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Rezension

Werther 2.0

Edgar Wibeau ist 17 Jahre alt und steckt mitten in der Pubertät. Er begehrt auf, eckt an – und stößt
sich den Kopf besonders hart, denn in der DDR, wo er aufwächst, ist kaum Platz für Individualisten
wie ihn. So flüchtet er aus dieser Gesellschaft, versteckt sich in einer alten Laube und entdeckt dort
bei der Lektüre von Goethes Die Leiden des jungen Werther, dass er mit diesem berühmtesten aller
Liebeskranken einiges gemeinsam hat ... Die DDR gibt es seit 1990 nicht mehr, doch Ulrich Plenzdorfs
Roman ist heute noch so aktuell und lesenswert wie bei seinem Erscheinen Anfang der 70er Jahre.
Natürlich ließen sich die Probleme des Helden vor dem damaligen historischen Hintergrund
besonders prägnant darstellen – und doch sind es die gleichen Leiden, an denen Jugendliche in aller
Welt heute wie eh und je kranken: Edgar kämpft um seine Freiheit, stürzt sich freimütig in Konflikte
und fühlt sich abgrundtief unverstanden. Kein Problem, sich in dieser aktualisierten Werther-Story
wiederzuerkennen. Selbst wenn man keine 17 mehr ist.

Take-aways

Die neuen Leiden des jungen W. war einer der ersten Romane der DDR, die sich kritisch mit dem
Staat auseinandersetzten.

Am Beispiel des Jugendlichen Edgar Wibeau zeigt Plenzdorf, wie wenig Freiraum es in der DDR-
Gesellschaft für den Einzelnen gab.

Dabei orientiert er sich stark an Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther.

Edgar Wibeau sehnt sich nach persönlicher Freiheit, lebt aber nach außen hin perfekt angepasst,
als Musterknabe.

Er möchte Maler werden, aber seine abstrakten Bilder stoßen auf Unverständnis.

Nach einem Konflikt mit einem Ausbilder haut Edgar ab und versteckt sich in einer Laubenkolonie,
die bald abgerissen werden soll.

Dort lernt er die Kindergärtnerin Charlie kennen und verliebt sich in sie.

Charlie ist mit dem vorbildlichen, aber langweiligen Dieter verlobt und heiratet ihn später.

Weil Edgar Geld braucht, schließt er sich einer Anstreicherbrigade an, bekommt dort aber wegen
seines provozierenden Verhaltens bald Schwierigkeiten.

In seiner Freizeit bastelt er an einem neuartigen Farbspritzgerät, mit dem er seine Kollegen
beeindrucken will.

Weil er dafür weder richtiges Material noch Werkzeug hat, wird das Ergebnis ziemlich
abenteuerlich. Beim Versuch, das Gerät einzuschalten, stirbt Edgar an einem Stromschlag.
Interessant ist der Roman nicht zuletzt wegen seiner Sprache: Edgar spricht im Jargon der
Jugendlichen der 70er Jahre.

Zusammenfassung

Ein Musterknabe ergreift die Flucht

Edgar Wibeau, 17 Jahre alt, lebt Anfang der 1970er Jahre in der Kleinstadt Mittenberg in der DDR. Er
wohnt mit seiner Mutter zusammen; der Vater hat die Familie verlassen, als Edgar fünf war. Seitdem
haben sich Vater und Sohn nicht mehr gesehen. Die Mutter ist die Leiterin des Betriebs, in dem Edgar
seine Ausbildung macht. Sie ist eine ehrgeizige Frau und versucht ihren Sohn möglichst mustergültig
zu erziehen. Tatsächlich entwickelt sich Edgar vorbildlich, er war ein guter Schüler und ist jetzt auch
in der Ausbildung der Beste seines Jahrgangs.

