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Der Spiegel 26 - 5 - 18
Der Spiegel 26 - 5 - 18
außer Kontrolle
Das Flüchtlingsamt
Bamf – eine Behörde
Donald Trump und
Erst Iran, nun Nordkorea
Fortschritte im
Digitale Medizin
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Unsere Haltung:
Weidehaltung!
EIN IRISCH GUTES KONZEPT
Weidehaltung liegt einfach in unserer Natur, denn gleich 2/3 Irlands sind
grün und 80 % davon sind saftige Weiden. Deshalb hat bei uns jede Kuh
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Kühe fast ausschließlich frisches Weidegras und das ist für sie einfach das
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Betr.: SPIEGEL+, T urnen, SPIEGEL GESCHICHTE Lass ich machen.
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Premium-Angebot SPIEGEL+. Wir
glauben, es ist das beste und fairste
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serinnen und Leser, machen kön-
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der SPIEGEL steht: sorgfältige Re-
VLH.
G L ASKEW II / DER SPIEGEL
MARKUS SCHREIBER / AP
So gesehen: Ein neues Grillwurst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Rezept im Kampf gegen
die AfD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Eine Meldung und ihre
Geschichte Eine Frau
Bayern blockiert Asyl- bringt ihr Baby allein
prozessreform / Kohl belog zur Welt – mithilfe von
Ostdeutsche / NRW
drängelt bei Einwanderungs-
Willkür im Amt YouTube-Videos . . . . . . . . . . . . 51
zu VW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Umwelt Verkehrsminister
Andreas Scheuer Zukunft Im Silicon Valley
verliert die Geduld mit arbeiten Riesenkonzerne und
der Autoindustrie . . . . . . . . . . . 34 Hunderte Start-ups an
der Revolution der Medizin 60
SPD Der ehemalige
Wirtschaftsstaatssekretär Exporte Deutsche Unter-
Matthias Machnig Die Chaos-Koalition nehmen erhalten
über den desolaten Zustand kaum noch Aufträge aus
seiner Partei . . . . . . . . . . . . . . . . 36 In Rom regieren künftig EU-kritische und Saudi-Arabien . . . . . . . . . . . . . . 64
russlandfreundliche Populisten, die Italiens
Linke Drei Abende Steuerbetrug Bei der
mit dem Musik-
Ausgaben massiv erhöhen wollen. Die Eurokrise Deutschen Bank verhalten
produzenten und Politiker könnte zurückkehren – und die Währungs- sich die Fahnder
Diether Dehm . . . . . . . . . . . . . . 38 union schlimmstenfalls zerreißen. Seiten 8, 78, 83 auffällig nachsichtig . . . . . . . . 66
Trumps Epigonen
Leitartikel Die EU-Staaten sollten die neue Populistenregierung Italiens in die Schranken weisen.
S
ie sehen sich als Vollstrecker des wahren Volks- perfide Form von Transferunion in Europa etabliert: von
willens, setzen die Nation an erste Stelle und neh- arm zu reich.
men keine Rücksicht auf internationale Verträge. Die Regierungen der Eurozone sind deshalb gut beraten,
Die Rede ist nicht von den Parteigängern Donald die Zumutungen aus Rom mit kühlem Kopf zurückzuwei-
Trumps in den USA. Sondern von der neuen Regierung sen. Auf der einen Seite dürfen sie keine Zweifel zulassen,
Italiens, die sich in diesen Tagen formiert und deren politi- dass sich auch das Kabinett des designierten Premierminis-
sche Absichten sich frei nach einem FDP-Slogan wie folgt ters Giuseppe Conte an die geltenden Haushaltsregeln
zusammenfassen lassen: Italien first, Bedenken second. zu halten hat. Auf der anderen Seite sollten die Mächtigen
Für Europa ist die italienische Version des Trumpismus in Berlin, Brüssel und Paris – anders als es manche deut-
dabei kaum weniger gefährlich als das Original. Das Pro- sche Ökonomen derzeit empfehlen – unbedingt an ihren
gramm der neuen Populistenkoalition in Rom besteht im Plänen für eine Reform der Eurozone festhalten. Und
Wesentlichen darin, in großem Stil die Steuern zu senken zwar im Geiste jener Vorschläge, die Frankreichs Präsident
sowie Renten und Sozialleistungen zu erhöhen – und so Emmanuel Macron schon vor Monaten vorgelegt hat
das hoch verschuldete Land noch und von denen auch Italien pro-
weiter zu verschulden. Es ist eine fitieren könnte.
Agenda, die ständig mit dem Ein größeres Investitionsbud-
Selbstmordattentat droht: Entwe- get zum Beispiel würde nicht zu-
der ihr kommt uns entgegen, so letzt den arbeitslosen Jugend-
lautet die Ansage, oder wir spren- lichen im Süden des Landes zu-
gen unser Land in die Luft, und gutekommen; jedenfalls könnte
die Eurozone dazu. es weit eher neue Jobs schaffen
Auf den ersten Blick klingt das als etwa die Herabsetzung des
RICCARDO ANTIMIANI / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK
wie die Drohung des einstigen Rentenalters, wie sie Roms neue
griechischen Finanzministers Regierung plant. Mehr Unter-
Yanis Varoufakis, der vor drei Jah- stützung hat Italien auch für die
ren ebenfalls den großen Wäh- Bewältigung der Flüchtlingskrise
rungscrash beschwor, sollte die verdient, bei der es jahrelang
Eurozone der Regierung in Athen vom Rest des Kontinents allein-
nicht einen wesentlichen Teil gelassen wurde. Es ist ein be-
ihrer Schulden erlassen. Doch in währtes Prinzip: Die Aussicht
Wahrheit ist die Attacke aus Rom auf mehr Geld aus Brüssel hat
weit dreister und gefährlicher. schon viele Regierungen bewo-
Gefährlicher ist sie, weil Italien, gen, über ihre politischen Pläne
anders als das weit kleinere Grie- noch einmal nachzudenken.
chenland, im Fall der Fälle allen- Designierter Premierminister Conte Der wichtigste Verbündete der
falls für ein oder zwei Jahre von EU ist dabei der Finanzmarkt.
den Rettungsschirmen des Konti- Seit Tagen schon steigen die Risi-
nents geschützt werden könnte (siehe Seite 78). Danach koaufschläge für italienische Staatsanleihen, und das wird so
würde der Euro nahezu unweigerlich in eine existenzbedro- weitergehen, wenn die neue Regierung an ihren unbezahl-
hende Krise stürzen und möglicherweise Banken und Fi- baren Steuer- und Sozialversprechen festhält. Passt sie ihre
nanzinstitutionen in aller Welt mit in den Abgrund reißen. Pläne dagegen rasch der Realität an, sinken die Aufschläge,
Wenn Griechenland einen Sprengsatz für den Währungs- und die Regierung müsste weniger Geld für Zins und Tilgung
verbund darstellte, dann wäre Italien eine Atombombe. bereitstellen. Es klingt paradox, ist aber trotzdem richtig:
Überdies zeichnet sich die römische Kampagne durch Je besser die Regierung haushaltet, desto mehr Geld kann
eine besondere Form von Unverfrorenheit aus. Griechen- sie ausgeben. Die Frage wird sein, wie schnell sich Italiens
land war ein armes Land am Rande des Bankrotts, das in große Vereinfacher mit dieser Logik anfreunden können.
einer akuten Notlage um Hilfe bat. Die Italiener dagegen Mehr Solidarität gegen mehr Stabilität, so lautet das
sind im Schnitt vermögender als die Deutschen und um ein Motto Macrons für die Reform der Eurozone, und so könn-
Vielfaches reicher als die Bürger Lettlands oder der Slowa- te nun auch das Motto für den Umgang mit der neuen
kei – trotzdem sollen auch diese nun für die Folgen einer Populistenregierung in Italien lauten. Am Ende könnte ein
Steuerreform geradestehen, die vor allem dem wohlhaben- Deal stehen, der im Interesse beider Seiten liegt.
deren Teil der italienischen Bevölkerung nutzt. Setzt sich Und für gute Deals sollten Donald Trumps italienische
die neue Regierung damit durch, hätte sie eine besonders Epigonen langsam ein Gespür entwickeln. Michael Sauga
Gauländer raus!
In Frankfurt zeigt eine Grüne,
Jakob Augstein Im Zweifel links wie man die AfD erledigt.
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M e h r spa n n e n
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Geschichten a ries
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www.kfw.de/s
Opfer Meier
1988
I
anwaltschaft: »Ein Täter konnte nicht er-
m Sommer 1989, dem Jahr, in dem die Deutschen wiedervereinigt werden, mittelt werden.«
Deutschland neu geboren wird, stirbt nach Helmut Kohl zuerst Gerhard Schrö- Die allermeisten Mordfälle werden auf-
in Lüneburg die Fotografin Birgit der Kanzler wird und schließlich Angela geklärt, 2017 waren es 95,5 Prozent nach
Meier, 41. Ihr Mörder hinterlässt kei- Merkel. Die D-Mark wird abgeschafft und der Polizeistatistik. Doch jeder ungeklär-
ne Spuren, nicht einmal ihre Leiche wird der Euro eingeführt, statt Briefe schreiben te Mord ist ein Verbrechen, das niemals
gefunden. sich die Menschen nun E-Mails und SMS. endet – weil es die Angehörigen endlos
Die Tochter, die am Morgen als Erste Fast drei Jahrzehnte, in denen eine verfolgt. Wer hat das getan? Warum? Wie
das Haus betritt, findet nur eine offene Tochter verzweifelt, ein Ehemann zu Un- lange musste die Mutter, die Schwester, der
Balkontür, verwirrte Katzen, einen We- recht beschuldigt wird, der wahre Mörder Partner leiden? Die Qual der offenen Fra-
cker, der auf kurz nach sieben Uhr gestellt sich das Leben nimmt, eine Mutter zer- gen stürze die Angehörigen in ein »psychi-
F OTO S : R O B I N H I N S C H / D E R S P I E G E L ; P R I VAT ( L . )
ist, auf dem Bett die Umhängetasche der bricht und ein Bruder, selbst Polizist, fast sches Chaos«, sagt Kristina Erichsen-Kruse
Mutter, auf dem Boden eine Metallkassette den Glauben an seine Zunft verliert. von der Opferschutzorganisation Weißer
mit ein paar Fotos und Zigarettenasche. Und von Birgit Meier nichts, nur ihr Per- Ring, »die ungelöste Tat begleitet sie jeden
Am Abend zuvor hatten die beiden noch sonalausweis, den ein Postbeamter zwei einzelnen Tag, bis ans Ende ihres Lebens«.
telefoniert, gegen halb elf. Ich bin schon Wochen nach ihrem Verschwinden aus ei- Der Polizeibegriff Cold Cases, »kalte
im Nachthemd, hatte die Mutter gesagt, ich nem Stapel Briefe im Hamburger Haupt- Fälle«, meint jene Taten, in denen jede
leg mich gleich schlafen. Am nächsten Mor- postamt fischt. Spur erkaltet und nirgendwo mehr hinzu-
gen ging sie nicht mehr ans Telefon. führen scheint. In den Vereinigten Staaten
Mehr als 27 Jahre wird es dauern, bis Lange war der Fall der plötzlich ver- entstanden schon in den Achtzigerjahren
die Polizei endlich herausfindet, wer sie schwundenen Unternehmergattin aus die ersten Spezialeinheiten für diese un-
getötet hat. Fast drei Jahrzehnte, in denen Lüneburg ein sogenannter Cold Case, ein gelösten Kapitalverbrechen. In Europa
14
Titel
gibt es Vergleichbares in den Niederlan- Eines Tages klingelte er bei ihr, angeb- Lieblingsplatz auf der Terrasse, er blickt
den, wo in jeder der zehn Polizeiregionen lich, um sich nach der Nachbarin zu erkun- auf Palmen, Wasser, Villen. Lüneburg, der
eine Cold-Case-Einheit mit bis zu 20 Be- digen, die weggezogen war. Sie habe da Ort, in dem seine Frau starb, ist 15 Flug-
amten arbeitet. »Wir tun das für die Ange- wohl einen »Hausfreund« bekommen, er- stunden weit weg. »Hier gibt es keine Mör-
hörigen«, sagt Aart Garssen, 52, Chef die- zählte Birgit Meier einer Kollegin – an der«, sagt er, »hier kann man sogar die Tü-
ser Einheiten, »und schaffen öffentliches dem Abend, bevor sie verschwand. ren unverschlossen lassen, und es kommt
Vertrauen in die Polizei.« Das alles wussten die Ermittler in Lüne- nichts weg.«
Auch in Deutschland haben Ermittler burg, die mit Hubschraubern, Hunden und Zwei Morde gab es in den vergangenen
die Bedeutung der Cold Cases verstanden. Booten auf dem Reihersee und dem Elbe- 16 Jahren auf Marco Island, praktisch
Sie sehen inzwischen, wie wichtig es ist, Seitenkanal nach Birgit Meier suchten. Sie nichts für die USA. Entscheidend für
auch nach 20, 30 Jahren alles dafür zu tun, wussten auch, dass der Gärtner als 22-Jäh- Meier ist: Hier kennt ihn niemand, und
ein Verbrechen doch noch aufzuklären. riger zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis ver- niemand kennt seine Geschichte, »das ist
Das gibt den Angehörigen die Hoffnung urteilt worden war, weil er eine 17-jährige eine große Entlastung«. Auch wenn sie
auf späte Gerechtigkeit, entlastet die falsch Anhalterin vergewaltigt und fast getötet schon getrennt lebten, hat sich der Mord
Verdächtigten und zeigt dem Täter: Du hatte. Ein Gutachter stufte Wichmann an seiner Frau tief in sein Leben gegraben,
kommst nicht davon. damals als »Intensivtäter mit erheblicher bis heute.
»Wir können nicht zufrieden sein, solan- krimineller Energie« und als »gemeinge- Er hatte sich noch mit seiner Frau ge-
ge ein Mordfall ungelöst bleibt«, sagt fährlich« ein. troffen an jenem letzten Abend, sie bespra-
Frank-Martin Heise, Chef des Landeskri- Doch erst im Oktober 1990, gut ein Jahr chen den finanziellen Teil ihrer Scheidung.
minalamts (LKA), der Ende 2016 in Ham- nach Meiers Verschwinden, wollte die Kri- Man sei sich einig gewesen, sagt Meier.
burg die erste Cold-Case-Einheit gründete. po Wichmanns Haus durchsuchen – die Von einem Teil des Geldes, das sie bekom-
Mord verjährt nicht, ein Rechtsstaat darf Staatsanwaltschaft lehnte ab. Sie hielt den men sollte, plante seine Frau ein Reihen-
es nicht hinnehmen, ein solches Verbre- Verdacht für nicht »konkret« genug. 1993 haus zu kaufen. Am nächsten Morgen
chen ungesühnt zu lassen. »Auch die An- ließ eine junge Staatsanwältin endlich das wollte sie in einem Möbelladen dafür eine
gehörigen haben einen Anspruch auf ef- Haus des Friedhofsgärtners durchsuchen Einbauküche aussuchen.
fektive Strafverfolgung«, sagt Heise. und fand Verstörendes: Fesseln, Betäu- »Sie hatte sich hübsch gemacht«, erzählt
Viele alte Verbrechen konnten in den bungsmittel, ein umgebautes Kleinkaliber- Meier, das habe ihn überrascht. »Erst im
vergangenen Jahren mithilfe neuer Krimi- gewehr, einen Revolver, eine Schießweste, Nachhinein hab ich überlegt, hat sie das
naltechnik aufgeklärt werden. Nun geht Schalldämpfer, Munition, einen Schussap- meinetwegen gemacht?« Oder für ihren
es darum, Cold-Case-Ermittlungen fest in parat, ein Springmesser, einen Dolch, ein Mörder? Meier glaubt heute, dass sie mög-
die Polizeiarbeit zu integrieren.
In Düsseldorf baut das LKA eine speziel-
le Datenbank mit 900 alten Fällen auf. Das A n d e r H a n d s c h e l l e e i n e w i n z i g e B l u t s p u r,
LKA Wiesbaden entwickelt Empfehlungen
dafür, wie Cold Cases neu aufgerollt werden d o c h d i e s o l l t e d i e Po l i z e i e r s t 2 3 J a h r e s p ä t e r
können. In einem Pilotprojekt hat die Kripo untersuchen.
Aschaffenburg zwölf Ermittler ein Jahr lang
für solche Altfälle freigestellt. In Kiel sind
zwei Cold-Case-Ermittler im Einsatz. Elektroschockgerät, Pornos, Kontaktan- licherweise mit Friedhofsgärtner Wich-
Die Hamburger Polizei hat ihre Einheit zeigen, Kartenmaterial. Alles versteckt in mann verabredet war. Dass der sie später
außerhalb der Mordkommission geschaf- einer Art Geheimzimmer hinter einer grü- aus dem Haus gelockt habe. Eine halbe
fen, damit die Beamten »frei sind vom nen, dick gepolsterten Tür. Stunde etwa sei er da gewesen, sagt Meier,
Druck der aktuellen Verfahren«, sagt LKA- Vergraben im Garten fand die Polizei dann hätten sie sich »ganz normal« verab-
Chef Heise, »sie brauchen einen neuen, ein Auto, einen roten Ford, den Wichmann schiedet.
unvoreingenommenen Blick«. geleast hatte. Im Kofferraum schlug der Am nächsten Morgen, als seine aufge-
Leichenspürhund an. Auch ein Paar Hand- regte Tochter ihn alarmiert, denkt er noch:
Zwischen dem Bungalow, aus dem im schellen stellte die Polizei sicher, daran Das kann nichts Schlimmes sein. Er lässt
Sommer 1989 die Lüneburger Unterneh- eine winzige Blutspur – es war das Blut seine Frau im Möbelladen ausrufen, aber
mergattin Birgit Meier verschwand, und von Birgit Meier. Doch diese Blutspur soll- sie meldet sich nicht. Als er am Mittag die
dem Rotklinkerhaus, in dem der Friedhofs- te die Polizei erst 23 Jahre später untersu- Polizei informiert, gilt sie dort als Vermiss-
gärtner Kurt-Werner Wichmann wohnte, chen. So lange dauerte es auch, bis sie tenfall, und so wird das auch lange bleiben.
liegen lediglich fünf Kilometer. Wichmann mit zwei spektakulären Dop- Harald Meier druckt Suchplakate in
Kaum zehn Minuten, mehr braucht pelmorden im Göhrde-Wald unweit von seiner eigenen Setzerei und hängt sie an
man nicht mit dem Auto. Der Gärtner, der Lüneburg in Verbindung brachte. Laternenpfähle, für Hinweise verspricht
damals 40 Jahre alt war, kannte die Stre- er 10 000 Mark, später 25 000, ohne Er-
cke gut, denn er arbeitete bei Meiers Nach- Harald Meier, der Ehemann der Ver- folg. Noch bevor ein Jahr vergangen ist,
barin im Garten und erledigte für sie Re- schwundenen, wartete all die Zeit verge- schreibt ihm die Staatsanwaltschaft: »Sehr
paraturen. bens darauf, dass das Verbrechen an seiner geehrter Herr Meier«, die Ermittlungen
Hatte er die Frau beobachtet, die seit Frau aufgeklärt würde. Er hat seit 2016 ein seien »erfolglos verlaufen«. Es habe noch
einiger Zeit getrennt von ihrem Mann leb- Haus am Meer auf Marco Island, Florida. nicht einmal geklärt werden können, »ob
te? Er habe sich mal den Gartenschlauch Er mag es, von dort die Delfine zu beob- Ihre Ehefrau ums Leben gekommen ist.
bei ihr ausgeliehen, wird Wichmann nach achten, die jeden Tag mit der Flut in die Weitere Ermittlungsansätze sind nicht ge-
Meiers Verschwinden aussagen. Man sah Bucht kommen. Erst hier hat er sich wie- geben. Mit freundlichen Grüßen«.
sich auf Partys der Nachbarin. Einmal der sicher fühlen können. Dann gerät Harald Meier selbst ins Vi-
habe er sie nach nebenan in ihr Haus ge- Es sind 28 Grad, die Luft ist feuchtwarm. sier der Polizei. Sein mögliches Motiv: die
bracht, vielleicht sogar getragen, weil sie Meier, 72, kurze weiße Haare, sitzt in hohe sechsstellige Summe, die er seiner
so betrunken gewesen sei. Jeans und schwarzem T-Shirt auf seinem Frau bei der Scheidung hätte zahlen müs-
sen. Er hat ein gut gehendes Druckunter- Firma einen Anruf. Die Polizei hatte lang denkt er sogar, jemand habe sie ent-
nehmen aufgebaut. gerade Wichmanns Haus durchsucht. »Ich führt, um ihn zu erpressen. Immer wieder
»Sie schrien mich an, ich solle es endlich habe seine Stimme sofort erkannt, das hakt er bei den Kollegen in Lüneburg nach,
zugeben«, erzählt Meier, »sie haben mich war Wichmann. Er sagte: Das habe ich sorgt dafür, dass der Fall bei »Aktenzei-
echt gequält.« Weil er nach dem Gespräch dir und deinem sauberen Schwager zu ver- chen XY« vorgestellt wird. Doch die Er-
bei seiner Frau allein in seine Firmen- danken.« Als Meier fragte, wer denn da mittlungen kommen nicht voran.
wohnung gefahren sei, habe er kein Alibi sei, habe der Anrufer gesagt: »Du weißt Als er 2002 in den Ruhestand geht, ist
gehabt. Beim Ehemann gebe es mehr genau, wer hier ist – und du wirst von mir seine Schwester immer noch nicht gefun-
Gründe, ein Tatmotiv anzunehmen, als hören.« den. Er gründet ein eigenes Ermittlungs-
bei Wichmann, für dessen Täterschaft kön- Zu der Zeit war Wichmann schon auf team aus pensionierten und aktiven hoch-
ne »eigentlich nur seine kriminelle Vorbe- der Flucht. Er verursachte bei Heilbronn karätigen Kriminalisten: Rechtsmediziner,
lastung sprechen«, befand die Kripo Celle, einen Verkehrsunfall und kam in U-Haft – eine Kriminalpsychologin, Polizisten, ein
die 1994 eingeschaltet wurde. nicht wegen des Verdachts im Fall Meier, Strafverteidiger, ein Staatsanwalt. Ihre Re-
Sein Segelboot in Neustadt an der Ost- sondern weil man Maschinenpistolenteile cherchen führen sie schnell zu einem Ver-
see sei ohne Durchsuchungsbeschluss und Munition in seinem Kofferraum ge- dächtigen: Kurt-Werner Wichmann. »Sei-
durchsucht worden, sagt Meier. Später sei funden hatte. In seiner Zelle erhängte er ne kriminelle Vorgeschichte, seine Verstri-
die Polizei mit Hunden in seinem Haus ge- sich am 25. April 1993 mit dem Anstalts- ckungen in Lügen und Widersprüche bei
wesen. Ein Informant aus seiner Firma er- gürtel. »Hier gibt es nur einen Schuldigen, der Polizei, die Bezüge zu meiner Schwes-
zählte der Polizei, Meier habe seine Frau und der bin ich«, schrieb Wichmann in ei- ter, alles deutete auf ihn«, sagt Sielaff.
vermutlich im Boden der neu gebauten Fa- nem Abschiedsbrief an seinen Bruder. Knapp drei Monate nach ihrem Ver-
brikhalle einbetoniert. Das Verfahren im Fall Meier »hinsicht- schwinden sagte die Arbeitskollegin bei
Ȇberall wurde getuschelt, schau mal, lich Wichmann hat durch dessen Tod seine der Polizei aus, dass Birgit Meier ihr von
da kommt der Meier, du weißt schon.« In Erledigung gefunden«, notierte die Staats- Wichmann erzählt hatte. »Hätte man da
der Kantine hörte er, wie Mitarbeiter sag- anwaltschaft 1994. Zwar sollte eigentlich konsequent weiterermittelt, hätte man es
ten: Traust du dem Chef das zu? Nee, sagt gegen unbekannt weiterermittelt werden, schon damals aufklären können«, sagt Sie-
einer, ein anderer: Na ja, man weiß ja nie. doch praktisch ruhte das Verfahren. laff. »Alles, was wir fanden, sagte uns:
Als er sich um einen großen Auftrag einer Es dauert unfassbare 22 Jahre, bis eine Wichmann war ein narzisstischer, psycho-
Krankenkasse bewarb, habe ihn der Vor- neue Ermittlungsgruppe die Handfessel pathischer Sadist.«
stand zum Gespräch gebeten: »Sie werden wieder aufspürt, die Polizisten 1993 bei Eine Ex-Geliebte berichtete später der
verstehen, dass wir das fragen«, dann hät- der Durchsuchung in Wichmanns Haus ge- Polizei, einmal habe Wichmann sie mit
einer Handschelle an die Heizung ketten
wollen. Sie habe sich solche »Spielchen«
»Hier gibt es nur einen Schuldigen, verbeten. Die Frau hatte ihn über eine
Kontaktanzeige im »Hamburger Abend-
und der bin ich«, schrieb Wichmann an blatt« kennengelernt, sagte sie, unter
s e i n e n B r u d e r. »Mann mit Tagesfreizeit« oder so ähnlich.
2013 lassen die neuen Bewohner von
Wichmanns Haus bei Lüneburg Sielaff und
ten sie ihn auf seine Frau angesprochen. funden hatten. Nun untersuchen sie auch sein Team herein. Sie haben sich neu ein-
Den Auftrag erhielt er nicht. den stecknadelkopfgroßen Blutstropfen, gerichtet, natürlich, aber das Geheimzim-
»All das hat an mir genagt«, sagt er. der daran haftet. »Mit 99,9-prozentiger mer hinter der dicken, gepolsterten Tür
Nach außen gab er sich cool, »doch zu Wahrscheinlichkeit« stimme das Blut mit scheint noch so, wie Wichmann es 20 Jahre
Hause hab ich geheult«. All die Jahre habe der DNA von Birgit Meier überein, teilen zuvor verlassen hatte. Dort entdecken die
er sich gewünscht, »dass es eine Aufklä- die Ermittler im Oktober 2016 mit. Sie hal- Privatermittler Videomitschnitte der »Ak-
rung gibt, solange ich noch lebe«. ten es nun für »sehr wahrscheinlich, dass tenzeichen XY«-Sendung über Birgit Meier
Stattdessen eröffnet die Polizei 2007 der damals bereits tatverdächtige Fried- und zwei Morde im Göhrde-Wald. Die
nach einem Hinweis ein Ermittlungsver- hofsgärtner Birgit Meier entführt hat«. Polizei hatte sie offenbar übersehen.
fahren gegen Meier, 18 Jahre nach der Tat. Wie sie dabei zu Tode kam, bleibt offen.
»Es bestehen keinerlei vernünftige Zweifel Für den so lange zu Unrecht verdächtig- Steven Baack, 37, Kriminalhauptkommis-
daran, dass Harald Meier seine Ehefrau ten Harald Meier gibt es in der Pressemit- sar, ist der Chef der neuen Cold-Case-Ein-
getötet hat«, schreibt der ermittelnde Be- teilung nur einen dürren Satz: »Anhalts- heit im Hamburger LKA. Unterstützt von
amte ein Jahr später. Meiers Glück: Die punkte dafür, dass der damals ebenfalls ins drei Kollegen, soll er Fälle lösen, die bisher
Staatsanwaltschaft folgt der Meinung Visier der Fahnder geratene Ehemann mit als aussichtslos galten.
nicht. dem Verschwinden von Birgit Meier zu Je länger eine Tat zurückliegt, desto
Meier kannte sogar jenen Mann, den tun haben könnte, haben sich durch die schwieriger wird es, den Täter zu finden.
die Polizei schließlich 2016 als mutmaß- neuen Ermittlungen nicht ergeben.« Deshalb gilt die Zeit als Feind der Ermittler.
lichen Mörder seiner Frau ermitteln sollte: Doch nun sehen sie darin neue Chancen.
Friedhofsgärtner Wichmann. »Ich sah ihn Hätte es bei Polizei und Staatsanwalt- »Die Zeit kann uns auch helfen«, sagt
auf einer Party der Nachbarin, er hielt sich schaft in Lüneburg nicht so viele Versäum- Baack, »wenn Zeugen, die lange schwie-
im Hintergrund.« Ihm seien Wichmanns nisse gegeben, hätte der Fall schon vor gen, plötzlich sprechen, weil sich in ihrer
blonde Haare aufgefallen, seine hohe Stim- mehr als 25 Jahren aufgeklärt werden kön- Beziehung etwas geändert hat oder ihnen
me und die Augen: »eiskalte, blaue Augen, nen, sagt der ehemalige Hamburger LKA- gar nicht klar war, dass sie etwas Wichtiges
ein starrer Blick«. Bei den Damen in der Chef Wolfgang Sielaff, 75. Kein Fall hat wissen.«
Umgebung habe Wichmann als harmloser den Kriminalisten so verfolgt wie dieser, Das Geheimnis der Cold Cases, sagt
Sonnyboy gegolten, erzählen andere. denn Birgit Meier war seine Schwester. Baack, liege im Grunde in klassischer Er-
1993, vier Jahre nach dem Verschwin- Sielaff ist gerade LKA-Leiter geworden, mittlungsarbeit. »Wir müssen eine neue
den seiner Frau, bekam Meier in seiner als sie 1989 verschwindet, und eine Zeit Idee entwickeln, eine andere Perspektive
Opfer Hilal
(Fahndungsbild 1999)
17
ten zwölf Jahre lang betreut hat, kurz
vorm Ruhestand.
