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Ein säkulares Zeitalter von Charles Taylor

Klappentext

Was heißt es, dass wir heute in einem Mit einem Fokus auf dem "lateinischen
säkularen Zeitalter leben? Was ist ge- Christentum", dem vorherrschenden
schehen zwischen 1500 - als Gott noch Glauben in Europa, rekonstruiert er im
seinen festen Platz im naturwissen- Detail die entscheidenden Entwicklungs-
schaftlichen Kosmos, im gesellschaftli- linien in den Naturwissenschaften, der
chen Gefüge und im Alltag der Men- Philosophie, der Staats- und Rechtsthe-
schen hatte - und heute, da der Glaube orie und in den Künsten. Dem berühm-
an Gott, jedenfalls in der westlichen ten Diktum von der wissenschaftlich-
Welt, nur noch eine Option unter vielen technischen "Entzauberung der Welt"
ist? Um diesen Wandel zu bestimmen und anderen eingeschliffenen Säkulari-
und in seinen Folgen für die gegenwärti- sierungstheorien setzt er die These ent-
ge Gesellschaft auszuloten, muss die gegen, dass es die Religion selbst war,
große Geschichte der Säkularisierung in die das Säkulare hervorgebracht hat,
der nordatlantischen Welt von der frühen und entfaltet eine komplexe Mentalitäts-
Neuzeit bis in die Gegenwart erzählt geschichte des modernen Subjekts, das
werden - ein Unterfangen, dem sich der heute im Niemandsland zwischen Glau-
kanadische Philosoph Charles Taylor in ben und Atheismus gefangen ist.
seinem neuen Buch stellt.

Im Glanz des noch nie Dagewesenen


Christian Geyer-Hindemith, F.A.Z. vom 14.10.2009

Ein monumentales Werk, so dick wie die Option verändert? Wie verändern sich
Bibel oder der Koran: Charles Taylor die Formen religiöser Erfahrung, wenn
erzählt die Geschichte der Säkularisie- es sich auch ohne Gott gut leben lässt?
rung und stellt sich der Spannung zwi- Unter dem ausholenden Titel „Ein säku-
schen religiöser Tradition und ihrer Re- lares Zeitalter“ umkreist Taylor diese
form. Fragen anhand eines reichhaltigen geis-
Es war einmal eine Zeit, da gab es die tes- und kulturgeschichtlichen Materials,
Möglichkeit des Unglaubens nicht, je- im Ganzen mehr erzählend als argu-
denfalls nicht für die Massen des Vol- mentierend. Er selbst bittet den Leser im
kes. Die Leute lebten in einem religiös Vorwort, sein Buch „nicht als fortlaufen-
verfassten Gemeinwesen ohne säkulare de, argumentativ durchgestaltete Erzäh-
Option. Man muss diesen Befund nur lung aufzufassen, sondern als eine Rei-
einen Moment lang auf sich wirken las- he ineinander verschränkter Essays, die
sen, um die Faszination zu verstehen, einander erhellen und einen Kontext
die er bei Charles Taylor auslöst. Wie, wechselseitiger Relevanz bilden“. Kein
so fragt der kanadische Sozialphilosoph Wunder, wenn in diesem monumentalen
in seinem neuen Buch, haben sich die Werk viele Fäden lose hängen bleiben,
Bedingungen für Gläubige und Ungläu- wie der Erfurter Soziologe Hans Joas
bige durch die Entstehung der säkularen feststellte, als er Taylors Thesen nach
Erscheinen des amerikanischen Origi- eine Sorte Überzeugung ist, wie er ent-
nals unlängst in der „Deutschen Zeit- steht und wieder vergeht – das bleibt in
schrift für Philosophie“ diskutierte. der Regel ungeklärt, wenn von der neu-
en politischen Brisanz der Religion die
Metaphysische Leidenschaftslosig- Rede ist. Gott unterliegt nicht seinen
keit Leugnern, er versandet im öffentlichen
Debattenzirkus.
Um das Jahr 1500 herum wäre der
Atheismus-Bus, der neulich durch Euro-
Atheismus in Erklärungsnot
pa kurvte, auf der Höhe der Zeit gewe-
sen. Aber im Jahre 2009? „Es gibt wahr- Taylors Buch rückt den monotheisti-
scheinlich keinen Gott. Nun hör auf, dir schen Gottesglauben in den Mittelpunkt
Sorgen zu machen und genieße dein und fragt, wie er sich unter den ver-
Leben“, stand weithin sichtbar auf dem schiedenen Säkularisierungsschüben
Geisterbus. Das provokativ gemeinte verändert hat. Mit der psychologischen
Bekenntnis juckte nur wenige. Das Folge, dass die Gottesfrage hier im
Spektakel blieb aus. Es stellt keine ge- Glanz des noch nie Dagewesenen er-
sellschaftliche Abweichung dar, wenn scheint. Es ist, als sei in den gewohnten
man an einen Gott glaubt oder nicht Gemäuern alles frisch gestrichen. Taylor
glaubt. Es gibt diesbezüglich keine bür- renoviert das Christentum und bringt
gerliche Erwartung. Es ist dieser meta- den Atheismus in Erklärungsnot. Der
physisch leidenschaftslose Raum, den Autor geht dem auf den Grund, was er
Charles Taylor als Resonanzraum sei- distanzierend die „Selbstverständlichkeit
nes Buches aufmacht. der abgeschlossenen Perspektive“
nennt: „Damit meine ich jene Formen
Er erzählt darin die allmähliche Entkör-
unserer Welt (also, wie bei Heidegger,
perlichung Gottes („Dekarnation“) vom
der Welt in ihrer Bedeutung für uns), die
Mittelalter bis heute, verarbeitet eine
für das Vertikale oder Transzendente
Vielfalt religiöser Erfahrungsformen in
keinen Platz lassen, sondern es aus-
Anlehnung an die Phänomenologie von
schließen, unzugänglich oder sogar un-
William James und lässt durch einen
denkbar machen.“ Er lädt den Leser zu
dramaturgischen Kunstgriff den Leser
einem Gedankenexperiment ein: Man
mit einer veränderten Sicht zurück. Es
springe 500 Jahre in unserer abendlän-
gelingt dem Autor nämlich, dem Säkula-
dischen Zivilisation (alias lateinisches
risierungsvorgang die Aura des Selbst-
Christentum) zurück, um festzustellen,
verständlichen, des notwendigerweise
„dass es zu dieser Zeit für die große
Aufgeklärten und Vernünftigen zu neh-
Mehrzahl der Menschen beinahe ein
men.
Ding der Unmöglichkeit war, nicht an
Wir leben nur rein zufällig nicht im Mit- Gott zu glauben, während es sich heute
telalter, sagt Taylor. Und plötzlich bedarf ganz und gar nicht so verhält“.
es wieder einer Erklärung, warum je-
Ein Kunstgriff wie gesagt, mit dem Tay-
mand glaubt oder nicht glaubt. Diese
lor eine Blickumkehr erreicht. Seine
Zumutung ist eine Bereicherung. Sie
Darstellung bricht die historische Ge-
reißt die Gottesidee aus den Akademien
wöhnung auf und macht den Stachel
und politischen Diskussionen heraus, in
spürbar, der der Vorstellung des Heili-
denen das Thema des Glaubens stets
gen innewohnt? Es wird von seinen äs-
nur als gekoppeltes auftritt: Glaube und
thetischen und ethischen Vermittlungen
Gewalt, Glaube und Menschenrechte,
gelöst, bis es als das Ungeheure in den
Glaube und Hirnforschung, Glaube und
Blick gerät. „Man kann die Kreuzigung
Gesundheit. Der eigentliche Glaubens-
nicht als bedauerliches Nebenereignis
akt, die Frage, was Glauben denn für