„Mein größtes Vorbild ist Edgar Wibeau. Ich möchte so werden, wie er mal wird.“ (Edgar, S. 15)

Ein Musterknabe ist Edgar allerdings nur gegen außen; er stellt sich sein Leben ganz anders vor.
Maler möchte er werden, doch seine abstrakten Bilder stoßen bei den Erwachsenen auf wenig
Verständnis. Eines Tages, für sein Umfeld völlig unerwartet, bricht der brave Edgar aus: Als er mit
einem Ausbilder wegen einer Nichtigkeit in Streit gerät, lässt er eine schwere Metallplatte auf dessen
Fuß fallen. Der Ausbilder bricht sich den Zeh – und statt die Konsequenzen zu tragen und sich zu
entschuldigen, verschwindet Edgar spurlos.

„Dass ich dabei über den Jordan ging, ist echter Mist. Aber wenn das einen tröstet: Ich hab nicht
viel gemerkt. 380 Volt sind kein Scherz, Leute.“ (S. 16)

Ein Leben in Freiheit

Nur einer weiß, wo Edgar geblieben ist: sein bester Kumpel Willi. Die beiden reisen erst einmal
zusammen nach Berlin. Dort bewirbt sich Edgar mit seinen Bildern an der Kunsthochschule; freilich
ohne dass seine sonderbaren Werke bei den Verantwortlichen auf Gegenliebe stoßen würden. Edgar
ist tief enttäuscht. Zurück nach Mittenberg will er trotzdem nicht. In einer Laubenkolonie, die leer
steht, weil sie bald abgerissen werden soll, hatten Willis Eltern früher eine Hütte. Zum Glück hat Willi
noch den Schlüssel. Er bringt Edgar in der alten Laube unter und fährt allein nach Mittenberg zurück.
„Ich hatte das aus dieser alten Schwarte oder Heft. Reclamheft. Ich kann nicht mal sagen, wie es
hieß. Das olle Titelblatt ging flöten auf dem ollen Klo von Willis Laube.“ (S. 19)

Edgar ist glücklich. Zum ersten Mal steht er nicht unter Kontrolle und kann sein Leben so gestalten,
wie er will. „Echte“ Musik hören, herumgammeln, sich lange Haare wachsen lassen. Nur zu lesen hat
er leider nichts mitgenommen, vor allem vermisst er seine beiden Lieblingsbücher, Robinson Crusoe
und Der Fänger im Roggen. Auf der Suche nach Lesematerial wird er aber in der Laube nicht fündig.
Auf der Toilette hat er mehr Glück: Dort fällt ihm ein altes Reclamheft in die Hände. Um welches
Werk es sich handelt, kann er in der Dunkelheit nicht erkennen. Einband, Titelblatt und Nachwort
benutzt er als Toilettenpapier, den Rest nimmt er zur Lektüre mit. Zunächst kann Edgar mit dem
altertümlichen Text wenig anfangen, doch da er nichts anderes hat, vertieft er sich doch in das Heft:
Es geht um einen gewissen Werther, der sich aus unglücklicher Liebe zu einer Charlotte umbringt.
Ziemlich lächerlich, findet Edgar erst mal.

„Damit sind wir beim Thema, weshalb ich zu Hause kündigte. Ich hatte einfach genug davon, als
lebender Beweis dafür rumzulaufen, dass man einen Jungen auch sehr gut ohne Vater erziehen
kann.“ (S. 23)

Eine neue Bekanntschaft

Eines Morgens wird er in seiner Laube durch Lärm geweckt. Nebenan ist ein Kindergarten, und da die
Grundstücke nicht eingezäunt sind, kommen die Kinder, wenn sie ins Freie dürfen, ganz in seine
Nähe. Völlig verschlafen tappt Edgar aus der Laube. Charlie, die Kindergärtnerin, entdeckt den
verwahrlosten jungen Mann auf dem verlassenen Grundstück und ruft die Kinder zurück. Mit wenig
Erfolg: Als sich Edgar mit seinen Malsachen hinter die Laube setzt, siegt die Neugierde – bald stehen
alle Kinder um ihn herum und sehen ihm zu. Als Charlie erneut versucht, die Kinder zurückzuholen,
sieht Edgar sie – und verliebt sich auf den ersten Blick in sie, die nur wenig älter ist als er selbst.
Charlie schaut sich Edgars Skizze an und ist sich sicher, dass er gar nicht zeichnen kann, sondern nur
das verkannte Genie spielen will. Nach dieser ersten Begegnung mit Charlie kommt Edgar auf die
kuriose Idee, einen kurzen Text aus dem Werther-Roman auf Band zu sprechen und dieses an Willi zu
schicken, um ihn zu verwirren. Er wählt eine Stelle, wo Werther die von ihm verehrte Charlotte
beschreibt.