Abbas Ercan, 31, ist in einer dicken
schwarzen Jacke gekommen, er wird sie
auch im warmen Besucherzimmer der
Polizei nicht ausziehen. Eigentlich will er
auch gar nicht sprechen, es fällt ihm schwer,
das alles immer wieder zu erzählen. »Ich
tue es für Hilal, meine Schwester«, sagt er.
Ercan sieht stark aus, aber seine dunklen Spurenexpertin Gäbl,
Augen sind schwer von Traurigkeit. München
Er war zwölf, als seine kleine Schwester
nicht mehr vom Supermarkt zurückkam,
wo sie sich Hubba-Bubba-Kaugummi kau-
fen wollte; als die Familie verzweifelt die
Straßen absuchte und zwischendurch wie-
der hochrannte in die Wohnung im siebten
Stock, vielleicht war sie ja inzwischen wie-
der zurückgekommen, und alles wäre gut.
Nichts wurde mehr gut.
Eine Frau, die in ihrer Wohnung neben
dem Einkaufszentrum gerade Mittagessen
kochte und das Fenster gekippt hatte, hör-
te den Schrei: »Das war kein Hilferuf, das
war ein ganz aggressiver Schrei von einem
Kind.«
Zwei Busfahrer auf Ausbildungsfahrt
sagten ein paar Wochen später aus, sie hät-
ten gesehen, wie ein rothaariger Mann, ein
Wikingertyp, ein dunkelhaariges Mädchen
am Arm zerrte, das offenkundig nicht zu
ihm passte. Dann sprang die Ampel auf
Grün, und sie fuhren weiter.
Die Familie ist weggezogen aus dem
Viertel, doch neu anfangen kann sie nicht.
»Ich bin mit Hass auf den Täter aufgewach- Präparierte Proben
sen«, sagt Abbas Ercan, »aber ich will kei-
ne Rache, wir wollen nur wissen, wo Hilal
ist. Wir brauchen endlich Gewissheit, dann
erst können wir abschließen und Hilal viel-
leicht beerdigen. Der Täter muss uns eine den Kontakt zu den Angehörigen der Opfer.
Antwort geben, was er mit Hilal gemacht »Sie sollen wissen, dass wir uns kümmern.«
hat, das ist er uns schuldig.« Es stimme ja nicht, dass Zeit Wunden heile,
Die Soko »Morgenland« suchte nach »im Gegenteil, es wird immer schlimmer«.
Hilal damals in der Türkei, man hielt ein Pullover, Schuhe mit schwarzen Plateau- Als Baack vor anderthalb Jahren mit sei-
Familiendrama für möglich. »Das schlie- sohlen. »Wer hat Hilal am 27. 1. 1999 gese- ner Truppe anfing, hängte er eine Schiffs-
ßen wir heute aus«, betont Baack, »die Fa- hen? Wer kann etwas zum Verbleib ihrer glocke auf. Sie wird immer dann geläutet,
milie hat definitiv nichts damit zu tun.« Ohrringe oder Haarspangen sagen?«, steht wenn ein Fall gelöst ist. Zweimal zogen
2005 gestand ein inhaftierter Sexual- auf der Tafel. die Cold-Case-Ermittler schon am Strick:
straftäter überraschend die Tat. Er war »Wir hoffen, dass wir so einen Zeugen im September 2017, als sie den Mörder ei-
schon kurz nach Hilals Verschwinden ins erreichen, der vielleicht dachte, es sei ner dreifachen Mutter fanden, 36 Jahre F OTO S : R O B I N H I N S C H / D E R S P I E G E L ; LU C A S W A H L / A G E N T U R F O C U S ( R . )
Visier der Fahnder geraten, doch er hatte längst alles geklärt«, sagt Baack. Men- nach der Tat. In einem anderen Fall ent-
ein Alibi. Dass es falsch war, fand die Poli- schen mit Einkaufstaschen gehen vorbei, deckten sie, dass ein inzwischen verstor-
zei erst Jahre später heraus. Er hat sein es ist Samstagmittag, auch Monika Viet- bener Verdächtiger 1978 zu Unrecht frei-
Geständnis widerrufen, aber die Ermittler zen, die Nachbarin, die den Schrei gehört gesprochen wurde – der Todeszeitpunkt
haben ihn weiter im Blick. Eine Freundin hat, schleppt zwei schwere Tüten. Sie kön- war falsch berechnet worden, damit platz-
von Hilal sagte aus, sie habe ihn auf ihrem ne sich noch sehr gut an alles erinnern, te das Alibi. Erst im Februar nahm Baack
Spielplatz gesehen. Er hat mehrere Kinder sagt sie. »Immer, wenn irgendwo ein Kind einen Mann fest, der 1980 eine Frau le-
missbraucht, zwei Mädchen in seinem wegkommt, denke ich daran.« bensgefährlich verletzt hatte. Ein Zeuge
Auto entführt. Abbas Ercan kommt erst, als die Presse erkannte auf einem Polizeifoto die Tatwaf-
Am 27. Januar 2018, es ist der 19. Jah- weg ist. Er macht ein Foto von der Tafel fe wieder, ein Jagdmesser. Der Verdächtige
restag von Hilals Verschwinden, schrauben mit dem Bild seiner Schwester und betet. sitzt in Untersuchungshaft, deshalb wartet
Baack und seine Kollegen an den Elbgau- Vielleicht, sagt Steven Baack, ist der Tä- Baack noch mit der Glocke.
Passagen, wo sie zuletzt gesehen wurde, ter ja heute nicht mehr derselbe Mensch
eine »dauerhafte Fahndungserinnerung« wie vor 19 Jahren, »vielleicht kann er heute Der 21. Mai 1989 ist ein herrlicher Sonn-
an. Darauf sieht man Hilal, lachend, in sagen, dass er bedauert, was der Mensch tag, ungewöhnlich warm schon, es werden
schwarzen Jeans und orangefarbenem von damals getan hat«. Der Polizist hält noch drei Monate vergehen, bevor Birgit
18
Titel
Meier aus Lüneburg spurlos verschwindet. blättert nicht gern darin, so viele Erinne- Es war kurz nach Weihnachten 2017, als
Die Hamburgerin Gabi Reinold ist damals rungen, so viele Fragen – und so wenige die Polizei das Ergebnis meldete: In einem
16 Jahre alt und schläft noch, als ihre Mut- Antworten. Warum ihre Eltern getötet der Autos habe sie die DNA von Kurt-Wer-
ter kurz die Tür zu ihrem Zimmer öffnet wurden und wie, das wissen sie immer ner Wichmann gefunden, des Friedhofs-
und ruft: »Tschüs, wir sind weg.« Die El- noch nicht. gärtners aus Lüneburg. »Wenn man sich
tern fahren mit ihrem silberfarbenen Hon- Anja sieht fröhlich aus mit ihrem blon- überlegt, dass das alles vielleicht schon
da in den Göhrde-Forst bei Lüneburg, mit den Pferdeschwanz und den leuchtenden 1993 hätte aufgeklärt werden können,
Picknickkorb, einer Thermoskanne, mit blauen Augen, das täuscht: »Ich habe mein dann hätten wir vier Jahre lang mit dieser
Fernglas und Walkman. Sie kommen nie ganzes Leben lang funktioniert, trotz al- Ungewissheit leben müssen, aber nicht
mehr zurück. lem, aber plötzlich geht es nicht mehr, 30«, sagt Anja. »Unser Leben hätte viel-
Die Zeitungen zeigen Gabi und ihre plötzlich ist da Sand im Getriebe.« Zurzeit leicht noch mal eine ganz andere Wendung
Schwester Anja, 22, beide bildhübsch, wil- ist sie krankgeschrieben. Ihre Schwester, nehmen können.«
de Locken, die eine blond, die andere die nur ein paar Straßen weiter wohnt,
braun. Mit Freunden und ihrem Hund sagt: »Wenn es einen Wettbewerb gäbe, Cold-Case-Ermittler betonen, dass häufig
durchkämmen sie den Wald, in dem ihre wessen Eltern am schlimmsten gestorben akribische Ermittlungsarbeit am Ende zum
Eltern picknicken wollten, heften Steck- sind, gewinnen wir immer.« Täter führt. Aber die Kriminaltechnik gibt
briefe an die Bäume. »Mama und Papa, Manchmal, wenn sie mit Bekannten ihnen neue Möglichkeiten an die Hand, in
wo seid ihr?«, titeln die Zeitungen. über ihre Eltern redeten, sagten die: »Hör etlichen Fällen brachten DNA-Treffer den
Sieben Wochen später finden Beeren- bloß auf, sonst kann ich nicht schlafen, das Durchbruch. Ein Teil einer Hautschuppe,
sammler im Wald, abgedeckt mit Zweigen gruselt einen ja!« Anja sagt: »Die anderen eine Mikrospur Speichel, ein Stück Haar
und Ästen, zwei schon ziemlich verweste sehen so was als Fernsehkrimi oder bei reichen heute aus, um die DNA eines Men-
Leichen – es sind Gabis und Anjas Eltern. ›Aktenzeichen‹, für uns ist es bittere Rea- schen festzustellen. Die Kripo in München
Als die Polizei zwei Wochen später noch lität.« entwickelte ein bundesweit einzigartiges
einmal den Wald nach Spuren absucht, All die Jahre seien sie größtenteils auf Verfahren, um DNA aus Spurenträgern zu
entdeckt sie zwei weitere Leichen, wieder sich allein gestellt gewesen, sagen die isolieren: die »Münchner Waschung«.
ein Paar. Die Obduktion ergibt, dass sie Schwestern. »Das ist ja nicht so wie im Dazu wird der Gegenstand in einem Plas-
vermutlich genau zu der Zeit getötet wur- Fernsehen, wo die Polizei mit einem tiksack mehrere Tage lang in Ethanol ein-
den, als die Polizei nur 800 Meter entfernt Psychologen anklopft«, erzählt Gabi. »Wir geweicht.
die Leichen der Reinolds barg. bekamen nur einen Anruf: Wir haben sie »Das ist im Prinzip wie eine Handwä-
Den Töchtern zeigen die Beamten Tü- gefunden. Tschüs.« sche«, erklärt Eva Gäbl, 53, Spurenexper-
ten mit Schmuck und Kleidungsstücken. Die Polizei habe sie nie richtig ernst ge- tin, die sich nur um Cold Cases kümmert.
Ein geblümter Rock, hochgeschoben, war nommen, sagt Anja, »ein Gefühl, das uns Sie verfügt über ein komplettes Labor
das einzige Kleidungsstück, das man bei fast 30 Jahre begleitet hat«. Rund 20 Jahre im Polizeipräsidium. Im Abzugsschrank
den ansonsten unbekleideten Leichen lang hätten sie es mit demselben Kripo- hängt die Unterwäsche aus einem unauf-
gefunden hatte. Ist das der Rock, der beamten zu tun gehabt, und der habe im- geklärten Sexualmord. Gäbl hofft, darauf
Schmuck ihrer Mutter? »Das roch alles mer nur eine Botschaft für sie gehabt: Der Spuren oder DNA des Täters zu finden.
nach Leiche«, erinnert sich Gabi. »Ich hat- Fall sei ausermittelt. Die letzten Jahre hätten Die vom Alkohol ausgewaschenen Partikel
te noch nie Leiche gerochen, aber ich war sich zwar immer wieder neue Beamte vor- sammeln sich im unteren Zipfel des Plas-
mir sicher. Es war schrecklich.« Ein Spa- gestellt, doch ohne weitere Informationen. tiksacks, Gäbl pipettiert den Bodensatz,
ziergänger findet noch eine Plastiktüte mit Erst Ende 2016 ließ die Polizei die Fo- jeweils rund 50 Milliliter, und schickt die
einem »Damenleibchen und einem Ten- lienabzüge aus dem Auto ihrer Eltern und Proben in die Rechtsmedizin.
nissocken«, notiert die Polizei. Und wie- dem des anderen ermordeten Paares unter- Die Kleidung, in Einzelstücke zerschnit-
der: »Vorlage bei den Töchtern«. suchen, die schon 1989 gesichert worden ten, wird nach dem Auswaschen aufbe-
Die Zeitungen mutmaßen über den waren. Der Täter hatte die Wagen als wahrt: Vielleicht ist die Kriminaltechnik
»Göhrde-Mörder«, aber er bleibt jahrzehn- Fluchtfahrzeuge genutzt. in ein paar Jahren schon wieder ein Stück
telang ein Phantom. Spaziergänger mei-
den den Wald, Totenwald heißt er jetzt.
Nur ein falscher Verdächtiger wird aufge-
spürt: der Förster des benachbarten Re-
viers. Eine Verbindung zum Fall Birgit
Meier zieht die Polizei nicht, trotz der
räumlichen Nähe der Tatorte.
An einem Abend im Februar, fast 29
Jahre nach dem Mord, sitzen die Reinold-
Töchter in Anjas Wohnung in Hamburg-
Bergedorf und sind noch genauso traurig Täter Wichmann
wie am ersten Tag. »Warum?« stand auf
der Kranzschleife am Grab von Peter Rei-
nold, 51, Wareneingangskontrolleur für
Kühlschläuche, und Ursula Reinold, 45,
die zuletzt als Servicekraft im Pflegeheim
gearbeitet hatte. Als die Träger die Särge
anhoben, hätten sie gestutzt, weil sie so
leicht waren, erinnert sich Gabi, heute 45,
es waren ja nur noch die Knochen darin.
Anja, 51, hat all die Zeitungsartikel von
damals in einem Ordner aufbewahrt. Sie
Polizeipräsident
Kruse
Polizei aus DNA-Analysen nicht nur einige Sie glauben, dass Wichmann sie getötet hat das Schwein bloß alles mit ihr gemacht,
wenige Merkmale wie das Geschlecht hat, und schauen nun zu, wie der Boden einem unschuldigen Menschen?«
abfragen kann, sondern auch die Augen- aufgegraben wird. Sielaff hatte einen Tipp Sein Schwager Sielaff, der Polizist, der
farbe, die Haarfarbe, die regionale Her- der Hausbesitzerin bekommen, dass mit nie aufgab, sagt, zuerst habe ein Schock
kunft. Doch das ist in Deutschland nicht der Grube etwas nicht stimme. Der ehe- seinen Körper durchflutet, dann »Erleich-
erlaubt, anders als in den Niederlanden. malige Polizist hat die Grabung organisiert. terung, auch Genugtuung, dass wir sie end-
Dort dürfen Ermittler sogar DNA-Muster Plötzlich ruft die Anthropologin, die die lich gefunden haben«.
von Verwandten benutzen. Im Dezember ausgehobene Erde mit feinen Pinseln und
löste die Polizei dort den Fall einer jungen Spateln untersucht: »Menschliche Kno- Warum hat die Polizei Jahrzehnte ge-
Frau, die 1992 ermordet worden war. Ein chen!« Es ist, wie sich bald bestätigt, der braucht, um herauszufinden, dass der Fried-
DNA-Massenscreening, das nur türkische Leichnam Birgit Meiers. Zunächst werden hofsgärtner Kurt-Werner Wichmann der
Männer eines Viertels absolvierten, führte die Mittelfußknochen ausgegraben, es Täter war? Der zuständige Polizeipräsident
Lüneburgs, Robert Kruse, 62, sitzt in sei- hilfe zum Mord, gegen wen, will sie nicht Häufig kämen Hinweise von Insassen
nem Amtszimmer und hat darauf keine verraten. in Haftanstalten, sagt der Chef der nieder-
rechte Antwort. Als er im April 2015 nach Das Landeskriminalamt in Hannover hat ländischen Cold-Case-Einheiten, zehn Pro-
Lüneburg kam, waren der Fall Birgit Meier Kruse zufolge bundesweit bereits 24 unge- zent der Altfälle würden so gelöst. Des-
und die Göhrde-Morde schon Cold Cases. löste Fälle identifiziert, für die der Friedhofs- halb verteilt die Polizei dort nach US-Vor-
Wohl auch auf Drängen des Bruders von gärtner als Täter infrage kommen könnte. bild Cold-Case-Kalender in den Knästen:
Birgit Meier richtete Kruse eine neue Er- »Wir dürfen uns aber nicht darauf beschrän- jede Woche ein anderer Fall, mit Foto des
mittlungsgruppe ein, die EG Iterum, latei- ken«, sagt Kruse. Anhand eines Profils, das Opfers, Details zum Tathergang. Für nütz-
nisch für »abermals«. Diese Gruppe fand seine Fahnder derzeit erstellen, sollen bald liche Informationen gibt es bis zu 20 000
immerhin die Handschelle mit der Blut- Polizeidienststellen in der ganzen Republik Euro Belohnung.
spur. Alle anderen Asservate zu Birgit mögliche Zusammenhänge zu Wichmann Der Bund Deutscher Kriminalbeamter
Meier und große Teile der Akten waren prüfen: »Wo war er in Bundeswehrzeiten? fordert, auch in Deutschland bundesweit
vernichtet worden, nachdem sich Wich- Hatte er Krankenhausaufenthalte? Bekann- Cold-Case-Einheiten aufzubauen. Denn
mann 1993 erhängt hatte. Das sei »nicht te, zu denen er öfter gefahren ist?« häufig sind Altfall-Ermittler noch mit ak-
nachvollziehbar«, klagte ein Ermittler Wichmann benutzte nach Sielaffs tuellen Fällen belastet, die Vorrang haben.
2007. Überdies habe man Spurenordner Recherchen sechs verschiedene Autos, war Die Einheit für ungeklärte Altfälle in Ber-
»ohne die nötige Sorgfalt kopiert«, sie seien im Jahr mehr als 30 000 Kilometer unter- lin muss sich auch um ärztliche Kunstfeh-
deshalb nur noch begrenzt zu benutzen. wegs, ein paar Jahre lang lebte er in der ler sowie Rechtshilfeersuchen kümmern.
»Das eine oder andere würden wir heu- Nähe von Karlsruhe. Deutschlandweit »Wir müssen weg von den Zufälligkeiten
te wahrscheinlich anders machen«, sagt dürften Hunderte Cold Cases gesichtet und und einer gewissen Willkür in der Entschei-
Kruse, »aber ob das Fehler waren, da bin womöglich neu aufgerollt werden. dung, ob ein Fall wieder aufgenommen
ich vorsichtig, es ist schwer, das aus der Allein in Lüneburg sind 35 Tötungs- wird oder nicht«, sagt der Hamburger
Distanz von fast 30 Jahren zu bewerten.« delikte seit 1965 unaufgeklärt, davon 13 Oberstaatsanwalt Lars Mahnke. Viele
Er will nichts gegen die Kollegen sagen, Frauenmorde. Besonders auffällig ist der Polizeistellen würden gern eine Cold-Case-
die damals Wichmann einfach mal anrie- Mord an Ilse Gehrkens, die 1968 im Lüne- Einheit aufbauen wie in Hamburg, doch
fen, als sie von dessen Kontakt zu Birgit burger Forst erschossen neben ihrem Fahr- dafür fehlt es an Personal.
Meier erfuhren, die damals nicht alle Nach- rad gefunden wurde: Wichmann, der zum
barn befragten, die Wichmann nicht zur Zeitpunkt des Mordes 19 Jahre alt war, hat Am 20. November 2017, zwei Monate
Fahndung ausschrieben, als er floh. Die Zeitungsausschnitte zur Tat säuberlich auf- nach dem Fund in der Garage, wird Birgit
sich nach seinem Tod nicht mehr um die geklebt und abgeheftet. Meier in Lüneburg beerdigt, 28 Jahre nach
Handschelle mit der Blutspur kümmerten,
obwohl ein Beamter am Kriminaltechni-
schen Institut Hannover sie sogar bereits Gibt es Mitwisser? Viele Menschen,
in die Rechtsmedizin zur DNA-Unter-
suchung geschickt hatte. Der Beamte wies d i e e i n Ve rb r e c h e n b e g e h e n , e r z ä h l e n
ausdrücklich darauf hin, dass Wichmann i rg e n d w a n n d a v o n .
sowohl im »Vermisstenfall Meier« als auch
bei den Göhrde-Morden 1989 »unter Tat-
verdacht« geraten sei. Hat es Kruse geärgert, dass der Privat- ihrem Tod. Ihre Tochter Yasmine legt ihr
ermittler Sielaff die Leiche Birgit Meiers Abschiedsverse ins Grab. Mehr als 4000
Seit einiger Zeit ist die Lüneburger Poli- gefunden hat und nicht die Polizei? »Ent- Gedichte über ihre getötete Mutter hat sie
zei nun überaus aktiv. Chef Kruse ließ scheidend ist, dass sie gefunden ist, das ist geschrieben. Sie ist heute 48 Jahre alt und
erneut das Haus des Mörders durchkäm- für die Angehörigen und auch für unsere noch immer in Psychotherapie. Sie sagt:
men, jeden Winkel durchsuchen. Wich- weiteren Ermittlungen ganz wichtig, alles »Ich möchte gern wissen: Warum hat er
manns Geheimzimmer hinter der gepols- andere ist zweitrangig«, sagt Kruse. das gemacht?«
terten Tür wurde entkernt, der Garten um- Die Staatsanwaltschaft Lüneburg gibt Ihr Vater Harald Meier wartet noch im-
gepflügt, der Hang, in dem Wichmann das zu früheren Ermittlungsgängen oder gar mer auf eine Entschuldigung der Polizei:
Auto vergraben hatte, abgetragen. Kroati- Fehlern keine Auskunft. Allein die Haupt- »Warum können sie nicht sagen, tut uns
sche Leichenspürhunde, die auf die Suche akten der Göhrde-Morde umfassten mehr leid, Herr Meier, wir haben uns bei Ihnen
nach Massengräbern spezialisiert sind, als 60 000 Blatt Papier, sagt die Sprecherin geirrt?« Den Sommer über lebt er wieder
schnüffelten verdächtige Stellen ab. der Staatsanwaltschaft. Dies alles durch- in Lüneburg, im Haus, aus dem seine Frau
Inzwischen vermutet die Polizei, dass zusehen, um damalige Entscheidungen verschwand. Er hat es komplett umgebaut.
Wichmann nicht nur der Mörder von Bir- zu bewerten, überschreite »das Maß Birgit Meiers Bruder Wolfgang Sielaff
git Meier ist sowie der Eltern von Anja des Zumutbaren«. Eines aber sagt sie: Die wird erst Ruhe finden, wenn der Fall Wich-
und Gabi Reinold und des anderen Paares bisherigen »Beweisanzeichen« würden mann und dessen Taten restlos aufgeklärt
in der Göhrde, er könnte Dutzende Men- jedenfalls bei den Göhrde-Morden für sind. Wer war noch daran beteiligt? Was
schen auf dem Gewissen haben. »Wer of- eine Anklage gegen Wichmann nicht aus- genau ist in jener Nacht passiert, als seine
fenbar so motivlos Menschen umbringt reichen. Schwester verschwand?
wie in der Göhrde, der wird das möglicher- Mehr als 400 Spuren hat die Polizei bei Die Jagd geht weiter.
weise auch mehrfach und woanders tun«, der jüngsten Durchsuchung von Wich- Jan Friedmann, Annette Großbongardt
sagt Polizeichef Kruse. manns Haus gesichert. Führen sie dazu,
Wichmann müsse zudem einen Helfer dass doch noch jemand redet, der etwas
gehabt haben, jemanden, der ihn etwa weiß? Laut einer niederländischen Studie Video
Wie die Soko »Cold
in die Göhrde fuhr. »Unser Ziel ist es, wei- gibt es in 40 Prozent der Mordfälle einen Cases« arbeitet
tere Taten zu ermitteln, um Hinweise auf oder mehrere Mitwisser. Viele Menschen, spiegel.de/sp222018soko
Mittäter zu bekommen«, sagt Kruse. Die die ein Verbrechen begehen, erzählen oder in der App DER SPIEGEL
Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Bei- irgendwann davon.
21
Deutschland
»Ich frage mich, bis zu welcher Ebene der Fall vertuscht werden sollte.« ‣ S. 26
Justiz
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann wehrt sich gegen dert der Richterverband, Asylklägern in Fällen von grundsätz-
den Plan der Bundesregierung und mehrerer Länder, Vorschrif- licher Bedeutung den Weg zu höheren Gerichten zu erleichtern –
ten für Asylgerichtsverfahren zu reformieren. Der CSU-Mann wenn es etwa darum geht, wie die Sicherheitslage in Syrien zu
hat seinen Parteichef, Bundesinnenminister Horst Seehofer, bewerten ist oder ob eine Rückführung von Flüchtlingen auch
schriftlich gebeten, die Reformpläne für Asylprozesse aufzu- nach Staaten wie Ungarn zulässig ist. »Zur Frage, ob das Asylver-
geben – wohl auch mit Blick auf die bayerische Landtagswahl fahren in Ungarn systemische Mängel hat, urteilen die etwa 1700
am 14. Oktober. Das Vorhaben steht im Koalitionsvertrag, ist Verwaltungsrichter sehr unterschiedlich«, erklärt Seegmüller.
Gegenstand einer Bundesratsinitiative mehrerer Länder und Eine weitere Instanz würde die jeweiligen Asylprozesse
wäre auch dringend nötig: Aktuell leiden die Asylprozesse an freilich verlängern. Bayerns Innenminister Herrmann fürchtet
einer Fülle zum Teil widersprüchlicher Einzelentscheidungen offenbar, die Reform könne den Eindruck erzeugen, die CSU
und einem Stau von gut 350 000 Fällen. ermögliche Flüchtlingen neue Klagewege und einen längeren
Ein Grund dafür ist, dass Asylkläger derzeit selten Berufung Aufenthalt in Deutschland. Sein Sprecher teilt mit: »Jede
oder Revision einlegen können. Daher gibt es wenige Grundsatz- Rechtsänderung und jede Ausweitung von Rechtsmittelmöglich-
entscheidungen höherer Gerichte, an denen sich die 1700 Ver- keiten, die stets zu einer Verlängerung von Verfahrenslaufzeiten
waltungsrichter der ersten Instanz orientieren können. »Das führen würden«, sei abzulehnen. Hamburgs Justizsenator Till
führt zu einer Zersplitterung der Rechtsprechung und löst Wan- Steffen (Grüne), der mit Berlin, Bremen und Brandenburg eine
derungseffekte bei den Klägern aus«, sagt Robert Seegmüller, entsprechende Bundesratsinitiative eingebracht hat, kritisiert
Vorsitzender des Verwaltungsrichterbundes. »Jeder Kläger sucht »machtpolitische Spielchen der Union«: »Eine weitere Instanz
sich möglichst das Verwaltungsgericht aus, bei dem er die größ- hilft, eine einheitliche Linie in der Rechtsprechung herzustel-
ten Chancen hat.« Um einheitliche Urteile zu ermöglichen, for- len.« Insgesamt werde das System entlastet. AMA
für eine Wahlperiode stände ohne Abschluss, len, sind höchst unterschiedlich«, sagt
im Parlament? aber leider immer weni- der baden-württembergische Grünen-
Brok: Sie hat mir das ger. Überhaupt finde ich abgeordnete Thomas Poreski. Es brau-
nicht gesagt, aber ich diese Fixierung auf aka- che »verbindliche Spielregeln«, so
habe sie auch nicht demische Lorbeeren bei Poreski: »Das entlastet auch die Mitar-
gefragt. gewählten Politikern beiterinnen und Mitarbeiter vor Ort.«
SPIEGEL: Was halten undemokratisch. Ent- Als vorbildlich gilt etwa die seit 2013
Sie für Ihre bisher größ- scheidend sollte die Leis- existierende Jugendhilfeinspektion in
ten Erfolge in Brüssel? Brok tung sein. AMA Hamburg, die auch Einzelfälle prüft. FRI
23
Energie Bildung
IMAGO
gemeinsam mit den Ländern aufstellen.
