt und bestätigt,
auch von Italien.
- Der Vatikanstaat wird als ein souveränes Territorium beschrieben, 44 ha umfassend, er besteht
nicht nur aus dem Vatikanstaat, sondern es kommen weitere Gebäude in Rom und Umgebung
dazu, die bis heute extraterritoriales Statut besitzen. Dazu zählen die Lateranbasilika und der
Palast des Laterans. Castell Gandolfo, sowie weitere Einrichtungen: die Gregoriana (päpstliche
Universität), Palazzo der Rota, …
- Italien zahlte 1,75 Milliarden Lire als Entschädigung, was dem Papst erlaubte, dass er den Vati-
kan baulich so herstellte, wie wir ihn heute kennen. Der Vatikan bekam eine moderne Ver-
kehrsanbindung (Bahnhof), die Gregoriana wurde erbaut, und eine Reihe anderer Verwaltungs-
häuser, sodass sich die Kurie den neuen Verhältnissen entsprechend international auslegen
konnte.
- Der Papst verpflichtete sich zu strikter Neutralität.
- Der Papst anerkennt Italien an und Rom als dessen Hauptstadt.
Das Konkordat besagt, dass der Katholizismus die einzige anerkannte Religion in Italien ist, im Gegen-
zug musste der katholische Klerus auf jede parteipolitische Betätigung verzichten.

11. Die Kirche im Zeitalter des Nationalsozialismus


11.1 Die Kirche zwischen Demokratie, Totalitarismus und autoritärem Staat
Die Revolutionen nach dem 1. Weltkrieg brachten die Monarchien in Österreich, Preußen und Bayern
unwiderruflich an ihr Ende. Angesichts der Koalitionen von Thron und Altar verhieß der Untergang der
Monarchien für die Kirche nichts Gutes. Die Kirche stellte sich aber schnell auf die neue Situation ein.
In Deutschland ließ sich sehr wohl ein Gefälle der Anhänglichkeit der Katholiken an die Monarchie
feststellen. Die Bayern trauerten ihrem katholischen Königshaus lange nach. In Westdeutschland
(Köln, Düsseldorf, Trier) war man weiter, der Monarch war dort der protestantische König und Kaiser
von Preußen, man trauerte ihm keine Träne nach. Nach dem 1. Weltkrieg waren die Monarchien dis-
kreditiert, es fiel der Kirche dadurch leichter sich mit der Situation anzufreunden. Die Ansichten
pro/contra Monarchie prallten aber immer noch aufeinander. Am Katholikentag 1922 legte der Kölner
Bürgermeister Adenauer ein Plädoyer für einen demokratischen Staat ab. Das provozierte die Reaktion
von Kardinal Faulhaber (München), der in Zusammenhang mit der Revolution von Hochverrat und
Meineid sprach. Das Trauma, das Adenauer bei Faulhaber auslöste, sollte lange andauern. Als Adenau-
er 1946 erster Bundeskanzler wurde, war das für Faulhaber die schlimmste Wahl, die er sich vorstellen
konnte.
In Österreich hatten die Monarchisten Rückhalt im katholischen Adel und im Bildungsbürgertum. Bei
der Ausrufung der Demokratie rief Kardinal Piffl den Klerus zur Treue gegenüber dem neuen Staat auf.
Auch der Prälat Ignaz Seipel, der eine einflussreiche politische Gestalt der ersten Republik werden soll-
te, unterstützte das. Man hatte erkannt, dass es kein Zurück gab.
In Deutschland wurde der Katholizismus durch die Zentrumspartei politisch wahrgenommen. Politi-
scher Katholizismus. Es gab eine Partei, die vom Episkopat unabhängig war. Das machte es leichter,
dass sich die Katholiken in den Staat einfanden und den Katholizismus unabhängig von der Hierarchie
repräsentieren konnten. Die Zentrumspartei war politisch frei, nicht von der Kirche abhängig. Die strik-
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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

te katholische Begrenzung konnte aber nie überwunden werden, das erfolgte erst nach dem 2. Welt-
krieg mit der Gründung von CDU und CSU.
Das Zentrum war eine Säule der Weimarer Republik. Man hatte kluge Politiker. Das Zentrum war in
der Mitte, es gab davon rechts und links noch etwas. Das Wählerpotential war konstant, ca. 11-15 Pro-
zent, man koalierte bevorzugt mit den Sozialdemokraten. Das Zentrum war an jeder der 21 Regierun-
gen der Weimarer Republik von 1919-1932 beteiligt. Die Katholiken gehörten zu jenen, die am meisten
dazu beitrugen um diese Demokratie und den Ausgleich der politischen Kräfte zu gewährleisten.
Nach dem Krieg spaltete sich ein bayrischer Flügel vom Zentrum ab und gründete die bayrische
Volkspartei, darin liegen die Ursprünge, dass Bayern heute noch eine eigene christliche Partei hat.
Die Nähe zur Sozialdemokratie kostete dem Zentrum aber auch Sympathien, aus zwei Gründen:
- Die Bischöfe aber auch Teile der Katholiken sahen im Sozialismus eine größere Gefahr für Re-
ligion und Kirche als in den nationalen, rechten Bewegungen. Man nannte die Sozialisten die
„vaterlandslosen Gesellen“, weil die kommunistische Internationale dahinter stand.
- Der zweite Grund war die wichtige Funktion, die es in der Instabilität der Weimarer Republik
innehatte. Die negative Wahrnehmung der Republik und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten
dieser Zeit warfen auch einen Schatten auf die damals verantwortlichen Parteien. Man schaffte
es nicht, der Demokratie in Deutschland eine breite Akzeptanz zu verschaffen und damit die
Nationalsozialisten zu verhindern.
Das Zentrum wehrte sich gegen kirchliche Einflussnahme, auch gegen die Bestrebungen der Kurie. Die
Kurie bevorzugte keine katholische Partei, sondern die katholische Aktion, die unter Leitung der Hier-
archie stand. Die Hierarchie wollte eine bessere Kontrolle der katholischen Laien haben, dem wusste
sich das Zentrum zu entziehen, was sich im Nachhinein als die erfolgreichere Strategie erwiesen hat.
Am Ende der Weimarer Republik zeichnete sich aber eine zunehmende Klerikalisierung des Zentrums
ab. Es fehlte auch an den großen Persönlichkeiten. Es geht auch zu Lasten des Vorsitzenden Ludwig
Kaas, der gute Beziehungen zu Rom hatte.

11.2 Kirche und Erste Republik in Österreich


Sie sah sich 1918 des kaiserlichen Schirmherrn beraubt. 90% waren Katholisch, sie polarisierten sich in
zwei Blöcke: Christlich-Soziale und Sozialisten. Der Austromarxismus (Sozialismus in Österreich)
stand der Kirche ungleich feindlicher gegenüber als in Deutschland, wo es ein breiteres Parteienspek-
trum gab. In Österreich gab es keine Mitte. Der Sozialismus war in Österreich immer auch eine Gegen-
religion, man war nicht nur nicht konservativ, sondern immer auch gegen den Katholizismus. Von da-
her sind die aggressiven Kampagnen der Sozialisten zu verstehen, mit denen man um Mitglieder warb.
135.000 Katholiken wurden zum Verlassen der katholischen Kirche bewegt. Bei 6 Millionen Katholi-
ken war das nicht zu vernachlässigen.
Die Verquickung der christlich-sozialen Partei mit der Kirche fand eine Bestätigung durch ihren lang-
jährigen Vorsitzenden Prälat Seipel. Er war von 1921-1930 Obmann der christlich-sozialen Partei,
1922-1924 und 1926-1929 war er Kanzler. Wie problematisch sein Klerikerstand in der Politik werden
konnte, zeigte sich beim blutigen Polizeieinsatz angesichts des Justizpalastbrandes 1927. Das brachte
ihm den Beinamen „Der Prälat ohne Milde“. Der Episkopat war aber auch aus prinzipiellen Gründen
nicht allzu glücklich mit dem zu offenen politischen Engagement des Klerus. Man sah auch im Episko-
pat die katholische Aktion als den besseren Weg. Beide Aspekte (das Erbe Seipels und die päpstliche
Vorstellung von der katholischen Aktion) bewog den Episkopat 1933 dazu, alle Geistlichen aufzufor-
dern ihre politischen Mandate niederzulegen. Grund des Erlasses war, dass Seipel 1932 starb, er war
sehr geachtet und man wollte ihn nicht brüskieren. Aber auch ein Konkordat wurde abgeschlossen, das
auf die Entpolitisierung des Klerus abzielte.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Durch die Verwirrung im österreichischen Parlament im März 1933 startete Bundeskanzler Dollfuss –
gegen den erbitterten Widerstand der Sozialisten – das Experiment des autoritär geführten christlichen
Ständestaates. Er hat die Rechte des Parlaments erheblich eingeschränkt, aber auch die Nationalsoziali-
sten für eine paar Jahre verhindert. Die verantwortlichen katholischen Politiker, die das Experiment
mittrugen und mit initiierten, gaben vor, dass sie bei der Ausrichtung und Ausgestaltung des katholi-
schen Ständestaates die Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ Pius XI. zugrunde legten. Mit diesem
Ideal wollte man das Parteiengezänk im Parlament und den Sozialismus verhindern, sowie die egoisti-
schen Gruppeninteressen eliminieren. Stattdessen sollte ein Staatsmodell präsentiert werden, in wel-
chem ein Ausgleich der Interessen stattfand nach standesgemäßen Rechten, nach Berufsgruppen. Das
vermehrte die Spannungen in der Bevölkerung, und vermehrte auch den Unmut unter den der Kirche
Fernstehenden über alles Katholische und Christlich-soziale.
Als eine der ersten Maßnahmen des Ständestaates wurde im Juni 1933 ein Konkordat mit dem Vatikan
abgeschlossen. Die Eile stand unter dem Eindruck der Machtergreifung Hitlers in Deutschland. Das
österreichische Konkordat, das Justizminister Schuschnigg und Kanzler Dollfuss in Rom unterzeichne-
ten, fiel für die Kirche so gut aus, dass Pacelli darin das Ideal eines Vertrages zwischen Kirche und
Staat erblickte. Das Konkordat verschärfte aber die Spannungen und die Spaltung in Österreich. Der
apostolische Stuhl konnte zu keinen Zugeständnissen im Bereich der Ehegesetzgebung bewegt werden,
das war der größte Streitpunkt. Das kanonische Eherecht sollte bürgerliche Wirkung erhalten. Es wur-
den im Konkordat auch die Besetzung von Bischofssitzen, der Religionsunterricht, die Privilegien der
katholischen Schulen und vermögensrechtliche Fragen geregelt. Seit Joseph II. gab es immer noch den
Kirchenfonds, mit dem man den Klerus besoldete und kirchliche Aktivitäten finanzierte. Aber er langte
bei weitem nicht mehr. Daher war schon seit langer Zeit die Kongrua eingeführt, ein Betrag der im
Budget vorgesehen war, um den Fehlbetrag im Kirchenfonds abzudecken.
Das Konkordat wurde am 1. Mai 1934 von der Regierung ratifiziert, zugleich stellte man die neue Ver-
fassung des Ständestaates vor. Die Gleichzeitigkeit zeigt die enge Verbindung. Zuvor, am 12. Februar
1934, wurde die Revolte des sozialdemokratischen Schutzbundes blutig niedergeschlagen. Kardinal
Innitzer begrüßte diese Niederschlagung öffentlich, aber er setzte auch die Begnadigung der Rädelsfüh-
rer durch.
Die Nationalsozialisten versuchten am 25. Juli 1934 einen Staatsstreich, der zur Ermordung von Bun-
deskanzler Dollfuß führte. Dollfuß wurde für viele zum Märtyrer, der für Österreich sein Blut gab. Bei
den Sozialdemokraten jedoch galt er wegen der Niederschlagung der Revolte als Arbeitermörder. Die
enge Verquickung von Kirche und Ständestaat förderte den Antiklerikalismus in Österreich. Ungewollt
wurden dadurch nationalsozialistische Bewegungen unterstützt, denn durch den autoritären Ausschluss
des politischen Gegners verlor man für die Kirche große Teile der Arbeiterschaft, die dadurch für Ra-
dikalisierungen zugänglicher und in großer Zahl von den Nationalsozialisten aufgefangen wurde.
Der österreichische Katholizismus war in seiner Haltung zum Nationalsozialismus gespalten. Ein Teil
hatte Sympathien für die Ideologie, andere sahen die gefährlichen Unterschiede in den Weltanschauun-
gen. Es gab Brückenbauer und Mahner.
Ein Brückenbauer war Alois Hudal aus Graz, er war später Bischof in Rom, wo er Rektor der Natio-
nalkirche der Österreicher (Sancta Maria del Anima) war. Er hatte viel Einfluss auf die Kurie. Hudal
kannte sehr wohl die Grenzen und verurteilte Rosenbergs „Mythos des 20. Jahrhunderts“, aber er hatte
Sympathien. Er schrieb 1936 noch ein Buch das er dem Führer widmete, in dem er eine Symbiose von
Katholizismus und Nationalsozialismus versuchte. Viele Katholiken, die mit den Nazis paktierten, be-
riefen sich dann auf dieses Buch. Hudal fand zu wenig Kritiker innerhalb der Kirche.
Weitere Unterstützer fanden sich in der Jugendbewegung. Die Zeitschriften „Schönere Zukunft“ und
„Neuland“, die aus der akademischen katholischen Jugendarbeit hervorgingen, waren anfällig für na-
tionalsozialistische Gedanken. Enge Beziehungen zum „Neuland“ unterhielt der Wiener Professor für
Pastoraltheologie Pfliegler. In diesen Organen wurde immer wieder eine unvoreingenommene Prüfung
des Nationalsozialismus und eine Würdigungen der guten Aspekte gefordert. Der Nationalsozialismus
galt als guter Kampf gegen den gottlosen Bolschewismus, der die größere Bedrohung sei.
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Symptomatisch für die Einäugigkeit und Blindheit war, dass die „Schönere Zukunft“ die Enzyklika
„Mit brennender Sorge“, in der Pius XI. den Nationalsozialismus verurteilte ohne ihn beim Namen zu
nennen, nur auszugswiese veröffentlichte. Anders war es dann bei der Geschwisterenzyklika „Divini
redemptoris“, die den Kommunismus verurteilte. Sie brachte man in ganzer Länge.