„Ein verkannteres Genie als mich hatte es noch nie gegeben.“ (S. 25)
Da auch der Kindergarten bald abgerissen werden soll, bietet Charlie Edgar an, dass er eine der
Wände bemalen darf. Edgar sagt zu, geht aber nicht selbst ans Werk, sondern überlässt den Kindern
das Wandgemälde. Am nächsten Tag kommt Charlie zu ihm in die Laube. Sie bringt ihm Geld,
angeblich das Honorar für die bemalte Wand. Aber Edgar ahnt, dass das Geld von ihr selbst stammt
und sie ihm nur helfen will. Schließlich kommt er auf die Idee, ihren Schattenriss zu zeichnen. Das
gibt ihm die Chance, sie anzufassen und ihren Kopf so zu drehen, wie er ihn braucht. Charlie wehrt
sich nicht gegen diese Annäherung. Als das Bild fertig ist, möchte sie es haben – für ihren Verlobten
Dieter, der seit Längerem bei der Armee dient und bald entlassen werden soll. Dass Charlie verlobt
ist, beeindruckt Edgar wenig, und den Schattenriss behält er für sich. Wieder spricht er danach einen
passenden Text aus dem Werther-Roman auf Band und schickt es an Willi.

„Nach zwei Seiten schoss ich den Vogel in die Ecke. Leute, das konnte wirklich kein Schwein lesen.
Beim besten Willen nicht. Fünf Minuten später hatte ich den Vogel wieder in der Hand.“ (S. 36)

Der Konkurrent

Nun ist Edgar öfters im Kindergarten und hilft dort mit, allein schon, um Charlie zu sehen. Eines Tages
wird er beim Luftballonaufblasen ohnmächtig. Als er wieder zu sich kommt, hält Charlie seinen Kopf
in ihrem Schoß. Sie macht ihm Vorwürfe, weil er nicht genug esse. Da taucht plötzlich Charlies Chefin
auf und teilt ihr mit, dass sie heute früher Feierabend machen könne: Dieter sei aus der Armee
entlassen worden und gerade angekommen. Charlie geht, und Edgar kehrt in seine Laube zurück.
Wieder findet er im Werther-Roman einen Text, der ihm aus dem Herzen spricht, und nimmt ihn für
Willi auf. Der hat inzwischen geantwortet, ebenfalls per Tonband. Edgars sonderbar altertümliche
Texte irritieren ihn, er hält sie für eine Art Geheimsprache und bittet um den Code.

„Ich hatte nichts gegen Old Gogh und seine Sonnenblumen. Aber wenn ein Bild anfängt, auf jedem
blöden Klo rumzuhängen, dann machte mich das immer fast gar nicht krank.“ (S. 79)

Ein paar Tage später taucht Charlie zusammen mit Dieter bei Edgar in der Laube auf. Dieter ist schon
25 und wirkt auf Edgar angepasst, gewissenhaft und spießig, also unsympathisch. Er betrachtet
aufmerksam einige von Edgars Bildern, die in der Laube hängen, und rät ihm dann, mehr auf
Perspektive und Proportionen zu achten. Edgar, nun endgültig aufgebracht, kontert mit einem Zitat
aus seinem „Old Werther“, worauf Dieter nichts zu entgegnen weiß.

„Und dann kam ich und zückte meine Werther-Pistole: Es ist ein einförmiges Ding um das
Menschengeschlecht. (...) Die Experten dachten wohl, ich war der Clown der Truppe.“ (S. 100)
Als die beiden gehen, schließt Edgar sich kurzerhand an und begleitet sie bis in Dieters Wohnung.
Wie zu erwarten war, ist sie sehr ordentlich, fast steril. An der Wand hängt ein Druck von van Goghs
Sonnenblumen. Charlie scheint zu ahnen, was Edgar über Dieter und die Wohnung denkt. Sie fängt
an, Dieter zu verteidigen. Edgar nimmt Dieters Luftgewehr von der Wand und spielt damit herum,
worauf Dieter es ihm abnimmt und ihn und Charlie aus der Wohnung komplimentiert. Draußen legt
Edgar ihr den Arm um die Schultern, aber Charlie wehrt sich und läuft weg. Edgar sieht ein, dass er im
Moment keine Chancen bei ihr hat.

