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1.

Einleitung

Die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg ist ein Museum für Kunst von Menschen mit
psychischen Ausnahme-Erfahrungen. Die Sammlung umfasst einen historischen Bestand von
8.000 Arbeiten von Insass:innen psychiatrischer Anstalten zwischen 1840 und 1945. Der
Kunsthistoriker Hans Prinzhorn legte die Sammlung in den 1920er Jahren an und diese wurde
seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich ausgebaut, sodass sie heute rund 40.000 Arbeiten
aus vor allem deutschsprachigen Ländern umfasst.
Das Leitbild des Museums und die Aufgabe der Sammlung ist es heute, die Sichtbarkeit, die
Forschung und die Vermittlung der Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung sowie der
Outsider Art zu ermöglichen und durch diese Arbeit an der Entstigmatisierung und Inklusion
von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung mitzuwirken. Dazu werden jährlich thematische
Ausstellungen organisiert.1 Diese untersuchen vor allem aus verschiedenen Perspektiven den
historischen Bestand der Sammlung aus der Zeit von 1840 bis 1945. So wurden zum Beispiel
Ausstellungen organisiert zu den Themen der Opfer von Medizinverbrechen in der Zeit des
Nationalsozialismus, zu Frauen als Künstler:innen in Psychiatrien sowie einzelnen
Künstler:innen und ihren Kontexten. Auch der Einfluss der Sammlung auf die Kunst des 20.
und 21. Jahrhunderts wird untersucht.2 Ein zentraler Aspekt in der Arbeit mit der Sammlung
ist außerdem der kritische Umgang mit dem Konzept der „Outsider Art“. Ziel der Sammlung
ist es, eine gleichberechtigte Integration von Outsider Art in den Kunstbetrieb zu fördern. Sie
basiert darauf, die Auffassung von Kunst allgemein zu erweitern. Eine wirklich
gleichberechtigte Integration von Outsider Art würde nämlich anerkennen, dass Kunstwerke
von Menschen mit unterschiedlichen Wirklichkeits-Zugängen geschaffen wird, und sie würde
die Vielfalt von Bezügen zur Wirklichkeit als ästhetische Bereicherung anerkennen. 3
Heute ist die Outsider Art bzw. die Kunst von Menschen mit psychischen
Ausnahme-Erfahrungen fest im Kulturbetrieb verankert und weltweit anerkannt, obgleich es
neue Fragen und Herausforderungen in ihrer Präsentation gibt, wird diese Kunstform
gesammelt, verkauft und rezipiert. Dass Kunst von Menschen mit psychischen
Ausnahme-Erfahrungen als Kunst anerkannt wurde, war allerdings nicht immer der Fall. Zu
1
Vgl. Sammlung Prinzhorn, 2024,URL: https://www.sammlung-prinzhorn.de/leitbild, zuletzt abgerufen am
13.02.24
2
Vgl. Röske, Thomas: Das mehrfache Entdecken der Heidelberger Sammlung von Anstaltskunst, in: Sollberger,
Daniel/ Kobbe, Ulrich / Röske, Thomas (Hrsg.): Implusgeber Prinzhorn, Lengerich 2018, S. 16-32, S. 28-29. Im
Folgenden zitiert als: Das mehrfache Entdecken.
3
Vgl. Sammlung Prinzhorn, 2024, URL :https://www.sammlung-prinzhorn.de/museum/outsider-art, zuletzt
abgerufen am 13.02.24

1
Beginn des 20. Jahrhunderts wurden diese Ausdrucksformen als Zeugnis psychischer
Erkrankung gesehen, welche in diagnostischen Verfahren eingesetzt werden konnten. Seitdem
hat sich die Wahrnehmung dieser Kunstform radikal gewandelt und weiterentwickelt. In der
folgenden Arbeit soll nun der Wandlungsprozess in der Wahrnehmung von Outsider Art
anhand der Sammlung Prinzhorn untersucht werden. Aufgrund der Zeitspanne vom Beginn
des 20. Jahrhunderts bis heute werden einige Schlaglichter und zentrale
Veränderungs-Momente innerhalb der Rezeption der Sammlung Prinzhorn beleuchtet. Diese
wurden ausgewählt, weil sie Wendepunkte in der Rezeption der Sammlung darstellen.
Zuerst wird der Entstehungs-Moment der Sammlung durch die veränderte Betrachtung von
Hans Prinzhorn auf die Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung beleuchtet, und die
Bedeutung der Ideen der Moderne für die veränderte Rezeption von Outsider Art verdeutlicht.
Dann wird die Sammlung in der Zeit des Nationalsozialismus betrachtet, und die
Zweckentfremdung der Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung für die Ideologie des
Dritten Reiches aufgezeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden die Ideen Hans Prinzhorns
vom Künstler Jean Dubuffet aufgegriffen. Die Bedeutung der Ideen Dubuffets für die
Rezeption von Outsider Art und die Sammlung Prinzhorn sind ein wichtiger
Entwicklungsschritt in der Rezeption dieser Kunstströmung. Mit Harald Szeemanns
wegweisender Ausstellung von Werken der Sammlung Prinzhorn in der Kunsthalle Bern und
der Integration von Arbeiten der Outsider Art in die documenta 5 wird das Verhältnis von
Outsider Art und dem Kulturbetrieb neu verhandelt. Als Letztes wird die Situation der
Sammlung Prinzhorn heute und die neuen Herausforderungen im Umgang mit Outsider Art
und ihre Integration in den Kulturbetrieb aufgezeigt. Die Relevanz der Fragestellung nach der
Rezeption von Outsider Art ergibt sich aus den heutigen Fragestellungen nach der
Präsentation und dem Umgang von Kunst von Menschen mit psychiatrischen
Ausnahme-Erfahrungen im Ausstellungskontext. Eine historische Reflexion der Betrachtung
und der Beurteilung dieser Kunstform kann dazu beitragen, die besonderen
Herausforderungen bei der Betrachtung von Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung
anzuerkennen. Im folgenden Text werden für die Kunst von Menschen mit
Psychiatrie-Erfahrung auch die Begriffe Outsider Art oder Art Brut verwendet, da die Kunst
von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung unter beide Begriffe subsumiert werden kann, auch
wenn diese über Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung hinausgehen.

2
2. Der Beginn der Sammlung Prinzhorn und die „Bildnerei der Geisteskranken“

Mit Hans Prinzhorn änderte sich der Zugang zu Kunst von Menschen mit
Psychiatrie-Erfahrung fundamental. Diese wurde nun nicht mehr nach rein medizinischen
Kriterien beurteilt. Prinzhorn suchte nach Beziehungen zwischen diesen Objekten zur Kunst.4
Die Sammlungstätigkeit Hans Prinzhorns in Heidelberg fußte auf der Aktivität des
ehemaligen Leiters der Heidelberger Universitätsklinik Emil Kraeplin, dieser hatte vermutlich
zwischen 1890 und 1903 eine „Lehrmittelsammlung“ angelegt, allerdings aus medizinischem
und differenzialdiagnostischem Interesse heraus.
Kraeplin sammelte Objekte, welche als Ausdrucksstörungen bei Psychosen entstanden und
dokumentierte diese, wie z.B. ein von Jane Grier unkonventionell verziertes Taschentuch. Er
vermischte die Kunst von „Irren“ mit Reproduktionen von moderner Kunst, um Studierenden
Diagnostik zu lehren und er versuchte 1896 anhand von Zeichnungen von Patienten das
5
„Entartete“ innerhalb des Symbolismus aufzuzeigen. Der Klinikleiter Karl Wilmanns, der
schon unter Kraeplin in der Klinik gearbeitet hatte, plante dann die Bearbeitung und die
Weiterentwicklung der Sammlung. Ab 1919 übernimmt Hans Prinzhorn eine Assistentenstelle
unter Kraeplin und wird beauftragt, die Sammlung wissenschaftlich zu bearbeiten, aber vor
allem erstmal zu erweitern. In den folgenden zwei Jahren wenden sich die beiden Psychiater
Prinzhorn und Wilmanns dann an private Kliniken und Heil- und Pflegeanstalten in
Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien.6 In einem gemeinsamen Rundbrief von
Januar und April 1920 ersuchen die beiden Psychiater ihre Kollegen um Bildmaterial. „Falls
Sie geneigt sind, das Material zu stiften, so wird es folgendermaßen verwendet: Eine große
Reihe künstlerisch oder auch rein psychologisch interessanter Blätter wird gerahmt und in
einem Museumsraum aufgehängt. Die anderen werden in bestimmter Weise geordnet, in
einem Archiv aufbewahrt, daß sie für Studien jederzeit zur Verfügung stehen … was die Art
des brauchbaren Materials betrifft, so kommen in Frage: 1. hervorragende Einzelleistungen/ 2.
deutlich unter der Einwirkung einer geistigen Störung stehende Darstellungen, sogenannte