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einer schätzenswerten Lehrerlaufbahn Sinne einer Fragilisierung beschrieben,
abtun.“ Taylor pflegt den lapidaren Ge- gegen die sich Taylor hier jedoch scharf
stus. abgrenzt. Bergers These lautete, dass
ständiger Kontakt der Gläubigen mit An-
Gewinne und Verluste ders- und Nichtgläubigen relativistische
Für ihn ist es ein Unding, ein Analy- Folgen habe. Die starke Dauerpräsenz
sefehler der Moderne, die Säkularisie- von Alternativen zehrt demnach not-
rung als „Substraktionsgeschichte“ zu wendigerweise an der Substanz der ei-
erzählen – als eine Geschichte des ge- genen Position. Taylor jedoch legt Wert
winnbringenden Wenigerwerdens von darauf, „dass das, was ich (in meiner
Glaube, Metaphysik und Spiritualität, bis Terminologie) als ,Fragilisierung‘ be-
endlich der strahlende Kern des Aufge- zeichne, nicht das Gleiche ist wie das,
klärt-Säkularen hervortritt. Ballastabwer- was Berger meint. Bei mir geht es da-
fer, so Taylors Tenor, sind nicht die rum, dass die größere Nähe der Alterna-
Heilsbringer der Moderne. Das säkulare tiven eine Gesellschaft hat entstehen
Zeitalter ist kein goldenes Zeitalter, in lassen, in der mehr Menschen ihre Posi-
das wir nach einer Epoche der Finster- tionen verändern, also im Laufe ihres
nis Einzug hielten. Den Rationalitätsge- Lebens ,konvertieren‘ oder sich eine an-
winnen stehen vielmehr Verlustgeschäf- dere Position als die ihrer Eltern zu ei-
te gegenüber, die mit dem Ausklammern gen machen.
der Gottesidee zu tun haben. Säkulari- Die Zahl der Positionswechsel im Laufe
sierung ist weder als Fortschrittsge- eines Lebens und von einer Generation
schichte noch als Verfallsgeschichte er- zur nächsten nimmt zu. Das hat aber
zählbar. nichts damit zu tun, dass der schließlich
Wie aber soll man sie dann erzählen? angenommene (oder beibehaltene)
Als Geschichte der Entzauberung, wie Glaube fragiler wäre, wie Berger anzu-
Max Weber dies tat? Hans Joas rät Tay- nehmen scheint. Im Gegenteil, der
lor entschieden davon ab. Zu unsauber Glaube, der aus dieser prekären Ge-
habe Weber zwischen vor-achsen- genwart hervorgeht, kann gerade des-
zeitlichem Magischem und nach-achsen halb stärker sein, weil er sich der unver-
zeitlichem Sakramentalem unterschie- zerrten Alternative gestellt hat.“ Was den
den, sondern beides häufig durch einen Glauben nicht umbringt, macht ihn stär-
bloßen Bindestrich („magisch-sakra- ker. Nicht das Beschweigen von Alterna-
mental“) so gereiht, als wäre es prak- tiven, sondern die Auseinandersetzung
tisch dasselbe. Wenn Weber das Sak- mit ihnen festigt die eigene, in diesem
rament der Eucharistie „wesentlich ma- Sinne fragiler gewordene Perspektive.
gisch“ nennt, sei das religionssoziolo- Ein Substanzverlust droht dem Religiö-
gisch mangelhaft und eher als Teil einer sen laut Taylor nur durch das absichts-
calvinistisch inspirierten Konfessionspo- volle Unterschlagen seiner Kontexte,
lemik aufzufassen. durch „Triumphe der selektiven Wahr-
nehmung über die Realität“.
Zwang der Alternativen Nicht weniger unerschrocken möchte
Taylor spricht denn auch weniger von Taylor das Verhältnis der Glaubensge-
Entzauberung als von Fragilisierung, meinschaften zu ihren Traditionen erör-
von einem Brüchigwerden der religiösen tert sehen. Statt auf dem Islam „rumzu-
Einstellungen. Was ist damit gemeint? prügeln“, soll ihm jener Spielraum zur
Bereits der Religionssoziologe Peter Selbstverständigung eingeräumt wer-
Berger hatte die sozialpsychologischen den, den etwa auch die katholische Kir-
Folgen des kulturellen Pluralismus im che für sich in Anspruch nimmt, wenn