11.3 Die Kirche im Dritten Reich


11.3.1 Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland
Die Auseinandersetzungen der Bischöfe mit dem Nationalsozialismus begannen erst 1929, verstärkt
kam es dazu dann ab 1930/31, als Hitler die ersten Wahlerfolge erzielte. Die Bischöfe verurteilten die
Rassenideologie, die Gewaltbereitschaft und die Hassrhetorik gegen Andersdenkende. Eine Zusam-
menarbeit mit der Partei oder eine Mitgliedschaft waren nicht nur unmöglich, sondern verwerflich. Der
Generalvikar von Mainz verbot den Katholiken in der NSDAP Mitglied zu werden. Man untersagte
auch uniformierte Auftritte in der Kirche. Eine klare Grenzziehung 1930. Der Vorsitzende der damali-
gen Fuldaer Bischofskonferenz war Kardinal Adolf Bertram aus Breslau. Er wurde vom Vorpreschen
der Mainzer überrascht, unterstützte aber dann das Verbot wie die Mehrzahl der Bischöfe. Kardinal
Faulhaber (Vorsitzender der Freisinger Bischofskonferenz) stieß sich ein wenig am undifferenzierten
Verbot und wollte eine abwägendere Formulierung. In der Sache blieb es aber klar.
Neben den Bischöfen wiesen eine Anzahl weiterer Priester und Ordensleute auf die Unvereinbarkeit
von Katholizismus und Nationalsozialismus hin. Die Gewissensbildung zu Beginn des Nationalsozia-
lismus stimmte in der katholischen Kirche zu dieser Zeit. Die klare Haltung konnte den unverminderten
Aufstieg der Nazis aber nicht stoppen. Sie profitierten von der schweren Wirtschaftskrise sowie von
der Unzufriedenheit mit der Weimarer Republik und den Friedensverträgen. Die Kirche hat den Nazis
nicht als Steigbügelhalter gedient. Das belegt auch ein Blick auf das Wahlverhalten. Die Katholiken
machten 1/3 der Wähler aus, ca. 20 Millionen. Aufgrund des katholischen Milieus und der Vertretung
durch die Zentrumspartei blieben die Katholiken weitgehend immun gegen die braune Propaganda. Die
Katholiken stellten bei Wahlen die größte Widerstandsgruppe dar.
Bei den Wahlen im März 1933, als Hitler schon Reichskanzler war, und als die Begeisterung für die
völkische Bewegung überschwappte, blieb die NSDAP in den katholischen Gebieten unter 30%.
Die Wahl 1932 führte zum Sturz von Kanzler Brüning, eine seltsame Rolle spielte dabei der Zentrums-
politiker von Papen, der sich von den Nazis zum Kanzler küren ließ.
Führende Politiker dachten nun daran, mit den Nazis zu koalieren und sie damit zu zähmen. Selbst
Kardinalstaatssekretär Pacelli riet vorsichtig zu einem Bündnis mit Rechts, von dem er sich günstigere
Aussichten für die Kirche erwartete (Schulgesetz, Konkordat). Das langjährige Paktieren des Zentrums
mit den Sozialisten sah er immer mit Argwohn.
Als es 1933 auch wegen des Taktierens des Zentrums zur Machtergreifung Hitlers kam, standen die
Bischöfe plötzlich vor dem Dilemma, dass sie die Partei des Reichskanzlers für Katholiken verboten,
aber immer für Loyalität der Katholiken zum Staat plädiert hatten. Durch eine Anti-Haltung fürchtete
man den Anschluss zu verpassen und wie im Kulturkampf wieder in einem Ghetto zu landen. Den Ka-
tholiken könnte versagt werden, sich mit der Aufbruchsstimmung zu identifizieren und am Aufbau des
Vaterlandes mitzuwirken.
Den Befürchtungen der Bischöfe kam Hitler am 23. März 1933 entgegen. Er räumte in einer Rede bei-
den Kirchen einen hohen Stellenwert im NS-Staat ein. Beide Konfessionen seien wichtige Faktoren der
Erhaltung des Volkstums. Die bestehenden Länderkonkordate würden in Geltung bleiben, die Kirche
dürfe ihren Einfluss in Schule und Erziehung behalten. Sogar freundschaftliche Beziehungen zum apo-
stolischen Stuhl wurden in Aussicht gestellt. Die Bischöfe ließen sich beeindrucken, Kardinal Bertram
hob daraufhin ohne Konsultation das Verbot der Mitgliedschaft für Katholiken in der NSDAP auf.
Im Frühjahr 1933 hoffte man mit den Nazis einen modus vivendi zu finden oder das Schlimmste verhü-
ten zu können. Den Bischöfen fiel dieser Schritt trotz allem Unbehagen leichter, weil man eine größere
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Affinität zu den autoritären Regimen hatte, in denen man die eigene Verfassungsstruktur als auch mon-
archische Elemente wiedererkannte und denen man eine effektivere Staatsführung zutraute. Das konnte
man am Umgang mit Mussolini, der Unterstützung Francos in Spanien und am Ständestaat in Öster-
reich ablesen.
Dazu kam, dass die NS-Ideologie mit der religiös verbrämten Rhetorik von Volk, Nation und Reich ein
gemeinsames Interessenspotential anbot, auf dem man glaubte eine Verständigung und einen Konsens
mit den Nazis herbeiführen zu können. Damit schlug die Stunde der Brückenbauer, einer Schar von
jungen, modernen, aufgeschlossene Theologen, die die Gemeinsamkeit zwischen Christentum und Na-
tionalsozialismus beschworen. Unter ihnen befanden sich der Dogmatiker Michael Schmaus, Karl
Adam, Joseph Lortz (Kirchengeschichte), Hans Barion (Kirchenrecht), Hans Eschweiler (Fundamental-
theologie). Man hob die gemeinsamen Werte hervor: Gemeinschaft, Volk, Autorität.
Auch die Bischöfe waren nicht vollständig immun gegen die völkische Aufbruchsstimmung. Loyale
Äußerungen kamen aus Freiburg von Bischof Gröber, aber auch von Kardinal Theodor Innitzer.

Ermächtigungsgesetz und Konkordat


Die Aufhebung der kirchlichen Verbote gegen die NSDAP war eine Wendemarke, ein Signal, dass die
Kirche nun mit dem Regime kooperierte. Verstärkt wurde das durch die Initiative Hitlers am 10. April
1933, er wollte ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl abschließen. Es wurde bereits am 20. Juli 1933
unterzeichnet. Der Schwenk der Bischöfe beschleunigte auch das Ende des politischen Katholizismus.
Hitler benötigte zunächst noch die Unterstützung des Zentrums um eine Mehrheit für das Ermächti-
gungsgesetz zu bekommen, das vorerst für 4 Jahre anberaumt war. Hitler wusste, dass die Katholiken
und das Zentrum zu den stärksten Gegnern zählten, die man ausschalten musste. Eine Strategie dazu
war das Konkordat, den Priestern sollte parteipolitische Betätigung und Wahrnehmung politischer Äm-
ter verboten werden.
Unter dem zunehmenden innenpolitischen Druck in Deutschland seit dem März 1933 lösten sich das
Zentrum und die bayrische Volkspartei im Juli 1933 selbst auf. Sie kamen damit einem drohenden
Verbot zuvor. Ab dem 15. Juli 1933 gab es in Deutschland nur mehr die NSDAP als Partei. Pacelli und
dem Vatikan kam die Selbstauflösung des politischen Katholizismus in Deutschland zu diesem Zeit-
punkt ungelegen, da er sich einer wichtigen Verhandlungsmasse beraubt sah. Unabhängig davon bot
das Zentrum in den letzten Monaten seines Bestehens einen eher kläglichen Eindruck. Wie großartig
auch die Verdienste des politischen Katholizismus seit 1870 in Deutschland waren – der vorauseilende
Gehorsam, in dem man sich 1933 auflöste, vermittelt kein gutes Bild von den Zentristen. Man präsen-
tierte sich mutlos, zaghaft, unfähig den Einschüchterungen zu widerstehen. Historiker sprechen vom
Kardinalfehler des Zentrums, da es Hitler beim Ermächtigungsgesetz so leicht nachgegeben hatte ohne
sich feste Garantien für den eigenen Fortbestand geben zu lassen und weil es selbst nicht mutiger für
das Überdauern demokratischer Institutionen eingestanden ist. Motivation und historische Bedeutung
des Konkordats werden seit langer Zeit kontrovers diskutiert. Vor allem Kritiker der Politik der Kurie
und der Bischöfe sahen im Konkordat die Eintrittskarte Hitlers auf die internationale Bühne und damit
einen wesentlichen Grund für seinen Aufstieg überhaupt.
Pacelli ging auf das Angebot eines Reichskonkordats sofort ein, es lag schon lange im Interesse der
Kurie und passte in die Strategie des Vatikans mit allen möglichen Ländern ein Konkordat abzuschlie-
ßen. Über den Charakter und die zweifelhafte Verlässlichkeit der Vertragspartner dürfte sich Pacelli im
Klaren gewesen sein, auch darüber, dass ein Konkordat den Nazis internationale Anerkennung bringen
würde. Dennoch sah er im Konkordat den besten Schutz der Aktionsfreiheit der deutschen Kirche. Die
Kirche erhielt damit eine rechtliche Garantie, den kirchenpolitischen und gesellschaftlichen Besitzstand
in etwa beibehalten zu dürfen. Die Kirche wurde als eigenständige rechtliche Größe anerkannt, die ihre
Rechte einklagen konnte. Von 1931-1932 wurden 70 diplomatische Protestnoten wegen Verletzung des
Konkordats eingereicht. Die Nazis setzten sich zwar über vieles hinweg, aber die Kirche konnte auf
einen Grundschutz bauen. Die Möglichkeiten der deutschen Kirche, kirchliches Leben, Seelsorge und

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caritatives Engagement aufrechtzuerhalten, waren dank des Konkordats viel umfangreicher als in
Österreich. Dort wurde das Konkordat nach dem Anschluss für unwirksam erklärt. Mit dem Staatsge-
biet erweiterte man aber nicht auch den Geltungsbereich des deutschen Konkordats auf das Territorium
Österreichs. Damit konnte man mit der Kirche in Österreich weitaus schikanöser verfahren, als dies auf
dem alten Reichsgebiet möglich war.
Mit dem Konkordat und dem Ermächtigungsgesetz kam man den neuen Machthabern von Seiten der
Kirche in Deutschland weit entgegen. Die Bischöfe wurden dann angesichts des gewalttätigen Alltags
rasch desillusioniert. Man stellte sich auf eine zähe Konfrontation ein. Berühmt wurden schon 1933 die
Adventpredigten von Kardinal Faulhaber in München, wo er öffentlich für die religiösen, sittlichen und
sozialen Werte des Alten Testament eintrat, und damit die Rassenideologie, den grassierenden Antise-
mitismus und die Judenverfolgung kritisierte.
16.06.2009
11.3.2 Die Kirche angesichts staatlicher Schikanen 1934-1939
Als Einteilung für das 3. Reich bietet sich an 1934-1939 und 1939-1945.
Weder Hitler noch die Mächtigen der NSDAP machten vor der Machtergreifung einen Hehl daraus,
dass die katholische Kirche einer der Hauptfeinde der Partei sei, die es auf lange Sicht auszuschalten
gelte. Führt man sich die totalitären Tendenzen der NS-Ideologie vor Augen, so ist klar, dass es keinen
unabhängigen alternativen Organismus im Staat mehr geben durfte – die Kirche war so einer. Nur
wenn man die Ansichten und Ziele der Nationalsozialisten unterstützte, durfte man existieren. Hitler
erkannte, dass das bei der katholischen Kirche nie der Fall sein würde, er sprach von der Endlösung,
der er das Problem der Kirche zuführen würde, wenn alles andere erledigt sei. Das hinderte aber nicht
daran, die Kirche im täglichen Kleinkrieg zu zermürben. Die Kirche sollte aus der gesellschaftlichen
Präsenz verdrängt werden.
Das erste Interesse nach der Machtergreifung richtete sich auf das katholische Vereinsweisen. Art. 31
des Konkordats garantierte zwar die Unversehrtheit der katholischen Vereine, aber die Kirche versäum-
te es diese Vereine konkret zu benennen. Die Nazis definierten selbst, was in der Kirche erhaltenswert
sei und was nicht. So wurden viele Vereine als konkordatsfremd oder konkordatswidrig eingestuft. In
den Monaten nach der Machtergreifung 1933 wurden die meisten der ca. 200 katholischen Vereine
eliminiert. Allein der Deutsche Caritasverband überdauerte den Krieg. Die Schikanen für die Mitglie-
der begannen, indem man eine Doppelmitgliedschaft verbot. Man konnte nur exklusiv der NSDAP an-
gehören. Die Mitgliedschaft in der Partei war irgendwann Pflicht.
Die Jugendverbände Neues Deutschland, Quickborn und die Pfadfinder wurden kurz vor Kriegsbeginn
aufgelöst. Weiters ging man gegen Presse, Schulen und Orden vor. Die katholische Presse durfte nicht
mehr als katholisches Publikationsorgan gekennzeichnet werden. Die Kirchenzeitungen wurden suk-
zessive verboten, die letzte 1941. Bei Zeitschriften, die sich kritisch mit dem Regime befassten, ver-
folgte man die Redakteure. „Der gerade Weg“ von Fritz Gerlich kritisierte die Nazis, er wurde im Zuge
des Röhm-Putsches nach Dachau gebracht und exekutiert.
Ab 1935 ging die Partei gegen die katholischen Schulen vor. 1939 wurde ihnen aufgetragen sich in
deutsche Gemeinschaftsschulen umzuwandeln und alles Katholische im Unterreicht zu eliminieren. Es
ging um das Monopol der Erziehung. In diese Rubrik gehört auch der Konflikt um die Schulkreuze, bei
dem das NS-Regime eine seiner wenigen innenpolitischen Niederlagen einstecken musste. Der öffent-
liche Protest war mancherorts so stark, dass Hitler selbst eine Anweisung erließ, um von dieser Maß-
nahme Abstand zu nehmen.
Das spiegelt die Strategie wieder. Die kirchenfeindlichen Ausschreitungen gingen scheinbar auf das
Konto von wilden Horden der Partei, sie wären von oben nicht gewollt. Hitler konnte sich dann durch
gezielte Unterbindungen als weiser und mäßigender Staatsmann präsentieren.
1938/39 wurde den Geistlichen untersagt, Religion an den öffentlichen Schulen zu unterrichten. Auch
Schulen und Kirchen mussten die Hakenkreuzfahne hissen.