Braunkohlekraftwerk Jänschwalde in Brandenburg »Klar hat der Bund auch eigene Vorstel-
lungen, wie ein Nationaler Rat aus-
Die Bundesregierung ringt weiter um beim Thinktank Agora Energiewende sehen sollte«, sagt Karliczek. Schließ-
die Besetzung der Kommission, die den stellvertretende Direktorin war. lich gehe es um Impulse für gute Bildung
Ausstieg aus der Kohle vorbereiten soll. Über das Mandat haben sich die feder- in ganz Deutschland. »Das sollte nie-
Eigentlich sollte das Gremium diese führenden Ministerien, Umwelt und Wirt- manden überraschen, eher inspirieren.«
Woche im Kabinett abgesegnet werden. schaft, weitgehend geeinigt. Streit gibt es Ab nächster Woche reist die Ministerin
Das scheiterte auch daran, dass einer noch um die Frage, welche Rolle der zu ihren Länderkollegen, auch, um ihr
der Kandidaten für die dreiköpfige Lei- Bundestag spielen soll. Wirtschaftsminis- Konzept zu erklären. Sie möchte mit
tung, Ex-Umweltstaatssekretärin Ursula ter Peter Altmaier (CDU) hat sich gegen ihnen »an einem Strang ziehen«. AKM
Heinen-Esser, abgesprungen ist. Die Umweltministerin Svenja Schulze (SPD)
CDU-Frau wird Nachfolgerin der in damit durchgesetzt, Vertreter aller Par-
Nordrhein-Westfalen zurückgetretenen teien im Bundestag in die Kommission zu
1990, aus den neuen Ländern würden »in »Erinnerungen« von 2007 behauptet er
drei, vier Jahren blühende Landschaf- dagegen, Opfer der SED-Propaganda
ten«. Tatsächlich erlebte jedoch der geworden zu sein. Die DDR-Führung
Osten Deutschlands die schwerste Wirt- habe ihn und die Welt ȟber die wahre
schaftskrise seit 1945. Rückblickend Wirtschaftskraft des DDR-Sozialismus
Fabrikruine im Kreis Demmin 2011 erklärte Kohl, sein Wahlkampfverspre- hinweggetäuscht«. KLW
Willkommen an Bord einer Kreuz fahr t flot te, die jedem Vergleich vorausfähr t –
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V O R U N S D I E W E L T
HENNING SCHACHT / ACTION PRESS
ESPEN EICHHÖFER / OSTKREUZ
26
Deutschland
A
m Mittwoch hatte Horst Seehofer tern, die seit Jahren unter dem Druck lei- Als Holger Krüger* beim Bamf in Bre-
genug. Um 12.54 Uhr zog der den, schneller und schneller werden zu men anfing, hielt seine neue Chefin Ulrike
Bundesinnenminister den Ste- müssen, um dann, wenn etwas schiefläuft, B. eine Begrüßungsrede, vor etwa einem
cker. Wobei, Strom haben sie wieder nur die Versager der Nation zu sein. Dutzend neuer Asylentscheider. »Denken
noch in der Bremer Außenstelle des Flücht- Für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin Sie daran«, sagte sie, »dass hinter jedem
lingsbundesamts, aber das war es dann wurde das Bamf zur wichtigsten Behörde. Menschen ein Schicksal steht.« Sehr hu-
auch fast schon. Dort soll geordnet, entschieden und bewer- man sei die Frau rübergekommen, sagt
Asylentscheidungen dürfen die dortigen tet werden. Ein funktionierendes Bamf hät- Krüger, »eher der Typ Sozialarbeiter«, in
Beamten nicht mehr fällen, verfügte der te Merkels Versprechen von 2015 umge- Jeans und Bluse statt im Kostüm.
CSU-Chef. Es ist, als ob sich ein Jobcenter setzt: »Wir schaffen das!« Die Bundesbe- Im Alltag ging dann alles viel stressiger
nicht mehr um Arbeitslose kümmern dürf- hörde Bamf schaffte es nicht, Merkel hatte zu. Krüger sollte Verfahren durchpauken
te. Oder das Forstamt die Zuständigkeit den Mund zu voll genommen. und Zahlen liefern. »Bis zu zwölf Anhö-
für den Wald verlöre. Für Seehofer ist die Affäre vor allem ein rungen am Tag musste ich durchziehen.«
In der Affäre um das Bundesamt für Fehlstart in sein neues Amt. Er war ange- Ulrike B. holte sich derweil offenbar
Migration und Flüchtlinge (Bamf) ist damit treten, in Berlin für Recht und Ordnung zahlreiche Fälle aus anderen Standorten
ein neuer Höhepunkt erreicht. Ausgerech- zu sorgen. Jetzt muss er sich vorwerfen nach Bremen, über das Aktensystem des
net Seehofer, der im Wahlkampf hartes lassen, sein neues Haus nicht im Griff und Amtes ist das möglich. Aber warum? Die
Durchgreifen versprach, droht in der dadurch von Mängeln zu spät erfahren zu Außenstelle hatte doch genug zu tun.
Flüchtlingspolitik die Kontrolle zu ent- haben. Seit März versuchte eine umtriebi- Mitarbeitern fielen weitere Merkwür-
gleiten. ge Beamtin, Seehofer und später einen sei- digkeiten auf. Da war dieser Anwalt aus
Bremen ist dabei nur ein besonders kras- ner Staatssekretäre auf Bremen aufmerk- Hildesheim, Irfan C., der Flüchtlinge in
ses Beispiel, aber nicht der einzige Pro- sam zu machen. Es gelang ihr nicht. Bussen nach Bremen karrte. Ulrike B.
blemfall. Zehn Bamf-Filialen lässt das Nun ist der Innenminister durch einen drängte darauf, dass seine Fälle schnell be-
Innenministerium bereits bundesweit Skandal beschädigt, der sich vor seiner arbeitet wurden. Später schrieb ein Beam-
durchleuchten, von Bonn bis Eisenhütten- Amtszeit abspielte. Das muss man auch ter an die Nürnberger Zentrale, seine Che-
stadt, weil Mitarbeiter dort auffallend vie- erst mal hinkriegen. fin winke »massenhaft« Asylbewerber
le Asylanträge bewilligt oder in zu hohem Erst in dieser Woche setzte sein Ressort durch, »nach meinen Schätzungen müssen
Ausmaß abgelehnt haben. Eines der Sor- beim Bamf wieder jene Berichtspflicht ein, es Tausende sein«.
genkinder ist die Außenstelle Bingen am die es 2013 selbst abgeschafft hatte – von Akten, die der SPIEGEL auswerten
Rhein, wo ein Beamter ebenfalls frühzeitig nun an müssen die Außenstellen regelmä- konnte, ermöglichen es nachzuzeichnen,
Missstände in die Bamf-Zentrale meldete – ßig ihre Statistik nach Berlin melden, da- wie es Ulrike B. offenbar gelang, ein Sys-
und rüde abgebügelt wurde. mit auffällt, ob irgendwo die Anerken- tem zu etablieren, in dem Entscheidungen
Auch zu Angela Merkel kehrt nun jenes nungsquoten aus dem Rahmen fallen. nach Gutdünken möglich waren – und das
gefürchtete Wort zurück, das ihr oft ent- jahrelang, mit Vorzugsbehandlung für be-
gegengeschleudert wurde: Kontrollverlust. stimmte Asylbewerber und deren Anwälte.
Die Kanzlerin und ihre jeweiligen Innen- Um die Regeln scherte sie sich selten, wie
minister, die allesamt der Union angehör- interne Prüfer dokumentiert haben.
ten, haben das Bamf erst vernachlässigt, Offene 434 Die Regierungsdirektorin traf oft Ent-
dann hektisch umgebaut. Asylverfahren scheidungen, ohne die Asylbewerber an-
In den Griff bekommen haben sie es nie. zuhören. Die Identität wurde häufig nicht
Erst- und
Das Bundesinnenministerium befreite geklärt, Flüchtlingen wurden keine Finger-
Folgeanträge
das ihm unterstellte Bamf sogar von der abdrücke abgenommen, Pässe wurden
in Tausend,
Pflicht, die Quote der anerkannten Asyl- nicht auf Echtheit untersucht.
jeweils am
anträge für jede Außenstelle regelmäßig Ulrike B. habe über Jahre hinweg »mas-
Jahresende
nach Berlin zu melden. Im Ministerium siv gegen geltendes Recht und aufenthalts-
hatten die Beamten offenbar keine Res- rechtliche Bestimmungen« verstoßen, heißt
sourcen, die Zahlenkolonnen der Bamf- es in einer amtsinternen Einschätzung.
Filialen zu überprüfen. Kein Wunder, dass Quelle: Bamf
Das Problem ist nur: Dieser Befund kommt
die Übersicht abhandenkam. * Stand: 30. April reichlich spät.
Das Ansehen des Amts ist ruiniert. Die Beamtin und die Anwälte verschaff-
80 Prozent der Bürger vertrauen der Be- ten nicht nur verfolgten Jesiden aus Syrien
hörde nicht mehr. Für sie ist das Bamf das 68 und dem Irak einen Aufenthalt. Sondern
51*
Bundesamt für Murks und Führungsver- 34 auch Lügnern und Betrügern, verurteilten
sagen. Was natürlich unfair ist gegenüber
den vielen fleißigen Behördenmitarbei- 2011 12 13 14 15 16 17 2018 * Name geändert.
Schleusern, Gewalttätern und mutmaß- »Eine ablehnende Entscheidung und die Türsteher sein, der mit strengem Blick ent-
lichen Extremisten. Hunderte Entschei- folgende Rückführung in eine womögliche scheidet, wer reindarf und wer nicht.
dungen sollen nun aufgehoben werden. Verfolgungssituation« könne zu einer Stetig stieg die Zahl der Asylbewerber,
Am 11. Mai hat die Innenrevision des »psychischen Belastung der Entscheider es waren zu viele Fälle für zu wenige Mit-
Amts einen Bericht vorgelegt. Von insge- führen«. arbeiter, und Schmidt verfasste Bettelbrie-
samt 4568 Asylfällen, bei denen die zwei Das wollte der Asylentscheider nicht fe nach Berlin, eine »zeitnahe Bearbei-
hauptbeschuldigten Rechtsanwälte Irfan akzeptieren. Er sammelte Zahlen und tung« sei nicht mehr möglich. Der Ton
C. und Cahit T. von Januar 2013 bis No- warnte Anfang Februar 2018 in einer aus- wurde immer drängender, langsam erfass-
vember 2017 deutschlandweit mandatiert führlichen E-Mail auch die Bamf-Vizeprä- te auch das Innenministerium unter Tho-
waren, wurden 1371 in der Bremer Außen- sidentin Uta Dauke: Die Asylentscheidun- mas de Maizière den Ernst der Lage. Seine
stelle entschieden – 97 Prozent der Ent- gen der Bingener Außenstelle wichen Staatssekretärin schrieb auf eine Vorlage
scheidungen fielen dort zugunsten der An- »frappierend vom Bundesschnitt ab«. für de Maizière, dass sie die »besorgte Pro-
tragsteller aus. Weit mehr als in anderen Er lieferte eine Liste mit »merkwürdi- gnose« aus dem Bamf teile. Aber deutlich
Dienststellen, wo 75 Prozent positiv ent- gen« Entscheidungen sowie eine Tabelle, mehr Mitarbeiter, Hunderte, besser Tau-
schieden wurden. der zufolge von Januar bis Oktober 2017 sende – die gab es erst mal nicht. Der
In der Hansestadt kümmerte sich laut in Bingen 90 Prozent der afghanischen Aktenberg wuchs weiter.
dem Papier nur ein kleiner, exklusiver Asylbewerber Schutz gewährt wurde. Im November 2014 entschieden sich die
Kreis um die Fälle der beiden Juristen, ge- Bundesweit lag die Schutzquote für Afgha- Beamten für einen Trick, der sich später
gen die die Staatsanwaltschaft ermittelt: nen nur bei rund 45 Prozent. Dieses Mal als hoch problematisch herausstellen sollte:
neben Amtsleiterin Ulrike B. noch fünf wird der Mitarbeiter offenbar ernst genom- Für Syrer sowie Christen und Jesiden aus
weitere Mitarbeiter. Dabei seien »absicht- men, eine Überprüfung sei »direkt veran- dem Irak, die in vielen Fällen als Flücht-
lich Vorschriften missachtet« worden, lasst« worden und dauere an, so das Bamf. linge anerkannt wurden, sollte es ausrei-
heißt es in der internen Untersuchung. Inzwischen gehört die Außenstelle zu chen, dass sie einen Fragebogen ausfüllen,
Beschwerden erreichten die Bamf-Zen- den zehn Standorten, deren Entscheidun- zehn Seiten lang. Das Amt sparte sich da-
trale allerdings nicht nur aus Bremen. gen das Bundesinnenministerium genauer mit langwierige Anhörungen. Aber wer
Auch aus Bingen in Rheinland-Pfalz mel- durchleuchten will, neben Bonn und Ei- kreuzt schon freiwillig an, dass er bei der
dete ein aufmerksamer Mitarbeiter früh- senhüttenstadt auch Dortmund, Bad Ber- Terrormiliz IS war?
zeitig eine fragwürdige Praxis. leburg, Diez, Schweinfurt, Rendsburg, Auch Asylbewerber, die aus anderen
Aus internen Papieren im Bundesamt Zirndorf und Neustadt. Für den Entschei- Ländern kamen, mussten oft keine stren-
geht hervor, wie sich der Mann in der Zen- der in Bingen dürfte das nur eine schwache gen Befragungen fürchten, was auch mut-
trale beklagte, zuerst beim Personalrat: Genugtuung sein. Er arbeitet inzwischen maßlichen Extremisten nutzte. Erst jetzt,
Seine Vorgesetzten würden verlangen, woanders. nach vier Jahren in Deutschland, sitzt zum
dass sämtliche Altverfahren in der Außen- Beispiel der Somali Abduqaadir A., angeb-
stelle bis Ende des Monats abgearbeitet Wenn die Mitarbeiter im Bamf über lich 20 Jahre alt, in Untersuchungshaft –
würden, schrieb er im Mai 2017. »Mehr- »Friedenszeiten« reden, dann meinen sie weil er vor der Flucht für die islamistische
fach« seien er und seine Kollegen aufge- jene Jahre, als wenige Asylbewerber ka- Terrormiliz Schabab bei Mordanschlägen
fordert worden, den Antragstellern im men, als Dienst noch Dienst war und keine mitgemacht haben soll.
Zweifel einfach einen »besseren Schutz« Aufgabe, die über Wohl und Wehe der Eingereist war Abduqaadir A. im Juni
zu geben, um Zeit zu sparen. »Ich halte Kanzlerin entscheidet. 2014, mehr als ein Jahr vor der großen
dies für gesetzeswidrige Vorgaben«, em- Doch spätestens 2014 wurde dem da- Flüchtlingskrise. Trotzdem kam das Bun-
pörte sich der Mitarbeiter. maligen Behördenchef Manfred Schmidt desamt schon damals nicht dazu, ihn nach
Im Sommer schickte er eine Dienstauf- klar, dass diese Friedenszeiten bald vorbei seiner Fluchtroute, seinen Fluchtgründen
sichtsbeschwerde gegen seine Vorgesetz- sein würden. Es war absehbar, dass Hun- zu fragen. Erst im Oktober 2016 fand sich
ten nach Nürnberg. Er nannte mehrere derttausende nach Europa fliehen könnten, ein Termin für die Anhörung. Da erzählte
Vorfälle, bei denen die Bingener Verant- Verfolgte, Notleidende, aber auch Wirt- der Somali, dass er als Jugendlicher von
wortlichen die Entscheider »in illegitimer schaftsflüchtlinge ohne Aussicht auf Asyl der Schabab-Miliz rekrutiert worden sei.
Weise« unter Druck gesetzt haben sollen. und einige mit bösen Absichten. Das Amt Weil er aber als Attentäter versagt habe,
Die Mitarbeiter sollten möglichst flott sollte scharf trennen zwischen diesen habe er vor der Miliz flüchten müssen.
und im Zweifel eher positiv für die Asyl- Gruppen, das Land beschützen und der Bei dieser Befragung kam auch heraus,
bewerber entscheiden. Die Referatsleitung dass A. schon 2013 in Italien gelebt hatte.
habe als »Leuchtturm« dastehen wollen, Aber erst 2017 fragten die Deut-
als besonders vorbildliche Dienststelle mit Durchschnittliche schen dort nach. Heute wissen
überdurchschnittlich hohen Bearbeitungs- Bearbeitungsdauer sie, dass er sich bei der Ein-
zahlen. Im Amt sei »allgemein bekannt«, reise offenbar zwei Jahre
eines Asylverfahrens Reale Gesamt-
dass Anerkennungsbescheide deutlich jünger gemacht hat, ver-
schneller abzufassen seien als Ablehnun- 2013 7,2 Monate verfahrensdauer 2016:
mutlich, weil Minder-
gen, erläuterte der Entscheider später in 13 Monate jährige nicht nach Italien
einer E-Mail an die Nürnberger Leitung. 2014 7,1 Monate durch zusätzliche Wartezeit zurückgeschickt werden.
Seine Beschwerde wurde zurückgewie- vom ersten Asylgesuch Mittlerweile wurde An-
sen – mit einer bemerkenswerten Begrün- 2015 5,2 Monate bis zur formellen Asyl-
antragstellung klage vor dem Ober-
dung. Es sei nicht zu beanstanden, wenn landesgericht Frankfurt er-
seine Chefs anwiesen, Asylbewerbern 2016 7,1 Monate hoben.
»grundsätzlich eher Schutz zu gewähren«,
wenn Zweifel an deren Angaben blieben. 2017 10,7 Monate Hinweise, dass in Bremen einiges im Ar-
Vielmehr zeuge dies von einer »Fürsorge- gen liegt, tauchten bereits 2014 auf. Dienst-
pflicht für ihre Mitarbeiter«, beschied die Verfahren aus den Jahren 2017 und 2018 dauerten stellen im benachbarten Niedersachsen be-
Bamf-Zentrale dem Mann im August 2017: nur 2,9 Monate, ältere Verfahren teils mehrere Jahre. merkten, dass Amtsleiterin Ulrike B. sich
29
Deutschland
Deutschland lebt, verheiratet ist und drei Positive Asylentscheidungen* Abweichung vom Bundesdurchschnitt in Prozentpunkten
Kinder hat. Er war nur geduldet, hatte kei-
ne Aussicht auf Asyl.
Dann fuhr er nach Bremen und traf dort BREMEN MECKLENBURG- SAARLAND
die Außenstellenleiterin Ulrike B. »Ganz VORPOMMERN
ehrlich, mehr Menschliches kannst du
über solch eine Frau gar nicht sagen«, sagt
A., »sie hat alle Fragen gestellt und mir 2016 HERKUNFTSLAND POSITIVE QUOTE ABWEICHUNG
zugehört. Möge Gott ihr alles Gute ge-
ben.« Im Nu hatte Ahed A. einen Flücht- Afghanistan 75,8 % +15,3 70,2% +9,7 76,8 % +16,3
lingsschutz. Stolz zeigt er seinen Bescheid +20,7 +11,0 – 0,4
Irak 97,9% 88,2% 76,8 %
vom 8. Juni 2016.
Mehrere Rechtsanwälte habe er in den +23,1 +14,9 +32,0
Iran 83,7% 75,5% 92,6%
vergangenen Jahren beauftragt, ohne dass
sie wirklich etwas für ihn tun konnten.
Dann kam Irfan C. aus Hildesheim. Der Quelle: Bundesregierung; *sogenannte bereinigte Gesamtschutzquote
besorgte ihm einen Termin in Bremen. Für 2017 1. Halbjahr
ein Honorar von »900 bis 1000 Euro, ich
könnte es ihm in 50-Euro-Raten abbezah- Afghan. 65,0% +18,3 61,0% +14,3 53,4 % +6,7
len«, sagt A. Dass die Dienste des Anwalts
Irak 96,4% +32,5 58,7 % – 5,2 59,7 % – 4,2
und die Entscheidung des Bamf im zwei
Autostunden entfernten Bremen wohl +25,9 +1,9 – 3,5
nicht mit rechten Dingen zugingen, will Iran 85,0% 61,0% 55,6%
er nicht geahnt haben.
Der Bescheid aus Bremen verärgerte je-
doch das zuständige Ausländeramt in Bad Doch drei Wochen später beendete das Und Ulrike B.? Die durfte plötzlich in
Segeberg. Die Behörde beschwerte sich Bamf das Disziplinarverfahren gegen Ul- einer Projektgruppe mitarbeiten, die nach
über den Fall beim Bamf, inzwischen wur- rike B. Mit glimpflichem Ausgang. dem Fall Franco A. gemeinsam mit McKin-
de die Flüchtlingsanerkennung rückgängig Die Disziplinarverfügung listet nur Ver- sey neue Standards zur Qualitätssicherung
gemacht. Jetzt hat Ahed A. wieder eine fehlungen in vier Fällen auf – und trägt erstellte, samt Checklisten für die Mit-
Duldung, befristet auf fünf Monate. die Unterschrift von Jutta Cordt, in grüner arbeiter des Bamf. Manchen galt B. offen-
Im Sommer 2016 bekam Ulrike B. end- Präsidentinnen-Tinte. Sie hielt B. zugute, bar als rehabilitiert, auch nach außen re-
lich Konsequenzen zu spüren. In letzter dass sie wohl aus Menschlichkeit Abschie- präsentierte sie das Amt wieder.
Minute hatte sie in Niedersachsen eine bungen verhindert habe. Rausgeschmis- Dabei gab es im Sommer 2017 neue Hin-
laufende Abschiebung verhindert. Der sen wurde sie für ihre Dienstvergehen weise, dass B. in Bremen zum Asylmiss-
Präsident der Region Hannover, Hauke nicht. B. durfte wieder in den Räumen des brauch verleitet haben könnte – und die
Jagau (SPD), schrieb daraufhin einen Be- Bremer Bamf arbeiten. »Ich frage mich Unregelmäßigkeiten möglicherweise wei-
schwerdebrief an Weise. Später legte der heute, bis zu welcher Ebene der Fall ver- tergingen. Man habe das damals nicht be-
Innenminister des Landes nach, Boris tuscht werden sollte«, sagt SPD-Politiker weisen können, rechtfertigte sich Bamf-
Pistorius (SPD): Die Sache sei »nicht im Jagau. Chefin Cordt vor Parlamentariern. Wieso
Ansatz nachvollziehbar« und werfe Das Bundesamt hatte im Frühjahr 2017 das nicht gelang, konnte die Behörde bis-
»grundsätzliche Fragen der Zusammen- erst mal mit einem anderen Skandal zu her nicht erklären.
arbeit auf«. kämpfen: Franco A., der rechtsradikale So sehr das Amt auch das Gegenteil be-
Noch am Tag der vereitelten Abschie- Bundeswehrsoldat, der unter dem Namen teuert: Mehrere Mailwechsel aus dem Jahr
bung wurde Ulrike B. als Außenstellen- »David Benjamin« als syrischer Flüchtling 2017 lassen vermuten, dass es dem Bamf
chefin abgesetzt. Das Amt leitete ein Dis- anerkannt wurde. vor allem darum ging, den eigenen Ruf zu
ziplinarverfahren ein, das sich über fast Interne Prüfer stellten fest, dass es nicht retten – und möglichst zu verhindern, dass
ein Dreivierteljahr hinzog. nur bei Franco A. zu Problemen kam. Bei von der Bremer Affäre etwas an die Öf-
Anfang 2017 wurde Jutta Cordt neue einer bundesweiten Untersuchung von fentlichkeit dringt.
Chefin der Flüchtlingsbehörde, wie Weise 2000 Asylanträgen war unter den Syrern Ein Gruppenleiter sprach im Frühjahr
kommt sie aus der Bundesagentur für Ar- fast jeder fünfte Fall in der Stichprobe davon, die Dinge »geräuschlos« anzugehen
beit. Sie war kaum im Amt, da erhielt sie nicht plausibel, bei Afghanen sogar fast je- und bitte nicht »alles bis ins Detail » zu prü-
einen Hinweis, dass in Bremen vieles drun- der zweite. fen. Ein anderer Beamter befürchtete im
ter und drüber gehe. Die Erhebung musste Cordt klarma- Sommer, es würde dem Bundesinnenminis-
Mitarbeiter des Bundesamts hatten da- chen, dass der Reformeifer ihres Vorgän- terium »überhaupt nicht gefallen«, wenn
mals mitbekommen, dass man sich in gers strukturelle Schwächen hinterlassen die Affäre im Vorwahlkampf hochginge.
Niedersachsen mehrere im Bremer Bamf hatte. Dass in ihrer Behörde statt kundiger Noch im Februar 2018 sagte derselbe
entschiedene Fälle anschauen wolle. In ei- Experten zunehmend nur kurz geschulte Beamte, ein Bamf-Mann aus Bremen, bei
ner Mail, die auch Cordt erreichte, riet Laien festlegten, welcher Flüchtling in einem Gespräch in der Zentrale, er sorge
eine Mitarbeiterin, man solle lieber von Deutschland bleiben darf und wer nicht. sich um den Ruf des Amtes, »die Geschich-
sich aus die Sache anpacken, bevor es te mit Frau B.« dürfe nicht an die Öffent-
»Politgetöse« gebe. lichkeit kommen. Dabei ermittelte inzwi-
Hauke Jagau, der Regionspräsident aus Animation schen schon die Staatsanwaltschaft. Ein
So funktioniert
Hannover, sammelte tatsächlich fast 150 das Bamf manipulierter Bescheid mit Dienstsiegel
merkwürdige Verdachtsfälle, bei 27 hatte spiegel.de/sp222018bamf
ohne Nummer, aber offenbar mit der
Bremen die Verfahren an sich gezogen. Er oder in der App DER SPIEGEL Unterschrift von Ulrike B., veranlasste das
schickte alles nach Nürnberg. Amt schließlich zur Anzeige.
31
Deutschland
»Weniger Spitzbuben«
ihre Pläne durch die eigene Eitelkeit zu
gefährden.
Selbst die Situation ist ähnlich wie Ende
der Neunzigerjahre. Damals wurde die
Union nach 16 Jahren aus der Regierung
Parteien Annegret Kramp-Karrenbauer gilt als Wunschnachfolgerin abgewählt und drohte im Sumpf der Spen-
der Kanzlerin. Wenn sie Erfolg haben will, muss sich denaffäre unterzugehen. Ganz so schlimm
die CDU-Generalsekretärin von Angela Merkel emanzipieren. Ihre ist es diesmal nicht. Aber die Partei hadert
wieder mit ihrer Führung, und das Auf-
Konkurrenten wollen ihr das so schwer wie möglich machen. kommen der AfD stellt die CDU als Volks-
partei infrage.
Damals ergriff Merkel die Chance und
33
Deutschland
Minister
Dieselfahrzeuge mit Stickoxidkatalysato- ren Verdachtsfällen bei Mercedes unver-
ren nachzurüsten. Doch die Autoindustrie züglich nachzugehen«, erklärte der Minis-
sah die Nettigkeit des Ministers offenbar ter gegenüber dem SPIEGEL.
auf Abstand
eher als Aufforderung, Manipulationen so Die überraschende Entwicklung in der
lange wie möglich geheim zu halten, statt Dieselaffäre ist jedenfalls geeignet, das
sie den Behörden zu melden. Die Konzer- Bündnis zwischen Politik und Industrie zu
ne, so empfindet es der Ressortchef, fallen beschädigen. Der Minister wollte den Rück-
Umwelt Bei Daimler droht wegen ihm ständig in den Rücken. Seine Geduld ruf des Mercedes-Vans als Weckruf an die
Dieselmanipulationen ein geht zu Ende. Der Vito-Fall könnte zu Autobosse verstanden wissen: Es muss
einem Wendepunkt werden. endlich Schluss sein mit den Schumme-
Rückruf ungeahnten Ausmaßes. Denn bei Scheuers Beamten im KBA leien. Auch ist Scheuer enttäuscht, dass die
Verkehrsminister Scheuer sucht gelten die 4923 vom Rückruf betroffenen Industrie ihrem Versprechen nicht nach-
den Streit mit den Autobossen. Mercedes-Transporter nur als die Spitze kommt, bis Ende des Jahres zumindest mit
des Eisbergs. Ein vergleichbarer Motoren- Softwareupdates die Dieselflotte ein wenig
sauberer zu machen. Damit will er
37
Deutschland
Der Nachtfalter
Linke Diether Dehm hat Texte für Willy Brandts SPD
geschrieben und verdiente Millionen als Musikproduzent. Dann
stolperte er über eine Stasi-Affäre. Jetzt kämpft er
gegen ein System, dessen Anerkennung er sucht. Von Nicola Abé
I
n der Hauptstadt wird man gewarnt Dehm trägt eine eckige Brille, Jeans, Ein-
vor Diether Dehm. Er sei »widerlich stecktuch. Er war einer der erfolgreichsten
zu Frauen«, ein »Arschloch«, ein Musikproduzenten der Bundesrepublik,
»irrer Verschwörungstheoretiker«. Anfang der Achtzigerjahre schrieb er das
Journalisten beschuldigte Dehm in der Lied »1000 und 1 Nacht« für den Sänger
Vergangenheit immer mal wieder, für den Klaus Lage, es stand wochenlang in den
Bundesnachrichtendienst zu arbeiten. Der deutschen Top Ten. Seine Firma managte
Mann, der einem gleich begegnen wird, die Eiskunstläuferin Kati Witt. Er organi-
ist 68 Jahre alt, Abgeordneter der Linken sierte die »Rock gegen Rechts«-Festivals
und Multimillionär. Er gilt als eine Art in Frankfurt am Main. Und Dehm war
Clown. Aber man weiß noch nicht – ist er mehr als 30 Jahre lang Mitglied der SPD.
ein lustiger Clown, ein trauriger oder ein Dehm war eine Größe in der linken Kul-
gefährlicher? turszene, bis er als mutmaßlicher Stasi-
Es ist November; es dämmert. Die Kup- Spitzel enttarnt wurde. Er stritt und streitet
pel des Reichstags ragt in den Himmel alles ab, doch von da an war er verbrannt.
