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Inauguraldissertation
Zur Erlangung des Grades eines Doctor philosophiae
Im Fachgebiet
Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung von Kunst- und Kulturgut
an der Hochschule für Bildende Künste Dresden
vorgelegt von
Frau Dipl.-Rest. Wibke Gesina Neugebauer
geb. am 11.7.1981 in Marburg an der Lahn
Betreuer:
Dr. Patrick Dietemann, Doerner Institut München
Gutachter:
1. Prof. Dr. Ursula Haller, Hochschule für Bildende Künste Dresden
2. PD Dr. Heike Stege, Doerner Institut München
Tag der Verteidigung: 26.2.2015
Für meine Eltern und meinen Freund Christian
Dank
Meinen Gutachterinnen Prof. Dr. Ursula Haller und PD Dr. Heike Stege gilt mein herzlicher Dank für
ihre stets konstruktive Kritik an meinem Text, ihren unglaublichen Überblick und ihre unermüdliche
Bereitschaft, sich mit mir auf dieses Thema einzulassen.
Einen weiteren, besonders herzlichen Dank möchte ich meinem Projektleiter Dr. Patrick Dietemann
für die äußerst lehrreiche Zusammenarbeit und viele konstruktive Diskussionen aussprechen.
Die ausgezeichneten Arbeitsmöglichkeiten am Doerner Institut der Bayerischen Staatsgemäldesamm-
lungen legten den Grundstein für das Gelingen dieser Arbeit. Ich danke deshalb dem Direktor des
Doerner Instituts, Prof. Dr. Andreas Burmester für die Möglichkeit, dieses Projekt dort durchführen
zu können. Ohne die freundliche Unterstützung vieler weiterer Kolleginnen und Kollegen des Doer-
ner Instituts – insbesondere von Renate Poggendorf, Florian Schwemer, Ursula Baumer, Cornelia
Tilenschi, Andrea Obermeier, Mark Richter, Cedric Beil, Lars Raffelt, Haydar Koyupinar, Sybille
Forster, Heino Kahrs und seines Teams – hätte ich diese Arbeit nicht durchführen können. Ihnen
allen gilt mein herzlicher Dank für zahlreiche Hilfestellungen. Luise Sand (geb. Lutz) und Ursula
Baumer danke ich für ihre engagierte Mitarbeit bei den maltechnischen Rekonstruktionsversuchen,
die uns ein Stückweit die Augen öffneten.
Ohne eine enge Kooperation mit verschiedenen Münchner Sammlungen sowie weiteren Museen im
deutschen und internationalen Raum wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Für ihre großzügige
Unterstützung, ihr Vertrauen sowie die Möglichkeit, Gemälde aus ihren Sammlungen untersuchen
zu dürfen, danke ich deshalb sehr herzlich Iris Winkelmeyer (Städtische Galerie im Lenbachhaus,
München), Margot Th. Brandlhuber (Museum Villa Stuck, München), Peter Berkes, Sophie Eichner
und Werner Müller (Kunstmuseum Basel), Hanspeter Marty (Kunsthaus Zürich), Kristina Mösl
(Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie), René Boitelle und Kathrin Pilz (Van Gogh
Museum, Amsterdam), Dr. Sigrid Bertuleit (Museums Georg Schäfer, Schweinfurt), Henning Autzen
(Staatsgalerie, Stuttgart) und Stefan Knobloch (Städel Museum, Frankfurt).
Elisabeth West Fitzhugh, Lynn Brostoff (Library of Congress, Washington D.C.), Hartmut Kutzke
(Museum of Cultural History, University of Oslo) und Biljana Topalova-Casadiego (Munch Museet
Oslo) gilt mein Dank für die überaus wertvollen Proben historischer Tubenfarben.
Chiharu Asai danke ich für die vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Untersuchung von Werken
Franz von Stucks.
Initiiert durch Karoline Beltinger und Dr. Jilleen Nadolny bildete sich 2010 außerdem eine informel-
le Arbeitsgruppe von Restauratoren und Naturwissenschaftlern aus verschiedenen europäischen
Ländern, die sich derzeit mit der Erforschung unterschiedlicher Aspekte der Temperamalerei im 19.
und beginnenden 20. Jahrhundert beschäftigen. Ihren Mitgliedern danke ich für den inspirierenden
und vertrauensvollen Gedankenaustausch, insbesondere Karoline Beltinger, Dr. Jilleen Nadolny, Dr.
Eva Reinkowski-Häfner, Dr. Albrecht Pohlmann und Dr. Kathrin Kinseher.
Prof. Dr. Andreas Burmester, Karoline Beltinger, Dr. Albrecht Pohlmann, Christine Berberich und Dr.
Annette Kleine verdanke ich wertvolle Hinweise auf Archivbestände, zu denen ich ohne ihre Hilfe
keinen Zugang gefunden hätte. Dr. hc. Hans Holenweg gilt mein ausgesprochener Dank für den
Zugang zu Unterlagen aus dem von ihm verwalteten Arnold Böcklin-Archiv.
Dr. Herbert W. Rott stellte mir seine Transkriptionen des Briefwechsels zwischen Graf Adolf Friedrich
von Schack, Franz von Lenbach und Arnold Böcklin aus dem Archiv der Bayerischen Staatsgemäl-
desammlungen zur Verfügung. Hierfür gilt ihm mein herzlicher Dank.
Dr. Stefan Zumbühl (Hochschule der Künste Bern) danke ich für die Möglichkeit, zusammen mit Dr.
Patrick Dietemann mittels FTIR-Imaging einige Querschliffe untersuchen zu dürfen.
Danken möchte ich auch allen Museen und Institutionen, die mir Bildvorlagen zur Verfügung
stellten und die Reproduktionsgenehmigungen erteilten.
Für die finanzielle Förderung dieser Arbeit danke ich der Studienstiftung des Deutschen Volkes sowie
der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Letzterer gilt außerdem mein Dank für die Finanzierung
der Publikation.
Daniela Karl danke ich für ihre freundlichen Ratschläge vor und nach der Abgabe dieser Arbeit. Ein
besonders herzlicher Dank gilt meinen Eltern und meinem Freund Christian für Ihre Geduld und
ihre großartige Unterstützung.
Zusammenfassung
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Untersuchung der Temperamalerei in München
zwischen 1850 und 1914. Die Temperamalerei entwickelte sich in diesem Zeitraum zu einem
maltechnischen Trend, dem sich Vertreter unterschiedlichster Kunstrichtungen anschlossen. Die
vorliegende Untersuchung ergänzt bisherige Studien zu diesem Themengebiet, die sich vorwiegend
auf die Auswertung von Schriftquellen stützten, durch einen interdisziplinären Forschungsansatz,
der erstmals kunsttechnologische Untersuchungen von Gemälden mit einer umfassenden Auswer-
tung der Quellen kombiniert. Im Fokus steht die individuelle maltechnische Entwicklung von vier
Künstlern, die zu den einflussreichsten Protagonisten der Münchner Kunstszene gehörten: Arnold
Böcklin (1827–1901), Franz von Stuck (1863–1928), Franz von Lenbach (1836–1904) sowie Wassily
Kandinsky (1866–1944).
Es wird beleuchtet, wie diese äußerst unterschiedlichen Künstlerpersönlichkeiten die Temperama-
lerei erlernten, welche Vorbilder sie hatten und wie sie ihr maltechnisches Wissen untereinander
weitergaben. Ferner wird untersucht, welchen Stellenwert die Maltechnik in ihrer Malerei ein-
nahm und inwiefern ein Zusammenhang von Bildinhalt, formaler Gestaltung und maltechnischer
Umsetzung besteht. Die Untersuchung zeigt auch die zeittypische, breite Palette der Malmateria-
lien und ihre Kombinationen im Bildaufbau auf: Diverse selbst hergestellte Temperafarben und
kommerzielle Tempera-Tubenfarbenprodukte kamen wahlweise in einer schichtenweisen Malerei
oder als Primamalerei zur Anwendung. Daraus resultiert ein breites Spektrum unterschiedlicher
Erscheinungsbilder, die von einer im klassischen Sinn Tempera-ansichtigen Malerei mit strichelndem
Farbauftrag bis zu einer nass-in-nass modellierten Primamalerei reichen, welche üblicherweise mit
der Ölmalerei in Verbindung gebracht wird.
Folglich erweiterten sich im Vergleich zu klassischen Ölmalerei mithilfe der Temperafarben die
individuellen, maltechnischen Ausdrucksmöglichkeiten der Künstler. Dies ist neben einer verbesser-
ten Haltbarkeit der Gemälde und einer rationelleren Arbeitsweise der wesentliche Grund für die
Faszination, die die Temperamalerei auf die untersuchten Künstler ausübte.
Abstract
This study focusses on the investigation of tempera easel painting techniques in Munich between
1850 and 1914. During this period, tempera painting evolved to a trend that was joined by various
artists of different art movements. This investigation complements previous studies on this topic,
which mainly relied on the analysis of written sources, with an interdisciplinary approach that
combines art technological examinations and a comprehensive evaluation of the written sources.
The main focus is to investigate the individual painting techniques of four important protagonists
of the Munich art scene at that time: Arnold Böcklin (1827–1901), Franz von Stuck (1863–1928),
Franz von Lenbach (1836–1904) and Wassily Kandinsky (1866–1944).
The study outlines how they learned to paint in tempera, which models they had and how they
passed on their practical knowledge. Furthermore, it shows up the wide range of painting materials
and the various possibilities of their application: The artists could choose between various self-made
tempera paints and commercially available tempera paint tubes, which they applied either alla
prima or in layers. This results in a wide range of different paint appearances, ranging from a
tempera-like appearance in the classical sense up to a wet-on-wet modelled alla prima painting,
which is conventionally associated with the visual appearance of oil painting.
Consequently, tempera painting helped them to extend their individual means of expression compa-
red to traditional oil painting, which is – in addition to an improved durability and a more rational
way of painting – the main reason for their fascination of the tempera painting technique.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis 13
Vorwort 15
1 Einleitung 17
1.1 Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
1.2 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.3 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1.3.1 Die Auswertung von Schrift- und Sachquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
1.3.2 Kunsttechnologische Untersuchungen von Gemälden . . . . . . . . . . . . . 27
1.4 Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3 Die Künstler 63
3.1 Die Wissensbasis – Temperamalerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . 63
3.1.1 Die theoretische Beschäftigung mit historischen Maltechniken . . . . . . . . 63
3.1.2 Die Temperamalerei in der Malpraxis vor 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . 67
3.2 Die Anfänge – Arnold Böcklin und Franz von Lenbach (1847–1862) . . . . . . . . . 68
3.2.1 Arnold Böcklin – Akademische Ausbildung und erste Schritte in der Tempera-
malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
3.2.2 Böcklin und Lenbach in Weimar (1860–62) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
3.3 Arnold Böcklin und Franz von Lenbach in Italien (1862–1870) . . . . . . . . . . . . 84
3.3.1 Inspiration durch Antike und Renaissance – Böcklins Temperamalerei in Rom
(1862–66) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
3.3.2 Lenbachs Kopien nach Alten Meistern (1863–1868) . . . . . . . . . . . . . . 99
3.4 Die Wege trennen sich – Temperamalerei von Böcklin und Lenbach nach Rom . . . 109
3.4.1 Zwischen Wandmalerei und Staffeleibild – Böcklin in Basel (1867–70) . . . 109
3.4.2 Zurück in München – Lenbachs Karriere als Bildnismaler (1868–1879) . . . 112
3.4.3 Ein Wiedersehen – Böcklin in München (1871–74) . . . . . . . . . . . . . . 114
3.4.4 Lenbachs Temperamalerei zwischen 1879 und 1890 . . . . . . . . . . . . . 118
3.4.5 Auf den Spuren Botticellis und van Eycks – Böcklin in Florenz (1874–1885) 120
3.4.6 Temperamalerei nach Theophilus in Böcklins Spätwerk (1885–1901) . . . . 127
3.5 Temperamalerei auf dem Weg in die Moderne – München zwischen 1890 und 1914 138
3.5.1 Im Zeichen des Historismus – Lenbachs Spätwerk (1890–1904) . . . . . . . 140
3.5.2 Die frühe Temperamalerei Franz von Stucks (1889–1900) . . . . . . . . . . 143
3.5.3 Temperamalerei Franz von Stucks zwischen 1900 und 1914 . . . . . . . . . 157
3.5.4 Das Triptychon „Karfreitag“ (1895) von Julius Exter . . . . . . . . . . . . . . 168
3.5.5 Wassily Kandinskys frühe Versuche mit Temperafarben im Kreis russischer
Künstler (1896–1900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
3.5.6 Wassily Kandinskys Temperamalerei zwischen 1901 und 1907 . . . . . . . . 176
3.5.7 Wassily Kandinskys Temperamalerei zwischen 1908 und 1914 . . . . . . . . 192
6 Schlussbemerkungen 427
Bibliographie 429
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
Tabellenverzeichnis 481
Glossar 483
Appendices 488
A Tabellen 491
ABA Arnold Böcklin-Archiv von Hans Holenweg, angegliedert an die Bibliothek des
Kunstmuseums Basel
ASA Aminosäureanalyse
GC/MS Gaschromatographie/Massenspektrometrie
GT Gewichtsteil
IRR Infrarotreflektografie
13
KMB Kunstmuseum Basel, Archiv der Restaurierungsabteilung
QS Querschliff
UV Ultraviolett
WV Werkverzeichnis
14
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist als Teil eines interdisziplinär ausgerichteten Forschungsprojektes mit
dem Titel „Von Böcklin bis Kandinsky – Maltechnische und analytische Forschungen zu komplexen
Bindemittelmischungen in der Münchner Temperamalerei um 1900“ entstanden. Das am Doerner
Institut der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen angesiedelte Projekt wurde von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft gefördert.1 Projektleiter am Doerner Institut war Dr. Patrick Dietemann.
Die vorliegende Dissertation wurde zudem durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des
Deutschen Volkes gefördert.
Das Forschungsprojekt hatte zum Ziel, die Temperamalerei zwischen 1850 und 1914 aus den unter-
schiedlichen methodischen Blickwinkeln der Quellenrecherche, Untersuchungen der Maltechnik,
Materialanalysen und maltechnischen Rekonstruktionsversuchen zu untersuchen.
Die Aufgabenverteilung innerhalb des Projektes sah für die Autorin zunächst die Quellenrecherche,
die Auswahl der zu untersuchenden Gemälde, deren kunsttechnologische Untersuchung und in
Zusammenarbeit mit den am Projekt beteiligten Naturwissenschaftlern die zusammenführende
Interpretation der Einzelergebnisse vor. Dipl.-Rest. Renate Poggendorf2 unterstützte die Unter-
suchungen der Maltechnik. Die aufwändigen Materialanalysen wurden zum größten Teil in der
naturwissenschaftlichen Abteilung des Doerner Instituts durchgeführt. Dr. Patrick Dietemann, Ursula
Baumer, Dr. Irene Fiedler und Cedric Beil waren für die Bindemittelanalysen, PD Dr. Heike Stege,
Cornelia Tilenschi, Andrea Obermeier und Dr. Mark Richter für die Pigmentanalysen zuständig. In
Kooperation mit Dr. Stefan Zumbühl (Hochschule der Künste Bern) und Stephan Schäfer (São Paulo,
Brasilien) konnten weitere, ergänzende Materialanalysen an Querschliffen durchgeführt werden.
Während des Projektverlaufs wurde außerdem die Bedeutung maltechnischer Rekonstruktionsver-
suche evident, die in gemeinsamer Arbeit der Autorin mit Dr. Patrick Dietemann, Ursula Baumer
und Luise Lutz am Doerner Institut ausgeführt wurden. Die Autorin betreute zu diesem Thema eine
Seminararbeit von Luise Lutz mit dem Titel „Maltechnische Rekonstruktionsversuche zu den Gemälden
Villa am Meer I und Villa am Meer II von Arnold Böcklin“.3
Im Rahmen des Projektes entstanden zudem zwei Diplomarbeiten, die durch die Autorin betreut
wurden: Luise Lutz führte kunsttechnologische Untersuchungen an Julius Exters Triptychon „Karfrei-
tag“ (1895) aus der Sammlung der Neuen Pinakothek durch.4 Wesentliche Ergebnisse dieser Arbeit
wurden 2014 publiziert.5 Ewa Kruppa beschäftigte sich mit der Verwendung von Temperafarben
durch Otto Modersohn, Paula Modersohn-Becker und Fritz Overbeck.6 Im Rahmen einer durch die
Autorin betreuten Recherche wertete die Studentin Christine Berberich7 die Künstlerkorrespondenz
des Münchner Farbenherstellers Richard Wurm aus. Die Ergebnisse liegen dem Doerner Institut in
1 Sachbeihilfeprojekt GZ DI 1575/1-1, Förderungszeitraum: 1.3.2009–29.2.2012.
2 Leiterin der Restaurierungsabteilung der Neuen Pinakothek.
3 Lehrstuhl für Restaurierung, Kunsttechnologie und Konservierungswissenschaft, Technische Universität München, SS
2010.
4 Lutz 2011.
5 Lutz 2014.
6 Kruppa 2011.
7 Lehrstuhl für Restaurierung, Kunsttechnologie und Konservierungswissenschaft, Technische Universität München.
15
einem internen Bericht vom April 2014 vor.8
Einige zentrale Ergebnisse, die innerhalb des Projektes gemeinsam erarbeitet worden waren, wurden
auf Fachtagungen vorgestellt und in mehreren Beiträgen veröffentlicht.9
Eine enge Kooperation mit verschiedenen Münchner Sammlungen sowie weiteren Museen im
deutschen und internationalen Raum erlaubte zudem die Untersuchung einer repräsentativen
Gemäldeauswahl. Die wichtigsten Kooperationspartner in München waren die Städtische Galerie im
Lenbachhaus (Dipl.-Rest. Iris Winkelmeyer) und das Museum Villa Stuck (Sammlungsleiterin Margot
Th. Brandlhuber und Restauratorin Chiharu Asai). Weitere Untersuchungen waren an Gemälden
des Kunstmuseums Basel (Peter Berkes und Dipl.-Rest. Sophie Eichner), des Kunsthauses Zürich
(Dipl.-Rest. Hanspeter Marty), der Alten Nationalgalerie in Berlin (Dipl.-Rest. Kristina Mösl), des
Van Gogh Museums in Amsterdam (René Boitelle und Dipl.-Rest. Kathrin Pilz), des Museums Georg
Schäfer in Schweinfurt (Dr. Sigrid Bertuleit), der Staatsgalerie in Stuttgart (Henning Autzen) und
dem Städel Museum in Frankfurt (Stephan Knobloch) möglich.