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Die Partei führte auch einen Propagandafeldzug gegen die Kirche. Höhepunkt war „Der Mythus des 20.
Jahrhunderts“ von Rosenberg, dem Parteiideologen. Seine Sicht des Christentums ist eine Karikatur,
durch die Brille des Nationalsozialismus. Christus ist auch ein Arier, sein Anliegen wurde durch den
Juden Paulus verfälscht. Dadurch mutierte das Christentum von einer Herrenreligion zu einer Religion
des Mitleids, der Nächstenliebe und der Schwächlichkeit. Es gilt diese Religion wieder zur ursprüngli-
chen Reinheit zurückzuführen.
Der Mythus wurde 1936 auf den Index gesetzt, es entstand eine Anzahl von Widerlegungen und Ge-
genschriften, die es mühelos als Hirngespinst ohne Substanz entlarvten. Bischof Clemens Graf von
Galen aus Münster initiierte einen Sammelband, der diese Widerlegungen enthielt.
Es kam auch zu körperlicher Verfolgen prominenter Kritiker. Gerlich wurde schon erwähnt. Er war
Agnostiker, aber durch eine Begegnung mit Resl von Konnersreuth war er so beeindruckt, dass er sich
bekehrte und Katholik wurde. Er gründete den „Geraden Weg“. Er erkannte das Wesen des Nationalso-
zialismus, kritisierte entsprechend und war daher auf der Abschussliste der Nazis. Als beim Röhm-
Putsch einige innerparteiliche Kritiker beseitigt wurden, wurden auch andere Kritiker verhaftet. So ka-
men auch einige Katholiken ums Leben. Trotz der Öffentlichkeit der Morde gab es keinen Protest des
katholischen Episkopats.
Die Geistlichen standen ebenfalls im Zielfeuer. Sie wurden kriminalisiert. 1935-1937 achtete man ver-
stärkt auf den katholischen Klerus. Es wurde eine große Diffamierungskampagne gestartet, die in den
Devisen- und Sittlichkeitsprozessen öffentlichkeitswirksam inszeniert wurde. Der Klerus sei korrupt
und sittlich verwahrlost. Anlass der Prozesse waren Ermittlungen gegen eine franziskanische Laien-
kongregation in Waldbreitbach (Rheinland-Pfalz), wo es zu Fällen von Homosexualität gekommen ist.
Die Nazis machten daraus einen großen Prozess. Man warf dann unbescholtenen aber unliebsamen
Priestern etwas in der Art vor. Bei den meisten Prozessen gab es keine Anhaltspunkte für Beschuldi-
gungen.
Ein Historiker schrieb, dass das NS Regime 1935-1937 den Kampf gegen die Kirche als den Wichtig-
sten wertete. Das würde zu dem passen, dass die Nazis den Katholizismus als einen der Hauptgegner
ausgemacht hatten.
Eine Studie aus 1996 ergab, dass während des 3. Reiches über 38.000 repressive Aktionen gegen ka-
tholische Kleriker geschehen sind. 40% davon gingen gegen die Ausübung des Amtes (Predigt, Seel-
sorge). Für politische Äußerungen in der Predigt wurde man oft interniert. es gab viele Spitzel. Der
„Hetzparagraph“ wurde dann während des Krieges ab 1940 noch sehr viel virulenter. Viele Pfarrer
wurden inhaftiert und ins KZ gebracht. Diese hohen Zahlen zeigen, dass der normale Pfarrklerus den
Nazis weitgehend unerschrocken und mutig gegenüberstand. Ein alleinstehender Pfarrer musste wenig
Rücksicht auf eine Familie nehmen. Ein Bischof hatte es allerdings schwieriger, weil er mehr Unterge-
bene hatte. Es gelang den Nazis nicht, eine Gleichschaltung des katholischen Bevölkerungsanteils zu
erreichen. Die sichtbare Ausübung des Glaubens wurde vom Regime als Widerstand gewertet, der ver-
folgt werden konnte. Schon eine Nichtteilnahme reichte aus.
Behinderungen von Gottesdiensten und kirchlichen Verrichtungen
Die Fronten zwischen Partei und Kirche prallten meist vor Ort zusammen. Verbote von Gottesdiensten,
Prozessionen und Wallfahrten. Bekämpfung der kirchlichen Jugend. Anzeigen des Klerus. Die Gottes-
dienstverbote wurden nach Kriegsbeginn sehr willkürlich gehandhabt. Es durfte kein Gottesdienst nach
nächtlichem Bombardement stattfinden, auch nicht während Parteiveranstaltungen. All das bewirkte
aber besonders in den ländlichen Gebieten genau das Gegenteil. Das katholische Milieu rückte noch
enger zusammen. Die Erfahrung der Verfolgung festigte den Zusammenhalt. Diese Solidarität stärkte
dem engagierten Klerus den Rücken.
Unter diesen Vorzeichen äußerte sich der Protest und der Widerstand gegen das Regime darin, sich
intensiver am kirchlichen Leben zu beteiligen. Die Parteiideologen verstanden, dass man sich der
Gleichschaltung damit entzog. Entgegen allen Urteilen war das Widerstandspotential nicht gering.

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Hitler verstand es, sich aus dem schmutzigen Tagesgeschäft herauszuhalten und so den Eindruck zu
erwecken, dass er von den Ausschreitungen nichts wusste. Gern präsentierte er sich dann als mäßigend
eingreifend. Das war aber nur Bestandteil der Strategie. Mit Blick auf die Kirche wurde Hitler nicht
müde, den Kampf gegen den Bolschewismus zu betonen. Damit kam man bei der Kirche gut an. In
Wirklichkeit drängte er aber darauf hin, dass die katholische Kirche ihren gesellschaftspolitischen Gel-
tungsanspruch aufgeben sollte. Ein Einlenken erfolgte nur um die Gleichschaltung voranzutreiben, die
er im Volk für seine Kriegspläne brauchte.
Haltung von Episkopat und Kurie
Die Hierarchie umfasste 25 Bischöfe, die bei der Machtergreifung überaltert waren. Sie waren auf den
Umgang mit einem totalitären Regime nicht vorbereitet. Sie sorgten sich am meisten darum, einen neu-
en Kulturkampf zu verhindern, man wollte keine neue Ghetto-Situation. Es legte sich ein vorsichtiges
Entgegenkommen nahe, ohne die Grundsätze über Bord zu werfen. Es gab aber Unterschiede zwischen
den Bischöfen. Vor Kriegsausbruch wurden zwei Bischöfe verhaftet. Einer war Petrus Legge aus Mei-
ßen, dem man Devisengeschäfte vorwarf. Es war in der Tat so, dass sich das Bistum Meißen unter dem
Vorgänger von Legge in den Niederlanden hoch verschuldet hatte. Legge zahlte das Geld zurück, sei-
nen Beamten dürfte dabei aber ein Fehler unterlaufen sein, man unterrichtete das Außenwirtschaftsamt
nicht. Die Nazis nutzten das aus, man wolle wertvolle Devisen außer Landes bringen. Auch Orden die
Missionen hatten bekamen Probleme. Als 1933 die Nazis an die Macht kamen wurde ein Katholikentag
in Wien angesetzt. Die Nazis wollten den Zulauf verhindern, in dem jeder der das Reich verließ 1000
Reichsmark Sicherheitsgebühr hinterlegen musste. Das konnten viele nicht bezahlen. Mit den Prozes-
sen bereicherten sich die Nazis aber auch in schamloser Weise.
Aus Rottenburg wurde 1938 Bischof Johann Baptist Sproll verhaftet, weil er sich nach dem Anschluss
Österreichs nicht an der Volksabstimmung beteiligt hatte. In Österreich war es 1938 der Grazer Bischof
Pawlikowsky, der im Zuge des Anschlusses kurz inhaftiert wurde.
In Deutschland gab es zwei große Bischofskonferenzen: in Fulda (größerer Teil des Reiches) und in
Bayern. In der Fuldaer Bischofskonferenz herrschten zwei Fraktionen vor, die unterschiedliche Vor-
gangsweisen im Umgang mit Partei und Regierung favorisierten. Eine Fraktion wurde von Kardinal
Adolf Bertram, Erzbischof von Breslau geführt (Vorsitzender der Bischofskonferenz), die Anderen
sammelten sich um den jüngeren Bischof von Berlin, Konrad Graf von Preysing, der vorher Bischof
von Eichstätt war. Dort war er mit Pacelli bekannt geworden (als dieser Nuntius war).
Kardinal Bertram vertrat eine hartnäckige „Eingabepolitik“, welche eine direkte Konfrontation und die
gezielte Mobilisierung der Katholiken vermeiden wollte und in stillem Protest Eingaben machte. So
machte man es in der Weimarer Republik, allein hier waren es andere Gegner. Die Erfolglosigkeit die-
ser Eingabepolitik war der anderen Fraktion in der Bischofskonferenz ein Dorn im Auge. Preysing
setzte auf mutigeres und entschiedeneres Vorgehen, die Basis sollte mobilisiert werden. Er konnte sich
aber nicht durchsetzen. Zwischen beiden Fraktionen kam es ab 1937 zu immer häufigeren Kontrover-
sen über den Kurs, was ein gemeinsames Vorgehen verhinderte. Bis zum Ende des Krieges konnte man
sich nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen, was viel Energie kostete und der Reaktion der Kirche
nicht zugutekam. Die Mehrheit der Bischöfe hielt zu Bertram. Damit unterbleiben wichtige Stellung-
nahmen und Reaktionen, die den Pfarrern klarere Signale hätte geben können.

11.3.3 Der „Anschluss“ Österreichs 1938


Die österreichischen Bischöfe verurteilten noch im November 1937 in einer Solidaritätsadresse an den
deutschen Episkopat vehement die Kirchenpolitik der Nazis. Umso erstaunlicher ist es, dass Erzbischof
Innitzer nach dem Anschluss zu einem Dankgebet für die ohne Blutvergießen erfolgt Okkupation auf-
rief. Er ließ auch die Kirchenglocken läuten. Am 15. März machte er Hitler seine Aufwartung. Im Aus-
land erregte das Befremden, auch angesichts der bevorstehenden Volksabstimmung über den freiwilli-
gen Anschluss. In einer gemeinsamen Erklärung haben die Bischöfe versucht die Beziehungen von
Staat und Kirche so zu formulieren, dass eine Koexistenz auf kleinstem gemeinsamem Nenner möglich

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

würde. Die Bischöfe haben diese Erklärung aber nur unter massivem Druck abgegeben, der Text wurde
gar vom damaligen Gauleiter vorgegeben. Die Bischöfe wussten nicht, dass die Nazis das später als
Wahlplakat verwenden würden, samt der Unterschrift „Heil Hitler“ von Kardinal Innitzer. Text der
Erklärung siehe Materialblatt. Man hätte sich dennoch gewünscht, dass die Bischöfe mehr Rückgrat
gezeigt hätten. Man hätte wissen müssen, mit wem man zu tun hat.
War diese Erklärung schon erstaunlich genug, so war noch erstaunlicher, dass Innitzer an den Gauleiter
eine Erklärung schickte, in der er meinte, dass eine gute Zusammenarbeit folgen würde. Dafür gab es
Proteste in Deutschland, Österreich und Tadel vom Papst. Die österreichischen Bischöfe wussten, dass
sie eine Gratwanderung machten und sie sich nicht mit Ruhm bekleckerten. Bekannt ist der Ausspruch
des Salzburger Erzbischofs am Abend dieses Tages: „wir waren alle keine Helden“.
Der Papst zitierte Innitzer erzürnt nach Rom, es folgte eine Ergänzung zur Märzerklärung des österrei-
chischen Episkopats, die aber nicht so verbreitet wurde. Innitzers Reaktion muss als naiv bewertet wer-
den. Sympathien für die Nazis kann man ihm aber nicht unterstellen. Er hatte Kontakt zu den Eliten des
Ständestaates, die aber alle abgesetzt und verhaftet wurden. Innitzer war auch nie Antisemit. Als Rektor
der Wiener Universität hat er bereits im Juni 1929 jüdische Studenten vor Ausschreitungen und Angrif-
fen so energisch in Schutz genommen wie kein anderer Rektor in der Zwischenkriegszeit. Bei den Na-
zis galt er schon damals als Judenfreund. Nur kurze Zeit nach dem Fauxpas beim Anschluss geriet er in
den Fokus der aggressiv gegen die Kirche vorgehenden Nazis und ihrer Verbände. Am 07.10. 1938 rief
er zum Rosenkranzfest in den Stephansdom. Ca. 8000 Teilnehmer folgten dem Aufruf. Einen Höhe-
punkt erreichte die Feierstunde, als man „Ein Haus voll Glorie schauet“ sang. Vor allem die 2. Strophe
wurde bewusst als Abgrenzung verstanden. Die Ansprache mit dem Ruf „Christus ist euer Führer“ rief
Ovationen hervor. Am nächsten Tag stürmten Randalierer das erzbischöfliche Palais, Innitzer konnte
vorher flüchten. Die Beschädigungen waren groß, ein Sekretär des Kardinals wurde schwer verletzt
nach einem Fenstersturz. Auch anderswo mehrten sich Übergriffe. Die Nazis billigten Österreich nicht
zu Bestandteil des Konkordats zu werden, das in Deutschland galt. Das österreichische Konkordat von
1933 wurde aber auch für ungültig erklärt.