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sie ihre Tradition ins Verhältnis zu den schichtlichkeit jedes lehramtlichen Spre-
Reformen des Zweiten Vatikanischen chens für seine Verbindlichkeit bedeutet.
Konzils setzt. Die reaktionären Piusbrü- Prinzip und geschichtliche Wirklichkeit
der haben ja Recht, wenn sie auf den stehen für Taylor nicht in einem Additi-
Widerspruch beispielsweise zwischen onsverhältnis, sondern das Prinzip er-
der Erklärung über die Religionsfreiheit scheint nicht anders als geschichtlich, so
und früheren Lehren hinweisen – und wie Christus sich nicht anders als im
diesen Widerspruch nicht kleinreden Stall greifbar macht. Mit anderen Wor-
wollen, wie dies der Philosoph Robert ten: Die Geschichtlichkeit der Inkarnati-
Spaemann unternimmt, wenn er die im on lässt sich nicht durch ihre Auslegung
Hintergrund der Auseinandersetzung überspringen. Ein absoluter Geist steht
gärende Wahrheitsfrage mit kirchenpoli- als Interpret nicht zur Verfügung. Für
tischen Argumenten ausblenden möchte Taylor beginnt das philosophische Prob-
und die Debatte für „müßig“ erklärt. So lem genau dort, wo Spaemann es als
kurzerhand lässt sich die Tradition nicht Kirchenpolitiker für beendet erklärt.
passend machen. Wie es aussieht, kann der Gläubige sei-
Taylor indessen stellt sich der Spannung nem prekären Zustand nicht entrinnen.
zwischen religiöser Tradition und ihrer Sollte er sich deshalb nicht lieber an die
Reform auf ganzer Front. Er verweist auf hellen säkularen Tatsachen halten, statt
die offene Situation, die sich daraus im trüben Wasser des religiös Ideellen
ergibt, dass das Zweite Vatikanum die zu fischen? Über den Tatsachenfe-
bis dahin „vorherrschenden Vorstellun- tischismus der immanenten Perspektive
gen zu Themen wie: die Bedeutung der spottet Taylor auf grundlegend hand-
Freiheit, der Wert der Demokratie, die lungstheoretischer Ebene. Tatsachen
zentrale Stellung der Menschenrechte, sind nur in der Einheit eines Erfah-
die Beurteilung fremder Glaubenstraditi- rungsmoments gegeben, noch jede wis-
onen“ verändert und damit früher Ge- senschaftliche Hypothesenbildung
lehrtes revidiert habe. Tatsächlich hilft kommt nicht ohne ideelle Initiative aus,
es ja nicht weiter, wenn Spaemann – um die das erst herstellt, was man dann
den Eindruck der Kontinuität im Wandel Tatsache nennt.
zu erhalten – zur apologetischen Stan- Taylors Buch ist so dick wie die Bibel
dardformel greift: „Der Wandel der Lehre oder der Koran. Es zeigt, bei allem Un-
ist kein Wandel des Prinzips, sondern gefähren im Einzelnen, was ein religiö-
ein Wandel der geschichtlichen Wirk- ser Mensch beherzigen muss, wenn er
lichkeit.“ bei Verstand bleiben will.
Die Frage, die dadurch nur verschoben
wird, ist doch gerade, was die Ge-

Im spirituellen Prekariat
Charles Taylor sucht in "Ein säkulares Zeitalter" religiöse Dimensionen
Von Isolde Charim, taz vom 14.10.2009

Das neue Buch von Charles Taylor ist in ter" erfassen), und groß ist das Ergeb-
jeder Hinsicht groß: Groß ist der Um- nis. Der kanadische Philosoph erzählt
fang (1.284 Seiten), groß ist der An- eine eigene Geschichte der Säkularisie-
spruch (das gesamte "säkulare Zeital- rung, und dies absolut parteiisch. Wie