„Sie riss die Augen auf, aber ich ließ sie nicht mehr los. Es wäre auch nicht anders gegangen. Sie
war wirklich nass bis auf die Haut, die ganzen Beine und alles.“ (über Charlie, S. 134)

Von Willi hat er wieder ein Band bekommen. Diesmal hat auch Edgars Mutter ein Stück besprochen.
Sie bittet ihn, wieder zurückzukommen und nicht herumzugammeln.

„Ich war vielleicht ein Idiot, Leute. Das Letzte, was ich merkte, war, dass es hell wurde und dass ich
mit der Hand nicht mehr von dem Knopf loskam. Mehr merkte ich nicht.“ (S. 145)

Edgars Erfindung

Nach Mittenberg möchte Edgar nicht zurück, aber wenn er weiter in seiner Laube leben will, braucht
er Geld. Da er einsieht, dass es zurzeit keinen Sinn hat, weiter den Kontakt zu Charlie zu suchen,
entscheidet er sich, wieder zu arbeiten. Er schließt sich einer Anstreicherbrigade an. Dort eckt er mit
seinem provozierenden Verhalten erst einmal an. Mit dem alten Kollegen Zaremba versteht sich
Edgar gut, aber mit dem cholerischen Addi gibt es ständig Konflikte. Edgar versteht Anweisungen
absichtlich falsch und denkt gar nicht daran, das zu tun, was die anderen von ihm erwarten. Die
Kollegen basteln gerade an einer Erfindung, einer Farbspritze, die nicht nebelt. So etwas gibt es
bisher auf der ganzen Welt nicht, das Gerät wäre eine Sensation. Sie haben auch schon etwas
zusammengebastelt, aber es funktioniert nicht recht. Dennoch führen sie es irgendwann einigen
Experten vor. Die Vorführung geht schief, das Gerät nebelt. Schließlich platzt auch noch der Schlauch,
und alles ist voll Farbe. Ausgerechnet in dieser Situation gibt Edgar wieder mal ein Werther-Zitat zum
Besten. Das ist zu viel für Addi, er wirft Edgar hinaus.

„Ich war jedenfalls fast so weit, dass ich Old Werther verstand, wenn er nicht mehr weiterkonnte.“
(S. 147)
Darauf beschließt Edgar, seinen Vater in Berlin zu besuchen. Die beiden haben sich seit Jahren nicht
mehr gesehen. Edgar weiß, dass sein Vater ihn nicht wiedererkennen wird, traut sich aber auch nicht
zu sagen, wer er ist. Deshalb kommt er in seiner Arbeitskleidung und gibt sich als Heizungsmonteur
aus. Er inspiziert die Heizung, heimlich auch die Wohnung und die Freundin des Vaters, und geht
wieder, ohne seine Identität offenbart zu haben.

„Das war vielleicht mein größter Fehler: Ich war zeitlebens schlecht im Nehmen. Ich konnte einfach
nichts einstecken. Ich Idiot wollte immer der Sieger sein.“ (S. 147)

An diesem Abend entscheidet er sich, selbst eine nebellose Farbspritze zu bauen und sie dann seinen
ehemaligen Kollegen vorzuführen. Dazu hat er zwar weder Material noch Werkzeug. Aber er sucht
sich in der verlassenen Laubenkolonie alles zusammen, was er für irgendwie brauchbar hält, und
fängt an zu basteln. Ein paar Tage später stehen die Kollegen auf einmal vor der Tür. Sie wollen ihn
zurückholen. Edgar hat sie rechtzeitig kommen sehen und seine Erfindung in der Küche
eingeschlossen. Als die Kollegen in der Laube stehen, liegt er auf der Couch und hustet. Addi
entschuldigt sich für sein Verhalten, und sie bieten ihm die Rückkehr an. Edgar sagt zu. Von nun an
verzichtet er auf Provokationen und erledigt brav seine Arbeit. Eigentlich aber wartet er nur auf den
Tag, an dem er den anderen stolz seine Farbspritze vorführen kann.