11.3.4 Die Politik des Hl. Stuhls gegenüber dem Nationalsozialismus


Antworten des Papsttums. Am wichtigsten war das Mahnschreiben „Mit brennender Sorge“. Es ist das
einzige offizielle päpstliche Dokument, das auf Deutsch abgefasst wurde. Das Schreiben wurde von
den deutschen Bischöfen beim Papst erbeten. Der Text trägt die Handschrift des Erzbischofs Faulhaber,
ein Ad limina Besuch von fünf Bischöfen im Jänner 1937 führte zu diesem Ergebnis (Bertram, Schulte
von Köln, Faulhaber von München, Preysing von Berlin, Galen von Münster).
In einer Auflage von über 300.000 Stück gedruckt wurde das Schreiben „Mit brennender Sorge“ un-
bemerkt von Polizei und Gestapo verteilt und am Palmsonntag (21. März 1937) von 11.500 Kanzeln
verlesen. Ein großer strategischer Erfolg. Erst am Samstag vor dem Palmsonntag fiel dem Sicherheits-
diensthauptamt ein Exemplar in die Hände. Die Verlesung und Verbreitung konnte aber nicht mehr
verhindert werden.
Die Veröffentlichung war auch geschickt gewählt, weil der Papst nur fünf Tage zuvor Kommunismus
und Bolschewismus in „Divini redemptoris“ verurteilt hatte. Der Papst grenzte sich gegen zwei radika-
le Ideologien ab, man konnte ihn nicht der Einseitigkeit verdächtigen. Der Nationalsozialismus wurde
als genauso gefährlich wie Kommunismus und Bolschewismus dargestellt. Das Schreiben hütete sich
aber, Länder oder Vertreter beim Namen zu nennen. Verurteilt wurden die Rassenideologie des Natio-
nalsozialismus sowie die Vergötterung von Staat, Volk und Rasse. Es wendete sich auch gegen den
Vernichtungskampf gegen die Kirche. Auch evangelische Christen nahmen das Schreiben dankbar auf,
womit es zu einem ökumenischen Dokument wurde. Man erkannte die gemeinsamen Wurzeln. Der
Aufschwung des Ökumenismus nach dem Krieg hat hier einen Grund.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Die Antwort der Nazis kam schnell. Die 13 Druckereien, die das Schreiben hergestellt hatten, wurden
geschlossen und enteignet. Es gab eine Menge Racheakte. Erst als sich Hitler verstärkt der Außenpoli-
tik widmeten, konnten die Kirchen wieder ein wenig aufatmen.
Als Pius XI. am 10. Februar 1939 starb, war niemand überrascht, dass Kardinalstaatssekretär Pacelli als
Pius XII. folgte. Er kannte die deutschen Verhältnisse wie kein anderer an der Kurie.

11.3.5 Die Kirche im Krieg


Als der totale Krieg ausbrach, war die nationale Begeisterung nicht so wie 1914. Es gab aber auch kei-
ne nennenswerten Proteste gegen den Krieg. Hitler rechnete mit der Solidarität und Loyalität der Be-
völkerung in Kriegs- und Krisenzeiten, unabhängig wie gerechtfertigt der Krieg sei. Beide Kirchen
anerkannten im Krieg das Recht eines Staates auf Selbstverteidigung und wurden damit blind für die
Unterschiede zwischen einem gerechten Krieg und den tatsächlichen Kriegsmotiven der Nazis. Die
Rechtmäßigkeit wurde von den Kirchen ebenso wenig in Frage gestellt wie die Loyalität, die Armee,
Heerführung und Regierung in dieser Situation beanspruchen durften. Der Krieg und die frühen militä-
rischen Erfolge brachten zusätzlichen Rückhalt in der Bevölkerung. Die Kirche versagte auch Kriegs-
dienstverweigerern die Unterstützung (Jägerstetter, P. Reinisch). Die Einsicht erfolgte sehr spät, dass es
eine Widerstandspflicht gibt und dass der bedingungslose Gehorsam Grenzen hat. Die Kriegsjahre
wurden teilweise als Burgfrieden zwischen Kirche und NSDAP bezeichnet, was so nicht ganz stimmt.
Es gab freilich ein Abflauen der Schikanen, aber die Maßnahmen gegen Kirche und Christentum wur-
den während des Krieges fortgesetzt. 1941, am Höhepunkt seiner militärischen Erfolge, vertraute Hitler
seiner Umgebung an, dass die Lösung des Kirchenproblems gleich nach dem Endsieg in Angriff ge-
nommen werden würde.
Reichspropagandaminister Goebbels urteilte mit Blick auf die evangelischen Kirchen, dass die Bemü-
hungen des Reichskirchenministers zwar auf eine Konservierung des Protestantismus zielten, die Par-
teispitze diesen aber eliminieren würde. Diese Absicht der Nazis stand Bischof Preysing vor Augen, als
er im März 1941 schrieb, dass das Ziel der christentumsfeindlichen Kreise der Partei die Liquidierung
des offenbarungsgläubigen Christentums ist.
Im Schatten des Krieges setzte das Regime nun auch das menschenverachtende Tötungsprogramm um.
Zunächst den tausendfachen Mord von behinderten Personen, das Euthanasie-Programm. Es war nur
ein Probelauf für die systematische Judenvernichtung, die sich unter größter Geheimhaltung vor allem
in den Ostgebieten abspielte. Bischof Preysing erinnerte in einem Hirtenbrief vom 6. Juli 1941 an die
Gewissenspflicht, die sich aus dem Dekalog ergibt. Die Mordprogramme der Nazis wurden damit de-
maskiert. Die moralische Rechtfertigung des Krieges blieb aber unhinterfragt, auch mit Rücksicht auf
die katholischen Soldaten an der Front, die man nicht zusätzlich in Gewissensnöte stürzen wollte.
Ab ca. 1940 wurden Behinderte als lebensunwertes und minderwertiges Leben ermordet. Man schätzt
zwischen 70.000 und 200.000 Opfer. Beide Kirchen protestierten dagegen, vorerst ohne Ergebnis. Erst
als die Beunruhigung in der Bevölkerung darüber zunahm und Hitler öffentliche Proteste fürchten
musste, wurde das Programm eingestellt. Zur Mobilisierung der Gläubigen trugen auch die berühmten
Brandpredigten bei, die der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, hielt. Er verurteilte
die Euthanasie in scharfen Worten und drohte Strafanzeige wegen Mordes zu stellen.
Eine weitere Maßnahme der Nazis während des Krieges war ab Herbst 1940 der Klostersturm. Katholi-
sche Klöster wurden in großer Zahl konfisziert, die dazugehörigen Konvente aufgelöst. In Deutschland
waren ca. 300 Einrichtungen betroffen, in Österreich wurden von 31 Männerstiften 22 aufgehoben. Es
ging dabei auch um die persönliche Bereicherung der Nazigrößen. Der Vorwand für die Aktionen war,
volksdeutschen Rücksiedlern Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Der Widerstand im Volk wuchs
jedoch bedenklich an, Hitler erließ einen Stopp.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Von der Schließung waren auch die katholischen Schulen und Fakultäten betroffen. Z.B. München
1939. Innsbruck, Salzburg und Graz wurden in den Monaten nach dem Anschluss geschlossen. Wien
konnte sich halten.

Die Rolle von Preysing und des Widerstandes während des Krieges
Als wichtiges Mittel um Aktionen unter den Katholiken in Deutschland abzusprechen und auch ge-
schlossener gegen den NS-Staat auftreten zu können, gründete Bischof Preysing einen „Ordensaus-
schuss“. Das war ein Deckname für eine Gruppe, die sich seinen Vorstellungen eines Widerstandes
anschloss. Darin fanden sich die kritischsten Stimmen des deutschen Katholizismus zusammen, die
sich ein entschiedeneres Auftreten der Bischöfe gegen jede Form von Menschenrechtsverletzungen
wünschte. Der Ordensausschuss hatte weitverzweigte Kontakte und wurde ein wichtiges Informations-
organ für die deutschen Bischöfe. Der Ausschuss versorgte auch den Vatikan mit Informationen, wie
auch die Kurie die deutschen Bischöfe immer wieder informierte, was tatsächlich im Osten vorging.
Mitglieder waren u.a. die Jesuiten Augustin Rösch und Alfred Delp. Aber auch diese Gruppe konnte
den deutschen Episkopat zu keinem einheitlicheren und entschiedeneren Vorgehen bewegen. Es gelang
jedoch im November 1941 eine gemeinsame Denkschrift der katholischen Bischöfe und von Teilen der
evangelischen Kirche zu verfassen. Man verzichtete auf eine Veröffentlichung des Textes und über-
brachte es stattdessen der Reichskanzlei. Nachdem keine Antwort erfolgte, wurde die Denkschrift im
März 1942 in zahlreichen süddeutschen Kirchen von den Kanzeln verlesen.
Das letzte gemeinsame Hirtenwort der Fuldaer Bischofskonferenz war der Dekaloghirtenbrief vom
August 1943. Verfasst wurde es vom kurz zuvor ernannten Kölner Bischof Frings. Gespaltenheit gab es
auch hier. Bertram unterschrieb nicht, weil er die Reaktionen fürchtete. In seiner Abwesenheit wurde
das Hirtenwort dennoch verfasst und die Verlesung beschlossen. Die Judenvernichtung wurde – wenn
auch verschlüsselt – angesprochen.

11.3.6 Kirche und Judenverfolgung


Die Debatte wird bis heute höchst kontrovers geführt. Wie bei keinem anderen kirchenhistorischen
Problemfeld liegen Schuld, Verantwortung, Unschuld und Verdienst so eng zusammen wie hier. Die
Kirche hat sich an der Verfolgung und Ermordung der Juden nicht beteiligt. Weithin anerkannt ist, dass
es seitens der Kirche Kritik am Nationalsozialismus und an der Rassenideologie gab. Umstritten ist das
Maß der Verantwortung, das Christen wahrgenommen haben oder auch nicht, und die Rolle des jahr-
hundertealten christlichen Antijudaismus und Antisemitismus, der in der einen oder anderen Weise
auch nach Auschwitz führte. Heute bemüht man sich, ein differenzierteres Bild zu zeichnen. Mit Blick
auf das Anwachsen und der Verbreitung des Antisemitismus in den 1920ern zeichnen sich vier grobe
Sichtweisen des Verhältnisses von Katholiken zum Judentum ab:
- Indifferenzthese. Katholiken waren weder prinzipiell judenfreundlich noch judenfeindlich,
vielmehr seien ihnen Juden weithin egal gewesen.
- Realkonfliktthese. Die antijüdische Einstellung wird damit erklärt, dass aufgrund der sozialen
Konflikte (v.a. Wirtschafts- und Währungskrise) antisemitische Einstellungen zunahmen, weil
man das Judentum weithin mit den Gewinnern der Wirtschaftspolitik identifizierte (das Juden-
tum war zum großen Teil im liberalen Bürgertum beheimatet). Die Juden wurden zum Sünden-
bock für die gesellschaftspolitischen Entwicklungen gemacht.
- Endogener katholischer Antisemitismus. Das wurde bisher nur von Olaf Blaschke vertreten, und
fand keine Anhänger. Der Antisemitismus sei notwendig gewesen für die Stabilisierung des ka-
tholischen Milieus. Die Juden als Sündenbock oder Antipodium, um das katholische Milieu zu
erhalten.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

- Ambivalenzthese. Sie bekommt die größte Zustimmung. Die Katholiken lehnten zwar den Ras-
senantisemitismus der Partei ab, waren aber einem besseren, christlichen Antisemitismus
durchaus aufgeschlossen, der eine Assimilation der Juden durch Taufe und Übertritt zum Chri-
stentum anstrebte. Der Jude ist nicht schutzwürdig, sondern ein noch nicht realisierter Christ.
Das stellt schon einen Antisemitismus dar. Diese These scheint am Plausibelsten. Es ist aber im
frühen 20. Jh. konstant eine fehlende Solidarität der Katholiken mit verfolgten Juden zu bemer-
ken. Wenn sich die Kirche gegen eine Verfolgung von Juden geäußert hat, protestierte man ge-
gen die Verfolgung von Christen jüdischer Abstammung. Man protestierte niemals direkt gegen
die Verfolgung der Juden als Rasse.
23.06.2009
Die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Judentum ist so alt wie die Kirche selbst. Die Diskussi-
on über den Anteil der Kirche am Antisemitismus ist ebenso alt. Es kam zu einer Zuspitzung im 20. Jh.
Das Problem ist nicht lösbar, es gilt ein Verständnis zu erzielen, das der Lage gerecht wird. Will man
den Anteil, die Verantwortung, die Schuld des Christentums an der Shoah bemessen, so muss man un-
terscheiden aus welchen Wurzeln sich der Antisemitismus speiste. Es gab schon seit der Urkirche einen
Antijudaismus. Die Reichskirche übte in der Folge eine Dominanz aus. Der Antijudaismus, der theolo-
gische Wurzeln hatte, entwickelt sich aus der Reaktion des Judentums auf Kirche und Christentum und
umgekehrt. Der Antisemitismus hat rein biologische pseudowissenschaftliche Wurzeln.