4
Vgl. Röske, Thomas: Auf der Suche nach dem Ursprünglichen - Die „Bildnerei der Geisteskranken“ in der
Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Gaspar, Christine (Hrsg.): Bild und Bildung: Kolloquium vom
20./21.10.1995 im Goethe-Institut Brüssel, Brüssel 1996, S. 95-106, S. 97.
5
Vgl. Brand-Claussen, Bettina: Zwischen Achtung und Ächtung: Geschichte einer verrückten Sammlung, in:
Beyme von, Ingrid/ Röske, Thomas: Einführung in die Sammlung Prinzhorn, 2020 Heidelberg, S. 4-15, S. 6.
6
Vgl. Brand-Claussen, Bettina: Das Museum für pathologische Kunst in Heidelberg. Von den Anfängen bis
1945, in: Brand-Claussen, Bettina / Jadi, Inge/ Douglas, Caroline (Hrs.): Wahnsinnige Schönheit, Heidelberg
1997, S. 7-24, S. 8. Im Folgenden zitiert als: Das Museum für pathologische Kunst.

3
„katatonische Zeichnungen“ / 3. Jede Art von Kritzelei, auch primitivster Qualität, die nicht
an sich, sondern nur bei großem Vergleichsmaterial an Wert hat“.7
Auf diese Weise konnten Prinzhorn und Wilmanns bereits zum Ende des Jahres 1920 , 4500
Objekte in Heidelberg ansammeln. Anhand der Korrespondenz zur Akquirierung von
Arbeiten der Anstalt Eickelborn in Westfalen und der Heidelberger Klinik zeigt sich deutlich
der Umgang und die Einordnung dieser Objekte als künstlerische Objekte. So schreibt
Wilmanns an die Anstalt Eickelborn in Westfahlen bezüglich der künstlerischen Produktion
zweier Patienten Peter Meyer und Karl Genzel : „Gleichzeitig möchte ich Sie bitten, die
beiden Künstler weiterhin zur Produktivität zu ermuntern. Ich bin gern bereit, ihnen ein
kleines Geldgeschenk als Anerkennung und Ermunterung zu geben.“ Er betont des Weiteren
in einem beigelegten Brief die Eigentumsrechte der beiden Künstler: „Sollten ihre Bildner ein
Eigentumsrecht auf ihre Erzeugnisse geltend machen und gegebenenfalls geneigt sein, sie
gegen einen annehmbaren Preis, dem Museum zu überlassen, so bin ich gerne bereit,
Vorschläge entgegenzunehmen.“8
Es wird anhand der Briefe also deutlich, dass das Interesse zu Beginn der Sammlungstätigkeit
ein Interesse an künstlerischen Objekten war und nicht ein medizinisches Interesse. Doch wie
ordnete Prinzhorn diese künstlerischen Objekte später ein, welche Bedeutung kamen ihnen zu,
kurz welchen Kunstbegriff verfolgte Prinzhorn?
Hans Prinzhorn begann zeitgleich mit der Arbeit an der Sammlung ein Buchprojekt, die
„Bildnerei der Geisteskranken“. Diese erscheint 1922, nach dem Ende der Tätigkeit
Prinzhorns in Heidelberg, beim Springer-Verlag als wissenschaftliche Publikation. Die
Sammlungstätigkeit Prinzhorns und sein Buchprojekt überschneiden sich in ihrer
konzeptuellen Ausrichtung, beide hatten zum Ziel, durch das Erforschen der Bilder von
„Geisteskranken“ Klarheit, in das Chaos der damaligen Kunst bringen zu wollen. Prinzhorn
sucht nach dem Ersten Weltkrieg und dem „Kunst-Chaos“ in der Zeit der Nachkriegsjahre
nach einer Alternative, nach einem „echten“ und „ursprünglichen“ Kunstschaffen. Prinzhorn
konstruierte einen autonomen „Irrenkünstler“ welcher durch die Schizophrenie eine
gesteigerte Inspiration und einen intensiveren Ausdruck erreichte, welche auf eine Wahrheit
und Echtheit seiner Kunst hindeuteten, die einen fundamentalen Kontrast zu bürgerlicher
Kunst aufzeigte. Die Kunst dieser Zeit, zum Beispiel der Expressionismus, sind für Prinzhorn
nur formal der Kunst von Menschen mit Psychatrieerfahrung ähnlich, denn sie entstammen

7
ebd., S.9.
8
Wilmanns; Karl: Brief, zitiert nach: Brand-Claussen, Bettina: Das Museum für pathologische Kunst, S.9.

4
einer rationalen und kognitiven Auseinandersetzung mit der künstlerischen Produktion und
sind daher nur „intellektuelle Ersatzkonstruktionen“. In den in der „Bildnerei der
Geisteskranken“ gezeigten Meistern allerdings offenbare sich, so Prinzhorn, das Innere der
Künstler in spontanen Niederschlägen, welche die Entstehung von „echter“ Kunst sichtbar
machen. Dieser Ausdruck ist damit ein reiner Ausdruck künstlerischen Schaffens,
unbeeinflusst von gesellschaftlichen Entwicklungen und rationalen Entscheidungen.
In einem Brief an Emil Nolde schreibt Prinzhorn schon 1919 von einem „reinen“ und
autonomen künstlerischen Ausdruck psychiatrischer Patienten: „Ich glaube zu sehen, wie das
bildnerische Schaffen (der Patienten) völlig unabhängig von irgendeiner Kulturtradition zu
viel intensiveren Leistungen kommen kann, wie das durch viele Bewusstseins-Klärungen
komplizierte Schaffen des bürgerlich wohlgeordneten Könners.“ 9 Prinzhorn deutete die Kunst
von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, welche er in seiner Sammlung zusammen trug und
welche er in seinem Buch veröffentlichte als ein Zeugnis „wahrer“ , unabhängiger Kreativität,
welche eine Ursprünglichkeit künstlerischen Schaffens anzeigt, die unabhängig und autonom
10
von gesellschaftlichen Einflüssen entstanden ist. Zusammenfassend kann festgehalten
werden, dass mit Hans Prinzhorn ein entscheidender Wandel in der Rezeption von Kunst von
Psychiatrie-Erfahrenen einsetzt. Mit der Entstehung der Sammlung Prinzhorn wurden diese
künstlerischen Arbeiten erstmals als eigener künstlerischer Ausdruck verstanden, den es um
seiner selbst willen zu bewahren galt.

3. Die Sammlung als diagnostisches Beweismaterial. Die Sammlung Prinzhorn in der


NS-Zeit (1933-1945)

Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde die Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung
und auch Kunstwerke der Sammlung Prinzhorn zweckentfremdet und als „Beweismittel“ für
eine „Entartung“ Moderner Kunst vereinnahmt. Sie diente damit als Vergleichsmaterial,
welche den Wahnsinn einerseits in der Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung
lokalisierte und im formalen Vergleich auch in den künstlerischen Objekten der Moderne.11

9
Prinzhorn, Hans: Brief an Emil Nolde vom 30. April 1919, Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, zitiert nach
Brand-Claussen, Bettina: Prinzhorns “Bildnerei der Geisteskranken”. Ein spätexpressionistisches Manifest, in:
Brand-Claussen, Bettina/ Jadi, Inge: Vision und Revision einer Entdeckung. Katalog zur Eröffnungsausstellung,
Heidelberg 2001, S. 11-31, S. 13.
10
Vgl. ebd., S. 13.
11
Wilhelm Weygandt: Kunst und Wahnsinn, in: Die Woche (22) 23. Jg., Berlin, 1921, S. 483-85.