Für den Leser Die Bedeutung der wichtigsten maltechnischen Fachbegriffe wird in einem Glossar
erläutert. Im Text sind sie bei ihrer ersten Verwendung mit einem hochgestellten „G“ markiert.
Die Bibliographie unterteilt sich in ein Literaturverzeichnis und eine Auflistung der Archivalien.
Auf Einträge im Literaturverzeichnis verweisen Kurzbelege mit der Schreibweise „Autor Jahr“.
Archivalien sind im Text durch Kürzel am Ende des Kurzbeleges gekennzeichnet, die sich aus
mehreren Großbuchstaben zusammensetzen (beispielsweise „ANB“). Diese dienen als Abkürzung
für ein Archiv und erlauben die Zuordnung der Quellen zu einem Archiv im Verzeichnis der
Archivalien. Sie sind auch im Abkürzungsverzeichnis aufgeführt.
Die Gemälde werden nur bei ihrer ersten Nennung im Text vollständig mit Titel, Datierung, ihrem
heutigen Standort sowie der Inventarnummer oder ihrer Werkverzeichnis-Nummer identifiziert.
Weitere Nennungen erfolgen dann in abgekürzter Form. Eine vollständige, tabellarische Auflistung
aller untersuchten Gemälde mit den oben genannten Daten findet sich auch in Anhang A – Tabellen.
8 Berberich 2014.
9 Dietemann und Neugebauer 2014; Dietemann, Neugebauer, Baumer u. a. 2015; Dietemann, Neugebauer, Lutz u. a. 2014.
16
Kapitel 1
Einleitung
„Lieber Freund!
Von den verschiedenartigen Techniken bleibt
uns wesentlich noch eine zu besprechen übrig,
die Tempera. Allerdings handelt es sich
hier nicht um einen so scharf begrenzten
Begriff [. . .], denn Tempera bedeutet ursprünglich
jedes Bindemittel für Farbe, und noch heute werden
sehr verschiedenartige Gemenge damit bezeichnet.
Hier ist es insbesondere, wo die
moderne Farbenalchemie und das Geheimmittel-
wesen seine üppigsten Blüten treibt [. . .].“
Ostwald 1904, S. 141
Die Malerei mit TemperafarbenG greift im 19. Jahrhundert auf eine jahrhundertealte maltechni-
sche Tradition der Staffeleimalerei zurück, die jedoch in der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst
weitgehend verloren und vergessen schien. Entsprechend hat auch der Begriff Tempera eine jahr-
hundertelange und durchaus wechselvolle Begriffsgeschichte.1
Die Beschäftigung mit der historischen TemperamalereiG stand bereits in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts im Fokus wissenschaftlicher Debatten, die unter Kunsttechnologen, Naturwissenschaft-
lern und Kunsthistorikern teilweise sachlich, öfter aber auch in äußerst temperamentvoller Art
und Weise geführt wurden.2 Die Bedeutung des historischen Begriffs Tempera war dabei ebenso
umstritten wie die genauen BindemittelsystemeG , mit denen die historischen Temperagemälde
geschaffen sein sollten.
München hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit Maltechnik entwickelt, und so verwundert es nicht, dass auch Münchner
Künstler sich für historische Maltechniken zu interessieren begannen. Als vielleicht nicht erster, in
der Folge aber sicherlich einflussreichster Künstler experimentierte Arnold Böcklin (1827–1901) ab
den 1850er Jahren mit Temperafarben. Maßgeblich initiiert durch seine Experimente entwickelte
sich die Temperamalerei bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zu einem maltechnischen Trend
in der Münchner Malerei, dem sich Vertreter unterschiedlichster Kunstrichtungen anschlossen.
Während an den Kunstakademien in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch die ÖlmalereiG
unterrichtet und praktiziert wurde3 , experimentierte eine wachsende Anzahl von Staffeleimalern
mit Temperafarben auf der Basis alter Rezepte. Ihr Interesse galt dabei jedoch naturgemäß weniger
den wissenschaftlichen Debatten über die historische Temperamalerei, sondern in erster Linie einer
1 Vgl. hierzu ausführlich Reinkowski-Häfner 1994.
2 Reinkowski-Häfner 1994.
3 Berger 1906a, S. 37 f.
17
Erweiterung ihrer maltechnischen Ausdrucksmöglichkeiten. Wie die vorliegende Arbeit aufzeigen
wird, sind in der untersuchten Zeitspanne in Künstlerkreisen unter Temperafarben tatsächlich
„sehr verschiedenartige Gemenge“ 4 zu verstehen. Ihre Zusammensetzung ist in vielen Fällen wenn
nicht als abenteuerlich, so doch wenigstens als unorthodox zu bezeichnen. Die zeitgenössischen
Temperafarben zeichneten sich – gewissermaßen als kleinster gemeinsamer Nenner – durch ihre
Wasserverdünnbarkeit aus, durch die sie sich von den zeitgenössischen ÖlfarbenG abgrenzten.
Die Spannbreite der untersuchten Kunstwerke verschiedener Künstler und Stilrichtungen wird
zeigen, in welch komplexer Art und Weise die Künstler formale und maltechnische Ausdrucksmittel
zu einem künstlerischen Ganzen formten und wie eng in der untersuchten Zeitspanne oftmals
Materialität und künstlerische Aussage miteinander verwoben sind. Die Sensibilität für diese
Zusammenhänge ist die Voraussetzung für den konservatorischen Umgang mit diesen Werken,
deren vielfältige Materialkombinationen und Techniken heutige und zukünftige Restauratoren vor
besondere Herausforderungen stellen.
1.1 Zielsetzung
Ziel dieser Arbeit ist es, das Phänomen der Temperamalerei in München anhand exemplarisch
ausgewählter Künstlerpersönlichkeiten und ihrer Gemälde zu beleuchten. Als repräsentative und
einflussreiche Protagonisten der Münchner Kunstszene, die bis heute für ihre Temperamalerei
bekannt sind, wurden Arnold Böcklin (1827–1901), Franz von Lenbach (1836–1904), Franz von
Stuck (1863–1928) und Wassily Kandinsky (1866–1944) ausgewählt. Anhand dieser unterschiedli-
chen Künstlerpersönlichkeiten wird zu untersuchen sein, aus welchen Gründen sie Temperafarben
verwendeten und ob zwischen ihnen – trotz unterschiedlicher künstlerischer Ziele – ein Austausch
maltechnischen Wissens stattfand.
Der Untersuchungszeitraum zwischen 1850 und 1914 ergibt sich aus Arnold Böcklins ersten Versu-
chen mit Temperafarben in den 1850er Jahren und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Letzterer
stellte auch in maltechnischer Hinsicht eine Zäsur dar, da während des Krieges die üblichen Ma-
terialien der Temperamalerei nicht länger zur Farbherstellung verwendet werden durften5 und
ausländische Künstler wie Wassily Kandinsky gezwungen waren, Deutschland zu verlassen. Inner-
halb dieser Zeitspanne pendelt der Fokus der Untersuchung zwischen den beiden geographischen
Polen München und Italien: Während München in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eines
der kulturellen und künstlerischen Zentren Europas und ein Zentrum maltechnischer Forschung
war, stellten Italien und die italienische Kunst der Antike, des Mittelalters und der Renaissance
für die Künstler eine wichtige Inspirationsquelle dar. Es wird zu fragen sein, inwiefern sich diese
unterschiedlichen Umfelder auf die Temperamalerei der Künstler auswirkten.
Die individuelle Maltechnik der genannten Künstler steht im Fokus dieser Untersuchung. Deshalb
wird zunächst zu klären sein, was sie unter Temperamalerei verstanden und welche Malmateria-
lien sie verwendeten: Handelte es sich um selbst hergestellte Malfarben oder um kommerziell
vertriebene Produkte? Ferner soll der Frage nachgegangen werden, welche Bildwirkungen und
Oberflächenwirkungen sie mit Hilfe der Temperafarben anstrebten und welche Funktionen diese im
Bildaufbau einnahmen. Eine weiterführende Fragestellung in diesem Zusammenhang wird sein,
inwiefern in den Werken der Künstler ein Zusammenhang zwischen Bildinhalt, formaler Gestaltung
und maltechnischer Umsetzung festzustellen ist.
Um die Ergebnisse dieser exemplarischen Untersuchungen in den breiteren historischen Kontext
4 Ostwald 1904, S. 141.
5 Münchner kunsttechnische Blätter 1918, S. 132.
18
der Münchner Maltechnik im 19. Jahrhundert einzubetten, sollen weiterführende Informationen
aus zeitgenössischen, maltechnischen Quellen gewonnen werden. Aus dieser Zusammenschau wird
sowohl ein Bild der individuellen Maltechnik der Künstler als auch der zeittypischen, breiten Palette
von Materialien und Maltechniken der Temperamalerei um 1900 entstehen.
1.2 Forschungsüberblick
In ausführlicher Form hat sich Eva Reinkowski-Häfner mit der Temperamalerei des 19. Jahrhunderts
befasst. Mit ihren beiden Beiträgen „Tempera – Zur Geschichte eines maltechnischen Begriffs“ 6 und
„Die Anfänge der Erforschung der Temperamalerei im 19. Jahrhundert – Irrtümer und bleibende
Erkenntnisse“ 7 hat sie eine wichtige Basis für die vorliegende Arbeit geschaffen. Sie beschäftigte
sich mit der Geschichte des Begriffs Tempera und beleuchtete auf der Basis einer umfangreichen
Quellenrecherche die maltechnischen Debatten über die Temperamalerei, die im 19. Jahrhundert
zwischen Kunsthistorikern, Restauratoren und Naturwissenschaftlern stattfanden.8
Kathrin Kinseher widmete sich in mehreren Aufsätzen den wichtigsten Münchner Protagonisten der
zeitgenössischen Debatten über Maltechnik. In „Farbe als Material – Die Ausstellung für Maltechnik im
Münchner Glaspalast“ 9 behandelte sie die genannte Ausstellung sowie die Geschichte der „Deutschen
Gesellschaft zur Beförderung rationeller Malverfahren“ und ihres Vorsitzenden Adolf Wilhelm Keim.
Zudem widmete sie sich in „Ernst Berger and the late 19th-century Munich controversy over painting
materials“ 10 der Person des einflussreichen Münchner Künstlers und Maltechnikers Ernst Berger und
seinen maltechnischen Forschungen. In ihrer Dissertation behandelte sie diese beiden Personen und
die zeitgenössische maltechnische Forschung im Münchner Umfeld in vertiefender Art und Weise.11
Rudolf H. Wackernagel beschäftigte sich in seinem Aufsatz „,Ich werde die Leute ... in Öl und Tempera
beschwindeln.’ Neues zur Maltechnik Wassily Kandinskys“ 12 ebenfalls mit dem historischen Kontext
der im damaligen München virulenten, maltechnischen Debatten. Der Beitrag enthält außerdem
eine Fülle von Hinweisen zur Maltechnik verschiedener Münchner Künstler, zu denen Wassily
Kandinsky, Franz von Lenbach und Franz von Stuck zählen.
Die genannten Arbeiten behandeln in erster Linie den historischen Kontext, vor dem die individuelle
Temperamalerei der vier zu untersuchenden Künstler zu verstehen ist. Vertiefende Forschungen
zu deren Temperamalerei, die auf der kunsttechnologischen Untersuchung von Gemälden basie-
ren, fehlen jedoch bisher weitgehend. Bislang liegen überwiegend Auswertungen der schriftlichen
Quellenlage vor: Die Quellenlage zur Temperamalerei Arnold Böcklins war Gegenstand verschie-
dener Untersuchungen. Den Grundstein für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem
Thema legte bereits 1906 Ernst Berger mit seinem Buch „Böcklins Technik“ 13 , in dem er die damals
bekannten Quellen zusammenstellte und erstmals seine maltechnische Entwicklung chronologisch
darstellte. Bergers Buch ist äußerst gewissenhaft recherchiert und profitiert von seinem maltech-
nischen Hintergrundwissen, auch wenn manche seiner Schlussfolgerungen und Interpretationen
6 Reinkowski-Häfner 1994.
7 Reinkowski-Häfner 2012.
8 Eva Reinkowski-Häfner hat zu diesem Themengebiet auch eine Dissertation mit dem Titel „Die Entdeckung der Tempera-
malerei im 19. Jahrhundert“ verfasst, die sich aber zum Zeitpunkt der Abgabe der vorliegenden Arbeit noch im Druck befand.
Ein persönlicher Austausch über das Themengebiet hat mit ihr jedoch schon vorher stattgefunden, und so danke ich Eva
Reinkowski-Häfner für anregende Gespräche zu diesem Thema.
9 Kinseher 2008.
10 Kinseher 2012.
11 Kathrin Kinseher: „,Womit sollen wir malen?’ Farben-Streit und maltechnische Forschung in München. Ein Beitrag zum
Wirken von Adolf Wilhelm Keim.“ München, 2014. Da ihre Dissertation im August 2014 erst kurz vor dem Abschluss der
vorliegenden Arbeit erschien, konnten diese Ergebnisse nicht mehr aufgenommen werden.
12 Wackernagel 1997.
13 Berger 1906a.
19
vor dem heutigen Wissenshintergrund zwangsläufig hinterfragt werden müssen. Dieses Werk ist
aufgrund seiner persönlichen Bekanntschaft mit Böcklin und der zeitlichen Nähe zum Untersu-
chungszeitraum einerseits eine Sekundärquelle, kann aber auch als wichtige Sekundärliteratur
verstanden werden, deren Ergebnisse bis heute in vielen Punkten Gültigkeit haben. Eine neuere
Zusammenstellung der Quellenlage legte Monika Dannegger im Rahmen einer Lizentiatsarbeit
„Arnold Böcklin. Maltechnik und Effekte“ 14 vor. Ihre Auswertung der Quellenlage scheint sich dabei
allerdings sehr eng an Ernst Bergers Werk zu orientieren, ohne den dort enthaltenen Informationen
wesentliche neue Erkenntnisse hinzufügen zu können. Darüber hinausgehend verknüpfte sie jedoch
die vorhandenen Quellenaussagen mit augenscheinlichen Beobachtungen an einzelnen Werken
Böcklins. Ferner versuchte sie aus heutiger Sicht die Frage zu erörtern, inwiefern sich Böcklins
Maltechnik in den zeitgenössischen maltechnischen Kontext einordnen lässt, ohne jedoch aufgrund
des begrenzten Zeitrahmens einer solchen Abschlussarbeit bei den einzelnen Fragen in die Tiefe
gehen zu können.
Detaillierte kunsttechnologische Untersuchungen, die eine Überprüfung oder Ergänzung zu den
Informationen aus den Quellen erlauben würden, fehlen im Fall Arnold Böcklins bis heute fast
vollständig. Erste Schritte in diese Richtung unternahm in den 1970er Jahren Hermann Kühn
in seinem Beitrag „Technische Studien zur Malerei Böcklins“ 15 . Er entnahm erstmals an einigen
Gemälden Böcklins Proben und führte Bindemittelanalysen durch. Da sich die Möglichkeiten der
Bindemittelanalytik seit dieser Zeit bedeutend weiterentwickelt haben, bedürfen diese Ergebnisse
aus heutiger Sicht jedoch einer kritischen Überprüfung. Paolo Cadorin und Heinz Althöfer stellten
ebenfalls in den 1970er Jahren in ihren Beiträgen „Restaurierungsprobleme bei Böcklin-Bildern
im Kunstmuseum Basel“ 16 und „Arnold Böcklin. Maltechniker und Kolorist“ 17 erste Beobachtungen
zu Erhaltungszuständen Böcklin’scher Gemälde an. Besonders Heinz Althöfer lieferte dabei eine
aus heutiger Perspektive einseitig erscheinende Sicht auf den Erfolg von Böcklins maltechnischen
Experimenten, weil er sich in seinen Ausführungen fast ausschließlich auf die Gemälde mit proble-
matischen Erhaltungszuständen konzentrierte, ohne die in vielen Fällen gelungenen Versuche zu
würdigen. Der damalige Restaurator des Kunstmuseums Basel, Paolo Cadorin, schilderte maltechni-
sche Beobachtungen und charakteristische Erhaltungszustände an einigen ausgewählten Werken
Böcklins aus dem Kunstmuseum Basel, allerdings ebenfalls an solchen, die aus restauratorischer
Sicht als problematisch einzustufen sind. Dieser Fokus ist aus konservatorischer Sicht nachvoll-
ziehbar, es entstand jedoch auf diese Weise ein einseitiges und somit unrepräsentatives Bild der
Erhaltungszustände Böcklin’scher Gemälde.
Während die Temperamalerei Arnold Böcklins bereits im Blickpunkt verschiedener Untersuchungen
stand, wurde die Temperamalerei Franz von Lenbachs bislang nur äußerst oberflächlich behandelt:
Der Quellenlage zur Maltechnik Franz von Lenbachs widmete Sonja von Baranow in ihrem Buch
„Franz von Lenbach. Leben und Werk“ 18 ein Kapitel, in dem jedoch Lenbachs Einsatz von Tempera-
farben nur eine untergeordnete Rolle spielt. Auch Siegfried Wichmann behandelte die Maltechnik
Lenbachs in einem Abschnitt seines Buches „Franz von Lenbach und seine Zeit“ 19 . Kunsttechnologi-
sche Untersuchungen zur Maltechnik Lenbachs bei seinen Kopien nach Alten Meistern, die im Fokus
dieser Arbeit stehen, wurden bisher nicht durchgeführt.
