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Ein unbescheidener Vorschlag

Stephen Barber (/person/stephen-barber-2350)


Krieg aus Fragmenten: World Versus America
J.G. Ballards letzter Roman​entwurf
Übersetzt von Sabine Schulz
Veröffentlicht am 11.12.2017

EN  (/titel/a-war-of-fragments-world-versus-america-5332)

J.G. Ballards selbsterklärter »Unbescheidener Vorschlag« zu einer globalen Kriegsallianz,


um Ameri​kas Zerstörung zu betreiben, de​​monstriert nicht nur die provokative
Leidenschaft seiner letzten Romanprojekte, sondern auch ihre bleibende prophetische
Kraft. In den Notizheften zu World Versus America unterstreicht Ballard mehrmals, dass
es ihm mit seinen Sorgen und Visionen bitter ernst ist.
Die Ballard-Erben haben ihr Einverständnis dazu verweigert, Seiten aus den Notizheften
zu World Versus America im Rahmen dieses Essays abzudrucken. Dennoch hat jeder
Interessierte ohne Weiteres die Möglichkeit, die kompletten Notizhefte in der frei
zugänglichen Manuskriptsammlung der British Library einzusehen.
Die Visionen, die J.G. Ballard in seinem Schreiben unablässig beschäftigten,
schwächten sich ganz am Ende seines Schaffens nicht ab, sondern rückten umso
schärfer und dringlicher in den Vordergrund. Von dieser fortgesetzten
Beschäftigung hat sich ein unschätzbares archivarisches Überbleibsel in Form
mehrerer Notizhefte (von Ballards Archivar Chris Beckett um 2005/06 datiert)
erhalten, in denen die Umrisse eines potentiellen neuen Romans skizziert werden.
Der Titel: World Versus America. Diese Notizhefte ermöglichen erstaunliche
Einsichten in die Arbeitsweise des späten Ballard. In ihnen zeigt sich, wie er sein
Werk gleichsam schürte und vorantrieb und offensichtlich unbeeindruckt war von
der Furore, die es im Fall einer Veröffentlichung womöglich entfachte. Darüber
hinaus sind die Notizhefte sehr eigene visuelle Artefakte, in denen Ballards
visuelle Collagen und experimentelle künstlerische Arbeiten aus der Zeit der
späten 1950er bis zu den frühen 1970er Jahren nachhallen (namentlich diejenigen,
die für das Magazin Ambit entstanden).

Im Zusammenhang mit den World Versus America-Notizen liegt vieles im Dunkeln.


Weder lässt sich mit Sicherheit sagen, wann genau Ballard an ihnen arbeitete,
noch ob er beabsichtigte, das akkurat skizzierte Projekt zu vollenden und zu
veröffentlichen (allerdings heißt es in den Notizheften ausdrücklich, dass er mit
dem Gedanken spielte, das Projekt zu einem Film auszuarbeiten). Wir wissen auch
nicht, ob Ballard in der Zeit nach seinem letzten Roman Kingdom Come noch an
weiteren literarischen Projekten arbeitete (ein Entwurf bzw. eine Grundidee findet
in den World Versus America-Notizheften Erwähnung). Mit Sicherheit aber stellen
die Notizhefte zu World Versus America das einzige Projekt aus jener Zeit dar, das
im Archiv überdauern konnte. Angesichts all dieser Unbekannten ist jeder
Versuch, Ballards World Versus America als sein »letztes« Stück Literatur
einzuordnen – oder auch nur als eines, das definitiv zur Publikation bestimmt war
–, anmaßend und reine Spekulation. Die Gründe, warum ein Projekt »aufgegeben«
wird, sind oftmals vielgestaltig und widersprüchlich. Nichts deutet darauf hin,
dass Ballard World Versus America bewusst liegengelassen hat, ob aus
persönlichen, ob aus werkbezogenen Gründen, noch gibt es Hinweise, dass das
Projekt, zum Beispiel durch sein imaginatives Wuchern und die daraus sich
ergebende potentielle Unrealisierbarkeit, ihn verlassen haben könnte; das
Verlassen, die Aufgabe als solche hat ein Eigenleben. Allerdings sind die
Manuskriptfassungen vieler Projekte Ballards offenbar zerstört worden, aber die
World Versus America-Notizhefte hat er aufgehoben (oder zumindest nicht
weggeworfen), was ein Anzeichen dafür sein könnte, dass es einen besonderen
Grund gab, weshalb gerade dieses Projekt überdauert hat – und sich nun den
Erforschern seines hochwichtigen Spätwerks so wundersam öffnet, es in Angriff
zu nehmen.