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die Marxisten, die der Meinung waren, Einsame Massen
keine Wissenschaft könne vom Klas- Dieses beginnt mit jenem Ausbruch aus
senstandpunkt ihres Autors abstrahie- dem Kerker der Disziplin hin zur diony-
ren, so bekennt sich auch Taylor zu sischen Ekstase, für die Namen wie
seiner eigenen Perspektive auf den Ge- George Bataille stehen. Und es führt zur
genstand: Es ist die eines Gläubigen. "expressivistischen Revolte" der Ju-
Taylors Darstellung setzt damit ein, gendkultur mit ihrer Suche nach authen-
nach den heutigen Bedingungen des tischen Lebens- und Ausdrucksformen.
Glaubens zu fragen. Diese sind es, die Als Massenphänomen prägt dies den
sich verändert haben. Der Glaube sei Kulturkapitalismus, in dem Waren dazu
heute nur mehr eine Option, eine fragile dienen, eigene Persönlichkeit zum Aus-
und umkämpfte. Der Pluralismus habe druck zu bringen.
Eingang in die Art des Glaubens gefun- Das Erstaunliche ist, dass Taylor dies
den: Direkt, naiv kann heute nicht mehr keineswegs als platten Hedonismus
geglaubt werden, nur noch zweifelnd,
abkanzelt. Statt moralisch zu verurtei-
reflektiert, erkämpft. Damit durchzieht len, sucht er nach der religiösen Dimen-
von Anfang an ein unaufdringlicher He- sion. Für ihn setzt sich der Weg, den die
roismus das Buch - jener des Gläubigen Revolten der 1960er-Jahre eröffnet ha-
in einer säkularen Welt. Wobei Taylor ben, in jenen Erfahrungen fort, die zu-
Glaube sehr weitläufig definiert: Er sei gleich massenkulturell und individualis-
ein "Gefühl der Fülle", ein "Ort, an dem tisch sind: die Suche nach einem eige-
das Leben voller, reicher, tiefer, lohnen- nen Stil, einem eigenen Ausdruck, die
der" ist. Und er sei eine "Transformati- er als neue Form der Spiritualität ver-
onsperspektive", das Bedürfnis, die en- steht und als Post-Durkheimsch be-
gen Grenzen des vorgegebenen Le- zeichnet. Unsere heutige Verbindung
bens, der immanenten Erfüllung zu zum Sakralen kenne keine Einbettung
überschreiten. mehr in einen kirchlichen oder staatli-
Nun hat sich der gesellschaftliche Ort chen Rahmen. Spiritualität stehe nicht
des Glaubens im Laufe der Geschichte mehr in einer inneren Verbindung zur
mehrfach verschoben. Ausgehend von Gesellschaft. Der Zugang zur religiösen
der Theorie Émile Durkheims eines ge- Praxis laufe heute über die verschiede-
sellschaftliche Orts des Sakralen, unter- nen Formen spiritueller Lebenspraxis.
scheidet Taylor eine Paläo-, eine Neo- Da folgt jeder seinem eigenen Weg. So
und eine Post-Durkheimsche Periode. wie jeder seinen eigenen Stil sucht.
Erstere ist jene des Ancien Régimes, Dennoch sei die Post-Durkheimsche
einer von Gott gebilligten hierarchischen Epoche keine einer trivialen, privatisier-
Ordnung. Mit der Moderne beginne die ten Spiritualität. Diese habe sich zwar
"Neo-Durkheimsche" Periode, in der die von der politischen Gesellschaft gelöst,
Gläubigen mobilisiert werden müssen, bleibe aber eine kollektive Erfahrung.
da die Religionszugehörigkeit nunmehr Die Suche nach einem Gefühl der Fülle
freiwillig ist. Gleichzeitig sind hier aber jenseits der Immanenz sowie nach einer
Glaube und politische Identität eng ver-
Perspektive für die eigene Transforma-
woben, wie etwa im Nationalismus. Die tion führe zu neuen kollektiven Orten:
Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts außeralltäglichen Massenveranstaltun-
markieren einen deutlichen Bruch mit gen - durchaus auch an metatopischen
diesem System und den Beginn des- Orten wie dem Fernsehen oder dem
sen, was Taylor das "Zeitalter der Au- Internet, wie etwa dem Begräbnis der
thentizität" nennt. Prinzessin Diana, wo Millionen individu-
eller Monaden in einem "Augenblick der

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Verschmelzung" miteinander trauern. Unsere ganze Kultur sei, so Taylor, von
Wie groß dabei die Ergriffenheit und wie der Erfahrung eines "gegenläufigen
groß die Sensationslust gewesen sind, Drucks" gekennzeichnet, eingezwängt
sei dahingestellt. Taylor sieht die Bil- zwischen den Extrempositionen einer
dung solcher "einsamen Massen" auch orthodoxen Religiosität und eines mate-
bei Raves und Rockkonzerten. Dies rialistischen Atheismus. Nirgendwo sei
alles sind für ihn Formen religiösen dieser Druck so spürbar wie im Bereich
Glaubens, die die Alltäglichkeit einer der Sexualität. Obwohl Taylor gerade
säkularen, entzauberten Welt transzen- die "Exkarnation" der christlichen Reli-
dieren. gionen, die Ablösung der Spiritualität
von allen physischen Ritualen kritisiert
Sexualität unter Druck und den dionysischen Ausbruch weiter-
Natürlich ist diese Post-Durkheimsche führen will, sieht er den heutigen Men-
Form des "Glaubens ohne Zugehörig- schen vor einem unlösbaren Wider-
keit" äußerst fragil, denn in einer säkula- spruch: der "Unmöglichkeit, das Diony-
ren Welt ist Spiritualität ohne Religion sische mit einer kontinuierlichen Le-
sehr heikel. Ohne feste Verbindlichkei- bensweise in Einklang zu bringen; die
ten leben wir in einem spirituellen Pre- Schwierigkeit, das Sinnliche in einer
kariat. Umso mehr, als unsere Epoche fortwährenden Beziehung zu halten".
keine reine Form der Religiosität kennt, Man mag diese Erfahrungen der Fülle
sondern ein Spannungsverhältnis zwi- spirituell nennen oder nicht. So definiert
schen Neo- und Post-Durkheimschen sind sie auch für jeden Atheisten nach-
Interpretationen, zwischen einer Religi- vollziehbar. Was kann man mehr von
on, die der Autorität eine Vorrangstel- einem religiösen Buch über Säkularisie-
lung einräumt, und einer Religion der rung erwarten?
individuellen Suche.