Exkurs: Wurzeln des Antisemitismus im späten 19. Jh.


Wenn man ein Datum sucht, an dem der neuzeitliche Antisemitismus beginnt, dann lassen sich die Jah-
re 1871, 1873 finden. Das Deutsche Reich formiert sich als geeintes Reich, es gibt eine Wirtschaftskri-
se, wo man Sündenböcke gesucht hat. Es kommt aber auch zum Anwachsen der völkischen Bewegung,
in der Rasse und Nation die definierenden Größen eines gesellschaftlichen Wertekonsenses werden.
Diese Bewegung geht auf den Kulturphilosophen Paul de Lagarde zurück. Sie konzentriert sich auf den
religiös verstandenen Gedanken, dass Volk und Nation von Gott gesetzte Werte sind. Daraus ergibt
sich die Lehre vom Volksnomos, dem Volksgesetz. Jede Nation entspreche einer bestimmten göttlichen
Idee, damit ist das Gottesgesetz auch das Volksgesetz. Von da war es nur ein kleiner Schritt zum Sozi-
aldarwinismus, der die arischen Gemeinschaften an die Spitze der Rassenhierarchie stellte. Die germa-
nische Rasse als die Herrenrasse.
Die völkische Bewegung griff viele teils einander widerstreitende Elemente auf und schuf so einen
weltanschaulichen Synkretismus. Nach dem Ende des 1. Weltkriegs setzte er sich durch, als die gesell-
schaftliche Krise stärker dazu kam. Man wollte eine Revision der Friedensverträge von Versailles er-
reichen. Man begriff die Bewegung als antipazifistisch. Mythisch-romantische Formen von Volkstum
und Nation. Der Antisemitismus war die Kehrseite. Die Juden als Verfälscher des Arischen. Alles was
fremd empfunden wurde, wurde ausgegrenzt, man igelte sich ein.
Durch die Gründung der Antisemitenliga 1878 verschärfte sich die antisemitische Grundhaltung im
Kaiserreich. Der protestantische Berliner Hofprediger Adolf Stoecker entfaltete zur selben Zeit seine
antisemitischen Agitationen. Er gründete auch eine politische Partei, die Christlich-Soziale. Er trug
dazu bei, den Antisemitismus im Bürgertum hoffähig zu machen. Im akademisch-intellektuellen Be-
reich betrieb das der Historiker Heinrich von Treitschke. Die starke antisemitische Stimmung in Berlin
produzierte auch erste kritische Reaktionen. Der Althistoriker Theodor Mommsen lieferte sich mit
Treitschke einen erbitterten Streit, den sogenannten „Antisemiten-Streit“. Der Deutschnationalismus
profilierte sich zunehmend durch einen unterschwelligen aber konsequenten Antisemitismus und berei-
tet den Boden für einen Nationalismus, der sich vorrangig der rassischen Betrachtungsweise hingab.
Neben Berlin wurde auch Wien ein Zentrum des Antisemitismus, mit dem Unterschied dass er in Wien
katholisch und nicht protestantisch geprägt war. Bekanntester Vertreter war Bürgermeister Karl Lueger,
der sich in wirtschaftlich schwerer Zeit zum Sprecher von Kleingewerbe und Handwerkern machte und
gegen den jüdischen Liberalismus und das Hochkapital polemisierte. Wien sah in den letzten Jahrzehn-

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

ten des 19. Jh. nicht nur eine erhebliche Zunahme der jüdischen Bevölkerung (1857: 1% Juden in
Wien; Anstieg auf ca. 9% 1910). Viele Akademiker stammten aus dem Judentum, 1880 waren fast 40%
der Hörer an der medizinischen Fakultät Juden, bei der Jurisprudenz waren es über 20%. Zu Beginn des
1. Weltkrieges waren ein Drittel aller Hörer an der Fakultät Wien Juden. Der politische Katholizismus,
der sich in jenen Jahren formierte, nahm auf diesem Hintergrund dezidiert antisemitische Elemente auf.
Hitler war von dieser Strömung damals beeindruckt.
Im protestantischen Berlin lebten zu Beginn des 1. Weltkrieges nur 4% Juden. Dort hielt der Antisemi-
tismus einen schärferen Einzug in Kirche und Theologie. Der völkische Synkretismus, in dem Theolo-
gie, Reichstheologie und Antisemitismus in eins flossen, wurde nach 1918 vor allem von den bekann-
ten Theologieprofessoren Paul Althaus und Emmanuel Hirsch in der akademischen Welt Preußens ver-
breitet. Es gab in der evangelischen Kirche aber auch warnende Stimmen, die sich vom Antisemitismus
auf theologischer Grundlage distanzierten.
Der Antisemitismus der NSDAP beruhte von Anfang an auf einer perversen Rassenideologie. Die jüdi-
sche Rasse sei ein schädlicher Fremdkörper im deutschen, arischen Volk, den es im Sinne des Volks-
wohles auszumerzen galt. Es gibt eine Linie von der pseudowissenschaftlichen Rassenbiologie der völ-
kischen Bewegung im 19. Jh. hin zum Nationalsozialismus. Die Nazis erklärten den Antisemitismus
zur Staatsdoktrin, es wurde in dieser Hinsicht nichts mehr verschleiert (anders als bei der Verfolgung
der Kirchen).
Im April 1933 führt man erste staatliche antisemitische Maßnahmen ein, das Gesetz zur Neuordnung
des Berufsbeamtentums, im Volksmund bald „Arierparagraph“ genannt. Den Juden wurde jede öffent-
liche Anstellung untersagt, sie wurden aus Schulen und Universitäten entfernt. Davon waren auch Per-
sonen betroffen, die selbst oder deren Vorfahren bereits zum Christentum übergetreten waren. Es war
ein biologischer, kein theologischer Rassismus. Diese Maßnahme war auch der Anfang des traurigen
Exodus von Akademikern und Intellektuellen aus Deutschland und Österreich nach den angelsächsi-
schen Ländern.
Weitere Wegmarken der Rassenpolitik der Nazis waren die Nürnberger Gesetze 1935, die unter ande-
rem die Ehe zwischen Ariern und Nichtariern untersagten. Schließlich die Novemberpogrome 1938
(Reichskristallnacht), in der zahllose Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen zerstört wurden.
Ab 1939 bestand die Pflicht zum Tragen des Judensterns.
Die Zurückweisung der nationalsozialistischen Rassenideologie durch die Kirchen war lau, selten,
weithin halbherzig. Die zögerliche Haltung der Bischöfe haben wir bereits gesehen. Mit wenigen Aus-
nahmen (Preysing, Innitzer) wichen die Bischöfe der Frage in der Öffentlichkeit aus. Noch in den spä-
ten Kriegsjahren konnte sich Kardinal Bertram nicht dazu durchringen, die Judenvernichtung in einem
Hirtenbrief anzuprangern. Der wenige Protest in beiden Kirchen gegen die Rassengesetzgebung zielte
nicht auf die Ungerechtigkeit der Anordnungen selbst, sondern auf die Nachteile der Christen, die sich
aus den Gesetzen ergaben. Es gab aber auch selbstlose und gefährliche Hilfeleistungen. Die Arbeit der
Hilfsstelle für nichtarische Katholiken, die Kardinal Innitzer 1940 unter seinen Schutz stellte, verlangt
Respekt ab. Die Hilfsstelle wurde auf die Initiative zweier Jesuiten (Born, Pichelmayer) hin gegründet,
sie fand Unterkunft im erzbischöflichen Palais und konnte bis zum Kriegsende wirken.
Bischof Preysing in Berlin richtete ebenfalls eine solche Hilfsstelle ein. Vor allem der mutige Dom-
probst Bernhard Lichtenberg trug dafür Sorge. In Predigten in Berlin hat er die Judenverfolgung als
menschliches Verbrechen verurteilt. Zu keiner Zeit ging er Kompromisse mit den Machthabern ein. Er
wurde ins KZ eingeliefert und starb in den letzten Kriegswochen.
Preysing trieb auch den Episkopat an, die Stimme gegen die Judenvernichtung zu erheben. Die Bischö-
fe konnten sich aber nicht einigen, der Protest unterblieb. Auch von Bischof Galen aus Münster weiß
man, dass er 1938 nach der Reichskristallnacht gegen die Verfolgung protestieren wollte, aber angeb-
lich hielt ihn die örtliche Judenschaft davon ab, weil man eine Eskalation der Situation befürchtete.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Kann man ein Resümee über die Haltung der Kirchen zur Judenverfolgung in der NS-Zeit ziehen? Ein
abschließendes Bild ist noch nicht möglich, wir sind noch zu nahe dran. Aber einige Einsichten kann
man festhalten.
- Inwiefern wussten die Bischöfe von den tatsächlichen Vorgängen der Vernichtung? Die Nazis ha-
ben die große Judenvernichtung unter höchster Geheimhaltung durchgeführt, verborgen blieben sie
aber nicht. Als Informationskanäle dienten die Nuntien, die gute Kontakte nach Polen hatten. Die
ganze Bevölkerung wusste es wohl nicht im ganzen Ausmaß.
- Die Kirchen hatten angesichts der Verfolgungssituation die Befürchtung als zu judenfreundlich zu
gelten und damit eine eigene Gefährdung zu riskieren.
- Die geschlossenen Milieus, in denen sich vor allem die Katholiken befanden, nahmen die Juden als
Gruppen nicht wahr (vor allem auf dem Land). Dazu kam, dass es wegen der Überrepräsentation
der Juden in höheren Stellungen Neid und Missgunst gab.
- Viele assimilierte Juden neigten eher dem Sozialismus und Liberalismus zu, wo sie am ehesten ih-
re politische Heimat fanden. Damit wurden die Juden noch in der Weimarer Zeit zu politischen
und weltanschaulichen Gegnern.
- Man muss auch einen religiösen Antijudaismus nennen, der Vorbehalte immer auch genährt hat.
Die Rhetorik in der Kirche, in der Liturgie, im Religionsunterricht. Es wurden Haltungen erzeugt.
Das verstockte Volk, die Gottesmörder, … das hat sicher eine Zwischenzone zwischen religiösem
und rassischem/biologischem Antisemitismus geschaffen. Man kann es einen soziokulturellen An-
tisemitismus nennen.
- Die Katholiken waren weithin der Ambivalenzthese verhaftete. Den rassischen Antisemitismus
lehnte man ab, aber man war aufgeschlossen für einen besseren christlichen Antisemitismus, der
den Juden die Möglichkeit zum Übertritt gab. Aber auch diese These muss man in den nächsten
Jahren noch überprüfen, vor allem anhand von Einzelfällen.

