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E. R.

Greulich
... und nicht auf den Knien
Roman vom streitbaren Leben des Artur Becker

9. Auflage • 456 Seiten • Ganzleinen 7,60 M

Das Buch ist alles andere als eine Aufzählung äußerlicher Daten,
als der erweiterte Lebenslauf Artur Beckers vom lernbegierigen
Knaben zum Vorsitzenden des Kommunistischen Jugendverban-
des und jüngsten Reichstagsabgeordneten der Wahlperiode von
1930.
... hier wird vor dem Leser ein Mensch lebendig mit seiner Liebe
zur Wahrheit, seiner Unbestechlichkeit, seinen Sorgen, seiner
Angst, seinem Mut und seinen Erfolgen, die er nie für sich persön-
lich erheischte. Immer wieder steht er vor Entscheidungen in poli-
tischen und persönlichen Dingen. Da kommt ein Augenblick, in
dem er sich bewußt wird, welch hohes Ansehen er bei seinen jun-
gen Genossen genießt, welchen großen Einfluß er auf sie auszu-
üben vermag. Wie leicht kann einem so etwas in den Kopf steigen.
Er sieht das ganz klar, weil er sich selbst gegenüber ehrlich ist.
Und indem er diese Gefahr erkennt, ganz bewußt, weiß er ihr auch
zu begegnen.
So lernt man den liebenswerten Menschen Artur Becker von den
verschiedensten Seiten her kennen und damit zugleich auch die
Zeit, in die er hineingeboren wurde.

Verlag Neues Leben Berlin


ISBN 3-355-00924-5 32 706
Scanned by
Manni Hesse
eBook nicht zum Verkauf
berstimmt!
Klaus Kießling

Zeitalter

Verlag Neues Leben Berlin


Illustrationen von Karl Fischer

ISBN 3-355-00924-5

©Verlag Neues Leben, Berlin 1989


Lizenz Nr. 303(305/125/89)
LSV 7503
Umschlag: Karl Fischer
Typografie: Walter Leipold
Schrift: 9p Timeless
Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland
Bestell-Nr. 644 703 5
00025
Na also! Gelungen, und niemand hatte etwas bemerkt.
Vorsichtig löste Arn Soling die Kontaktlinsen von seinen Augen und legte
sie behutsam in das Samtpolster, schloß das Kästchen und verwahrte es sorg-
fältig im Wandsafe. Nicht in dem offiziellen, von dem etwas zu üppig ge-
rahmten Piranesi bedeckten, sondern in dem geheimen hinter der Wand-
leuchte mit der verborgenen Feder, von dem weder seine vertrautesten
Bekannten noch die Sicherheitsleute des Instituts etwas wußten. Dann setzte
er die gewohnte Brille auf, schloß die Vorhänge und öffnete im Halbdunkel
das Köfferchen, das ihn schon nach Guantänamo und Baracoa begleitet und
dabei seine Bewährungsprobe bestens bestanden hatte. Daß dies auch ein
Test für den heutigen Ernstfall war, konnten weder die Flughafenzöllner in
Havanna noch ihre Kollegen in Schkeuditz ahnen, die jeweils verwundert in
das bereitwillig geöffnete Behältnis und auf den wohl etwas schrulligen Rei-
senden geschaut und dann einen Vorgesetzten geholt hatten. Ganz gewöhnli-
che Geckos? Kopfschüttelnd hatten sie ihn hier wie dort nach kurzem Hin
und Her passieren lassen.
Jetzt, knapp zehn Stunden nach seiner Heimkehr, tummelten sich jene
wertlosen Mitbringsel unter den anderen Reptilien des großen Gesellschafts-
terrariums im Keller. Niemand würde sie sonderlich beachten, sie hatten den
Formalitäten Genüge getan, hatten Papiere geliefert für die wirklichen Klein-
odien, die Soling jetzt im Köfferchen vor sich sah. Das Herz schlug ihm bis
zum Halse, als er das Sauerstoffgerät und den Thermostaten abschaltete und
die Einsätze mit den beiden Tieren herausnahm und behutsam in das vorbe-
reitete Terrarium stellte. Starr preßten sich die nur gut handlangen Echsen
an den Boden, unscheinbar gelbgrau gefärbt, nur die großen lidlosen Augen
leuchteten im Dämmer und musterten aufmerksam durch das Plexiglas die
fremde Umgebung, obwohl doch vor ihnen der Weg in die beschränkte Frei-
heit offen war. Dann, fast gleichzeitig, huschten beide Tiere blitzschnell auf
den trockenen, warmen Sand und verschwanden unter den üppigen tropi-
schen Pflanzen.
Eine Stunde später gab er Futter. Flink, gefräßig wie alle Echsen, erjagten
die Tiere sofort die eingesetzten Insekten, vertilgten die Mehlwürmer, fielen
über die Raupen her und verschmähten auch nicht den zerteilten Regen-
wurm.
Arn Soling rückte sich seinen Schausessel vor dem geräumigen Behälter
zurecht und gab sich reglos dem Beobachten hin. Satt hing das Weibchen an
der Seitenwand, gleichmäßig in einem warmen Farbton zwischen Gold und
Kupfer schimmernd. Das Männchen saß aufgereckt auf einem flachen Stein,
tiefschwarz bis auf die beiden spitzen Höcker über den Augen und den fast
bis zur Schwanzspitze reichenden Rückenkamm, die in feurigem Rot er-
strahlten und dem harmlosen Tier den Namen Teufelskopf eingetragen hat-
ten. Und dieses so satanisch aussehende Wesen sang, sang mit Engels-
stimme! Das war nicht das Keckem seiner Stammesverwandten, deren Rufen

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dieser Echsenfamilie den Namen Gecko gebracht hatte, sondern das war ein
tiefer, reiner Alt, ein schwingender Glockenton, nachhallend und schmel-
zend weich, ein herrliches, himmlisches Tönen, wie es kein anderes Tier die-
ser Erde zuwege brachte. Der Singende Teufelskopf, Kephalosatanas cantor,
vor achtzig Jahren in der kubanischen Provinz Oriente entdeckt und nir-
gends sonst aufgefunden! Arn Soling hatte die Fachliteratur sorgfältig stu-
diert, nicht nur die populärwissenschaftliche, sondern auch und besonders
gründlich die seriösen biologischen Arbeiten; und jetzt besaß er das einzige
Pärchen, das davon in der Alten Welt existierte.
Die Teufelssänger waren der I-Punkt in der Präsentation seines Erfolges.
Er schwenkte den Sessel und ließ seinen Blick mit Wohlgefallen durch den
Raum gleiten, seinen Salon, über die wertvollen Möbel mit den Handschnit-
zereien, den Flügel (Original Steinway), die Vietnamteppiche, den Piranesi,
über die Informationselektronik: All das konnte sich sehen lassen, und er
ließ es auch sehen und bewundern. Es war jedoch nur materieller Reichtum
eines kultivierten Menschen, eines Wissenschaftlers und Ingenieurs mit
Rang und Namen zwar, aber doch in den Grenzen, die sein mehr aufs Tech-
nische orientiertes Fachgebiet vorzugeben schien. Das moderne, komfortable
Haus hätte sich jeder selbständige Handwerksmeister bauen können. Die
deutlich sichtbaren kulturellen Interessen des Inhabers hoben ihn schon von
dieser Schicht des manuellen und organisatorischen Erfolges ab, machten
ihn und seinen Besitz aber noch nicht unverwechselbar. Erst mit den Kepha-
losatanas konnte er nun ein Spitzenexponat auf einem dem Broterwerb nicht
so nahestehenden seriösen Gebiet vorweisen. Das machte ihm keiner nach,
das hatte niemand sonst im Lande, ja auf der ganzen Hemisphäre!
Allerdings, es gab dieses Echsenpärchen noch einmal, ja sogar in der
Stadt, im Reptilienhaus des mehrhundertjährigen Botanischen Gartens. Dort
nahm das schuppenhäutige Sängerpaar einen Ehrenplatz ein, als Gastge-
schenk der kubanischen Präsidentin anläßlich ihrer Ehrenpromotion dem
dekorierenden Senat überreicht.
In weniger als einem halben Jahr, am Abend des achten September, wür-
den die Tiere dort gestohlen und danach niemals aufgefunden werden. Aber
das wußte noch niemand außer Arn Soling. Er hatte sein Pärchen, das ja
auch zur Familie der Geckos gehörte, nachweislich aus Kuba mitgebracht,
zweimal beim Zoll vorgewiesen und in der Deklaration eingetragen.

Heute würde er sein Institut nicht mehr aufsuchen. Erstens war er ja erst in
der Nacht heimgekehrt, und zweitens konnte er sich das als Chefbioelektro-
niker sowieso gelegentlich erlauben. Er rief aber Professor Tasko an, den Di-
rektor, meldete sich zurück und ließ sich dann seine Abteilung geben, um
die Kollegen auf den Abend zu sich einzuladen. Ein kleiner Umtrunk nach
längerer Auslandsreise war fester Brauch, und außerdem sollten möglichst
viele Augen und Ohren seine listenreich erworbenen Tiere sehen und hören.

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Doch er mußte sich noch einen Tag gedulden: Das Ministerium hatte den
S8-Termin für das Massenteleportgerät um zwei Monate vorverlegt, das ge-
samte Institut für Kosmische Transporte stand köpf, und für den heutigen
späten Nachmittag war ein aufwendiges Experiment angesetzt. Auch gut, ihn
konnte es nicht stören. Er hatte in seiner Arbeit einen persönlichen Vorlauf,
von dem niemand etwas ahnte. Und daß sein Prinzip funktionierte, hatte
sich am Vormittag erwiesen.
Ein wenig enttäuscht strich er durch das Haus. Dieses Heim war sein er-
ster großer Erfolg, denn er hatte es von seinem ersten Patent gebaut, einem
Geheimpatent selbstverständlich: die unsichtbare Pikoelektronik. Er hatte
den Transistoreffekt an den Grenzschichten mehrfacher Blankätzung ent-
deckt und konnte damit einen Großcomputer auf der Oberfläche eines Uhr-
glases unterbringen. Berühmt gemacht hatte ihn die Pilotenbrille: Das eine
Glas barg einen Terabitrechner, das andere die Biowellen-Steuereinheit, in
den Bügeln lagen Batterie, Lautsprecher und ein Sender.
Am Nachmittag fuhr er zum Reisebüro und buchte einen Flug an den Ba-
laton, über den achten September hinweg. Eigentlich überflüssig, aber so
würde er zusätzlich ein Alibi haben.
Die Kollegen zeigten sich am nächsten Abend hellauf begeistert von den
possierlichen Tierchen und von dem Gesang des so diabolisch aussehenden
Männchens, und bald wußte jeder im Institut, wie der Chefbioelektroniker
die Zöllner zweier Kontinente zwar nicht belogen, aber doch hinters Licht
geführt hatte. Man schmunzelte auch darüber, wie Soling vor dem Flughafen
von Havanna dem Denkmal dort übermütig zugewinkt haben wollte, das
Reptilienköfferchen in der anderen Hand, wie jedoch der so begrüßte Natio-
nalheld Jose Marti nicht einmal den Kopf nach dem Verehrer gewendet
habe.

Das Teufelssängerpärchen lebte sich ein und fühlte sich offensichtlich wohl.
Häufig kamen neugierige Besucher, und stolz führte ihnen Soling seinen
kostbaren Besitz vor. Vor den Gästen vom Botanischen Garten waren die
Tiere sehr scheu und träge. Besonders die Leiterin des Reptilienhauses be-
trachtete das gar nicht sangeslustige Männchen sehr eingehend, als suchte
sie irgendeine Besonderheit daran zu entdecken. Soling hatte sich vorberei-
ten können und wußte, die Tiere würden die geringe Barbituratdosis schnell
überwinden.