Christ in der Gegenwart


Werner Trutwin, November 2014

Der kanadische Philosoph Charles Tay- In seinem neuen Werk will Taylor „die
lor hat den amerikanischen Kommunita- Geschichte dessen erzählen, was man
rismus mitbegründet. Dieser wendet normalerweise die Säkularisierung des
sich gegen den exzessiven Individua- Abendlandes nennt". Er holt dazu weit
lismus unserer Gesellschaft. Der Trend aus, so dass man zu seinem gründli-
zur Selbstverwirklichung sei eines der chen Studium einen langen Atem
Hauptübel unserer Epoche. Die damit braucht. Aber die Mühe lohnt sich, denn
verbundene Gier führe zur Schwächung man erfährt innerhalb eines grandiosen
der sozialen Verantwortung. So ist der Konzepts viele Details über die europäi-
Kommunitarismus eine grundsätzliche sche Geschichte der Säkularisierung,
Kritik am Kapitalismus und am überbor- die Taylor um 1500 im christlichen
denden Liberalismus - und das lange Abendland beginnen lässt, als der
vor den Krisen der Gegenwart. Dass christliche Gottesglaube noch eine
Taylor der katholischen Philosophie und Selbstverständlichkeit war, während er
Theologie nahesteht, ist unverkennbar. in der Gegenwart zu einer Wahlmög-
lichkeit unter vielen geworden ist.

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Dabei beschreibt Taylor nicht nur, son- kommen. Stattdessen ist für ihn Religi-
dern versucht als Philosoph zu verste- on ein zentrales Element unserer Zeit
hen, wie es kam, dass sich große Be- und gerade mit ihrer Option für die Ar-
reiche der Gesellschaft schrittweise von men wichtiger denn je.
der Religion lösten und sie selbst gera- Wichtige Ergebnisse der Untersuchung
dezu als „Opium des Volkes" erschei- liegen - holzschnittartig vereinfacht - in
nen konnte. Dazu werden die verschie- zwei Aussagen. Erstens: In unserer Ge-
denen Definitionen und Entwicklungs- sellschaft, die zugleich säkular und reli-
stadien des Säkularisierungsprozesses giös ist, gibt es Glaube und Unglaube
analysiert und diskutiert. als unterschiedliche Optionen des Le-
Unübersehbar sind Auswirkungen be- bens. Zweitens: Die Säkularisierung ist
sonders in den Naturwissenschaften, in nicht einfach nur gegen das Christen-
Philosophie, Kunst, Rechts- und Staats- tum entstanden, sondern aus ihm selbst
lehre. Taylor glaubt nicht, dass die mo- erwachsen, weil es mit seiner Bejahung
dernen Wissenschaften den religiösen von Diesseits, Vernunft und Wissen-
Glauben widerlegt und verdrängt haben. schaft darauf zielt.
Er betont, dass man Säkularisierung Wenn man einwendet, beide Einsichten
missverstehe, wenn man sie als Sieg seien so ganz neu nicht, darf man nicht
der Wissenschaften und der Vernunft übersehen, dass sie hier in einem gro-
über den Glauben deute. So sei Dar- ßen Wurf mit vielen erfahrungswissen-
wins Lehre keine Widerlegung der Reli- schaftlichen Perspektiven, Argumenten,
gion. Nebenbei wird der neue Atheis- philosophischen Reflexionen und le-
mus (Dawkins und andere) zu Recht als bendigen, auch religiösen Erfahrungen
intellektuell anspruchslos und funda- neu begründet werden. Darum hat Tay-
mentalistisch kritisiert. Unhaltbar ist für lor hier ein epochales Werk geschaffen,
Taylor auch die Ansicht, die Säkularisie- das zum Verständnis unserer Zeit un-
rung habe einfach die Religion „subtra- verzichtbar ist.
hiert", um zum eigentlich Humanen zu

Rezensionsnotizen

Die Zeit, 29.10.2009 das Inspirierende an Taylors Denken


ist, dass er die Säkularisierung und Ent-
Als historischen Roman, geistige Auto-
zauberung nicht als das Ergebnis einer
biografie und vor allem als "Bildungsro-
"Subtraktion" beschreibt, sondern es
man der Moderne" hat der Politologe
vielmehr als Produkt einer "genuin reli-
und Philosoph Otto Kallscheuer das
giösen REFORM" auffasst, ein Schlüs-
"weit über tausendseitige Opus Mag-
selbegriff des Werks, der explizit in
num" seines kanadischen Kollegen ge-
Großbuchstaben geschrieben werde,
lesen. Charles Taylor, so der Rezen-
um ihn von der Reformation abzuset-
sent, erzähle hier die "verschlungene
zen, um seine fortschreitende Bewe-
Erinnerungsgeschichte" des "ehemals
gung und nicht das rückwärtige "Gegen"
lateinischen, mittlerweile pluralistisch
in den Focus zu nehmen. Die Triebkräf-
zweifelnden Westens". Taylor schildere
te dieser "Reform" als ständige Bewe-
diese säkularisierende Entwicklung über
gung findet Kallscheuer höchst komplex
zahlreiche Etappen und mitunter seiten-
geschildert, ohne dass es zu seiner
lange Umwege, wobei für Kallscheuer
Freude am Ende zu einer Theorie füh-

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ren würde. Auch die melancholischen sondern einen "prinzipiellen Optionalis-
Schlusskapitel samt der darin entfalte- mus", hat der Rezensent sich von Tay-
ten "existenziellen Dilemmata" beein- lor (flüssig übersetzt) erklären lassen.
druckten ihn sehr. Aber auch die daraus resultierende
Entwicklung eines "ausgrenzenden
Süddeutsche Zeitung, 19.10.2009 Humanismus". Lüddecke lobt den lan-
gen Atem und den intellektuellen Hori-
Trauer und Hoffnung und das Abenteu- zont des Autors, ferner seine Fähigkeit
er des Denkens vermittelt Charles Tay- zur geistigen Zusammenschau und zur
lor dem insofern glücklichen Rezensen- Verkürzung und dazu dem Leser das
ten Dirk Lüddecke. Dass der kanadi- Gedachte zu erschließen. Zwar findet
sche Philosoph das Zeug dazu hat, eine Lüddecke das Buch immer noch zu
nordatlantische Geistes- und Kulturge- dick. Nicht zuletzt, weil Taylor nicht in
schichte der letzten 500 Jahre zu erzäh- den Ton eines "eifernden Antisäkula-
len, kann Lüddecke mit Sicherheit sa- rismus" verfällt, bleibt es für ihn den-
gen. Was Säkularisierung heißt, wenn noch lesbar.
sie keinen Glaubensverlust bedeutet,

