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Kassandra

Christa Wolf

In ihrer Erzählung »Kassandra«, die 1983 zeitgleich in der damaligen DDR und der
Bundesrepublik Deutschland erschienen ist, greift Christa Wolf einen Stoff aus der
griechischen Mythologie auf: die Geschichte und den Untergang Trojas. Darin eingebettet ist
die Lebensgeschichte der Seherin Kassandra. In Form eines inneren Monologs blickt
Kassandra unmittelbar vor ihrem Tod zurück auf ihre Kindheit und Jugend, den Krieg um
Troja und seine Vorbedingungen. Dabei folgt Kassandra ihren Assoziationen und Emotionen.
Um das Verständnis und den Zugang zu dem Werk zu erleichtern, stellt die
folgende Inhaltsangabe die Ereignisse in eine chronologische Reihenfolge.
In Troja (im Buch stets: Troia) herrscht König Priamos, an seiner Seite steht Königin
Hekabe. Noch vor Kassandras Geburt soll ihr Bruder Paris auf Anordnung seines Vaters
Priamos getötet werden. Damit will man einem Orakelspruch entgehen, demzufolge Paris die
Ursache für den Untergang Trojas sein werde. Mitleidige Hirten setzen das Kind zwar aus,
töten es aber nicht.
Die Mission des ERSTEN SCHIFFS unter der Führung von Lampos besteht darin,
Opfergaben aus Troja zum Orakel von Delphi zu bringen und mit den Griechen über den
Zugang zum Hellespont zu verhandeln. Die Verhandlungen scheitern, aber der
Apollonpriester Panthoos, ein Grieche, folgt Lampos nach Troja. In Absprache mit Priamos
schafft Panthoos die Knabenopfer in Troja ab. Als Kassandra geboren wird, rankt sich bereits
ein Mythos um das ERSTE SCHIFF.
Kassandra ist Priamos‘ Lieblingstochter und immer in dessen Nähe. Sie wird schon
früh Zeugin von politischen Gesprächen und Beratungen.
Als ihr geliebter Bruders Aisakos sich aus Trauer über den Tod seiner Frau Asterope
von den Klippen ins Meer stürzt, wird behauptet, er habe sich als Vogel in die Luft erhoben.
Kassandra wehrt sich dagegen und leidet tagelang an einer Bewusstseinsstörung.
Nach ihrer Menarche nimmt sie mit anderen jungen Mädchen an der Feier einer
rituellen Entjungferung teil. Aineias wählt Kassandra, und die beiden verliebten sich
ineinander. Es kommt nicht zum Geschlechtsakt.
Aineias Vater Anchises und der Seher Kalchas werden mit dem ZWEITEN SCHIFF
ausgeschickt, um Priamos‘ Schwester, die angeblich von dem Spartaner Telamon geraubte
Hesione, nach Troja zurückzubringen. Die Mission scheitert, weil Hesione inzwischen mit
Telamon verheiratet und in Sparta hoch angesehen ist. Zudem entscheidet sich Kalchas in
Griechenland zu bleiben. In Troja wird jedoch behauptet, Kalchas sei von den Griechen
gefangen genommen worden, und die tatsächlichen Ereignisse werden geheim gehalten. Als
Kassandra von Aineias die Wahrheit erfährt, spricht zum ersten Mal eine fremde Stimme aus
ihr. Daraufhin erleidet sie einen Anfall, von dem sie sich nur langsam erholt.
Auf Betreiben der Mutter Hekabe soll Kassandra von Panthoos zur Priesterin Apollons
geweiht werden. In einem Traum verleiht ihr der Sonnengott die Sehergabe, die Kassandra
sich ersehnt hat. Weil sie sich ihm aber als Frau verweigert, belegt er sie mit dem Fluch, dass
niemand ihren Vorhersagen glauben wird.
Paris erscheint unerwartet bei Kampfspielen und geht als Sieger daraus hervor, was zu
Ausschreitungen führt. Bei der Abriegelung des Stadions durch Priamos‘ Wachen tut sich der
junge Offizier Eumelos zum ersten Mal besonders hervor. Um das Geheimnis um Paris zu
lüften, sucht Kassandra Arisbe auf, die Mutter des Aisakos. Sie gehört zur Gemeinde am Berg
Ida, einer Gegenwelt mit eigener Gesellschaftsordnung, in der man den Kybelekult pflegt.
Der Spartanerkönig Menelaos ist zu Besuch in Troja, wo Paris ihn provoziert, indem
er die Herausgabe von Hesione fordert. Anderenfalls droht er Menelaos an, dessen Frau, die
schöne Helena, zu rauben. Entsetzen breitet sich ob dieser Ungeheuerlichkeit aus. Kassandra
erleidet einen heftigen Anfall und sieht den Untergang Trojas voraus. Ihre Warnung davor,
ein weiteres Schiff ausfahren zu lassen, wird überhört. Inzwischen hat Eumelos das
Kommando über die Palastwache übernommen, die sich unter seiner Führung zu einer
Geheimpolizei entwickelt, die zusehends die Kontrolle über Troja übernimmt.
Während Kassandra sich auf ihre Priesterweihe vorbereitet, läuft unter der Führung
von Paris das DRITTE SCHIFF aus. Es kehrt ohne Paris zurück. Das Gerücht wird verbreitet,