Das Institut für Kosmische Transporte unterbot den revidierten Termin um


einen weiteren Monat. Der Stellvertretende Minister war auf Solings Linie
eingeschwenkt und predigte jetzt Miniaturisierung: Das Gerät brauche
nicht groß wie ein Kleiderschrank zu sein, wenn nur das Feld die erforderli-
che Ausdehnung habe. Doch gab es in der Planung Leute, die einen Apparat
erst dann ernst nahmen, wenn er eine halbe Tonne Stahl und Kupfer und au-

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ßerdem mindestens ein Dutzend kaum beschaffbarer Substanzen enthielt.
Daß der Energieverbrauch nicht von der transportierten Masse, sondern nur
von der Größe der Schaltung abhing, hatten sowieso nur fünf, sechs Leute
begriffen, und auch die nicht einmal bis ins letzte.
Eine Anweisung des Ministers schuf Ordnung, und dann ging alles sehr
schnell.
Soling hatte die Zeichnungen für die Schaltung so ausführen lassen, daß
man aus den Farben die einzelnen Ätzungen ableiten konnte, und nach we-
nigen Wochen war ein Prototyp des Gerätes fertig: eine Glasplatte, die in der
Brieftasche Platz fand, völlig durchsichtig bis auf die briefmarkengroße, in
einen Schlitz eingeschobene Flachbatterie.
Jetzt konnte man beliebige Massen trägerfrei und damit lichtschnell trans-
portieren, tote wie lebende Materie.
Soling ließ sich nicht ungern dazu bewegen, ein Demonstrationsexperi-
ment vor dem Weltfernsehen selbst vorzunehmen: Er wurde zum Mond tele-
portiert und kehrte binnen weniger Minuten zurück, einen Mondstein zwi-
schen den Handschuhen des Skaphanders. Der Stein hatte dort oben im
Sonnenschein gelegen und war so heiß, daß niemand ihn anfassen konnte.
Die Institute der Weltraumforschung, auch die Kosmosbehörden, vor al-

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lern aber die Raumfahrtunternehmen tobten vor Begeisterung oder Empö-
rung. Das neue Gerät revolutionierte alles. Künftig würde es nun möglich
sein, ohne Raketen oder Raumfähren Satelliten auszusetzen und einzubrin-
gen, ja ganze Stationen samt Mannschaft zu beliebigen Punkten im Kosmos
zu expedieren und zurückzuholen, lichtschnell und mit lächerlich geringem
Energieaufwand. Niemand würde auf solcher Reise altern: Man hatte eine
Präzisionsuhr zum Mond und zurück transferiert, und hinterher ging sie
zweieinhalb Sekunden nach.
Reisen mit Lichtgeschwindigkeit - aber eben nur so schnell wie das Licht.
Flüge zu anderen Sternen würden auch so noch Jahre oder Jahrzehnte dau-
ern.

Solings Teufelssängerweibchen legte zwei Eier. Daraus schlüpften zwei


Weibchen. Das Paar im öffentlichen Reptilienhatis erbrachte zwei Männ-
chen.
Soling schrieb über seine gelungene Nachzucht einen Artikel für die Au-
gustnummer der Liebhaberzeitschrift und schenkte seine Jungtiere dem Bo-
tanischen Garten. Die Arterhaltung in der öffentlichen Einrichtung habe
Vorrang, erklärte er dem Redakteur des örtlichen Tageblatts, und nachgezo-
gene Tiere seien jedenfalls stabiler angepaßt als jeder noch so vitale Import.

Am zweiten September flog er nach Budapest.


Zwei Beauftragte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften fingen
ihn am Flughafen ab und baten ihn um ein improvisiertes Gespräch mit ei-
nem kleinen ausgewählten Kreis.
Arn Soling rief seinen Minister in Berlin an.
Was Sie sagen dürfen? Alles, auch die weiteren Vorhaben und Perspekti-
ven. Meinetwegen können Sie es auch in die Zeitung setzen. Niemand kann
Konkretes damit anfangen ohne die Schaltung, und die kann man uns nicht
stehlen, sie ist ja unsichtbar.
In der Akademie fand Soling fünf Damen und neunzehn Herren vor, die
meisten in dem, was er sich unter Akademiealter vorstellte. Der kleine, weiß-
haarige, agile Präsident entschuldigte sich angelegentlich für den Überfall
und bat um einige Worte zu Solings eigenen Arbeiten, um ein paar unausge-
gorene Ideen und auch Träume: Nur die wären wichtig, Theorien könnten
sie überall lesen und hätten sie selbst zur Genüge entwickelt; nur das Un-
reife bringe Einsichten in den kreativen Prozeß, in die Spannung zwischen
Motivation und Auftrag.
Fieberhaft suchte Soling nach einem brillanten Einstieg. Ihm fiel aber
nichts Passendes ein. Das war ihm bisher noch nie geschehen. Immer war es
ihm gelungen, auch das trockenste Thema mit einem scherzhaften Wort zu
beginnen und auch zwischendurch aufzulockern. Er hielt sich einiges darauf
zugute. Doch die unausgesprochenen Grenzen, die jeder Rede sonst gesetzt
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waren und die er stets auf amüsante Weise ein wenig durchbrochen hatte,
waren jetzt einfach aufgehoben durch diesen kleinen Alten hier am Tisch;
was Soling sonst hatte einschmuggeln müssen, war jetzt erwünscht und
wollte sich nicht einstellen. Auch seines Ministers Großzügigkeit verwirrte
ihn. Alles sagen dürfen - wie oft hatte er sich gewünscht, nicht stets und
ständig achthaben zu müssen auf seine Worte. Freilich konnte er auch hier
nicht alles sagen. Nichts von seinen geheimen Ambitionen und Aktivitäten,
nichts von seinem wissenschaftlichen Vorlauf und von der Kunst, immer der
Erste zu sein, und vor allem nichts von dem, was mit den Normen der Moral
und mit der Gesetzgebung unvereinbar war.
Soling begann bei den Büchern und Träumen seiner Knabenzeit, sprach
von Weltraumabenteuern und Zeitfahrern, von der Sucht nach prickelnd
Neuem, Ungeschautem, Einzigartigem und nach, damals und lange noch un-
eingestanden, Erfolg und Ehren, nach Einfluß und Geltung. Die Zeitreisen
hatten es ihm besonders angetan. Er erkannte, worin das Hauptproblem da-
bei bestand: im trägerfreien Materietransport. Irgendwie wollte man ja ohne
spürbare Ortsveränderung eine andere Zeit erreichen und auch an denselben
Ort zurückkehren, wenn zunächst auch keiner recht sagen konnte, was das
war: derselbe Ort. Schon die Erdrotation vollzöge sich ja am Äquator mit an-
derthalbfacher Schallgeschwindigkeit, eigentlich dürfte man dort gar nichts
hören (vierundzwanzigfaches höfliches Schmunzeln, das bei keinem die Au-
gen erreichte), und der Weg um die Sonne brächte fast das Hundertfache.
Keine Zeitreise also ohne Materietransfer, und Soling erzählte, "wie er vom
Träumen und Wollen zum Studieren und Arbeiten gekommen war, wie er
Interesse erweckt und Hilfe gefunden und wie sich schließlich der Erfolg ein-
gestellt hatte. Und weiter einstellen würde: als nächstes die echte, eigentliche
Zeitmaschine, eine Bagatelle nach allem Bisherigen, und erst die würde die
Raumfahrt wirklich revolutionieren. Was brächte denn ein Flug etwa zur
Wega, wenn man ein halbes Jahrhundert auf die Rückkehr warten müßte,
uneffektiv so etwas, wenn man nicht anschließend um diese fünf Jahrzehnte
zurückspringen könnte. Das Gerät dafür - er hob seine Stimme - würde er
in wenigen Monaten präsentieren.
Er spürte, er kam nicht an. Nicht einmal der Knüller am Schluß hatte die
Langeweile von den scheinbar konzentrierten Gesichtern bannen können.
Soling war nahe daran, noch eine Pointe daraufzusetzen und von den ätzfer-
tigen Zeichnungen zu sprechen, die in seinem Geheimsafe lagen, in einer
Magnetkristallkassette gespeichert, und von den Kontaktlinsen daneben, der
fertigen und erfolgreich getesteten Zeitmaschine. Doch er hielt sich zurück,
denn zum einen würde auch dies die hier versammelten zweimal zwölf heili-
gen Väter und Mütter der ungarischen Wissenschaft kaltlassen, die riß auch
der schärfste Paprika nicht aus dem Sessel; zum anderen hätte er sich dann
die ganze Reise sparen können, ja, es wäre das Ende.
Danebengegangen, dachte er und erkannte plötzlich: Das Gerede von Er-

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folgen und Ergebnissen und Effektivität interessierte diese Leute nicht im
geringsten, weil sie ihre Erfolge schon hinter sich hatten. Effektivität war für
sie als Verhältnis von Nutzen und Aufwand ein ökonomischer Begriff, der in
den Bereich der Anwendung gehörte. Diesen Männern und Frauen ging es
um die Effizienz des menschlichen Handelns, um die Spur, die einer in den
Hirnen und Herzen der anderen hinterläßt.
Jetzt sprach Soling von seinen Mißerfolgen, von den Irrwegen, die er allein
oder mit seinen Kollegen gegangen war, von den Schwierigkeiten mit der Ad :
ministration, von der Verzweiflung des Nichtweiterwissens und von dem
Preis an Kraft, Nerven und Material, den sie wieder und wieder entrichtet
hatten. Erneut spürte er, daß er an den Zuhörern vorbeiredete. Er erzählte,
wie er die Schwierigkeiten gemeistert hatte, und damit kehrte er die Mißhel-
ligkeiten einfach ins Positive.
Zorn wuchs in ihm auf. Was wollen die eigentlich hören? Was erwarten
diese verkalkten Leuchten der Wissenschaft von mir? Ich gebe ihnen eine ex-
akte Analyse der Arbeit, berichte über die konkrete Planung, umreiße die
Perspektiven, aber sie sind nicht zufrieden! Ich nehme eine konkrete kriti-
sche Wertung vor, offen und umfassend, und es gefällt ihnen auch nicht! Ja,
was denn dann? Wie hatte der Alte gesagt? Unreifes, Träume - Irrationales.
Wie soll man denn damit systematisch arbeiten! Systematisch? Hatte er, Arn
Soling, systematisch gearbeitet? Er hatte immer ein Ziel, und er erreichte es
stets. Aber wie er dahin kam, woher er seine inneren Antriebe, seine Ideen
nahm, darüber hatte er niemals nachgedacht. Irrational! Das war doch unlo-
gisch, unwissenschaftlich, Schamanentum, freilich waren diese Magyaren
schon halbe Türken; mystisch-orientalisch, undeutsch! Soling erschrak. So
ging das ja nun auch nicht. Unpreußisch vielleicht, wenn das nicht genauso
anrüchig oder gar noch schlimmer wäre. Ungewohnt, ungewöhnlich waren
diese Männer hier, südländisch-fremd, irrational ganz gewiß. Sie betrieben
ihre Wissenschaft anscheinend wie ein Kunsthandwerk, als irrationale Kul-
tur des Rationalen. So hatte er seine Arbeit noch nie gesehen, wenn auch
Unwägbares, Unbewußtes, Irrationales darin vorkam.
Hatte er zuerst geschildert, wie er die Stufenleiter seiner Erfolge errichtet
hatte, welche Bretter er genommen und wie er sie stabil zu einer sicheren
Treppe gefügt, so war er danach doch nur darauf eingegangen, welche Bohlen
er als ungeeignet hatte aussondern müssen. Diese Männer hier aber wollten
wissen, woher er das Holz genommen und wie die Bäume aussahen, aus de-
nen die Bretter geschnitten waren, in welchen Wäldern sie gestanden und
welche Tiere in ihren Zweigen und in ihrem Schatten gelebt hatten.
Das wußte er nicht. So gut kannte er sich nicht. Dazu konnte er nichts sa-
gen. Er war überfordert.
Dieses-Scheitern würde er nur zur Seite drängen, aber wohl niemals über-
winden können. Dies war seine Grenze, die erste, die er jemals erreicht hatte.
Sie schmerzte. -