Charles Taylor im Interview


Mehr Neugierde und Streitlust wären gut
Interview: Christian Schlüter, Frankfurter Rundschau vom 21.06.2010

Der kanadische Philosoph Charles Tay- Das klingt zugegebenermaßen etwas schlicht,
lor im Gespräch mit der Frankfurter dafür aber gar nicht so übel und schmeichelt
einem aufgeklärten Europäer ungemein.
Rundschau über das Fortbestehen der
Religionen, die ungeraden Wege der Mit dem Fortschreiten der Vernunft, mit
Aufklärung, Kopftuch tragende Muslima ihrem, wenn Sie so wollen, innerweltli-
und die Kraft der Meditation. chen Machtzuwachs, war immer auch
Herr Taylor, ist es nicht verwunderlich, dass
ihre Vereinseitigung in Richtung einer
nach über 200 Jahren Aufklärung Gott immer bloß rechnenden, das menschliche Le-
noch nicht tot ist? ben verdinglichenden Zweckrationalität
verbunden. Vernunft hat disziplinieren-
Nein, überhaupt nicht. Die Verwunde-
de Effekte und kann sich auch szientis-
rung, von der Sie sprechen, geht auf ein
tisch verengen. Sie ist nicht per se mo-
allzu schlichtes Verständnis von Aufklä-
ralisch. Sie verfügt über enorme Zerstö-
rung zurück. Es besteht darin, mit dem
rungskräfte und kann in ihren Geltungs-
Begriff der Aufklärung eine einfache
ansprüchen totalitär sein. Die Kritische
Erfolgsgeschichte zu verbinden, etwa in
Theorie hat diesen Zusammenhang als
der Art, dass sich die Vernunft immer
"Dialektik der Aufklärung" beschrieben:
weiter ausbreitete, die Naturwissen-
Jeder Errungenschaft, jedem Fortschritt
schaften alles Religiöse verdrängten
wohnt eine gegensätzliche Tendenz
und die Kirchen ihre weltliche Macht
inne.
verloren. Heute, so geht diese Erzäh-
lung weiter, leben wir in der besten aller Verdankt sich der Umstand, dass Gott immer
Welten, Staat und Kirche sind getrennt noch nicht tot ist, also dem Scheitern der Ver-
nunft?
und die Religion ist nur noch Privatsa-
che, eine Frage der innerlichen Befind- Die Vernunft ist keineswegs gescheitert.
lichkeit. Ich möchte nur auf ein anderes Konzept

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von Geschichte hinaus. Ich nenne Ihnen gewissermaßen den technisch-
ein Beispiel: Für den Soziologen Max medialen Anschluss verpasst und
Weber ist aus den monotheistischen dadurch die Reformation durch Martin
Religionen die Idee der einen Vernunft Luther erst möglich gemacht. Eine an-
erwachsen, wobei jene Vernunft den dere Version dieser Geschichte lautet,
Religionen dann ihren Rang streitig ma- dass mit dem Buchdruck und der zu-
chen sollte. Das hat die ironische Poin- nehmenden Bildung nicht nur die Auf-
te, dass aus der Religion selbst eine sie klärung vorangetrieben wurde, sondern
infrage stellende, sie begrenzende In- andere Formen der religiösen Praxis
stanz entstanden ist und dass umge- entstanden sind. Der (katholische) Ritus
kehrt die Herkunft von Vernunft und wurde zwar unwichtiger, auch in der
Aufklärung auch in den Religionen liegt. Öffentlichkeit, aber dafür gab es jetzt
Eine andere, mich wesentlich mehr inte- die persönliche Zwiesprache mit Gott,
ressierende Pointe lautet allerdings, die einsame, nicht mehr von einem
dass uns dieses Beispiel wieder die ge- Priester angeleitete Bibellektüre Wir
genläufigen Tendenzen in der Ge- können das als Privatisierung des
schichte vor Augen führt. Je genauer Glaubens und damit als Verlust seiner
wir hinschauen, desto größer ist das öffentlichen Geltung beschreiben oder
Gewimmel, eine Gemengelage konkur- als ein Fortleben der Religion unter ver-
rierender und konfligierender Tenden- änderten medialen Bedingungen - eine
zen, der kein vorherbestimmtes Ziel in- Wandlung des Glaubens, die bis heute
newohnt. Geschichte ist nicht teleolo- andauert.
gisch, sondern kontingent. In Ihrem Buch "Ein säkulares Zeitalter" unter-
Na gut, aber die Aufklärung ist doch eine ge- scheiden Sie verschiedene Formen der Säkula-
schichtliche Tatsache. risierung - damit sollte doch etwas Ordnung in
dieses Durcheinander zu bekommen sein.
Das bestreite ich gar nicht, im Gegen-
teil. Allerdings können wir, anders als Nun, da gibt es einmal die Säkularisie-
Max Weber, nicht einfach sagen, dass rung in dem Sinne, dass Staat und Kir-
mit der Aufklärung eine Entzauberung che getrennt sind und dass im Zuge
der Welt verbunden war, so als ob diese dieser Gewaltenteilung die öffentliche
von einem Schleier des Religiösen nur Bedeutung der Religionen schwindet.
befreit werden musste. Die Geschichte Nach diesem Verständnis werden die
verläuft nicht im Sinne der Subtraktions- Kirchen vom Staat kontrolliert, also in
theorie, also etwa nach der Formel: gewisse Grenzen verwiesen, möglich-
Gottesstaat minus Gott ist gleich der erweise auch verboten. Zweitens kön-
moderne, säkulare Staat. Die Dinge lie- nen wir Säkularisierung als ein Schwin-
gen viel komplizierter. den religiöser Überzeugungen und Bin-
dungen verstehen, das sich unter ande-
Die Säkularisierung, also die Herrschaftsüber-
rem darin zeigt, dass immer weniger
nahme durch den Staat und die Entmachtung
der Kirche, hat allerdings stattgefunden. Menschen die Gottesdienste besuchen
oder sich kirchlich trauen lassen.
Ja, aber das, was wir Säkularisierung Schließlich kann Säkularisierung noch
nennen, sollten wir nicht als ein für alle bedeuten, dass in modernen Gesell-
mal gültigen Zustand verstehen, son- schaften gerade wegen ihres hohen
dern als ein Geschehen, dessen Aus- Grads der Ausdifferenzierung eine Viel-
gang keineswegs gewiss ist. Ich gebe zahl von Glaubensangeboten herrscht,
Ihnen ein weiteres Beispiel: Die katholi- die im Sinne der Religionsfreiheit und
sche Kirche hat in der Mitte des 15. innerhalb rechtsstaatlicher Grenzen
Jahrhunderts die Erfindung des Buch- zwar allesamt erlaubt sind, sich aber
drucks vollkommen unterschätzt, sie hat gegenseitig entwerten. Diese dritte,

