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Umberto Eco meinte, Vergessen aus Versehen ist möglich, als angewandte Technik zum
schnellen und absichtlichen Vergessen jedoch nicht. Seine Begründung für diese Behauptung ist,
dass eine Vergessenstechnik das Gegenteil einer Gedächtnistechnik sein müsste. Bei dieser
Mnemotechnik verknüpft man gedanklich an ein Bild einen Inhalt, an den man sich erinnern will.
Bei der ars oblivionalis könnte man sich also z.B. ein Bild vorstellen, in dem ein Mann etwas
wegwirft. Doch dann würde man sich ja daran erinnern, dass man etwas vergessen will. Wie könnte
es schon möglich sein, dass der Gedanke an etwas, etwas anderes auslöscht?1
Mnemotechnik beschreibt Eco als konnotative Semiotik. x ist Symbol für y, ein mentales Ikon
und damit ein Zeichen. Und Semiotik ist ja die Zeichenlehre. Ein Bild der Vorstellung ruft eine
Erinnerung hervor.2 Nach obigen Beispiel kann die ars oblivionalis keine Gedächtniskunst sein, da
sie dann auch Semiotik wäre, aber sie soll ja etwas wegnehmen. Man kann nichts durch ein Zeichen
vergessen, wenn ein Zeichen doch etwas hervorruft.3 Mit der Mnemotechnik bzw. Semiotik kann
man höchstens den Geist verwirren, ihn letztlich dadurch sogar vergessen lassen, das gibt selbst
Eco zu. Der Grund hierzu ist aber nicht Subtraktion, also eine Erinnerung wegnehmen, sondern
1 vgl. Eco, Umberto: An Ars oblivionalis? Forget it!. In: PMLA, Vol. 103, No.3, May 1988, S. 254.
2 vgl. ebd., S. 255f.
3 vgl. ebd., S. 258f.
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Addition. Vergessen ist nicht möglich durch einen Defekt sondern durch einen Exzess. Wenn man
sich an zuviel erinnert, das ähnlich ist (z.B. ähnlich klingende Namen), kann es irgendwann zuviel
sein, so dass der Geist durcheinander kommt, die Verknüpfungen sich verwirren und man am Ende
nicht mehr weiß, was korrekt ist. Man erinnert sich auf diese Weise immer schlechter, bis man nicht
mehr unterscheiden kann. Vergessen ist also kein Fehler, sondern eine Vervielfachung, keine
Auslöschung sondern Übertreibung. Schon Agrippa (1600) warnte deshalb auch, dass die
Ecos Schluss ist, dass die ars oblivionalis nicht realisierbar ist. Die ars oblivionalis ist ein
Oxymoronica, weil eine 'semiotica oblivionalis', ein semiotisches Vergessen, nicht möglich ist.5
Eco scheint den Begriff ars oblivionalis sehr eng gefasst zu haben. Vermutlich zu eng. Er hat
gezeigt, dass sie keine Semiotik sein kann, doch muss man sich so daran festmachen, die ars
oblivionalis als Gegenspielerin der Mnemotechnik zu sehen, welche die gleichen Techniken
benutzt? Ich glaube nicht. Es gibt viele Möglichkeiten zu vergessen, und wenn man den Begriff
weiter fasst, findet sich auch eine Möglichkeit, ihn zu realisieren. Eine Vergessenskunst scheint
auch durchaus anstrebsam zu sein, macht man sich einmal bewusst, wieviele Menschen etwas
vergessen wollen. Fast immer bezieht sich dies auf negative persönliche Erlebnisse. Natürlich kann
man hier dagegen halten, dass diese Erlebnisse den Menschen erst formen, doch wieviele dieser
Erlebnisse waren traumatisch und damit für den Menschen in seinem zukünftigen Leben negativ?
Hiermit wird eine aktuelle Frage der Ethik angeschnitten. Doch bei jedem, der freiwillig vergessen
4 vgl. ebd., S. 259f.
5 vgl. ebd., S. 260.
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möchte, dürfte sich die Frage nach der Ethik eigentlich kaum stellen, ist es doch seine
Harald Weinrich schilderte z.B., dass Drogen wie die der Lotophagen oder Alkohol vergessen
lassen und wie Ovid zur Zeit Christi davon schrieb, wie man eine Liebe vergessen könne: sich neu
verlieben. Dies würde wohl die Erinnerung an die alte Liebe überschreiben oder zumindest an
damit verbundene Gefühle. Doch bot Ovid damit auch nur eine langfristige und keine kurzfristige
Methode zum Vergessen.6 Drogen wurden in der Menschheitsgeschichte oft und gerne
herangezogen. Auch in Literatur und Kunst wurde dieses Thema oft behandelt. Diese Methode hat
jedoch einige Nachteile: sie wirkt nicht bei jedem und kann gravierende Nachteile mit sich bringen.