über Berlin, Glas und Stahl. Je näher man Die SPD wollte nichts mehr mit ihm zu
kommt, desto höher die Dichte der An- tun haben, er trat in die PDS ein, die Vor-
züge. Im Inneren kann man sich in den läuferpartei der Linken, wo man über sei-
langen kahlen Fluren der Nebengebäude ne Vergangenheit gern hinwegsah.
verirren; steht eine Tür offen, fällt der Fortan machte er jedes Jahr etwas
Blick auf Aktenwände. Krasses: Mal schmuggelte er einen afrika-
In Raum Nummer 2808 hat Dehm nischen Flüchtling in seinem Kofferraum
seinen eigenen Planeten geschaffen. Auf über die deutsche Grenze, ein anderes
dem Couchtisch gedeiht ein Stillleben, Mal versuchte er, dem ehemaligen RAF-
man könnte es »Lust und Chaos« nennen: Terroristen Christian Klar einen Hausaus-
Pflaumen aus Russland, umhüllt mit Scho- weis für den Bundestag zu beschaffen. Zu-
kolade, eine Schachtel Cohiba-Zigarren letzt beleidigte er Außenminister Heiko
und ein von ihm verfasstes Liederbuch. Maas als »gut gestylten Nato-Strichjun-
Vom Cover blickt eine dunkle Schönheit, gen«. Das war sogar einigen in der Links-
pinkfarbenes Kleid, pinke Lippen. Der partei zu viel. Sie fordern seinen Partei-
Titel: »Unschuld kommt nie zurück«. ausschluss.
Es ist ein erster Termin zum Kennen- In Dehms Büro stehen neben dem Com-
lernen. puter ein Kübel Fitnessnahrung, eine Pa-
»Setzen Sie sich«, sagt Dehm im Befehls- ckung Heilerde und ein Parfum von Jean
ton, »bei mir werden Sie zum Rauchen Paul Gaultier. Das Schreibpult gehörte mal
gezwungen.« Bertolt Brecht. Alles scheint irgendwie
In allen Gebäuden des Bundestags durcheinandergeraten zu sein. Eine Durchsage erklingt: Alle Abgeord-
herrscht Rauchverbot. Dehm zündet sich Dehm lehnt sich nach vorne. neten werden aufgefordert, zu einem
eine Zigarre an und legt die Füße hoch. »Seien Sie umsichtig. Sie sind vielleicht »Hammelsprung« ins Plenum zu kommen.
SPIEGEL-Frau und ehemalige Israelkorres- auch im Visier«, sagt er, »natürlich haben Dehm muss los.
pondentin? Da gehen bei ihm gleich alle Geheimdienste hochvirulente Medienabtei- Er schreibe gerade ein Buch, gemeinsam
Alarmglocken an, stellt er klar. lungen.« mit einer Psychologin, mit dem Arbeits-
»Herr Dehm, warum sitzen Sie im Es gebe darüber seriöse Expertisen. titel: »Pornografie und Klassenkampf«,
Bundestag?« »Auf mich ist noch niemand zugekom- ruft Dehm im Weggehen, eine kleine
»Um die Sahra zu verteidigen.« men.« Grenzüberschreitung als Abschiedsgruß.
»Gegen wen?« »So was läuft subtil.« Ist Dehm irre geworden? Glaubt er wirk-
»Gelegentlich auch gegen Ihren Berufs- »Wie denn?« lich, was er sagt? Oder sind seine Provo-
stand.« »Über Bekannte werden abgehörte kationen Berechnung?
Es geht um Sahra Wagenknecht, die Telefonate als heiße Parteiinterna ange- Ein paar Tage später meldet sich Dehms
Fraktionsvorsitzende. Dehm sagt, er habe boten.« Büro und schlägt einige Termine vor, bei
einen »Beratungskreis« gegründet, um sie »Und dann?« denen man ihn für diesen Artikel begleiten
zu unterstützen. Niemand kritisiere den »Die wollen besonders die Sahra klein- könne. Es sind fast ausschließlich Abend-
Kapitalismus so verständlich wie sie. kriegen und damit die ganze Linke.« veranstaltungen. Es scheint, als wolle
Dehm gar keinen Zweifel daran lassen, Er gießt ein Glas Wasser ein. Dehm holt sich einen Entenschenkel
dass es sich bei ihm um ein Nachtwesen »Um mich als formvollendeten Sexisten vom Buffet, dann sitzt er da und findet alles
handelt, einen Mann, an dem etwas Ver- zu outen.« schlimm, die pinke Beleuchtung, den Ton,
ruchtes ist. Dehm setzt sich auf einen Barhocker die ganze Angepasstheit seiner Partei.
weit hinten im Raum und genießt die Blicke Eine junge Journalistin huscht vorbei.
der anderen. Gerade hat er wieder einen »Ach sehen Sie«, sagt Dehm, »die ist
Nacht 1: Spiele und
kleinen Skandal produziert. Dehm war da- auch immer so süß zu mir und schreibt
Depressionen
für, den ehemaligen Radiomoderator Ken dann so böse Sachen.« Man habe die Frau
Ein Januarabend, Berlin versinkt in Dun- Jebsen mit einem Preis zu ehren. Jebsen ist auf ihn angesetzt, glaubt Dehm. Genau
kelheit. Die Linksfraktion feiert ihren ein Held bei Leuten, die glauben, die CIA sein Typ sei das, dieses Androgyne.
Jahresauftakt in einem alten Stadtbad im stecke hinter den Anschlägen auf das World Dann wird ihm langweilig. Dehm tippt
Stadtteil Prenzlauer Berg, das zur ultra- Trade Center. In Jebsens Welt gibt es eine auf seinem Handy herum, er will noch je-
hippen Partylocation umgestaltet wurde. Verschwörung zwischen Politik, Medien manden zu der Party lotsen. Nach ein paar
Dehm besteht darauf, der Journalistin und Wirtschaft, die den Bürgern die wahren Minuten poppt eine Nachricht auf.
den Mantel abzunehmen. Fakten verschweige. Es ist eine gefährliche »Der Ostermeier kommt jetzt.«
»Manche Frauen wollen das gar nicht Welt, ein Ort, an dem sich rechts und links Thomas Ostermeier ist der Intendant
mehr«, meint er. treffen – im Hass auf das System. der Berliner Schaubühne. Ostermeier will
39
Deutschland
offenbar ein Stück inszenieren, bei dem kauft und mehr Geld verdient haben als mancier«, schrieb Biermann. Der Text hat
in einer Szene eine Party der Linken vor- mit ihm, weiß Dehm. Dehm dennoch erledigt. Die SPD leitete
komme. Wie passe das zum angeblichen Auftrag ein Parteiausschlussverfahren ein.
Nach einer Viertelstunde kommt Oster- der Stasi, Biermann zu ruinieren? »Ich habe es nicht gewusst«, sagt Dehm.
meier tatsächlich, er ist groß und breit und Dehm und Biermann verband einst eine Keiner der SED-Genossen oder DDR-
ganz in Schwarz gekleidet. Er wird beglei- enge Freundschaft, Dehm brachte die Künstlerkollegen habe sich ihm jemals als
tet von einer jungen blonden Frau, seiner Platten des Liedermachers heraus, der half »Ministerium für Staatssicherheit« vorge-
PR-Assistentin. Dehm beim Abfassen neuer Songtexte. stellt.
Dehm sagt zu Ostermeier: Schon Anfang der Neunzigerjahre machte Er sitzt im Schein eines riesigen Kron-
»Das ist Frau Abé vom SPIEGEL. Sie das Gerücht die Runde, Dehm habe für leuchters im Restaurant der Parlamentari-
schreibt ein Porträt über mich, und ich bin die Stasi gespitzelt. Aber die Sache wurde schen Gesellschaft, eines exklusiven Klubs
so dumm, mich an meiner eigenen Hin- erst gefährlich, als Biermann im April 1996 für Abgeordnete im ehemaligen Reichs-
richtung auch noch zu beteiligen.« im SPIEGEL einen Text veröffentlichte, in tagspräsidentenpalais, das Schlaraffenland
»Dann must du halt dafür sorgen, dass dem er berichtete, dass Dehm ihm schon der deutschen Politik. Er trinkt Chianti
es keine Hinrichtung wird«, sagt Oster- 1988 seinen Dienst für die Stasi gebeichtet und raucht eine Zigarre. Dehm isst ständig
meier kalt. habe. hier. Im Raucherbereich ist er fast allein.
Er sieht sich um. Dehms Stasi-Akten sind nicht ganz ein- Es ist der Moment, in dem er das Clown-
»So feiern also die Linken.« Wie alle deutig. Klar ist, dass er sich mit Stasi-Offi-hafte ablegen kann, die Führung durchs
anderen. zieren traf und zuweilen auch Reisekosten Innere beginnt.
Dehm sagt: »Jemand hat gesagt, Frau erstattet bekam. Inwiefern er belastendes Von einem Ministerium für Staatssicher-
Abé sei die schönste Frau des Abends. Material lieferte, ist bis heute unklar. »Die heit habe er keine Ahnung gehabt, sagt
Aber ich sehe das nicht so.« Motive mögen mehr oder weniger edel ge- Dehm. Mitte zwanzig war er damals. Er
Ostermeier schiebt sich einen Minikrap- wesen sein, verwickelt, halbwahr, halbver- habe als Juso in den Siebzigern oft FDJ-
fen in den Mund, kaut einen Moment und logen. Möglicherweise war er ein ehrlich Freunde im Osten besucht und dort offen
schluckt: »Ich finde es gut, dass wenigstens getäuschter Lügner mit roter Brause im den Nato-Doppelbeschluss, Berufsverbote
das Essen proletarisch gehalten wurde.« Kopf – ich bin weder Beichtvater noch Ro- oder Privatisierung und deren Befürworter
Dann muss Ostermeier wei- in SPD-Ortsverein und Partei-
ter. Dehm bleibt zurück auf vorstand kritisiert.
seinem Barhocker, vor ihm ein »Die haben mich bis 1978
abgenagter Entenknochen. ohne mein Wissen als IM ge-
»Ich hasse solche Veranstal- führt.« Er habe das erst 1995 in
tungen«, sagt er. den Akten gefunden.
Dann überkommt ihn so eine Das Verfahren der SPD-
Art Arbeiterblues. Das Proleta- Schiedskommission über seinen
riat, findet Dehm, werde heute Fall wurde damals straffrei ein-
als »alte weiße Männer dämoni- gestellt. Dehm wurde nicht aus
siert«. So würden die Abgehäng- der Partei ausgeschlossen, aber
ten in die Arme der AfD getrie- seine Karriere war verbaut.
ben. Es ist nicht ganz klar, von Schon Dehms Eltern hatten
wem Dehm spricht, von den Ar- SPD-Parteibücher. Auch sein
beitern, den Männern im Allge- Opa, ein Müllmann, war Sozial-
meinen oder von sich selbst. Aus demokrat.
den Lautsprechern klingt jetzt »Ich wollte von der SPD
das Lied »As Time Goes By« freigesprochen werden«, sagt
aus dem Film »Casablanca«. Ein Dehm.
ganz großer Song, findet Dehm. Aber das passierte nicht.
Nach zwei Gläsern Rotwein
weint er fast.
Nacht 2: Ist die
Ein Gericht entschied, dass
Vergangenheit schuld?
man Dehm Stasi-Mitarbeiter
Bis zum nächsten Treffen ver- nennen darf. Die Klägerin war
gehen einige Wochen. Dehm hat Erika Steinbach, die heute eine
eine Lungenentzündung. Ein Heldin der AfD ist.
paar Tage vor dem verabredeten Dehm zog aus Frankfurt weg;
Abendessen schickt er eine Mail: er ertrug seine Heimatstadt
»Einführung f Donnerstag. nicht mehr. Er trat aus der SPD
Noch vertraulich. Für eine linke aus.
Zeitung. Ihr dd.« Zu jener Zeit hing von seinem
Angehängt ist eine Datei mit Dachfirst eine Schlinge.
einem langen Text über den Er leert seinen Chianti.
Liedermacher Wolf Biermann. Sein Verhältnis zum Rechts-
Biermann, der 1976 von der staat wandelte sich. Er schätzt
MONIKA HÖRSTER
41
Deutschland
JETZT IM HANDEL:
CHANGE-
erzählt Dehm von seinem neuen Audi-SUV, chen sind putzig zugeschnitten, die Kir-
dem idealen Auto für einen »alternden Gi- schen blühen in Rosa. Hinter der Hecke
golo« wie ihn. Einen »Möchtegern-Gigolo« ragt der Reichstag mit seiner Kuppel in
hat ihn gerade der Berliner Kultursenator den Berliner Himmel empor. Der Reichs-
Klaus Lederer auf Twitter genannt. Dehm tag ist auch das: ein Mahnmal deutscher
hat etwas Manisches an sich. Er flattert und Geschichte. Kaiser Wilhelm II. verspottete
MANAGEMENT
schillert wie ein aufgescheuchter Schmet- ihn als »Reichsaffenhaus«. Kurz nachdem
terling. Jede Reaktion auf ihn, selbst Belei- Adolf Hitler an die Macht kam, schlugen
digungen, scheinen ihn zu kicken. Er sucht Flammen aus der Kuppel, Brandstiftung.
Anerkennung, bekommt aber nur noch de- Es ist Spargelzeit. Dehm bestellt weißen
ren grell geschminkte Schwester. Aufmerk- Spargel mit Kräuterrührei.
samkeit ist ein kleines Flittchen. Von ihr Er habe gerade einen Anwalt beauftragt,
hat man nie genug. um zu prüfen, ob man das Stasi-Urteil von
Als »zivilen Ungehorsam im Sprachge- 1996 anfechten könne. Auf seinem Handy
brauch« überhöht er seine Sprüche, wider hat er ein paar Dokumente gespeichert:
die »kreuzbraven Presseerklärungen«, die eine Erklärung von Günter Wallraff, der
ganze verdammte Political Correctness. glaubt, dass Dehms Tätigkeit zum Nutzen
Dehm glaubt, er habe das System ein biss- Biermanns erfolgte, und die Vorwürfe
chen bloßgestellt. Aber es ist immer noch für Blödsinn hält. Dann zeigt Dehm seine
das System, von dem er gesehen werden eigene Stasi-Akte, in der vermerkt sei, dass
will. er Biermanns Ausbürgerung für falsch
Eine ältere Dame kommt auf Dehm zu. hielt, woraufhin die Stasi eine Einreise-
Sie möchte, dass er ein Plakat signiert. Es fahndung gegen Dehm erließ. Außerdem
gehe um die Liebe ihres Lebens. Ihren hat Dehm den handgeschriebenen Brief
Mann habe sie bereits als Jugendliche ken- eines Mitarbeiters seiner Firma fotogra-
nengelernt. Doch erst Jahre später habe fiert, der sich bei ihm entschuldigt: Er sei
es gefunkt. »Seitdem ist ›1000 Mal be- es gewesen, über den Biermann-Infos aus
rührt‹ unser Lied«, sagt sie. Dehms Firma unbeabsichtigt an die Stasi
»1000 Mal ist nichts passiert. 1000 und gelangt seien.
1 Nacht. Und es hat Zoom gemacht.« Dehm sucht noch immer Absolution.
Nichts von Diether Dehm hat Deutsch- Der Anwalt habe ihm gesagt, dass es
land mehr geprägt als dieses Lied. Viel- nicht gut aussehe.
leicht ist das sein Problem. Ein paar Tische weiter sitzen unter ei-
»Er ist ein verrückter Vogel«, sagt Ka- nem Sonnenschirm ein paar Linken-Ab-
Weitere Themen: tarina Witt über Dehm. Ihr »Playboy«-
Cover hängt in seinem Büro.
geordnete um die Anwältin Halina Waw-
zyniak, die an Dehms Parteiausschluss-
SELBSTMANAGEMENT
Der von Dehm gegründete Wagen- verfahren arbeitet. Sie sehen nicht herüber.
knecht-Unterstützerkreis ist so konspirativ, Bei Tag betrachtet ist Dehm ein Nacht-
dass er Sahra Wagenknecht nicht bekannt falter, sind seine Flügel nicht so hübsch.
Einen Tag pro Woche ist. Vorgeworfen wird ihm, dass er dem
Ansehen der Linkspartei geschadet habe.
ungestört arbeiten In seiner Stasi-Akte steht, es sei dem
MfS nicht gelungen, »wesentlichen Ein- Die Verrohung der Sprache sei ein Merk-
fluss auf den Abbau charakterlicher Un- mal rechter Parteien. Dehm hätte sich als
FÜHRUNG zulänglichkeiten des IM auszuüben«.
»Er wollte uns zur Politrockband um-
Künstler so ausdrücken können, aber nicht
als Abgeordneter. Für die würden die Re-
Vordenker Roger Martin erziehen«, sagt der Musiker Wolfgang geln des Respekts gelten.
Niedecken von BAP, »das waren wir aber Am Nebentisch sitzt eine Gruppe Par-
im Interview nicht.« lamentarier der AfD. Seit dem Spruch über
Klaus Lage, der Dehm wohl mehr zu Maas finden die Dehm ziemlich toll. Ein
RECRUITING verdanken hat als jeder andere, weil er
»1000 und 1 Nacht« singen durfte, möchte
junger Abgeordneter betritt den Garten. Er
geht auf Dehm zu und klopft ihm auf den
Wer wählt aus: gar nichts sagen.
Dehm blieb als Künstler im Herzen
Rücken. »Politisch sind wir nicht auf einer
Linie, aber wir verstehen uns gut«, sagt der
Mensch oder Algorithmus? immer Politiker und als Politiker Künstler. Mann freundlich. Dann geht er zum AfD-
Die Kunst ist ein gutes Korrektiv zur Poli- Tisch und setzt sich. Dehm blickt auf seinen
tik. Aber es sieht nicht so aus, als könne Teller. Der Teller ist leer. Er ist jetzt ein Lin-
man als Künstler ein guter Politiker sein. ker, dem die Rechten applaudieren. Dehm
! Auch als digitale Ausgabe erhältlich: Als Künstler muss man Grenzen über-
schreiten, als Politiker wahren. Das Gute
trinkt seinen Aperol Spritz aus, als wäre
auf dem Grund seines Glases irgendein Aus-
liegt wohl gerade in der Trennung der weg aus dieser Hölle zu finden.
harvardbusinessmanager.de Sphären.
Video
Der Kater am Tag danach Beim Liederabend von
Dieter Dehm
Kurz darauf sitzt Dehm wieder in der Par- spiegel.de/sp222018dehm
lamentarischen Gesellschaft, diesmal im oder in der App DER SPIEGEL
Garten. Der Rasen ist saftgrün, die Bäum-
Chefs gesucht
zent der Befragten »steigende Verwal-
tungsarbeiten« als einen der größten Belas-
tungsfaktoren in ihrem Beruf.
Nicht verwunderlich also, dass nur we-
nige Lehrer diese verdienstvolle Aufgabe
Bildung In manchen Bundesländern ist jede zehnte Schulleiterstelle übernehmen möchten. Und die, die es
unbesetzt, besonders häufig fehlen Rektoren an Grundschulen. doch tun, sind häufig unzufrieden. Nach
Jetzt bemühen sich Kommunen, den Job attraktiver zu machen. der VBE-Umfrage würde knapp ein Drittel
der unter 40-Jährigen den Job nicht weiter-
empfehlen. Viele Schulleiter stehen kurz
44
kompetenten Führung eines Kollegiums
durch den Schulleiter. Dahinter steht ein
ausgefeiltes System von Förderung und
Kontrolle, gestützt auf wissenschaftliche
Daten. »Wir sind nicht als Inquisition
unterwegs und hinterlassen auch keine rau-
chenden Scheiterhaufen«, sagt Christoph
Henzler, bis vor Kurzem Leiter der Aka-
demie in Dillingen und nun Ministerial-
beauftragter für die Gymnasien in Ober-
bayern-West. »Wir wollen den Schulen hel-
fen, sich zu verbessern.«
Henzler begutachtet in seinem Bezirk
rund 60 Schulleiter, die Schulleitungen be-
gutachten dann wiederum ihre Lehrer.
Spätestens nach vier Jahren kommt eine
Lehrkraft auf den Prüfstand.
Andere Bundesländer setzen statt solch
straffer Organisation lieber darauf, Schul-
leiter zu entlasten. Die Landesregierung
Baden-Württemberg will vermehrt Schul-
verwaltungsassistenten einstellen, die
Schulleitern den Papierkram abnehmen.
Niedersachsen befreit Chefs kleiner
Schulen seit März von Verwaltungsauf-
gaben im Bereich Personal – um Einstel-
lungen, Verträge und Personalakten küm-
mert sich die Landesschulbehörde nun
selbst.
Die Stadt Duisburg versucht auf ande-
ren Wegen, Lehrern den Aufstieg schmack-
haft zu machen: viel Praxisnähe und
Unterstützung. Dort gibt es ein Schullei-
ter-Schnupper-Projekt, anderthalb Jahre
soll es dauern, 27 Frauen und ein Mann
haben sich angemeldet. Alle können sich
GOTTFRIED STOPPEL / DER SPIEGEL
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
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Deutschland
Das Gedächtnis
die vor allem Rock und Soul für US-Sol-
daten spielten.
Hüppauf war Vorsitzender des Landes-
verbands West-Berlin im SDS. Da die lin-
der Revolte
ke Organisation seit ihrem Ausschluss aus
der SPD 1961 kein Büro mehr hatte, trafen
sich die Genossen in der Wohnung. Sie
produzierten dort auf einer Vervielfälti-
1968 In einem Keller in Berlin liegen die Dokumente des gungsmaschine auch Flugblätter. Lönnen-
donker, der als Kind Zigarettenbildchen
Studentenaufstands. Siegward Lönnendonker, gesammelt hatte, behielt jeweils eine Ko-
Gralshüter des APO-Archivs, war vor 50 Jahren mittenmang. pie, bald auch von Flugblättern und Schrif-
ten anderer Studentenorganisationen.
»Wenn die Historiker später einmal un-
LUDWIG BINDER
fröhlich. »Er weiß, wie es war.«
Also: Wie war es wirklich 1968? Haben
vor 50 Jahren revoltierende Jugendliche –
wie Konservative bis heute grummeln – Schah-Unterstützer, Polizisten, Demonstranten in West-Berlin 1967: Zutiefst schockiert
die Sitten, die Familien und den Respekt
vor jeglicher Autorität zerstört? Oder ha-
ben die Achtundsechziger überfällige Re- Der Archivar hat die Genese der Studen- berg. Er frage sich bis heute, sagt er, »wie
formen initiiert, die Gesellschaft freier und tenbewegung von Anfang an miterlebt. Er es möglich war, dass mit städtischen Bus-
toleranter gemacht? Haben sie die West- wurde 1939 im niederrheinischen Rheydt sen persische Schah-Unterstützer und Ge-
deutschen dazu gezwungen, sich mit ihrer geboren und kann sich noch gut an die heimdienstmänner bis direkt vor das Rat-
Nazivergangenheit auseinanderzusetzen? Bombennächte im Luftschutzkeller erin- haus gefahren wurden, um dort mit Latten
Der Archivar Lönnendonker hat eine nern. Ein Kriegskind. 1958 ging er nach auf uns Demonstranten und auf Schau-
klare Meinung: Die Achtundsechziger ha- West-Berlin, studierte Physik, bevor er auf lustige einzuschlagen«.
ben das kollektive Beschweigen beendet. Soziologie umsattelte. Es kam noch schlimmer: Am Abend,
Er ärgert sich deshalb über ein neues Buch In einem Jazzklub lernte er einen Kom- auf einer zweiten Demonstration, erschoss
des Soziologen Heinz Bude, der behaup- militonen kennen, der Banjo spielte und ein Polizist den Germanistikstudenten
tet, die Aufarbeitung des Nationalsozialis- sang. Hubertus Hüppauf, so hieß dieser Benno Ohnesorg. Lönnendonker war, wie
mus habe mit dem Beginn des ersten Ausch- Kommilitone, suchte einen Bassisten und Tausende Studenten, zutiefst schockiert.
witzprozesses Ende 1963 angefangen. zudem einen Mitbewohner für eine große Es hätte jeden von ihnen treffen können,
Im APO-Archiv lässt sich nachverfol- Wohnung, die er sich mit zwei Studentin- sagten sie sich.
gen, dass Reinhard Strecker, SDS-Mitglied, nen teilte. Lönnendonker zog ein und In einer Vitrine in einem Lesesaal des
bereits 1959 eine Ausstellung »Ungesühnte zupfte bald den Bass bei den Blackbirds, Universitätsarchivs findet sich eine Papier-
48
tüte mit dem Konterfei des Schahs von terklasse war eine absurde Fantasievor- Wenn der Student seine Mutter schon
Persien. Die Kommune 1 mit Fritz Teufel stellung«, sagt der Archivar, »denn sie nicht liebe, »so verlangt es Anstand und
hatte solche Tüten produziert, die sich als schrumpfte doch rasant.« Sitte«, dass er sie vorab über seine »Eska-
Maske über den Kopf ziehen ließen. Stu- 1973 reiste Lönnendonker mit seinem paden« informiere. »Du hast nicht einmal
denten demonstrierten damit. Bei den SDS-Genossen Tilman Fichter nach Frank- die Manieren eines Lehrlings.«
Masken liegt ein Bauarbeiterhelm aus der furt am Main und fand im feuchten Keller Im APO-Archiv lässt sich der globale
DDR. Ost-Berliner Unterstützer der APO des früheren SDS-Verlags Neue Kritik Charakter der Revolte von 68 sehr gut
kauften im April 1968 Hunderte davon rund 300 Ordner. Darin, grob geschätzt, nachvollziehen, mit dem Höhepunkt im
und schenkten sie den demonstrierenden 200 000 Seiten, Unterlagen des Bundes- Mai in Frankreich. Nach dem Attentat auf
Studenten aus West-Berlin, damit diese vorstands des SDS. Zunächst baute der Dutschke an Ostern 1968 wurde der
sich gegen die Polizeiknüppel schützen handwerklich versierte Archivar ein großes Frankfurter SDS-Bundesvorstand mit
konnten (SPIEGEL 10/2018). Regal für die teils angeschimmelten Papie- Solidaritätstelegrammen überschwemmt.
Kopf und Stimme der deutschen Acht- re, später holte er sie nach West-Berlin. Es meldete sich die Generalunion Paläs-
undsechziger war Rudi Dutschke aus Lu- Eines der wichtigsten Dokumente des tinensischer Studenten ebenso wie die
ckenwalde, der den Kriegsdienst verwei- APO-Archivs trägt die Signatur SDS, 28, israelische sozialistische Organisation
gert hatte und kurz vor dem Mauerbau Bl. 424 – 428. Es ist ein mit Schreibma- Matzpen aus Jerusalem, das Peace and
nach West-Berlin getürmt war. In einer schine getipptes Manuskript einer Rede Freedom Movement aus Berkeley in Ka-
Vitrine liegt seine Zulassung zum Studium der West-Berliner Filmstudentin Helke lifornien, der Rat der Studenten der
an der FU vom 13. Juli 1961, Philosophi- Sander, vorgetragen am 13. September UdSSR, ein Jugendkomitee der Sozialis-
sche Fakultät, Hauptfach Geschichte. Da- 1968 in Frankfurt am Main auf der 23. De- tischen Partei Japans.
neben der von seiner Frau Gretchen aus- legiertenkonferenz des SDS. 1988 erbte Lönnendonker die Unter-
gefüllte Antrag auf Beurlaubung für das Sander sagte damals: »Wir müssen hier lagen des Kommunistischen Bunds West-
Wintersemester 1968/69. Als Begründung nämlich mal feststellen, dass an der Ge- deutschland, einer maoistischen Kleinpar-
tei. Zu ihren Kadern zählten in den Sieb-
zigerjahren etliche später einflussreiche
Grüne, unter ihnen Ralf Fücks, bis zum
vergangenen Jahr Chef der Heinrich-Böll-
Stiftung, Reinhard Bütikofer, viele Jahre
lang Parteivorsitzender, und der baden-
württembergische Ministerpräsident Win-
fried Kretschmann. In den Dokumenten
lässt sich nachlesen, wie die westdeutschen
Maoisten dem kambodschanischen Mas-
senmörder Pol Pot huldigten.