11.3.7 Der „Stellvertreter“: die Kontroverse um Pius XII.


1963 erschien ein Theaterstück von Rolf Hochhuth. Seit diesem Drama mit dem Titel „Der Stellvertre-
ter“ hat sich eine Bewertung Pius XII. und der Kirche durchgesetzt, die der katholischen Kirche ein
Versagen in den Jahren der NS-Zeit vorwirft. Die Leute nahmen ein Theaterstück als historische Gege-
benheit hin. Nach der These von Hochhuth spiegelt sich das Versagen der Kirche im Versagen ihrer
Führer. Stellvertreter nicht nur Christi, sondern eines Versagens.
Die Einstellung der Päpste zur Judenverfolgung darf man nicht losgelöst von der politischen Bewer-
tung der NS-Regierung durch diese Päpste durchführen. Bischöfe und Päpste sahen lange Zeit in
Kommunismus und Bolschewismus die größere Gefahr für die Kirche. Diese Sicht wurde in der Kurie
und bei den meisten Bischöfen schnell korrigiert, als ab 1933 auch die Verfolgung der Kirche begann.
Die aggressiv einsetzende Verfolgung der Juden stellte die Kirche vor neue Entscheidungen. Viele
Menschen wandten sich an den Papst und baten um eine Intervention. Berühmt ist der Brief von Edith
Stein 1933 an den Papst. Sie hatte aufgrund des Arierparagraphen ihre Stelle als Dozentin verloren und
trug sich mit dem Gedanken, in den Karmel in Köln einzutreten. Sie hat auf diesen Brief keine Antwort
erhalten. Auch der Wiener Rabbiner Arthur Zacharias Schwarz wandte sich zur selben Zeit an den
Papst und bat um ein Machtwort. Auch er erhielt keine Antwort.
Trotz der inständigen Bitten aus aller Welt entschied sich der Papst gegen den öffentlichen Protest.
Man wollte 1933 die Verhandlungen über das Konkordant nicht gefährden. Aber auch in den Folgejah-
ren unterließ man eine Verurteilung. Pius XI. beauftragte allerdings das Hl. Offizium im Jahr 1935 eine
Verurteilung des Nationalsozialismus als Ideologie vorzubereiten. Die Arbeiten waren im selben Jahr
abgeschlossen, eine Veröffentlichung unterblieb aber. Vermutlich hielt der Papst die Veröffentlichung
zurück, weil Kardinal Faulhaber 1936 eine Unterredung mit Hitler hatte, aus der er die Hoffnung
schöpfte, dass das Verhältnis zwischen Kirche und Staat auf eine tolerantere Basis gestellt werde. Das
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war aber Wunschdenken. Die Bischöfe drängten dann 1936 selbst auf eine päpstliche Verurteilung der
NS-Ideologie, woraus „Mit brennender Sorge“ entstand. Die Rassenideologie und die Judenverfolgung
wurden darin nur verschlüsselt angesprochen, es ging darin mehr um die Verfolgung der Kirche.
1938 sollten Jesuiten im Auftrag des Papstes erneut eine Verurteilung erarbeiten, es ist unklar warum
das Ergebnis der Glaubenskongregation von 1935 nicht genügte. Pater Gundlach SJ arbeitete daran mit.
Sein Entwurf überbot die bisherigen Vorarbeiten und war so klar, dass die Frage damit jene Dimension
bekam, die sie verdient hat. Pius XI. zögerte aber erneut (wegen Gesundheitsproblemen?) mit der Ver-
urteilung und der Veröffentlichung.
Warum auch Pius XII. die Enzyklika zurückhielt, kann man heute immer noch nicht befriedigend be-
antworten (das Geheimarchiv des Vatikans ist erst bis zum Jahr 1939 zugängig). Die geläufigste Inter-
pretation unterstellt ihm zwar ein intensives Ringen um eine Antwort auf das Unrechtsregime, aber aus
Angst vor Gewalteskalation hat er auf ein öffentliches Wort verzichtet und sich auf konkrete Hilfe und
individuelle Unterstützung von Opfern konzentriert. Man darf daran zweifeln, ob die Enzyklika die
Verfolgung gemildert oder die Shoah verhindert hätte. Vielleicht hätte sie das Gewissen der Katholiken
beruhigt, gewiss wäre es ein Trost für die Juden gewesen, aber eine Wirkung war nicht absehbar.
Hat sich Pius XII. mit seinem Schweigen schuldig gemacht? Diese Frage verkennt die Komplexität der
Situation und der historischen Fakten. Die meisten unabhängigen Historiker bescheinigen dem Papst
ein richtiges Verhalten. Seine gesamte Politik zielte darauf hin, den Krieg abzukürzen und die Zahl der
Opfer gering zu halten. Dem Judentum war er gewogen und voller Mitleid. Es wird auch bezweifelt,
dass sein Wort eine so weitreichende Wirkung gehabt hätte.
Was in seiner Macht stand hat er getan. Er half in seinem unmittelbaren Einflussbereich Italien den
Juden tatkräftig. Das war auch nötig, weil Mussolini 1938 die Rassenideologie übernommen hatte und
mit der Deportation von Juden begann. Pius XII. ordnete an, dass man Kirchen und Klöster öffnen mö-
ge um Juden zu verstecken. Damit konnten rund 100.000 Juden gerettet werden. Diese Unterstützung
blieb aber auf Italien beschränkt.
Aus der katholischen Kirche selbst erwartete man sich ebenfalls Aktionen. Bischof Preysing von Berlin
drängte zu einem mutigen Wort. Pius XII. antwortete damit, dass er fürchtete, ein Protest würde nur
noch größeren Schaden anrichten. Er würde sogar die verborgenen Hilfeleistungen gefährden. Als Bei-
spiel wird dazu immer wieder der Protest der holländischen Bischöfe 1942 gegen die Judendeportatio-
nen genannt. Als Folge des Protestes verschärften sich die Deportationen. In dieser Welle wurde auch
Edith Stein deportiert. Damit verabschiedete sich Pius XII. vom Gedanken, eine Enzyklika zu schrei-
ben.
Pius XII. hat aber nicht geschwiegen, er hat bei zahlreichen Anlässen Kritik geübt. Es waren leise, aber
beharrliche Verurteilungen der Menschenrechtsverletzungen durch die Nazis. Betrachtet man seine
Diplomatie während der Kriegsjahre, zeigen sich verschiedene Motivationen:
- Er wollte einen Gewissenskonflikt für die Katholiken vermeiden. Eine Aufforderung zum Wi-
derstand hätte Probleme gemacht.
- Man hoffte, dass die Nazis das Konkordat nicht einseitig kündigen.
- Resignation angesichts der Wirkungslosigkeit der erfolgten Proteste.
Hinsichtlich der neutralen Haltung Pius XII. muss man zwischen politischer und moralischer Neutrali-
tät unterscheiden. Die politische Neutralität zwang ihn zur Gleichbehandlung und Zurückhaltung, es
war dies eine Maxime der Päpste seit Benedikt XV. Moralisch war Pius XII. niemals neutral.
Pius XII. nahm im Lauf des Krieges eine Wende hin zu den angelsächsischen Demokratien. Das bedeu-
tete einen Politikwechsel. An der Kurie hatte man bisher eher die monarchischen und autoritären Re-
gierungen unterstützt, weil man dort das eigene Anliegen besser aufgehoben sah. Das Papsttum griff
nun die Demokratie positiv auf.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Pius XII. sprach sich niemals für einen Krieg gegen die Achsenmächte aus, auch wenn man es von ihm
mehrmals gefordert hat. Er sprach sich auch nie für einen Krieg gegen den Kommunismus aus. Keine
andere Macht hat 1939 so um den Frieden gerungen wie das Papsttum. Am 31. August wollte er noch
persönlich nach Polen reisen. Bei all dem hat Pius XII. unter Krieg und Verfolgungen seelisch, geist-
lich und moralisch sehr gelitten. Sein Handeln war durchdacht, aber er zweifelte stets, ob es richtig
war. Die Lage war unübersichtlich, für einen Diplomaten wie Pius XII. war das unerträglich. Eine Ana-
lyse zeigt, dass die Handlungsspielräume des Papstes sehr eingeschränkt waren.

11.4 Die Kirchen der Reformation in der NS-Zeit: „Kirchenkampf“, „Deutsche Christen“, „Bekennen-
de Kirche“
Evangelische Christen in Deutschland waren nach dem 1. Weltkrieg dem Nationalismus eher aufge-
schlossen als die Katholiken. Der Protestantismus war keine homogene Gruppe wie die katholische
Kirche, es waren zahlreiche Landeskirchen und es gab auch kein Lehramt. Die evangelische Kirche
identifizierte sich auch viel mehr mit dem Staat, man erhielt Schutz vom Kaiser und vom Fürsten. Die
höchste weltliche Gewalt hatte auch die höchste kirchliche Gewalt.
Die Geschichte der reformatorischen Kirchen während des Krieges war aber geprägt vom Kirchen-
kampf. „Deutsche Christen“ und „Bekennende Kirche“ standen einander gegenüber. Es gab auch eine
Gruppe, die einen Mittelweg ging und versuchte die Spaltung zu verhindern.
Während die katholischen Bischöfe seit den ersten Wahlerfolgen der Nazis die Ideologie verurteilten,
bildeten sich in den späten 1920er Jahren bei den Protestanten sympathisierende Gruppen. 1928-1931
traten an die 100 protestantische Pfarrer in die Partei ein. Bei den Kirchenwahlen 1932 trat eine Bewe-
gung „Deutsche Christen“ an, die offen mit der NSDAP und mit Hitler sympathisierte. Ein Mitbegrün-
der war der Wehrkreispfarrer Ludwig Müller. Man wollte eine einheitliche deutsche Reichskirche pro-
klamieren, eine Volkskirche, die die totalitären Ansprüche der Partei übernahm. Die Rhetorik der völ-
kischen Bewegung wurde aufgegriffen. Die Kooperation von Katholiken und Staat wurde kritisiert. Die
innere Mission (ähnlich der Caritas) solle nicht mitleidig sein, sondern sich dem Schutz des Volkes vor
Untüchtigen und Minderwertigen widmen. Die Judenmission ist ganz abzulehnen.
Der eigentliche Kirchenkampf begann aber erst nach der Machtergreifung Hitlers. Der neue Reichs-
kanzler berief Ludwig Müller zu seinem Beauftragten für Kirchenfragen. Der Jurist Hermann Kaplan
sollte eine neue Verfassung für eine Reichskirche ausarbeiten. Zusammen mit ihm arbeitete der lutheri-
sche Bischof von Hannover, Marahrens, an dieser Verfassung. Man wollte die Deutschen Christen ur-
sprünglich nicht mit dabei haben. Ludwig Müller verstand es aber dann, sich in die Beratungen einzu-
schalten. Die Bischöfe sahen, dass der Staat eine Revolution versuchte. Die Eigenständigkeit der Lan-
deskirchen sollte aufgehoben werden, ebenso die Bekenntnisverschiedenheit. Man versuchte dem Staat
so weit als möglich entgegenzukommen, ohne zu viel Substanz aufgeben zu müssen. Das Ergebnis war
das Loccumer Manifest. Ziel war es, dass man die Bekenntnisse der Landeskirchen nicht antasten woll-
te, aber zur Überwindung der geographischen Zersplitterung sollte ein Reichsbischof an die Spitze der
Protestanten gestellt werden, der eine Richtlinienkompetenz erhalten würde. Neben ihm gab es eine
Nationalsynode, um die Vielfalt zu erhalten. Diese Verfassung trat am 14. Juli 1933 in Kraft und es
wurden Kirchenwahlen angesetzt. Es begann der Kampf, wer den Reichsbischof stellen sollte. Hitler
und die Deutschen Christen wollten Ludwig Müller, die große Mehrheit der protestantischen Hierar-
chie sprach sich aber für Fritz von Bodelschwingh aus. Schließlich wurde Müller Reichsbischof. Im
Frühjahr 1933 begannen sich nun auch die innerkirchlichen Gegner der Deutschen Christen zu sam-
meln um gegen die Umgestaltung der Kirche und die Übernahme der Ideologie der Nationalsozialisten
zu kämpfen. Allen voran formierte sich die jungreformatorische Bewegung. Sie forderten eine Freiheit
für die Kirche sowohl was das Bekenntnis als auch die Organisation betraf.
Kritik am Kurs der Deutschen Christen kam aber auch von Karl Barth, einem renommierten Schweizer
Theologen, der im Juli 1933 seine aufsehenerregende Broschüre „Theologie heute“ publizierte. Auf-
grund des Erfolgs entstand daraus eine ganze Reihe, die zum Sprachrohr des Kirchenkampfes wurde.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Er meinte, dass die Christen die Glaubensgrundlage nicht preis geben dürfen. Die Debatte um Reichs-
kirche und Reichsbischof habe laut Barth keinerlei geistliche Qualität. Sie sei nur ein Vehikel um be-
stimmte politische Ziele durchzusetzen.
Aus der jungreformatorischen Bewegung entstand dann der Pfarrernotbund, 1934 gegründet, in den bis
Ende des Jahres 10.000 Pfarrer eintraten. Daraus formierte sich dann die Bekennende Kirche. Ihr
Gründungsdokument ist die Barmer Erklärung. Damit waren die Fronten klar. Die Deutschen Christen
wurden in der Folge marginalisiert, die Regierung ließ sie dann zusammen mit Ludwig Müller fallen
und versuchte über die Bischöfe Einfluss zu nehmen um eine Gleichschaltung der Kirchen zu errei-
chen, was aber nicht gelang. Die Kooperation und die Nähe der protestantischen Kirchen zum Natio-
nalsozialismus waren aber erheblich enger als bei der katholischen Kirche.
30.06.2009
Man darf nicht denken, dass sich das Geschehen in der Kirche im 20. Jh. auf Europa beschränkte. Die
Kirche weitet sich aus, sie wird universaler durch die Missionen und das Wachsen auf neuen Kontinen-
ten. Man kann von Weltkirche im neuen globalen Sinn sprechen.

12. Kirche in wachsender Universalität: Die Missionen im 20. Jahrhundert


Der Begriff Mission ist wieder modern geworden in einer säkularen Zeit. Vom theologischen Stand-
punkt aus ist es der Versuch, das Evangelium in neue Länder und Räume zu bringen. Das gehört zum
Wesen der Kirche seit den ersten Tagen des Christentums. Die Apostelgeschichte ist eine Missionsge-
schichte. Die Geschichte der Kirche ist die Geschichte des Wortes Gottes und des Evangelium in der
Welt. Es gab nie eine Kirche ohne Mission, auch wenn das weithin unsichtbar ablief. Die Vorgehens-
weise der Missionare hat sich im Lauf der Zeit verändert. Man bediente sich der Mittel die da waren.
Das trifft vor allem auch für die Missionen im 20. Jh. zu. In der Mission entsteht erst Kirche. Es gehört
nicht nur zum Wesen der Kirche Missionen zu haben, Kirche entsteht auch immer wieder neu durch
Mission. In der Mission lässt sich studieren, was Kirche in ihrem Kern ausmacht. Es ist die wirksame
Verkündigung des Wortes Gottes, die Bekehrungen hervorrufen, Glauben fördert und Gemeinschaft
bringt. Diese vier Punkte finden sich auch in der Apostelgeschichte.
Die Rede von Mission stößt heute auf Vorbehalte und militante Ablehnung. Das Lehramt ruft zu einer
Neuevangelisierung der alten wie auch der neuen Kontinente auf, das missionarische Wesen der Kirche
wurde auf dem II. Vatikanum neu akzentuiert. Die aufgeklärten kirchenfernen Kreise in Europa reagie-
ren auf das Thema gereizt. Unter historischem aufgeklärtem Verständnis verbindet man mit Mission
weithin einen aggressiven Eurozentrismus und kulturellen Imperialismus, wo Europäer die Welt erzie-
hen und nach ihrem Vorbild gestalten wollten. Funktionierende Kulturen wurden damit zerstört, die
Kirche hat sich zum Handlanger der Kolonialpolitik gemacht. So die Stereotypen.
Man kann nicht leugnen, dass der Aufschwung der Mission seit dem Ende des 19. Jh. nicht möglich
gewesen wäre ohne die Kolonialisierung durch die großen Staaten England, Frankreich, Italien,
Deutschland und Belgien. Diese Staaten sorgten für Infrastruktur, Kommunikation und Transportwe-
sen, was die Mission erst ermöglichte. Man muss auch zugeben, dass diese Missionen sich nicht ganz
den Zielen entziehen konnten, die diese Staaten mit der Kolonialisierung verbunden haben. Man wollte
die eigene Kultur anpreisen. Machte sich die Kirche also zum Komplizen?
In der Pauschalität ist der Vorwurf Klischee. Man muss das differenziert sehen. Welches Land, welche
Zeit, welche Gegebenheiten, welche Vorfälle? Mission und nationale koloniale Politik lasse sich nicht
auf einen Nenner bringen. Die Kirche bot nicht die Ideologie für das, was die staatlichen Behörden
umsetzten. Es trifft aber zu, dass unter den Missionaren weithin das Verständnis für den Eigenwert in-
digener Kulturen fehlte. Vielleicht waren sie überfordert, es mag ungerecht sein dass wir aus heutiger
Sicht diesen Vorwurf bringen. Die Jesuitenmissionare des 16. Jh. waren weit aufgeschlossener und
neugieriger. Im 19. und 20. Jh. waren in der Regel die Missionare von der Superiorität der europäi-