Der Ausflug mit Charlie

Charlie hat er derweil aus den Augen verloren, der Kindergarten ist umgezogen. Aber eines Abends
findet er einen Brief von ihr vor. Sie ist inzwischen mit Dieter verheiratet und lädt Edgar ein, sie beide
zu besuchen. Sofort macht er sich auf den Weg zu Dieters Wohnung – sein plötzliches Erscheinen
begründet er mit dem Vorwand, eine Rohrzange ausleihen zu wollen. Charlie freut sich, Edgar
wiederzusehen. Sie erzählen sich einiges und vergessen darüber die Rohrzange. Also hat Edgar einen
Grund, am nächsten Tag erneut zu kommen. Wieder spielt er mit Dieters Luftgewehr, und Charlie
schlägt vor, sie könnten zu dritt nach draußen gehen, um zu schießen. Dieter ist nicht begeistert,
kommt aber mit. Am Bahndamm lässt sich Charlie von Edgar Schießunterricht geben, während Dieter
gelangweilt danebensteht. Schließlich schmiedet Charlie Pläne für einen Ausflug am nächsten
Sonntag. Ob Edgar auch mit eingeladen ist, lässt sie offen. Dieser fasst es mal so auf und erscheint
prompt am Sonntag bei den beiden.

Es ist ein regnerischer und kalter Dezembertag. Dieter, inzwischen fleißiger Germanistikstudent,
möchte lieber zu Hause bleiben und lernen. Charlie dagegen hat sich sehr auf den Ausflug gefreut
und ist nun enttäuscht. Die beiden streiten sich, und aus Trotz fordert sie schließlich Edgar auf, allein
mit ihr zu kommen. Sie mieten ein Boot und fahren damit im Regen auf der Spree herum. Charlie
kommt zu Edgar unter die Pelerine und kuschelt sich an ihn. Schließlich bietet sie ihm einen Kuss an.
Edgar küsst sie, gibt sich aber damit nicht zufrieden. Charlie wehrt sich nicht, doch auf der Rückfahrt
ist sie sehr einsilbig. Als Edgar mit dem Boot anlegt, läuft sie einfach davon.
Der Unfall

In seiner Laube findet Edgar lange keine Ruhe, schläft aber schließlich doch ein. Plötzlich weckt ihn
das Geräusch eines Bulldozers – der Abriss der Lauben hat begonnen. Edgar kann sich gerade noch
bemerkbar machen. Mit dem erschrockenen Bulldozerfahrer vereinbart er, dass er noch drei Tage in
der Laube bleiben kann, bis nach Weihnachten. Als er anschließend einen Brief von Willi findet mit
der Mitteilung, dass er Edgars Mutter die Adresse gegeben habe, ist Edgar endgültig klar, dass er
nicht mehr viel Zeit hat, um seine bahnbrechende Erfindung fertig zu bauen. Seine Mutter kann
jederzeit vor der Tür stehen und ihn zurückholen. Edgar schließt sich in die Laube ein und bastelt
fieberhaft an der Farbspritze. Die ganze Zeit schon hat er mit primitivsten Mitteln arbeiten müssen,
aber jetzt, in der Eile, fängt er auch noch an zu pfuschen. Er möchte auf alle Fälle wissen, ob
wenigstens das Prinzip funktioniert. Irgendwann ist er so weit, dass das Gerät funktionstüchtig sein
müsste. Edgar drückt auf den Einschaltknopf – und wird durch einen Stromschlag getötet.