In World Versus America verschärft sich der gleißende Fokus auf die neokolonialen
Flächenbrände und die tödlichen Auswüchse des Konsumwahns, der den letzten
publizierten Romans Kingdom Come bestimmte, noch weiter. In seiner
fragmentarischen Form ruft es zudem die zersplitternde Experimentalästhetik von
The Atrocity Exhibition (1970) auf. Wo Kingdom Come sich räumlich nach innen
bewegt, ist World Versus America als ein expansiver, vielstimmiger Text angelegt.
Kingdom Come wütet entfesselt gegen die implodierende Miniaturstadt des
Shopping-Centers, als deren Vorbild der Atrium-Komplex des Bentall Centre dient,
gelegen in Kingston-on-Thames in der westlichen Londoner Peripherie und nicht
weit von Ballards Wohnort in Shepperton. Schon sechs Jahre vor der
Veröffentlichung von Kingdom Come schäumte Ballard in Interviews gegen das
Bentall Centre, das aus seiner Sicht die »Gefahren« physischer und sensorischer
Negation verkörpert: »Die Gefahren sind da«, erklärt er. »Es ist eine Abtötung
menschlichen Empfindungsvermögens. Gehen Sie mal an einen Ort wie Kingston-
on-Thames… das kommt der modernen Hölle schon sehr nahe. Gehen Sie ins
Bentall Centre« – er spricht den Namen aus wie einer, der »Auschwitz-Birkenau«
sagt – »und Sie werden diese riesenhaften Korridore sehen, in denen die Leute

herumirren.«1 In anderen Interviews aus der Zeit der Veröffentlichung von


Kingdom Come verengt Ballard seinen Fokus und verzichtet auf eine allgemeine

Denunziation etwa von Kingston-on-Thames – »eine Stadt, die ich verabscheue«2,


wie Ballard sich bemühte hervorzuheben –, um seine ganze Feindschaft auf das
Bentall Centre und seine Aneinanderreihung von Konsum-Zellen zu bündeln, jenes
Gehege, in dem seine Romanfiguren Auslauf haben.
Im Gegensatz dazu expandieren Ballards Pläne für World Versus America ins
Globale und richten sich im Gestus maximaler Provokation gegen einen anderen
Feind: die Vereinigten Staaten der ersten Jahre des einundzwanzigsten
Jahrhunderts, während derer die US-Streitkräfte, anknüpfend an zahllose andere
Interventionen weltweit, in der sogenannten »Operation Iraqi Freedom« in den
Irak einmarschierten. World Versus America entstand auch in der Folge der
Luftangriffe auf amerikanische Ziele vom 11. September 2001 und der Initiierung
neuer Definitionen von »Terrorismus«. Daneben bleibt in World Versus America
auch das obsessive Kreisen um einen apokalyptischen Konsumwahn wirksam,
welcher der treibende Faktor in Kingdom Come ist. Offenbar begriff Ballard seit
seiner Kindheit im Shanghai mit ihren protzigen amerikanischen Autos und
Kühlschränken den Konsumismus als unverkennbar amerikanisches Phänomen.