5
Ein Beispiel für die Anwendung dieser vergleichenden Methode sind die Äußerungen des
Hamburger Professors Wilhelm Weygandt. Dieser hatte schon in den 1920er Jahren die Werke
von Künstlern der Moderne wie Cézanne, Klee oder Schwitters mit der Kunst von Menschen
mit Psychiatrie-Erfahrung verglichen und ihnen eine “Entartung” und Abkehr vom
“normalen” Schaffen attestiert. Diese Methodik der Gegenüberstellung wurde von den
Nationalsozialisten aufgegriffen und für Propagandazwecke benutzt. Ein frühes Beispiel ist
das inzwischen berühmte Buch „Kunst und Rasse“. Für dieses Buch wurde die Fotosammlung
von Menschen aus Psychiatrien aus dem Besitz von Wilhelm Weygandt Porträts und
Figurendarstellungen expressionistischer Künstler gegenübergestellt. 1933 wurden diese
Methodik dann erstmals in Ausstellungen umgesetzt. In der Wanderausstellung „Mannheimer
Schreckenskammer“, wurden die Bilder von Menschen aus Psychiatrien, neben Bildern von
Kindern und Werken der Moderne gezeigt. Für die darauf folgende zweite Wanderausstellung
der nationalsozialistischen Regierung, die Ausstellung „Entartete Kunst“, welche 1937 in
München beginnt, werden dann erstmals Bilder aus der Heidelberger Sammlung entliehen.
Dieses Material kam allerdings erst 1938 in der Berliner Station zum Einsatz.12
Der Leiter der Abteilung Bildende Kunst im Propagandaministerium schreibt zur Eröffnung
der Ausstellung “Entartete Kunst” über die Veränderungen in der Konzeption: „Einen großen
Teil (…) nimmt der Vergleich zwischen entarteter Kunst und jenen Werken ein, die von
Insassen der psychiatrischen Kliniken angefertigt und die aus der Sammlung der
Psychiatrischen Klinik Heidelberg zur Verfügung gestellt wurden.“ 13
Schätzungsweise über 100 Werke wurden aus der Sammlung Prinzhorn vom Direktor der
Psychiatrischen Klinik Heidelberg, Carl Schneider, der Ausstellung in Berlin zur Verfügung
gestellt, unter anderem Arbeiten von Else Blankenhorn, Viktor Orth, Adolf Schulde oder Paul
Goesch. Mit der Ausstellung in Berlin sollte auch in den folgenden Stationen der
Wanderausstellung die Gegenüberstellung von „entarteter Kunst“ und „Irrenkunst“ eine
zentrale Rolle spielen. Ziel der Gegenüberstellung war es, nach äußerlichen, formalen
Ähnlichkeiten der Arbeiten zu suchen und so die Künstler als geisteskrank zu entlarven und
aus der „gesunden“ Volksgemeinschaft auszuschließen.14 Die Anordnung der Bilder und die
beigefügten Texte der Ausstellung folgten der Methode einer kommentierten
Gegenüberstellung, welche die Betrachter:innen auffordern, selbst zu vergleichen und sogar
selbst zu selektieren, welche Bilder von Menschen aus Psychiatrien gefertigt wurden und

12
Vgl. Brand-Claussen, Bettina: Das “Museum für pathologische Kunst”, S. 17.
13
zitiert nach Zuschlag, Christoph: „Entartete Kunst“. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland, Worms am
Rhein 1995, S. 238.
14
Vgl., ebd. S. 245.

6
welche Erzeugnisse modernen Kunst waren. Die Arbeiten von Menschen aus Psychiatrien
wurden so Beweismaterial und sollten die „Geisteskrankheit“ moderner Künstler beweisen.
Die Arbeiten wurden gezielt ausgewählt, um diese Argumentation zu stützen. Arbeiten von
Künstler:innen aus Heidelberg, welche den Sehgewohnheiten des 19. Jahrhunderts
entsprachen, wurden nicht ausgewählt, da sie der zeitgenössischen Moderne zu weit entfernt
waren und der staatlich geförderten NS Kunst des Realismus zu nah waren. 15
Zeitgleich mit der Ausstellung „Entartete Kunst“ wurde der Heidelberger Klinikleiter Carl
Schneider beauftragt, eine wissenschaftliche Begründung der Pathologisierung der
Künstler:innen der Moderne zu liefern. In seinem 1939 veröffentlichten Vortrag „Entartete
Kunst und Irrenkunst“ behauptet Schneider, dass die formale Ähnlichkeit zwischen
„Irrenkunst“ und „entarteter Kunst“ eine „biologische“ Verwandtschaft zwischen Künstler
und Irren, zeige. Das Krankhafte zeige sich im „Triebhaften“, des „Chaos“, der „Fratzen“, des
„Ekels“, der „Sudelei“ und „Wollust“. Diese Ausweitung der Pathologisierung und
Ausgrenzung von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung und Künstler:Innen der Moderne
sollte dafür sorgen, dass Personen, die dieser Diagnose zum Opfer fielen, aus der Gesellschaft
ausgeschlossen wurden und schließlich vernichtet werden sollten. Übrig bleiben sollte nur:
„Der treue, fleißige, disziplinierte, anständige, urteilsfähige und opferwillige, ehrliebende und
ehrenhafte Mensch.“ 16
Während des weiteren Verlaufs der Nationalsozialistischen Diktatur blieb die Sammlung
unauffällig und unbehelligt in der Heidelberger Klinik. Der Klinikdirektor Carl Schneider
sezierte Gehirne ermordeter Patienten und suchte nach einem Hinweis auf Krankheit. Auch
Künstler der Sammlung werden durch die Nationalsozialisten getötet, so der Kunstschmied
Karl Bühler, dessen Werke auch für die Ausstellung „Entartete Kunst“ benutzt wurden, sowie
der Architekt und Maler Paul Goesch und Joseph Grebing. 17
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Kunst von Menschen mit
Psychiatrie-Erfahrung zur Zeit des Nationalsozialismus zweckentfremdet und als
Beweismittel benutzt wurde, um die Künstlerinnen der Moderne zu pathologisieren und auf
biologischer Ebene zu argumentieren, dass diese Form der Kunst intrinsisch mit dem
Wahnsinn verbunden ist. Die Arbeiten aus der Sammlung Prinzhorn wurden zu diesem Zweck
des Vergleichs benutzt. Die Ideen Hans Prinzhorns, der die Kunst von Menschen mit

15
Vgl. Brand-Claussen, Bettina: „Die Irren“ und die „Entarteten“, in: Buxbaum, Roman / Stähli, Pablo (Hrsg.):
Von einer Wellt zu’r Andern. Kunst von Außenseitern im Dialog, S. 143 - 152, S. 145. Im Folgenden zitiert als:
“Die Irren”.
16
Vgl. Brand-Claussen, Bettina: “Die Irren“, S. 147.
17
Vgl. Brand-Claussen, Bettina: Das “Museum für pathologische Kunst”, S. 18.

7
Psychiatrie-Erfahrung als eigene künstlerische Leistungen würdigte, wurden nicht
weiterverfolgt und die Werke nicht als eigenständige künstlerische Arbeiten angesehen,
sondern lediglich als Zeugnis des „Wahnsinns“.