14 Dannegger 1999.
15 Kühn 1977.
16 Cadorin 1977.
17 Althöfer 1974.
18 Baranow 1986, S. 58–65. Das Buch basiert auf ihrer Dissertation von 1972 mit gleichlautendem Titel, die sie noch
unter dem Namen Sonja Mehl einreichte. Diese enthält zwar zur Temperamalerei Lenbachs zusätzliche Hinweise, diese sind
aber aufgrund des fehlenden Literaturverzeichnisses nur eingeschränkt auswertbar, da sich die Zitate und Informationen
unglücklicherweise keinen Quellen mehr zuordnen lassen (Mehl 1972).
19 Wichmann 1973, S. 159–180.
20
Auch Studien, die sich vertiefend mit der Maltechnik Franz von Stucks beschäftigen, fehlen
bislang weitgehend: Rudolf H. Wackernagel erwähnt zwar im bereits genannten Beitrag Franz von
Stucks Gemälde „Der Krieg“ (1894), ohne jedoch weiter auf seine Maltechnik einzugehen.20 Iris
Winkelmeyer stellte jüngst in ihrem Aufsatz „Never use water! Stuck und die Tempera-Renaissance in
München“ 21 die Ergebnisse einer detaillierten Untersuchung der Maltechnik des Gemäldes „Salome“
(1906) vor. Die Maltechnik Franz von Stucks stand auch im Fokus eines Projektes des Museums
Villa Stuck (München). Die Restauratorin Chiharu Asai führte zwischen 2009 und 2011 unter
der Leitung von Margot Th. Brandlhuber Untersuchungen zur Maltechnik an circa 70 Gemälden
Franz von Stucks durch.22 Die in einem internen Bericht festgehaltenen, bisher unpublizierten
Ergebnisse durften in der vorliegenden Arbeit leider nicht zitiert werden. Im Rahmen einer engen
Kooperation zwischen dem Museum Villa Stuck, der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und
dem DFG-Forschungsprojekt am Doerner Institut waren jedoch gemeinsame Untersuchungen zur
Maltechnik an Gemälden Stucks mit Chiharu Asai sowie ein Informationsaustausch mit Margot
Th. Brandlhuber und Iris Winkelmeyer über Stucks Maltechnik möglich. Sowohl die Arbeiten Iris
Winkelmeyers als auch Chiharu Asais entstanden zeitgleich mit der vorliegenden Untersuchung.
Im Rahmen dieser Kooperation flossen erste Untersuchungsergebnisse aus der vorliegenden Arbeit
auch in die genannten Arbeiten von Chiharu Asai und Iris Winkelmeyer ein.
Der Maltechnik Wassily Kandinskys in seiner Münchner Periode widmete Rudolf H. Wackernagel
mehrere Beiträge von grundlegender Bedeutung. Neben dem bereits genannten Artikel23 veröffent-
lichte er „Kandinsky – Ein Vertreter der modernen Temperamalerei“ 24 sowie „,Bei ,Öl’ auch Aquarell...,
bei ,Aquarell’ auch Öl usw.’. Zu Kandinskys Ateliers und seinen Maltechniken“ 25 . Er ging dabei sowohl
auf die Quellenlage als auch auf Beobachtungen zur Maltechnik ausgewählter Gemälde ein und
versuchte, diese zu den Quellenangaben in Beziehung zu setzen. So grundlegend diese Artikel sind,
spiegeln sie doch stark den damaligen Forschungsstand zum Thema der Temperamalerei wider, der
geprägt war durch eine Unsicherheit im Umgang mit dem historischen Begriff Temperafarbe und mit
ihren charakteristischen Erkennungsmerkmalen. Wackernagels Schlussfolgerungen müssen deshalb
vor dem heutigen Wissenstand hinterfragt und teilweise revidiert werden. Auch kunsttechnologische
Untersuchungen liegen für einige Gemälde vor: M. P. Vikturina beschrieb in ihrem Beitrag „Zur
Frage von Kandinskys Maltechnik“ 26 Beobachtungen, die sie an verschiedenen Gemälden Kandinskys
aus den Beständen der Staatlichen Tretjakov-Galerie (Moskau) gemacht hat. Gillian McMillan und
Vanessa Kowalski behandelten in ihrem Aufsatz „Kandinsky’s materials and techniques: a preliminary
study of five paintings“ 27 exemplarisch die Maltechnik von fünf Gemälden Kandinskys aus der Samm-
lung des Solomon R. Guggenheim Museums (New York), von denen drei der hier untersuchten
Zeitspanne zuzurechnen sind. In diesem Zusammenhang wurden auch einige Materialanalysen
durchgeführt. Weitere Untersuchungen zur Maltechnik von zwei Gemälden Kandinskys aus seiner
Münchner Periode erfolgten durch Elizabeth Steele, Gillian McMillan, Narayan Khandekar und Erin
Mysak in ihrem Aufsatz „Side by Side: The technical Investigation of Sketch I for Painting with White
Border and Painting with White Border“ 28 .
20 Wackernagel 1997.
21 Winkelmeyer 2014.
22 Materialanalysen oder eine umfassende Quellenrecherche wurden jedoch nicht durchgeführt.
23 Wackernagel 1997.
24 Wackernagel 1992.
25 Wackernagel 1995.
26 Vikturina 1989.
27 McMillan und Kowalski 2009.
28 Steele u. a. 2011.
21
1.3 Methodik
Das Thema der Temperamalerei um 1900 wird in dieser Arbeit anhand exemplarisch ausgewählter
Künstler und ihrer Gemälde untersucht. Die hierfür relevanten Schrift- und Sachquellen wurden
mithilfe unterschiedlicher Methoden aus verschiedenen Fachdisziplinen ausgewertet (Abb. 1.1).
Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten Schrift- und Sachquellen vorgestellt. Die methodische
Vorgehensweise bei der Auswertung kunsttechnologischer Schriftquellen wurde bereits an anderer
Stelle ausführlich dargestellt und bedarf deshalb an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterung.29
Im Anschluss daran soll jedoch näher auf die Methodik der kunsttechnologischen Untersuchungen
eingegangen werden, da hier verschiedene methodische Ansätze unterschiedlicher Fachdisziplinen
ineinandergreifen: Die Interpretation der Schriftquellen, Untersuchungen der Maltechnik, Materi-
alanalysen und maltechnische Rekonstruktionsversuche (Abb. 1.1). Bei diesem interdisziplinären
Ansatz handelt es sich um eine etablierte Herangehensweise innerhalb der kunsttechnologischen
Forschung.30 Diese Vorgehensweise erlaubt die Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes aus
unterschiedlichen Blickwinkeln, wobei erst bei der abschließenden Zusammenführung der Einzeler-
gebnisse ein möglichst vollständiges Bild entsteht.
Die Ergebnisse der kunsttechnologischen Untersuchungen wurden in einem abschließenden Schritt
mit den Erkenntnissen aus Schrift- und Sachquellen zusammengeführt, so dass ein facettenreiches
Bild der Temperamalerei zwischen 1850 und 1914 entstand (Abb. 1.1). Dieser methodische Ansatz
verspricht durch seine interdisziplinäre Ausrichtung und durch die Auswertung unterschiedlicher
Quellenarten Antworten auf viele Fragen zur Temperamalerei des 19. Jahrhunderts, die bislang
weitgehend ungeklärt sind, weil sich die bisherige Forschung vor allem mit einer Auswertung der
schriftlichen Quellenlage befasste.
22
Abbildung 1.1: Schematische Darstellung der angewendeten Methodik
23
1.3.1 Die Auswertung von Schrift- und Sachquellen
Als Schriftquellen wurden in erster Linie Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und sonstige schriftliche
Aufzeichnungen der untersuchten Künstler selbst herangezogen (Primärquellen) sowie zeitgenössi-
sche Berichte aus zweiter Hand, beispielsweise Aufzeichnungen von Schülern (Sekundärquellen).
Ihre Auswertung hatte einerseits das Ziel, einen Überblick über die verwendeten Malmaterialien und
Maltechniken der Künstler zu gewinnen und unterschiedliche Schaffensperioden zu identifizieren,
in denen sich Materialien und Techniken änderten. Andererseits dienten sie auch der Auswahl
einzelner Gemälde für vertiefende kunsttechnologische Untersuchungen (Abb. 1.1).
Im Fall Arnold Böcklins liegt im Vergleich zu den anderen Künstlern ein besonders umfangreiches
Quellenkonvolut vor. Persönliche Äußerungen Arnold Böcklins zu seiner Maltechnik – beispiels-
weise in Briefen – sind vereinzelt erhalten. Einige Briefe, in denen er sich zu maltechnischen
Fragen äußerte, sind beispielsweise bei Angela Böcklin (1910), Mendelsohn (1901) und Ranke
(1988) abgedruckt worden. Weitere Angaben zu Böcklins Maltechnik finden sich in Briefen, die der
gemeinsame Auftraggeber Graf Adolf Friedrich von Schack sowohl mit Böcklin als auch mit Lenbach
wechselte. Diese Briefe befinden sich heute teils in Abschriften, teils als Originale im Archiv der
Bayerischen Staatsgemäldesammlungen (ABSTGS) sowie im Mecklenburgischen Landeshauptarchiv
Schwerin (MLS, Nachlass Schack).
Für Böcklins einzelne Schaffensperioden sind außerdem viele Sekundärquellen vorhanden, in de-
nen Bekannte oder Schüler über seine Maltechnik berichten. Naturgemäß ist der Wahrheitsgehalt
dieser Angaben abhängig von dem individuellen Verständnis für maltechnische Fragestellungen.
Wie bereits Ernst Berger feststellte, kann man beispielsweise bei den Aussagen der Maler und
Assistenten Böcklins wie Rudolf Schick oder Albert Welti ein höheres Verständnis der praktischen
Zusammenhänge erkennen als bei den befreundeten Kunsthistorikern wie Gustav Floerke.31 Für
alle Quellen gilt, dass sie die Maltechnik in der Regel verkürzt wiedergeben. Diese verkürzte Dar-
stellung mag einerseits auf die Schüler, andererseits aber auch auf Böcklins Erinnerungsvermögen
zurückzuführen sein, der sich im Einzelnen nicht immer an die jeweilige Maltechnik erinnerte oder
manche Details vielleicht auch nicht für mitteilenswert hielt.32 Die wichtigste und detaillierteste
Aufzeichnung zur Maltechnik Böcklins in Rom (1862–66) und Basel (1867–69) stammt von dem
Maler Rudolf Schick, der Böcklin 1865 kennenlernte.33 Seine Tagebuchaufzeichnungen wurden
1901 von Hugo von Tschudi in Buchform herausgegeben.34 Für Böcklins spätere Schaffensperioden
in München und Florenz (1871–1885) sind solche detaillierten Informationen nicht mehr überliefert.
Der Maler Sigmund Landsinger35 berichtete Ernst Berger über Böcklins Technik in dieser Zeit, und
so sind dessen Informationen in Bergers Buch eingeflossen.36 Auch in Gustav Floerkes Buch „Zehn
Jahre mit Böcklin“ finden sich vereinzelt Angaben zur Maltechnik Böcklins in Florenz – diese sind
allerdings stets zu hinterfragen, denn sein maltechnisches Grundwissen scheint nur rudimentär
ausgeprägt gewesen zu sein.37 Für die Züricher Periode Böcklins (1885–1892) ist die Quellenlage
detaillierter – maltechnische Informationen sind vor allem von den Malern Albert Welti38 und Ernst
24
Würtenberger39 überliefert.40 Eine weitere wichtige und gut recherchierte Quelle zur Maltechnik
Böcklins in Zürich stammt von Adolf Frey41 , der in seinem Buch die Erfahrungen von Ernst Würten-
berger, Albert Welti und Rudolf Koller zusammenstellte.42 Weitere maltechnische Informationen
überliefern vereinzelt Gustav Floerke43 , Otto Lasius44 und Henriette Mendelsohn.45 Die Quellenlage
zu Böcklins letzter Schaffensperiode in Florenz und San Domenico (1892–1901) beschränkt sich
im Wesentlichen auf einzelne Rezepte und Anleitungen zur Herstellung von Bindemitteln, die von
Böcklins Sohn Carlo Böcklin46 sowie von den Malern Wilhelm Auberlen47 , Hans Sandreuter, Hans
Anetsberger48 und Max Doerner, aber auch vom Kunsthistoriker Adolf Bayersdorfer49 stammen. Wei-
tere Angaben zur Maltechnik einzelner Gemälde Böcklins aus allen Schaffensperioden finden sich
im ersten Werkverzeichnis von Heinrich Alfred Schmid und gehen nach dessen Angaben teilweise
auch auf den Künstler oder dessen Freunde zurück.50
Die Quellenlage zur Temperamalerei Franz von Lenbachs ist im Vergleich zu Böcklin deutlich
limitierter. Einen Überblick über Lenbachs maltechnische Entwicklung liefert Ernst Berger in einem
ausführlichen Aufsatz, der 1915 in den „Münchner kunsttechnischen Blättern“ erschien.51 Ernst
Berger kannte auch Franz von Lenbach persönlich und berichtet dort sowie seinem Werk „Böck-
lins Technik“ über Besuche in Lenbachs Atelier und seine Temperamalerei.52 Informationen zur
Maltechnik Lenbachs bei seinen Kopien nach Alten Meistern finden sich vor allem in einem Brief-
wechsel Lenbachs mit seinem damaligen Auftraggeber, dem Grafen Adolf Friedrich von Schack.53
Die bevorzugten Produkte Lenbachs aus seiner späten Schaffensperiode in München lassen sich den
„Technischen Mitteilungen für Malerei“54 sowie den Publikationen des Farbenherstellers Alfons von
Pereira-Arnstein und Ludwig Pereira-Arnsteins entnehmen.55
Im Fall Franz von Stucks ist die Quellenlage äußerst lückenhaft. In einer schriftlichen Selbstaus-
kunft des Künstlers für seinen Biographen Fritz von Ostini, die wohl zwischen 1895 und 1899
entstand, machte er Angaben zu seinen bevorzugten Malmaterialien.56 Eine Äußerung zur Maltech-
nik seines Gemäldes „Der Krieg“ (1894)57 wurde außerdem in den „Münchner Neuesten Nachrichten“
abgedruckt.58 Einige Artikel und Anzeigen in den „Technischen Mitteilungen für Malerei“59 und den
„Münchner kunsttechnischen Blättern“60 sowie Bestellpostkarten an den Münchner Farbenhersteller
Richard Wurm61 geben zudem Auskunft über die von ihm verwendeten, kommerziell hergestellten
Malmaterialien. Ferner berichten andere Künstler und Schüler vereinzelt über seine Maltechnik,
39 Würtenberger 1902.
40 Berger 1906a, S. 14.
41 Frey 1903. Eine zweite Auflage erschien 1912.
42 Dieser hatte für seine Recherche Fragebögen an Schüler Böcklins verschickt (Frey 1916, S. 135).
43 Floerke 1901a, 1921.
44 Lasius 1903.
45 Mendelsohn 1901.
46 Berger 1906a, S. 137.
47 Auberlen 1895, DOERN.
48 Berger 1906a, S. 124.
49 Berger 1906a, S. 7.
50 H. A. Schmid 1903, S. 1.
51 Berger 1915a, Berger 1915b, Berger 1915c, Berger 1915d, Berger 1915e, Berger 1915f.
52 Berger 1906a, S. 107 f.
53 Diese liegen wie im Fall Böcklins teils in Form von Abschriften, teils als Originale im Archiv der Bayerischen Staats-
gemäldesammlungen (ABSTGS). Weitere Briefe Lenbachs, in denen er sich zu maltechnischen Fragen äußert, haben sich
auch im Mecklenburgischen Landeshauptarchiv Schwerin (MLS) im Nachlass Schack erhalten. Einige Briefe sind auch bei
Wichmann (1973) und Ranke (1986) abgedruckt.
54 Technische Mitteilungen für Malerei 1890, Technische Mitteilungen für Malerei 1893.
55 A. v. Pereira-Arnstein 1909, S. III; S. 102; L. Pereira-Arnstein 1926, S. 22–31.
56 Fuhr 2008, S. 199; Anmerkung 1. Eine Transkription des handschriftlichen Originals in der Bayerischen Staatsbibliothek
findet sich bei Heilmann 1990, S. 15–17.
57 Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek, Inv. Nr. 7941.
58 Stuck 1894.
59 Technische Mitteilungen für Malerei 1893.
60 Münchner kunsttechnische Blätter 1905b, Münchner kunsttechnische Blätter 1905d.
61 1eKU, BSB; B894, SBM. Für den Hinweis auf diese beiden Postkarten danke ich Christine Berberich.
25
beispielsweise Igor Grabar und Alexej von Jawlensky 1899 nach einem Besuch in seinem Atelier
sowie Wassily Kandinsky in einer Ausstellungsbesprechung der Secessionsausstellung von 1899.62
Informationen zu Wassily Kandinskys Beschäftigung mit maltechnischen Fragestellungen liefern
vor allem seine Notizbücher, in denen sich vereinzelt maltechnische Angaben finden. Diese werden
in seinem Nachlass in Paris63 und in der Gabriele Münter Stiftung64 aufbewahrt. In der Bibliothèque
Kandinsky in Paris befinden sich außerdem die Restbestände seiner Atelierbibliothek, zu denen auch
einige maltechnische Werke und Broschüren von Farbherstellern gehören.65 Kandinsky führte ferner
mehrere eigenhändige Werkverzeichnisse, die sogenannten „Hauskataloge“.66 Im „Hauskatalog I“,
den er für seine Werke zwischen 1901 und 1909 anlegte, vergab er für viele Werke auch Technikbe-
zeichnungen. Auch wenn Kandinskys maltechnische Angaben in diesem „Hauskatalog“ mit Vorsicht
interpretiert werden müssen (siehe Abschnitt 2.2), stellen sie doch eine wichtige maltechnische
Quelle dar.67 Eine weitere wichtige Quelle sind die 2007 von Helmut Friedel herausgegebenen
„Gesammelten Schriften“ Kandinskys.68 Dort sind bis dahin unpublizierte Manuskripte Kandinskys
abgedruckt, in denen er sich an einigen Stellen auch zu maltechnischen Fragen äußerte.69
Die Erkenntnisse aus den Schriftquellen zur maltechnischen Entwicklung der einzelnen Künstler
wurden anhand weiterer zeitgenössischer Publikationen, wie zum Beispiel Malerhandbüchern
oder maltechnischer Zeitschriften, in den zeitgenössischen maltechnischen Kontext eingebettet.