Im APO-Archiv liegen auch Privat-
sammlungen verstorbener Genossen so-
wie Flugschriften aus aller Welt, sie haben
einen Gesamtumfang von anderthalb
Millionen Seiten. Das Spezialarchiv, das
gut ein Zehntel der Dokumente des Uni-
versitätsarchivs umfasst, werde stark fre-
GOETZ SCHLESER / DER SPIEGEL
1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
Ein übler Trunk. Kaiser Augustus soll sich spätestens nach dem zerstörten das Renommee des deutschen Rieslings, der noch um
sechsten Glase Wein übergeben haben. Eine beachtliche Leis- 1900 teurer gehandelt wurde als französischer Rotwein. Erst in
tung, bedenkt man den Inhalt. Pur schmeckte römischer Wein den vergangenen drei Jahrzehnten wurde deutscher Wein wie-
selten gut. Um die Säure zu mildern, schütteten Winzer Kalk der zum verlässlichen Genuss. Heute werden Trauben schonend
hinein. Weitere Zutaten: Aschenlauge, Harz, Salz, Pech, Gips verarbeitet, die Ertragsmengen pro Hektar begrenzt, es wird
oder Oregano. Wein schmeckte oft nach Essig, da eine hygieni- behutsamer gedüngt, in moderne Kellertechnik investiert. Deut-
sche Verarbeitung schwer zu erreichen war. Auch Martin Luther sche Weine sind womöglich auch ein Gewinner des Klimawan-
trank noch eine braune Flüssigkeit mit wenig Aroma und be- dels. Der Extrakt der Früchte ist deutlich gestiegen. 1987 war das
schwerte sich über die Qualität. »Die Weine, die vom Rhein letzte Jahr, in dem viele Trauben nicht reif wurden. Die Quali-
und anderswoher kommen, werden von den Fuhrleuten verdor- tätsbeurteilung des Deutschen Weininstituts unterscheidet seit
ben«, vermutete er. Immerhin benutzte man zu seinen Lebzeiten 1992 nur noch zwischen »sehr gut« und »gut«. Wer sich heute
Schwefel zur Haltbarmachung. Im 19. Jahrhundert dann brachte also nach dem sechsten Glase übergibt, sollte die Schuld nicht
die Reblaus den Weinbau fast zum Erliegen, zwei Weltkriege beim schlechten Wein suchen. jonathan.stock@spiegel.de
Essen SPIEGEL: Grillen Sie sich überhaupt braun werden lassen, weil alle Hunger
Wie grillt man Eis, abends noch mal ein Würstchen? So
zwischendurch?
haben, fertig. Wir in der Szene nennen
das »flachgrillen«. Aber es ist ein Wandel
Herr Wienen? Wienen: Sehr gern sogar. Man muss ja erkennbar. Der Trend geht zum Zweitgrill.
auch mal was ausprobieren. Am liebsten SPIEGEL: Woran denken Sie, wenn Sie
Alfons Wienen, 48, ist mit seinem Team grille ich Würstchen rückwärts. das Wort »Einweggrill« hören?
»BBQ Wiesel« Weltmeister im Grillen. SPIEGEL: Wie geht das? Wienen: Katastrophe.
Wienen: Also erst bei niedrigen Tempe- SPIEGEL: Glut mit Bier ablöschen?
SPIEGEL: Herr Wienen, was nehmen Sie raturen garen, dann ruhen lassen, zuletzt Wienen: Gefährlich. Die Asche wirbelt auf,
für den nächsten Grillwettbewerb mit? scharf angrillen. Wer sie gleich bräunt, setzt sich auf dem Grillgut fest. Das ist
Wienen: Da kommen schnell zwei Trans- riskiert, dass die Würstchen außen ungesund. Außerdem wäscht man die
porter zusammen. Gasgrills, Wasser- schwarz werden, aber innen noch nicht schöne Marinade ab. Was soll das? Fast so
smoker, Kugelgrill, Zelte. Die Elektrik. gar sind. schlimm wie Fett abschneiden. Fett ist
200 Kilogramm Kohle. Logistisch ist das SPIEGEL: Unschön. ein Geschmacksträger!
schon eine Herausforderung, ähnlich Wienen: Eben, das Fleisch ist ja SPIEGEL: Verraten Sie uns doch
LAURIPATTERSON / GETTY IMAGES
einem Umzug. schon tot, warum soll man es mal: Wie grillt man Eis?
SPIEGEL: Bald ist Europameisterschaft in noch mal umbringen? Wienen: Tiefkühlen auf mi-
Schweden. Wie bereiten Sie sich vor? SPIEGEL: Wie grillen die Deut- nus 24 Grad, mit Blätterteig
Wienen: Wir sind gerade in der Findungs- schen eigentlich im Vergleich zu umwickeln, scharf angrillen,
phase. Die Frage ist immer: Wie bauen anderen Völkern? sodass der Blätterteig kross
wir das Geschmacksprofil? Da fängt die Wienen: Sie wollen zu schnell zu wird, aber das Eis noch nicht
Planung schon bei der Kohle an. viel. Viel Kohle, viel Hitze, schnell geschmolzen ist. Köstlich. JST
51
Gesellschaft
E
s war Ende Januar vorigen Jahres, Jetton fördern Informationen zutage, die fassen sich drei Kongressausschüsse damit,
als der Bürger Jeff Jetton beschloss, Journalisten entgehen, sie haben ein Netz- Juristen, Journalisten, Thinktanks.
ins Weltgeschehen einzugreifen. werk von Tausenden, manchmal Hundert- Trump und seine Leute halten die ganze
Jetton ist Teilhaber eines Restau- tausenden Followern und Unterstützern, Untersuchung für eine Farce, es habe nie
rants in Washington, das japanische Reis- sie bekommen Hinweise zugespielt von eine Zusammenarbeit mit Moskau gege-
nudeln serviert. Er war gerade auf dem überallher, sie decken auf, klären auf, sie ben. »Hexenjagd«, schrieb Trump am
Weg zu seiner Wohnung, als er Jugendliche mobilisieren andere Bürger. Sie sorgen Mittwoch auf Twitter, mal wieder.
sah, die rechte Hassparolen brüllten. Eini- dafür, dass die Gesellschaft nicht gleich- Jeff Jetton sagt, natürlich sei der Präsi-
ge Häuserblocks entfernt, auf den Stufen gültig wird. dent in die Russlandsache verwickelt.
des Kapitols, wurde gerade Donald Trump Es sind Männer wie eben Jeff Jetton Sein Telefon vibriert. Am anderen Ende
zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staa- oder auch Seth Abramson, Universitäts- meldet sich ein Reporter von »BuzzFeed«,
ten vereidigt. Jetton sah lachende Neo- dozent im Bundesstaat New Hampshire, der einen Kontakt zu Felix Sater sucht, ei-
nazis und Provokateure mit rassistischen oder Scott Dworkin, Aktivist der Demo- nem früheren Geschäftspartner Trumps.
Plakaten. Es schien, als hätten diese Leute kraten in Washington. Drei Bürger, die sich Sater ist eine dieser Figuren, die in diesem
auf diesen Augenblick nur gewartet, auf in die Affäre ihrer Zeit fressen, drei Ge- Komplex regelmäßig in den Mittelpunkt
diesen Präsidenten. triebene. Sie sind einander nie begegnet, rücken. Er kennt Trump seit Jahren und
Jeff Jetton war ratlos und zornig, er was sie verbindet, ist die Verachtung für prahlt damit, dass er für dessen Tochter
wollte etwas gegen den Hass tun, der sich den Präsidenten, die Gewissheit, dass er Ivanka einen Kreml-Besuch arrangiert hat,
von Washington aus über das ganze Land etwas verbirgt, und die Überzeugung, dass bei dem Ivanka auf dem Stuhl von Wladi-
verbreitete. Es müsse doch ein Mittel ge- man dagegen etwas machen kann. mir Putin Platz nehmen durfte.
gen diesen gefährlichen Clown geben, der Jetton, Abramson und Dworkin befrie- In den Russlandskandal rutschte Sater
gerade ins Weiße Haus einzog, dachte er digen mit ihrer Arbeit die gigantische durch eine E-Mail, die er Ende 2015 an
sich. »Was ist Trumps größte Schwäche? Nachfrage nach Informationen und Ein- Michael Cohen schickte, Trumps Anwalt.
Wo ist er am verwundbarsten?« ordnung, sie sind wie Dealer. Ohne sie Er, Sater, wolle mithilfe Cohens und Putins
Ein Jahr später tritt Jetton in ein Café wüsste man nicht, was einer von Trumps die Wahl zu Trumps Gunsten beeinflussen,
im Norden Washingtons. Er ist 41 Jahre Anwälten nachts denkt, ohne sie würden schrieb er. »Ich werde Putins Leute mit ins
alt, trägt Jeans, Mütze und einen Fünf- dem Russlandpuzzle Teile fehlen, ohne sie Boot holen.« Inzwischen gilt diese Nach-
tagebart. Sein Mobiltelefon legt er auf wäre die Affäre auch weniger unterhalt- richt als einer von vielen Belegen dafür,
den Tisch, vorsichtig wie einen Schatz. Er sam. wie sehr sich im Umfeld des Präsident-
hat anderthalb Jahre nichts anderes ge- schaftskandidaten Politik, Geld und Ge-
macht, als der Frage hinterherzujagen, ob schäft vermischt haben.
Trump im Wahlkampf mit einer ausländi- Jetton schickte einem Jetton sagt zu dem »BuzzFeed«-Repor-
schen Macht kooperierte, um gegen Hilla-
ry Clinton zu gewinnen. Das große Thema.
von Trumps Anwälten ter: »Ich mach dir einen Kontakt.« Drei
Minuten später landet auf seinem Handy
In seinem Telefon lagern die Trophäen. eine Mail, darin stand: eine Nachricht von Sater. »Felix und ich
Trump, der Russlandfreund. Trump, der »Du bist ein Monster.« sind Freunde«, sagt Jetton und lächelt be-
Putin-Buddy. haglich. Sie kommunizieren verschlüsselt,
Es dauert nicht lange, dann bietet er ei- kürzlich trafen sie sich mal wieder in
nem die Handynummer von Donald Seit einem Jahr untersucht Sonder- Los Angeles. Jetton hält sein Telefon hoch,
Trump Jr an, die private E-Mail-Adresse ermittler Robert Mueller eine mögliche hier bitte, kannst du alles lesen, sagt er.
von Paul Manafort, Trumps früherem Zusammenarbeit zwischen Trumps Wahl- Die Nachrichten lesen sich tatsächlich, als
Wahlkampfhelfer, sowie eine Nummer kampfteam und Russland. 19 Verdächtige seien Sater und er Vertraute.
von Michael Cohen, Trumps Rechtsan- sind angeklagt, darunter 4 frühere Berater Jetton sagt über sich, er habe drei Stär-
walt. Von Leuten, die auf die eine oder an- Trumps und 13 Russen. Die Ermittlungen ken. Erstens sei er ein netter Kerl, der
dere Weise in die Affäre verstrickt sind. dauern an, noch immer ist nicht klar, ob schnell Kontakte knüpfe und zuhören
Man könnte Jetton für einen Spinner es einen Masterplan gab, mit Moskau zu könne. Zweitens sei er ein guter Stratege.
halten, für einen Eiferer oder Verschwö- kooperieren, und falls dieser Plan existier- Drittens löse er gern komplexe Aufgaben.
rungstheoretiker, aber das ist er nicht. Im te, ob Trump darin verwickelt war. Seine vierte Stärke erwähnt er nicht: Un-
großen Panorama des Russlandskandals Es wäre die ultimative Verschwörung, ruhe stiften.
ist er der couragierte Bürger. Der Demo- der Skandal des Jahrhunderts. Ein Präsi- Am Telefon erzählt Sater, dass er Jetton
krat, der Ernst macht. Der nicht alles dem dentschaftskandidat arbeitet mit Moskau, unterhaltsam finde. Und dass man ihn
Staat und seinen Institutionen zuschieben dem früheren Erzfeind, um die Wahl zu ernst nehmen müsse. »Er ist ein netter
will. Er ist einer von Hunderten. Leute wie manipulieren. Neben Robert Mueller be- Kerl. Mich hat beeindruckt, dass Jeff we-
Ermittler Jetton mit Teufelsmaske in New York: »Was ist Trumps größte Schwäche?«
53
sentlich mehr aufgedeckt hat als professio-
nelle Journalisten.«
Jetton versteht sich gleichermaßen als
Verbreiter wie als Zuträger von Nachrich-
ten. Von Anfang an half er Journalisten
mit Kontakten und schob ihnen Tipps
zu. In einem Hackerforum im Internet
stieß er auf ein Datenpaket mit Tausenden
gestohlenen Textnachrichten, die von ei-
ner Tochter Paul Manaforts stammten,
Trumps ehemaligem Wahlkampfhelfer.
»Ziemlich saftiges Material«, sagt Jetton.
Er blätterte durch die Nachrichten, bis er
die Telefonnummer einer Frau entdeckte,
die angeblich Manaforts Geliebte war. Er
rief sie an.
»Wir telefonierten stundenlang. Sie hat
mir erzählt, dass sie mit Manafort in die
Ukraine gereist war und Oligarchen traf.
Später trug Manafort ihr auf, ihr Telefon
ins Meer zu werfen. Sie hat mal für Tom
Barrack gearbeitet, einen von Trumps en-
gen Verbündeten, wurde aber gefeuert.«
Ein Sprecher von Paul Manafort wollte
dazu keine Stellung nehmen.
Je länger sich Jetton mit dieser Sache
befasst, desto wütender wird er. Im Sep-
tember schickte er an einen von Trumps
Anwälten eine Mail, in der stand: »Du bist
ein Monster.« Zu Jettons Überraschung
bekam er eine Antwort: »Du hast keine
Ahnung. Ich verzichte für diesen Job auf
ein Jahresgehalt von vier Millionen Dol-
lar.« Es ging hin und her, die Zeitungen zi-
tierten aus den Mails, tagelang.
Jeff Jetton tut, was er kann, aber manch-
mal hat er den Eindruck, das reiche nicht.
Es bewegt sich nichts. Trump scheint nicht
wegzukriegen zu sein.
54
Gesellschaft
tisch hängen ein Jackett, ein Hemd und Die Prämisse lautet: Etwas stinkt hier ge- Details. Das Erstaunliche ist, dass all die
eine Krawatte, für den Fall, dass CNN mal waltig. Details nicht zu einer Ermüdung führen.
wieder anruft. Abramsons Thread dauert fünf Stun- Dass die Leute sich nicht abwenden, weil
Seit Trumps Amtseinführung hat sich den, während dieser Zeit kamen: 96 Nach- man es so genau dann doch nicht wissen
Abramson den Ruf eines Spezialisten er- richten, Tausende Retweets und Likes, will. Das Gegenteil stimmt. Jedes Detail
arbeitet, der sich wie kaum ein anderer Hunderte Kommentare. Seine meistgele- scheint die Sucht auf Neues anzufüttern,
mit den Russlandermittlungen auskennt. senen Threads werden mehr als 50 000- im Netz gibt es alles kostenlos, das Mate-
Praktisch ist, dass er nur drei Seminare in mal geteilt. rial kommt von Dealern, die ihre Ware
der Woche unterrichtet. »Ich bin nicht so Seine These ist, grob gesagt: Trump ver- verschenken.
oft auf dem Campus«, sagt er. Auf Twitter sprach sich von den Russen Geld und gute Das Bombardement mit Zahlen, Daten,
folgt ihm inzwischen ein Schwarm von ei- Deals, deshalb machte er im Wahlkampf Namen hat das Land in einen Zustand
ner halben Million Menschen, er ist fast Zugeständnisse in der Außenpolitik. Putin hyperaktiver Erregung gestürzt, eine Mi-
so groß wie die Druckauflage der »New wollte, dass die Sanktionen gegen Russ- schung aus zu viel Zucker und zu viel
York Times«. »Ich bekomme täglich Dut- land gelockert werden. Trump wollte die Koffein, und die Dealer tragen einen Teil
zende von Hinweisen«, sagt er. Wahl gewinnen. Die seltsame Affinität der Verantwortung dafür. Die politischen
Wenn Jeff Jetton einem Nahkämpfer äh- Trumps zu Putin beruhe auf einem Deal, Lager driften immer weiter auseinander.
nelt, ist Seth Abramson der Erklärer. Der sagt Abramson: Die Russen waren nett zu Trump-Hasser sehen in der Russlandaffäre
Guide zur Datengalaxie. Er klappt seinen ihm, deshalb ist er nett zu ihnen. ein Jahrhundertkomplott, bedeutender als
Rechner auf und öffnet die Twitter-Home- Abramson hat Jura studiert und schlug Watergate; Trump-Fans sehen die größte
page. Abramsons Spezialität ist eine Rei- sich schon als junger Verteidiger auf die Hetzjagd der Weltgeschichte.
he schnell hintereinander abgefeuerter Seite derjenigen, die sich keine teuren An- Zu Beginn der Affäre waren die meisten
Tweets, sogenannte Threads, mal 10 Nach- wälte leisten können. Er sagt, die Reichen Hobbydetektive davon überzeugt, dass
richten lang, mal 50. Sein längster Thread es nur genügend Aufklärung braucht, um
dehnte sich über 220 Einzelnachrichten, Trump loszuwerden. Wenn das vergangene
Abramson schrieb stundenlang. Er kom- Sein Freundin hat gerade Jahr aber eines gezeigt hat, dann, dass Fak-
poniert die Kurzbotschaften live, in fiebri-
gen Attacken.
Schluss gemacht. Sein ten diesem Präsidenten nicht gefährlich wer-
den. Scott Dworkin sagt, Recherche allein
Ende April veröffentlichte der Geheim- Gesicht sagt: War abseh- genüge nicht mehr, es brauche den Kampf.
dienstausschuss des US-Repräsentanten- bar. Kollateralschaden. »Ich helfe, die Résistance zu führen.«
hauses zwei Berichte zur Russlandaffäre. Dworkin sitzt zu Hause auf seinem Sofa
Abramson lud die Texte herunter und be- und sieht müde aus. Er arbeitet oft nachts.
gann zu tippen. und Mächtigen hätten in der US-Justiz Außerdem hat seine Freundin gerade mit
23.22 Uhr: Gestern habe er die Enthül- Vorteile. Wer Geld hat, bekommt recht. ihm Schluss gemacht, Dworkin verzieht
lungen der Republikaner diskutiert, heute Das will er diesmal verhindern. das Gesicht, als wolle er sagen: War ab-
seien die der Demokraten dran. Eigentlich, sagt er, schätze er die Ein- sehbar. Kollateralschaden. An der Wand
23.55 Uhr: »Habe ich erwähnt, dass Pu- samkeit. Zu Hause warten eine Freundin hängt ein Foto, auf dem er mit Barack
tin selbst in Athen war, als Papadopoulos und zwei Hunde, Scout und Quinn. Wenn Obama zu sehen ist, in den wilden Tagen
sich mit genau jenen Leuten traf, die auch nötig, fährt er um Mitternacht ins Büro und der Wahlkampagne 2012. Lange her. Ein
mit Putin gesprochen hatten?« gibt Skype-Interviews für die BBC. In sei- halbes Leben. Die Wohnung wirkt, als sei
0.21 Uhr: Donald Jr, Manafort und ner Freizeit liest er Comics und pflegt seine er hier nur auf Durchreise.
Kushner seien bei dem Treffen mit der rus- umfangreiche Lego-Sammlung. Er sagt, Dworkin sagt, man solle bitte nicht
sischen Anwältin im Juni 2016 nicht über- seine Popularität zeige, wie dramatisch schreiben, wo genau in Washington er lebt.
rumpelt worden. »Es war das Ergebnis von derzeit Journalisten versagen würden, die Er bekomme Morddrohungen, Hunderte
drei Monaten Vorarbeit in Italien, Groß- ihrem Publikum nicht erklären könnten, seien es im vergangenen Jahr gewesen,
britannien und Griechenland.« worum es in der Affäre tatsächlich gehe. was ihn weder stört noch überrascht. Es
4.15 Uhr: »Zusammenfassend: Der Im Grunde ist Abramson eine sehr ame- herrsche Krieg, sagt er. »Manchmal wirst
Kreml machte Trumps Team Avancen; rikanische Figur. Ein Underdog, der un- du hart getroffen.« Eine der schmerzhaf-
Trumps Leute gaben zu verstehen, dass freiwillig zum Helden wurde. Hilft nichts, teren Attacken richtete sich gegen seine
sie bereit seien zu reden; ein Treffen wurde macht ja sonst niemand. Es gibt Leute, die Finanzen, eine Website berichtete, er habe
vereinbart, bei dem Trumps Leute bestä- sagen, er dränge sich wegen des Geldes in sich an der Résistance bereichert, was er
tigten, sich nach der Wahl mit den US- die Medien, was er dementiert. Gelegent- bestreitet. Seinen Eltern hat er beige-
Sanktionen gegen Russland auseinander- lich bittet er um Spenden. bracht, wie sie mit ihm kommunizieren
zusetzen; der Kreml begann, Trump zu Abramson nimmt einen Schluck aus ei- können, ohne abgehört zu werden.
helfen; Trump bot im Gegenzug seine Hil- ner Wasserflasche. »Was mich am meisten Dworkin arbeitet als Rechercheur und
fe an. Eine Verschwörung.« ärgert, ist, wenn andere Leute unterstellen, Berater für die Initiative »Democratic Co-
4.49 Uhr: »PS: Wenn ich mir vor Augen mir mache das alles Spaß. Das ist verrückt. alition«, die der Partei der Demokraten
führe, dass Mueller in etwa 400 Prozent Ich sorge mich um mein Land. Mir geht es nahesteht. Seit anderthalb Jahren greift er
mehr Informationen hat, frage ich mich schlecht. Ich schlafe miserabel.« Bis jetzt die Beteiligten der Russlandaffäre an, er
ernsthaft, wie ein Mitglied der Trump-Re- hat er mehr als 30 000 Tweets abgesetzt. ist einer der ruhelosesten Wühler. Wenige
gierung nachts noch schlafen kann.« Er kommt nicht weg von der Geschichte. Tage nach der Präsidentschaftswahl ver-
Abramson zieht Verbindungen zwi- Er ist ein Gefangener Russlands. Trumps öffentlichte er eine mehrere Seiten lange
schen seinen Daten wie ein Astronom im Geisel. Sammlung aus Artikeln, Links und Videos,
Planetarium, der Lichtpunkte am Himmel »Ich muss weitermachen«, sagt Abram- die Trumps Nähe zu Russland belegen soll-
zu Sternzeichen verknüpft. Papadopoulos son. »Ich kann mich nicht losreißen.« ten. Er nannte das Dokument »The Dwor-
in Athen, Putins Griechenlandreise im Da geht es ihm wie seinem Land. Ame- kin Report«.
selben Monat, russische Spenden an die rika wird nicht satt an dieser Affäre, es Dworkin ist nachtaktiv, ein Jäger, kein
US-Waffenlobby – alles hängt zusammen. giert nach Enthüllungen, Fakten, neuen Sammler. Er trägt ein schwarzes T-Shirt,
Im Käfig
verstehen. Die Ostler waren entweder bei der Stasi oder
Bürgerrechtler. Im ersten Urlaub nach dem Mauerfall fuhr
man als Flamencotänzer verkleidet nach Mallorca. Leider
saß auf Mallorca dann auch schon wieder die Stasi. Es gibt in
»Weissensee« nur eine Figur, die sich gegen das alles stemmt.
Leitkultur Alexander Osang über Eine Journalistin. Die kommt aus dem Westen. Sie macht
Ostdeutsche, die jetzt eine neue alles: Fotos, Interviews – und kümmert sich nebenbei noch
Rolle als Migranten bekommen haben um einen traumatisierten Ostler. »Weissensee« ist eine
Migrantenfarce wie »My Big Fat Greek Wedding« und die
Filme über Deutschtürken, die im Urlaub zu Oma nach Ana-
57
Wirtschaft
Lebensalter: »Eine Welt, in der 120 die neuen 80 sind und 60 buchstäblich die neuen 40.« ‣ S. 60
Konjunkturrisiko Trump
Der deutsche Daueraufschwung könnte noch Jahre anhalten, doch es droht Gefahr aus Washington.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) rechnet auch für Auch wenn die von Trump angedrohten Strafzölle auf Stahl
die kommenden Jahre mit einer robusten Konjunkturent- und Aluminium sowie mögliche Vergeltungsmaßnahmen
wicklung. Für den Zeitraum 2019 bis 2022 »wird eine durch- der EU bei Motorrädern und Whiskey nur einen kleinen Aus-
schnittliche Wachstumsrate von 1,5 Prozent angenommen«, schnitt der Wirtschaft treffen, fürchten Handelsexperten den-
heißt es in einer internen Unterlage des Bundesfinanz- noch, dass die dadurch ausgelöste Verunsicherung auf andere
ministeriums. Allerdings warnen die Konjunkturexperten Branchen überspringt und Investitionen zurückgestellt wer-
von Scholz auch vor Gefahren. »Die jüngsten Entwicklungen den. Das verringerte Nachfrage und Wirtschaftswachstum.
in der Zollpolitik der USA und mögliche Gegenmaßnahmen Noch viel größeren Schaden würde es anrichten, wenn
haben die außenwirtschaftlichen Risiken für die deutsche Trump, wie angedroht, auch Autoimporte mit hohen Straf-
Wirtschaft zuletzt erhöht«, schreiben sie in ihrem Papier. zöllen belegen würde. REI
Sammelklagen geschädigt worden sind, schreibt Hausfeld- man im Gesetz festschreiben, dass die
Angst vor Verjährung Anwalt Christopher Rother in einem Brief
an Mitglieder des Bundestagsausschusses
Erhebung einer Musterfeststellungsklage
die Verjährung für alle Ansprüche unter-
Die Kanzlei Hausfeld fordert Nachbes- für Recht und Verbraucherschutz. Selbst bricht, ohne dass Individuen sich ins Kla-
serungen bei der Musterfeststellungsklage. wenn das Gesetz rechtzeitig in Kraft trete, geregister eintragen. Johannes Fechner,
Das Verfahren soll es Verbrauchern könnten Geschädigte eine Verjährung nur rechtspolitischer Sprecher der SPD-
erleichtern, Schadensersatzforderungen vermeiden, wenn sie sich rechtzeitig im Bundestagsfraktion, will den Anwen-
gegen Unternehmen durchzusetzen. Der Klageregister anmeldeten. Dazu müssten dungsbereich des Gesetzes zudem auf
Gesetzentwurf würde nicht verhindern, sie das Aktenzeichen des Musterverfah- Firmen ausweiten. »Auch Handwerker
dass zum Jahresende die Ansprüche rens kennen sowie Grund und Höhe ihres und Pflegedienste könnten dann
von rund zwei Millionen VW-Fahrern Anspruchs nennen. Für all das bleibe bis Schadensersatzansprüche geltend
verjähren, die durch den Abgasskandal Ende des Jahres kaum Zeit. Daher müsse machen.« MHS
59
CULTURA RF / VARIO IMAGES
Milliardeneinnahmen
60
Wirtschaft
Doktor Algorithmus
Zukunft Das Silicon Valley stürzt sich auf die Medizin: Konzernriesen wie Google und Hunderte
neue Start-ups arbeiten an neuen Behandlungsmethoden. Krebs soll per Bluttest
entdeckt, das Leben verlängert und der Mensch mit Maschinenimplantaten aufgerüstet werden.
H
inter mehreren Sicherheits- Sie lächelt fast ununterbrochen, wäh- Unternehmen gemeinsam mit Universitä-
schleusen, in einer fensterlosen rend sie über die Pläne von Verily spricht: ten über vier Jahre alle denkbaren Bio-
Werkstatt, schrauben Ingenieure eine neue medizinische Plattform zu bau- daten von 10 000 Menschen: genetische,
am Chirurgen der Zukunft: eine en, »die Infrastruktur für die digitale Ge- molekulare, psychologische.
Maschine, ausgestattet mit künstlicher In- sundheitswelt« zu schaffen. Mehr als eine Die Teilnehmer wurden unter anderem
telligenz (KI), eingebettet in virtuelle Re- Milliarde Dollar stellte Google dazu bereit mit neuen Sensoren und Messgeräten aus-
alität und beworben als »Komplettlösung – für den Anfang. gestattet, die rund um die Uhr Daten lie-
für alle Operationssäle«. Gleich nebenan Aber trotz solcher großen Anstrengun- fern. Am Ende soll genau definiert sein:
arbeiten Forscher an in den Menschen im- gen läuft Google längst nicht mehr allein Was ist ein gesunder Mensch? Um mit die-
plantierbaren Minicomputern, die elektri- vorweg bei dem Versuch, die Gesundheit sen Werten die neuen digitalen Messgeräte
sche Signale in den Nervenbahnen mani- zu digitalisieren. Das ganze Silicon Valley zu eichen. Dann ließen sich digitale Früh-
pulieren, um auf diese Weise Krankheiten stürzt sich auf die Medizin, die großen warnsysteme für viele Krankheitsbilder
zu behandeln: der erste Schritt in eine Konzerne von Apple bis Facebook genau- bauen, die den Arzt warnten: Achtung,
neue »bioelektrische Medizin«. so wie Hunderte Start-ups. Die Wagnis- hier bahnt sich etwas an.