In archivierter Form existiert World Versus America einzig und allein in Form von
fünf Notizheften, von denen ausgehend das Projekt nicht weiterverfolgt wurde
(nach Kingdom Come vollendete und veröffentlichte Ballard nur noch ein weiteres
Buch, das autobiographische Miracle of Life von 2008). In seiner verdichteten Form
erinnert World Versus America an jene ebenso dichten Texte, mit denen Ballard in
der zweiten Hälfte der 1960er Jahre experimentierte. In ihrer Fragmentiertheit
scheinen die Notizhefte auf The Atrocity Exhibition zurückzugreifen, wenn die
Vorstellung der Ermordung eines US-Präsidenten reaktiviert und der gedachte
Leser in atemlose Sequenzen Allerletztheit suggerierender narrativer Cuts
hineingezogen wird. Aus der Konzeption des Projekts in den Notizheften wird
ersichtlich, dass Ballard Elemente aus Fernsehnachrichten, Propagandafilmen,
Internetvideos und Magazinartikeln einbauen wollte, was vom Verfahren her
ebenfalls an die Collagetechniken von The Atrocity Exhibition und zeitgleich
entstandener künstlerischer Arbeiten denken lässt. An einer Stelle liest man zur
Erzählweise des Romans, er solle »eine Reihe von Zeugenberichten« beinhalten.
Und anknüpfend an die Spielfilme, die von den Romanen Empire of the Sun und
Crash gedreht wurden (beide Filme sind in den Notizheften erwähnt), dachte
Ballard World Versus America bereits als Filmprojekt, das von der potentiellen
Romanform durchaus zur Form eines Drehbuchs mutieren konnte (oder zu
irgendeiner anderen Form des Bewegtbilds oder Mediums). Es klingt im Prozess
seiner Entstehung also auch die filmische Konzeption von The Atrocity Exhibition
an.

Die Waffen, die Ballard für seinen Angriff auf Amerikas immense neokoloniale
und medial gestützte Übermacht zur Verfügung hatte, waren schwacher Natur: es
sind fünf spiralgebundene Notizbücher aus Massenfabrikat (viele Seiten sind
offensichtlich zu anderen Zwecken herausgerissen worden), immer noch beklebt
mit den Etiketten aus dem Laden, in dem er sie gekauft hatte (»The Card Centre,
Shepperton«); vier der Notizbücher waren mit 80 Pence ausgepreist, daneben ein
luxuriöseres, goldfarbenes, das 99 Pence gekostet hatte und das Ballards
Hauptarbeit an dem Projekt beinhaltet. Ballards in enger Handschrift notierte und
fragmentarische Textelemente nehmen nur einen Teil des verfügbaren Raums ein
(in einem Notizbuch sind nur zwei Seiten benutzt, der Rest der Seiten blieb leer).
Die Rückseite eines Notizbuchs ist mit »JGB« signiert. Die gesamte Arbeit an World
Versus America ist handschriftlich niedergelegt, meistens mit blauem
Kugelschreiber, wobei hin und wieder ein mit schwarzem oder rotem
Kugelschreiber geschriebener Absatz steht. Eine Ausnahme bildet ein mit
Maschine beschriebenes Blatt Papier, in dem das Projekt knapp zusammenfasst
wird (anscheinend zu Händen eines Verlegers oder Literaturagenten im
Zusammenhang mit einer potentiellen gelegentlichen Veröffentlichung, wobei
diese Interpretation des einseitigen Dokuments keineswegs als sicher gelten kann).
In seiner verdichteten und gleichsam filmischen Form stellt es ein bündiges
Treatment vor, eine Synopsis des Projekts. In seinem Essay über den Ballard-
Nachlass in der British Library beschreibt der Nachlassbeauftragte Chris Beckett,
was als Faktum über dieses Material bekannt ist: »Das Archiv enthält einen Satz
fünf undatierter Notizhefte mit der Skizze zu einem nie geschriebenen Romans
über einen Weltkrieg, auf den als WVA oder World Versus America verwiesen