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Im Tihany Central Palace, einem Fünfstemehotel, traf Soling auf ein sym-
pathisches Dresdner Ehepaar. Hardy Dommann war Augenarzt, seine Frau
Brix Psychophysikerin. Der Mann war in Maßen Fußballfreund wie Arn So-
ling, und das kam diesem sehr gelegen. Die drei verbrachten mehrere Tage
fast nur miteinander.
Über Berufliches sprachen sie niemals. Soling hielt sich nicht aus gewohn-
ter Vorsicht und Schweigepflicht (von der er ja in gewissem Grade entbun-
den war) zurück, sondern aus Unsicherheit, die manchmal schon an Angst
grenzte. Seit Budapest fehlte ihm etwas von seinem bisherigen Leben, und er
konnte nicht einmal sagen, was es war. Als hätte er jahrzehntelang etwas
falsch gemacht. Budapest war wie ein^ verpatzte Prüfung. Durchgefallen,
weil er die Fragen nicht verstanden hatte. Nicht einmal zu einem kurzen Ge-
spräch war es gekommen. Kreativer Prozeß! Freilich hing das mit der Moti-
vation seines täglichen Handelns zusammen, doch über die wollte er lieber
nicht nachdenken.
Am Nachmittag des achten September sahen sich Soling und die Dom-
manns gemeinsam die Übertragung eines Fußballspiels an, Dynamo Dresden
gegen Vasas Györ, Semifinale des UEFA-Pokals, gespielt in Budapest. Brix
wollte dazu auf dem Zimmer bleiben, doch Arn bestand auf dem Gemein-
schaftsempfang im Gelben Salon: Fußball könne man nur in der Menge rich-
tig genießen. Es wurde recht vergnüglich, die Dresdner gewannen 4:3, und
das gute Dutzend Fans im Gelben Salon würde die Solingschen spritzigen
Kommentare und manchmal etwas hintersinnigen Glossen wohl nicht so
bald vergessen. Sollten sie ja auch nicht.
Nach dem Spiel sah Soling zur Uhr, und eine heftige Angst überfiel ihn:
In weniger als drei Stunden würden daheim aus dem Botanischen Garten die
Singenden Teufelsköpfe gestohlen werden. Hoffentlich ging alles gut. Dann
schalt er sich einen Idioten, denn erstens war er ja schon vor Monaten wohl-
behalten und erfolgreich zurückgekehrt, und zweitens hatte er ein erstklassi-
ges Alibi. Er rief zum Feiern und versprach, einen auszugeben auf den zehn-
ten Jahrestag seiner Ehescheidung. (Danach unter anderem hatte er den
Termin gewählt; von dem Fußballspiel konnte er im Frühjahr noch nichts
wissen.) Sie stürmten den Luxor-Keller und fanden irgendwie Platz.
Immer wieder ertappte sich Soling dabei, daß er auf seine Uhr blickte; als
könnte er das vergangene, künftige Geschehen zu Hause damit unter Kon-
trolle behalten. Hatte er damals, nachher auch wirklich keinen Fehler ge-
macht? Schließlich löste er die Uhr vom Handgelenk und steckte sie in die
Hosentasche, aber damit wurde es noch schlimmer, denn nun versuchte er
überall auf fremde Uhren zu spähen.
Nach und nach spürte er den Alkohol. Die Zeiten verwischten sich, Zu-
kunft und Vergangenheit flössen ineinander, die Gegenwart schien sich
darin unrettbar aufzulösen.
Dann war der Zeitpunkt vorüber. Die Teufelssänger aus dem öffentlichen

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Tierhaus waren verschwunden, untergetaucht in der Zeit, unauffindbar. Jetzt
konnte er nichts mehr ändern.
Die Zeiten hatten sich wieder zurechtgerückt, es gab wieder eine deut-
lich fühlbare Gegenwart, und es gab sehr viel Vergangenheit, die all die
soeben noch bedrohliche Wirrnis aufgesogen hatte. Aber die Angst blieb.
Die Getränke lösten nicht diese Stimmung, soviel er auch in sich hinein-
goß. Im Gegenteil, sie enthemmten, und die Angst konnte sich ungehin-
dert entfalten. Die lärmenden, schwitzenden Menschen störten. Der ganze
Raum, aus graubraunem Stein auf ägyptisch zurechtgemacht, bedrückte
ihn wie ein Tempelverlies, wie ein Grab. Die massigen Säulen schienen zu
wachsen und zu quellen, die so merkwürdig verdrehten Figuren auf den
Reliefs blickten alle zur Seite, die großen wie die kleinen. Gehörte er
selbst zu den Riesen oder zu den Winzlingen? Er wußte es nicht mehr seit
Budapest. Wie eine Anklageschrift oder ein Richterurteil bedrohten ihn die
Hieroglyphen über der Bar, die schwarzen Vögel dazwischen, Raben, To-
tenvögel.
Er drängte zum Aufbruch. Zu fünft fielen sie in die freundliche, sonnen-
helle Batavia-Bar ein.
Anderntags erwachte er am späten Vormittag. Wann und wie er in sein
Bett gekommen war, wußte er nicht. Er fühlte sich jämmerlich. Einen Tag
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später, am zehnten September, einem Donnerstag, fuhr er vorzeitig nach
Hause. Mit der Bahn.

Zur gewohnten Zeit fuhr er am nächsten Morgen in sein Institut, obwohl er


noch nicht erwartet wurde.
Am Neutor Verkehrskontrolle. Auch ihn fischten sie heraus. Reserverad,
Abschleppseil, Zulassung, Führerschein. Personalausweis. Den besahen sich
die beiden Uniformierten sehr genau, blätterten ihn von vorn bis hinten
durch, verglichen sorgfältig das Paßbild. Dann gab der Ältere, ein Haupt-
mann, den Ausweis zurück: Sie sollten sich einen neuen ausstellen lassen;
lange hält er nicht mehr, und das Paßfoto ist Ihnen auch nicht mehr sehr
ähnlich. Gute Weiterfahrt!
Am Nachmittag ließ sich Soling fotografieren und ging zur Paßstelle. Är-
ger mit der Polizei wollte er keinesfalls haben.

Die Kollegen überraschten ihn mit einer brisanten Stadtneuigkeit: Aus dem
Botanischen Garten war das Gastgeschenk eines Ehrendoktors der hiesigen
Universität, eines Staatsoberhauptes sogar, gestohlen worden, ein Echsenpär-
chen, die Singenden Teufelsköpfe. Sicherlich sei er, Soling, das gewesen, sti-
chelten sie und wollten wissen, wo er denn gesteckt habe.
Er grinste und meinte: Ich käme ja wohl als letzter in Frage, ich habe
selbst ein Pärchen davon, schon lange.
Nichts da, rief einer, wir kommen nachsehen heute abend.
Einverstanden! Soling lachte. Da sie offensichtlich nur auf eine Einladung
aus waren, sollte es ihm recht sein.
Mehrere vermuteten einen Dieb aus der Zukunft. In absehbarer Zeit
mußte ja die Zeitmaschine fertig werden, und was wußte man denn, welcher
Mißbrauch damit später getrieben würde?
Außerdem hieß es noch, auf dem Westbahnhof wäre am Morgen nach
dem Diebstahl ein Mann mit gefälschten Papieren verhaftet worden.
Das kam Soling sehr gelegen. Wenn man eine heiße Spur hatte, stand er
weniger im Blickfeld. Als einziger weiterer Besitzer einer solchen Rarität
hatte er ja zu den gestohlenen Tieren eine offensichtliche und unverwechsel-
bare Beziehung, wenn auch nicht ersichtlicherweise juristischer oder gär kri-
mineller Art. Trotzdem mußte er mit der Aufmerksamkeit der Sicherheitsor-
gane rechnen.

Sie kamen am Sonnabend.


Nein, nur einer stand Soling in der Tür gegenüber, in Zivil. Major Roeder-
linck, mit oe und ck.
Soling führte ihn in den Salon und plazierte ihn so, daß er das Schau-
terrarium gut betrachten konnte.
Der Offizier berichtete vom Diebsta'hl der Staatsechsen und von den Wel-

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len, die das Ereignis geschlagen hatte (Der Staatsratsvorsitzende war nicht
sehr erfreut!), und bat Soling als interessierten Liebhaber und Experten um
seine Unterstützung. Leider habe man noch nicht die geringste Spur.
Ein Mann auf dem Westbahnhof? Das sei nichts Brauchbares, habe sich
sehr schnell zerschlagen, gewissermaßen in Luft aufgelöst.
Dann zeigte er sich sehr angetan von den in vollem Farbenschmuck pran-
genden Tieren, von dem unvergleichlichen Gesang und von ihrer offensicht-
lichen Vitalität.
Prachtexemplare! lobte er und fragte: Keine Futterprobleme? Keine
Krankheiten? Niemals beim Tierarzt gewesen?
Soling veraeinte, fast empört.
Anerkennend nickte der Major und bat Soling, ihm zu schildern, wie er zu
dieser Rarität gekommen sei.
Der brannte schon darauf, seine Geschichte loszuwerden, und erzählte
von seiner Kubareise, von Oriente und von dem kleinen Jose, der ihm für ein
billiges Transistorradio die Tierchen gefangen habe. Er berichtete von den
Zollbeamten jenseits und diesseits des Ozeans, suchte nach der Zolldeklara-
tion und fand sie nicht sogleich, blätterte zweimal sorgfältig und doch mit
sichtlich wachsender Nervosität alle seine Reisepapiere durch und holte das
Dokument schließlich aus den Zuchtunterlagen hervor, dazu den Artikel mit
den Fotos von der gelungenen Nachzucht.
Roederlinck las erst sorgfältig die Veröffentlichung und studierte dann das
Zollformular. Geckos, schmunzelte er, davon gibt es ja immerhin an die tau-
send Arten. Nicht übel! Er lachte und reichte das Papier zurück.
Noch eine Kleinigkeit, fuhr er fort. Sicherlich haben Sie genug Kriminal-
geschichten gelesen, um zu wissen, daß meine nächste Frage weder einen
Verdacht bedeutet noch sonst irgendwie ehrenrührig ist: Wo waren Sie am
Achten und Neunten?
Jetzt lachte Soling: Am Balaton, im Tihany Central Palace. Aber ein Alibi
für die Nacht habe ich nicht. Wir haben den Sieg von Dynamo Dresden ge-
feiert, und ich war so besoffen, daß ich nicht weiß, wann und wie ich ins Bett
gekommen bin!
Roederlinck hob die Brauen.
Ein Dresdner Ehepaar war dabei, beantwortete Soling die unausgespro-
chene Frage, Hardy und Brix Dommann.
Er holte ein Notizbuch und las die Adresse vor.
Der Major notierte nichts. Anscheinend verließ er sich auf sein Gedächt-
nis.