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

schen Kultur überzeugt. Bei den französischen Missionaren vielleicht mehr als bei Anderen, das Fran-
zösische galt als Führungskultur in Europa.
Das Schulwesen der Missionare verstand sich unterschwellig immer als Zivilisationsbringer in eine
barbarische Umwelt. Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Die Weißen Väter in Afrika oder die Jesuiten in
Indien brachten Verständnis für die kulturellen Gegebenheiten auf. Von daher verbietet sich eine Pau-
schalierung. Insgesamt gesehen darf man sagen, dass sich die Missionen nicht unkritisch vor die wirt-
schaftlichen und ausbeuterischen Interessen der Kolonialmächte spannen ließen. Ihnen stand ein huma-
nitäres Ideal vor Augen. Entwicklung, Bildung, Verbesserung, Rechtsschutz, Ausbildung.
Im afrikanischen Togo (eine deutsche Kolonie) riskierten die Missionare um 1900 einen Konflikt mit
den Kolonialbehörden, weil sie für die Eingeborenen eingetreten sind. Katholische Missionare in Afri-
ka taten sich in den 1880ern positiv im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei hervor, was die Un-
terstützung Leos XIII. fand. Der Pariser Kardinal Lavigerie war damals in diesem Bestreben führend.
Die Prinzipien der Sozialpolitik und der Soziallehre sollten auch in den Kolonien angewendet werden.
Die Missionen der katholischen Kirche in der Neuzeit wurden weithin von den Orden getragen. In Mit-
tel- und Südamerika waren es seit dem 16. Jh. Dominikaner und Franziskaner, dann auch Jesuiten. Am
Ende des 19. Jh. verzeichneten die Missionen einen Neuaufschwung. Einer der wichtigsten Faktoren
war wieder ein Ordensfrühling. Dutzende Orden entstanden, die sich der Mission als christliches Ideal
verschrieben. Hier sind vor allem die 1875 von Arnold Jansen gegründeten Steyler Missionare zu nen-
nen. Weitere große Missionsorden aus dem 19. Jh. waren die Oblaten der unbefleckten Jungfrau Maria
(OMI), die Weißen Väter (französische Gründung), die Patres vom Heiligen Geist (Spiritaner, auch
Frankreich), und eine Weltpriestervereinigung, die sich Pariser Missionare nannte.
Unter den älteren Orden engagierten sich die Jesuiten, die Franziskaner, und besonders auch die Kapu-
ziner (Chile, Nepal, Nordindien). Missionsniederlassungen neu entdeckter Regionen gab es seit dem
16.Jh., aber nur entlang der Seewege und Handelsrouten. Eine systematische Missionierung der inneren
Landesteile jener Kontinente begann erst relativ spät, gegen Ende des 19. Jh. Das kann man in Afrika
gut ablesen, wo ab den 1880ern die inneren Teile missioniert wurden. Die Kirche wuchs rapide, was
bis zum heutigen Tag erklärt, dass die Länder in Zentralafrika weithin katholisch sind.
China war eine Art Vorzeigemodell der Mission. Man erreichte auch kulturell ungeahnte Höhen, was
man seit der Revolution 1949 nicht mehr vermuten würde. In China bewahrheitete sich die Regel, dass
in Zeiten des Umbruchs die Menschen empfänglich für Sinnfragen werden. Anfang des 20. Jh. gab es
Aufstände (Boxeraufstand, Abtreten des Kaiserhauses). 1910-1950 war eine Hochzeit für die christli-
chen Kirchen und Missionen. Die Zahl der Katholiken in China stieg damals auf ca. 3,3 Millionen.
Heute sind es rund 5 Millionen Katholiken und 15 Millionen Protestanten. Das Christentum ist in ge-
bildeteren Kreisen ein Thema.
Indien führt seine christlich Wurzeln bis in das Altertum zurück, auf die Predigt des Apostels Thomas.
Es gab eine Gemeinde der Thomaschristen. Im 19. Jh. gab es riesige Missionserfolge, weniger unter
den Gebildeten, sondern in den vernachlässigten Schichten. Bis zum Beginn des 20. Jh. dominierten in
der Missionierung der Kirche weithin paternalistische Vorstellungen. Man verstand die Missionen
weithin abhängig von den europäischen Ordens- und Kirchenleitungen. Die Missionen sind nicht reif,
nicht selbständig, sie müssen versorgt werden wie Kinder. Die Unterweisung in ein europäisches Chri-
stentum war selbstverständlich. Zum einen mangels Alternative, zum anderen weil man in der abend-
ländischen christlichen Kultur die zeitlos gültige Form des Christentums erblickte.
Die Ausbildung eines einheimischen Klerus wurde nicht vernachlässigt, aber es war ein weiter Schritt
zu lokalen Kirchen. Das kirchliche Leben wurde weithin von den Missionsstationen getragen, die oft
Schulen und Krankenhäuser hatten. In Indien und Vietnam war man betreffs des einheimischen Klerus
am Weitesten, um die Jahrhundertwende waren ca. 50% aller Priester Einheimische. In Afrika ging es
hingegen sehr zäh voran. Der einheimische Klerus wurde auch meist als Hilfsklerus betrachtet und dis-
kriminiert. Einheimische Bischöfe gab es vorerst nicht, zaghafte Anfänge geschahen in Indien. 1896
erfolgte die erste Bischofweihe eines Inders.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

In der Stärkung der Missionen, ihrem Ausbau hin zu vollwertigen Ortskirchen und in der Förderung
des einheimischen Klerus wurde nach dem 1. Weltkrieg eine Wende herbeigeführt. Dafür war Benedikt
XV. verantwortlich. Er bewies Weitsicht. In der Enzyklika „Maximum illud“ von 1919 legte er die
Grundsätze der katholische Mission dar und setzte die Prioritäten neu. Man hat dieses Dokument sogar
die Magna Charta einer neuen Missionsbewegung genannt. Der Papst grenzte die Missionstätigkeit der
Kirche von den Bestrebungen der Kolonialmächte ab. Er sah die Gefahr der Verquickung von Mission
und politischem Zweck, womit man sich kompromittieren könnte. Eine Kolonie kann keine Missions-
station sein und umgekehrt. Die Kirche darf nicht Sprachrohr nationalerer oder anderer egoistischer
Interessen sein. Sie kann nicht für Nationen sprechen, sondern nur der Ausbreitung des Evangeliums
verpflichtet sein. Das ist auch ein Reflex auf den 1. Weltkrieg, der gezeigt hat, wohin nationalistische
Interessen führen können.
Gegen die neuen Rassentheorien, die in Europa zu dieser Zeit um sich griffen, verurteile der Papst jeg-
liche Ungleichheit der Menschen oder gar die Ansicht von Inferiorität unter rassischem Gesichtspunkt.
Das ist gerade im Missionskontext virulent geworden. Wenn die Kirche katholisch sein wollte konnte
sie nicht den kleinsten Kompromiss mit einer Rassentheorie eingehen. Man musste sich im Gegenteil
zum Sprachrohr gegen solche Verirrungen machen. Vielmehr stellen Sprache und Mentalität eines
Volkes einen Wert in sich dar, den es zu achten, zu fördern und zu schützen gilt. Damit war einem Eu-
ropäismus erstmals eine klare Absage erteilt.
Der Papst legte den Missionaren auch eine neue missionarische Methodenpraxis ans Herz. Bei der Ver-
kündigung des Evangeliums soll man sich bevorzugt der einheimischen Sprache bedienen und sich
auch sonst den Eigenarten der Menschen und der jeweiligen Kultur anpassen. Die Ausbildung des ein-
heimischen Klerus hat höchste Priorität, inklusive Bestellung des einheimischen Klerus in Leitungspo-
sitionen und der Aufbau einer kirchlichen indigenen Hierarchie.
Gleichzeitig unternahm der Papst organisatorische Maßnahmen in der Kurie um das Missionsengage-
ment zu unterstützen. Die Kongregation „Propaganda Fidei“ („Über die Verbreitung des Glaubens“,
gab es schon seit dem späten 16. Jh.) wurde in der Bedeutung aufgewertet. Sämtliche Missionsgesell-
schaften (Orden, Weltklerus) wurden unter diesem Dach zentralisiert und nach einheitlichen Vorgaben
ausgestattet. Die Missionen wurden damit zur Chefsache.
Die Forderung nach einer Vermehrung des einheimischen Klerus griff auch Pius XI. auf. In der Enzy-
klika „Rerum Ecclesiae“ von 1926 forderte er erneut einen stärkeren Einsatz für einen einheimischen
Klerus (inkl. Katecheten und Bischöfen). Auch Ordensgemeinschaften sollten aus den jeweiligen Völ-
kern erwachsen, bzw. Einheimische aufnehmen. Dem Aufruf folgten Taten, in den 1920ern gab es die
ersten Bischofsweihen indigener Klerusangehöriger.

13. Neuaufbrüche in der Theologie und spirituelle Bewegungen: Eine neue Sicht von Kirche
Katholische Theologie und katholisches Leben im 20. Jh.
Die vielfältigen Auseinandersetzungen, in die die Kirche im 20. Jh. geriet (Souveränität, Konkordate,
Lateranverträge, Verfolgung, …), könnten dazu verleiten, die Kirche nur unter politischen Gesichts-
punkten zu betrachten. Papst und Bischöfe als Agierende, das Volk unberücksichtigt und passiv. Die
Betonung des politischen Gesichtspunktes bislang in der Vorlesung verdankt sich der enormen Bedeu-
tung, die die Kirche in der Konfrontation mit den Ideologien hatte. Das ist nur ein Teilaspekt des kirch-
lichen Lebens. Man muss auch die zahlreichen positiven Aufbrüche mit bedenken, die es seit ca. 1920
gab. Diese geschahen in der Theologie und im kirchlichen Leben.
Die zunehmende Bedeutung des Laienengagements, das sich schon im 19. Jh. herauskristallisiert hatte,
fand eine konsequente Fortsetzung im 20. Jh. Die Kirche wäre nicht denkbar ohne dieses Engagement.
Während die Hierarchie bremste, trieben die Laien die Entwicklung voran (ähnlich wie im 19. Jh.).
Theologische Neuaufbrüche

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Nach dem Überwinden der Modernismuskrise, die sich vor dem 1. Weltkrieg auf die Theologie be-
drückend ausgewirkt hatte, erlaubte es das offenere Klima nach dem Krieg, sich der Moderne unver-
krampfter und offener zuzuwenden. Viele fruchtbare Ansätze entstanden. Vom Modernismusstreit be-
sonders betroffen war die Exegese (historisch-kritische Methode), daneben aber auch die Philosophie,
sofern sie sich nicht an die Neuscholastik anlehnte. Weiters die Dogmatik, vor allem wenn sie sich der
historischen Betrachtungsweise der Dogmengeschichte öffnete.
Ab ca. 1920 kommt es zu einem Modernisierungsprozess. Zuvor war die geschichtliche Herangehens-
weise an die Theologie häufig unter Generalverdacht gestellt worden. Geschichte bringt nur Relativität
und Relativierung mit sich, was den Glauben bedroht. Nun wurde Geschichte, Geschichtlichkeit sehr
viel positiver aufgenommen und geradezu als heilsrelevantes Phänomen wertgeschätzt. Der Glaube ist
geschichtlich, also ist es die Kirche und die Lehre auch. 1920-1960 darf daher als Periode gesehen
werden, die das II. Vatikanum vorbereitete. Die katholische Theologie schloss sich den modernen
Strömungen an und ließ die Engführung der vergangenen Jahre hinter sich.