Als Edgar am nächsten Tag nicht zur Arbeit kommt, suchen ihn die Kollegen. Auf dem Grundstück
sind Polizisten, die ihnen erzählen, was passiert ist. In der Küche der Laube finden die Kollegen die
Überreste eines sehr merkwürdigen Apparates. Addi nimmt die Teile mit, die übrig geblieben sind,
und versucht zu rekonstruieren, was Edgar eigentlich bauen wollte, aber er schafft es nicht. Deshalb
möchte er nach Weihnachten noch einmal in die Laube. Als er dort ankommt, ist sie schon
eingeebnet.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Roman beginnt mit vier Zeitungstexten: einer kurzen Meldung über den Unfall eines gewissen
Edgar W. und drei Todesanzeigen. Dass Edgar tot ist, erfährt der Leser so als Erstes, ohne die
Hintergründe zu kennen. Danach wechseln sich im Roman zwei Perspektiven ab: Edgars Vater
versucht nachträglich, das Geschehen zu rekonstruieren, und führt dazu Gespräche mit Edgars
Bekannten. Diese Textpassagen sind als reine Dialoge wiedergegeben und werden optisch durch
Einrückung vom übrigen Text abgesetzt. Die zweite Perspektive liefert Edgar selbst, der sich,
sozusagen aus dem Jenseits, immer wieder rückblickend zu Wort meldet, die Aussagen der anderen
kommentiert, seine eigene Version der Geschichte liefert und dabei den Leser oft direkt anspricht.
Seine Berichte machen den größten Teil des Buches aus. Edgars Sprache ist der Jargon eines
Jugendlichen: flapsig, manchmal vulgär, mit bestimmten stereotypen Wendungen, Über- und
Untertreibungen und englischen Begriffen. Auch in den Dialogen zwischen dem Vater und den
übrigen Personen wird Umgangssprache verwendet, sie sind allgemein recht knapp und nüchtern
gehalten. Eine besondere Rolle spielen im Roman die Zitate aus Goethes Die Leiden des jungen
Werther, die Edgar immer wieder einstreut, um seine Lage zu kommentieren oder andere zu
verblüffen. Mit ihrer etwas altertümlichen Sprache heben sie sich deutlich vom übrigen Text ab.

Interpretationsansätze
Plenzdorfs Roman ist eine Neufassung von Goethes Die Leiden des jungen Werther. Sowohl das
Motiv der Rebellion gegen althergebrachte Normen als auch das der unglücklichen Liebe findet sich
in beiden Romanen. Kein Wunder, dass sich Edgar immer mehr mit „Old Werther“ identifiziert.
Ironischerweise findet er Goethes Roman auf der Toilette, und von den übrigen Romanfiguren
erkennt keine den klassischen Text, nicht einmal der Germanistikstudent Dieter.

Plenzdorf übt deutliche Kritik an der sozialistischen Gesellschaft, die dem Einzelnen wenig Raum
für eine individuelle Lebensgestaltung lässt. Allerdings ist Edgar kein Gegner des Sozialismus. Sein
provokantes Verhalten ist typisch für Jugendliche – was aber in dieser Gesellschaft schon reicht, um
zum Außenseiter zu werden.

Edgars künstlerische Ambitionen werden nicht gefördert, weil seine abstrakten Bilder nicht den
offiziellen Vorstellungen von Kunst entsprechen. Seine Basteleien an der Farbspritze sind ein
weiterer Versuch, kreativ zu sein und etwas Eigenständiges zu leisten. Aber auch hier scheitert er, der
Versuch kostet ihn das Leben.

Charlies Verlobter Dieter ist ein Musterbeispiel der Systemtreue und des Angepasstseins. Auf
Edgar wirkt er nicht vorbildlich, sondern eher abschreckend, da er langweilig und ohne eigene
Persönlichkeit ist.

Neben der Auflehnung Edgars gegen die Gesellschaft spielt auch die – nicht vorhandene – Vater-
Sohn-Beziehung eine Rolle: Edgars Vater kennt ihn gar nicht mehr und versucht erst nach dessen Tod
vergeblich zu ergründen, was für ein Mensch sein Sohn eigentlich war.