Als der ungebetene, aber nicht unerwartete Besucher gegangen war, begann
sich Soling zu ärgern. Was war er doch für ein Esel! Warum hatte er gerade
das Staatspärchen nehmen müssen? Da waren ja noch zwei Jungpaare gewe-
sen, die dort geschlüpften Männchen und die von ihm selbst gestifteten

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Weibchen, zwar nicht in einem der Schaubehälter, aber er hätte ja nur ein
wenig zu suchen brauchen. Die allgemeine Aufregung wäre bei weitem gerin-
ger, würden nur zwei Jungtiere fehlen. .
Dann fiel ihm ein, mit den Nachwuchsexemplaren hätte er ja selbst noch
keinen Zuchterfolg haben können, keinen Zeitschriftenartikel, keine Jung-
weibchen als Geschenk für das Reptilienhaus. Am achten September wären
also dort außer dem erwachsenen Paar hur zwei Jungmännchen gewesen,
und die hätte er gewiß nicht genommen.
Es wäre also gar nicht anders gegangen, dachte er, ich habe nichts falsch
gemacht. Langsam beruhigte er sich. Außerdem, grübelte er weiter, ich habe
zwei Tiere genommen und zwei gegeben; wo ist da eigentlich ein Schaden
entstanden?

Drei Wochen später kam der Major wieder.


Wir haben noch immer keine Spur, gestand er anscheinend freimütig, wir
werden die Ermittlungen wohl einstellen müssen. Vorläufig wenigstens, bis
sich ein neuer Hinweis ergibt.
Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: Wir haben alles Denkbare getan,
ohne Erfolg. Niemand kann uns ein Versäumnis vorwerfen. Nun müssen wir
die Akte so vollständig abschließen, wie es nur geht. Der Staatsanwalt ist da
sehr genau. Jetzt ist da noch diese Sache mit dem Balaton ... Die Dom-
manns sind nicht mehr in Ungarn, und sie sind auch in Dresden nicht einge-
troffen. Sie haben nur eine Postkarte geschrieben aus München, man möge
vorerst nicht mit ihnen rechnen. Wir können sie also nicht befragen, und mit
der Amtshilfe ist das bei den Münchner Kollegen so eine Sache ... Sie wis-
sen ja, die Bayern mögen keine Preußen, und zu denen rechnen sie auch
uns, völlig irrigerweise, aber es ist nun einmal so.
Und das Hotel...
... hat uns bestätigt, für welche Tage Sie dort bezahlt haben, nicht, wo Sie
sich aufhielten. Ihren Rückflug haben Sie verfallen lassen.
Warum nur war er vorzeitig und mit dem Zug abgereist? Keine Buchung,
keine Namen, keine Fahrkahrte mehr (die hob er bei Privatfahrten niemals
auf), nur an der Grenze - ja, das war es. Meine Grenzübergänge sind ja fest-
gehalten!
Deswegen bin ich ja hier, erwiderte Roederlinck, darf ich Ihren Personal-
ausweis einmal sehen?
Soling sank zurück. Der Personalausweis! Seit zwei Wochen hatte er einen
neuen.
Den haben Sie doch schon!
Der Major war verwundert.
Sie, die Polizei! Seit vierzehn Tagen habe ich einen neuen, den alten hat
die Paßstelle. Dort kann man ja nachsehen.
Mit trauriger Miene schüttelte der Major den Kopf. Die alten Dokumente

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werden sofort vernichtet, noch an demselben Tage. Sehen Sie, da gab es ein-
mal vor langer Zeit einen bösen Fall, nicht bei uns und auch in einem völlig
anderen Dokumentensektor, aber immerhin... Sicherlich kennen Sie die Sa-
che: Die Bank von England hatte abgenutzte Geldscheine aus dem Verkehr
gezogen und von Schottland nach London zum Vernichten geschickt, einen
ganzen Waggon voll in einem Postzug, und der wurde auf freier Strecke aus-
geraubt. Man ist vorsichtiger geworden, überall. Aber - mit wem hatten Sie
dort sonst noch Kontakt?
Mit dem Personal selbstverständlich.
Das hilft uns ja nicht weiter.
Ja, dann ... Ich War fast nur mit den Dommanns zusammen. Und sonst:
eine Gruppe Spanier, eine Familie aus Aberdeen, zwei Brüder aus Haifa ...
auch an dem Fußballabend.
Langsam wiegte Roederlinck den Kopf, unzufrieden.
Ja freilich, dachte Soling, wenn es mit München Probleme gibt, dann si-
cherlich auch mit Madrid, London und Tel Aviv. Und andere Gäste? Ein
paar Gesichter, Stimmen, Kleider - Bilder, Schall und Rauch, ja nicht ein-
mal Namen.
Der Major erhob sich. Vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein. Rufen Sie
mich an. Ich hoffe es, setzte er leise hinzu, ich hoffe es sehr.

Columbo! fluchte Soling, als er wieder allein war. Das herrliche Alibi - zer-
ronnen ins Nichts. Und er brauchte es, schien es dringend zu brauchen. Fie-
berhaft überlegte er, wie es zu retten wäre, erdachte und erwog viele Varian-
ten, eine abenteuerlicher als die andere, und konnte sich doch zu nichts
entschließen, denn nichts schien ihm sicher oder wenigstens machbar. Also
brauchte er ein anderes Alibi. Wie aber sollte er das erklären? Erst erzählte
er die Tihany-Story und dann eine andere Geschichte? Man würde ihm dann
gar keine glauben.
Doch, es gab eine Lösung: Das neue Alibi mußte ein wenig ehrenrührig
sein, für ihn selbst oder für eine andere Person. Dann konnte er verschämt
gestehen, bisher geflunkert zu haben.
Was war dafür geeignet? Ehrenrührig, aber nicht kriminell? Eine kleine
dienstliche Verfehlung vielleicht? Nein, nur das nicht! So etwas wusch sich
niemals wieder ab.
Eine Bettgeschichte? Marga! Ja freilich, Marga, deren Mann dauernd m
der Welt umherreiste und die der letzte Stein des Anstoßes und der Anlaß
für die Ehescheidung der Solings gewesen und nun seit langem versunken
und vergessen war.
Marga also. Zurückspringen, die kritische Nacht bei ihr verbringen, eine
nachweisbare Spur hinterlassen und dann wiederkommen und die Affäre ge-
stehen, von Mann zu Mann.

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Vorzubereiten war nicht viel. In eine selten benutzte Aktentasche packte
Soling das Notwendigste für einen Tag und eine Nacht, dazu für etwaige tote
Stunden irgendein Taschenbuch.
Dann legte er die Kontaktlinsen an und sprang zurück in den achten Sep-
tember, in die Zeit vor dem Morgengrauen, verließ vorsichtig, anscheinend
ungesehen, sein Haus und marschierte zur nächsten Haltestelle für Über-
» landbusse. Mit dem ersten haltenden Wagen fuhr er bis zu einer Bahnstation
und von dort, zweimal umsteigend, mit dem Zug nach Freiberg. Sein Auto
stand am Flughafen Schkeuditz im Parkhaus, und das war gut so.
In Freiberg frühstückte er auf dem Bahnhof, rief dann in der Bergakademie
an, verlangte, Margas Gatten zu sprechen, und erfuhr, der Kollege sei nach Te-
heran geflogen und komme erst im Oktober zurück. Zufrieden schlug er den
Rest des Vormittags tot, speiste im Ratskeller und hob die Rechnung auf.
Dann rief er Marga an. Sie war sehr überrascht und nicht allzu böse auf
ihn ob seines langen Schweigens. Ab fünfzehn Uhr wollte sie zu Hause auf
ihn warten.
Mit Blumen, Wein und einer Schallplatte ihres Geschmacks erschien er
dort kurz nach der angegebenen Zeit, und es wurde ein angeregter Abend.
Kurz vor Mitternacht holte er eine Flasche Sekt aus der Gaststätte nebenan
und zahlte mit Scheck. Der Wirt verlangte Bargeld, doch als er den einge-
setzten Betrag sah, griff er rasch nach dem grünen Papierchen. Der wird
mich nicht so schnell vergessen, dachte Soling.
Die Kontaktlinsen trug er die ganze Zeit über, für den Fall irgendeiner Kom-
plikation stets zum Rücksprung in seine Startzeit und sein Haus gerüstet.
Scheinbar widerstrebend blieb er zur Nacht und nahm am Morgen den
Vieruhrzug (der Dienst!), mit Platzkarte. Das war spät genug für ein Alibi
und ließ ihm andererseits genug Spielraum, in einer verkehrsarmen Zeit sein
Haus zu erreichen und dort unbeobachtet zurückzuspringen. Die Bahnfahrt
gehörte noch zum Alibiprogramm. Ob sich sofort nach der Zugankunft eine
günstige Gelegenheit zum Rücksprung bieten würde, wußte er nicht.
Auf dem Westbahnhof kam er fast eine Stunde zu früh an. Der morgendli-
che Berufsverkehr war noch in vollem Gange, und seinen Kollegen wollte So-
ling nicht begegnen. Er ging in die Bahnhofswirtschaft, ließ sich Kaffee brin-
gen unA-wartete.
Zwei Bahnpolizisten traten ein, gingen von Tisch zu Tisch und baten die
Gäste höflich um die Personalpapiere, warfen jeweils einen Blick hinein und
auf den Inhaber und bedankten sich freundlich.
Soling fiel ein, was man ihm nach seiner Rückkehr aus Ungarn, am Elften,
erzählt, hatte: auf dem Westbahnhof ein Mann mit gefälschten Papieren ver-
haftet. 'Er wartete gespannt, vielleicht würde er sogar Augenzeuge.
Dann reichte er seinen Ausweis hin.
Der Leutnant nahm ihn, sah hinein, stutzte, wies mit dem Finger auf eine
Stelle und ließ den anderen, Rangniederen, hineinblicken. Dann sahen

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beide Soling an, und der Offizier fragte sarkastisch: Wir sind wohl etwas zu
früh gekommen? Heute haben wir den neunten September, und Ihr Ausweis
ist am sechzehnten ausgestellt worden, heute in einer Woche.
Soling war wie vor den Kopf geschlagen. Daran hatte er nicht gedacht.
Jetzt hatten sie ihn. Nur fort vorn hier! Gut, daß er die Kontaktlinsen nicht
abgelegt, die Zeitmaschine stets einsatzbereit gehalten hatte - so brauchte er
nur den Rückkehrbefehl zu denken. Nein, nicht hier. Das Aufsehen wäre zu
groß, und Major Roederlinck wäre sofort alles klar.
Mit ungläubigem Gesicht stand er auf und streckte die Hand nach dem
Dokument aus: Darf ich? Im Rücken hatte er die Wand, zu beiden Seiten
standen die Blauen, dahinter mit großen Augen und halboffenem Mund der
Kellner. An Flucht war nicht zu denken. Er erhielt das unheilschwangere
Büchlein zurück und blickte kopfschüttelnd hinein.
Deshalb al^o die Verkehrskontrolle in zwei Tagen, nach ihm würden sie
unauffällig suchen, deshalb so sorgfältig seinen Ausweis prüfen. Aber über-
morgen hatte er ja noch seinen alten, das würde die braven Polizisten voll-
ends verwirren. Zugleich wußte er nun auch, daß ihm die Flucht gelingen
mußte. Er wurde ruhig und kalkulierte völlig nüchtern. Stehend stürzte er
den Rest seines Kaffees hinunter, suchte in den Taschen nach Kleingeld und
steckte dabei wie unbeabsichtigt den Ausweis wieder ein, legte eine Münze
auf den Tisch und nickte dem Leutnant zu. Als er nach seiner Tasche greifen
wollte, kam der andere Polizist ihm zuvor. Soling zuckte die Achseln. Die
Mappe enthielt nichts Verfängliches. Alles, was auf ihn deuten konnte, trug
er bei sich. Sie hatten zwar Namen und Adresse, aber kein Beweisstück. Zwi-
schen den beiden ging er hinaus.
Draußen bat er, austreten zu dürfen, der Schreck sei ihm auf die Blase ge-
schlagen. Die Polizisten begleiteten ihn zur Toilette, der Leutnant ging erst
allein hinein, kehrte zurück und gab den Weg frei. Drinnen war niemand,
die beiden bewachten das Häuschen von außen, und Soling gab sofort den
Gedankenbefehl und sprang zurück in seine Zeit und sein Haus.
Nur einen neuen Rasierapparat mußte er kaufen. Da aber die Sache jetzt
Wochen zurücklag, konnte daran niemand Anstoß nehmen, zumal er ja stets
glattrasiert aufgetreten war.
Zwar kannten sie seinen Namen und seine Anschrift, aber etwas Gesetz-
widriges konnten sie ihm nicht nachweisen, hatten sie ihm bisher nicht
nachgewiesen. Allerdings war er nun wieder ohne Alibi, und das war schlim-
mer, als er zuvor geahnt hatte. Des Majors eindringliches Bestehen auf der
Balaton-Geschichte hatte einen neuen Hintergrund erhalten.