Als besonders wichtige Quellen sind hier die beiden maltechnischen Zeitschriften „Technische
Mitteilungen für Malerei“ (ab 1884 herausgegeben von Adolf Wilhelm Keim)71 und „Münchner
kunsttechnische Blätter“72 (ab 1904 herausgegeben von Ernst Berger) zu nennen.
Zu den ausgewerteten Sachquellen gehören neben den Gemälden der Künstler auch Malmateria-
lien wie beispielsweise historische Tubenfarben oder Paletten. Ein wichtiger Sachquellenbestand
ist im Fall Wassily Kandinskys der Ateliernachlass73 , in dem sich viele Malmaterialien befinden,
die teilweise auch noch aus seiner Münchner Periode stammen.74 Ein Inventar des Nachlasses
wurde auszugsweise von Benoît Dagron publiziert.75 Zwei Paletten Kandinskys, auf denen sich
noch Farbreste befinden, haben sich im Besitz des Fonds Kandinsky und der Städtischen Galerie
im Lenbachhaus (München) erhalten und wurden bereits 1997 durch Rudolf H. Wackernagel in
Zusammenarbeit mit dem Doerner Institut untersucht.76 Für Arnold Böcklin, Franz von Stuck und
Franz von Lenbach haben sich keine Bindemittelflaschen oder Tubenfarben enthalten. Historische
Referenzmaterialien von zwei Tubenfarbenprodukten, die Franz von Stuck verwendet haben soll,
konnten jedoch in anderen Künstlernachlässen ausfindig gemacht werden: Eine Tube der „Syntonos-
62 Friedel 2007, S. 208–212; Lauckaite-Surgailiene 2009, S. 200.
63 Fonds Kandinsky, Centre de Documentation et de Recherche du Musée national d‘art moderne, Centre Georges Pompidou,
Paris (FKP). Für die vorliegende Arbeit relevant waren carnet 315b, FKP und carnet 188e, FKP.
64 Städtische Galerie im Lenbachhaus, München (GMS). Für die vorliegende Arbeit relevante Informationen sind in GMS
328, GMS; GMS 334, GMS; GMS 340, GMS und GMS 346, GMS enthalten.
65 Bibliothèque Kandinsky, Centre de Documentation et de Recherche du Musée national d‘art moderne, Centre Georges
Pompidou, Paris (FKP). Für die vorliegende Arbeit relevant waren L9, FKP; L445, FKP und L454, FKP.
66 Grohmann 1958, S. 329; Roethel und Benjamin 1982, S. 16. Diese befinden sich im Original im Fonds Kandinsky (Katz
1992, S. 13).
67 Der „Hauskatalog I“ konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht im Original eingesehen werden. Kandinskys Angaben
wurden aber in das Werkverzeichnis von Barnett (1992) übernommen und sind dort nachvollziehbar. Im Werkverzeichnis
der „Ölgemälde“ von Roethel und Benjamin (1982) sind hingegen nur die rückseitigen Beschriftungen der Werke aufgeführt.
68 Friedel 2007.
69 Weitere, bisher in großen Teilen unpublizierte Quellen sind die Briefe von Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Wie
aus den bisher nur auszugsweise publizierten Stellen hervorgeht (bei Hahl-Koch 1993, Wackernagel 1992, Wackernagel
1995, Dagron 1998), scheint der Briefwechsel auch maltechnische Informationen zu enthalten. Er wird in der Gabriele
Münter- Johannes Eichner- Stiftung70 aufbewahrt und war im Rahmen dieser Arbeit leider nicht zugänglich.
71 Kinseher 2008, S. 43.
72 Beilage zur „Werkstatt der Kunst“.
73 Fonds Kandinsky, Centre de Documentation et de Recherche du Musée national d‘art moderne, Centre Georges Pompidou,
Paris.
74 Auch dieser war der Autorin im Rahmen dieser Arbeit nicht direkt zugänglich.
75 Dagron 1998.
76 Wackernagel 1997.
26
farbe“ befindet sich im Nachlass James McNeill Whistlers (1834–1903) in der Library of Congress,
Washington D.C. (USA)77 , mehrere Tuben der „Temperafarben“ des Münchner Farbenherstellers
Richard Wurm im Nachlass Edvard Munchs im Munch Museet (Oslo).
Sachquellen von zentraler Bedeutung waren außerdem die Gemälde der Künstler.78 Die augen-
scheinliche Untersuchung von circa 170 Gemälden ergab erste Aufschlüsse über typische Erschei-
nungsbilder der Gemälde während verschiedener Schaffensperioden und über charakteristische
Erhaltungszustände (Abb. 1.1).
27
Museum Villa Stuck (München), des Kunstmuseums Basel und des Kunsthauses Zürich, der Alten
Nationalgalerie in Berlin, des Van Gogh Museums in Amsterdam, des Museums Georg Schäfer in
Schweinfurt, der Staatsgalerie in Stuttgart sowie dem Städel Museum in Frankfurt.
Die fünfzehn Gemälde wurden aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Quellenrecherche, der
Untersuchung der Maltechnik, Materialanalysen und maltechnischer Rekonstruktionsversuche unter-
sucht (Abb. 1.1). Die einzelnen Methoden werden im Folgenden vorgestellt und ihre Möglichkeiten
und Grenzen aufgezeigt.
Die Schriftquellen können Auskunft über die verwendeten Materialien, ihre Verarbeitungseigen-
schaften im frischen Zustand85 , über die Gründe des Künstlers für ihre Verwendung sowie über das
ursprünglich angestrebte Erscheinungsbild der Malerei86 geben. Trotz eines kritischen Umgangs mit
dem Quellenmaterial lässt sich aber der Wahrheitsgehalt in manchen Fällen ohne weitere, ergän-
zende Untersuchungsmethoden nicht oder nur schwer bestimmen: Ob beispielsweise tatsächlich die
genannten Materialien verwendet wurden, lässt sich ohne Materialanalysen nicht überprüfen.
Materialanalysen
Die Materialanalysen ermöglichen eine Bestimmung der einzelnen chemischen Stoffe beziehungswei-
se der Bindemittelkomponenten in einer Probe. Durch die Interpretation dieser Analyseergebnisse
sind dann Rückschlüsse auf die ursprünglich verwendeten Materialien möglich. Im Anschluss an
die zerstörungsfreien Untersuchungen der Maltechnik wurden an den fünfzehn Gemälden Proben
für die Bindemittel- und Pigmentanalysen entnommen.90 Die Materialanalysen der BindemittelG
und Pigmente konnten im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes größtenteils am Doerner Institut
durchgeführt werden. Für die Bindemittelanalysen waren innerhalb des Projektes Dr. Patrick Die-
temann, Ursula Baumer, Cedric Beil und Dr. Irene Fiedler zuständig. Die Pigmentanalysen führten
PD Dr. Heike Stege, Cornelia Tilenschi, Andrea Obermeier, Christoph Steuer und Dr. Mark Richter
durch. Ergänzende Untersuchungen zur räumlichen Verteilung von BindemittelkomponentenG an
Querschliffen waren zudem in Zusammenarbeit mit Dr. Stefan Zumbühl (Hochschule der Künste
Bern) und Stephan Schäfer (São Paulo, Brasilien) möglich. Im Folgenden werden die von der
Autorin nicht selbst durchgeführten Analysemethoden nur zusammenfassend beschrieben, für eine
85 Beispielsweise die Verdünnbarkeit der Malfarbe.
86 Zum Beispiel matte oder glänzende Bildoberfläche.
87 Durchgeführt von Sybille Forster, Fotoabteilung der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen.
88 Durchgeführt von Lars Raffelt und Jens Wagner, Doerner Institut.
89 Vgl. zum Beispiel Learner 2007, S. 11.
90 Die Dokumentation der Probenentnahme in Wort und Bild erfolgte in einem Probenentnahmeprotokoll.
28
detaillierte Beschreibung wird auf aktuelle Publikationen verwiesen. Die von der Autorin selbst
durchgeführten Anfärbungsmethoden werden hingegen detaillierter besprochen.
Bindemittelanalysen
Die Bindemittelanalytik erfolgte am Doerner Institut anhand von Schabeproben (Pulverproben). Der
am Doerner Institut etablierte Analyseweg sieht zunächst eine Extraktion der Bindemittelkomponen-
ten mit unterschiedlichen LösungsmittelnG zunehmender Polarität vor.91 Bindemittelkomponenten
unterschiedlicher Löslichkeit werden so teilweise voneinander getrennt und können im Folgenden
separat analysiert werden. Die einzelnen Extrakte werden anschließend mit Gaschromatographie
(GC) beziehungsweise Gaschromatographie/Massenspektrometrie (GC/MS) untersucht. Mit diesen
Analysemethoden werden Öle, Fette, Harze und Wachse sowie moderne Restaurierungsmaterialien
(beispielsweise Kunstharze) erfasst. Der verbleibende Rückstand enthält die in organischen Lö-
sungsmitteln unlöslichen Bindemittelbestandteile (Proteine und Polysaccharide), die anschließend
mit Wasser herausgelöst werden. Für die Polysaccharidanalysen werden die wässrigen Extrakte
mit methanolischer Salzsäure behandelt, derivatisiert92 und im Gaschromatographen analysiert.
Anschließend wird der verbleibende Rest mit Salzsäure hydrolysiert und mithilfe der Aminosäureana-
lyse (ASA)93 untersucht.94 Dieser am Doerner Institut etablierte Analyseweg ermöglicht eine äußerst
spezifische und sensitive Bestimmung der verschiedenen organischen, nicht- oder schwerflüchtigen
Bindemittelkomponenten in einer Probe.
29
der angewendeten analytischen Nachweisverfahren nicht unterscheiden, ob es sich ursprünglich um
Vollei, Eigelb oder Eiweiß handelte. Folglich ist stets nur von Ei die Rede.
Während die Materialanalysen also Auskunft über die nicht flüchtigen Bindemittelkomponenten
in einer Probe geben, können flüchtige Verdünnungs- oder LösungsmittelG nur in Ausnahmefällen,
das für die Temperamalerei um 1900 wichtigste VerdünnungsmittelG Wasser in keinem Fall mehr
nachgewiesen werden.
Bindemittelanalysen an Querschliffen
Diese Beobachtungen zur Schichtenfolge wurden noch durch verschiedene Bindemittelanalysen
an ausgewählten Querschliffen ergänzt, die zusätzliche Informationen über die Verteilung unter-
schiedlicher Bindemittelkomponenten innerhalb der Malschichten boten. Dazu zählen verschiedene
Anfärbemethoden sowie FTIR-Imaging.
30
Querschliffoberflächen wurden deshalb zunächst mit einer Formaldehydlösung100 bedampft, die
vorhandenen Proteine wurden so denaturiert und vernetzt und waren in der Folge weniger was-
serempfindlich. Dies konnte wahlweise über Nacht bei Raumtemperatur geschehen oder für 3–4
Stunden bei circa 35 °C.101 Durch den Formaldehyd-Dampf wurden nur die Proteine, jedoch nicht
die gegebenenfalls vorhandenen, wasserlöslichen Polysaccharide (Gummen, Stärke) in einer Probe
fixiert. Waren Letztere in einer Probe vorhanden, musste diese mit besonderer Vorsicht behandelt
werden. Nach der Fixierung wurde der Querschliff unter dem Lichtmikroskop im Hellfeld, im
unpolarisierten Licht102 und in verschiedenen UV-Filtern103 fotografisch dokumentiert. Waren Quel-
lungen einzelner Schichten zu beobachten, wurden diese schriftlich dokumentiert, denn sie lieferten
bereits erste Hinweise auf das Vorhandensein potenziell wasserlöslicher Bindemittelkomponenten
in den einzelnen Schichten. Stark gequollene Proben wurden anschließend noch einmal mit einem
feinkörnigen Schleifpapier poliert, um eine ebene Oberfläche vor der Anfärbung zu erreichen. Nach
der fotografischen Dokumentation wurde ein Tropfen der SYPRO® Ruby-Lösung auf die Oberfläche
pipettiert. Waren bereits nach der Fixierung stark gequollene Farbschichten zu beobachten gewesen,
wurde zunächst mit sehr kurzen Färbezeiten (ab 10 sec) begonnen, die dann jeweils nach einer
kurzen Trocknungszeit schrittweise erhöht werden konnten. Die Färbezeiten lagen je nach Empfind-
lichkeit der Probe zwischen minimal 10 sec und maximal 5 min. Die Färbelösung wurde nach dieser
Einwirkzeit mit einem nicht fluoreszierenden Tuch von der Oberfläche abgesaugt, ohne dabei die
Querschliffoberfläche zu berühren.104 Eine visuelle Auswertung der Färbereaktion erfolgte nach
der vollständigen Trocknung des Querschliffs unter dem Lichtmikroskop im UV-Filterset 09 unter
vergleichbaren Beleuchtungsbedingungen wie vor der Anfärbung. Eventuelle Veränderungen des
Oberflächenreliefs oder ausgespülte Schichten konnten im Hellfeld und im unpolarisierten Licht
dokumentiert werden.
Ein großer Vorteil beim Einsatz dieses Fluoreszenzfarbstoffs besteht darin, dass er nur eine Fluo-
reszenz zeigt, wenn er an Proteine gebunden ist.105 Sind keine Proteine enthalten, fluoresziert
der Farbstoff nicht und falsch-positive Resultate sind folglich nach Schäfer nicht möglich.106 Dies
entspricht auch den im DFG-Forschungsprojekt gewonnenen Erfahrungen. Allerdings können die
vorhandenen Proteine bei nicht ausreichender Fixierung der Proteine innerhalb der Probe durch die
Färbelösung verschleppt werden, was zu einer Verfälschung des Ergebnisses im Hinblick auf ihre
räumliche Verteilung führen kann. Der Gefahr von Fehlinterpretationen wird durch eine genaue
Beobachtungen der Probe mit verschiedenen Filtern im Vor- und Endzustand und eine genaue
fotografische Dokumentation vorgebeugt. Die Vorteile des Fluoreszenzfarbstoffs SYPRO® Ruby
liegen zudem in seiner geringen Eindringtiefe in die Probenoberfläche. Wie an den angefärbten
Querschliffen ersichtlich wurde, kann der Querschliff durch oberflächliches Anschleifen noch für
weiterführende Untersuchungen verwendet werden. Laut Schäfer zeichnet sich der Farbstoff zudem
durch eine hohe Sensitivität aus.107 Die Nachweisempfindlichkeit lässt sich aber letztlich nicht fest-
legen, da sie in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren schwanken kann: Beispielsweise können
Metallionen (beispielsweise Kupfer, Eisen) die Fluoreszenz des Farbstoffs teilweise oder vollständig
unterdrücken (quenchen), was auch an den im Rahmen dieser Arbeit angefärbten Querschliffen
feststellbar war. Außerdem konnte an den untersuchten Querschliffen beobachtet werden, dass
die Nachweisempfindlichkeit offenbar von der räumlichen Zugänglichkeit des Farbstoffs zu den
100 Formaldehydlösung (37%ig) und destilliertes Wasser im Verhältnis 1:1.
101 Schäfer 2013, S. 712.
102 Im unpolarisierten Licht ist das Oberflächenrelief der Probe besonders gut sichtbar.
103 Besonders geeignet ist hierbei das Zeiss UV-Filterset „09“ (BP 450–490 nm, LP 515 nm). Vgl. Schäfer 2013, S. 712 f.
104 Schäfer 2013, S. 712.
105 Schäfer 2013, S. 710.
106 Schäfer 2013, S. 710.
107 Schäfer 2013, S. 710.
31
Proteinen in der Probe abhängt. Die Zugänglichkeit der Proteine für den Fluoreszenzfarbstoff kann
beispielsweise in Schichten, die laut GC/MS einen sehr hohen Anteil an Ölen oder Harzen enthalten,
so stark vermindert werden, dass im Extremfall durchaus falsch-negative Ergebnisse die Folge sein
können.108 In solchen Fällen hat es sich bewährt, die Oberfläche des Querschliffs mechanisch durch
Anrauen mit einem Schleifpapier109 zu vergrößern. Die genannten Faktoren machen deutlich, dass
sich aus der Stärke der Fluoreszenz keine quantitative Aussage über den Proteingehalt in einer Probe
ableiten lässt. Ferner bleibt festzuhalten, dass die Ergebnisse einer solchen Anfärbung vom Handling
und der Erfahrung des Durchführenden abhängen und nur begrenzt reproduzierbar sind. Allerdings
hat diese Methode gegenüber den Analysen von Pulverproben den großen Vorteil, Informationen
zur räumlichen Verteilung von Proteinen innerhalb der Schichten zu generieren, weswegen sie eine
wichtige ergänzende Methode darstellte.
Jede der für die Bindemittelanalysen verwendeten Methoden – GC/MS in Kombination mit ASA,
Anfärbungen von Querschliffen und FTIR-Imaging – liefert also ein Teilbild der Bindemittelkompo-
nenten und ihrer Verteilung innerhalb der Schichten, die abschließend korreliert werden müssen.
Diese Korrelation war aufgrund der unterschiedlichen Nachweisgrenzen und Nachweisansätze der
Methoden nicht immer problemlos möglich, die erhaltenen Informationen nicht immer vollständig
konsistent. Ein in die Tiefe gehender Methodenvergleich und eine Diskussion dieser Fragen würde
an dieser Stelle jedoch zu weit führen, sie ist im Rahmen eines Aufsatzes von Dr. Patrick Dietemann
geplant. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Kombination dieser unterschiedlichen Methoden
in jedem Fall die Informationsdichte erhöht und auf diese Weise ein vollständigeres Bild entsteht,
als es durch die Anwendung nur einer Analysenmethode der Fall gewesen wäre.
108 Beispielsweise kann die Fluoreszenz leimhaltiger Grundierungen durch eine ölhaltige Tränkung stark reduziert werden.
Ferner kann auch das Einbettmittel – sofern es tief in poröse Schichten des Querschliffs wie beispielsweise die Grundierung
eingedrungen ist – eine ähnliche inhibitierende Wirkung entfalten.