wird.«3
In seinem Projektzustand in den fünf Notizheften präsentiert Word Versus America
eher schematische Figuren als Charaktere. Vermerkt hat Ballard immerhin, dass er
noch eine gewisse Anzahl an direkt beteiligten und eingebundenen Charakteren
zu entwickeln gedenke, um die ausgreifende und verschlungene Romanhandlung
anzutreiben, aber in der Fassung der Notizhefte (und von dieser ausgehend nahm
das Projekt offenbar keinen weiteren Fortgang, und wenn doch, dann zog Ballard
es vor, keine Spuren jener späteren Arbeiten an dem Projekt zu bewahren) sind
seine Figuren nichts weiter als enigmatische Chiffren. Sie bleiben unfähig, in eine
Erzählung angekündigter Auslöschung einzutreten (in der Amerika »sich wirksam
selbst zerstört – eine Kettenreaktion beginnt«), und erinnern darin an die Figuren
Xero, Kline und Coma, die in The Atrocity Exhibition an den Rändern halbfertiger
oder aufgelassener Autobahnen bereitstehen. Die Figur, die im geplanten letzten
Teil des Projekts den amerikanischen Präsidenten ermordet, macht die
»Hauptfigur« aus, bleibt aber verborgen und maskiert (für den Akt der Ermordung
darf sie sich als Disneyland-Angestellter in ein Mickymaus-Kostüm hüllen). Was
dagegen weitaus präziser ausgestaltet ist, sind die Ziele und Mittel von Europas
terroristischen Angriffen auf Amerika: Ballard ersinnt ausgetüftelte Listen
derartiger Ziele und unterteilt sie in Kategorien wie vorrangig und »Sonstiges«,
wobei er ein kompliziertes, visuell prägnantes System aus mit Rotstift
angebrachten Häkchen und Dreiersternchen verwendet, die Querverweise
innerhalb der Notizhefte markieren, etwa für Zerstörungsmethoden wie
›Selbstmordanschläge« und »Kamikazeflüge«, und um »ikonische« Ziele wie
»Hollywood-Symbole und Studios« von minderen Zielen wie »Big Macs, Holiday
Inns, etc.« abzusetzen.
Mit seinem Entwurf bringt Ballard das Szenario eines terroristischen Krieges
gegen Amerikas bösartige neokoloniale und konsumistische Gefahren als ein
Szenario von tödlichem Ernst in Stellung, das zwar satirische Elemente enthält,
doch keinerlei Ironie. Zwar ist das Projekt in der Gegenwart angesiedelt, doch sein
zeitlicher Rahmen reicht über sieben Jahrzehnte zurück auf historische
Musterbeispiele wie den Vietnamkrieg oder den Zweiten Weltkrieg. Gemäß
Ballards Plan für die Handlung und den Schluss soll Amerika so dargestellt
werden, »als sei das Land so gefährlich wie Nazideutschland oder die Sowjetunion
unter Stalin. Kein ironischer und zweideutiger Schluss. Angesichts dessen, dass die
meisten Menschen vorwiegend bewundernde Gefühle für die Vereinigten Staaten
hegen, wäre es umso erschütternder, sie als den Feind zu behandeln (wie ein von
einem Vietkong geschriebenes Buch). Ein ironischer Schluss würde das nur
schwächen… der 11. September legt einen psychologischen Zugang nahe, der auf
die Hauptschwächen der USA zielt – ihre Sentimentalität, Religiosität, ihr
Pubertieren…«. Die geplante Endphase des Konflikts, und die Auslöschung
Amerikas, wird in eine allesverschlingende Katastrophe in einer »wahnsinnigen
und brutalen« Form münden.
Ballards Beschäftigung mit der Entwicklung des World Versus America-Projekts
reicht so weit, dass er in den Notizheften an vielen Stellen mögliche
Leserreaktionen vorwegnimmt. Das muss nicht heißen, dass es für ihn
beschlossene Sache war, das Projekt zur Veröffentlichung weiterzutreiben, aber
Ballard hat ganz offensichtlich über die potentiellen Reaktionen der Leser auf
seine Ideen nachgedacht oder sie experimentell erprobt. Er nimmt die Erfahrung
des potentiellen Lesers mit World Versus America auf eine Weise in den Blick, die
abermals (zurück und vorwärts in der Zeit) die emotionslosen und dabei
tieferschütternden Transite, (Ver)störungen und Offenbarungen heraufbeschwört,
die eine Lektüre von The Atrocity Exhibition erzeugt. Seinen Überlegungen zufolge
könnte das Projekt die Form »kurzer Kapitel, beinahe tagebuchartig« haben, und
»jedes sähe die Ereignisse vom Standpunkt eines von sagen wir 6–10 Protagonisten
(es ist hier wahrscheinlich nicht so wichtig, den Leser emotional mitzunehmen,
weil die Geschichte selbst so stark und seltsam ist)«. Die Zerstörung Amerikas wird
als stufenweise Akkumulation fragmentierter Stimmen vorgestellt, die alle die
Katastrophe besingen, doch ohne jede Emotion.