4. Jean Dubuffets Idee der Art Brut und sein Besuch in der Sammlung Prinzhorn

Während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Sammlung Prinzhorn in
zwei Schränken im Vorraum des Hörsaals der Psychiatrie in Heidelberg aufbewahrt. Teile
dieser Sammlung befanden sich auch auf dem Dachboden und gerieten in Vergessenheit. Im
Jahr 1950 initiierte Jean Dubuffet als erster Künstler, der nach dem Zweiten Weltkrieg die
Sammlung Prinzhorn besuchte, eine Wiederbelebung ihrer Relevanz. Der Besuch von Jean
Dubuffet im Jahr 1950 in der Sammlung Prinzhorn markiert ein Wiederauftreten der
Sammlung im kritischen Diskurs der künstlerischen Avantgarde und stellt einen bedeutenden
Schritt in der Entwicklung von Dubuffets Konzept der Art Brut dar. Dieser Begriff bezieht
sich auf Kunstwerke am Rande der etablierten Kunst und dient als Abgrenzung gegenüber
einer konventionellen "kulturellen" Kunst.18
Seit 1945 sammelte Jean Dubuffet Kunstwerke von Außenseitern, darunter auch Menschen
mit Psychiatrie-Erfahrung. Dubuffet bezeichnete diese Werke als "Art Brut" (rohe Kunst), die
er als anti-akademisch und ungefiltert ansah. Zu Beginn seiner Sammlung umfasste Art Brut
auch Kinderzeichnungen sowie Volkskunst aus Europa und außereuropäischen Ländern. Im
Laufe der Zeit verschwanden diese jedoch aus seiner Sammlung, da Dubuffet zunehmend die
innovative Schöpfung von Formen, Themen und Materialien durch Individuen in den
Vordergrund stellte.19
Dubuffets Kunstkonzept betonte die unmittelbare und reine Erfahrung der Arbeit. Diese
Konzeption führte ihn zu den Randbereichen künstlerischer Produktion, in denen Individuen
frei von den Einflüssen der vorherrschenden kulturellen Formen künstlerische Objekte
schufen. In diesem Entwicklungsprozess gewann die Bedeutung von Psychiatrien für
Dubuffet zunehmend an Relevanz. Seine langfristige Forschung konzentrierte sich auf die
Verbindung zwischen Kunst und Wahnsinn. Bereits früh erkannte er, dass der Wahnsinn als

18
Vgl. Brun, Baptiste: Ein unumgänglicher Besuch: Dubuffet in der Sammlung Prinzhorn, in: Von Beyme,
Ingrid/ Röske, Thomas (Hrsg.): Dubuffets Liste. Ein Kommentar zur Sammlung Prinzhorn von 1950, S.8-15,
S.8. Im Folgenden zitiert als: Ein unumgänglicher Besuch.
19
Vgl. Buxbaum, Roman: Zur Geschichte der Kunst psychisch kranker Menschen, in: Buxbaum, Roman/ Stähli,
Pablo: Von einer Wellt zu’r Andern. Kunst von Außenseitern im Dialog, S.20-41. S. 38.

8
eine Art Leinwand diente, auf der sich die Struktur der Gesellschaft durch Begriffe wie Norm
und Wahnsinn abbildeten und wieder auflösten.20 Die Art Brut fungierte dabei als Instrument
für Dubuffets Gesellschaftskritik, ohne jedoch eine spezifische Kunst der Geisteskranken zu
propagieren: "Wir sind der Ansicht, dass es ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken gibt
wie eine Kunst der Magenkranken oder Kniekranken."21
Der Besuch Dubuffets in der Sammlung Prinzhorn 1950 muss in diesem Zusammenhang der
Entwicklung des Begriffs der Idee der Art Brut gesehen werden, d.h. mit Dubuffets generellen
Interesse an Werken von Menschen mit psychischen Krankheiten. Dubuffet war mit der
Arbeit Hans Prinzhorns schon vor 1950 vertraut und sein Buch “Die Bildnerei der
Geisteskranken” übte einen großen Einfluss auf Dubuffets Arbeit aus.22 Prinzhorn hatte ihm
die Augen geöffnet für die vielen Möglichkeiten künstlerischen Ausdrucks: “ Ich bemerkte,
dass alles erlaubt, alles möglich war. Es gab Millionen von Ausdrucksmöglichkeiten jenseits
23
der akzeptierten kulturellen Wege.” Zusammen mit dem Kunstsammler Werner
Schenk-Widmer begab sich Dubuffet daher 1950 auf eine Reise quer durch die Schweiz und
Deutschland und besuchte verschiedene psychiatrische Anstalten unter anderem in München,
Münsingen und Stuttgart sowie die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg. Das Ziel der Reise
Dubuffets war auf der einen Seite, seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Arbeiten von Insassen
psychiatrischer Anstalten auszuweiten und auch seine eigene Sammlung der Art Brut zu
24
erweitern. Dubuffet hatte bei seinem Besuch in Heidelberg 36 Künstler:innen gesehen, von
denen einige auch in Prinzhorns “Bildnerei der Geisteskranken” erwähnt wurden. Diese
vermerkte er auf einer Liste, welche er um Wertungen der Arbeiten ergänzte. Seine
Bewertung der Sammlung war teilweise sehr kritisch und unterschied sich von dem Urteil
25
Prinzhorns, insgesamt allerdings fiel seine Bewertung der Sammlung überaus positiv aus.
Neben den Bewertungen einzelner Werke notierte Dubuffet außerdem verschiedene
Literaturtitel unter anderem Bücher und Aufsätze von Hans Prinzhorn. Beide, Prinzhorn und
Dubuffet lehnten eine Psychiatrisierung von Kunst ab und es kann davon ausgegangen

20
Vgl. Brun, Bapiste: Ein unumgänglicher Besuch, S. 9.
21
Dubuffet, Jean: Art brut: Vorzüge gegenüber der kulturellen Kunst, in: Dubuffet, Jean: Malerei in der Falle.
Antikulturelle Positionen, Bern/Berlin 1919, S. 86-94, zitiert nach: Röske, Thomas: Zwischen
Krankheitssymptom und Kunst, in: Mentzos, Stavros (Hrsg.) Das Schöpferische in der Psychose, Göttingen
2012, S, 107-126, S. S.116.
22
Vgl. Röske, Thomas: Eine “bewundernswerte Sammlung” - Dubuffets Heidelberger Besuch im Kontext, in:
Von Beyme, Ingrid/ Röske, Thomas (Hrsg.): Dubuffets Liste. Ein Kommentar zur Sammlung Prinzhorn von
1950, Heidelberg 2015, S. 16-30, S. 16.
23
Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Bd. IV, Paris 1995, S.40-58, hier S. 42, zitiert nach Röske,
Thomas: Eine bewundernswerte Sammlung, S. 16.
24
Vgl. Brun, Bapiste: Ein unumgänglicher Besuch, S. 8.
25
Vgl. Von Beyme, Ingrid/ Röske, Thomas: Vorwort, in: Von Beyme, Ingrid/ Röske, Thomas (Hrsg.): Dubuffets
Liste. Ein Kommentar zur Sammlung Prinzhorn von 1950, Heidelberg 2015, S.6-7, S. 6.