Einige Türen weiter geht es um neue kapitalfirmen investieren Milliarden in Die meisten Krebsformen etwa sind
Therapien gegen Krebs und Depression, Biotechnologie und Gesundheit. heute schon behandelbar, viele sogar heil-
entwickeln fast tausend Wissenschaftler In den vergangenen Jahrzehnten hat die bar, solange sie nur rechtzeitig erkannt
neue Biosensoren, Medizinroboter, Me- digitale Revolution eine Industrie nach der werden. Erst wenn die Tumoren zu lange
dikamente. Sie kommen aus den unter- anderen erobert und umgekrempelt – und unerkannt bleiben und die Patienten be-
schiedlichsten Feldern; aus Biologie, Me- dabei auch grundlegend verändert, wie reits im dritten oder vierten Stadium der
dizin, Chemie, Materialwissenschaften, wir leben. Die Silicon-Valley-Strategen Krankheit in die Klinik kommen, steigt die
Informatik, Maschinenbau. sind nun überzeugt: Kein Bereich sei bes- Sterblichkeitsrate rasant. Was also, wenn
Und sie alle forschen für Google. sich Krebs schon in seiner frühesten An-
Als der Internetriese vor fünf Jahren fangsphase mit einem einfachen Bluttest
erstmals ankündigte, nun auch die Medi- »Stell dir eine Zukunft erkennen ließe?
zin erobern zu wollen, haben noch viele
in den Chefetagen der Pharmafirmen ge-
vor, in der du alterst, Auf diesen Weg setzen gleich mehrere
Silicon-Valley-Unternehmen. Allen voran
lacht. Die Anfänge waren bescheiden: aber ohne die Krankheiten Grail, benannt nach dem Heiligen Gral,
zwei Dutzend Google-Mitarbeiter, ausge- deiner Eltern.« dem legendären mystischen Gefäß, das
lagert in einen nichtssagenden Bungalow ewiges Leben verspricht. Die Forscher des
am Rande des Firmenhauptquartiers im Start-ups erhoffen sich zumindest die
Silicon Valley. ser geeignet, von den immer mächtigeren Chance auf ein längeres Leben, indem sich
Aber nun breitet sich bereits ein fünf- digitalen Instrumenten revolutioniert zu alle Menschen routinemäßig durch soge-
stöckiges Karree aus Stahl und grünem werden als unsere eigene Biologie. Nir- nannte »liquid biopsies«, flüssige Gewe-
Glas an der Bucht von San Francisco aus, gends biete sich eine größere Chance, den beproben, testen lassen, ob sie Warnzei-
ein eigenständiger Forschungscampus Weg der Menschheit zu verändern. Und chen für Krebs in sich tragen.
rund 40 Kilometer nördlich des Google- neue Geschäftsfelder zu erschließen. Die Idee ist eine große Wette auf die
Hauptquartiers, groß wie eine gut ausge- Daten sind der Schlüssel für diese Zu- Macht der digitalen Technologie: Die For-
stattete Uniklinik, mit zahllosen Labora- kunftsmedizin: ausgelesen aus Geräten, scher hoffen, dass sich mit rasend schnellen
torien hinter Sichtschutzglas. In der Lobby Genomen, Sensoren und zahllosen Tests DNA-Sequenzierungsmaschinen, KI-ge-
wächst Gras die Wände hoch. zu allen möglichen Biomarkern, von der stützter Software und neuen Analyse-
Aus der Abteilung ist eine eigenständige bakteriellen Besiedlung des Darms bis zur verfahren das genetische Material erken-
Firma geworden, Verily, unter dem Dach Proteinzusammensetzung. Und analysiert nen lässt, das selbst von kleinsten, noch
des Google-Mutterkonzerns Alphabet. und aufbereitet durch kluge Software, die unerkannten Tumoren abgesondert wird.
Prominente Mediziner und selbst der Chef dazulernt und Muster selbst in riesigen In- Grail ist dabei mindestens genauso Soft-
der US-Aufsichtsbehörde für Lebens- und formationsmengen erkennt. Wo der Arzt ware-Unternehmen wie Biotech-Firma.
Arzneimittel wechselten zu Verily, ange- nicht mehr durchblickt, liefert Doktor Al- Aus den Blutproben jedes Patienten sam-
zogen von hochfliegenden Plänen: »Unse- gorithmus Antworten. meln die Techniker rund tausend Gigabyte
re Mission ist es, die Gesundheitsdaten der Die größten Chancen für neue digitale Daten und jagen diese dann durch einen
Welt nutzbar zu machen, damit wir gesün- Instrumente sehen viele der Silicon-Val- »Klassifizierer«, der mit KI-Algorithmen
der leben können«, sagt Jessica Mega, ley-Technologen zunächst nicht in der Be- nach Mustern sucht. Wenn solche Früh-
Chefmedizinerin von Verily. Sie ist eine handlung, sondern in der Diagnose. Verily erkennungsbluttests Standard werden soll-
der führenden Kardiologinnen der USA, arbeitet deswegen derzeit vor allem daran, ten, würde Grail wohl schnell »zur größten
war zuvor Professorin an der Harvard »die menschliche Gesundheit zu kartogra- Big-Data-Firma der Welt«, sagt Jeff Hu-
Medical School. fieren«, wie Mega sagt. Dazu sammelt das ber, Gründungschef von Grail. Nicht zu-
JASON HENRY
»Wir setzen darauf, die Zukunft zu er-
finden«, sagt Quake. Wenn das gelingt,
wäre es sicher höchst lukrativ: Eine neue
Verily-Chefmedizinerin Mega: Gesundheitsdaten der Welt nutzbar machen Art von Therapie zu erschaffen verspricht
Milliardeneinnahmen.
Entsprechend treibt die Silicon-Valley-
fällig ist er zuvor Topmanager bei Google ner Panikwelle zu führen und die Kran- Vordenker nicht nur Forschergeist, son-
gewesen. kenhäuser zu überlasten. dern die Hoffnung, die digitale Gesund-
Schon länger ist bekannt: Im Blut lässt Trotzdem sammelte Grail bereits mehr heitsbranche zu dominieren.
sich Krebs früh feststellen – sogar, wenn als eine Milliarde Dollar Kapital ein und So ist es auch kein Zufall, dass der neue
sich der Patient noch kerngesund fühlt. gehört damit zu den bestfinanzierten pri- Präsident der Stanford University aus der
Daraus einen generellen Indikator für eine vaten Biotech-Start-ups der Welt. Zu Medizin kommt. Stanford ist der Nexus
Krebserkrankung zu entwickeln wurde Grails Geldgebern gehören unter anderem des Silicon Valley, hier laufen all die Netz-
aber erst mit neuer Technologie zur Google, der Amazon-Gründer Jeff Bezos werke aus Forschern, Gründern, Geld-
schnellen und billigen Analyse von Erb- und Bill Gates. gebern und Konzernführern zusammen.
gut möglich. Große Teile des Hauptquar- Viele der bekannten Technologievor- Jedes Jahr werden etliche Start-ups von
tiers von Grail in Menlo Park, gleich um denker engagieren sich persönlich in der Stanford-Studenten gegründet, an man-
die Ecke von Facebook, sind mit neuarti- Medizinforschung. Facebook-Gründer chen dieser Firmen ist die Uni finanziell
gen DNA-Sequenzierungsmaschinen voll- Mark Zuckerberg etwa finanziert den Auf- beteiligt. So entstanden hier etwa Hewlett-
gestellt. bau eines »menschlichen Zellatlas«: Ein Packard und auch Google, gegründet von
Testen wollen die Grail-Forscher ihre mit 600 Millionen Dollar ausgestattetes den beiden Stanford-Doktoranden Larry
Technologie an einem ersten Großprojekt: Forschungszentrum soll unter anderem Page und Sergey Brin.
Aus den Blutproben von 120 000 Frauen alle Zellen des menschlichen Körpers kar- Seit 2016 ist Marc Tessier-Lavigne der
sollen die frühen DNA-Signaturen von tografieren und damit die Entwicklung Präsident der Universität, ein Neurowis-
Brustkrebs herausgefiltert werden. Statis- neuer Medikamente ermöglichen. Insge- senschaftler und einer der weltweit füh-
tisch gesehen werden 650 Frauen aus die- samt wollen Zuckerberg und seine Frau renden Experten für die Entwicklung
ser Testgruppe innerhalb eines Jahres Priscilla Chan, eine Kinderärztin, mehr als des Gehirns. Er leitete lange die Forschung
Brustkrebs entwickeln. Grail will dann die drei Milliarden Doller in die Erforschung des Biotech-Riesen Genentech. Tessier-
gesammelten Proben analysieren, um fest- neuer Therapien investieren. Lavigne sagt: »Wir sind im goldenen Zeit-
zustellen, ob der DNA-Test den Krebs kor- »Wir glauben nicht an ›unmöglich‹«, so alter der Erforschung von Krankheiten,
rekt vorhergesagt hätte. lautet das Motto des »Chan Zuckerberg dank der Sequenzierung des menschlichen
Ob sich die großen Pläne des Unterneh- Biohub«, prominent verkündet auf einem Genoms und anderer mächtiger Techno-
mens, schon bis Ende des Jahrzehnts einen Motivationsposter auf den Fluren des neu- logien.«
kommerziellen Krebs-Bluttest bereitzustel- en Forschungszentrums, gleich gegenüber Schmal und hochgewachsen, mit silber-
len, verwirklichen lassen, wird jedoch von der Uniklinik von San Francisco. Die Ziele grauem Seitenscheitel und hohen Wangen-
vielen Krebsexperten bezweifelt. Zudem von Biohub sind ähnlich gigantisch wie die knochen, ist Tessier-Lavigne eine markan-
müsste der Test nahezu perfekt sein: Wenn Welteroberungsvisionen von Facebook: te Erscheinung, er wirkt ernst und intensiv.
tatsächlich Millionen Menschen jedes Jahr »Alle Krankheiten noch zu Lebzeiten un- Auf Fragen antwortet er fast immer druck-
getestet würden, wären schon wenige feh- serer Kinder zu heilen, zu verhindern oder reif. Die Zukunft sieht er so: »Wenn wir
lerhafte Krebsdiagnosen genug, um zu ei- zu managen mag auf den ersten Blick die nötigen Investments machen, werden
wir verstehen können, wie sich Tumoren Risikokapital für US-Biotech- seine Bausteine und Prozesse kennt. Ver-
ausbreiten, werden wir lernen können, wie stopfte Arterien, absterbende Gehirnzel-
Nervenzellen funktionieren, und die Ge-
Start-ups in Milliarden Dollar len, schwindende Muskeln, erlahmende
heimnisse des Immunsystems entschlüs- Motoren in den Zellkernen: Das Silicon
Amazon steigt
seln. Und dieses Wissen brauchen wir, um bei Grail ein Valley träumt davon, dieses Systemver-
den Krebs zu unterwerfen, die Demenz 9,0 sagen aufzuhalten, indem das Betriebs-
zu besiegen und Impfungen gegen HIV zu system ständig erneuert wird.
entwickeln.« Unternehmen wie Unity Biotechnology
Tessier-Lavigne hält den technologie- werden inzwischen mit Geld überschüttet.
getriebenen Fortschritt »in dieser Zeit Das Start-up ist einer der Stars der neuen
der enormen wissenschaftlichen und wirt- Antialterungsforschung und arbeitet dar-
schaftlichen Chancen« für eine gesell- an, »die Gesundheitsspanne zu verlängern,
schaftliche Aufgabe. Und für eine staat- Google Ventures die Zeit, in der man in guter Gesundheit
liche, wie er vor dem amerikanischen (Investmentfirma) 5,7 5,6 lebt«. Amazon-Gründer Jeff Bezos, der
Kongress betonte: »Um in der Biomedizin wird gegründet prominente Investor Peter Thiel und an-
die Vorherrschaft zu bewahren, müssen dere Kapitalgeber steckten zusammen
die notwendigen Mittel bereitgestellt und mehr als 130 Millionen Dollar in diese
die strukturellen Rahmenbedingungen ge- Vision der Gründer: »Stell dir eine Zu-
3,5
schaffen werden.« kunft vor, in der du alterst, aber ohne die
Stanford ist eng verwoben mit dem viel- Krankheiten deiner Eltern. Eine Zukunft,
leicht eigentlichen Machtzentrum des 2,4 in der Altern nicht schmerzt.«
Silicon Valley: den Wagniskapitalgebern, 1,9 2,1 2,0 2,0 Vielen Silicon-Valley-Technologen geht
die jedes Jahr Milliarden Dollar an junge 1,4 das alles jedoch noch nicht weit genug:
Unternehmen vergeben. Viele von ihnen Das Ziel müsse am Ende das Zusammen-
haben ihren Sitz an der Sand Hill Road, wachsen von Mensch und Maschine sein,
einer langen, kurvigen Straße, die sich den Körper hochzurüsten, damit er besser
gleich hinter dem Uni-Campus die Hügel 2008 2017 und länger funktioniert. Sogenannte Ge-
des Silicon Valley hochschlängelt. hirn-Computer-Interfaces sind ein eigenes
Quelle: PitchBook
Hier hat sich auch Andreessen Horo- Forschungsfeld, in dem sich zahlreiche
witz niedergelassen, die wohl einflussreichs- Start-ups und die großen Tech-Konzerne
te Investmentfirma der Technologiewelt. gemeinsam suchen sie nach Biomarkern, tummeln.
Tausende Unternehmensvertreter pilgern die für das Altern verantwortlich sind. Und das amerikanische Verteidigungs-
jedes Jahr den Berg hinauf zu der elegan- Wenn die spezifischen Merkmale erst ein- ministerium: Mit 65 Millionen Dollar
ten Bungalowanlage mit Springbrunnen mal bekannt sind, könnte der Körper mit unterstützen die US-Militärs gleich sechs
und künstlichen Bächen, um sich beraten der richtigen Behandlung vorsorglich ge- Projekte, die unter anderem Lähmung,
zu lassen oder um Geld zu bitten. pflegt werden, damit er möglichst lange Blindheit und Sprachstörungen durch
Beste Chancen haben derzeit »Soft- Spitzenleistung bringt. maschinelle Unterstützung überwinden
ware-Start-ups, die biotechnologische Pro- Als Vergleich verweist Pande auf den sollen.
bleme lösen wollen«, sagt Vijay Pande. Als schon lange bekannten Zusammenhang Den größten Teil der Fördermittel er-
Professor für »Structural Biology« war er zwischen dem Cholesterinwert im Blut hielt Paradromics, ein kleines Start-up aus
Chef des Biophysikprogramms der Stan- und Herzerkrankungen. Da man den rele- San Jose am südlichen Ende des Silicon
ford University, entwickelte dort neue In- vanten Biomarker – Cholesterin – kennt, Valley. Die Unternehmer wollen ein pfen-
formatikprozesse zur Anwendung in der lassen sich Herzerkrankungen vorbeugend niggroßes implantiertes Gehirnmodem
Medizin. Nun leitet Pande die Biotech- mit Medikamenten bekämpfen, die den bauen, mit einem Hochgeschwindigkeits-
Investments von Andreessen Horowitz. Cholesterinspiegel senken. Durch Einsatz datenlink zwischen Mensch und Compu-
Beim Gespräch auf der sonnigen Terras- von künstlicher Intelligenz will BioAge ter. Eine Art »Breitbandanschluss für das
se des Andreessen-Hauptquartiers redet nun ähnliche Biomarker mit einer klaren Gehirn«, das ein Gigabyte Daten pro Se-
Pande bedächtig und nüchtern, als analy- Verbindung zu Alterungsprozessen finden. kunde verarbeiten und dabei mindestens
siere er triviale, altbekannte Tatsachen, Sollte das Start-up mit der Biomarker-Su- eine Million Neuronen gleichzeitig »lesen«
wenn er sagt, dass wir durch die che erfolgreich sein, wären die soll. Selbst mit solchen Geschwindigkeiten
Vermischung von Informatik und Folgen für das Lebensalter enorm, ließe sich auch nur annähernd das Ziel er-
Medizin zweifelsfrei am Anfang glaubt Pande: »Das bringt uns reichen, das hinter diesem Forschungsauf-
eines »Jahrhunderts der Biologie« sehr nah an eine Welt, in der 120 trag steht: beschädigte Sinne zu reparieren.
stünden. Künstliche Intelligenz die neuen 80 sind und 60 buch- Erste klinische Studien sollen bald be-
und maschinelles Lernen müssten stäblich die neuen 40.« ginnen. »Auch wenn es sich erst mal so an-
dabei als »Mittel zum Zweck« ver- BioAge ist nur eines von vielen hören mag, sind Gehirnimplantate keine
standen werden »für etwas viel Silicon-Valley-Unternehmen, die ferne Zukunftsmusik«, sagt Matt Angle,
Größeres«, als Instrumente, »um ganz gezielt an Alterungsprozes- der Chef des Start-ups.
die Biologie zu konstruieren«. Die- sen forschen. Lebensverlängerung So sehen es viele der Silicon-Valley-
se Biokonstruktion werde »buch- ist in diesen Tagen das Stecken- Forscher, das Zeitalter der digitalen Medi-
stäblich wie Programmierung zu Thomas pferd der Technologievordenker, zin stehe nicht erst bevor, sondern habe
handhaben« sein. Schulz: ein ständiges Diskussionsthema in bereits begonnen: »Man muss nicht alle
Eines der Lieblingsprojekte »Zukunfts- den Gesprächsrunden der Silicon- Mechanismen der Biologie bis ins Detail
medizin«.
von Pande ist derzeit BioAge: DVA; 286 Sei-
Valley-Elite: Sie sehen den Körper verstanden haben, um solche neuen In-
Das Start-up setzt sich gleicher- ten; 20 Euro. als Informationsverarbeitungssys- strumente schon jetzt für Patienten zu
maßen aus Biochemikern und Da- Erscheint am tem, das kontrolliert und gesteuert nutzen.« Thomas Schulz
tenwissenschaftlern zusammen, 29. Mai. werden kann, wenn man nur alle
63
Wirtschaft
Die Rache
schafter aus Berlin ab, und bis heute ist rief in Riad an, wenn er besorgt war?«, fragt
er nicht zurückgekehrt. Über die Gründe ein einflussreiches Mitglied der Königs-
wird kaum offen geredet. Unternehmer familie bei einem Treffen in Riad. Im Palast
des Prinzen
wie Daues bekommen die Missstimmung jedenfalls habe man den Eindruck gewon-
allerdings zu spüren. »Für Deutsche sind nen, der deutsche Außenminister habe an
die Türen in Riad plötzlich geschlossen«, diesem 16. November seine Alliierten für
sagt ein erfahrener Wirtschaftsmann in billigen Applaus bei seiner Wählerschaft zu
Exporte Deutsche Unternehmen der saudischen Hauptstadt. Deutschen De- Hause verkauft. Der Prinz sei verärgert.
erhalten kaum noch Aufträge in legationen werden inzwischen Termine Saudi-Arabien durchläuft gerade einen
Saudi-Arabien. Der Thronfolger versagt, die noch vor der Krise zugesagt tiefgreifenden Wandel. Thronfolger MBS
worden waren. »Das tut weh«, sagt Oliver will den religiösen Fundamentalismus ab-
straft die Industrie ab, weil er über Oehms, der in Riad die deutsche Außen- streifen und baut die Wirtschaft um für die
die Berliner Politik verärgert ist. handelskammer vertritt. Zeit nach dem Öl. Davon wollen auch
Der junge Thronfolger Prinz Moham- deutsche Unternehmen profitieren.
med bin Salman, kurz MBS, sei offenbar Daues selbst investierte fünf Millionen
64
Das saudische Gesundheitsministerium,
das seit vielen Jahren eng mit Siemens,
Bayer und Boehringer zusammenarbeitet,
hält die Deutschen neuerdings auf Distanz.
»Das Geschäft ist zäher«, formuliert es vor-
sichtig ein Sprecher des Siemens-Kon-
NEU
zerns. »Wir wollen uns zur Sache nicht Jetzt im
äußern«, lassen Bayer und auch Boehrin-
ger wissen. Niemand will die Regierung
Handel
weiter verärgern. Die Stadtplanungsbehör-
de ADA in Riad hat gerade einen Auftrag
für einen großen Fahrradweg – der auch
durch die grüne Lunge der Hauptstadt füh-
ren soll – an das amerikanische Architek-
turbüro Coen+Partners vergeben, anstatt,
wie noch im vergangenen Jahr geplant, an
die deutschen Unternehmen AS+P Albert
Speer und Bödeker Landscape Architects.
Das brachte die deutsche Landschafts-
architektin Alexandra von Bieler vom
Büro Bödeker dazu, einen Brief an Außen-
minister Heiko Maas (SPD) zu schreiben,
Spinne im Netz
Steuerbetrug Mit Cum-ex-Deals haben Banken den Fiskus um Milliarden Euro geschröpft.
Nun holt sich der Staat das Geld zurück. Doch ausgerechnet in Frankfurt,
dem Sitz der Deutschen Bank, verhalten sich die Steuerfahnder auffallend nachsichtig.
N
ur wenige Orte in Hamburg ver-
strömen noch so viel althan-
seatisches Flair wie die Zentrale
der Privatbank M. M. Warburg.
Schwarz-weißer Marmor dominiert die
Eingangshalle, eine gewaltige Stahlplatte
erinnert an Ex-Mitarbeiter, die in zwei
Weltkriegen fürs Vaterland fielen. In den
Besprechungszimmern knarzt der Holz-
fußboden, an den Wänden hängen Stiche
und historische Seekarten, die Tradition
und Weltläufigkeit signalisieren sollen.
Ende März platzten rund 50 Ermittler
der Kölner Staatsanwaltschaft in die Idylle
an der Binnenalster. Die Beamten durch-
flöhten die edlen Räumlichkeiten auf der
Suche nach Beweismaterial. Die Bank
wird verdächtigt, mit sogenannten Cum-
ex-Aktiendeals auf Kosten der Steuerzah-
ler Millionen verdient zu haben. Aus dem
gleichen Grund hatte Warburg schon 2016
Besuch von den Fahndern bekommen.
Weitaus weniger Kontakt mit der Staats-
macht hatte bislang dagegen ausgerechnet
jenes Institut, das mit Warburg enge Ge-
TIM WEGNER / LAIF
66
nun 56 Millionen Euro inklusive aufgelau- Kunden zurück. Viel mehr war bislang tienverkäufe abgewickelt, aber nicht die
fener Zinsen von der Hamburger Privat- nicht. Kapitalertragsteuer einbehalten, wozu sie
bank zurück. Druck macht vor allem das Zwar hat die Deutsche Bank mutmaß- als Depotbank verpflichtet gewesen wäre.
Bundesfinanzministerium. In Berlin lich keine Geschäfte auf eigene Rechnung In ihrer Begründung zitieren die Richter
herrscht der Eindruck, dass die Hambur- getätigt, aber sehr wohl Klienten, vor al- ihren Kollegen Lotzgeselle. Besonders auf-
ger Kollegen zu lange zu nachsichtig mit lem ausländische, dabei unterstützt. Ein merksam gelesen wurde das noch nicht
der Stadt-Ikone Warburg waren. streng vertraulicher Prüfbericht der Kanz- rechtskräftige Urteil bei Warburg, wo man
Pikant ist der Konflikt vor allem für lei Freshfields Brockhaus Deringer (»Pro- auf eine ähnliche Wendung hofft.
Olaf Scholz: Bis vor Kurzem war der So- ject Xenon«) skizziert die Dienstleistun- Doch wenn die Deutsche Bank die Spin-
zialdemokrat als Hamburgs Bürgermeister gen des Konzerns für diverse Kunden, ne im Cum-ex-Netz war: Wo bleibt die
für den pfleglichen Umgang mit der loka- etwa die damalige Unternehmensgruppe Antwort der Steuerbehörden? Schließlich
len Wirtschaft zuständig. Inzwischen ist Ballance von Paul Mora, einst als Head of mahnte Richter Lotzgeselle in seinem
er als Finanzminister in Berlin Dienstherr Equity Finance der HVB das Mastermind spektakulären Urteil: »Es obliegt dem Fi-
der hartnäckigen Steuereintreiber. für deren Cum-ex-Geschäfte und der nanzamt festzustellen, ob die Verfahrens-
Warburg sieht sich zu Unrecht an den Superstar der Szene. weise gängige Praxis auch anderer inlän-
Pranger gestellt. Die Bank behauptet, sie Aus der Durchsicht der Unterlagen wird discher Kreditinstitute war; auch um diese
habe nur Aktien von Dritten gekauft, die klar: Die Deutsche Bank fungierte vielfach gegebenenfalls als Haftungsschuldner in
Kapitalertragsteuer als Teil des Kaufprei- auch als Depotbank und stellte Steuer- Anspruch nehmen zu können.«
ses an die Verkäufer überwiesen und ein- bescheinigungen für Kunden aus, die sich Die Deutsche Bank sagt dazu, sie habe
malig zu Recht bei der Steuer angerechnet damit beim Fiskus Geld zurückholten. Sie »an einem organisierten Cum-ex-Markt
zu haben. Keineswegs seien Steuern mehr- verlieh in großem Stil Aktien an Leerver- weder als Leerverkäuferin noch als Erwer-
fach abgerechnet worden. Das Vorgehen käufer und hielt so das Karussell in berin teilgenommen« Sie räumt aber ein,
der Steuerfahnder sei schlicht skandalös. Schwung. Beschaffen konnte die Deutsche als »große Teilnehmerin am Markt teil-
»Eine sachliche und rechtliche Würdigung Bank die Aktien von anderen Geldhäu- weise in Cum-ex-Geschäfte von Kunden
durch Ermittlungsbehörden und Bundes- sern, Hedgefonds-Kunden oder sogar aus eingebunden« gewesen zu sein.
finanzministerium ist nicht erfolgt.« dem großvolumigen Eigenbestand. Einge- Dennoch gingen am Sitz der Bank, dem
Zwar hat die Bank das für die Rück- bunden waren neben Händlern in Frank- Finanzzentrum Frankfurt am Main, die
zahlung benötigte Geld in ihrer Bilanz ge- furt auch die Trader des Aktiendesks in Steuerbehörden außergewöhnlich milde
parkt, aber sie kämpft mit dem Branchen- London. Dort saß zur fraglichen Zeit vor mit den Profiteuren der Cum-ex-Geschäfte
umfeld und könnte die Millionen ander- rund zehn Jahren unter anderem Garth um, beklagt die SPD-Landtagsabgeordne-
weitig gut gebrauchen. Da kommt rasch te Heike Hofmann. In Hessen, dem Zen-
der Verdacht auf, der verbale Rundum- trum des deutschen Aktienhandels, seien
schlag solle von hausgemachten Proble- »Dieses Vorgehen gerade mal 10 von 32 bisher bekannt ge-
men ablenken.
Doch so eindeutig, wie es zunächst
war unzulässig«, wordenen Cum-ex-Fällen von Steuerfahn-
dern komplett überprüft worden.
scheint, ist der Fall tatsächlich nicht. Die schlussfolgert der Rich- »Es geht alles quälend langsam«, sagt
Warburg-Manager stehen auf dem Stand- ter zur Rolle der Bank. Hofmann. Sie habe den Eindruck, dass
punkt, dass im Fall von Leerverkäufen »das hessische Finanzministerium seine
nicht sie, sondern die Depotbanken, über nachgeordneten Behörden nur mit ange-
die sie die Aktien erworben hatten, die Ritchie, der laut Bank keine Verantwor- zogener Handbremse ermitteln lässt.« Ein
Kapitalertragsteuer hätten abführen müs- tung für Produkte gehabt hatte, die mögli- hartes Vorgehen gegen Banken passe of-
sen. Warburg selbst habe nicht erkennen cherweise von Kunden für Cum-ex-Ge- fenbar nicht zur Image- und Werbekam-
können, ob Aktienverkäufer überhaupt im schäfte genutzt wurden. Der Karriere des pagne der schwarz-grünen Landesregie-
Besitz der Papiere oder ob sie Leerverkäu- Südafrikaners hat die Zeit in London je- rung für den Finanzplatz.
fer waren, die Depotbank aber schon. denfalls nicht geschadet: Er ist heute Chef Seit der Brexit-Entscheidung in Groß-
Diese Sichtweise ist brisant. Denn sie des Investmentbankings sowie seit Kur- britannien versuchen Landespolitiker aus
richtet den Blick auch auf das größte Geld- zem stellvertretender Vorstandschef. Hessen mit vielen Veranstaltungen und
haus des Landes: die Deutsche Bank. Der Auch ein Urteil des hessischen Finanz- Dienstreisen nach London, möglichst viele
Konzern war bei den inkriminierten Cum- gerichts (FGH) in Kassel vom März 2017 Finanzunternehmen von dort an den Main
ex-Geschäften vielfach Geschäftspartner beleuchtet die dubiose Rolle der Deut- zu locken. Gern preisen sie bei solchen Ge-
von Warburg – und dank seiner schieren schen Bank. In dem Prozess ging es um legenheiten auch die gute Zusammenar-
Größe und globalen Präsenz wie kaum die Commerzbank, die 75 Millionen Euro beit zwischen Finanzbranche und Behör-
eine zweite Bank in der Lage, Aktien an an Kapitalertragsteuern einklagen wollte, den. Da wäre es schon erklärungsbedürf-
Dritte zu liefern, die dann beim Staat Steu- vor dem FGH jedoch scheiterte. In seinem tig, wenn noch weitere Institute durch
ern zurückfordern konnten. Urteil nennt der Vorsitzende Richter Hel- hohe Steuerrückforderungen aus Cum-ex-
Viele deutsche Großbanken haben auf mut Lotzgeselle die Deutsche Bank indi- Geschäften ins Schlingern gerieten und
politischen oder juristischen Druck Mil- rekt als Depotbank, ohne die die Cum-ex- schließen müssten wie die Maple Bank.
lionen Euro an den Fiskus zurückgezahlt: Geschäfte nicht möglich gewesen wären. Vertreter der Steuerbeamten in Hessen
Commerzbank, HypoVereinsbank (HVB), »Dieses Vorgehen war unzulässig«, schluss- sehen das ähnlich wie Hofmann: »Wir könn-
DekaBank. Die Deutschlandtochter der folgert Lotzgeselle. ten schon einiges mehr machen«, sagt Mi-
kanadischen Maple Bank musste wegen Untermauert wird die Depotbank-Theo- chael Volz, Landeschef der Deutschen Steu-
einer Rückforderung über 450 Millionen rie durch das Landgericht Frankfurt. Ende er-Gewerkschaft. Vor allem bei der perso-
Euro sogar geschlossen werden. Die Deut- April verdonnerten die Richter die Bank nellen Ausstattung gebe es »noch viel Luft
sche Bank kam bislang glimpflich davon. Fimat, Tochter der Pariser Société Géné- nach oben«. Es fehle unter anderem an Aus-
2015 musste sie eine Razzia über sich er- rale, zu 23 Millionen Euro Schadensersatz tausch- und Fortbildungsmöglichkeiten, um
gehen lassen. 2017 zog sie Bescheinigun- an die Hessische Landesbank (Helaba). Fi- eine ausreichend große Zahl an Topfahn-
gen über Steuererstattungsansprüche für mat in Frankfurt hatte über die Helaba Ak- dern in die Lage zu versetzen, die hochkom-
Entfesselt
Analyse Erstmals seit der Lehman-Pleite drehen die USA die Bankenregulierung zurück. Das
entspricht Trumps America-first-Doktrin – und legt die Basis für die nächste Finanzkrise.