Jetzt sah Soling nur noch einen einzigen Ausweg: Die Tiere mußten zurück!
Zwar besaß er sie dann nicht mehr, aber dieses Problem konnte er im eige-
nen Hause lösen.
Diesmal ließ er die Zeitmaschine aus dem Spiel. Am hellichten Tage fuhr
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er zum Botanischen Garten und betrat das Palmenhaus. Nicht die Reptilien-
anlage - vielleicht hatten sie dort inzwischen eine versteckte Kamera oder
dergleichen installiert. Unter dem Arm trug er eine bunte Pappschachtel.
Daraus entließ er unbeobachtet die Echsen auf den Boden, wo sie sofort im
Pflanzendickicht verschwanden. Auf der Straße dann drückte er den Karton
zusammen und warf ihn in einen Papierkorb.
Wieder in seinem Hause, fuhr er zurück in den Mai, in den fünfzehnten,
einen Sonnabend, und holte von dort das Pärchen in die Gegenwart. Wichtig
war, daß er sie später irgendwann zurückbrachte in jene Zeit, in den sech-
zehnten Mai zum Beispiel. An jenem Wochenende war er in Helsinki gewe-
sen. Er wollte nicht gern sich selbst begegnen. Genauer: Er wußte, daß er
sich nicht begegnet war und daß er die Tiere nicht vermißt hatte. Bis zu die-
sem Rücktransport mußte er sie vorzeigen können und Nachzucht erzielen,
so viele Nachkommen, daß später das Fehlen der Erstexemplare nicht mehr
auffiel.

Drei Tage darauf kam wieder der Major, und Soling freute sich zum ersten-
mal, ihn zu sehen. Mit deutlicher Befriedigung berichtete Roederlinck, die
vermißten Tiere hätten sich wieder angefunden.

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Soling tat überrascht und erleichtert und gratulierte dem Offizier.
Der wehrte ab: Damit ist ja die Straftat noch nicht aufgeklärt. Nur der
Schaden ist behoben, wenigstens vordergründig, materiell. Jetzt werden sich
in der Öffentlichkeit und bei der Obrigkeit die Wogen der Empörung glätten.
Wir können ohne Druck die Ermittlungen zügig fortsetzen und hoffentlich
bald abschließen; es sieht nicht ungünstig aus.
Soling erschrak. Noch war die Gefahr nicht gebannt, ja im Gegenteil, sie
wurde immer bedrohlicher.
Er fuhr zusammen. Der Major räusperte sich und sah ihn aufmerksam an,
als hätte er ihn etwas gefragt.
Freundlich bat der Gast, die Tiere des Hausherrn sehen zu dürfen.
Blitzschnell verschwanden die behenden Echsen im Pflanzengewirr, als
die Männer vor das Vivarium traten, wurden dann wieder sichtbar und saßen
an zwei Stengeln, unbeweglich, nur die lebhaften Augen musterten aufmerk-
sam die Umgebung.
Anerkennend nickte Roederlinck und sagte beiläufig: Übrigens sind die
aufgefundenen Tiere tatsächlich mit den vermißt gewesenen identisch, zu-
mindest das Männchen. Es mußte einmal nach einer bösen Beißerei operiert
werden, und das jetzige Röntgenbild zeigt deutlich die Narben. Bei den letz-
ten Worten wandte er mit einem Ruck den Kopf und sah Soling ins Gesicht.
Dem war der erneute Schrecken deutlich anzusehen. Was wäre geschehen,
dachte er, wenn sie damals mein Männchen mitgenommen und durchleuch-
tet hätten? Und wenn sie es jetzt noch taten? Das Tier hier hinter der Glas-
scheibe hatte ja dieselben Narben. Nein, wie sollten sie darauf kommen.
Um abzulenken, gab er einige Futtertiere hinein und sah zu, wie sie bin-
nen kurzem vertilgt wurden.
Wirklich hervorragend akklimatisiert! lobte der Besucher.
Ich denke schon, sagte Soling stolz, und wenn es mit der Nachzucht weiter
so klappt...
Nachzucht? Die Stimme des Majors klang merkwürdig.
Ja, ich habe schon ..., setzte Soling an und suchte nach seinem Artikel in
der Liebhaberzeitschrift. Da war das Heft, die Augustnummer dieses Jahres,
er schlug sie auf, auf der sechsten und siebenten Seite, und erstarrte: Da
schrieb nicht Arn Soling über Kephalosatanas cantor, sondern Peter Peder-
zani über Testudo anatolica. Das Inhaltsverzeichnis gab nichts anderes her.
Auch in den anderen Heften fand sich kein Wort aus Solings Feder, so ver-
zweifelt er auch suchte.
Der Major entschuldigte sich höflich (wofür überhaupt?) und ging.
Arn Soling stand da und verstand gar nichts mehr.
Nach und nach dämmerte ihm die Erkenntnis. Er hatte in die Vergangen-
heit eingegriffen, am fünfzehnten Mai die Tiere aus ihrer Zeit herausgenom-
men und damit von diesem Tage an den Gang der Dinge verändert. Das
Weibchen würde zwischen April und Oktober keine Eier legen, keine Jung-
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tiere würden schlüpfen, und er selbst würde logischerweise keinen Artikel
schreiben, hatte keinen Artikel geschrieben. Die ursprüngliche Entwicklung
hatte er durch seinen Eingriff zerstört. Sie war einfach nicht geschehen. Sie
existierte nur in seiner Erinnerung und nirgends sonst. Die Redaktion hatte
keinen Text von Soling, sie nahm den von Pederzani. Und selbstverständlich
hatte der Botanische Garten keine Jungweibchen als Geschenk erhalten.
Verflucht und zugenäht! Was mochte der Major jetzt denken? Der war ja
heute schon merkwürdig genug gewesen.
Wenn er nur diesen überhöflichen Schnüffler wieder aus dem Spiel her-
ausbringen könnte! Spiel? Nach und nach schien bitterer Ernst daraus zu
werden.
Hätte er doch die Teufelsbiester nicht einfach im Palmenhaus ausgeschüt-
tet, sondern mit der Zeitmaschine in jene Septembernacht zurückgebracht -
ja freilich: am Abend des Achten gestohlen, ausgeliehen, nein, gestohlen
stimmt schon, und um Mitternacht oder gegen Morgen zurückerstattet, da-
zwischen fast ein halbes Jahr lang in Besitz gehabt, so wie es ja gewesen war
- kein Mensch hätte etwas bemerkt. Daß dabei die Tiere binnen weniger
Stunden um-ein halbes Jahr gealtert wären, hätte auch niemand erkennen
können. Wieder einmal hatte er übereilt gehandelt und dadurch überaus un-
geschickt. Doch das Aussetzen im Palmenhaus konnte er nicht zurück-
drehen.

Bald darauf erlebte Arn Soling endlich wieder einmal einen Erfolg, einen
sehr schönen sogar.
Seit Anfang September waren sein Selbstwertgefühl, seine Sicherheit und
Selbstgewißheit arg angefochten worden. Er fühlte sich auch physisch nicht
in bester Form, war oft abgespannt, müde, erschöpft, konnte sich selten rich-
tig konzentrieren; seine Wendigkeit war in Trägheit und Gleichgültigkeit er-
trunken. Bisweüen saß er viertelstundenlang bar jedes-Gedankens am
Schreibtisch, manche Worte und Sätze hallten ungehört an ihm vorüber,
mitunter verlor er beim Reden mitten im Satz den Faden. Manchmal meinte
er den Herbst seines Lebens mit hartem Knöchel an seine Tür pochen zu hö-
ren, schob dieses Gefühl aber stets rasch wieder weit von sich. Anfang Fünf-
zig war doch noch kein Alter, auch wenn die weißen Fäden im Haar in der
letzten Zeit rapide zugenommen hatten. Er schob diese Minderung seiner
selbst, diese Beschwerlichkeiten einfach auf die wachsende Spannung, der er
seit Budapest und seit dem Auftauchen des Majors unterlag und die sich als
Dauerstreß ja auch physisch manifestieren mußte.
Einen spektakulären beruflichen Erfolg konnte er dringend brauchen, und
er hoffte, künftig wieder wie früher arbeiten und auftreten zu können, Pro-
bleme wegzulächeln und ein Flair von Leichtigkeit und Siegesgewißheit um
sich zu verbreiten.
Das Ereignis war auch ganz dazu angetan. Ein großes Bauteil sollte mittels

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des trägerfreien Materietransfers zum Mars teleportiert werden. Nicht nur
ein paar Sklerosoftplatten, sondern die Außenkuppel für die neue Station
Aron 7 am Krater Nicholson, eine mehr als tausend Quadratmeter bedek-
kende Tiolonstahlschale von etlichen hundert Tonnen.
Der rote Planet stand ungünstig, die Entfernung war mit 340 Millionen Ki-
lometern größer als der Durchmesser der Erdbahn. Doch diese Situation
würde sich erst in etlichen Monaten langsam verbessern, die nächste Opposi-
tion des Planeten stand erst in fünf Vierteljahren ins Haus. Abzuwarten
paßte dem Weltkosmosministerium nicht in seine Neuen Pläne, und bei der
neuen Transportmethode spielte ja die Entfernung keine Rolle. Ja, Aufsehen
und Reklamewert waren sogar viel größer, und Panavision berichtete live im
Ersten Kanal.
Arn Soling war an diesem Tage wieder vpllig der alte, strahlendes Lächeln
im Gesicht und Triumph im stürmisch schlagenden Herzen. Alles klappte
wie ein Paradeexerzieren: Zielabweichung zwei Komma drei Millimeter,
vom Marsorbit aus gemessen, das war weniger als nichts.
Die anschließende Feier verließ Soling vorzeitig. Schon nach anderthalb
Stunden fand er sich zu Tode erschöpft und deprimiert wie in den schwärze-
sten Stunden der Wochen zuvor.

Am nächsten Tag ereilte ihn ein neues Desaster.