13.1 „Rückkehr zu den Quellen“


2 Motive kennzeichnen diese neuen Ansätze:
- Rückkehr zu den Quellen, eine neue Wertschätzung der Quellen: Schrift und Tradition. Diese
durfte man sich neu historisch erarbeiten.
- Positives Aufnehmen und Anschluss an Strömungen der Zeit. Modernisierung. Vor allem die
sogenannte positive Theologie wurde weiterentwickelt. Positive Theologie (im Gegensatz zur
systematischen und praktischen Theologie) ist jene, die sich mit den Daten der Offenbarung
auseinandersetzt. Schrift, Kirchengeschichte, Patrologie, theologische Literaturkunde.
Vor allem in der Kirchengeschichte waren es die Forschungen zur Theologie des Hochmittelalters, die
Bahnbrechendes leisteten. Die Reformationszeit wurde vorurteilsfrei untersucht, was positiv für die
Ökumene war. Die Patrologie führte zu einer Erneuerung der Liturgie, weil man sich auf die frühesten
Ordnungen des Gottesdienstes besann.
Die Situation für die Bibelwissenschaften war schwieriger. Man litt noch an den Entscheidungen der
1902 gegründeten Bibelkommission in Rom, die weiterhin ein Hemmschuh waren. Problematisch wa-
ren vor allem die Verlautbarungen aus den Jahren vor dem 1. Weltkrieg zur Historizität der Heiligen
Schrift und zur Verbalinspiration. Katholische Exegeten waren vom höchsten römischen Lehramt ge-
zwungen anzuerkennen, dass die Heilige Schrift auch in historischer Hinsicht Wahrheit bietet. Das ist
höchst problematisch, wenn man z.B. die Geschichtsbücher des AT betrachtet, wo man weiß, dass das
historisch nicht haltbar ist. Man hatte aber Dokumente, die man rechtfertigen musste. Verbalinspirati-
on: ist wirklich jeder Satz, jedes Wort Teil der Inspiration? Oder muss man Offenbarung nicht viel wei-
ter, breiter denken?
Es ist dennoch erstaunlich, dass die katholische Exegese bis zur Mitte des Jahrhunderts zur Protestanti-
schen aufschließen konnte. Ein Meilenstein dafür war das lehramtliche Schreiben Pius XII. von 1943
„Divino afflante Spiritu“ („unter dem einblasenden Wirken des Heiligen Geistes“), welches es erlaubte
die Heilige Schrift nun auch mit den Methoden der Formgeschichte zu studieren. Bis dahin ärgerten
sich die Katholiken, weil die protestantische Exegese die Bibel zu einem literarischen Produkt herab-
gewürdigt hatte, was die Botschaft erodiere. Nun wurde diese Methode zugelassen.
Die bedeutendsten exegetischen Arbeiten dieser Zeit entstanden im französischen und deutschsprachi-
gen Raum. Man profitierte von den weitsichtigen Einführungen und Planungen des Dominikanerpaters
Marie-Joseph Lagrange, der die Écol biblique in Jerusalem gegründet und mit der „Revue biblique“ ein
Organ geschaffen hat, das auf höchstem wissenschaftlichem Niveau katholische Exegese betrieb.
Die Berufung auf Schrift und Vätertradition wurde und zu einem der Wesensmerkmale der neuen The-
ologie des 20. Jh. Sie wurden als neu zu erschließende Quellen der Offenbarung entdeckt, deren Reich-
tum in der starren Systematik der Scholastik und Neuscholastik in Vergessenheit geraten war. Dieser
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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Dieser Reichtum drückt viele Glaubenswahrheiten unterschiedlich aus, es lohnt sich ihn neu zu beden-
ken, damit man das Wachsen des Glaubensverständnisses und der Kirche besser erkennt.
Diese Aufbrüche der Theologie seit den 1920ern kamen vor allem einem neuen Verständnis der Kirche
zu gute. Mit Blick auf die gesamte Theologie des 20. Jh. darf man von einem Jahrhundert der Kirche,
der Ekklesiologie sprechen. Zu keiner anderen Zeit stand die Kirche so im Zentrum der Theologie wie
in der Zeit von 1920 bis zum II. Vatikanum und darüber hinaus. Das II. Vatikanum, das eine neue Sicht
von Kirche gebracht hat, steht nicht isoliert da, sondern wurde vorbereitet.
In der neuen Besinnung auf die Kirche wurden zunächst die Anregungen aufgegriffen, die aus dem
19. Jh. stammten, vor allem die Arbeiten von Johann Adam Möhler, dem Begründer der Tübinger
Schule. Man legte dort Mitte des 19. Jh. schon Wert auf eine viel dynamischere Sicht von Kirche. Eine
Kirche, die sich nach den Gesetzen eines lebendigen Organismus entfaltet und verhält. Damit lässt man
starre Vorstellungen von Kirche zurück, die von der Hierarchie (von oben) her als festes hierarchisches
Gefüge definiert wurden. Die Hierarchie garantierte die Sicherheit, die Festigkeit, die Kontinuität der
Kirche. Das war weithin das Kirchenbild der Neuscholastik und des I. Vatikanums. Nun gibt es eine
Sicht „von unten“, die mit dem Kleinen beginnt und verfolgt, wie sich die Kirche entfaltet.
Möhler gewann einen theologischen Begriff von Kirche als die wachsende, in der Geschichte fortdau-
ernde Verkündigung des Gottesreiches, das Jesus begonnen hatte. Die Kirche wurde als der Leib Chri-
sti verstanden, der aber in Raum und Zeit hineinwächst, sich verändert und zu seiner Vollgestalt und
Vollendung schreitet. Ein Entwicklungs- und Fortschrittsgedanke, der historisch abgesichert wurde.
Eine andere große Gestalt des 19. Jh., John Henry Newman (ein Theologe der zum Katholizismus kon-
vertierte), unterstützte diese organische und dynamische Sicht von Kirche, indem er auf die verschiede-
nen Traditionen der Urkirche hinwies, nach denen die Kirche lebt, und mit deren Hilfe sie sich frei und
ohne Angst in die Zukunft bewegen kann.

13.2 Romano Guardini, Jugendbewegung und Liturgische Bewegung


Im 20. Jh. war es insbesondere Romano Guardini, der die neue organische Sicht von Kirche aufgriff
und in seine Sprache übersetzte. Er war ein Sprachkünstler, der weite Kreise erreichte. Vor allem er-
reichte er die Jugend. Er wurde in der Jugendbewegung groß, er war ihr intellektuelles Haupt. In der
akademischen Theologie war er eher wenig erfolgreich, abgesehen von seiner Professur in München.
Er stellte die Bedeutung von Leben und Gemeinschaft in den Mittelpunkt seiner Theologie, und kam
damit dem Lebensgefühl der 20er Jahre entgegen. Er rückte auch von einem ausschließlich rational-
intellektualistischen Ansatz in der Theologie ab. Von einer Theologie, die vor allem als begriffliches,
logisches Argumentieren verstanden wurde und sich weithin im Kopf abspielte.
Er brachte die zwei zukunftsträchtigsten Bewegungen der Kirche, die Jugendbewegung und die liturgi-
sche Bewegung, zusammen. Liturgie wurde ein Ausdruck der Jugendbewegung. Die Impulse zur Re-
form der Liturgie (näher an die Volkssprache, Symbole verwenden die durchsichtig sind, etc.) sind
weithin das Verdienst Guardinis gewesen. Es war nur konsequent, dass er in seinen Betrachtungen über
die Kirche von der vorwiegend auf den hierarchischen Aufbau der Kirche begründeten Ekklesiologie
abrückte und stattdessen die Glaubensgemeinschaft und die Rolle des Einzelnen, vor allem des Laien in
der Kirche herausstellte. „Vom Sinn der Kirche“ war einer seiner Bestseller, geschrieben 1920. Das
Buch war für Laien, vor allem für die Jugendlichen geschrieben. Man sollte erkennen, welches Potenti-
al in der Kirche ist. Darin findet sich auch der berühmte Satz: „Ein religiöser Vorgang von ungeheurer
Tragweite hat eingesetzt: die Kirche erwacht in den Seelen“.
Guardini sprach auch immer von der Wende von der Ratio zum Leben. Der Mensch soll sich seiner
gesamten Lebenswirklichkeit bewusst werden, und wegkommen von dem nur verkopften, nur intellek-
tualistischen Verständnis, dass man Wirklichkeit nur in den Gedanken konstruiert (auch die theologi-
sche), was völlig von den Erfahrungen und der Praxis losgelöst ist.

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

In den Kontext der liturgischen Bewegung fällt auch das Werk „Von heiligen Zeichen“, über zentrale
Symbole, die erklärt werden.
Es gab aber auch eine Schlagseite, die vor allem die Mitstreiter Guardinis hatten. Man kann die Wende
in die Lebensphilosophie auch übertreiben. Alles was nicht gemeinschaftlich ist, was nicht auf das Le-
ben abzielt, was nur den Geruch von Rationalität hatte, war verdächtig. Die Gefahr war, dass die neue
Wertschätzung der Gemeinschaft auf Kosten des Primats der Persönlichkeit ging. Der Einzelne sollte
auch in einer Theologie, die sich der Kirche verschrieben hat, immer noch das Zentrum und Maß aller
Dinge sein.
Die Anregungen von Möhler und Guardini schlugen sich auch in Frankreich nieder.

13.3 „Théologie nouvelle“


Die Anregungen der Tübinger Schule und Guardinis kamen vier großen Franzosen zu Gute:

Henri de Lubac SJ
Er trat vor dem 1. Weltkrieg in den Orden ein, er war nach dem Krieg bis zum Beginn des Konzils Pro-
fessor für Fundamentaltheologie am Institut Catholique in Lyon. Er bekam von 1954-1956 Lehrverbot,
war dann Berater am II. Vatikanum, und wurde später Ehrenkardinal.
„Catholicisme“ 1938, Bestseller, während des Kriegs 1943 ins Deutsche übersetzt. Er hat eine Be-
schreibung der Kirche als Organismus versucht. Eine Form die lebt, von den Laien und der Tradition
her. Lubac war exzellenter Theologiehistoriker. Er las Quellentexte, v.a. aus dem Mittelalter. Er zeigte,
dass sich Kirche nicht von der Hierarchie her, sondern von der Eucharistie her definiert. Das Mittelalter
dachte Kirche und Eucharistie in Einem. „Corpus mysticum“ – Kirche oder Eucharistie? Beides!
Der Erfolg der französischen Theologie bestand aber auch darin, dass man nicht bei der historischen
Ausrichtung stehen blieb, sondern sie mit zeitgenössischer Philosophie und sozialen Entwicklungen der
Zeit verband. Davon profitierte wiederum die historische Theologie, die man wieder ins Gespräch
brachte. Der Begriff der Tradition wurde einer inhaltlichen Erklärung zugeführt. Tradition wurde ein
reicher Begriff, der nichts mit Traditionalismus zu tun hatte. Tradition ist die lebendige Gegenwart der
reichen Vergangenheit. Sie bereichert die Gegenwart. Es geht um die Bewahrung der Idee des Chri-
stentums. Congar hat hier ein zweibändiges Werk geschrieben: „Die Tradition, die Traditionen“. Es
geht darum, den Überlieferungsstrom als Solchen zu erkennen. Darüber hinaus arbeitete man an einem
neuen Verständnis der göttlichen Gnade. Man wollte die Stockwerkstheologie (Natur – Übernatur) der
Scholastik überwinden. In „Das Übernatürliche“ wird das von Lubac thematisiert. Die Gnade ist in der
Natur schon drin. Die Gnade verwirklicht sich immer in der Natur, nie davon getrennt.

Jean Daniélou SJ
Patristiker, Kenner der Schriftauslegung der Patristik. Er gründete 1944 mit Lubac die „Sources
Chrétiennes“. Christliche Quellen. Diese Reihe bietet Texte aus der Väterzeit in französischer Überset-
zung. Inhaltlich waren es immer Vätertexte, auch Kommentare und Erläuterungen zur Heiligen Schrift.
Daniélou wurde auch zum II. Vatikanum eingeladen. Er war Dekan der theologischen Fakultät am In-
stitut Catholique in Paris. Im Alter erfolgte die Ernennung zum Kardinal.
„Le signe du temple“. Bedeutung des Tempels in der Patristik. Das AT hat heilsgeschichtlich eine Fülle
von Erklärungen für die Kirche.
Er nahm auch Stellung zu zeitgenössischen Fragen (Liturgie).
Aufsatz über das Geheimnis der Geschichte. Das Problem der Heilsgeschichte, das Heil für die nicht
christlichen Völker. Können die gerettet werden?

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Kirchengeschichte (SS2009) Kirchengeschichte IV - Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

Yves Congar OP
Einer der führenden Professoren im Studienhaus der Dominikaner „Le Saulchoir“ nördlich von Paris.
Fast eine eigene Fakultät mit einer eigenen Art, Philosophie zu treiben. Er geriet in Kriegsgefangen-
schaft, erhielt dann in den 50er Jahren Lehrverbot. Er hat sich mit der Arbeiterpriesterbewegung identi-
fiziert, die nach dem Krieg in Frankreich en vogue war. Er wollte auch eine Öffnung zu den Sozialisten
finden. Arbeiterpriester, die in einer Fabrik arbeiten und so ihr Priestertum ausüben. Das hat in Frank-
reich und Rom Aufsehen erregt, es wurde von Rom unterbunden.

M.-D. Chenu OP
Professor in Le Saulchoir, man musste während des Kriegs ausweichen nach Belgien. Er war Rektor
der Fakultät. 1937 schrieb er ein kleines Büchlein „Une école de théologie: Le Saulchoir“. Ein Studi-
enprogramm, wie das Theologiestudium ideal aussehen sollte. Er wurde von Rom dispensiert. Chenu
plädierte für eine komplette Reform des Theologiestudiums. Mehr Exegese und Historie, mehr Philo-
sophie der Gegenwart. Eigentlich das, wohin nach dem Konzil das Studium hingegangen ist.

Wir nehmen heute das 20. Jh. geprägt durch 2. Weltkrieg, Shoah und Nationalsozialismus wahr. Die
erwähnten Theologen haben in dieser Zeit gelebt. Wenn man auf ihr Lebenswerk sieht, so geht es in
den Werken um Ausführung der Ideen aus den 20er Jahren. Die Aufbrüche und Ideen der 1920er sind
durch den Nationalsozialismus nicht verkommen. Der Nationalsozialismus hat nicht vermocht, die Ge-
schichte zu behindern. Es galt sich für eine größere Sache zu engagieren, die eigenen Ideale wurden
nicht verändert.

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