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egalisierende Form scheint mir die inte- Sie spielen auf den religiöser Funda-
ressanteste. mentalismus an. Für mich hat der aber
Ausdifferenzierung und Pluralismus führen so- nichts mit dem wahren oder echten
mit zu einer Art Indifferenz in Glaubensfragen. Glauben zu tun, und zwar nicht, weil ich
Das aber bedeutet gerade nicht, dass Men- zu wissen glaube, worin der besteht,
schen weniger glauben, sie glauben nur anders: sondern weil mit Attributen wie "wahr"
Im Supermarkt der Religionen stellt sich jeder
oder "echt" nur kaschiert wird, dass wir
seine eigene Version zusammen.
es immer mit einer religiösen Gemenge-
Ich nenne das einen existentiellen Plu- lage zu tun haben, die sich einer Viel-
ralismus: Unser Selbst setzt sich aus zahl von Ursprüngen, strategischen o-
einer Vielzahl von Quellen zusammen, der ideologischen Interessen verdankt.
wir können sogar mit unvereinbaren Politische oder religiöse Reinheitsgebo-
Wertepräferenzen gut leben - hier ein te sollten uns immer misstrauisch ma-
bisschen Katholizismus, dort ein wenig chen. Außerdem möchte ich daran erin-
Buddhismus und Konfuzianismus. Wäh- nern, dass zum Glauben nicht nur der
rend es in unserer abendländischen Gehorsam, sondern auch der Zweifel
Gesellschaft noch im Jahre 1500 nahe- gehört. Allerdings können mit dem
zu unmöglich war, nicht an Gott zu Glauben immer auch gewisse Zumu-
glauben, zeichnen sich unsere westli- tungen oder Opfer verbunden sein. Je-
chen, säkularen Gesellschaften heute der Glaube, jede Religion birgt ein nicht
durch einen Pluralismus aus, der den geringes Gewaltpotential.
Gottesglauben nicht mehr selbstver- Entscheidend ist doch wohl die Frage nach dem
ständlich sein lässt und uns zugleich Gewaltpotential. Ihre Version des religiösen
eine mehr oder weniger freie Wahl Pluralismus kommt mir da etwas verharmlosend
lässt. Wir können uns entscheiden, vor.
nicht an Gott zu glauben, schließlich ist Nein, weder die Geschichte noch die
auch dies eine gleichberechtigte Hal- Gegenwart ist ohne Gewalt. Das zu be-
tung unter vielen anderen. haupten, wäre in der Tat absurd. Plurale
Ein solcher Pluralismus führt in der Konsequenz Gesellschaften sind sehr konfliktreich,
doch zu möglichst anstrengungs- und folgenlo- ein idealer Nährboden für Streit und
sen Wellnessreligionen.
Kampf. Einmal, weil hier aufgrund des
Das ist nur eine von vielen Möglichkei- großen Sinnangebots eine entspre-
ten. Vor allem aber heißt Pluralismus chend große, mitunter harte Konkurrenz
nicht zwangsläufig, dass Gott ver- herrscht, dann aber auch, weil es hier
schwindet, sondern allenfalls, dass un- eine gewissen Offenheit oder Durchläs-
sere großen Religionen und ihre Kir- sigkeit gibt, die von anderen miss-
chen an Bedeutung verlieren, gewis- braucht werden kann. Es ist geradezu
sermaßen ihre Leitfunktion einbüßen. ein Kennzeichen pluraler Gesellschaf-
Es gibt heute sehr verschiedene Wege, ten, streitträchtig und missbrauchsanfäl-
ein Muslim, Jude oder Christ zu sein - lig zu sein. Das ist der Preis unserer
oder an irgendeinen anderen, möglich- Freiheit.
erweise extravaganten Mix zu glauben. Solange gewisse Grenzen eingehalten werden.
Wenn Sie so wollen, gilt heute weniger
die "reine Lehre" - falls es die jemals Ja, es gilt, die Würde des Menschen zu
gegeben hat. (lacht) wahren und den demokratischen
Rechtsstaat zu achten.
Auf der anderen Seite gibt es aber doch gerade
ein großes Bedürfnis nach Reinheit, nach dem Was die Religionen betrifft, diskutieren wir in
wahren Glauben - mit allen fatalen, zumal ge- Deutschland zum Beispiel die Frage, ob wir
walttätigen Konsequenzen. muslimischen Frauen das Tragen von Kopftü-
chern verbieten sollten.