9
werden, dass beide aufgrund der Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs der Idee von
einem künstlerischen Neuanfang aus Werken künstlerischer Laien verhaftet waren.
Konsequenz dieser Betrachtung ist, dass beide die Norm und die Konventionen der
bürgerlichen Kultur ihrer Zeit hinterfragen und so die Kunst von Menschen mit psychischen
Krankheiten als vollwertige künstlerische Werke betrachteten und ihnen den Status eines
vollwertigen Künstlers zuzuschreiben. Dubuffets Notizen zu den von ihm gesehenen Werken
in der Sammlung Prinzhorn legen darüber hinaus allerdings auch nahe, dass er sich in einigen
Aspekten der Beurteilung der Kunst von Menschen mit psychischen Krankheiten deutlich von
Prinzhorn unterschied. Dubuffet suchte nach herausragenden Werken, die seine Sammlung
bereichern konnten und verwarf dabei Beispiele, welche den bestehenden Konventionen
bürgerlich, künstlerischer Werke zu nahe standen. Arbeiten, die traditionellen
Gestaltungsformen wie dem Surrealismus oder Expressionismus zu nahestanden,
interessierten ihn nicht. Prinzhorn im Gegensatz blickte auf die Arbeiten aus der Position
eines Wissenschaftlers, welcher an einer Ansammlung kreativer Erzeugnisse jeglicher Form
interessiert war und welche den Gestaltungsvorgang als allgemeinem Vorgang verdeutlichen.
26
Er suchte nach einer möglichst breiten Ansammlung von Arbeiten. Insgesamt lässt sich
festhalten, dass Dubuffet mit seiner Idee der Art Brut in der Tradition Hans Prinzhorns stand
und an einer Abgrenzung der Kunst von „Außenseitern“ als Erneuerer der kulturellen Kunst
festhält. Dieser romantische Dualismus schreibt eine Ausgrenzung der Künstler mit
psychischen Krankheiten als Außenseiter vom „normalen“ öffentlichen Kunstbetrieb weiter
fort. Gleichzeitig stellen beide die Definition von dem, was als normal gilt, infrage und
erkennen die Kunst von Menschen mit psychischen Krankheiten als vollwertige künstlerische
Werke an.

5. Harald Szeemann - die Vielfalt der Rezeption

Erst in den 1960er Jahren wurde die Sammlung wieder einem größeren Publikum zugänglich.
Dies geschah vor allem durch die von Harald Szeemann 1963 kuratierte Ausstellung
„Bildnerei der Geisteskranken - Art Brut - insania pingens“ in der Kunsthalle Bern.27 Die
Ausstellung war die bis dahin umfangreichste Ausstellung von Werken von Menschen mit

26
Vgl. Röske, Thomas: Eine “bewundernswerte Sammlung”, S. 17 ff.
27
Vgl. Voigtländer, Wolfram: Von den Bildnerein schizophrener Meister zur Kunst Psychatrieerfahrener, S.18,
in: Sozialpsychatrische Informationen 52. Jahrgang 1/2022.

10
Psychiatrie-Erfahrung und umfasste Leihgaben aus den Universitätskliniken Bern, Lausanne
und Paris. Sowie 250 Exponate aus der Sammlung Prinzhorn Heidelberg. 28
Szeemann zeigte die Heidelberger Leihgaben neben Arbeiten von den Schweizern Aloise
Corbaz, Louis Soutter und Adolf Wölfli sowie Jean Radovic aus Serbien und dem Italiener
29
Carlo Zinelli. Szeemanns Ausstellungspraxis insgesamt war geprägt davon, nah an den
neuen Tendenzen der Kultur zu sein und am sich schnell verändernden Puls der
internationalen Gegenwartskunst. Er war allerdings auch dafür bekannt, die Ränder der Kunst
zu erkunden. Außergewöhnlich für eine Kunsthalle kuratierte er einige thematische
Ausstellungen, die das Verhältnis von bildender Kunst, Volkskunst, Populärkultur und Art
Brut erkundeten. Dazu gehörte neben der Ausstellung „Bildnerei der Geisteskranken …“
(1963) auch die Ausstellungen „Prähistorische Felsbilder der Sahara (1961) oder „Puppen -
Marionetten -Schattenspiele“ (1962). Diese Hinwendung Szeemanns zu den Rändern der
bildenden Kunst ist eingebettet in seine kuratorische Praxis, welche die einzelnen
künstlerischen Produktionen in seinem Eigenwert wahrnehmen, verstehen und darstellen will
sowie als Aspekt eines größeren gesellschaftlichen Zusammenhangs. Kunstwerke waren für
Szeemann Ideenträger, die letztlich auf die individuelle menschliche Existenz verweisen. Dies
führte zu einer Auseinandersetzung Szeemanns mit dem ganzen Bereich der visuellen Kultur
der Gegenwart und führte zu einer Gleichbehandlung von den verschiedenen Bereichen
visueller Kultur, zu denen auch z.B. Werbung oder die Werke von Menschen mit psychischen
Erkrankungen gehörten. Dabei interessierte Szeemann allerdings weniger der historische oder
soziologische Blick auf diese Arbeiten, sondern der Künstler als Individuum und seine Idee
künstlerischer Produktion. Szeemann fokussierte daher weniger auf Menschen mit
psychischen Krankheiten als „Outsider, Irreguläre, Eingesperrte“, sondern auf den ganz
eigenen künstlerischen Ausdruck und die individuelle Wahrnehmung der Künstler:innen.
Neben dem persönlichen kuratorischen Ansatz Szeemanns führte auch der damalige Zeitgeist
zu einer Beschäftigung mit der Kunst von Menschen mit Psychatrie-Erfahrung. In den 1960er
Jahren wurden Grenzen ausgetestet und versucht, gängige Konventionen zu unterlaufen.
Harald Szeemann gehörte in den 1960er Jahren zu den Kuratoren, welche zusammen mit
Konzeptkünstler:innen seiner Generation, die die Rolle des Museums und der Institutionen
der Kunst hinterfragten.30 So befragten in dieser Zeit Künstler:innen und Kuratorinnen ihre

28
Vgl. Röske, Thomas. Geleitwort zu Hans Prinzhorn - Bildnerei der Geisteskranken, in: Prinzhorn, Hans:
Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychpathologie der Gestaltung, Wien, New York
2011, III -VIII, S. VI.
29
Vgl. Röske, Thomas: Das mehrfache Entdecken, S. 23.
30
Vgl. Kurzmeyer, Roman: Zeit des Zeichens: Harald Szeemann, Ausstellungsmacher, Basel 2019, S. 23-24.

11
eigene Rolle im Netzwerk der Kunst, sie kritisierten die Rolle der Galerien, der
Sammler:innen und nicht zuletzt der Museen und Kunsthallen. Diese kritische Befragung
fügte sich ein in die großen gesamtgesellschaftlichen Aufbrüche der 1960er Jahre , welche in
Europa und den USA von den Universitäten begonnen wurde. Der Anspruch war, auf die
Erneuerung innerhalb der Kunst zu reagieren und so auch museale Strukturen zu verändern.
Neue Formen der Präsentation und Vermittlungen müssten ausprobiert werden, auch die
Öffentlichkeit müsse stärker in die Tätigkeit der Museen einbezogen werden. Das Museum
müsse sich zum Publikum hin öffnen und dieses stärker einbeziehen, sodass Prozesse und
Entscheidungen demokratisiert werden könnten und demokratische Beteiligung geschaffen
werden könne.31 Die Hinwendung Szeemanns zu Arbeiten von Menschen mit
Psychiatrie-Erfahrung muss daher einerseits in seinem persönlichen kuratorischen Ausdruck
verortet werden, gleichzeitig aber auch in die kulturellen Veränderungen seiner Zeit
eingebettet werden. Die kritische Infragestellung der Rolle des Museums und der Strukturen
des Kunstsystems durch Konzeptkünstler und Künstler der Institutionskritik, denen Harald
Szeemann nahe stand, bereiteten einen Nährboden für die Öffnung der Museen und
Institutionen der Kunst zu ihren eigenen Rändern.
Ziel der Ausstellung war es, die traditionellen Vorstellungen von Kunst infrage zu stellen und
das kreative Potenzial von Personen hervorzuheben, die außerhalb von etablierten
Kunstinstitutionen Kunst machten. So schreibt Harald Szeemann in seinem Katalogtext zur
Ausstellung: „Die Ausstellung Bildnerei der Geisteskranken ist ein weiterer Beitrag zu einer
Ausstellungsreihe über Randgebiete und unbekannte Regionen bildnerischen Schaffens. Nach
einer Ausstellung Die Kinderzeichnung vor fünfzehn Jahren, vermittelte die Kunsthalle letztes
Jahr einen Überblick über Marionetten-Puppen-Schattenspiele in der Konfrontation der
Asiatica mit zeitgenössischen Experimenten (…). Auch in der jetzigen Ausstellung geht es
nicht um eine Illustration des Themas - hier im Sinne einer bebilderten Krankengeschichte -,
sondern um eine Präsentierung von zwanzig schizophrenen Bildnern mit einer eigenständigen
Produktion.“32 Hier wird deutlich, dass Szeemann sich den bisher unbeachteten Rändern
künstlerischer Produktion zuwenden will, dies allerdings, um die Eigenständigkeit dieses
künstlerischen Schaffens zu zeigen und zu legitimieren. Wie Hans Prinzhorn auch verweist
Szeemann einerseits auf das autonome Schaffen von Menschen mit psychischen Krankheiten
und wie Prinzhorn auch verweist er im weiteren Katalogtext auf die Tatsache, dass alle

31
Vgl. ebd., S. 31- 35.
32
Szeemann, Harald: Einleitung, in: Bildnerei der Geisteskranken - Art Brut - Insania pingens Katalog zur
Ausstellung Bern 1963, S.1.