Der Chef ließ ihn kommen und zeigte ihm den Bericht eines Außendienst-
mitarbeiters, eine vertrauliche Vorinformation: Zwei Münchner Wissen-
schaftler, Brix und Hardy Dommann, hatten ein Verfahren zum Patent ange-
meldet, Energie aus den Lidbewegungen der menschlichen Augen zu
gewinnen und damit auf Kontaktlinsen untergebrachte Pikoelektronik zu be-
treiben.
Soling schwammen die Zeilen vor den Augen. Das war doch sein Verfah-
ren! Aus dieser Energiequelle speiste er seine heimliche Zeitmaschine, und
deswegen hatte er die Methode bisher verschwiegen. Jetzt rächte sich seine
über lange ZSit bewährte Taktik, Neuheiten im Vorlauf zu entwickeln und
erst dann darüber zu sprechen, wenn sie verlangt oder gebraucht wurden. So
konnte er immer wieder den Anschein erwecken, schwierige Probleme im
Handumdrehen und mit Eleganz zu lösen. An solchem Ruf war ihm immer
sehr gelegen, die im vorhinein investierte Arbeit brauchte ja niemand zu
kennen. Jetzt aber war ihm jemand zuvorgekommen, noch dazu bei einer Sa-
che, deren Brisanz geradezu täglich zunahm.
Tihany fiel ihm ein, die Nacht, an die er sich nicht erinnern konnte. Er
hatte also geprahlt und über Dinge geschwatzt, von denen niemand wissen
durfte. Mein Gott, dachte er, was habe ich da im Suff vielleicht noch alles er-
zählt? Nur gut, daß diese Dommanns nicht zurückgekommen sind!
Professor Tasko holte ihn in die Wirklichkeit zurück: Das hätte eigentlich
auch uns einfallen können!
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Ein klarer, harter Vorwurf. Versagt. Noch zwei, drei solche Patzer, dachte
Soling, und ich kann mir einen anderen Schreibtisch suchen. Eine neue
Angst erstand in ihm.
Damit, fuhr der Chef fort, hätten wir die Pilotenbrille auf Kontaktlinsen
umstellen können.
Mit angehaltenem Atem wartete Soling auf die Fortsetzung des Satzes:
... und später die Zeitmaschine.
Doch diese Fortsetzung kam nicht. Noch nicht.

Solings Kephalosatanaspärchen legte zwei Eier, und daraus schlüpften zwei


Weibchen. Er schrieb einen Artikel für die Liebhaberzeitschrift, für den er
ganze Passagen noch im Gedächtnis hatte, und tauschte eins der Nachzucht-
tiere gegen ein Jungmännchen aus dem Botanischen Garten. Dort freute
man sich sehr, hatte man doch damit ein junges Pärchen, überhaupt wieder
ein Pärchen, nachdem das alte, das Staatsgeschenk, eingegangen war, beide
Tiere im Abstand von zwölf Tagen verendet. An Altersschwäche. Eindeutig.
Und merkwürdig.
Als Soling dies erfuhr, eilte er nach Hause, legte die Kontaktlinsen an und
nahm seine Elterntiere aus dem Vivarium heraus. Nur zurück damit in den
vorigen Mai, aus dem er sie in die Jetztphase geholt hatte!
Unvorstellbar, wenn ihm seine auch eingingen. Doch halt, das waren ja
dieselben Tiere, sie konnten doch nicht zweimal krepieren? Nein. Nicht,
wenn er sie um diese vierzehn Monate zurückbrachte, in den Mai des Vor-
jahres. Wenn er sie hierließ, wenn er sie jetzt und hier einbüßte, dann wären
sie schon vor vierzehn Monaten verschwunden, niemals im Palmenhaus wie-
der aufgetaucht, nicht im Botanischen Garten an Altersschwäche gestorben.
Und der Major hätte sie auch nicht gesehen. Eine andere Variante im Lauf
der Dinge wäre eingetreten, mit unabsehbaren Konsequenzen und Kompli-
kationen. Die Katastrophe. Nicht einmal auf die Vergangenheit konnte man
sich noch verlassen.
Nur schnell fort mit den Tieren, dachte er, mit diesen Teufelsbiestern,
wahrhaftig! Und wenn jemand sie vermißt, morgen? Macht nichts: Exitus,
meine auch. Außerdem habe ich ja jetzt noch das junge Pärchen.
Ein wenig benommen, vor Aufregung wohl, langte er an, entledigte sich
der Tiere und begab sich auf den Rückweg.
Als er zu sich kam, lag er auf dem Teppich und fühlte sich sterbenselend.
Wie kann man auch, dachte er, aus dem kalten Maiabend mitten in diesen
heißen Julitag ... Langsam nur kam er hoch.

Acht Wissenschaftler und Techniker hatten die Marsstation Aron 7 einge-


richtet und vier lokale Tage nach dem spektakulären Kuppeltransport bezo-
gen. Neunzehn Tage später kam das abendliche Routinegespräch mit der
Hauptstation Aron Central nicht zustande. Zwar hatten die Computer die

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Funkverbindung hergestellt und die Startroutine einschließlich der program-
mierten Sprechtexte abgefahren, aber keiner der Menschen in Aron 7 mel-
dete sich. Da ein Unglücksfall nicht auszuschließen war, entsandten Aron
Central und die dem Nicholson am nächsten gelegene Station, Aron Olympus,
Rettungsfahrzeuge. Bis zu deren Eintreffen würden mindestens elf, zwölf
Stunden vergehen, zumal die Station am Olympus hoch oben an den Hang
des gewaltigen Berges gebaut worden war, nur elf Kilometer unter dem Gip-
felkrater, sechzehn Kilometer also über Normalnull. Diese Lage der Station
war ein für die Pionierzeit der bemannten Marsforschung typischer Kompro-
miß zwischen der in Warschau ansässigen Internationalen Akademie für das
Sonnensystem (MASS) und der Marseiller Associated Nations Space Agency
(ANSA): Die MASS-Leute forderten, die Station am Fuße des Berges zu er-
richten, am Ostrand der Amazonentiefebene; im Gegensatz zu diesen Ama-
zoniern verlangten die Olympier, die ANSA nämlich, den Bau mitten auf dem
Gipfelplateau bei ausschließlicher Flugverbindung. Die nach mehrjährigen
Debatten beschlossene Hangvariante vereinte fast alle Nachteile beider Ori-
ginalprojekte und ließ keinen der ins Feld geführten Vorzüge richtig zum
Wirken kommen. Erst seit der Konföderation der beiden großen Staaten-
bünde gab es neben der UNO-Weltraumkommission ein Ministerium für
Kosmische Angelegenheiten beim Konföderationsrat; die Kosmische Kam-
mer wurde gebildet und koordinierte die Arbeiten der MASS, der ANSA und
der UNO-Universität. Erst seitdem hatten die Rangeleien aufgehört, doch
hatte man mit deren Folgen noch lange mancherlei Sorgen. So brauchte der
nach Aron 7 entsandte Turborover mindestens vier Stunden für den Abstieg,
bevor er die verhältnismäßig ebenen restlichen anderthalbtausend Kilometer
unter die Ketten nehmen konnte. Das andere Fahrzeug würde erst viele
Stunden später eintreffen. Aron Central lag fünftausend Kilometer entfernt
im Graben des Glanzes an einem zwar planetologisch interessanten, aber ver-
kehrsungünstigen Platz.
Die Aufnahmen der Fotosatelliten zeigten bis zum Sinken der Dämme-
rung nichts Auffälliges an Aron 7. Auf den danach gespeicherten Infrarotbil-
dern sah man eine sehr geradlinige Wärmespur, die sich vom unteren Kup-
pelrand über sechzehn Meter bis fast zum Scheitelpunkt erstreckte. Ein
schmorendes Kabel? Ein Riß? Warmwasser? Man vermutete und stritt und
konnte doch nichts anderes tun, als weiter zu rufen und die Ankunft des er-
sten Fahrzeugs abzuwarten.
Im planetaren Morgengrauen fanden die Leute von Aron Olympus die meh-
rere Zentimeter starke Tiolonstahlkuppel von unten bis oben aufgerissen. Bis
zu zwei Zentimeter breit klaffte die Wunde glatt wie ein Messerschnitt ne-
ben einem der Spanten. Niemand hatte überlebt. Die gesamte Atemluft war
sofort entwichen, denn auch die Hermetik der Innenräume war weitgehend
aufgehoben. Sieben Menschen, darunter die drei Frauen, mußten beim
plötzlichen Druckverlust sofort umgekommen sein. Den achten fand man in
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einem fast unbeschädigten Raum bei knapp halbem Luftdruck neben einem
Sauerstoffgerät und mit einer tiefen Kopfwunde, offenbar bei einem Sturz
geschlagen. Er war bis ungefähr zwei Stunden vor dem Auffinden am Leben
gewesen, wenn auch schon längere Zeit ohne Bewußtsein. Ob man ihn drei,
vier Stunden früher noch hätte retten können, blieb ungewiß.
Aron Central informierte sofort die Erde, versetzte alle Marsstationen in er-
höhte Alarmbereitschaft und entsandte zum Nicholson weitere Fahrzeuge
mit Spezialisten, Geräten und der engeren Leitung. Von der Erde startete ei-
nen Tag später «ine Untersuchungskommission der Kosmischen Kammer
zum Katastrophenort.

Der Rektor hatte Soling gebeten, im Rahmen einer Sonntagsuniversität ge-


nannten öffentlichen und auch populären Veranstaltungsreihe über techni-
sche und gesellschaftliche Aspekte von Zeitreisen zu sprechen.
Über dreihundert Zuhörer waren erschienen, viel mehr als gewöhnlich. So-
ling hatte vorher mehrere dieser Vorlesungen besucht, um sich auf At-
mosphäre und Publikum einzustimmen.
Sehr viele Jugendliche waren da, sicherlich Phantastikfans; viele Männer
und noch mehr Frauen in den Dreißigern und Vierzigern, die meist gediege-
nes eigenes Fachwissen und daneben oder deshalb vielfältige andere Interes-

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sen hatten und am Ende sachliche Fragen stellen würden. Die Altersgruppe
dazwischen fehlte fast völlig. In der fünften Reihe saßen zwei schwarzgeklei-
dete Männer, die wie Priester aussahen. Teils schon lange vor dem Beginn
gekommen waren viele Ältere, vielleicht Alleinstehende, die nur irgendein
Gemeinschaftserlebnis suchten.
Soling war zuversichtlich. Hier konnte nichts schiefgehen.
Dann sah er weit hinten auf einem Randplatz Major Roederlinck sitzen.
Unruhe ergriff ihn und ließ ihn die ganze Veranstaltung über nicht mehr los.
Er hatte sich sorgfältig vorbereitet, hatte sogar, eingedenk seiner jetzt häu-
figen Konzentrationsschwächen, den gesamten Redetext geschrieben vor
sich. Obwohl er nur abzulesen brauchte, verirrte er sich mehrmals in seinen
Zetteln und mußte sich dann korrigieren. Peinlich, vor allem vor dem Rekto-
ratssekretär, der wie üblich die Veranstaltung leitete.
Die Aussprache brachte Soling ohne Zwischenfall über die Runden, und
dann geschah, was er die ganze Zeit über befürchtet hatte: Der Major kam
auf ihn zu.
Jetzt aber fiel alle Beklemmung von Soling ab. Monatelang hatte ihn Roe-
derlinck in Ruhe gelassen, was sollte denn jetzt noch geschehen? Nein, diese
Sache war vorüber, ausgestanden, erledigt Lachend empfing er den Ungebe-
tenen: Leider habe ich Sie enttäuschen müssen. Da wir die Zeitmaschine
noch nicht so bald haben werden, bleiben Ihnen vorerst nur die klassischen
Ermittlungsmethoden. Es wäre doch zu schön: im leeren Banktresor zurück-
springen und den Räuber in flagranti erwischen...
Der Major wehrte lächelnd ab: Der wäre ja dann auch zurückgesprungen
und hätte ein hieb- und stichfestes Alibi. Nein nein, da seien Gott vor und
der Generalsekretär, ich bleibe lieber bei meinen alten Methoden: fragen,
ein bißchen nachdenken und einfühlen, Computeranalysen, Fingerabdrücke
... Aber ich halte Sie unnötig auf. Ich habe da vielleicht etwas für Sie, ich
weiß nicht so recht. <
Bei diesen Worten holte er aus seiner Tasche ein kleines Päckchen hervor,
in zartes weißes Florpapier eingeschlagen, wickelte es auf, ohne den Inhalt
zu berühren, und hielt es Soling entgegen: Wir haben dies im Schreibtisch
eines Kollegen gefunden, den wir nicht mehr danach fragen können. Ein
Zettel lag dabei mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse. Vielleicht gehört es Ih-
nen?
Soling griff danach, es war eins der beliebten und begehrten cc-Taschen-
bücher: Deinhold, Die Deltakersage. Scheinbar ratlos wandte er das schmale
Bändchen hin und her, er wußte ganz genau, er hatte es für die mißlungene
Alibifahrt nach Freiberg eingepackt und mit der Aktentasche im Stich gelas-
sen. Sie hatten es sogar in Klarsichtfolie eingeschweißt!
Achselzuckend legte er das Büchlein in das Papier zurück: Ich habe so
viele Bücher ... Freilich habe ich dieses gelesen, aber ob ich es besitze oder
besessen habe, ob es mir etwa verlorengegangen ist, kann ich nicht sagen. Al-
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lenfalls könnte ich nachsehen, ob ich ein gleiches Exemplar zu Hause habe,
dann wäre dieses wohl nicht mein Eigentum, aber sonst...
Oh, das macht nichts, erwiderte der Major mit zuckersüßer Stimme und
verwahrte das Päckchen wieder in der Tasche, das macht gar nichts, wir brau-
chen ja nur die Fingerabdrücke auf der Folie und auf dem Einband zu ver-
gleichen, eine unserer klassischen Methoden, wissen Sie ... Beinahe hätte
ich vergessen, noch etwas stand auf dem Zettel, und damit wissen wir nun
gar nichts anzufangen: ein Datum, der neunte September vorigen Jahres,
und die Nummer eines Personalausweises. Das Personaldokument mit der
notierten Nummer wurde aber erst am sechzehnten September von unserer
Paßstelle ausgegeben.