Historischer Hintergrund

Jugend in der DDR

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Deutschland von den Siegermächten in vier
Besatzungszonen aufgeteilt: eine amerikanische, englische, französische und sowjetische. 1949
entstand aus den ersten drei Zonen die BRD, aus der letzten die DDR. Die Sowjetunion strebte in
ihrer Zone einen sozialistischen Staat nach sowjetischem Vorbild an. Das Ergebnis war ein Staat mit
totalitären Zügen, der seine Bürger bis ins Privatleben hinein überwachte und reglementierte. Ziel
des Staates war es, die Menschen nach der Ideologie des Sozialismus zu formen. Wie sich ein guter
Sozialist zu verhalten hatte, stand fest; eine Lebensgestaltung nach eigenen Vorstellungen war kaum
möglich. Wer den Normen nicht entsprach, hatte mit Sanktionen zu rechnen. Auf eine
entsprechende Erziehung der Kinder und Jugendlichen legte man großen Wert. Die Mitgliedschaft in
den Jugendorganisationen der Sozialistischen Einheitspartei (SED) war für alle Pflicht. Mit dem
Schulbeginn kamen die Kinder zu den Jungen Pionieren, mit 14 Jahren traten sie dann in die Freie
Deutsche Jugend (FDJ) über. Um zu verhindern, dass sie mit Gedankengut in Berührung kamen, das
nicht dem Sozialismus entsprach, wurde ihre Freizeit weitgehend verplant. Die Jugendorganisationen
der SED boten dafür ein reichhaltiges Programm an, eine Teilnahme wurde selbstverständlich
erwartet. Dieser staatlichen Reglementierung entzogen sich nur wenige, denn wer nicht linientreu
war, riskierte seine berufliche Zukunft. So hatten Jugendliche kaum Freiräume, ihr Leben selbst zu
gestalten. Auch wenn ihr Wunsch nach persönlicher Freiheit ebenso stark vorhanden war wie bei
ihren Altersgenossen im Westen, passten sich viele wenigstens nach außen hin den geltenden
Normen an, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten.

Entstehung

Wie schon der Romantitel deutlich macht, hat Plenzdorf Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden
des jungen Werther (1774) zur Vorlage für seinen Text genommen. Goethes Roman besteht zu einem
großen Teil aus Briefen, die Werther an seinen Freund Wilhelm schickt. Als typischer Vertreter des
Sturm und Drang sieht sich Werther in Opposition zur Gesellschaft. Er verliebt sich in Charlotte, die
jedoch bereits mit einem anderen Mann verlobt ist, den Werther als langweilig und spießig
empfindet. Werthers Liebe bleibt unerfüllt, worunter er so sehr leidet, dass er sich schließlich das
Leben nimmt. Plenzdorf übertrug diese Handlung in den Alltag der DDR: Bei ihm heißt die
Angebetete Charlie, und anstelle von Briefen werden Tonbandnachrichten an einen Freund namens
Willi geschickt. Auch Edgar hat mit einem langweiligen Nebenbuhler zu kämpfen und zieht den
Kürzeren. Edgars Tod am Ende ist allerdings kein Selbstmord, sondern ein Unfall, den er durch
Nachlässigkeit selbst verschuldet hat. Ein weiteres literarisches Vorbild Plenzdorfs wird ebenfalls im
Text genannt: der Roman Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger (1951). Auch hier geht es um die
Auseinandersetzung eines pubertierenden Jugendlichen mit seiner Umwelt. Plenzdorf orientiert sich
vor allem in der konsequenten Verwendung von Jugendsprache an Salinger. Ein Filmskript von Die
neuen Leiden des jungen W. entstand schon 1968, aber im politischen Klima der damaligen Zeit war
an eine Realisierung nicht zu denken. Das änderte sich erst nach dem achten Parteitag der SED 1971,
auf dem den Künstlern mehr Freiheiten eingeräumt wurden, sich auch kritisch mit ihrem Staat
auseinanderzusetzen. 1972 erschienen Die neuen Leiden des jungen W. als Prosatext in der
Literaturzeitschrift Sinn und Form. Die Theaterversion wurde im selben Jahr in Halle uraufgeführt.
1973 wurde der Roman in Buchform in Ost- und Westdeutschland veröffentlicht.