109 In der Regel mit 4000er oder 6000er Körnung.
110 Schramm und B. Hering 1989, S. 215.
111 Ansatz nach Schramm und B. Hering 1989, S. 215: 0,25 g Jod und 0,17 g Kalium auf 10 ml destilliertes Wasser.
112 Zumbühl 2014, S. 458.
113 Zumbühl 2014, S. 458.
114 Zumbühl 2014, S. 458.
32
Pigmentanalysen
An ausgewählten Querschliffen wurden auch die Pigmente analysiert. Die Pigmentanalytik erfolgt
am Doerner Institut mithilfe der Rasterelektronenmikroskopie mit energiedispersiver Röntgenmikro-
analyse (REM-EDX). Ausgewählte Proben, in denen organische, synthetische FarbmittelG vermutet
werden, werden auch mithilfe der Raman-Mikroskopie untersucht.
In einem letzten Schritt galt es zu entscheiden, ob es sich bei den untersuchten Gemälden um
TemperamalereiG oder um ÖlmalereiG handelte. Um diese Frage zu beantworten, mussten die
mithilfe der Quellenrecherche, der Untersuchungen zur Maltechnik, der Materialanalysen und
der Rekonstruktionsversuche gewonnenen Informationen korreliert werden (Abb. 1.1). Diese ab-
schließende Korrelation der Einzelergebnisse zu einem in sich schlüssigen Gesamtbild erschien
allerdings in vielen Fällen zunächst nicht widerspruchsfrei möglich.116 Hierfür waren maßgeblich
die innerhalb der kunsttechnologischen Forschung etablierten Interpretationsmodelle zur Unter-
scheidung von Tempera- und Ölmalerei verantwortlich. Folglich mussten diese zunächst hinterfragt
werden (Abb. 1.1): Zum einen musste bei der Auswertung der schriftlichen Quellen gefragt wer-
den, wie die dort verwendeten maltechnischen Begriffe zu verstehen sind. Zum anderen war es
notwendig, bei den Untersuchungen zur Maltechnik die etablierten visuellen Unterscheidungs-
kriterien von Temperafarben und Ölfarben beziehungsweise von Temperamalerei und Ölmalerei
zu überprüfen. Für eine zeitgemäße Interpretation der Bindemittelanalysen mussten außerdem
tradierte Grundannahmen zu chemisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten von frischen, flüssigen
Bindemittelsystemen in Frage gestellt werden, die bislang zur Interpretation von Materialanaly-
sen und zur Klassifizierung einer Maltechnik als Temperamalerei oder Ölmalerei herangezogen
worden waren. Letzteres geschah durch eine Auswertung von Fachliteratur aus der Lebensmittel-
und Kolloidchemie in Kombination mit praktischen, maltechnischen Versuchen zum Verhalten
relevanter BindemittelsystemeG , die im folgenden Kapitel beschrieben werden. Diese Versuche
wurden im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes in interdisziplinärer Zusammenarbeit durch Dr.
Patrick Dietemann, Ursula Baumer und die Autorin durchgeführt. Erst auf dieser neu geschaffenen
Interpretationsgrundlage wurde die zusammenführende Interpretation der Einzelergebnisse der
kunsttechnologischen Untersuchungen möglich (Abb. 1.1).
In einem letzten Arbeitsschritt wurden auf dieser neu geschaffenen Interpretationsbasis die Er-
kenntnisse zur maltechnischen Entwicklung der Künstler, die Ergebnisse zu ihrer Maltechnik in den
115 Lutz 2010.
116 Vgl. hierzu ausführlich Dietemann und Neugebauer 2014; Dietemann, Neugebauer, Baumer u. a. 2015.
33
fünfzehn Gemälden und die visuellen Beobachtungen zum Erscheinungsbild der circa 170 Gemälde
zusammengeführt (Abb. 1.1).
34
Kapitel 2
Als Einstieg in die Thematik der TemperamalereiG um 1900 gilt es, tradierte Interpretationsmodelle
zur Unterscheidung von Tempera- und ÖlmalereiG auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls
zu revidieren. Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse dieses Prozesses im Hinblick auf die
Auswertung der Schriftquellen, die Untersuchungen der Maltechnik und die Bindemittelanalysen
vorgestellt. Eine zentrale Voraussetzung für eine sachgerechte Interpretation der Quellen ist das
Verständnis der historischen Terminologie. Deshalb wird zunächst der Frage nachgegangen, welche
Art von MalfarbenG der Begriff TemperafarbeG zwischen 1850 und 1914 beschreibt.
Bei der Untersuchung der Maltechnik wird anhand visueller Merkmale der Malerei versucht,
zwischen unterschiedlichen Maltechniken zu unterscheiden. Ein zweiter Abschnitt dieses Kapitels
widmet sich deshalb der Frage, ob es typische visuelle Merkmale für Tempera- und ÖlfarbenG gibt.
Für die Interpretation der Bindemittelanalysen ist es notwendig zu überprüfen, ob es in der unter-
suchten Zeitspanne typische Bindemittelkomponenten von Temperafarben und Ölfarben gab. Wie
im dritten Abschnitt dieses Kapitels deutlich werden wird, ist dies nicht der Fall: Ob Bindemittel-
komponenten ursprünglich eine Tempera- oder eine Ölfarbe bildeten, ist vielmehr abhängig von den
chemisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten, denen die einzelnen Komponenten in den flüssigen
Malfarben unterlagen. Daraus leitet sich ein neues Betrachtungsmodell für Bindemittelsysteme ab,
das diese als kolloide Systeme beschreibt. Letzteres führt zu einem neuen Interpretationsansatz der
Bindemittelanalysen, der abschließend in diesem Kapitel vorgestellt wird. Auf dieser Basis wird eine
für die vorliegende Arbeit praktikable, maltechnische Terminologie vorgeschlagen.
35
2.1.1 Der Begriff Temperafarbe zwischen 1850 und 1914
Wie bereits Reinkowski-Häfner ausführte, festigte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die
Forschungen und Publikationen von Ernst Berger, Alexander Eibner und Max Doerner die Definition
von Temperafarbe als Emulsion in der deutschsprachigen maltechnischen Literatur.2 Die genannten
Autoren verstanden unter Emulsionen ausschließlich Öl-in-Wasser-Emulsionen (O/W), während
Wasser-in-Öl-Emulsionen (W/O) bis 1914 – also bis zum Ende des Untersuchungszeitraums – in der
maltechnischen Literatur nicht explizit erwähnt werden.3 Dies entspricht dem damaligen wissen-
schaftlichen Kenntnisstand, denn die Existenz von W/O-Emulsionen war bis circa 1910 unbekannt.4
Auch wenn sich diese Definition in der deutschsprachigen zeitgenössischen Literatur schrittweise
etablierte, kam es damals nicht zu einer einheitlichen Definition: Wie bereits Reinkowski-Häfner
feststellte, wurden in der künstlerischen Praxis weiterhin unterschiedliche BindemittelsystemeG
unter dem Begriff Temperafarbe zusammengefasst.5 Da sich aus dieser Feststellung jedoch keine
praktikable Begriffsbestimmung für die vorliegende Untersuchung ableiten lässt, ist es zunächst
notwendig, die in den Quellen der untersuchten Zeitspanne beschriebenen Eigenschaften der
Temperafarben nach übereinstimmenden Merkmalen zu untersuchen.
Hierbei fällt zunächst auf, dass Temperafarben in der Staffeleimalerei offenbar ganz allgemein als
Gegensatz zu Ölfarben verstanden wurden, weil sie mit Wasser verdünnbar waren. Beispielsweise
hielt Albert Wirth 1897 fest: „Die Tempera-Malerei gehört in das Gebiet der Wasserfarbenmalerei, weil
die damit angemachten Farben mit Wasser verdünnt werden resp. in Wasser löslich sind im Gegensatz
zur Oelmalerei. [...] Die Temperafarben werden übrigens wie Oelfarben in Tuben gefüllt [...].“ 6
Otto Buss, ein Zürcher Farbenfabrikant, formulierte 1908 diesen Unterschied wie folgt: „Gegenüber
der Oeltechnik verwendet die Tempera Bindemittel, die mit Wasser mischbar sind.“ 7 Er präzisierte
ferner: „Unter der Bezeichnung Tempera werden heute alle die Maltechniken verstanden, bei denen
auf beliebigen, an der Bindung der Farben nicht teilnehmenden Grunde, in deckender und lasierender
Weise mit Farben, die mit wasserlöslichen oder mit Wasser mischbaren Bindemitteln gebunden sind,
gemalt wird.“ 8 Auch für Ernst Berger zeichneten sich 1904 die Tempera-BindemittelG generell durch
ihre Wasserverdünnbarkeit aus: „Mit modernem Ausdruck nennt man Tempera eine Malweise, bei der
Farbstoffe mit einem Bindemittel angerieben werden, das sich durch seine Mischbarkeit mit Wasser und
durch leichte Verdünnbarkeit auszeichnet [...].“ 9
Eine vergleichbare Unterscheidung der Begriffe lässt sich auch in weiteren, zeitgenössischen Quellen
nachvollziehen.10 Auch die in der untersuchten Zeitspanne kommerziell erhältlichen Tubenfar-
benprodukte, die von den Farbenfabrikanten als Temperafarben verkauft wurden, waren nach
36
heutigem Kenntnisstand mit nur einer Ausnahme wasserverdünnbar.11 Dies wurde in Tabelle 2.1 für
diejenigen Produkte aufgeschlüsselt, die von den in dieser Arbeit untersuchten Künstlern verwendet
wurden.12
Vereinzelt werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der maltechnischen Literatur auch Temperafar-
ben erwähnt, die nicht mit Wasser verdünnt wurden. Zwei Beispiele sind hierfür bekannt: Vielfach
verwendet wurde ein als „Temperafarbe“ bezeichnetes Produkt des Münchner Farbenherstellers
Richard Wurm, das nicht mit Wasser, sondern mit Öl beziehungsweise dem zugehörigen Malmittel
des Herstellers verdünnbar war (siehe Abschnitt 3.5.3).
Außerdem ließ sich der Münchner Maler Karl Lupus 1906 ein Bindemittelsystem patentieren,
das er selbst als „Öltempera“ bezeichnete und das er auf diese Weise von den herkömmlichen
Temperafarben abgrenzen wollte. Diese Farben zeichneten sich nach seinen Angaben im Patent
dadurch aus, dass sie „nicht mit Wasser mischbar sind und sich in dieser Hinsicht von den bekannten
Temperafarben charakteristisch unterscheiden.“ 13 Es konnten allerdings keine Hinweise gefunden
werden, ob Lupus dieses Bindemittelsystem tatsächlich auf den Markt brachte und ob es von
Künstlern verwendet wurde.
Diese beiden Fälle stellen die einzigen bisher bekannten Ausnahmen von der Regel der Wasserver-
dünnbarkeit dar.14 Trotz dieser Ausnahmen bleibt festzuhalten, dass in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle der Begriff Temperafarbe zur Beschreibung eines wasserverdünnbaren Bindemittelsystems
verwendet wurde. Dies machte auch Karl Lupus im Text seines Patents deutlich, indem er die von
ihm erfundenen „Öltempera“- Farben von den „bekannten Temperafarben“ 15 abgrenzte.
Der Begriff Temperafarbe bei Arnold Böcklin, Franz von Lenbach, Franz von Stuck und Was-
sily Kandinsky
Im Zentrum dieser Untersuchung stehen vier Künstler, die sich naturgemäß weniger für theoretische
Debatten und Probleme bei der Begriffsbestimmung interessierten, sondern für die Verarbeitungs-
eigenschaften der Malmaterialien und die Frage, wie sie sich diese für ihre künstlerischen Ziele
zunutze machen konnten. Die exakte Benennung war für sie zweitrangig und erfolgte häufig indivi-
duell und intuitiv, weswegen es lohnenswert erscheint, einen Blick auf ihre individuelle Terminologie
zu werfen.
Arnold Böcklin
Die Auswertung der Quellen ergab, dass bei Arnold Böcklin im Zusammenhang mit Temperafarben
stets von wasserverdünnbaren oder wassermischbaren Bindemittelsystemen die Rede ist.16 Auch
Ernst Berger hat dies bereits erkannt und ferner darauf hingewiesen, dass Böcklin als Synonym
11 Es handelt sich um die Temperafarbe des Münchner Farbenherstellers Richard Wurm (s.u.).
12 Zu dem Thema der kommerziell erhältlichen Tempera-Tubenfarben und ihrer Eigenschaften ist eine weiterführende,
gemeinsame Publikation der Autorin mit Eva Reinkowski-Häfner, Kathrin Kinseher, Albrecht Pohlmann und Simona Rinaldi
geplant, die in der Reihe KUNSTmaterial des Schweizer Instituts für Kunstwissenschaft voraussichtlich 2016 erscheinen
wird. Dort werden auch die weiteren, nach heutigem Kenntnisstand damals erhältlichen Produkte aufgeführt werden, deren
Behandlung im Rahmen dieser Einführung zu weit führen würde.
13 Lupus 1907, 1909.
14 Reinkowski-Häfner (2012, S. 28; S. 36) nennt als weitere ölverdünnbare Temperafarbe eine sogenannte „Rubenstempera“
von Franz Gundermann, die Doerner (1938, S. 176) rückblickend erwähnte. Allerdings war ein Produkt mit dem Namen
„Rubenstempera“ nach dem Kenntnisstand der Autorin vor 1914 nicht auf dem Markt (siehe Tabelle 2.1): Gundermann hatte
zum einen eine „Rubensfarbe“ – wohl eine sowohl öl- als auch wasserverdünnbare Malfarbe unbekannter Zusammensetzung –
im Programm, die er jedoch nicht als Temperafarbe bezeichnete. Gundermanns „Farbe I“, die Ernst Berger als „Wassertempera“
beschrieb, war wasserverdünnbar (Berger 1907b, S. 59) (siehe Abschnitt 3.5.3).
15 Lupus 1907.
16 Vgl. die verschiedenen, in Kapitel 3 genannten Tempera-BindemittelG Böcklins und Berger 1906a, S. 53–58.
37
für Temperafarbe auch den Begriff Leimfarbe verwendete, was durch Schicks Tagebuchaufzeich-
nungen17 aus den 1860er Jahren belegt ist.18 Der Begriff Leimfarbe stammt aus dem Kontext der
Dekorationsmalerei und wird im 19. Jahrhundert vorwiegend auch in diesem Zusammenhang
verwendet.19 Wie bereits Fontana feststellte, ist eine eindeutige Abgrenzung zwischen den beiden
Begriffen im 19. Jahrhundert nicht möglich.20 Wahrscheinlich übernahm Böcklin diesen Begriff
im Zuge seiner Übertragung von Techniken und Malmaterialien aus der Dekorationsmalerei in die
Staffeleimalerei (siehe Abschnitt 3.2.1). Auch der Begriff Wasserfarbe wurde von Böcklin offen-
sichtlich synonym verwendet.21 Dies deckt sich mit dem deutschen Sprachgebrauch, in dem nach
Reinkowski-Häfner die Begriffe Temperafarbe und Wasserfarbe22 bereits im 18. Jahrhundert als
Überbegriffe für wasserverdünnbare Farben gebraucht wurden.23 Wie bereits Ernst Berger feststellte,
war eine weitere Malfarbe, die Böcklin aufgrund ihrer Wasserverdünnbarkeit ebenfalls zu den
Temperafarben zählte, seine sogenannte „Harzfarbe“ 24 , die er wahlweise sowohl als „Leimfarbe“ 25
als auch als „Temperafarbe“ 26 bezeichnete. Dieser Begriff beschreibt in Böcklins individueller mal-
technischer Terminologie seine Malerei mit Bindemittelsystemen, die aus wässrigen Weihrauch- und
Sandarak-Suspensionen bestanden (siehe Abschnitt 3.3.1).
38
den Begriff Temperafarbe verwendete. Anscheinend verstand aber auch er Temperafarben in erster
Linie als Gegensatz zu Ölfarben, wie aus einer von Alexej von Jawlensky überlieferten Äußerung
Stucks hervorgeht: „Ich fürchte, ich fürchte, es ist einfach ein Grauen mit dieser Tempera, und ich weiss,
dass man mit Öl etwas in dieser Art nicht malen kann, und es ist so schwierig, dass ich, Sie sehen es, die
Ölpalette nehme.“ 31 Stuck benutzte nach heutigem Kenntnisstand keine selbst angeriebenen Farben,
sondern griff ausschließlich auf gewerblich hergestellte Tempera-Tubenfarbenprodukte zurück.
Darunter waren wasserverdünnbare Tubenfarben wie die „Syntonosfarben“ Wilhelm Beckmanns
sowie die Gundermann’schen und die Pereira’schen Produkte, jedoch auch die ölverdünnbare
„Temperafarbe“ des Münchner Farbenherstellers Richard Wurm (siehe Tabelle 2.1).