S
eit 25 Jahren sitzt Mike Crapo im US-Kongress und heranzuwachsen. Ein Widerspruch zu einer zentralen Er-
hat trotzdem kaum Spuren hinterlassen. Jetzt aber kenntnis der Finanzkrise, dass Banken und ihr Erpressungs-
wird der Republikaner aus Idaho Wirtschaftsgeschich- potenzial nicht zu groß werden dürfen.
te schreiben. Als Ideen- und Namensgeber eines Ge- Andererseits hat die Größe einer Bank nur wenig Aus-
setzes, mit dem erstmals seit der Pleite der Investmentbank sagekraft über die Gefahr, die von ihr ausgeht; viel entschei-
Lehman Brothers und der globalen Jahrhundertrezession dender ist, wie stark sie mit anderen Kreditinstituten verwoben
Regeln verwässert und abgeschafft werden, die das Finanz- ist. Auch diese Banken können eine große Finanzkrise auslösen.
system der Vereinigten Staaten sicherer gemacht haben. So war etwa der Hypothekenfinanzierer Countrywide, dessen
Das Gesetz trägt einen unscheinbaren Namen. Der »Eco- Kollaps 2008 Schockwellen durch die Finanzmärkte gejagt hat-
nomic Growth, Regulatory Relief and Consumer Protection te, mit 200 Milliarden Dollar Bilanzsumme überschaubar groß.
Act« – in Kurzform »S. 2155« – hatte den Senat bereits pas- Auch im Detail hat es das Crapo-Gesetz in sich. So sollen
siert, am Dienstag stimmte ihm auch das Repräsentantenhaus Immobilienkäufer leichter an Kredite kommen können. Sie
zu. In seltener Einigkeit haben sich Republikaner und viele müssen künftig viel weniger Eigenkapital mitbringen als bis-
Demokraten dazu entschieden, kleine und mittelgroße Ban- lang üblich. Ein erstaunliches Entgegenkommen: Es war der
ken von Fesseln zu befreien, die sie angeblich daran hindern, heiß gelaufene US-Immobilienmarkt, der die Finanzkrise ver-
Amerikas Unternehmen mit Krediten zu versorgen. ursachte. Kleine Banken dürfen künftig wieder Wertpapiere
Die Demokraten im Senat, die dem auf eigene Rechnung handeln und zo-
Gesetz ihren Segen gaben, taten dies 1. April 2018
cken wie Hedgefonds. Das war lange ver-
mit Blick auf die Zwischenwahlen im boten, aus guten Gründen, wie die Fi-
November; in ihren Heimatstaaten er-
2162,8 nanzkrise gezeigt hat.
Mrd. Dollar
halten sie Spenden einflussreicher Re- Zudem sollen Banken Anleihen von
gionalbanken. Für die Republikaner ist Kommunen auf ihre Liquiditätsreserven
das Crapo-Gesetz dagegen zentraler anrechnen können. Diese müssen sie in
Baustein der America-first-Wirtschafts- Notlagen schnell flüssigmachen können,
doktrin ihres Präsidenten. Die umfasst 1. Januar 1990 um Bilanzlöcher zu stopfen. Bislang be-
im Kern drei Aspekte: Steuersenkungen, 635,7 standen diese Liquiditätspuffer aus US-
Importzölle und Deregulierung, vor al- Mrd. Dollar Staatsanleihen und Bargeld – sichere,
lem der Finanzmärkte. Steuerreform allzeit verkäufliche Vermögenswerte. In-
und Importzölle hat Donald Trump auf Von Banken gewährte dem auch Kommunalanleihen dieses
den Weg gebracht. Nun schleift er das Unternehmenskredite Gütesiegel erhalten, können sich Städte
2010 erlassene sogenannte Dodd-Frank- in den USA und Gemeinden leichter verschulden; für
Gesetz. So erratisch Trump bisweilen Quelle: Federal Reserve Economic Data ihre Papiere finden sie bei Banken künf-
ist: Er setzt um, was er seiner Klientel tig dankbare Abnehmer.
verspricht. Die Anhänger von »S. 2155« begrün-
Worum geht es konkret? den das Zurückdrehen der Geschichte da-
Bislang werden Banken in den USA, auch die Töchter aus- mit, dass US-Firmen Probleme hätten, an Kredite zu kommen,
ländischer Geldhäuser, ab einer Bilanzsumme von 50 Mil- und sich nicht voll entfalten könnten. Dagegen sprechen die
liarden Dollar (das entspricht einer sehr großen deutschen Fakten: Das Volumen ausstehender Bankkredite war noch nie
Sparkasse) als Gefahr für das Finanzsystem, also systemrele- so groß, die Gewinne der Banken waren noch nie so hoch wie
vant, eingestuft. Das zieht eine strenge Aufsicht durch die derzeit. Die Konjunktur der weltgrößten Wirtschaftsmacht
Notenbank Federal Reserve nach sich, etwa regelmäßige brummt. Dass zuletzt etwas weniger neue Kredite vergeben
»Stresstests«. Dabei müssen die Institute unter anderem nach- wurden, liegt eher daran, dass sich viele Mittelständler Kapital
weisen, über ausreichend Kapital zu verfügen, um in Krisen direkt bei Investoren holen und Konzerne im Ausland gepark-
Verluste verdauen zu können. Das soll verhindern, dass sie tes Geld repatriieren. Von einer Kreditklemme keine Spur.
von den Steuerzahlern gerettet werden müssten. Die Republikaner beschwichtigen, das Crapo-Gesetz kom-
Die Stresstest-Pflicht war nach der Lehman-Pleite einge- me nicht der Wall Street, sondern der Main Street zugute –
führt worden. Damals mussten die Steuerzahler mit dreistel- damit sind kleine Banken gemeint, die wie die Sparkassen
ligen Milliardensummen einspringen, um Banken und Fi- in Deutschland das Rückgrat der Finanzwirtschaft bilden.
nanzsystem zu retten. Seither hat es zwar keinen Zusammen- Und tatsächlich profitieren große Banken wie J. P. Morgan
bruch einer bedeutenden US-Bank mehr gegeben. Sehr wohl nur geringfügig von »S. 2155«.
aber eine Präsidentschaftswahl und mit ihr das Comeback Doch es geht um die Stoßrichtung. Das Crapo-Gesetz ist
einer Ideologie, die auf mehr Markt und weniger Regeln erst der Beginn einer politisch gewollten und von der Finanz-
setzt. Deshalb gilt die Systemrelevanzgrenze künftig nur lobby geförderten Deregulierungsoffensive. Die wird die ame-
noch für Banken ab 250 Milliarden Dollar Bilanzsumme. Die rikanischen Banken stärken und ihren Vorsprung vor den
Folge: 25 der 38 größten Banken in den USA werden künftig europäischen Rivalen vergrößern. Vor allem aber setzt sie
weniger streng reguliert. Das schafft Anreize für Banken, Ri- die Lehren der letzten großen Finanzkrise außer Kraft – und
valen zu übernehmen und bis an die neue Stresstest-Schwelle trägt den Keim der nächsten in sich. Tim Bartz
69
Low Budget
leistungen wünsche; als Kunde, sagte ich, könne man doch er-
warten, dass der Vermieter einen auf ein solches Paket hinweise.
Dass er dies unterlassen habe, zeige eine einfache Plausibili-
tätsprüfung: Wie wahrscheinlich sei es, bitte schön, dass ein
Erfahrungsbericht Weil der Wettbewerb hart ist, Kunde, der für 521 Euro ein Auto bucht, am Schalter spontan
für fast 900 Euro Versicherungen dazukauft?
bedienen sich viele Mietwagenfirmen Man werde die Einwände prüfen, sagte die freundliche Frau.
dubioser Tricks. Die Verärgerung ihrer Kunden Da Budget über unsere Kreditkartendaten verfügt, hatte die
scheint die Unternehmen nicht zu stören. Firma die 896 Euro bereits abgebucht. Ich telefonierte mit Ver-
braucherschutzorganisationen und recherchierte ein wenig im
Netz. Offenbar handelt es sich um ein grundsätzliches Problem.
»Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir die Nach- weisen ist allerdings kompliziert. Wie will der Kunde beweisen,
belastung nicht erstatten können.« dass er auf die Zusatzleistungen nicht hingewiesen wurde? Zöge
Wie aber soll das praktisch aussehen: in einer Schlange vor er vor Gericht, müsste er zuvor möglichst viele Geschädigte
einem Mietwagenschalter, bei einem Vertrag, der in unserem finden, denen es ähnlich erging – und darauf hoffen, dass der
Fall sechs Seiten lang ist? Ein Anruf also bei Budget Deutsch- Richter darin keine Einzelfälle, sondern eine Masche erkennt.
land, inzwischen mit journalistischem Interesse: Natürlich wüs- Verbraucherschützer raten deshalb mindestens zu folgenden
ste man gern, was Budget zu den Vorwürfen der Kunden sagt. Vorsichtsmaßnahmen: den Vertrag sorgfältig bis zum Ende
Der Geschäftsführer von Budget Deutschland heißt Martin Gru- durchzulesen, auch wenn das dauert; auch kleine Schäden am
ber, er hat sein Büro in Oberursel bei Frankfurt. Wenn man ihn Auto bei der Übernahme zu fotografieren; Zahlungen, zu denen
um ein Gespräch bittet, meldet sich wenig später eine Frau aus man genötigt wird, nur unter Vorbehalt zu leisten, damit man
München, von der PR-Agentur Weber Shandwick. »Leider wird Abbuchungen später einfacher widerrufen kann.
es nicht möglich sein, dass wir ein persönliches Interview durch- Den Firmen hilft, dass viele Kunden den Streit mit einem gro-
führen«, teilt sie wenige Tage nach dem Telefonat mit. Stattdessen ßen Unternehmen scheuen. Die meisten geben auf, sobald der
gebe Budget jedoch »sehr gerne Statements« zu Fragen aller Art. erste abschlägige Bescheid eintrifft. Andere stimmen einem Ver-
Die Fragen, die per Mail an Budget gehen, sind ziemlich gleich zu, weil sie eine Auseinandersetzung vor Gericht fürchten.
konkret: Handelt es sich bei den untergeschobenen Versiche- Immerhin: Inzwischen gehen Behörden gegen die Wucher-
rungsleistungen um ein Versehen eines einzelnen Mitarbeiters – praxis der Autovermieter vor. Gleich zweimal wurde die Firma
oder stecken Vorsatz und Methode dahinter? Werden die Schal- Goldcar, die seit Dezember 2017 komplett zum Marktführer
termitarbeiter zu solchen Verkaufsmethoden aufgefordert? Europcar gehört, von der italienischen Wettbewerbsbehörde
Erhalten sie eine Provision? Und wer profitiert von den zu- zu hohen Geldstrafen verurteilt: im November 2016 zu zwei
sätzlichen Einnahmen in welchem Maß: Budget, die jeweilige Millionen Euro, im Januar 2018 noch einmal zu 680 000 Euro.
Ländervertretung, die Station? Oder der einzelne Mitarbeiter, Die Geschäftspraktiken, hieß es, seien unlauter, Autoüber-
dem es gelungen ist, diesen dreisten Vertrag abzuschließen? nahme und -rückgabe intransparent, das Verkaufsverhalten
Das Statement, das Budget gibt, sagt im Wesentlichen zwei- gegenüber den Kunden sei aggressiv.
erlei. Erstens: »Wir sind stolz auf unseren exzellenten Service Um Kundenzufriedenheit, um Kundenbindung scheint es
und arbeiten eng mit unseren Kunden zusammen, um Proble- beim Autovermieten nicht zu gehen, wenigstens nicht bei Bud-
me zu lösen, wann immer sie auftreten.« Zweitens: »Mit der get. Entsprechend groß ist die Wut enttäuschter Kunden. »In
Unterschrift akzeptiert der Kunde die Vertragsbedingungen meinen Augen ist Budget eine kriminelle Organisation«,
inklusive der aufgeführten Kosten.« schreibt einer in einem Mietwagenforum. »Ich bin noch niemals
Für die Betroffenen fühlt sich das oft an wie Betrug – den so unverschämt von einem Unternehmen behandelt worden«,
Mietwagenfirmen wenigstens »arglistige Täuschung« nachzu- klagt Ingrid W. Hauke Goos
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Ausland
»Das ist, als würden in Deutschland Sahra Wagenknecht und Alexander Gauland zusammen regieren.« ‣ S. 78
Analyse
Neuer Nationalismus
Saudi-Arabiens Kronprinz mag Reformen – aber nur, wenn er sie selbst anordnet.
Eigentlich müsste das saudische Königshaus Frauenrechtlerinnen weckten. Plötzlich stritt man in Saudi-Arabien sogar darüber, ob
wie Loujain Alhathloul, 28, und Aziza al-Yousef, 60, feiern. Bei- nicht die Vormundspflicht ein Ende haben sollte, die Frauen ih-
de setzen sich seit Langem dafür ein, dass Frauen in Saudi-Ara- ren männlichen Verwandten unterordnet. Die Staatssicherheits-
bien Auto fahren dürfen – und genau das will der König ja erlau- behörde warf den Frauenrechtlerinnen vor, die »nationale Ein-
ben. Doch Alhathloul und Yousef sind seit rund einer Woche heit« zu gefährden und »verdächtige Kontakte mit ausländischen
in Haft. Das Königshaus lässt Querdenker verhaften und erfüllt Entitäten« gehabt zu haben – gemeint sind Gespräche mit west-
gleichzeitig deren Forderungen? lichen Medien und Regierungsvertretern.
Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman will das Land Diese Politik von verordneten Reformen und nationalisti-
zwar modernisieren – aber zu seinen Bedingungen und in sei- schem Eifer zeigt sich nun auch wieder in Ägypten. Dort
nem Tempo. Jede Reform soll allein ihm zu verdanken sein, dem schwört Präsident Abdel Fattah el-Sisi seine Nation auf eine
entschlossenen Reformer, der durchgreift zum Wohle der Nation. glorreiche Zukunft ein, fordert Opfer und Einsatz für Ägyp-
Und dazu passt nicht, dass er Aktivisten Zugeständnisse machen ten – und lässt gleichzeitig in einer neuen Verhaftungswelle
könnte. Die Frauenrechtlerinnen betrachtet der Kronprinz als besonders engagierte Bürger seines Landes als Staatsverräter
Gefahr, weil sie den Wunsch nach noch größeren Veränderungen wegsperren. Raniah Salloum
gelben Nationalflagge und der Hymne, über die Kampagne Posts das gesellschaftliche Klima im
um sich vom katalanischen Nationa- der israelischen Regie- Land. In der Folge hetzen rechte Orga-
lismus abzusetzen. Vor allem von der rung gegen Menschen- nisationen auch gegen mich. An der
Linken wurde er dafür stark kritisiert. rechtsorganisationen Stadtautobahn von Tel Aviv haben sie
Rivera wünscht sich, dass die Spanier ein 30 Meter großes Plakat mit meinem
nach deutschem Modell Verfassungs- SPIEGEL: Premier Benjamin Netanyahu Gesicht aufgehängt; daneben steht, ich
patriotismus entwickeln und stolz sind hat Ihnen vorgeworfen, die »Sicherheit würde »gegen den Staat Israel und seine
auf ihre nach dem Ende der Diktatur und Zukunft Israels als nationaler Heim- Armee« agieren. Das ist grotesk.
entstandene Demokratie. HZU stätte der Juden« zu gefährden, weil Ihre SPIEGEL: Israel ist die einzige Demokra-
Organisation die Ausweisung afrikani- tie im Nahen Osten, wie gefährdet ist sie?
scher Flüchtlinge verhindern will. Teilen Sasson: Wir müssen aufpassen, dass
viele Israelis seine Sicht? wir nicht eine Fassadendemokratie wer-
Sasson: Wir haben allein nach diesem den. Netanyahu will etwa das Recht
Satz Netanyahus 3000 neue Spender des obersten Gerichtshofs einschränken,
gewonnen. Jahrelang wollten unsere Gesetze der Regierung für ungültig
Unterstützer anonym bleiben, nun bitten zu erklären. Er stellt die Gewaltenteilung
sie explizit darum, dass ihre Namen infrage und will der Exekutive mehr Be-
veröffentlicht werden. Das zeigt: Viele fugnisse geben.
Israelis haben Netanyahus Lügen satt. SPIEGEL: Außenminister Heiko Maas
SPIEGEL: Warum hat Netanyahu verzichtete bei seinem jüngsten Israelbe-
gerade »New Israel Fund« ins Visier such auf eine Begegnung mit regierungs-
genommen? kritischen NGOs.
Sasson: Die NIF ist eine Dachorganisa- Sasson: Unsere Tür bleibt immer offen.
tion, sie finanziert viele Nichtregierungs- Was in Israel gerade passiert, ist Teil
organisationen. Deswegen sind wir einer weltweiten Entwicklung, die sich
J.J.GUILLEN / IMAGO
in den Augen der Regierung besonders gegen die Werte liberaler Gesellschaf-
gefährlich. Und Netanyahu betrachtet ten richtet. Alle, die dies als Gefahr anse-
jeden als Verräter, der die Politik seiner hen, müssen sich die Hände reichen
Regierung bekämpft, vor allem was die und über Ländergrenzen hinweg zusam-
Liberaler Rivera besetzten Gebiete angeht. menarbeiten. CSC
73
Ausland
A
m Ende einer Woche, in der Feu- Nun ist der Konflikt auf der koreani- den vergangenen Wochen immer wieder
er und Zorn über den Pazifik schen Halbinsel wieder auf dem Stand deutlich gemacht, dass die USA nichts we-
zischten, klingt Donald Trump vom vergangenen Jahr, als sogar ein Atom- niger als eine vollständige nukleare Abrüs-
wie ein enttäuschter Liebhaber. krieg zwischen Nordkorea und den USA tung Nordkoreas forderten. Ein Ziel, das
Er habe das Gefühl gehabt, schreibt er in plötzlich möglich erschien. Das ist, bei al- sehr hoch gehängt schien, hatte sich Nord-
seinem Brief an den »sehr geehrten Vor- ler Schadenfreude über Trumps Scheitern, korea doch schon seit Jahrzehnten allen
sitzenden«, dass »wir beide einen wunder- eine schlechte Nachricht für die Welt. Abrüstungsbemühungen mit Tricks und
baren Dialog miteinander aufgebaut hat- Vielerorts war daher am Donnerstag Lügen entzogen. Zahlreiche Experten
ten, und am Ende zählt nur das. Ich freue Enttäuschung zu spüren. Russlands Präsi- warnten daher von Anfang an, Pjöngjang
mich darauf, Sie irgendwann zu treffen.« dent Wladimir Putin erklärte, er hoffe, der würde sich darauf nie eingelassen.
Zum Schluss heißt es, geradezu lächerlich Gipfel werde trotz der Differenzen statt- Am Ende kennt das Scheitern des Tref-
höflich: »Sollten Sie Ihre Meinung in Be- finden. Ähnlich äußerte sich Frankreichs fens nur Verlierer. Wenn überhaupt je-
zug auf diesen äußerst wichtigen Gipfel Staatschef Emmanuel Macron. mand einen Vorteil aus Trumps Absage
ändern, zögern Sie nicht, mich anzurufen Wie geht es nun weiter? US-Außen- ziehen kann, dann ist es China. Peking
oder mir zu schreiben.« minister Mike Pompeo sagt, seine Regie- begrüßte zwar die Annäherung zwischen
Den Brief an Kim Jong Un, in dem rung habe immer gewusst, dass das Treffen seinem Verbündeten Nordkorea und den
Trump das für den 12. Juni geplante Treffen platzen könnte. Kein Grund zur Panik also. USA und unterstützte das Treffen in Sin-
in Singapur absagte, soll der Präsident Wort »In gewisser Hinsicht ist die Lage normal. gapur, zumindest offiziell. Zugleich war in
für Wort persönlich diktiert haben. Er platz- Der Druck wird weitergehen.« Dennoch Peking jedoch Unbehagen darüber zu spü-
te in den Donnerstagvormittag wie eine habe Kim die enorme Fähigkeit bewiesen, ren, dass die Initiative zuletzt so deutlich
Bombe. Trump hatte auf das Treffen mit sein Land zu lenken. Er, Pompeo, sei hoff- bei Washington lag. Ende März hatte Chi-
dem nordkoreanischen Herrscher seit Mo- nungsvoll, dass die Diskussionen weiter- nas Präsident Xi Jinping den nordkorea-
naten hingearbeitet, seine wichtigsten Leute gingen. nischen Herrscher deshalb zum ersten Mal
waren mit der Vorbereitung beauftragt, un- in Peking empfangen, Anfang Mai noch
ter anderem Sicherheitsberater John Bolton einmal in der Hafenstadt Dalian.
und Außenminister Mike Pompeo. Doch »Ich warte«, sagte Donald Ob China auch einen Anteil daran hatte,
wegen des »enormen Zorns und der offenen Trump. »Hoffentlich dass die Nordkoreaner in den vergangenen
Feindseligkeit« von nordkoreanischer Seite Tagen ihre Rhetorik wieder verschärft ha-
sei das Treffen »derzeit unangebracht«. werden positive Dinge ben, ist eine der noch offenen Fragen. Dass
Stellenweise liest sich der Brief, als wür- entstehen.« der Handschlag zwischen Trump und Kim
de der Präsident einer netten, aber unta- ausfällt, dürfte Xi jedoch nicht ungern se-
lentierten Bewerberin absagen. Dann wie- hen. Es passt zu Chinas Plan, den geopoli-
der droht er: »Sie sprechen über Ihre nu- »Die Absage ist ein schlechtes Zeichen, tischen Rivalen Amerika aus Südostasien
klearen Fähigkeiten, aber unsere sind so aber es ist im Rahmen dessen, was beide zurückzudrängen. Und je mehr Drehun-
gewaltig und mächtig, dass ich zu Gott Seiten tun, um Druck aufeinander aus- gen und Wendungen es in der Nordkorea-
bete, dass sie nie genutzt werden müssen.« zuüben«, sagt Christopher Green, Nord- diplomatie gibt, desto größer wird Pekings
Trump macht selten ein Geheimnis aus korea-Experte der International Crisis Spielraum.
seinen Gefühlen. Diesmal schwankt er zwi- Group. »Das bedeutet nicht, dass der Dia- Der eindeutige Verlierer ist Südkorea.
schen Wut, Vergeltungssucht und ent- log definitiv vorbei ist.« Präsident Moon hatte sich wie kein ande-
täuschter Hoffnung auf den Friedensno- Kurz nachdem er seinen Brief an Kim rer für den Gipfel eingesetzt und, wie man-
belpreis, zumindest aber auf einen guten in die Welt geschickt hatte, trat Trump im che Beobachter schon vor Trumps Absage
Deal, begleitet von schönen Bildern. Weißen Haus an ein Stehpult und sagte, warnten, Kims Bereitschaft zur nuklearen
Er hatte im Fernsehen verfolgt, wie sich er hoffe, dass die Begegnung doch noch Abrüstung überverkauft. Das Treffen wer-
Kim und Südkoreas Präsident Moon Jae zustande komme. Irgendwann. Es liege de zu 99,9 Prozent stattfinden, hatte Süd-
In im April in der demilitarisierten Zone aber an Nordkorea. »Ich warte«, sagte koreas Nationaler Sicherheitsberater noch
trafen und die Hand schüttelten. Das woll- Trump. »Hoffentlich werden positive Din- Anfang der Woche versprochen. Nun steht
te Trump auch. Er wollte der große Ver- ge entstehen.« Bis dahin würden die Sank- Moon mit leeren Händen da.
söhner sein, der Mann, der die brutalste tionen und die Kampagne des »maximalen Es war schon fast Mitternacht, als die
Diktatur des 21. Jahrhunderts aufbrechen Drucks« auf Nordkorea weitergehen. Absage Trumps offenbar ohne Vorwar-
und deren Herrscher zähmen würde. Eine Frage klammerte Trump jedoch nung bei seinem Verbündeten einschlug.
Die Absage zeigt nun für alle, wie sehr aus, und zwar die wichtigste: was der Gip- »Wir versuchen zu verstehen, was Trump
Trump seine Fähigkeiten überschätzt, fel überhaupt hätte bringen können, außer genau meint«, sagte ein Sprecher von
sämtliche Weltkrisen auf einmal zu lösen – schönen Bildern. Moon. Erst zwei Tage zuvor war der süd-
Krisen, die er zum Teil selbst verursacht Trumps Sicherheitsberater, sein Außen- koreanische Präsident bei Trump zu Be-
oder zumindest weiter angeheizt hat. minister und der Vizepräsident hatten in such gewesen – und nun das. Um Mitter-
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EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK
Gedenkmünze zum Gipfel: Trump wollte den Friedensnobelpreis, zumindest aber einen guten Deal, begleitet von schönen Bildern
nacht berief der südkoreanische Präsident Vorgänger gescheitert sind. Es kamen, wie Dass es um das Treffen schlecht bestellt
eine Notfallsitzung ein. Auch Japan, ein so oft bei Trump, Hybris und Unkenntnis war, davon bekam auch Außenminister
weiterer enger Partner Washingtons in zusammen – und doch wirkte es für einen Heiko Maas bereits am Dienstag eine Ah-
Asien, wurde womöglich nicht vorgewarnt. Moment, als könnte er die Nordkoreaner nung. Da traf er Sicherheitsberater Bolton
Und das, obwohl der japanische Außen- damit überrumpeln. im Weißen Haus, und dieser, sonst stets
minister ebenfalls noch am Vortag in Wa- Dass ein Deal nicht ganz so einfach wer- wortgewaltig, wurde verdächtig einsilbig,
shington war. den würde wie erhofft, hatte sich allerdings als ihn Maas nach den Grundzügen der
Aber nicht nur die Verbündeten, auch schon seit Tagen angedeutet. Denuklearisierung Nordkoreas fragte. Da-
Trump steht nun schlecht da, obwohl er Vergangene Woche hatte Nordkorea das bei waren die Fragen einfach: Sollte das
versuchte, halbwegs schadlos aus der Sache südkoreanisch-amerikanische Militärma- Abkommen eine Art Stufenmodell für den
herauszukommen, indem er selbst zuerst növer »Max Thunder« scharf kritisiert und Abbau der Anlagen enthalten? Wer sollte
absagte. Doch Trumps großspurige Sprü- ein geplantes Treffen mit hohen Beamten die Einhaltung kontrollieren? Welche Ga-
che werden so schnell nicht vergessen sein. aus Seoul abgesagt. rantien verlangte Pjöngjang?