12
ausgestellten Maler ohne vorherige künstlerische Ausbildung waren.33 In den zwei weiteren
Katalog-Texten wird allerdings auch deutlich, wie sehr der Blick auf die Kunst von Menschen
mit psychischen Krankheiten im Wandel ist. Der ehemalige Direktor der Kunsthalle Basel und
Kunsthistoriker Georg Schmidt argumentiert ähnlich wie Prinzhorn, dass bei Menschen mit
psychischen Erkrankungen die rationale Sicht auf die Realität gestört ist und sie daher eine
bildnerische Form- und Dekorations-Kraft entfesseln können, die sich in den Bildern
niederschlägt, er schreibt aber dennoch, dass es schwierig ist, diese Werke als Kunst zu
betrachten, da diese Arbeiten nicht in einem Verhältnis der Künstler:innen mit ihrer Umwelt
und ihrer Zeit entstehen, denn diese ist durch die Krankheit zerstört.34 Dieser Text wird
ergänzt von dem Psychiater Alfred Bader, der anders als Schmidt argumentiert, dass mit der
Hinwendung der modernen Kunst zur Abstraktion und der Abwendung vom Naturalismus
Imaginäres abzubilden, auch die Kunst von Menschen mit psychischen Krankheiten als Kunst
betrachtet werden müssen. Er plädiert daher nicht dafür, die Frage nach dem Existenzrecht als
Kunst zu stellen, sondern nach der künstlerischen Qualität zu fragen.35 Diese beiden Texte
ergänzt Szeemann durch Auszüge aus dem ersten Surrealistischen Manifest von André Breton
und Texten von Jean Dubuffet. Es wird also deutlich, dass Szeemann daran interessiert war,
die Diskussion über die Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung zu öffnen und
verschiedene Perspektiven nebeneinander zur Diskussion zu stellen. Diese Vielfalt der
Rezeption wird von Szeemann auf der von ihm kuratierten documenta 5, 1972 noch
erweitert.36
In dieser documenta zeigte Szeemann Arbeiten von Menschen mit psychischen Krankheiten
neben kontemporären künstlerischen Arbeiten und ermöglichte es, Parallelen zu ziehen, zum
Beispiel zwischen der Outsider Art und Konzeptkunst.37 In Kassel wurden vor allem Werke
aus dem Museum der psychiatrischen Universitätsklinik Waldau bei Bern gezeigt sowie
Arbeiten des Anstaltsinsassen Adolf Wölfli. Szeemann schaffte es mit der Einbettung
künstlerischer Arbeiten aus einem psychiatrischen Kontext in die documenta 5 diese Arbeiten
einem Publikum zu öffnen, welches vor allem an zeitgenössischer Kunst interessiert war.
Diese Einbettung bedeutet eine Abkehr von Ideen über die Kunst aus psychiatrischen

33
Vgl. ebd., S. 1.
34
Vgl. Schmidt, Georg: Was hat die Kunst der Geisteskranken mit Kunst zu tun?, in: Bildserie der
Geisteskranken - Art Brut - Insania pingens , S. 2- 6, S. 4.
35
Vgl. Bader, Alfred: Ist die Malerei der Irren nur irre Malerei, S.6 -9. S. 7.
36
Vgl. Röske, Thomas: Das mehrfache Entdecken, S. 24.
37
Vgl. Röske, Thomas: Outsider Art im Spannungsfeld von Inklusions-Debatte und Kulturbetrieb, in: Koriath,
Helen/ Röhr, Anette / Schlößer, Angelika / Seidel, Christoph P./ Watermann, Katja (Hrsg.): Kunst: Aspekte der
Outsider Art; Dokumentation der Veranstaltungsreihe vom 23. Februar bis 6. Juli 2017 in Osnabrück, Osnabrück
2018, S.22.

13
Kontexten als Opposition zur kulturellen Kunst, wie sie von Prinzhorn und Dubuffet vertreten
worden waren. Der Dualismus wird von Szeemann zugunsten einer Anerkennung der
ästhetischen Vielfalt der visuellen Welt dieser Zeit verworfen. 38

6. Die Situation der Sammlung Prinzhorn heute

Nach der wegweisenden Ausstellung von Harald Szeemann in Bern erlebte auch die
Sammlung in Heidelberg eine Renaissance. Die Psychiaterin Marie Rave-Schwank übernahm
ab 1965 ehrenamtlich die Verantwortung für die Sammlung. Sie initiierte zusätzliche
Ausstellungen und etablierte 1972 einen ersten Ausstellungsraum innerhalb der
Universitätsklinik. Im Jahr 1973 wurde Inge Jadi Kustodin der Sammlung Prinzhorn und die
Sammlung wurde daraufhin von einem kleinen Team inventarisiert und erfuhr eine sorgfältige
konservatorische sowie restauratorische Betreuung und Lagerung.
In diese Jahre fiel auch die Psychiatrie-Enquête von 1975. Dieser Bericht über die
psychiatrische Situation in der Bundesrepublik Deutschland, im Auftrag des Bundestages
erstellt, konstatierte erhebliche Defizite in der Versorgung psychisch Kranker. Der Bericht
offenbarte, dass eine beträchtliche Anzahl von Menschen mit Behinderungen und psychischen
Erkrankungen in stationären Einrichtungen unter teils unwürdigen Bedingungen lebte. Diese
gesamtgesellschaftliche Diskursverschiebung beinhaltete neben einer kritischen Betrachtung
psychiatrischer Anstalten auch das wachsende Interesse nach bewusstseinserweiternden
Erfahrungen, initiiert durch Drogen- oder Meditationspraktiken sowie Entwicklungen in der
Psychotherapie. In diesem Zuge entwickelte sich dann ein Interesse bei Künstler:innen,
Sammler:innen, Ausstellungsmacher:innen und Museen an den Werken der Art Brut, die
Ausdruck eines von der Norm abweichenden Realitätsbezugs waren. Als Konsequenz wurde
die Art Brut zu einem eigenen Sektor im Kunstmarkt und firmierte unter dem Begriff der
Outsider Art. In den folgenden Jahrzehnten entstanden dann eigene Zeitschriften,
Kunstmessen, Auktionen und mehr und mehr Sammler:innen und Galerist:innen
spezialisierten sich auf Art Brut. So entstand unter anderem ein eigenes Museum für die
Sammlung von Jean Dubuffet, 1976. Diese Welt der Outsider-Art war, in dieser
Entwicklungsperiode, allerdings immer noch eine weitgehend vom übrigen Kunstbetrieb