Wassily Kandinsky
Aufschluss über Wassily Kandinskys Verständnis von Temperafarben in seiner frühen Münchner
Periode gibt ein Artikel von 1899, in dem er über die damalige Secessionsausstellung berichtet.32
Er bezeichnet Temperafarben dort als „Farben, die nicht mit Öl, sondern mit verschiedenen anderen
Bindemitteln verrieben werden, die so genannte Tempera.“33
Folglich stellten wohl auch für Kandinsky Temperafarben und Ölfarben zwei grundsätzlich verschie-
denen Kategorien von Malfarben dar. Kandinsky verwendete sowohl selbst hergestellte als auch
gewerblich vertriebene Temperafarben. Bei den kommerziellen Tempera-Produkten handelte es
sich ausschließlich um wasserverdünnbare Malfarben (siehe Tabelle 2.1). In einem Notizbuch aus
dem Jahr 1900, das sich in Kandinskys Nachlass befindet, sind zudem verschiedene Bindemittelre-
zepte aufgelistet, die wahrscheinlich in gemeinsamen Versuchen durch Wassily Kandinsky, Dmitrij
Kardovskij und Nikolaj Zeddler erprobt wurden.34 Die dort als „Tempera“ bezeichneten Rezepte
zeichnen sich generell durch ihre Wasserverdünnbarkeit und das Vorhandensein wässriger und nicht-
wässriger Komponenten aus.35 Sie enthalten keine trocknenden Öle, sondern Harze, Balsame und
Wachse als nicht-wässrige Bindemittelkomponenten. Nur ein Rezept, das als „Öltempera“ bezeichnet
wird, enthält auch trocknende Öle (siehe Abschnitt 3.5.5). Folglich war der Begriff „Öltempera“ in
dieser Zeit bei Kandinsky vermutlich Tempera-Bindemittelsystemen vorbehalten, die trocknende
Öle enthielten. Das genannte Rezept ergibt jedoch wie die anderen Tempera-Rezepte auch eine
wasserverdünnbare O/W-Emulsion und ist folglich nicht mit der oben genannten „Öltempera“ von
Karl Lupus zu verwechseln. 1904 verwendete Kandinsky in seinen Notizen außerdem den Begriff
„Leim-Tempera“ (siehe Abschnitt 3.5.6). Bei „Leim-Tempera“-Farben handelte es sich offensichtlich
um proteinhaltige Malfarben, denn er fixierte sie mit einer Formaldehyd-Lösung. Um welches
Bindemittelsystem es sich dabei aber genau handelte, geht aus dem Zusammenhang nicht hervor.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich das Verständnis des Begriffs Temperafarbe bei
den untersuchten Künstlern aufgrund der Quellenlage unterschiedlich genau nachvollziehen lässt.
Abseits theoretischer maltechnischer Debatten wurde der Begriff Temperafarbe aber offensichtlich
in der künstlerischen Praxis in den allermeisten Fällen als Überbegriff für wasserverdünnbare
Malfarben benutzt, wohl um sie deutlich von ölverdünnbaren Ölfarben abzugrenzen.
31 Alexej von Jawlensky an Unbekannt aus dem Jahr 1899, zit. n. Lauckaite-Surgailiene 2009, S. 200.
32 Wassily Kandinsky: „Secession“, auf Russisch veröffentlicht in „Nachrichten vom Tag“, Moskau, 19.11.1899, dt. Überset-
zung zit. n. Friedel 2007, S. 208–212.
33 Wassily Kandinsky: „Secession“, auf Russisch veröffentlicht in „Nachrichten vom Tag“, Moskau, 19.11.1899, dt. Überset-
zung zit. n. Friedel 2007, S. 209.
34 Wackernagel 1997, S. 115 f.
35 Wackernagel 1997, S. 116 ff.
39
Tabelle 2.1: Auflistung von Tempera-Tubenfarben und zugehörigen Malmitteln mit Angaben zur Ver-
dünnbarkeit. Die Liste umfasst diejenigen Produkte, die von den untersuchten Künstlern verwendet
wurden.
a Berberich 2014.
b Pereira 1890.
c A. v. Pereira-Arnstein 1909, S. 33.
d Die Werkstatt der Kunst 1906.
e Berger 1907b, S. 59.
f L454, FKP.
g Beckmann 1894, eigene Verdünnungsversuche des rekonstruierten Bindemittelsystems.
h Nur mit Feigenmilch.
i Schölermann 1907, S. 50.
j Münchner kunsttechnische Blätter 1907, S. 25.
k L445, FKP.
l Dagron 1998.
Bisher wurde untersucht, was Künstler und Maltechniker im Untersuchungszeitraum unter Tem-
perafarben verstanden beziehungsweise wie sie die Eigenschaften der flüssigen Temperafarben
40
charakterisierten. Wie im Folgenden gezeigt wird, konnten maltechnische Begriffe aber sowohl
von den Künstlern als auch von zeitgenössischen Kunstkritikern in einem weiteren Sinn verwendet
werden: Gemälde wurden anhand visueller Merkmale in maltechnische Kategorien wie Tempe-
ragemälde oder Ölgemälde eingeordnet, ohne dass dies zwangsläufig einen Rückschluss auf die
tatsächlich verwendeten Malfarben erlaubt. Dies spricht in selten expliziter Art und Weise der
Kunstkritiker Fabricius 1894 an: „Stucks in neuer Wasserfarbentechnik ausgeführte Arbeiten gelten
ja doch auch hier [in der Frühjahrsausstellung der Münchner Secession] für Oelgemälde, weil sie
wie Oelmalereien aussehen. Diese etwas veraltete Eintheilung machen übrigens alle Ausstellungen der
Welt.“ 36
Dieses Zitat zeigt, dass bereits damals Gemälde auf Ausstellungen anhand visueller Merkmale
als „Oelgemälde“ kategorisiert wurden, obwohl sie nicht mit Ölfarben, sondern mit Wasserfarben
ausgeführt worden waren. Für die Interpretation der Quellen bedeutet dies zum einen, dass sich
anhand maltechnischer Begriffe nicht immer auf die tatsächliche Materialität und die verwendeten
Malfarben rückschließen lässt. Zum anderen ist bei der Auswertung der Quellen zu beachten, dass
vergleichbare Kategorisierungen anhand visueller Merkmale nicht nur von Dritten auf Ausstellungen,
sondern auch von den Künstlern selbst eingesetzt wurden. Beispielsweise schrieb Kandinsky 1937
in einem Brief, „daß er nunmehr ,645 Ölgemälde’ und ,584 Aquarelle’ katalogisiert habe, es sich dabei
aber um eine von ihm so festgelegte Einteilung handele, weil er bei Ölbildern oft auch andere Malmittel
verwende, d.h. Tempera, Wasserfarben, Gouache, Tusche und dasselbe gälte auch für seine Aquarelle.“ 37
Ohne Kandinskys explizite Erläuterung seiner Terminologie wäre man zunächst versucht, die beiden
genannten Kategorien in seinem Werkkatalog – „Ölgemälde“ und „Aquarelle“ – als tatsächliche
Materialangaben zu werten und sie entsprechend als zwei Werkgruppen zu verstehen, die mit
(wasserverdünnbarer) Aquarellfarbe oder (ölverdünnbarer) Ölfarbe ausgeführt wurden. Aus dem
Kontext ergibt sich jedoch, dass der Begriff „Ölgemälde“ bei Kandinsky nicht als Malerei mit Ölfarben
zu verstehen ist, sondern als übergeordnete Werkkategorie. Dies verdeutlicht eine weitere Aussage
Kandinskys aus den 1930er Jahren: „Was ich ,Aquarell’ nenne, heißt nicht, dass es tatsächlich ,Aquarell’
ist, weil ich verschiedene Techniken vermische: zum Beispiel sind mehrere ,Aquarelle’ ausschließlich in
Öl oder in Gouache gemalt oder in Tempera oder mit selbstgebrauten Farben, oder ich habe gleichzeitig
mehrere Techniken auf demselben Blatt angewandt. (Genauso ist, was ich ,Öl’ nenne, nicht immer in Öl
gemalt, sondern mithilfe derselben Mischungen.)“ 38
Natürlich klammert Kandinskys Einteilung die Materialität – wie beispielsweise die des Bildträgers
(„Blatt“) – nicht vollständig aus. Die Einteilung seiner Werke in diese Kategorien erfolgt aber
weniger über die Materialität der Malfarbe, sondern vielmehr über einen Gesamteindruck des
Kunstwerkes, der auch den Bildträger mit einschließt: „Aquarelle“ sind Arbeiten auf Papier, während
„Ölgemälde“ wohl im weitesten Sinn als Staffeleigemälde auf Leinwand oder starren Bildträgern
wie Holz oder Karton zu verstehen sind. Entsprechend hält Barnett fest, dass für Kandinsky die
Bildträger ein wichtiges Kriterium zur Einteilung seiner frühen Werke in Kategorien waren.39 Eine
verlässliche Angabe über die tatsächlich verwendeten, frischen Malfarben ist jedoch weder in
Kandinskys Werkkategorie „Aquarell“ noch „Ölgemälde“ enthalten. Diese Beispiele stammen aus
den 1930er Jahren – im Rahmen dieser Arbeit wird zu überprüfen sein, inwiefern dies auch für
Kandinskys Frühwerk gilt, beispielsweise für seine Werkkategorie der „Kleinen Ölstudien“ (siehe
Abschnitt 3.5.6).
Es versteht sich von selbst, dass die wenigsten Künstler, Kunstkritiker oder sonstige Zeitgenossen
36 Fabricius 1894, S. 2 f.
37 Wassily Kandinsky an Hans Thiemann, 8. Dezember 1937. Zit. n. Roethel und Benjamin 1982, S. 24.
38 Wassily Kandinsky an J. B. Neumann, 2. Oktober 1935. Zit. n. Hahl-Koch 1993, S. 94.
39 Barnett 1994, S. 49.
41
in der untersuchten Zeitspanne in solch expliziter Art und Weise eine Anleitung liefern, wie ihre
Angaben zur Maltechnik eines einzelnen Gemäldes oder einer ganzen Werkgruppe zu verstehen
sind. Es gilt deshalb, in den Quellen die selbst „festgelegte Einteilung“ 40 der jeweiligen Künstler und
anderer Zeitgenossen zwischen den Zeilen herauszulesen und zu interpretieren.
Wie bereits anhand der historischen Beispiele deutlich wurde, können maltechnische Begriffe
wie Tempera, Ölgemälde oder Aquarell abhängig vom Kontext, in dem sie verwendet werden,
nicht nur die Materialität eines Werkes beschreiben, sondern auch für eine augenscheinliche
Kategorisierung von Malerei auf der Basis typischer visueller Merkmale genutzt werden. Auch
bei den Untersuchungen der Maltechnik werden solche visuellen Merkmale zur Unterscheidung
von Tempera- und Ölfarben herangezogen. Einige sind beispielhaft in Tabelle 2.2 aufgeführt.
Diese Einordnungen basieren häufig auf individuellen Seherfahrungen. Ihnen liegt die Annahme
zugrunde, dass sich Temperafarben und Ölfarben in ihren Eigenschaften und folglich in ihrem
visuellen Erscheinungsbild so stark unterscheiden, dass sich auch an der getrockneten Malfarbe
noch ablesen lässt, ob die Malerei ursprünglich mit Temperafarben oder mit Ölfarben ausgeführt
wurde.
Allerdings deutet bereits die obige Aussage von Fabricius darauf hin, dass solche visuellen Merkmale
für die untersuchte Zeitspanne grundsätzlich in Frage gestellt werden müssen: Die Wasserfarben,
die Stuck damals verwendete – die sogenannten „Syntonosfarben“ – waren mit dem Ziel erfunden
worden, Ölfarbenwirkungen zu imitieren. Entsprechend beschreibt ihr Erfinder Wilhelm Beckmann
seine Farben im Patent als „spachtelbar“ und vom Aussehen den Ölfarben zum Verwechseln ähnlich.41
Dies wird bei den Untersuchungen der Maltechnik insofern zu berücksichtigen sein, dass etablierte
visuelle Unterscheidungskriterien von Tempera- und ÖlmalereiG für den Untersuchungszeitraum
auf den Prüfstand gestellt werden müssen. In diesem Zusammenhang ist es äußerst wichtig,
augenscheinliche Aussagen zur Maltechnik stets sprachlich deutlich zu kennzeichnen. Für die
Beschreibung einer Malerei anhand visueller Merkmale im Sinn von Tabelle 2.2 werden deshalb die
Begriffe Tempera-ansichtigG und ölansichtigG eingeführt. Am Ende dieser Arbeit wird zu überprüfen
sein, ob diese Merkmale auf die Temperamalerei zwischen 1850 und 1914 anwendbar sind.
40 Wassily Kandinsky an Hans Thiemann, 8. Dezember 1937. Zit. n. Roethel und Benjamin 1982, S. 24.
41 Beckmann 1894 (siehe Abschnitt 3.5.3).
42
2.3 Materielle und chemisch-physikalische Betrachtungen zur
Temperamalerei
Die Auswertung der Quellen ergab, dass Temperafarben sich durch ihre Wasserverdünnbarkeit, Ölfar-
ben sich hingegen durch ihre Ölverdünnbarkeit auszeichnen. Wie im folgenden Abschnitt erläutert
wird, bilden abgesehen von diesem Unterschied weder die Temperafarben noch die Ölfarben zwi-
schen 1850 und 1914 einheitliche und klar voneinander abzugrenzende Materialgruppen. Vielmehr
können so unterschiedliche Stoffgruppen wie Proteine, Polysaccharide, trocknende Öle und Harze
sowohl wasserverdünnbare Tempera- als auch ölverdünnbare Ölfarben bilden. Um in die komplexe
Thematik der Materialität einzuführen, wird es zunächst Ziel des folgenden Abschnitts sein, die für
die damalige Maltechnik relevanten Stoffgruppen und Materialien sowie ihre Löslichkeit in Wasser
oder Öl vorzustellen. Im Anschluss werden dann die chemisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten
erläutert, denen Mischungen dieser Materialien in flüssigen Bindemittelsystemen unterliegen. Aus
der Betrachtung von Bindemittelsystemen als kolloide Systeme ergibt sich schließlich ein neuer
Interpretationsansatz für die Auswertung von Bindemittelanalysen, der abschließend vorgestellt
wird.
Seifen
Einen Sonderfall im Hinblick auf ihre Verdünnbarkeit bilden die Seifen. Seifen werden durch die
Reaktion ursprünglich nicht wasserlöslicher Ausgangsmaterialien wie Ölen und Wachsen mit Basen
hergestellt. Sie besitzen sowohl lipophile als auch hydrophile Molekülteile und weisen deshalb
sowohl zu Wasser als auch zu unpolaren Lösungsmitteln wie Terpentinöl eine Affinität auf. Sie
gehören deswegen zu den grenzflächenaktiven Stoffen.43 Man unterscheidet monovalente und
polyvalente Seifen, je nachdem ob die enthaltenen Metallionen einwertig44 oder mehrwertig45
42 Zu diesen gehört beispielsweise Schellack, der jedoch im Zusammenhang mit Tempera-Bindemitteln eine geringe
Rolle spielt. Alkohollösliche Materialien wurden im Untersuchungszeitraum eher für Firnisse und nicht als BindemittelG für
Malfarben verwendet.
43 Mollet und Grubenmann 2000, S. 10.
44 Beispielsweise Natrium- oder Kalium-Ionen.
45 Beispielsweise Magnesium-Ionen.
43
sind.46 Monovalente Seifen weisen dabei vorwiegend hydrophile Eigenschaften auf, während
polyvalente Seifen vorwiegend lipophile Eigenschaften haben.47
Während monovalente Seifen in der zeitgenössischen maltechnischen Literatur als HilfsstoffeG für
Temperafarben häufig erwähnt werden, ist dies bei polyvalenten Seifen nicht der Fall. Bei den damals
gebräuchlichen monovalenten Seifen handelt sich in der Regel um Natrium- und Kaliumseifen,
die aus einer Verseifung von Ölen oder Fetten mithilfe von Natron- und Kalilauge entstanden.48
Sie wurden im 19. Jahrhundert nach ihrer Konsistenz in harte und weiche Seifen unterschieden:
Während Natriumseifen hart sind (sogenannte Kernseifen), bilden die mit Kalilauge hergestellten
Seifen weiche Seifen oder Schmierseifen, die auch freigewordenes Glyzerin enthalten und die stets
weich, schmierig und hygroskopisch bleiben.49
Mit Ausnahme der Seifen sind die oben aufgeführten Materialien also ohne weitere Modifikationen
entweder nur in Wasser oder nur in Öl löslich. Die einzelnen wasserlöslichen Materialien sind
folglich in gelöster Form als Bindemittel für Temperafarben, die öllöslichen als Bindemittel für
Ölfarben zu gebrauchen. Bindemittelsysteme bestanden jedoch in den seltensten Fällen aus nur
einer Bindemittelkomponente, sondern waren häufig Mischungen verschiedener wasserlöslicher
und öllöslicher Materialien. Ob aus einer solchen Mischung ein wasserverdünnbares oder ein
ölverdünnbares Bindemittelsystem entsteht, ist von chemisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten
abhängig, die im folgenden Abschnitt kurz umrissen werden sollen.
44
kolloiden Systeme gibt Tabelle 2.3.56 Die charakteristischen Eigenschaften der dispersen Systeme
– Emulsionen und Suspensionen – sollen im folgenden Abschnitt erläutert werden. Die Zusam-
menhänge zwischen den chemisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten und der Verdünnbarkeit der
Bindemittelsysteme werden mithilfe exemplarischer Bindemittelmischungen aus Eigelb und Leinöl
veranschaulicht.57 Im Anschluss wird die Relevanz dieser Überlegungen für die Interpretation der
Bindemittelanalysen erläutert.
Tabelle 2.3: Typische kolloide Systeme nach Mollet und Grubenmann (2000, S. 6). Die Tabelle
wurde in Hinblick auf die hier behandelte Thematik abgewandelt.
Disperse Systeme
Disperse Systeme bestehen stets aus zwei Phasen, die nicht miteinander mischbar sind.58 Eine
innere, disperse Phase ist dabei von einer äußeren, kontinuierlichen Phase umschlossen.59 Die beiden
Phasen können entweder in demselben oder in unterschiedlichen Aggregatzuständen vorliegen
(siehe Tabelle 2.3). Die für die Maltechnik relevanten dispersen Bindemittelsysteme lassen sich nach
den Aggregatzuständen der Phasen in Emulsionen (flüssig in flüssig) und Suspensionen (fest in
flüssig) unterscheiden.
Emulsionen (flüssig/flüssig)
Emulsionen sind disperse Verteilungen von Flüssigkeitströpfchen in einer unmischbaren Flüssigkeit
als Dispersionsmedium.60 Eine der Phasen ist meist wässrig, die andere eine mit Wasser nicht misch-
bare organische Flüssigkeit.61 Es lassen sich generell zwei Formen von Emulsionen unterscheiden:
Öl-in-Wasser- und Wasser-in-Öl-Emulsionen. Bei Öl-in-Wasser-Emulsionen (O/W) sind Öltröpfchen
von einer wässrigen Phase umgeben.62 Die wässrige Phase bildet hierbei die kontinuierliche, die
Öltröpfchen die disperse Phase. Bei Wasser-in-Öl-Emulsionen (W/O) ist es dementsprechend um-
gekehrt: Die wässrige Phase bildet hier die disperse, die ölige Phase hingegen die kontinuierliche
Phase. Für ihre Verwendung als Bindemittelsystem ist von entscheidender Bedeutung, dass Emul-
56 Nicht nur die Bindemittelsysteme allein, sondern auch die Pigmente weisen aufgrund ihrer Partikelgröße in einer
frischen Malfarbe fast immer kolloide Eigenschaften auf.Auch bei einer Malfarbe handelt es sich folglich in der Regel um
komplexe, mehrphasige, kolloide Systeme (Dietemann, Neugebauer, Lutz u. a. 2014, S. 29).