Panikstimmung hatte Soling ergriffen. Der Major wußte alles! Vermutete


eine betriebsfähige Zeitmaschine, ein Labormuster vielleicht, und konnte
damit alle Vorfälle erklären.
Ging Roederlinck von der Hypothese aus, sein Kontrahent verfüge über
ein solches Gerät, dann gab es in Solings Handeln und Reden, in den Fakten
und Indizien Sinn und System. Verneinte der Major die Hypothese, so ver-
fing sich alles in Widersprüchen. Die Hypothese war also richtig, mit an Si-
cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Die Existenz einer Zeitmaschine war
damit bewiesen.
Doch dieser Beweis war ein wissenschaftsmethodischer, erkenntnistheore-
tischer, nicht aber ein juristischer. Kein Gericht würde sich darauf einlassen.
Jeder Jurist würde verlangen, daß Roederlinck eine solche Maschine vor-
führte oder ihre Existenz durch eine Zeugenaussage oder durch ein gestem-
peltes, unterschriebenes Papier einer seriösen Institution bewiese.
Soling konnte sich nur verhältnismäßig sicher fühlen, solange es noch kei-
nen Zeittransporter gab. Er würde sofort in die Mühlen der Justiz gezogen
und dort gänzlich zerrieben, sobald der erste Test einer Zeitmaschine positiv
verlaufen und dem Major bekannt wäre.
Folglich durfte es solch einen Testerfolg nicht geben. Wenigstens nicht,
solange Roederlinck hinter Soling her war.

Von nun an hintertrieb Soling seine eigene Arbeit. Er sabotierte. Niemand


kam auf die Idee, daß er die Pannen und Fehlschläge selbst hervorrief. Ihn
deckte eine Denkhemmung aller seiner Vorgesetzten und Kollegen: Wer
wird denn gegen seinen eigenen Erfolg angehen - Soling schon gar nicht! Er
mogelte Fehler in Zeichnungen, in Ableitungen und Computerprogramme,
er verunreinigte oder vertauschte Materialien, brachte Unordnung in Pa-
piere, vergaß etwas zu beschaffen oder anzuweisen. Das Vergessen und Ver-
wechseln unterlief ihm auch ungewollt des öfteren, und mitunter fing er da
oder dort einen kritisch-mitleidigen Blick ein: Na, mein Junge, du wirst wohl
alt?

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Daß er rasch alterte, wußte und fühlte er. Auch konnten sein Leistungsab-
fall und seine Müdigkeit, seine gebeugte Haltung und vor allem das ge-
schwinde Ergrauen seines Haares niemandem auf die Dauer verborgen blei-
ben. Welch ein Unterschied gegenüber der Zeit, da er die Kephalosatanas
cantor noch nicht besaß! Früher war es selbstverständlich, daß er der Klügste,
Wendigste, Brillanteste war, der Größte einfach. Nichts gab es, was er sich
nicht zugetraut hätte, sobald er es nur wollte. Auch die Singenden Teufels-
köpfe gehörten zu dem anstandslos Erlangten. Und jetzt? Die Tiere waren
ihm höchst gleichgültig geworden; er hätte sie längst abgestoßen, wenn er
nicht dadurch irgendein neues Unheil heraufzubeschwören gefürchtet hätte.
Oft sehnte er sich nach einem bequemen, beschaulichen Dienst, und es
würde wohl kaum noch lange dauern, bis man ihm diskret zu verstehen gäbe,
ein bescheidenerer Platz entspräche besser seinen veränderten Verhaltens-
weisen und Möglichkeiten. Überdies hatte er nun noch ganz konkret gegen
die Zeitmaschine vorzugehen, und um dies richtig zu können, mußte er sei-
nen Sessel möglichst lange behaupten. Das war ein Dilemma, das täglich,
stündlich seine ganze Kraft forderte. Bald hielt er sich nur noch mit Stimu-
lanzien in Gang, und irgendwann würde auch das nicht mehr möglich sein.
Aber vorläufig mußte er noch durchhalten um jeden Preis, um jeden. Lieber
ein Leben im Medikamentenrausch, in Mißerfolg und Mitleid, mit müdem
Leib, leerem Kopf und schmerzenden Gliedern, blamiert und belächelt - lie-
ber alles dies als in den Fängen der Justiz!

Die Kommission für die Untersuchung der v4ron-7-Katastrophe kehrte zu-


rück und arbeitete mehrere Wochen lang hinter verschlossenen Türen in La-
bors und Sitzungszimmern. Dann legte sie ihre Ergebnisse vor. Die Öffent-
lichkeit erfuhr von einem Meteoriteneinschlag, von höherer Gewalt und vom
Andauern der Ermittlungen. Dem Institut für Kosmische Transporte aber
unterbreitete die Komission alle ihre Erkenntnisse, auch die widersprüchli-
chen oder undeutbaren Fakten und Thesen. Über die eigentliche Unglücks-
ursache war sich die Kommission jedoch einig: Materialermüdung.
Materialermüdung? Die Wissenschaftler des Instituts schüttelten ungläu-
big die Köpfe. Die Kuppel war kein halbes Jahr alt gewesen, nach modern-
sten, gesicherten Verfahren hergestellt und quadratzentimeterweise röntgen-
stereographisch geprüft!
Zudem lagen der Kommission widersprüchliche Meßresultate vor. Die
Radiologen hatten Teilchen und Isotope ausgezählt und gaben das Alter der
stählernen Schale mit höchstens elf Monaten an. Die Analyse der inneren
Struktur dagegen ließ auf ein Mindestalter von achtzig Jahren schließen.
Professor Tasko berief ein vertrauliches ganztägiges Seminar aller wissen-
schaftlichen Leiter und Mitarbeiter des Instituts ein und nahm als erster das
Wort.
Bitte verzeihen Sie mir eitlem altem Dickschädel, begann er, daß ich als ;
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Zoologe mein Amt mißbrauche und zu dieser üblen Angelegenheit als erster
spreche und daß ich dabei noch Banalitäten wiederhole, die jeden von Ihnen
langweilen müssen. Das Folgende ist nur eine Hypothese, die man diskutie-
ren kann und verwerfen, wenn sie nichts taugt.
Einige nickten freundlich, sie kannten ihren Alten, und Tasko fuhr fort:
Für den Materietransfer benutzen wir als Träger die im gesamten Kosmos ge-
genwärtigen Neutrinoströme, denen wir ein bitransversal moduliertes Wel-
lenbündel aufzwingen. Damit übertragen wir an das Ziel die aus dem Start-
objekt gewonnenen Strukturinformationen und die Energieimpulse für die
Restruktion des Objekts. Überlegen wir nun einmal, was mit diesem Wellen-
bündel auf dem Wege geschieht, den es zwar mit Lichtgeschwindigkeit, aber
doch in einer meßbaren und bei kosmischen Entfernungen immerhin be-
achtlichen Zeit zurücklegt; bei dem zur Debatte stehenden Transport nach
Ann 7 waren es neunzehn Minuten. Die aufmodulierte Energie- und Infor-
mationsmasse durchquert also zunächst unsere Atmosphäre mit allen ihren
Schichtungen und Eigenheiten, dann den Van-Alien-Gürtel, das kosmische
Vakuum, das ja durchaus nicht leer, sondern mit harmlosen und mit energie-
reichen Wellen, mit Meteoriten, kosmischem Staub und auch mit Satelliten,
mit atomaren Prozessen und mit all den Dingen angefüllt ist, die wir noch
nicht entdeckt haben. Durch dieses Getümmel mußte sich unser Wellenbün-