dass Paris die schöne Helena entführt habe und sie auf Umwegen nach Troja bringe. Monate
später kommt Paris auf einem ägyptischen Schiff nach Troja und führt eine verschleierte
Person von Bord. Im Königshaus wird es ein offenes Geheimnis, dass es sich dabei jedoch
nicht um Helena handelt.
Der Öffentlichkeit wird jedoch glauben gemacht, Helena befinde sich in Troja.
Kassandra sieht, dass diese Täuschung zu Trojas Ende führen wird, und erleidet einen
weiteren Anfall. Um die Gefahr für Troja abzuwenden, rät sie ihrem Vater dringend, mit der
Delegation des Menelaos, die die Herausgabe Helenas fordert, zu verhandeln und sie mit
Gastgeschenken versöhnlich zu stimmen. Priamos weigert sich und beschwört damit den
Krieg herauf.
Im folgenden Frühjahr landet die griechische Flotte vor Troja. Unter den Kriegern ist
Achill, der größte Held der Griechen. Noch am selben Tag wird Kassandra Zeugin, wie Achill
ihren Bruder Troilos im Tempel des Apollon erschlägt. Kassandra gibt Achill den Beinamen
»das Vieh«. Ruhe und Trost findet sie bei Aineias. Beide beginnen eine Liebesbeziehung.
Kassandra entfernt sich von ihrer Familie, indem sie sich den Menschen am Ida-Berg
zuwendet, zu denen die weise Arisbe und Anchises gehören. Troja hält der Belagerung stand,
während die Griechen vorgelagerte Inseln und entfernte Küstenstädte überfallen.
Eumelos baut seine Macht weiter aus: Seine Männer beherrschen das öffentliche
Leben und überwachen die Königsfamilie und die Beamtenschaft. Sie zwingen Kassandras
ältesten Bruder Hektor in den Zweikampf gegen Achill. Hektor wird getötet, und Achill will
Hektors misshandelten Leichnam gegen Kassandras Schwester Polyxena eintauschen.
Als Achill aus Rache für den Tod seines Geliebten Patrokolos zwölf trojanische
Gefangene abschlachten lässt, erreicht der Krieg einen grausamen Höhepunkt. Die Amazonen
unter der Führung von Penthesilea wollen Troja im Kampf gegen die Griechen unterstützen,
doch auch Penthesilea fällt im Kampf mit Achill. Dieser schändet ihre Leiche, und die
Amazonen geraten außer sich. Als während der Totenklage Panthoos auftaucht, töten die
Frauen ihn.
Die Trojer wollen Achill eine Falle stellen: Polyxena soll ihn im Tempel erwarten, und
während er sich ihr nähert, will Paris ihn an seiner schwächsten Stelle, der Ferse, treffen und
ihn töten. Kassandra fürchtet um Polyxena und wendet sich im Rat entschieden gegen Paris‘
Plan. Damit wird sie für Priamos zur Verräterin. Er lässt sie in das sogenannte Heldengrab
sperren. Der Plan gelingt und Paris tötet Achill. Polyxena wird wahnsinnig.
Nach ihrer Entlassung aus der Gefangenschaft lebt Kassandra bei ihren Freunden in
der Ida-Berg-Gemeinde. Eurypilos, ein neuer Verbündeter, verlangt von Priamos als
Gegenleistung für die Bereitstellung einer Truppe Kassandra zur Frau. Am Tag nach der
Hochzeitsnacht fällt Eurypilos im Kampf. Kassandra bringt Zwillinge von ihm zur Welt.
Aineias verlangt von Kassandra, gemeinsam ihm und ihren Kindern zu fliehen. Doch
Kassandra entscheidet sich in Troja zu bleiben. Die scheinbar abziehenden Griechen lassen
ein hölzernes Ungetüm vor den Toren Trojas zurück. Niemand glaubt Kassandras Warnung
vor dem riesigen Pferd. Die Trojer holen es in die Stadt, und werden von den Griechen, die
aus dem Innern des Pferdes steigen, niedergemetzelt. Die Überlebenden, unter ihnen
Kassandra, werden als Gefangene von Agamemnon nach Mykenae gebracht. Dort sieht
Kassandra dem Tod durch die Hand Klytaimnestras entgegen.
Christa Wolf erzählt die bekannte Geschichte aus der Perspektive einer weiblichen
Hauptperson. Mit »Kassandra« hinterfragt sie den Mythos um die Helden einer
patriarchalischen Ordnung und stellt eine weibliche Alternative vor. Kassandras Loslösung
von ihrem Vater geht einher mit ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem geltenden
Herrschaftssystem, das sich durch Gewalt und Unterdrückung auszeichnet. Dem werden in
der Parallelwelt am Berg Ida Frauensolidarität, weibliche Intuition und Lebensklugheit sowie
die Weisheit der Alten und ihr Gemeinschaftssinn entgegengesetzt. Mit der Veröffentlichung
traf Christa Wolf 1983 in beiden Teilen Deutschlands den Nerv der Zeit: Während in der
damaligen DDR die Kritik an der Realität des SED-Staates zunahm, prägten in der
Bundesrepublik die Friedens- und die Frauenbewegung den gesellschaftlichen Diskurs.

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