57 Die detaillierte Beschreibung des Versuchsaufbaus findet sich im Anhang dieser Untersuchung (siehe Anhang B.1).
58 Mollet und Grubenmann 2000, S. 5.
59 Mollet und Grubenmann 2000, S. 5.
60 Lagaly u. a. 1997, S. 233.
61 Lagaly u. a. 1997, S. 233.
62 Lagaly u. a. 1997, S. 233.
45
sionen sich unbegrenzt nur über ihre kontinuierliche Phase verdünnen lassen: O/W-Emulsionen
sind unbegrenzt wasserverdünnbar, während W/O-Emulsionen unbegrenzt ölverdünnbar sind. Die
disperse Phase hingegen setzt sich bei der Zugabe zur Emulsion zunächst als eigene Phase ab und
muss mechanisch eingearbeitet, d.h. emulgiert werden. Die Aufnahmefähigkeit der Emulsionen
für diese disperse Phase ist begrenzt und von der Verfügbarkeit grenzflächenstabilisierender Stoffe,
der sogenannten Emulgatoren, abhängig. Es stellt sich also die Frage, welche Gesetzmäßigkeiten
bestimmen, ob sich aus der Mischung einer öligen und einer wässrigen Phase eine O/W- oder eine
W/O-Emulsion bildet. Nach Hermann Kühn sind unter Tempera-Bindemittelsystemen „mannigfaltige
Arten von Emulsionen“ zu verstehen, „die eine Mischungsreihe zwischen den Grenzfällen des wäßrigen
und des nicht-wäßrigen Bindemittels bilden. Gleichsam in der Mitte dieser Mischungsreihe liegt der
Umkehrpunkt, bei dem Wasser-in-Öl-Emulsionen in Öl-in-Wasser-Emulsionen übergehen.“63 Kühn ging
also davon aus, dass die Mengenverhältnisse der Bindemittelkomponenten den Emulsionstyp bestim-
men. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist diese Betrachtungsweise jedoch unzutreffend, weil sie die
überaus wichtige Rolle der Emulgatoren für die Bildung der beiden Emulsionstypen vernachlässigt.
63 Kühn 1974.
64 Lagaly u. a. 1997, S. 235.
65 Lagaly u. a. 1997, S. 236.
66 Lagaly u. a. 1997, S. 237; vgl. Dietemann, Neugebauer, Lutz u. a. 2014.
67 Lagaly u. a. 1997, S. 237; Mollet und Grubenmann 2000, S. 62. Weitere Faktoren neben der Löslichkeit des Emulgators,
die die Art der gebildeten Emulsion bestimmen, sind außerdem die Reihenfolge der Zugabe der Phasen, die Temperatur
sowie die Zugabe weiterer Elektrolyte und Additive (Beeinflussung des pH-Wertes) (Mollet und Grubenmann 2000, S. 86 ff.).
68 Engl.: Rule of Bancroft.
69 Lagaly u. a. 1997, S. 237.
70 Mollet und Grubenmann 2000, S. 66.
71 Mollet und Grubenmann 2000, S. 68.
72 Mollet und Grubenmann 2000, S. 62; S. 66 f.
46
genommen – wie beispielsweise Lecithin – theoretisch auch W/O-Emulsionen stabilisieren können.73
In einer durch Luise Lutz durchgeführten Versuchsreihe gelang es denn auch nicht, aus den
Ausgangsmaterialien Eigelb und Öl eine stabile W/O-Emulsion herzustellen. Stattdessen entstanden
stets nur O/W-Emulsionen.74 Sowohl das frische Vollei als auch das frische Eigelb können in etwa ihr
Eigengewicht an Öl emulgieren.75 Bei einem Gewichtsverhältnis von 1:1 enthält eine O/W-Emulsion
aus Eigelb und Öl dann die in Tabelle 2.4 ablesbaren Mengenverhältnisse von Proteinen zu Lipiden.
Im getrockneten Zustand kann eine solche O/W-Emulsion also zu circa 90% aus Öl bestehen.
Bei einem zunehmenden Ölanteil wird die Packung der Öltröpfchen in der kontinuierlichen Was-
serphase immer dichter, wie sich am Beispiel zweier Emulsionen aus Eigelb und Leinöl in Abb. 2.1
und Abb. 2.2 ablesen lässt. Die Grenzflächen zwischen den beiden Phasen werden jedoch weiterhin
durch die Emulgatoren im Eigelb stabilisiert, so dass die kontinuierliche Phase weiterhin wässrig
ist und die Emulsion trotz des hohen Ölgehalts wasserverdünnbar bleibt. Je mehr Öltröpfchen in
einer solchen Emulsion enthalten sind, desto zähflüssiger wird ihre Konsistenz. Eine Malfarbe, in
der diese Packung weniger dicht ist, ist hingegen dünnflüssiger (vgl. Abb. 2.5 und 2.6).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die kolloide Betrachtungsweise der Emulsionen ein
Erklärungsmodell dafür bietet, warum nicht – wie beispielsweise durch Kühn angenommen – das
Mengenverhältnis der Phasen, sondern die Stabilisierung der Grenzflächen durch Emulgatoren den
entstehenden Emulsionstyp entscheidend beeinflusst. Auf dieser Basis ist es folglich notwendig,
die bisherige Auswertung von Analyseergebnissen zu revidieren: Ein überwiegender Anteil von
Öl in einer Probe kann nicht länger als Anhaltspunkt gewertet werden, dass es sich ursprünglich
um eine kontinuierliche Ölphase und somit um eine Ölfarbe gehandelt hat. Vielmehr können auch
Proben, in denen sehr geringe Anteile wässriger Bindemittelkomponenten nachgewiesen werden,
ursprünglich wasserverdünnbar und somit Temperafarben gewesen sein. Es bleibt nach diesen
Ausführungen jedoch noch die Frage offen, ob sich mit den damals üblichen Materialien überhaupt
W/O-Emulsionen herstellen ließen beziehungsweise ob solche Bindemittelsysteme in den Quellen
beschrieben werden.
Tabelle 2.4: Mengenverhältnisse von Lipiden und Proteinen in einer O/W-Emulsion aus Eigelb und
Öl im Mischungsverhältnis 1:1 (Gewichtsanteile)*
* Die Informationen für diese Tabelle wurden entnommen aus Dietemann, Neugebauer, Lutz u. a. 2014, S. 36
47
Abbildung 2.1: Dickflüssige O/W-Emulsion aus Abbildung 2.2: Dünnflüssige O/W-Emulsion
Eigelb und Leinöl mit Ultramarin (Durchlicht): aus Eigelb und Leinöl mit im Durchlicht dun-
Die Öltröpfchen sind dicht gepackt. kel erscheinenden Bleiweißpartikeln: Die Ab-
stände zwischen den Öltröpfchen sind deutlich
größer als in Abb. 2.1.
Abbildung 2.3: Ders. Ausschnitt wie Abb. 2.1 Abbildung 2.4: Ders. Ausschnitt wie Abb. 2.2
im UV-Filter 09: Die Proteine fluoreszieren im UV-Filter 09: Die Proteine fluoreszieren
orangefarben, die Öltröpfchen sind grün an- orangefarben, die Öltröpfchen sind grün an-
gefärbt. gefärbt. Die großen Abstände zwischen den
Öltröpfchen sind gut sichtbar.
48
Abbildung 2.5: Aufstrich der dickflüssigen Abbildung 2.6: Aufstrich der dünnflüssigen
O/W-Emulsion mit Ultramarin (dieselbe Far- O/W-Emulsion mit Bleiweiß (dieselbe Farbe
be wie in Abb. 2.1 und 2.3) wie in Abb. 2.2 und 2.4)
Proteine als auch Polysaccharide zu den makromolekularen Emulgatoren gehören, die bevorzugt
O/W-Emulsionen stabilisieren.79 Eine mögliche, alternative Erklärung würde die Betrachtung eines
solchen Bindemittelsystems als Suspension bieten.80
Suspensionen (fest/flüssig)
Bei Suspensionen handelt es sich nicht wie bei Emulsionen um stabile Mischungen zweier an sich
unmischbarer Flüssigkeiten, sondern um feine Verteilungen von Feststoffen in einer Flüssigkeit81 ,
wozu naturgemäß Malfarben, aber auch Bindemittelsysteme gehören können. Wie im Folgenden
deutlich wird, sind dabei diverse Variationen von Bindemittel-Suspensionen denkbar und herstellbar,
die anhand exemplarischer Bindemittelmischungen aus Eigelb und Leinöl vorgestellt werden.
49
starken Veränderung der Konsistenz die Eigelb-Einschlüsse relativ weit voneinander entfernt waren
(Abb. 2.11, 2.12). Folglich muss dies nicht auf eine sich bildende Emulsion zurückzuführen sein.
Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen wäre, dass das im Eigelb enthaltene Wasser sich
an benachbarte Pigmentoberflächen bindet und so Anziehungskräfte zwischen diesen entstehen
könnten, die im Effekt die Malfarbe zähflüssiger machen.82 Entsprechend führte auch die Zuga-
be von Wasser zu derselben Ölfarbe zu einer starken und umgehenden Zunahme der Viskosität
(Abb. 2.8). Folglich würde es sich bei einer Ölfarbe mit Ei nicht – wie Doerner annahm – um eine
W/O–Emulsion, sondern um eine Suspension gelierter Ei-Proteine in einer kontinuierlichen Ölphase
handeln.83
50
Abbildung 2.7: Ultramarin-Ölfarbe mit Eigelb Abbildung 2.8: Ultramarin- Ölfarbe mit Was-
(oberer Bildrand: flüssigere Konsistenz ohne ser (rechts oben: flüssigere Konsistenz ohne
Eigelb) Wasser)
Abbildung 2.9: Aufstrich der relativ dünnflüs- Abbildung 2.10: Aufstrich derselben
sigen Ultramarin-Ölfarbe mit dem Pinsel. Ultramarin-Ölfarbe wie in Abb. 2.9, der
mit dem Pinsel etwas Eigelb zugegeben
wurde: Die Malfarbe wurde infolgedessen
so zähflüssig, dass sie mit dem Spachtel
aufgetragen werden musste.
51
Abbildung 2.13: Getrocknete Bleiweiß- Abbildung 2.14: Pulverisierte, getrocknete
Temperafarbe Bleiweiß-Temperafarbe mit Leinöl vor dem An-
reiben
Abbildung 2.15: Bleiweißpartikel ohne Binde- Abbildung 2.16: Das pulverisierte, gecoatete
mittel: Die Partikel sind sehr feinteilig (Filter Bleiweiß bildet im Vergleich zum unbehandel-
D, vgl. Abb. 2.17). ten Pigment Agglomerate (Filter D, vgl. Abb.
2.18).
Abbildung 2.17: Bleiweißpartikel ohne Binde- Abbildung 2.18: Das pulverisierte, gecoate-
mittel zeigen keine orangefarbene Fluoreszenz te Bleiweiß fluoresziert orangefarben (Filter
(Filter UV09, ders. Ausschnitt wie Abb. 2.15). UV09, ders. Ausschnitt wie Abb. 2.16).
52
Abbildung 2.19: Pulverisierte, getrocknete Abbildung 2.20: Pulverisierte, getrocknete
Bleiweiß-Temperafarbe während des Anrei- Bleiweiß-Temperafarbe nach dem Anreiben
bens mit Leinöl mit Leinöl
Abbildung 2.21: Farbe aus Abb. 2.20 bei mi- Abbildung 2.22: Farbe aus Abb. 2.20 bei mi-
kroskopischer Betrachtung nach Verdünnung kroskopischer Betrachtung nach Verdünnung
mit Terpentinöl (Filter D): Transparent erschei- mit Terpentinöl (Filter UV09): Orangefarben
nende Proteinagglomerate sind sichtbar (vgl. fluoreszierende Proteinagglomerate sind in der
Abb. 2.22). kontinuierlichen Ölphase sichtbar (Ders. Aus-
schnitt wie Abb. 2.21).
Abbildung 2.23: Aufstrich der eingetrockneten Abbildung 2.24: Farbe aus Abb. 2.20 bei der
und mit Leinöl angeriebenen Temperafarbe Verdünnung mit Terpentinöl
53
Eiweiß und 40 g Mohnöl werden auf der Farbenreibplatte mit dem Spachtel innig vermischt und die
Mischung auf der Platte unter beständigem Umspachteln einer Wärme von ca. 90 °C ausgesetzt [!],
bis das Gesamtgewicht auf etwa 55 g zurückgegangen ist. Der Rückstand wird nun noch mit dem
Läufer innig durchgerieben und kann nun als Farbenbindemittel oder mit einer Lösung von Mastix in
Terpentinöl gemischt als Malmittel Verwendung finden.“ 86
Betrachtet man die Mengenverhältnisse der Materialien vor und nach dem Verreiben auf der erwärm-
ten Platte, wird deutlich, dass sie so lange miteinander verrieben wurden, bis der ursprüngliche
Wasseranteil des Eigelbs beziehungsweise des Eiweißes vollständig verdunstet ist: Im Fall des Eigelbs
beträgt des Wassergehalt 50% (also 50 „Gewichtsteile“ in der ursprünglichen Mischung), in dem
des Eiweißes circa 87% (also circa 87 g in der ursprünglichen Mischung). Die Gewichtsdifferenz
zwischen Ausgangs- und Endgewicht der Mischungen ist im Fall von Eigelb und Mohnöl zwischen
45–50 Gewichtsteilen, im Fall der Eiweiß-Öl-Mischung mit 85 g angegeben, was jeweils relativ
genau dem Wassergehalt entspricht. Infolge des Wasserentzugs geliert das Eigelb und kann seine
grenzflächenstabilisierende Wirkung innerhalb der O/W-Emulsion nicht länger aufrecht erhalten.
Die Emulsion kollabiert und es kommt zu einer Phasenumkehr, bei der das Öl nicht länger die
disperse, sondern die kontinuierliche Phase bildet, in die das gelierte Eigelb eingeschlossen ist.87
Folglich ist dieses Bindemittelsystem ölverdünnbar. Lupus nennt als Vorteile seiner Erfindung zum
einen die einer Temperafarbe aus Eigelb mit Ölzusatz ähnlich gute Traktabilität, zum anderen
den Vorzug gegenüber der üblichen, wasserverdünnbaren Temperafarben, dass sich die Farben
beim Firnissen nicht verändern und sich in der Tube weit besser konservieren würden. Aus dem
Patent gehen dann aber auch schon die Nachteile eines solchen Bindemittelsystems hervor: „Die
getrockneten Farbmittel erfordern alle beträchtlich mehr von diesem Bindemittel als von reinem Öl.“ 88
Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass sich aus Eigelb und Leinöl sowohl
wasserverdünnbare als auch ölverdünnbare Bindemittelsysteme herstellen lassen.
Bei den beschriebenen dispersen Systemen handelt es sich allerdings keineswegs um stabile,
irreversible Zustände. Vielmehr ist entscheidend, ob der Gelzustand der Proteine reversibel ist
und sich folglich durch veränderte Lösemittelverhältnisse wieder ändern kann. Ist er reversibel,
kann beispielsweise die obige Suspension von getrockneter Bleiweiß-Temperafarbe in Leinöl durch
Wasserzugabe in eine O/W-Emulsion und somit in eine Temperafarbe umgewandelt werden, wie
weiterführende Versuche mit dieser Malfarbe zeigten: Fügte man der Suspension mit dem Pinsel
etwas Wasser hinzu, blieb es zunächst größtenteils auf der Oberfläche stehen, die Malfarbe klumpte
und zeigte eine inhomogene Konsistenz (Abb. 2.26).
Bei weiterem, mechanischen Einarbeiten des Wassers mit dem Pinsel entstand aber eine homogene
Malfarbe, die im Vergleich zur Suspension zunächst wahrnehmbar steifer wurde (Abb. 2.27, 2.28).
Es ist anzunehmen, dass an diesem Punkt das in der Malfarbe enthaltene Protein aus dem Eigelb
schrittweise in eine wässrige Lösung überging und infolgedessen eine Phasenumkehr stattfand, bei
der sich – der Bancroft-Regel folgend – eine O/W-Emulsion bildete. Entsprechend erwies sich bei
der mikroskopischen Betrachtung dieser Malfarbe, dass es sich nicht länger um eine Suspension von
Proteinen in einer kontinuierlichen Ölphase, sondern um eine wasserverdünnbare O/W-Emulsion
handelte, in der das Leinöl in Tröpfchenform die disperse Phase bildete (vgl. Abb. 2.21 und Abb.
86 Lupus 1909.
87 Vgl. hierzu den Versuch von Dietemann, Neugebauer, Lutz u. a. 2014, S. 39 ff.
88 Lupus 1907.
54
Abbildung 2.25: Pulverisierte, getrocknete Abbildung 2.26: Verdünnungsmittel Wasser
Bleiweiß-Tempera nach dem Anreiben mit (1): Das Wasser steht zunächst auf der Ober-
Leinöl. fläche. Die kontinuierliche Phase besteht noch
aus Leinöl (vgl. Abb. 2.21, 2.22).
2.22 mit Abb. 2.29 und 2.30). Dies entspricht der makroskopisch wahrnehmbaren Beobachtung,
dass die Malfarbe nach dem Einarbeiten des Wassers zunächst steifer wurde.