Die Notizhefte im Archiv vermitteln dem Forscher, der sie in der British Library in
den Händen hält, einen Eindruck von Ballards intensiver Auseinandersetzung mit
den Themen, um die World Versus America kreist. Es erscheint als ehrgeiziges und
folgenschweres Projekt, das ihm schon in der Vorbereitungs- und Entwurfsphase
enorme Vorstellungskraft abverlangte und das, falls zur Vollendung getrieben, bei
seiner Veröffentlichung ebenso wie in Zukunft Empörung unter den Lesern
verursachen würde. Die Notizhefte decken auf, wie sorgfältig sich Ballard dem
Schreibprozess widmete, wenn zum Beispiel im Notizheft B eine vorsichtige
Schätzung der voraussichtlichen Anzahl an Wörtern für den ersten Teil des Buches
angestellt wird und vermerkt ist, als nächstes »eine vollständige Gesamtschau,
Szene für Szene« erstellen zu wollen. In ihrem Schattendasein im Archiv der
British Library mögen die World Versus America-Notebooks gewissermaßen
suspendiert und im Status des Aufgegebenen eingefroren erscheinen (wobei sie
nicht notwendigerweise absichtlich aufgegeben wurden), so als seien sie durch ein
gewaltsames, allumfassendes Verhängnis, das sie selbst hervorgerufen haben, an
ihrer Entwicklung gehindert, in ein Zeitloch gefallen oder stillgestellt durch eine
anti-narrative, das Erzählen als solches beschneidende Kraft wie in Ballards
früherem Werk, etwa The Atrocity Exhibition. Selbst wenn dem so ist, geht von
ihnen doch eine »starke und seltsame« Präsenz aus, die vielleicht noch durch die
Tatsache verstärkt wird, dass das Projekt nur in Fragmenten erhalten ist: als ein
zündender Entwurf und Überrest dessen, was Ballard einmal damit vorhatte.
Das aufgegebene Projekt, das Verlassene, dem Verfall Preisgegebene als solches
besitzt in allen seinen Varianten seine je eigenen, sonderbaren Qualitäten – von
der Architekturruine über die packende Aura weggeworfenen Zelluloids oder
ausgedienter Kinosäle bis hin zu menschlichem Hautgewebe oder Organen, die
dem Verfall preisgegeben sind, ob durch einen Unfall oder absichtlich. Das
Aufgegebene berührt stets eine oszillierende Zone, eine Transitsphäre wie jene der
Highways in der Peripherie West-Londons, die von den Protagonisten von Ballards
Crash durchquert werden, deren rebellische Akte nur hervorheben, dass das
belastete Wort ›abandon‹, das im Englischen Hingabe und Preisgabe zugleich
bezeichnet, auch unkontrollierten sinnlichen Exzess meinen kann, in dem alle
Richtgrößen umgestürzt oder entleert sind und der zur freien Exponierung von
Gewalt und Sex anregt.
Im Notizheft C des World Versus America-Projekts reflektiert Ballard freimütig
über sein eigenes künftiges Werk; er gewährt Einblick in die Idee zu einem
weiteren Roman, der es ihm gestatten könnte, gänzlich »aus der Rolle zu fallen«
und damit alle Erwartungen zunichte zu machen. Eine weitere, ganz andere
Alternative zur Fortführung entweder von World Versus America oder von
Miracles of Life: »Schwer zu entscheiden, was als nächstes zu tun ist. Die Autobiog
ist fast ein letztes Wort. Aus der Rolle fallen, irgendwas wie Der alte Mann und das