Wirkungsgeschichte

Ulrich Plenzdorf war einer der ersten Schriftsteller, die es wagten, die etwas größere künstlerische
Freiheit nach dem achten Parteitag der SED zu nutzen und einen z. T. DDR-kritischen Text zu
veröffentlichen. Die neuen Leiden des jungen W. brachen in Inhalt und Form mit einigen Regeln, die
bis dahin in der DDR-Literatur vorausgesetzt wurden. Entsprechend war die Resonanz. Bereits die
Erstveröffentlichung in Sinn und Form löste heftige Debatten aus. Kritisiert wurden die flapsige
Sprache des Protagonisten und die Tatsache, dass es keine positive Gegenfigur zu Edgar gibt. Die
offizielle Seite vertrat die Meinung, Plenzdorf habe hier die Grenzen des Tragbaren deutlich
überschritten. Von den Lesern wurde das Werk dagegen überwiegend begeistert aufgenommen, vor
allem von Jugendlichen, die sich mit Edgar identifizierten – und das nicht nur in Ost-, sondern auch in
Westdeutschland. Die neuen Leiden des jungen W. waren als Roman wie als Theaterstück ein Erfolg.
Mit einem Schlag war Plenzdorf in ganz Deutschland berühmt. In der Theatersaison 1973/74
gehörten Die neuen Leiden des jungen W. zu einem der meistgespielten Stücke auf ost- und
westdeutschen Bühnen. In der BRD wurde der Stoff 1974 zu einem Hörspiel verarbeitet und 1976
unter der Regie von Eberhard Itzenplitz verfilmt. In westdeutschen Schulen war der Roman
außerdem Pflichtlektüre. Die neuen Leiden des jungen W. wurden auch in zahlreiche Sprachen
übersetzt.

Über den Autor

Ulrich Plenzdorf wird am 26. Oktober 1934 in Berlin geboren. Beide Elternteile sind aktive
Kommunisten und werden deshalb während der Zeit des Nationalsozialismus mehrfach verhaftet.
Auch Plenzdorf selbst versteht sich als Kommunist. Nach dem Krieg lebt er in der DDR und
unternimmt, anders als viele Schriftstellerkollegen, keine Versuche, den Staat zu verlassen. Doch
zugleich kämpft er sein Leben lang für einen kommunistischen Staat, der dem Einzelnen auch
Individualismus und Selbstbestimmung ermöglicht. 1954 beginnt Plenzdorf in Leipzig Philosophie und
Marxismus-Leninismus zu studieren, doch die trockene Ideologie liegt ihm nicht. So bricht er das
Studium schon bald wieder ab und ist zunächst als Bühnenarbeiter tätig. 1959 beginnt er ein Studium
an der Filmhochschule Babelsberg und arbeitet ab 1963 als Dramaturg bei der Deutschen Film-AG
(DEFA). Doch seine Werke sind nicht immer linientreu. Schon der erste eigene Film, Karla (1964), wird
verboten und kann erst nach der Wende 1990 uraufgeführt werden. Ähnlich ergeht es der Erzählung
kein runter kein fern, die 1974 entsteht und 1984 erscheint – jedoch nicht in der DDR, sondern in der
Bundesrepublik. Ulrich Plenzdorf ist aber auch in der DDR erfolgreich, so z. B. mit dem Drehbuch zu
Die Legende von Paul & Paula (1974). 1973 erhält er den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der
Künste der DDR. Nach dem Erfolg von Die neuen Leiden des jungen W. (1972) hat er zunehmend
Kontakte in den Westen. Die DDR-Führung toleriert das weitgehend und ermöglicht ihm auch
Lesereisen durch Westdeutschland. Zugleich nimmt aber die Überwachung zu. 1978 wird er für die
Erzählung kein runter kein fern mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Plenzdorf schreibt
weiter Drehbücher, u. a. zu Werken anderer Autoren wie Volker Braun oder Martin Walser. Auch
eine Staffel der Fernsehserie Liebling Kreuzberg stammt aus seiner Feder. Dafür erhält er 1995 den
Adolf-Grimme-Preis. Ulrich Plenzdorf stirbt am 9. August 2007 in Berlin.

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