Liebe und Liebesschmerz waren dabei ein besonders häufiger Grund, vergessen zu wollen. Ovids
Methode lässt einen zwar vielleicht über den Schmerzen hinwegkommen, doch wirklich
überwinden wird man ihn kaum. Letztlich läuft es hauptsächlich auf Verdrängung und
Überschreibung von Erinnerungen hinaus, die aber latent vorhanden bleiben. Und latente,
sporadisch wieder an die Oberfläche kommende Erinnerungen mögen starke negative Folgen mit
Für Paul Ricœur war das Verzeihen und Vergeben eine aktive Form des Vergessens, die jeder
selbst ausüben kann. Doch dazu müsse man geben und nehmen und Konflikte auflösen können. 7
Das Problem hierbei ist jedoch, dass dies kein wirkliches Vergessen ist. Was auch immer
geschehen ist, wird weiter im Gedächtnis der Beteiligten verbleiben. Lediglich negative Reaktionen
sollen verdrängt werden. Und das Problem der Verdrängung wurde ja oben schon angesprochen.
6 vgl. Weinrich, Harald: Lethe – Kunst und Kritik des Vergessens. München: C.H. Beck 2000³, S. 30ff.
7 vgl. Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen - Verzeihen. Göttingen: Wallstein-Verlag
1998.
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Sigmund Freud zeigte auf, dass man zumindest unbewusst 'absichtlich' sehr wohl vergessen
kann, so z.B. Namen, Vorsätze oder Eindrücke aus z.B. Nachsicht der betroffenen Person
gegenüber.8 Hauptsächlich jedoch sind auch dies Formen der Verdrängung. Freud selber führte dies
Sich an Freud anlehnend fragte sich auch Manfred Osten, ob nicht das Gegenteil des
Vergessens ein solches auch erzeugen könne: ein verordnetes Erinnern, das zu Unlustmotiven und
damit zum Vergessen führt.9 Erinnerungen, die an Orte gebunden sind, kann man vergessen, indem
man diese Orte zerstört.10 Letztlich zeigte er auch, dass die Neurobiologie kurz davor sei, das
Gedächtnis völlig zu verstehen und es dann nur eine Frage der Zeit sei, bis es auch eine Pille für das
Vergessen gäbe.11 Zwar kann man das nicht ars oblivionalis nennen, die sich auf einer Ebene mit
der Mnemotechnik befindet, nämlich ohne die Zuhilfenahme von außerkörperlichen Hilfsmitteln,
doch im weniger strengen Sinne ist auch dies eine Art von 'Vergessenskunst', und so wäre eine ars
können. In einem Experiment gelang es New Yorkern Wissenschaftlern, Ratten durch einen
externe Hilfsmittel feststellen. Diese können Eco nicht wirklich widerlegen. Verdrängungen und
Überschreibungen von Erinnerungen jedoch bringen sehr wohl das Ergebnis des Vergessens aus
8 vgl. Freud, Sigmund: Psychopathologie des Alltagslebens. Über Versprechen, Vergessen, Vergreifen, Aberglaube
und Irrtum. Wien 1901.
9 vgl. Osten, Manfred: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur.
Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag 2004, S. 39ff.
10 vgl. ebd., S. 45ff.
11 vgl. ebd., S. 92ff.
12 Doyère et al.: Synapse-specific reconsolidation of distinct fear memories in the lateral amygdala. In: Nature
Neuroscience 10, 2007, S. 414 - 416
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eigenen internen Mitteln her. Verdrängungen löschen die Erinnerung jedoch nicht vollständig aus.
Das Überschreiben dagegen hat auch Eco selber angeführt. Dies scheint eine relativ effektive
Vergessensmethode zu sein. Sein Nachteil liegt jedoch in der Geschwindigkeit: es ist ein langsamer
Prozess. Insofern kann man nur sagen: Sieht man Ecos Kritik als zu eng gefasst, hatte er Unrecht.
Besonders externe Hilfsmittel lassen vergessen. Und ist es nicht auch eine art oblivionalis, wenn
man die Mnemotechnik zum Überschreiben und damit Vergessen nutzt? Bleibt man jedoch in
seinem Bereich, hatte er insofern recht, als das es keine spontane Vergessensmethode gibt. Jedoch
kann man dagegen halten, dass auch die Mnemotechnik keine perfekte Technik ist und es zum
dauerhaften Speichern einer Erinnerung ebenso längere Zeit braucht wie zum Vergessen.
Zum Abschluss sei noch kurz erwähnt, dass es in Experimenten gelang Tauben etwas auf
einen bestimmten Reiz hin etwas vergessen zu lassen. Die Frage ist nur, inwiefern man Tauben und
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3. Literatur
● Eco, Umberto: An Ars oblivionalis? Forget it!. In: PMLA, Vol. 103, No.3, May 1988, S.
254-260
● Osten, Manfred: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der
● Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen - Verzeihen. Göttingen:
Wallstein-Verlag 1998.
● Weinrich, Harald: Lethe – Kunst und Kritik des Vergessens. München: C.H. Beck 2000³.