Meer, das wäre ok.« 4


Ballards selbsterklärter »Unbescheidener Vorschlag« zu einer globalen
Kriegsallianz, um Amerikas Zerstörung zu betreiben und seine neokolonialen
Ambitionen, seinen bösartigen Konsumwahn mit Stumpf und Stiel auszutilgen,
demonstriert nicht nur die provokative Leidenschaft seiner letzten
Romanprojekte, sondern auch ihre bleibende prophetische Kraft. In den World
Versus America-Notizheften unterstreicht Ballard mehrmals, dass es ihm mit
seinen Sorgen und Visionen bitter ernst ist. 1968 schrieb Jean Genet – dessen
Literatur Ballard verehrte und als Inspiration insbesondere der ersten Seiten von
Crash betrachtete – in einem Artikel für das Magazin Esquire (das diesen ablehnte)
über seine eigenen Vorschläge zur Zerstörung Amerikas: »Amerika ist eine
schwergewichtige Insel: zu schwergewichtig. Für Amerika wie für die ganze Welt

wäre es eine gute Sache, wenn es zu feinem Staub zermalmt würde.«5 Die von
Genet vorgeschlagene Zerstörung Amerikas ließe sich der Ballards an die Seite
stellen. Sie beide sind getragen von einer gleichzeitig politischen und
apokalyptischen Vision, befeuert von der machtvollen Vorstellung totaler
Preisgabe, zerberstend in tausend Fragmente. Zwar verkündete Ballard 1990, er
wolle sein Werk rückblickend »Den Geisteskranken« (›To the Insane‹) widmen

(»Ich schulde ihnen alles«)6, doch projizieren seine Warnungen und


Provokationen in den World Versus America-Notizheften die von ihm
empfundenen »Gefahren« mit einer rohen Luzidität ohnegleichen in die nahe
Zukunft. Die im Archiv schlummernden Notizhefte von World Versus America sind
extrem aufschlussreiche, wesentliche Dokumente für all jene, die sich mit der
hochwichtigen Spätphase von Ballards Schaffen und mit dessen zähem Fortleben
in die Zukunft hinein beschäftigen.
Anmerkungen | 1 »The Shopping Mall Psychopath«, Interview mit Ballard von Thomas Sutcliffe, The

Independent, 14. September 2000, S. 7. | 2 »From Here to Dystopia«, Interview mit Ballard von Mick

Brown, The Telegraph (magazine), 2. September 2006, S. 16–22. | 3 Chris Beckett, »The Progress of the

Text: The Papers of J.G. Ballard at the British Library«, British Library Journal (online), 2011, S. 15. | 4
Sämtliche Zitate aus dem World Versus America-Projekt stammen aus den handschriftlichen
Notizheften in den J.G. Ballard Papers, British Library, London. Für seine Unterstützung und Hilfe bin

ich Chris Beckett von der British Library zu großem Dank verpflichtet. | 5 Aus L’Ennemi déclaré, Paris,
1991, S. 312–313. |
6 Anmerkungen [zur Neuausgabe], The Atrocity Exhibition, San Francisco 1990, S. 9.

Stephen Barber (/person/stephen-


barber-2350)
ist Autor von 25 Büchern, darunter sieben Romane.
Kürzlich erschienen: Berlin Bodies (Reaktion) und Guyotat:
Revolutions and Aberrations (Vauxhall&Co). Seine Bücher
wurden vielfach ausgezeichnet und in diverse Sprachen
übersetzt. The Independent newspaper (London) nannte ihn
»den gefährlichsten Mann Europas«.
Weitere Texte von Stephen Barber bei DIAPHANES

Futurama Nights, October 1978 (/titel/futurama-nights-


october-1978-4708)
ABO
ABO  (/titel/futurama-nights-october-1978-4708)

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CCEESSSS  (/titel/a-war-of-fragments-world-versus-america-5332)

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