38
Vgl. Röske, Thomas: Das mehrfache Entdecken, S. 24.

14
abgegrenzte Sphäre.39
Die Jahre 1980/1981 markierten dann einen weiteren Entwicklungsschritt der Sammlung
Prinzhorn. Diese wurde Teil einer ersten umfassenden Wanderausstellung der Sammlung. Die
Ausstellung, die in mehreren deutschen Städten sowie in Basel Station machte, nahm in den
Katalog-Texten kritisch Bezug auf den psychiatrischen Kontext der Werke. Dieser kritische
Ansatz gegenüber dem Leben der Patienten, dem System der Psychiatrie als Ganzes und der
öffentlichen Präsentation von über 850 Exponaten, die zuvor noch nie öffentlich gezeigt
wurden, stieß auf breite Resonanz beim Publikum und entfaltete eine erhebliche Wirkung in
der Öffentlichkeit.
In den 2000er Jahren löste sich dann immer mehr die Trennung zwischen den Sphären des
Kunstbetriebs und der Sphäre der Outsider Art. Das Interesse von Sammler:innen und
Museen wächst und es wurden eigene Abteilungen eingerichtet, wie zum Beispiel am Musée
d’art moderne in Lille. Es wurden Überblicks-Ausstellungen wie 2011 in der Kunsthalle
Schirn in Frankfurt am Main organisiert, und die Art Brut wird immer mehr in den
Kunstbetrieb integriert. Ein frühes Beispiel für die Grenzüberschreitung und Integration von
Outsider Art war die Ausstellung “Parallel Visions. Modern Artists and Outsider Art”, die
1992/93 als Wanderausstellung in Los Angeles, Madrid, Basel und Tokyo zu sehen war und
auch Arbeiten aus der Sammlung Prinzhorn zeigte. 40
Gründe für diese Integration von Outsider Art in den Kunstbetrieb sind neben einer
exotistischen Faszination auch der gesellschaftliche Einstellungswandel im Zuge der
Integration von Menschen mit psychischen Krankheiten und die Reintegration von
Psychiatrie-Erfahrenen in die Gesellschaft. Auch die seit Dubuffet initiierte Kritik am immer
weiter sich kommerzialisierenden Kulturbetrieb unter Bezug auf Alternativen wie der
Outsider Art dürfte eine Rolle spielen.
Der Umgang mit Kunst von Menschen mit psychischen Krankheiten und Menschen mit
Psychiatrie-Erfahrung heute steht vor genauso großen Missverständnissen wie das
Pathologisieren dieser Kunst durch Psychiater im 19. und 20. Jahrhundert. Die Überbetonung
der Ästhetik in der Betrachtung von Outsider Art birgt die Gefahr, dass bei einigen
Künstler:innen wichtige kontextuelle Momente übersehen werden, wenn diese wie Kunst des
20. Jahrhunderts ohne Zusatzinformationen in White Cubes gezeigt wird. 41
Mit der Eröffnung eines eigenen Museumsbaus für die Sammlung Prinzhorn im Jahre 2001

39
Vgl. Röske, Thomas: Zwischen Krankheit und Kunst, S. 116 -118.
40
Vgl.ebd., S. 117.
41
Vgl.ebd., S. 118.

15
werden heute thematische Ausstellungen veranstaltet, welche die Schnittstelle von Kunst und
die Erfahrungen in der Psychiatrie zum Thema haben. Dominierend ist heute ein
kulturwissenschaftlicher Ansatz. Die Kunstwerke von historischen Anstaltsinsassen und
Personen mit späteren Psychiatrie-Erfahrungen werden nicht mehr ausschließlich als
Reflexionen ihrer psychischen Ausnahme-Erfahrungen oder ihres Unbewussten betrachtet.
Diese auch historischen Arbeiten werden heute als bewusste Auseinandersetzung mit der
Psychiatrisierung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Konsequenzen interpretiert.42
In der Sammlung Prinzhorn arbeiten heute ausschließlich Kunsthistoriker:innen und auf
klinische Diagnosen wird verzichtet, wenn klinische Begriffe verwendet werden, werden
diese in Anführungszeichen gesetzt. Heute werden die speziellen Verhaltensweisen und
Weltanschauungen, die Personen mit psychischen Erkrankungen in die Anstalt brachten,
diskutiert, sowie die Herausforderungen, mit denen die Gesellschaft konfrontiert ist, um zu
verstehen, auf welche Weise die besonderen Erfahrungen dieser Menschen durch ihre
außergewöhnlichen psychischen Erlebnisse geprägt wurden. Ziel ist es heute, die
künstlerischen Arbeiten von Menschen mit psychiatrischen Ausnahme-Erfahrungen
bestmöglich zu präsentieren und zu restaurieren und die Menschen dieser geschichtlichen
Epoche nicht mehr als Objekte des psychiatrischen Systems zu verstehen. 43

7. Fazit

Zusammenfassend kann festgehalten werden, wie enorm sich die Sammlung Prinzhorn seit
ihrer Entstehung 1920 gewandelt hat und wie sehr sich die Rezeption im Laufe dieser Zeit
verändert hat. Die Entstehung der Sammlung fiel in eine Zeit, in welcher künstlerische
Arbeiten von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung gesamtgesellschaftlich nicht als Kunst
wahrgenommen wurden. Patienten in Anstalten wurden gezielt aus der Gesellschaft
ausgegrenzt und meist lebenslang verwahrt. Diese Stigmatisierung und menschenunwürdige
Behandlung führte dazu, die künstlerische Produktion als diagnostisches Material zur
Erkennung psychischer Krankheiten zu verwenden. Mit Hans Prinzhorn und dem Beginn der
Sammlungstätigkeit in Heidelberg änderte sich dieser Zugang zu den Werken von Menschen
mit psychischen Ausnahme-Erfahrungen fundamental. Diese wurden jetzt als eigenständige

42
Vgl. Röske, Thomas: Geistesfrische. Sammeln und Forschen an der Heidelberger Sammlung Prinzhorn, in:
Knöll, Stefanie (Hrsg.): Universitätssammlungen: bewahren -forschen - vermitteln, Düsseldorf 2015, S. 73-86,
S. 80.
43
Vgl. Tansella Carola: In conversation with Thomas Röske, Epidemiology and Psychiatric Sciences, 2019, Url:
https://www.cambridge.org/core/journals/epidemiology-and-psychiatric-sciences/article/in-conversation-with-tho
mas-roske/D9B3E9C4F21C6CFECF7B70474E62611B, zuletzt abgerufen am 12.02.24.

16
künstlerische Produktionen wahrgenommen und ihnen wurde ihre diagnostische Funktion
abgesprochen. Allerdings wurden sie weiterhin von Prinzhorn gemäß einer romantischen Idee
der Moderne als das andere, das Ursprüngliche, das wahre Authentische einer bürgerlichen
und vom Ersten Weltkrieg geprägten “kulturellen” Kunst entgegenstellt. Prinzhorn sammelte
Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, um zu zeigen, dass es künstlerische
Produktion und authentische Formgestaltung außerhalb des Bürgertums gab, welche in der
Lage ist, den wahrhaften und authentischen Ursprung künstlerischen Schaffens in Reinform
anzuzeigen. Prinzhorn folgt mit dieser Sichtweise einer modernen Idee seiner Zeit, nämlich
ein “Anderes” außerhalb der Kunst zu suchen, was als Grundlage für künstlerisches Schaffen
dieses erneuern kann. Diese progressiven Ideen Prinzhorns werden in der Zeit des
Nationalsozialismus zurückgedreht und die Sammlung aus Heidelberg wird für die Ideologie
der Nationalsozialisten gezielt zweckentfremdet. Die künstlerischen Arbeiten der Sammlung
werden als Beweismaterial für den Wahnsinn der Künstler der Moderne benutzt. Die Arbeiten
werden bewusst nach einer formalen Ähnlichkeit ausgewählt, um die Argumentation zu
stützen, dass die Moderne und ihre künstlerischen Strömungen wie der Expressionismus eine
“Entartung” der Kunst und der Künstler:innen anzeigen, die vom Wahnsinn getrieben sind
und daher aus der Gesellschaft verbannt und letztlich Werk und Künstler:innen vernichtet
werden müssen. Gemäß dieser nationalsozialistischen Vernichtungs-Logik werden auch einige
Künstler:innen der Sammlung Prinzhorn ermordet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es einen wichtigen Bedeutungswandel in der Rezeption der
Sammlung Prinzhorn und der Outsider Art allgemein. Jean Dubuffet belebt die Ideen
Prinzhorns wieder, sammelt Arbeiten von Künstler:innen mit Psychiatrie-Erfahrung und
subsumiert diese in seinem Begriff der Art Brut. Sein Besuch in Heidelberg und seine
Auseinandersetzung mit den Ideen Prinzhorns sind fundamental für seine Konzeption der Idee
der Art Brut und folgen einem Prinzhorn ähnlichen Dualismus von bürgerlicher Kunst und
“roher” Kunst von Menschen mit physischen Erkrankungen.
Erst mit Harald Szeemanns wegweisenden Ausstellungen gelingt ein weitreichender Wandel
in der Rezeption der Outsider Art. Diese wird nun in den Kulturbetrieb integriert und
aufgrund ihrer innovativen Formsprache als relevant betrachtet. Der individuelle Ausdruck
der Künstler:innen steht im Vordergrund und nicht mehr ihre Reduktion auf eine
Krankengeschichte. Szeemanns wegweisender Ansatz liegt damit einerseits in der Vielfalt
eines Diskurses über Outsider Art, sowie der Fokus auf die formalen und ästhetischen
Erneuerungen, welche die Outsider Art zu eigen sind. Die Art Brut ist kein Außen mehr,
welches in Opposition zur “kulturellen” Kunst steht, sondern ein neues Untersuchungsfeld,