Letzteres ist dadurch zu erklären, dass zu Anfang nur wenig Wasser vorhanden ist, das Volumen des
vorhandenen Öls im Verhältnis zum gelösten Eigelb also relativ hoch ist, weswegen die Öltröpfchen
zunächst in dichter Packung vorliegen (vgl. Abb. 2.1). Erst bei weiterer Wasserzugabe wurde sie
zunehmend dünnflüssiger (vgl. Abb. 2.26–2.28). Wie am Beispiel der „Öltempera“ von Karl Lupus
gezeigt wurde, ist umgekehrt bei einem Entzug des Wassers der Übergang von einer O/W-Emulsion
zu einer Suspension möglich: Eine O/W-Emulsion kann bei einem schrittweisen Entzug des Wassers
kollabieren und zu einer Suspension gelierten Proteins in einer kontinuierlichen Ölphase werden.
Fazit
55
Abbildung 2.29: Nach der Verdünnung mit Abbildung 2.30: Ders. Ausschnitt wie Abb.
Wasser besteht die kontinuierliche Phase nicht 2.29: Grün fluoreszierende Öltröpfchen sind in
länger aus Öl. Das Öl ist tröpfchenförmig in einer kontinuierlichen wässrigen Phase verteilt
der kontinuierlichen wässrigen Phase verteilt (Filter UV09).
(Filter D, vgl. Abb. 2.30).
dünnbare W/O-Emulsionen bilden. Diese Vorstellung wird abgelöst durch die Betrachtung von
Bindemittelsystemen als disperse, kolloide Systeme, die chemisch-physikalischen Gesetzmäßig-
keiten unterliegen, die sich u.a. in der Bancroft-Regel ausdrücken lassen. Nach dieser Regel ist
nicht das Mengenverhältnis der Bindemittelkomponenten, sondern die Löslichkeit des vorhandenen
Emulgators entscheidend dafür, ob sich aus zwei Flüssigkeiten wie Eigelb und Leinöl eine O/W-
oder eine W/O-Emulsion bildet.
Zweitens muss die verbreitete Vorstellung, dass Bindemittelkomponenten unterschiedlicher Lös-
lichkeit in der Regel in Form von Emulsionen vorliegen, abgelöst werden durch die Betrachtung
von Bindemittelsystemen als disperse Systeme wie Emulsionen (fl/fl) und Suspensionen (f/fl),
zwischen denen die Grenzen u.U. fließend sein können. In dieser Betrachtungsweise rücken also die
Aggregatzustände der Bindemittelkomponenten und somit die vorhandenen LösungsmittelG in der
flüssigen Malfarbe in den Fokus des Interesses, da sie die Verdünnbarkeit des dispersen Systems
bestimmen. Entscheidend ist dabei die kontinuierliche Phase: Besteht sie aus Öl, ist die Malfarbe
ölverdünnbar und somit eine Ölfarbe. Besteht sie aus Wasser, ist die Malfarbe wasserverdünnbar
und somit eine Temperafarbe. Wie ferner gezeigt werden konnte, sind aufgrund der Flexibilität und
Reversibilität der vorgestellten dispersen Systeme schon im Fall von Eigelb und Leinöl verschiedene
Mischformen und Zwischenstadien zwischen einer Suspension und einer Emulsion möglich, die
sowohl beim Verdünnen und Verstreichen auf der Palette als auch beim Trocknungsprozess auf dem
Gemälde auftreten können.
Durch die Beschreibung der Bindemittelsysteme als kolloide, disperse Systeme wird also offen-
sichtlich, dass nicht die Mengenverhältnisse der Bindemittelkomponenten, sondern ihre räumliche
Verteilung innerhalb der Malfarbe und die Stabilität der Grenzflächen zwischen den Phasen bestim-
men, ob eine Malfarbe letztendlich wasser- oder ölverdünnbar ist. Hierbei handelt es sich um eine
grundlegend neue Sichtweise auf Öl- und Tempera-Bindemittel, die eine neue Herangehensweise
bei der Interpretation der Bindemittelanalysen zwingend erforderlich macht.
56
nenten in einer Probe nicht zur Beantwortung der Frage herangezogen werden können, ob die
ursprüngliche Malfarbe wasser- oder ölverdünnbar war. Vielmehr haben sich als entscheidende
Faktoren für die Verdünnbarkeit einer Malfarbe das Vorhandensein beziehungsweise die Abwesen-
heit von VerdünnungsmittelnG herauskristallisiert. Deshalb stellt sich zunächst die Frage, welche
VerdünnungsmittelG ursprünglich in der Malfarbe enthalten waren.
Mithilfe der analytischen Nachweisverfahren sind in einer Probe nach über 100 Jahren in der Regel
keine Spuren von ursprünglichen Verdünnungsmitteln mehr nachweisbar, insbesondere nicht das
für die Temperamalerei entscheidende, schnellflüchtige Wasser. Eine Ausnahme bildet in diesem
Zusammenhang das schwerflüchtige Glyzerin, das in vielen Proben nachgewiesen wurde: Es ist
unbegrenzt mit Wasser mischbar und wurde als alternatives Malmittel für Wasser nachweislich
beispielsweise durch Arnold Böcklin verwendet (siehe Abschnitt 4.1.2). Auch in gewerblichen
Temperafarben-Produkten wie den „Syntonosfarben“ und den Pereira’schen „Temperafarben“ ist es
enthalten gewesen (siehe Abschnitt 3.5.3). Seine Verwendung in Temperafarben hat wahrscheinlich
ihren Ursprung in der gewerblichen Herstellung von Wasserfarben, wo es laut Carlyle spätestens
seit Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt wurde.89 Es kann folglich ein analytisch nachweisbares
Indiz für eine ursprünglich wasserverdünnbare Farbe sein. Jüngst wurde Glyzerin allerdings auch
als Bestandteil von historischen Mussini-Harz-Ölfarben der Fa. Schmincke nachgewiesen, was die
Aussagekraft dieses Nachweises einschränkt.90 Trotzdem kann es als ein wichtiger Hinweis auf die
ursprüngliche Verdünnbarkeit gewertet werden, den es im Kontext der Ergebnisse aus anderen
Untersuchungsbausteinen zu werten und zu interpretieren gilt.
Die unterschiedlichen räumlichen Verteilungen von Eigelb und Leinöl, die bei mikroskopischer Be-
trachtung innerhalb unterschiedlicher Malfarben beobachtet werden konnten, legen die Vermutung
nahe, dass möglicherweise auch in einer getrockneten Malschicht noch Informationen zur ursprüng-
lichen kontinuierlichen Phase enthalten sein könnten. Die Verteilung von Bindemittelkomponenten
innerhalb von Querschliffen wurde – wie bereits erläutert – durch Anfärbungen an Querschliffen
mit SYPRO® Ruby und in wenigen Fällen mithilfe von FTIR-Imaging untersucht. Hierbei ließen sich
tatsächlich unterschiedliche Verteilungen der Proteine innerhalb der Malschichten beobachten:
1. In einigen Fällen sind nach der Anfärbung mit SYPRO® Ruby innerhalb der Malschichten
punktuelle Proteineinschlüsse in einer ansonsten nicht angefärbten Malschicht zu beobachten
(Abb. 2.31, 2.32 und 2.36, Schicht Nr. 2).
2. Viele weitere Malschichten sind homogen angefärbt: Die Anfärbung ist überall in der Mal-
schicht wahrnehmbar, wobei die Stärke der Färbereaktion innerhalb der Schicht variieren
kann. Eine äußerst homogene Anfärbung von Malschichten ist beispielsweise in Abb. 2.34 zu
sehen. Neben solchen vollkommen homogen wirkenden Anfärbeergebnissen sind in einigen
Malschichten auch Variationen in der Stärke der Anfärbung zu beobachten (Abb. 2.36, Schicht
Nr. 1). Hier ist der überwiegende Teil von Schicht 1 leicht diffus angefärbt, während einzelne
Bereiche stärker fluoreszieren.
57
Abbildung 2.31: Der Pfeil markiert einen Pro- Abbildung 2.32: Ders. Ausschnitt wie Abb.
teineinschluss (vgl. Abb. 2.32; QS Q31/5 im 2.31: Der Proteineinschluss ist angefärbt, die
Rückstreuelektronenbild). umgebende Malschicht hingegen nicht (QS
Q31/5 im UV-Filter 09 nach der Anfärbung
mit SYPRO® Ruby).
Abbildung 2.33: Vielschichtiger Malschichtauf- Abbildung 2.34: Ders. Ausschnitt wie Abb.
bau (vgl. Abb. 2.34; QS Q26/2, UV-Filter 09) 2.33: Die Malschichten sind durchgehend an-
gefärbt (QS Q26/2, UV-Filter 09 nach der An-
färbung mit SYPRO® Ruby)
Aus diesen beiden Beobachtungen lassen sich im Vergleich mit den räumlichen Verteilungen der Bin-
demittelkomponenten in den frischen Malfarben folgende Arbeitshypothesen für die Interpretation
der Bindemittelanalysen ableiten:
Die erste Beobachtung erscheint vergleichbar zu einer Verteilung, wie sie innerhalb der Versuche für
eine Bindemittel-Suspension mit einer kontinuierlichen Ölphase beobachtet werden konnte, der mit
dem Pinsel Eigelb zugegeben wurde (vgl. Abb. 2.12 mit Abb. 2.31, 2.32, 2.36, Schicht Nr. 2). Folglich
werden punktuelle Ansammlungen von Proteinen in Malschichten, die sich ansonsten nicht auf
Proteine anfärben lassen, als Indiz für das Vorliegen einer Ölfarbe mit Zusatz eines proteinhaltigen
Bindemittels gewertet.
Die zweite Beobachtung – eine durchgehend angefärbte Malschicht – wird hingegen als Indiz für
eine ursprünglich wässrige kontinuierliche Phase und somit für eine Temperafarbe gewertet. Eine
äußerst homogene Verteilung, wie sie in Abb. 2.34 zu beobachten ist, scheint vergleichbar mit einer
selbst hergestellten, frischen Malfarbe mit wässriger kontinuierlicher Phase, die beispielsweise in
Abb. 2.37 und Abb. 2.38 zu sehen ist. Die Pigmente wurden hier zunächst nur mit Wasser angerieben,
das Eigelb wurde erst kurz vor dem Vermalen zugegeben. Punktuell stärker fluoreszierende Bereiche
in einer durchgehend angefärbten Schicht könnten hingegen während des Anreibens von Malfarben
58
Abbildung 2.35: Schicht (1) Deckende Mal- Abbildung 2.36: Ders. Ausschnitt wie Abb.
schicht (2) LasurG (QS P38/1, UV-Filter 09 vor 2.35: Schicht (1) ist diffus angefärbt mit ein-
der Anfärbung) zelnen, stärker fluoreszierenden Proteinagglo-
meraten (Pfeil). Schicht (2) ist nicht angefärbt
mit Ausnahme des durch den Pfeil markierten
Proteineinschlusses (QS P38/1, UV-Filter 09
nach der Anfärbung mit SYPRO® Ruby).
mit dem Bindemittel entstehen, wie der Vergleich mit einer Malfarbe auf der Basis von Eigelb
und Bleiweiß nahelegt, bei der Bindemittel und Pigment gemeinsam angerieben wurden (Abb.
2.39, 2.40): Dort sind stärker fluoreszierende Bereiche zu erkennen, in denen sich offensichtlich
Protein angesammelt hat. Anhand dieser Beobachtungen lässt sich vermuten, dass solche Protein-
Agglomerate beim partiellen Eintrocknen von Malfarben entstehen können und durch Zufügen von
Wasser nicht vollständig wieder aufgelöst werden.
Allerdings sind auch andere Erklärungen für Variationen in der Stärke der Anfärbung in Querschliffen
denkbar: Wie bereits ausgeführt wurde (siehe Abschnitt 1.3.2), hat die Anwesenheit nicht-wässriger
Bindemittelkomponenten in der Probe einen starken Einfluss auf die Stärke der Anfärbung. Dies
zeigt beispielsweise der Vergleich der beiden frischen O/W-Emulsionen (Abb. 2.3, 2.4). Es ist
deshalb nicht mit Sicherheit auszuschließen, dass Schicht 2 in Abb. 2.36 wie Schicht 1 neben den
punktuellen Proteinagglomeraten eine homogene Verteilung von Proteinen aufweist, nur dass diese
aufgrund eines höheren Ölgehalts, einer unterschiedlichen Pigmentierung o.ä. hier nicht angefärbt
werden konnte. Umgekehrt ist es auch denkbar, dass aus wenigen großen Proteinagglomeraten in
einer Ölfarbe durch kontinuierliches Reiben viele kleine Agglomerate entstehen können, die relativ
homogen in der Malschicht verteilt sind.
Obwohl aus theoretischer Sicht die Hypothese der Unterscheidbarkeit zwischen wasserverdünnbaren
und ölverdünnbaren Malfarben anhand der räumlichen Verteilung der Proteine nicht zwingend
belegbar ist, erwies sie sich in der Praxis als durchaus nützlich und anwendbar. Auch wenn weitere,
vergleichende Versuchsreihen notwendig sind, um diese Zusammenhänge vertiefend zu untersuchen,
wurde die Proteinverteilung in Querschliffen als ein Indiz unter mehreren herangezogen, das unter
Einbeziehung der Ergebnisse aus den anderen methodischen Bausteinen – also der Quellenrecherche,
der technologischen Untersuchungsbefunde und der maltechnischen Rekonstruktionsversuche –
schlussendlich zu einer fundierten Aussage über das ursprüngliche Bindemittelsystem führen kann.
59
Abbildung 2.37: Proteinverteilung in einer fri- Abbildung 2.38: Ders. Ausschnitt wie Abb. 2.37
schen Temperafarbe, bei der das Eigelb dem unter UV: Die Proteinverteilung erscheint sehr
in Wasser angeriebenen Bleiweiß erst kurz vor homogen, stärker fluoreszierende Agglomerate
dem Vermalen zugegeben wurde (rechts unten sind nicht erkennbar (rechts unten im Bild:
im Bild: Pinselhaar) (Hellfeld) Pinselhaar) (UV-Filter 09)
Abbildung 2.39: Transparente Protein- Abbildung 2.40: Ders. Ausschnitt wie Abb. 2.39
Agglomerate in einer Temperafarbe, bei der unter UV: Protein-Agglomerate zeigen stärkere
Eigelb und Bleiweiß gemeinsam angerieben orangefarbene Fluoreszenz als die sie umge-
wurden (Hellfeld) bende Malfarbe (UV-Filter 09)
60
Voraussetzung, dass die bekannten Ausnahmen gesondert diskutiert werden. Natürlich befreit diese
Begriffsbestimmung zukünftige Untersuchungen zur Temperamalerei des 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts nicht davon, im Einzelfall stets von Neuem zu hinterfragen, in welchem Sinn der
Begriff Temperafarbe in der jeweiligen Quelle oder durch den jeweiligen Künstler verwendet wurde.
Dasselbe gilt auch für den Begriff der ÖlfarbeG : Er wird im Folgenden als Überbegriff für ölver-
dünnbare Farben verwendet. Hierzu gehören auch Malfarben, die neben trocknenden Ölen auch
Naturharze oder Wachs enthalten. Diese konnten auch durch Zugabe wässriger Bindemittelkompo-
nenten modifiziert werden. Da auch solche Bindemittelsysteme in den zeitgenössischen Quellen als
Ölfarben bezeichnet wurden91 , werden sie auch in dieser Untersuchung unter diesem Begriff einge-
ordnet. Als Verdünnungsmittel kommen beispielsweise Terpentinöl oder Erdöldestillate in Frage.
Wie die Beschäftigung mit der Frage nach typischen Bindemittelkomponenten von Tempera- und
Ölfarben zwischen 1850 und 1914 deutlich machte, umfassen beide Begriffe keine klar definierte
Gruppe von Materialien.
Als TemperamalereiG oder ÖlmalereiG wird im Folgenden eine Malerei bezeichnet, die mit Tempera-
farben oder Ölfarben ausgeführt wurde oder die in den Quellen als solche beschrieben wird. Auch
diese beiden Begriffe beziehen sich also auf die tatsächliche Materialität eines Gemäldes.
Beruht eine Einschätzung zur Maltechnik eines Gemäldes nur auf augenscheinlichen Befunden,
wird eine solche Malerei in dieser Untersuchung nicht als Tempera- oder Ölmalerei, sondern als
Tempera-ansichtige beziehungsweise ölansichtige Malerei im Sinn der in Tabelle 2.2 genannten
Merkmale benannt. Hier wird am Ende der Untersuchung vor dem Hintergrund aller Ergebnisse
abschließend zu bewerten sein, inwiefern diese Unterscheidungsmerkmale auch für die Malerei
zwischen 1850 und 1914 gelten können.
Mit dem Ziel, eine klare und verständliche Terminologie für die vorliegende Arbeit einzuführen,
werden folgende, teilweise historische, teilweise bis in die heutige Zeit in uneinheitlicher Weise ver-
wendete Begriffe in dieser Untersuchung nicht benutzt, es sei denn, sie sind in den zeitgenössischen,
künstlerspezifischen Quellen verwendet worden und müssen folglich im Text interpretiert werden:
„Öltempera“92 und „Wassertempera“93 , „magere Tempera“ und „fette Tempera“94 sowie „natürliche
Emulsion“ und „künstliche Emulsion“95 . Auch alle weiteren bekannten zusammengesetzten Begriffe
werden vermieden, wie beispielsweise „Leimtempera“, „Eitempera“ oder „Harztempera“.
Die zentrale Bedeutung der Begriffe Temperafarbe und Ölfarbe für die vorliegende Untersuchung
rechtfertigt ihre ausführliche Besprechung an dieser Stelle. Im Grunde genommen wäre es jedoch
notwendig, die historische Bedeutung vieler weiterer maltechnischer Begrifflichkeiten – wie bei-
spielsweise FirnisG oder MalmittelG – zwischen 1850 und 1914 zu untersuchen. Dies stellt allerdings
noch ein Desiderat der kunsttechnologischen Forschung dar und war im Rahmen dieser Untersu-
chung in der nötigen Detailtiefe nicht möglich. Ein Glossar macht deshalb die Verwendung diverser
maltechnischer Begrifflichkeiten in der vorliegenden Untersuchung nachvollziehbar, wie sie der
Autorin beim derzeitigen Kenntnisstand sinnvoll erscheinen.
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