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Ach ja, die Diskussion kenne ich auch Ich glaube, sie hat mit der eher schlich-
aus Kanada. In meiner beratenden Tä- ten Auffassung von Aufklärung und Sä-
tigkeit für die Regierung in Quebec ging kularisierung zu tun, von der wir ein-
es unter anderem um die Frage, ob das gangs sprachen. Wer die Aufklärung
Tragen von Kopftüchern als die Zur- nur als Erfolgs- und Siegergeschichte
schaustellung religiöser Symbole in der der eigenen Kultur zur Kenntnis neh-
Öffentlichkeit zu verstehen sei und ob men will, kann nicht verstehen, warum
man dies zu dulden habe. Es ging also Menschen immer noch an einen Gott
um die Frage, welche Rechte in einer glauben, und kann noch viel weniger
multikulturellen Gesellschaft für Minder- verstehen, dass sie sogar an einen an-
heiten gelten sollten. Ich plädiere dafür, deren Gott glauben. Dabei speist sich
Kopftücher nicht zu verbieten, weil sol- unsere abendländische Kultur doch aus
che Verbote allenfalls zu einer Verhär- einer Vielzahl von Quellen, auch religiö-
tung der Fronten führen. So treiben wir sen und nicht nur abendländischen.
die Menschen in ihre Gettos. Außerdem Wenn uns Abendländern etwas an un-
können wir an der Realität, dass bei uns serer Kultur liegt, dann täte uns etwas
Menschen mit einem anderen Glauben mehr Neugier ganz gut. Und auch et-
leben, nichts ändern, es sei denn, wir was mehr Lust an der Auseinanderset-
wären bereit, einen enorm hohen Preis zung. Niemand sagt, dass so etwas
zu zahlen, nämlich die Einschränkung leicht ist, aber wir alle werden davon
elementarer Freiheitsrechte. Und profitieren. Was für eine Verschwen-
schließlich verfügen wir über die ent- dung, das Potential der Einwanderer
sprechenden Gesetze, Verstöße gegen nicht zu nutzen!
die Menschenwürde - sei es im Namen Sie haben keine Angst vor Unterwanderung?
einer Religion oder einer politischen
Doktrin - entsprechend zu ahnden. Nein, solange es klare Regeln gibt. Zu
einer gelingenden Integration bedarf es
Bei uns gibt es so genannte Islamkritiker, die
eine schleichende Unterwanderung unserer
neben einer im wohlverstandenen Ei-
demokratischen Kultur befürchten. geninteresse liegenden Neugier und
Streitlust noch zweierlei: Migranten
Die gibt es in Kanada auch. Erstaunlich müssen die Sprache des Landes ler-
ist vor allem, dass immer wieder Vertre- nen, in dem sie leben, sie sollten sich
ter des liberalen Bürgertums in dieses insofern auch mit der hiesigen Kultur
Lamento verfallen. Man ist offen für al- vertraut machen, und ansonsten gelten
les Mögliche, aber sobald die Rede auf für sie, wie für jeden anderen auch, die
die bei uns lebenden Muslime kommt, Gesetze. Man kann auch sagen, dass
ist Schluss mit lustig: Menschen islami- es ohne ein Minimum an Leitkultur nicht
schen Glaubens seien voraufgeklärt, geht. Wir sollten uns nur davor hüten,
hätten ein prekäres Verhältnis zur Ge- zu viel regeln und festlegen zu wollen.
walt, würden Frauen unterdrücken und Noch einmal: Sprache und Gesetz -
ansonsten nur so tun, als passten sie mehr braucht es nicht.
sich unserer Kultur an Mit anderen Wor-
Erstaunlich, dass Sie als praktizierender Katho-
ten, uns fallen immer sehr viele, mehr
lik sich da so locker geben.
oder wenige gute Gründe ein, uns nicht
eingehender mit Muslimen zu beschäf- Finden Sie? Ich habe den Katholizismus
tigen, statt darüber nachzudenken, was nie als unbedingt zu wahrenden, zumal
wir von ihnen lernen könnten. Vollkom- abendländischen Wertekanon verstan-
men erschrocken sind wir, wenn uns den, als Glaubensfestung. Vielmehr hat
Muslime dann auch noch selbstbewusst mein Glaube etwas mit dem Zusam-
gegenübertreten. menkommen von Menschen zu tun, mit
Wie erklären Sie sich diese Abwehr?
Gemeinschaft: Gott ist da, wo Men-

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schen einander begegnen. Dazu gehört finden zu keiner Synthese. Der Glaube
immer auch der Streit. ist so etwas wie eine Antistruktur im
Mir kommt es so vor, als sei Ihr Glaube auch so System der Vernunft.
etwas wie das normative Unterfutter für Ihr plu- Eine Art Lockerungsübung?
ralistisches Gesellschaftskonzept.
(lacht) Wenn Sie so wollen. Ich bevor-
Ja, das können Sie so sagen. Allerdings zuge hier das Konzept der Christlichen
hilft der Glaube nicht allein, wir müssen Meditation. Dabei geht es darum, einen
uns auf unsere Argumente verlassen Zustand der Stille und Leere zu errei-
können, insofern sie vernünftig und be- chen.
lastbar sind.
Jetzt bin ich aber wirklich erstaunt. Gibt es für
Vertragen sich Glauben und Vernunft miteinan- Sie noch andere Möglichkeiten der Meditation
der? oder, wenn Sie mir das Wort noch gestatten, der
Entspannung?
Wie ich bereits gesagt habe, gehört
zum Glauben immer auch der Zweifel, Oh ja, die finde ich vor allem in der Mu-
er ist immer auch eine Herausforderung sik. Beethovens Streichquartette sind
und Zumutung. Glaube und Vernunft einfach wunderbar.

http://www.gaebler.info/2014/10/taylor-saekularisierung/

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