17
das eine eigene Formsprache erschaffen hat, die um ihrer selbst willen betrachtet werden
sollte. Seit Szeemann und den 1960er Jahren ist es dann zu einem regelrecht
explosionsartigen Entwicklung der Outsider Art gekommen. Galerien, Museen und ein
eigener Kunstmarkt entstehen. Auch die Sammlung Prinzhorn wächst stetig und 2001 wurde
ein Museumsgebäude für die Sammlung eröffnet. Ein fundamentaler Bedeutungswandel ist
heute eingetreten. Die Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung wird heute ihrer
ästhetischen Formgestaltung wegen ausgestellt. Der selbsternannte Auftrag der Sammlung
Prinzhorn ist heute an einer Entstigmatisierung und Inklusion von Menschen mit
Psychiatrie-Erfahrung mitzuwirken durch die Sichtbarmachung und Vermittlung der Outsider
Art. Dabei ist die besondere Herausforderung heute einerseits die ganz spezifischen
Bedingungen der Entstehung von Outsider Art im Ausstellungskontext zu berücksichtigen,
aber die Menschen dieser Epoche nicht mehr als Objekte des psychiatrischen Systems
darzustellen. Outsider Art kann erst dann wirklich in den Kulturbetrieb integriert werden,
wenn diesen Werken eine besondere Aufmerksamkeit und zusätzliche Informationen über das
Leben hinter den Kunstwerken zuteil wird, d.h. wenn die Individualität der jeweiligen Person
betont wird und nicht Klischee-Darstellungen von Außenseitern repliziert werden.

18
8. Literaturverzeichnis

Bader, Alfred: Ist die Malerei der Irren nur irre Malerei, in: Szeemann, Harald (Hrsg.):
Bildnerei der Geisteskranken - Art Brut - Insania pingens Katalog zur Ausstellung, Bern
1963, S.6 -9, S. 7.

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Buxbaum, Roman: Zur Geschichte der Kunst psychisch kranker Menschen, in: Buxbaum,
Roman/ Stähli, Pablo: Von einer Wellt zu’r Andern. Kunst von Außenseitern im Dialog,
Heidelberg 2016, S.20-41.

Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Bd. IV, Paris 1995, S.40-58, hier S. 42,
zitiert nach: Röske, Thomas: Eine “bewundernswerte Sammlung” - Dubuffets Heidelberger
Besuch im Kontext, in: Von Beyme, Ingrid/ Röske, Thomas (Hrsg.): Dubuffets Liste. Ein
Kommentar zur Sammlung Prinzhorn von 1950, Heidelberg 2015, S. 16-30.

Kurzmeyer, Roman: Zeit des Zeichens: Harald Szeemann, Ausstellungsmacher, Basel 2019.

19
Prinzhorn, Hans: Brief an Emil Nolde vom 30. April 1919, Stiftung Seebüll Ada und Emil
Nolde, zitiert nach Brand-Claussen, Bettina: Prinzhorns “Bildnerei der Geisteskranken”. Ein
spätexpressionistisches Manifest, in: Brand-Claussen, Bettina/ Jadi, Inge: Vision und Revision
einer Entdeckung. Katalog zur Eröffnungsausstellung, Heidelberg 2001, S. 11-31, S. 13.

Röske, Thomas: Eine “bewundernswerte Sammlung” - Dubuffets Heidelberger Besuch im


Kontext, in: Von Beyme, Ingrid/ Röske, Thomas (Hrsg.): Dubuffets Liste. Ein Kommentar zur
Sammlung Prinzhorn von 1950, Heidelberg 2015, S. 16-30.

Röske, Thomas: Auf der Suche nach dem Ursprünglichen - Die „Bildnerei der
Geisteskranken“ in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Gaspar, Christine (Hrsg.):
Bild und Bildung: Kolloquium vom 20./21.10.1995 im Goethe-Institut Brüssel, Brüssel 1996.

Röske , Thomas: Das mehrfache Entdecken der Heidelberger Sammlung von Anstaltskunst,
in: Sollberger, Daniel/ Kobbe, Ulrich / Röske, Thomas (Hrsg.): Implusgeber Prinzhorn,
Lengerich 2018, S. 16-32, S. 23.

Röske, Thomas: Geleitwort zu Hans Prinzhorn - Bildnerei der Geisteskranken, in: Prinzhorn,
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Röske, Thomas: Geistesfrische. Sammeln und Forschen an der Heidelberger Sammlung


Prinzhorn, in: Knöll, Stefanie (Hrsg.): Universitätssammlungen: bewahren -forschen -
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Röske, Thomas: Outsider Art im Spannungsfeld von Inklusions-Debatte und Kulturbetrieb,


in: Koriath, Helen/ Röhr, Anette / Schlößer, Angelika / Seidel, Christoph P./ Watermann,
Katja (Hrsg.): Kunst: Aspekte der Outsider Art; Dokumentation der Veranstaltungsreihe vom
23. Februar bis 6. Juli 2017 in Osnabrück, Osnabrück 2018, S.22.

Röske, Thomas: Zwischen Krankheitssymptom und Kunst, in: Mentzos, Stavros (Hrsg.) Das
Schöpferische in der Psychose, Göttingen 2012, S, 107-126.

20
Tansella Carola: In conversation with Thomas Röske, Epidemiology and Psychiatric
Sciences, 2019, Url: In conversation with Thomas Röske | Epidemiology and Psychiatric
Sciences | Cambridge Core, zuletzt abgerufen am 12.02.24.

Sammlung Prinzhorn, 2024,URL: https://www.sammlung-prinzhorn.de/leitbild, zuletzt


abgerufen am 13.02.24

Sammlung Prinzhorn, 2024, URL :https://www.sammlung-prinzhorn.de/museum/outsider-art,


zuletzt abgerufen am 13.02.24

Schmidt, Georg: Was hat die Kunst der Geisteskranken mit Kunst zu tun?, in: Szeemann,
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Szeemann, Harald: Einleitung, in: Bildnerei der Geisteskranken - Art Brut - Insania pingens
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Voigtländer, Wolfram: Von den Bildnerein schizophrener Meister zur Kunst


Psychatrieerfahrener, S.18, in: Sozialpsychatrische Informationen 52. Jahrgang 1/2022.

Wilhelm Weygandt: Kunst und Wahnsinn, in: Die Woche (22) 23. Jg., Berlin,1921.

Wilmanns; Karl: Brief, zitiert nach: Brand-Claussen, Bettina: Das Museum für pathologische
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Zuschlag, Christoph: „Entartete Kunst“. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland, Worms


am Rhein 1995.

21

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