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del neunzehn Minuten lang hinduchschlagen. Die Neutrinos lassen sich da-
von nicht beeindrucken, sie fliegen weiter und durchdringen ungehindert al-
les, Energien, Felder, Staub und Planeten, sie sind nur zur schwachen
Wechselwirkung imstande, aber zu dieser doch immerhin, zu einer Wechsel-
wirkung mit all den vielfältigen physikalischen Prozessen des scheinbar lee-
ren Weltraums.
Tasko hob ein wenig die Stimme: Und jetzt..., jetzt folgt ein Gedanke, auf
den mich Kollege Soling gebracht hat.
Soling war baß erstaunt.
Doch, doch! Die schwache Wechselwirkung der Neutrinos ist auch eine
schwache Wechselwirkung mit unserem aufgeprägten Wellenbündel und hat
eine winzige Auswirkung auf die übertragene Information und damit auf das
restruierte Objekt.
Unsere Stahlkuppel kam also auf dem Mars mit einer ungeheuren Anzahl
winziger Fehlinformationen an, die regellos, statistisch verteilt sind und erst
in zunehmender Häufung erkennbare Strukturmängel ausmachen. Das ist
genau das, was wir Biologen als Altern bezeichnen. Materialermüdung. Soll-
ten wir diese Hypothese als plausibel akzeptieren, dürfte damit der Stab ge-
brochen sein über der Anwendung des trägerfreien Materietransports auf be-
mannte oder unbemannte Weltraumflüge und erst recht über dem Projekt
der Zeitmaschine, die ja auch wesentlich darauf beruht. Zehn Minuten
Pause.
Niemand stand auf, niemand sprach ein Wort.
Nach und nach richteten sich aller Augen auf Soling, den der eine oder
andere seit Taskos Erwähnung unbewußt im Blick behalten hatte - Soling
saß totenbleich und steif aufgerichtet in seinem Sessel, den Blick stier auf
die Tischplatte vor sich gerichtet, als bannte ihn von dorther der Leibhaftige.
Altern, dachte er, mein Gott, jede Zeitreise ist ein Flug durchs Weltall.
Eine Woche Zeitreise, überschlug er, die Erde ist um zwanzig Millionen Ki-
lometer weitergeflogen, eine Lichtminute also, eine Woche hin und zurück,
das sind zwei Minuten Aufenthalt im freien Raum, neunzehn Minuten,
macht achtzig Jahre, haben sie gemessen, und wie viele Wochen bin ich vor-
wärts und rückwärts gefahren, wie ein Verrückter den Kalender hinauf und
hinunter, wie viele Minuten war ich da draußen und habe meinen Astralleib
der kosmischen Strahlung ausgesetzt, wie viele hundert Jahre bin ich schon
alt, und wenn nun ein Hindernis dazwischenliegt, der Mond, wenn der Mond
genau im ersten oder dritten Viertel steht und man fliegt hindurch, kommt
man dann vielleicht verstümmelt an, oder durch die Erde, um einen halben
Tag springen heißt genau auf die andere Seite, mitten durch den Erdkern,
dreitausend Grad Hitze, o Mann, o Mann, hab ich ein Glück gehabt.
Fieberhaft versuchte er, alle seine Zeitsprünge durchzugehen, ob er etwa
durch das Erdinnere gefahren wäre: Flog man ein kleines Stück in die Zu-
kunft, mußte man vormittags abspringen und nachmittags ankommen, wenn
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man die Erdkugel nicht durchqueren wollte, rückwärts umgekehrt; und mit
Grausen stellte er fest, daß er rein zufällig diese Regel wohl nicht verletzt
hatte, also wohl rein zufällig noch am Leben war.
Und wenn ich genau um ein halbes Jahr gesprungen wäre, an den gegen-
überliegenden Punkt der Erdbahn, mitten durch die Sonne, Millionen Grad,
die Kernfusion, das wäre der Tod gewesen - Glück gehabt, unwahrscheinli-
ches Glück noch, nur alt geworden dabei, sehr schnell, sehr alt ... Immer
wollte ich der Größte sein, ein Gelehrter, ein Genie ..., habe nach Gunst
und Geltung, nach Gut und Geld gegiert und gegeilt..., und nun ein Greis -
um ein Geckopärchen habe ich gespielt, und der Einsatz ist mein Leben ge-
wesen, verloren, aus ...
Langsam sank er vornüber, dumpf schlug sein Kopf auf die Tischplatte,
die Arme rutschten herab, der Körper sank zur Seite und glitt zu Boden, ei-
nen kleinen Moment nur aufgehalten von dem an der Tischkante hängenge-
bliebenen Kinn. Man sprang hinzu, Tasko fand noch Leben, mehrere stürz-
ten zum Telefon, brachten Wasser, einer sogar Kognak, etliche holten
Arzneien aus ihren Taschen, und Tasko staunte darüber, wie viele seiner
Leute ständig Notfallmedikamente bei sich hatten.
Im Krankenwagen kam Soling zu sich, schmerzhaft schnitt die Sirene in alle
Fasern seines hinfälligen Leibes.
Professor Jarring, zwei Ärztinnen, Pfleger, Schwestern.
Mit dem EKG waren sie nicht zufrieden, wechselten im Gerät etwas aus
und wiederholten die Prozedur.
EEG, unendlich lange, mehrmals grelle Blitze, dann sah er bunte Lichter-
spiele hinter den geschlossenen Lidern, herrliche, klare, reine Farben wogten
daher und woben sich ineinander ..., so schön und so sauber müßte das Le-
ben sein, hätte es sein können. Mittendrin versank er im Bodenlosen und
fand sich durch Rütteln und leichte Wangenschläge von neuem ins Bewußt-
sein gerufen. Die Weißkittel gingen hinaus, und er lag allein auf der schma-
len Pritsche. Angenehm spürte er das kühle, sanfte Tuch unter seinen Hän-
den. Jemand raschelte mit Papier, war aber nicht zu sehen.
Soling lächelte. Jetzt war alles gut, er brauchte sich nicht mehr zu sorgen.
Er war nicht fähig, irgend etwas zu unternehmen, also konnte er weder etwas
falsch machen noch etwas für seine Sicherheit tun. Sicherheit, was war das
schon. Vielleicht brachten sie ihn hier wieder so weit hoch, daß er später Spa-
zierengehen konnte, täglich eine Stunde, mit einem Stock, ein Röhrchen Ta-
bletten in der Tasche. Der Major? Der Major ging leer aus.
Eine Schwester stöckelte eilig herein und ging ins Nebenzimmer. Soling
hörte den Professor sprechen:... Hundertjährigen - warum klopfen Sie nicht
an?
Dann ein Krankenzimmer, Einzelzimmer. Ein winziges Meßgerät, mit
Heftpflaster auf die Brust geklebt, ein Löffel Medizin, Ruhe. Schlafen ...

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Selten wußte er, ob er dem Wachen näher war oder dem Träumen.
Besucher waren plötzlich da, bewegten sich wie zerfließende Schemen,
sprachen wie durch Watte, verschwanden wie aufgelöst. Kollegen, Bekannte,
Offizielle, Freunde - nein, wirkliche Freunde hatte er nicht.
Burschikoser Optimismus: ... wird schon wieder ..., haut uns doch nicht
gleich um ...
Lügner, dachte er, sie sollten wenigstens ein bißchen Respekt vor meinen
weißen Haaren haben. Dann dachte er daran, wie er zu diesem bleichen
Kopfschmuck gekommen war, und fand, Respekt davor zu fordern, hatte er
vielleicht doch kein Recht.

Roederlinck. Der Major mit oe und ck. Lachsrote Gerbera, ein kleines Buch,
verhaltene Stimme: Deinholds Deltakersage mitgebracht ..., gegenstandslos
... eingestellt, ... wußte, daß Sie eine Zeitmaschine haben ... Alibi schiefge-
gangen ... Balaton nachträglich eingefädelt, ... wußten ja, daß die Dom-
manns nicht zurückkehren würden ...
Unbewegten Gesichts lachte Soling in sich hinein: Dummkopf, der - und
alle Hochachtung! Getroffen und doch daneben.

Professor Tasko: Weder ist hier der Ort, noch hat es irgendeinen Sinn, mit
Ihnen zu rechten. Sie haben bezahlt, teuer bezahlt, aber das weiß ich erst seit
Aron 7. Daß Sie die Zeitmaschine haben, ahnte ich seit Ihrer Kubareise. Auf
der ganzen Insel gibt es nämlich keine freilebenden Kephalosatanas cantor
mehr. Diese Tiere sind auf den tropischen Regenwald angewiesen, und das
letzte kubanische Stück davon wurde bei dem Großbrand im Jahre achtund-
dreißig vernichtet. Tja, das wissen eben wir Wald- und Wiesenbiologen. Ei-
nen Diebstahl aus dem Zoopark Havanna würde ich Ihnen niemals zutrauen,
dafür sind Sie viel zu sensibel und, verzeihen Sie, viel zu nervös. Ergo konn-
ten Sie die wirklich prachtvollen Exemplare nur aus der Vergangenheit ha-
ben.
Getroffen und doch daneben, und wie!

Drei Gestalten schweben herab, zwei davon in Skaphandern, mit Schriftzei-


cheh auf der Brust: Aron 7. Hinter den Helmscheiben Totenschädel.
Zwischen den beiden, von ihnen an den Händen gehalten, Marga, das
Haar weiß, straff gescheitelt.
Die Toten legen auf Solings Decke einen großen Stahlsplitter mit bizarren
schartigen Rißrändern, blutig.
Marga gleitet heran. Warum, denkt er, trägt sie das kesse gelbe Kleidchen
von damals, als ich sie zum erstenmal sah?
Sie stellt eine Flasche Sekt auf das Bettschränkchen und legt ein flaches
Kästchen dazu: die Kontaktlinsen. Dann ergreift sie seine Hände: Komm
noch einmal zu mir! -
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Soling durfte täglich zweimal für eine halbe Stunde das Bett verlassen. Oft
packten ihn Schwindelanfälle, noch häufiger ergriff ihn eine unerklärliche,
würgende Angst. Wahrnehmungen und Halluzinationen verwoben sich zu
wirren, bedrückenden Bildern. Fragte er nach den Chancen einer Heilung
oder auch nur Besserung, wich man ihm aus.
Nichts also späterhin mit einsamen Spaziergängen. Er wußte, niemals
mehr würde er sich ohne Aufsicht bewegen dürfen.
Eines Tages bat er Professor Jarring um die Erlaubnis, für ein, zwei Stun-
den sein Haus aufzusuchen.
Wozu? Ihnen fehlt hier nichts, was wichtig wäre, Ihre Tiere werden ver-
sorgt, und alles andere hat erst einmal Zeit.
O nein, ich habe da etwas in Ordnung zu bringen, was schon lange fällig
ist. Das kann nur ich selbst erledigen, und ich brauche dazu meinen Safe.
Na gut. Ich schicke aber jemanden mit, und zum Abendessen sind sie wie-
der hier!
Ein Wagen brachte Soling und eine resolute Schwester zu seinem-Haus. Er
inspizierte alle seine exotischen Tiere, die von einem in der Nähe wohnen-
den Liebhaber umsichtig betreut wurden, saß eine kurze Zeit lang vor den
Singenden Teufelsköpfen, dem prächtig entwickelten Jungpaar, und lauschte
versunken und mit feuchten Augen dem glockenreinen Gesang. Die Schwe-
ster ließ ihn keinen Augenblick allein.
Dann ging er in das Zimmer mit dem Geheimsafe, schickte mit Mühe die
aufdringliche Person hinaus, lehnte seinen Stock in eine Ecke, holte mit zit-
ternden Händen das Kästchen mit den Kontaktlinsen hervor, öffnete es und
schaute minutenlang auf den schwarzen Samt mit den so unscheinbaren
Gläsern. Dann legte er sie an und ging zurück zu seinen Lieblingstieren.
Ein Viertelstündchen noch, bat er und schickte die Wächterin nach einer
Erfrischung.
Allein, verfiel er in hektische Erregung:... ein halbes Jahr ... mitten durch
die Sonne ..., der erste, der sich in die Sonne stürzt ..., der erste ...
Dann beruhigte er sich mittels der erlernten autogenen Methode und be-
gann zu programmieren:
Einschaltcode. Befehl: Zeitsprung vorwärts. Distanz: 182 Tage, 15 Stun-
den. Typ der Ortsangabe: Relativ terra lokal. Verschiebungsvektor: Null-nüll-
null. Start!

Arn Soling blieb spurlos verschwunden. Ein halbes Jahr später ging sein
Haus in Flammen auf.
Ulrich Broker
Lebensgeschichte
und natürliche Abenteuer
des armen Mannes
im Tockenburg
Mit einer Einführung von Joachim Nowotny und einem Nachwort von Michael
Niedermeier • Illustriert von Ralf Bergner • 236 Seiten • Ganzleinen 9,20 M

Was hat ein armer Schlucker, Hütejunge, Salpetersieder, zwangsrekru-


tierter Soldat, Weberknecht und Hausierer schon Großes erlebt, das er
als Abenteuer anbieten könnte? ... Dem Mädchen, das er heiß be-
gehrte, galt es zu entsagen. Der Krieg, zu dem man ihn gepreßt hatte
und der nicht seiner war, fand bald ohne ihn statt ... So einer weiß
dann keinen launigen Reisebericht zu geben. Der spricht lieber von
der Genugtuung, wieder daheim zu sein. Über die Ehe mit der unge-
liebten, aber vernünftigen Frau. Über den Tod von zwei der sieben
Kinder. Über Handel und Wandel, die allemal zu leeren Taschen und
in den Konkurs führten ...
Und doch sind wir Zeuge eines atemberaubenden Vorgangs, der seine
Aktualität nicht verliert: der Umwerfung und Erneuerung von für ewig
und unwandelbar gehaltenen Ansichten über den Sinn des irdischen
Lebens ...
(Auszugsweise aus der Einführung)

Verlag Neues Leben Berlin

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