Der Präsident dachte offenbar tatsäch- Am Donnerstag sagte Außenminister Bolton aber schwieg oder wich so auf-
lich, er könnte den Diktator aus Nordkorea Pompeo, die US-Seite habe sich auf das fällig aus, dass die deutsche Delegation
umschmeicheln, ähnlich wie er das bereits Treffen in Singapur vorbereitet und erwar- den Eindruck mitnahm, Trumps eigene
mit Geschäftspartnern, mit Xi Jinping oder te, dass Pjöngjang dasselbe tue. »Über die Leute seien sich nicht sehr sicher, dass man
Emmanuel Macron gemacht hatte – und vergangenen Tage hinweg haben wir ver- bis zum 12. Juni wirklich so weit komme,
sozusagen von Kumpel zu Kumpel Nord- sucht, das umzusetzen, was der Vorsitzen- dass ein Treffen eine gute Idee wäre.
korea sein Nuklearprogramm abschwatzen, de Kim und ich vereinbart hatten«, sagte Vorausgegangen war eine Reihe gegen-
einen Atomkrieg abwenden und Weltfrie- Pompeo. Aber es seien von Nordkorea lei- seitiger Beschimpfungen und Drohungen.
den schaffen. Als gäbe es eine einfache Lö- der keine Antworten auf die Anfragen der Den Anfang machte Bolton, der Ende
sung dieses Konflikts, an dem etliche seiner Amerikaner gekommen. April in Interviews mit den US-Sendern
Fox News und CBS sagte, man könne sich ren, die sich amerikanischen Wünschen ver- Danach dürfte man in Washington zu
in Bezug auf das Atomarsenal von Nord- weigerten, darunter Iran und Nordkorea. dem Schluss gekommen sein: Das war’s.
korea ein ähnliches Vorgehen vorstellen Zwar versuchte Trump, die Aussagen Dabei liefen die Vorbereitungen bereits
wie einst in Libyen. »Wir haben das liby- seines Sicherheitsberaters zu relativieren. auf Hochtouren, auch Nordkorea hatte of-
sche Modell aus den Jahren 2003 und 2004 Allerdings machte der Präsident die Situa- fenbar bis zuletzt an ein Zustandekommen
im Kopf.« Was er meinte: vollständige tion nur noch schlimmer. Libyen sei kein des Gipfels geglaubt. Noch am Donnerstag
nukleare Abrüstung im Austausch gegen Modell, das er in Bezug auf Nordkorea im hatte die Führung wie angekündigt die
eine Lockerung der Sanktionen und das Kopf habe, sagte Trump. »Wir dezimierten Atomtestanlage in Punggye-ri gesprengt –
Versprechen eines Wirtschaftsaufschwungs. dieses Land. Es gab keinen Deal, um Gad- und dazu auch internationale Journalisten
Damals hatten die USA und Großbritan- dafi zu behalten.« Kim Jong Un dagegen einreisen lassen. Eine Inszenierung zwar,
nien mit Machthaber Muammar al-Gad- könne Nordkorea reich machen, falls er auf aber man konnte das durchaus als Zeichen
dafi vereinbart, dass er sein Nuklearpro- Verhandlungen eingehe, und, noch wichti- des guten Willens sehen.
gramm einstellt. Im Gegenzug bekam er ger, er würde an der Macht bleiben. Offen- Und das Weiße Haus hatte am Tag zu-
von den USA Sicherheitsgarantien. bar verstand Trump nicht, was Bolton mit vor noch Journalisten aufgefordert, sich
Doch 2011 wurde Gaddafi im Zuge des dem »libyschen Modell« meinte. Und er für Hotels und Visa in Singapur anzumel-
Aufstands in seinem Land erst gestürzt und drohte indirekt mit »regime change«, was den, die Reisetermine standen fest. Trump
anschließend getötet. Vor allem dieses Ende Kim kaum lustig gefunden haben dürfte. wollte demnach vom G-7-Gipfel in Kana-
haben die Nordkoreaner vor Augen, wenn Und dann musste sich auch noch Vize- da direkt nach Singapur reisen.
vom »libyschen Modell« die Rede ist. präsident Mike Pence äußern. Sogar Gedenkmünzen zu den »Frie-
Pjöngjang reagierte auf Boltons Äuße- Am Montag gab Pence in einem Inter- densgesprächen« waren schon geprägt.
rungen entsprechend aufgebracht. »Die view auf Fox News zu verstehen, dass Kim Auch wenn das Weiße Haus damit
Welt weiß sehr genau, dass unser Land we- tatsächlich wie Gaddafi enden könnte. nichts direkt zu tun hat, zeigt das, wie
der Libyen noch der Irak ist, denen ein »Der Präsident hat klargemacht, dies wer- versessen Trump auf dieses historische
schreckliches Schicksal widerfahren ist«, de nur dann so enden wie das libysche Mo- Treffen war.
hieß es. Außerdem sei man im Gegensatz dell, wenn Kim Jong Un keinen Deal Am Donnerstag meldete der Souvenir-
zu Libyen unter Gaddafi längst im Besitz macht«, sagte Pence. In Nordkorea wurde shop des Weißen Hauses: Die Münzen
von Atomwaffen. Es sei »völlig absurd«, das als unverhohlene Drohung aufgefasst. würden in jedem Fall ausgeliefert, auch
die beiden Länder zu vergleichen. Als »ungezügelt und unverschämt«, wenn der Gipfel nicht stattfinde. Der Preis
Nordkorea reagierte auch deshalb so sen- »ignorant und dumm« bezeichnete Nord- allerdings wurde gesenkt, von 24,95 auf
sibel auf die Äußerungen von Bolton, weil koreas Vizeaußenministerin die Äußerun- 19,95 Dollar. Als »Deal of the Day«.
man in Pjöngjang dessen Neigung kennt, gen; Pence sei ein »politischer Dummkopf«. Matthias Gebauer, Raniah Salloum,
politische Probleme mit militärischen Mit- Es folgte die Warnung, es liege an den USA, Christoph Scheuermann,
teln zu lösen. Mehrfach hatte Bolton vor- ob man sich »in einem Sitzungsraum trifft Christoph Schult, Bernhard Zand
geschlagen, Länder notfalls zu bombardie- oder bei einem nuklearen Showdown«.
G
eht es nach Signor Fabio, ist die »Mattarella entscheidet sich für den faulen zusammen regieren«, sagt Markus Ferber,
Sache schon jetzt zum Scheitern Apfel, Mini-Premier Conte« (»Libero«). Vizechef des für Währungsfragen zustän-
verurteilt: Die Regierung wird Weil Salvini und Di Maio sich nicht ei- digen Ausschusses im Europaparlament.
nicht lange im Amt bleiben. »Im nigen konnten, wer von ihnen Ministerprä- Nur dass Italien noch dazu mit 2,3 Bil-
September wählen wir wieder«, sagt der sident werden darf, fiel die Wahl am Ende lionen Euro verschuldet ist; das entspricht
schmale Herr im Zentrum von Rom. Signor auf den politisch völlig unerfahrenen Jura- 132 Prozent des Bruttoinlandsprodukts –
Fabio ist der »giornalaio«, der Zeitungs- professor Giuseppe Conte. Einen Mann, was EU-weit nur von Griechenland über-
händler, mit dem begehrtesten Kiosk der der den Fünf Sternen nahesteht, der nie troffen wird. Dazu kommen die Folgen der
Hauptstadt, keine hundert Meter vom Büro ein öffentliches Amt innehatte – und nun Wirtschaftskrise, die hohe Arbeitslosigkeit,
des Regierungschefs entfernt. Er weiß, was die drittgrößte Volkswirtschaft Europas mit insbesondere unter den Jüngeren, sowie
los ist in der Welt und dass diese nun wieder 60 Millionen Einwohnern führen soll. die Belastung durch die Flüchtlinge, die
einmal sorgenvoll auf seine Heimat blickt. Diese 67. Regierung in rund 70 Jahren noch immer zu Tausenden über das Mittel-
»Rom öffnet den modernen Barbaren sei- ist die wohl ungewöhnlichste und unerfah- meer nach Italien strömen.
ne Tore«, titelte die »Financial Times« mit renste, die es je gab. An der Spitze zwei Italien ist schon seit Jahren ein Sorgen-
Blick auf die neue Regierung aus dem Mo- Populisten, die EU-kritisch und russland- kind Europas. Insofern ist der Wahlsieg der
vimento Cinque Stelle (M5S) unter Luigi freundlich sind; zwei Koalitionspartner, Populisten keine Überraschung, er ist die
Di Maio und der rechtsnationalen Lega un- die nur wenige gemeinsame Ziele haben logische Folge dieser Probleme. Und er
ter Matteo Salvini. Aber auch die italie- und deren Wähler einander spinnefeind könnte sie zugleich drastisch verschärfen.
nischen Zeitungen waren nicht viel zu- sind. Die einen haben die Mehrheit ihrer Um die Wünsche ihrer so unterschied-
rückhaltender. Ihre Schlagzeilen lauteten: Anhänger im reichen Norden, die anderen lichen Wähler zu erfüllen, haben Salvini
»Populandia« (»Il Manifesto«), »So ent- im armen Süden des Landes. und Di Maio sich Steuersenkungen, ein
stand die Dritte Republik, unter dem Ge- »Das ist, als würden in Deutschland Sah- Grundeinkommen sowie die Rücknahme
lächter der ganzen Welt« (»Il Foglio«) und ra Wagenknecht und Alexander Gauland der Rentenreform ins Programm geschrie-
78
ANTONIO MASIELLO / GETTY IMAGES
Designierter Ministerpräsident Conte: Ein Juraprofessor und Politneuling soll die »Regierung des Wandels« anführen
ben. Diese Maßnahmen würden nach Be- den vereinbarten Regeln folgen, wenn sie In seinem dieser Tage erscheinenden Buch
rechnungen des früheren italienischen eine gemeinsame Währung haben.« »Wie ein Albtraum, wie ein Traum« heißt
Sparkommissars Carlo Cottarelli mit Kos- Deutlicher wird da Frankreichs Wirt- es: »Der Euro ist eine Zwangsjacke aus
ten von mindestens 109 Milliarden Euro schafts- und Finanzminister Bruno Le Maire: deutscher Herstellung.« Berlin habe »seit
pro Jahr zu Buche schlagen. »Wenn die neue Regierung ihre Abma- dem Ende der Nazizeit den Blick auf seine
Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Com- chungen nicht einhält, ist die Stabilität der Rolle in Europa nicht verändert«. Die Mit-
merzbank, warnt: Sollte das neue Kabinett gesamten Eurozone bedroht.« gliedschaft in der Eurozone, so Savona,
sein Programm durchziehen, stiege das Denn während die EU und der Euro ei- »beinhaltet einen Faschismus ohne Dikta-
Haushaltsdefizit von derzeit 2,3 auf bis zu nen Grexit vielleicht verkraftet hätten – ei- tur und, in wirtschaftlicher Hinsicht, einen
7 Prozent der Wirtschaftsleistung. nen Italexit würde die Gemeinschaftswäh- Nazismus ohne Militarismus«.
Was die »Regierung des Wandels« vor- rung nicht überleben. Die Wirtschaftsleis- Ob der betagte Gelehrte aus Sardinien
hat, ist nicht weniger als ein Plan zur Zer- tung Italiens ist fast zehnmal so groß wie seine wortreiche Kritik wiederholen wird,
rüttung der Staatsfinanzen. Mit unüber- die Griechenlands. »Vor dem Hintergrund wenn er demnächst neben seinem Amts-
schaubaren Folgen für ganz Europa. »Der seiner systemischen Bedeutung ist Italien kollegen Olaf Scholz beim EU-Gipfel sitzt?
Eurozone droht eine neue Krise«, sagt Cle- eine Quelle von potenziellen, signifikanten Zwar geben sich Di Maios Leute Mühe,
mens Fuest vom Münchner Ifo-Institut. Auswirkungen auf den Rest der Eurozone«, den Verdacht zu entkräften, im EU-Grün-
Vor allem in Brüssel sind die Bedenken schreibt die EU-Kommission warnend in dungsstaat Italien drohten größenwahn-
groß, vorerst drückt man sich aber um ihren neuesten Länderempfehlungen. sinnige Populisten den Karren gegen die
klare Worte, wohl in der Hoffnung, dass In dem turnusgemäß erscheinenden Re- Wand zu fahren. »Wir sind in ständigem
es am Ende doch nicht so schlimm kommt. port erkannte sie am Mittwoch zwar die Kontakt mit der amerikanischen, auch mit
Gefragt, ob die neue Regierung mit bisherigen Bemühungen Italiens an, den der deutschen Botschaft, wir legen Wert
ihrem Programm die Vorgaben des Stabi- Schuldenstand zu reduzieren, doch dies auf maximale Transparenz«, sagt einer der
litätspakts erfülle, windet sich etwa der Vi- ist das Verdienst der Vorgängerregierung. engsten Mitarbeiter Di Maios. Doch diese
zepräsident der EU-Kommission, Valdis Die Neuen, daran lassen sie keinen Zwei- Worte wirken kaum beruhigend.
Dombrovskis. Der Lette ist am Donners- fel, werden andere Schwerpunkte setzen. Denn der Vormarsch der Populisten
tag auf einer Wirtschaftskonferenz zu Gast, EU-Gesetze, sagt Lega-Chef Salvini, trifft die EU in einer schwierigen Zeit. Noch
es hagelt Fragen zu Italien. Aber er will würden nur noch respektiert, wenn sie den herrscht solides Wachstum, aber es besteht
nichts sagen, schließlich drückt er lediglich Italienern nützten. Und Fünf-Sterne-Chef die Gefahr eines Handelskriegs mit den
ein »Nein, wohl nicht« heraus. Sorge ma- Di Maio ergänzt: »Ab jetzt kommen zuerst USA, und es gilt, die Folgen des Brexit zu
chen ihm die wachsenden Risikoaufschlä- die Italiener und dann erst Verhandlungen bewältigen. Eine Wiederauflage der inner-
ge an den Märkten, auch für andere schwä- übers Defizit und EU-Richtlinien.« europäischen Grabenkämpfe aus der Zeit
chere Euromitglieder. »Die Aussicht, dass Dazu passt das Vorhaben, den 81-jähri- der Griechenlandrettung wäre verheerend.
Länder in der Finanzpolitik nicht verant- gen Ökonomieprofessor Paolo Savona Doch genau danach sieht es aus.
wortungsbewusst handeln, hat Folgen«, zum Wirtschafts- und Finanzminister zu Bei den Wahlen in Frankreich vor einem
sagt er. »Es ist wichtig, dass alle Staaten ernennen, der als scharfer Eurokritiker gilt. Jahr blieb der befürchtete Sieg extremer,
europafeindlicher Kräfte aus. Doch nun ha- Jedes Jahr benötige Italien schon jetzt papiere wider. Investoren sind nur dann
ben die Rechtspopulisten Aufwind. Nach rund 200 Milliarden Euro an frischen Kre- bereit, Italien frisches Geld zu leihen,
Österreich regieren sie künftig auch in Ita- diten, mit denen alte Verbindlichkeiten ab- wenn sie höhere Zinsen bekommen.
lien mit. »Unsere Verbündeten«, so Marine gelöst würden, rechnet Klaus Regling, der Bereits im Februar spekulierten Hedge-
Le Pen vom Front National, »bereiten das Chef des europäischen Rettungsschirms fonds auf sinkende europäische Aktienkur-
große Comeback der Nationen vor.« ESM, vor. Die frei verfügbaren Mittel sei- se, auch weil sie annahmen, dass eine euro-
Italien sei die Speerspitze »populistischer ner Organisation belaufen sich auf 400 Mil- kritische Regierung in Italien die Wäh-
Anti-Establishment-Bewegungen in Euro- liarden Euro. Zwei Jahre lang könnte Ita- rungsunion sprengen könnte. Bridgewater
pa«, verkündete Donald Trumps Ex-Chef- lien demnach durchfinanziert werden, Associates, einer der größten Haifische im
stratege Stephen Bannon, der am Sonntag allerdings unter einer Voraussetzung: Es Becken, wettete mit 22 Milliarden Dollar
in Rom erwartet wird. Erstmals bekomme dürfen keine anderen Euroländer mit in gegen europäische Aktien. Die jüngste Ver-
es Brüssel mit einer Anti-System-Regierung den Abwärtsstrudel geraten. kaufswelle bei italienischen Anleihen dürf-
in einem EU-Gründungsstaat zu tun. Über Genau das aber ist die Befürchtung, te zu einem guten Teil ebenfalls auf spe-
den Triumph von Di Maio und Salvini, die besonders der Druck auf Spanien und Por- kulative Hedgefonds zurückgehen.
ein Ende der Sanktionen gegen Russland tugal könnte nun wieder steigen. Die bei- In etlichen europäischen Hauptstädten
fordern, freut sich Bannon: »Es ist wichtig, den Länder haben zwar Fortschritte bei wird befürchtet, das Kabinett Conte könn-
dass diese Burschen im Umgang mit Brüssel der Sanierung ihrer Staatsfinanzen ge- te darauf spekulieren, dass Italien zu groß
sehr aggressiv sind.« macht, doch sie bleiben anfällig, ihre Schul- und zu gewichtig sei, um in die Pleite ent-
Es wäre ein Kurs, der im Land ankäme, den sind nach wie vor hoch. lassen zu werden. Dass die Euroinstitutio-
denn nur noch 39 Prozent der Italiener se- Selbst wenn Italien nicht mutwillig den nen am Ende also zähneknirschend ein-
hen die EU-Mitgliedschaft positiv, bezeich- Bruch provoziert und Schuldzahlungen springen würden. Denn etwa ein Drittel
nend im einst EU-freundlichsten Land des verweigert, könnte es zur Pleite kommen. der italienischen Staatsschulden liegt bei
Kontinents. Zum Frust beigetragen hat das Rating-Agenturen bewerten die Zahlungs- ausländischen Anlegern, fast 800 Milliar-
den Euro. Käme es zu einem Schulden-
schnitt von 50 Prozent wie einst in Grie-
chenland, müssten Banken, Versicherun-
gen und Pensionsfonds auf 400 Milliarden
Euro verzichten.
Auch deutsche Finanzinstitute, die in
großem Stil Italienanleihen halten, wären
betroffen. Besonders exponiert ist die
staatliche FMS Wertmanagement, in der
die Altlasten der Pleitebank Hypo Real
Estate abgewickelt werden. Die FMS sitzt
auf Italienanleihen und -krediten von
knapp 27 Milliarden Euro. Ein Ausfall wür-
ANTONIO MASIELLO / GETTY IMAGES
Bis Du ihnen
auf die Finger
klopfst.
EU-Kommissarin Margrethe Vestager ermittelt gegen
Google wegen des Verdachts auf Marktmissbrauch
und u.a. gegen Apple und Starbucks aufgrund
wettbewerbswidriger Steuerpraktiken.
Die ganze Geschichte: handelsblatt.com/handeln
FÜR ALLE,
DIE HANDELN
IN DER SPIEGEL-APP Ausland
meißelt. Es gibt nichts, was der Präsident Ende für Bankenpleiten in Ländern wie
unversucht gelassen hätte. Selbst auf ein Italien haften müssten – und diese Angst
Vieraugengespräch mit Ex-Premier Silvio ist durch die neuen EU-kritischen Töne
Berlusconi ließ er sich ein, ausgerechnet aus Rom nicht eben geringer geworden.
jenem Mann, der dem Aufstieg der Popu- Für den EU-Gipfel Ende Juni, auf dem
listen den Weg bereitet und Italien in die die Regierungschefs eine Vertiefung der
Krise geführt hat. Am Ende kam die Koa- Eurozone diskutieren wollen, verheißt die
lition zustande, auch wenn es zwischen- Lage in Italien nichts Gutes.
zeitlich nicht mehr so aussah. Doch trotz aller berechtigten Befürch-
Aber selbst wenn Mattarella Schlimme- tungen gilt auch: Noch sind die ungleichen
res verhindern kann, indem er sich etwa Partner in Rom nicht einmal vereidigt. Die
weigert, Gesetze zu unterschreiben – er Allianz mit der rabiat zuwanderungsfeind-
kann nicht verhindern, dass die politische lichen Lega ist bei der Fünf-Sterne-Bewe-
Ungewissheit ein zentrales Reformprojekt gung umstritten. »Wir haben unterwegs ei-
der EU blockieren könnte: die Reform der nige an Unterstützern verloren«, räumt
Wirtschafts- und Währungsunion. ein Sprecher von Di Maio ein. Zudem be-
Erwartet wird derzeit die deutsche Ant- trägt ihre parlamentarische Mehrheit nur
wort auf die Reformvorschläge, die Frank- etwa 30 Sitze. Das ist nicht viel in einem
reichs Präsident vor acht Monaten bei sei- Abgeordnetenhaus, in dem allein während
ner Rede an der Sorbonne vorgelegt hat. der letzten Legislaturperiode 206 Abge-
Emmanuel Macron drängt auf einen ge- ordnete die Partei gewechselt haben.
meinsamen europäischen Haushalt; auch Sollte die neue Regierung tatsächlich
eine gemeinsame Einlagensicherung sähe schnell scheitern, was er sich, Gott bewah-
der Franzose lieber früher als später. re, natürlich nicht wünsche, dann hätte er
»Die jetzige Entwicklung in Rom ist der
Todesstoß für Macrons Reformagenda«, Renditen auf Staatsanleihen
urteilt der Commerzbank-Chefvolkswirt mit zehnjähriger Laufzeit
Krämer. Jeder Schritt in Richtung einer in Prozent
Vergemeinschaftung von Risiken oder Italien 2,5
Schulden »würde Italien regelrecht dazu
einladen, noch mehr auszugeben«.
Auch wenn Macron nun staatsmännisch 2,0
seine Worte wählt und wiederholt, es sei
»die Wahl des italienischen Volkes«, die er
1,5
natürlich respektiere, bedeuten die Ent-
zum Vergleich:
wicklungen in Italien für ihn und seine Plä-
Spanien
ne einen herben Rückschlag. Hier das zau- 1,0
Wie ein SPIEGEL dernde Berlin, dort ein womöglich anar-
chisches Rom – mit beiden lässt sich seine
entsteht Vision von einem geeinten, starken Euro-
pa eher schlecht verwirklichen.
0,5
Wie recherchieren Journalisten beim Im Élysée ist man beunruhigt, dass nun Deutschland
0
die nächste große Krise droht und Macron,
SPIEGEL? Wer prüft die Fakten? Und
statt seine Reformen umzusetzen, bei un- Quelle: Thomson Reuters Datastream
warum wird über das eine Thema dankbaren Noteinsätzen den Feuerwehr- 2016 2017 2018
berichtet – und über das andere nicht? mann spielen muss – ähnlich erging es be-
Wir zeigen es Ihnen: SPIEGEL-Redak- reits seinen Vorgängern. »Salvini und Di einen Vorschlag, sagte Silvio Berlusconi in
teurin Simone Salden schreibt Maio werden für Italien nichts erreichen, der vergangenen Woche beim Gipfeltref-
normalerweise im Wirtschaftsressort aber Europa können sie komplett blockie- fen der Europäischen Volkspartei in Sofia.
über Handel, Konsumgüter und ren«, sagt ein Berater Macrons. »Verrückt« Er war gut gelaunt, soeben hatte ein Mai-
Nachhaltigkeit. In dieser Visual Story sei für dieses italienische Programm noch länder Gericht den Ämterbann gegen den
aber erzählt sie, wie ein SPIEGEL ein hübscher Euphemismus. ehemaligen Regierungschef aufgehoben.
entsteht: von der Themendiskussion Die Befürchtungen sind berechtigt, denn Der Vorschlag laute, so fuhr Berlusconi,
über die Recherche bis zur Veröffent- vor allem im deutschen Bundestag ist der mittlerweile 81 Jahre alt, fort, dass er, um
Widerstand gegen Macrons Pläne schon eine Staatskrise in Italien zu verhindern,
lichung – in acht Schritten.
jetzt enorm. Etwa gegen ein »Letztabsiche- selbstverständlich bereit sei, sofort wieder
Sehen Sie die Visual Story im digitalen rungsnetz« in der Bankenunion, »Com- »Verantwortung zu übernehmen«.
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR- mon Backstop« genannt. Die Bankenunion
Code. Martin Hesse, Julia Amalia Heyer,
sieht vor, dass bei einem Bankencrash zu- Walter Mayr, Peter Müller,
nächst Aktionäre und Gläubiger herange- Christian Reiermann
zogen werden. Nun wird diskutiert, ob im
äußersten Fall mit dem »Backstop« auch
öffentliche Gelder angezapft werden dür- Video
Der unheimliche
fen, sollten die Kosten für eine Abwicklung Aufstieg der Lega Nord
nicht anders zu decken sein. spiegel.de/sp222018italien
Die Angst der Macron-Gegner ist, dass oder in der App DER SPIEGEL
JETZT DIGITAL LESEN dann Sparer, etwa in Deutschland, am
82
Rechte Der mögliche Innenminister Matteo Salvini pflegt politische rig auf die Straßenbewegung. »Unent-
wegt wurden wir nach unserer ›Stauffen-
Kontakte nach Deutschland – aber nicht unbedingt zu Demokraten. berg‹-Fahne gefragt«, notierte Ellen Ko-
sitza in einem Reisebericht. »Pedschida,
»Ah, Pedschida!« ah! Oh, ich habe Fragen!«, hätten die Ita-
liener die deutschen Gäste bestürmt.
Diese wiederum waren beeindruckt
von einer Großkundgebung der Lega:
Bei seinem letzten großen Auftritt in AfD sich offiziell gern präsentiert. Da- »Pathetische Bombastmusik, dann der
Deutschland wurde Matteo Salvini schon von zeugt ein Foto, das schon 2015 ent- wuchtige Einzug« von Hundertschaften
fast wie ein Staatsgast empfangen, aller- stand, es zeigt zwei Männer mit einer an Demonstranten, »tosender Beifall,
dings nicht vom deutschen Staat. »Begrü- rot-gelben Fahne. Der eine ist Salvini, undenkbar dies alles in Deutschland!«,
ßen wir einen Italiener, der seinem Land der andere Götz Kubitschek, Verleger schwärmte Kositza. In Italien steht das
alle Ehre macht«, verkündete der Mode- aus Sachsen-Anhalt, Dauergast bei Pegi- »Widerstandsgebäude«, von dem ihr Gat-
rator in der Koblenzer Rhein-Mosel-Hal- da und Vertrauter des AfD-Manns Björn te träumt: eine Allianz rechter Gruppen
le zum Jubel von 1000 Gästen. Salvinis Höcke. Kubitscheks Publikationen sind in und außerhalb des Parlaments. »In Ita-
Botschaft auf Deutsch und Englisch war Pflichtlektüre im rechten Milieu, und lien wurde die Rechtfertigungsrichtung
unmissverständlich: »Ein neues Europa auch praktisch förderte er das Wachstum bereits umgekehrt«, so Kubitschek.
ist möglich. Bye-bye, Angela Merkel, der Szene. Nicht zuletzt dank seiner Be- »Rechte Parteien und metapolitische Or-
good luck, Frauke Petry!« ratung konnte die rechtsextreme Identi- ganisationen müssen sich nicht mehr
Es war noch die alte AfD unter der täre Bewegung hierzulande Fuß fassen. rechtfertigen für das, was sie für ihr Land
damaligen Parteichefin Frauke Petry, die Und mit der »Erfurter Resolution«, ei- und ihr Volk tun. Rechtfertigen müssen
Salvini im Januar 2017 zu einer Konfe- nem Manifest samt Unterschriftenliste sich die anderen. In Deutschland arbei-
renz der Rechtspopulisten eingeladen aus Kubitscheks Feder, bekam Björn Hö- ten wir an dieser Umkehrung.«
hatte. Zwar ist Petry jetzt Geschichte in Während AfD-Funktionäre erst neu-
der AfD, aber die Kontakte Salvinis erdings bei Pegida auftreten dürfen, ko-
und seiner Lega zu rechten Kreisen in operiert die Lega seit Jahren mit den
Deutschland florieren. Schon vor der Dresdner Demonstranten. Lutz Bach-
Flüchtlingskrise gab es einen regen Aus- mann, Organisator der islamfeindlichen
tausch der Italiener mit Pegida, AfD Aufmärsche, nennt die Italiener auf
und prominenten Rechtsideologen. Facebook nur seine »Freunde« und
Die AfD blickt geradezu neidisch drückt ihnen die Daumen für ihre Ar-
nach Italien, wo Salvinis Partei gelingt, beit gegen »sogenannte Flüchtlinge«.
wovon sie selbst weit entfernt ist: eine Die Sympathie ist gegenseitig – »Pegi-
Regierungsbeteiligung und damit die da ist das neue Europa, das erwacht«, ju-
Aussicht auf echte Macht. »Es ist sehr er- belte ein Lega-Politiker. Anfang 2016
freulich, dass sich in Italien zwei Anti- schloss man sogar ein offizielles Bündnis
Establishment-Parteien durchgesetzt ha- mit anderen Rechtsdemonstranten Euro-
ben«, sagt AfD-Chef Jörg Meuthen, der pas. In der »Prager Erklärung« drückten
als EU-Parlamentarier seine Vorbilder die Unterzeichner ihre Sorge aus, »dass
an jedem Sitzungstag erleben kann. die tausendjährige Geschichte der west-
Meuthen lobt die ablehnende Haltung lichen Zivilisation bald beendet sein könn-
der Lega zu den Russlandsanktionen te«. Für den Schutz von Europas Grenzen
und die Versprechen der künftigen italie- und den Kampf gegen »globale Eliten«
nischen Regierung von Steuersenkun- Gleichgesinnte Kubitschek, Salvini würden sie notfalls ihr Leben riskieren.
gen. Aber am liebsten ist der AfD natür- »Wie ich ihn kenne, versucht er das« So hat der mögliche italienische Innen-
lich die Haltung der Lega in der Flücht- minister Salvini in Deutschland den eng-
lingspolitik. »Vielleicht gibt es mit der sten Kontakt zu Akteuren, die gar keine
neuen Regierung in Rom eine Chance, cke eine Machtbasis in der AfD, die sein Politik im parlamentarischen Sinne betrei-
wieder einen funktionierenden Grenz- politisches Überleben bis heute sichert. ben und wenig Sympathie für den demo-
schutz für Europa herzustellen.« Zur Genese des Fotos mit Salvini kratischen Parteienstaat hegen.
Meuthen ist der einzige AfD-Abgeord- berichtet der Verleger, er sei im Februar Kubitschek bestätigt, dass die Kontakte
nete in Brüssel, aber er will den Kontakt 2015 mit seiner Frau Ellen Kositza zu zur Lega bis heute bestehen. Für Septem-
zur Lega intensivieren. Nur bei der Per- einer Konferenz über »konservative ber plant er einen großen europäischen
son Salvini ist er noch unsicher. »Ich ken- Widerstandsformen« nach Rom gereist, Kongress, auch mit Gästen aus Italien.
ne ihn nicht persönlich, ich muss mich habe dort mit Salvini über »das politi- Ein Innenminister Salvini solle »das
erst näher mit ihm beschäftigen.« sche Schlüsselthema ›Identität‹« disku- Chaos an den Außengrenzen und im
Meuthens Zögern hat Gründe: Salvini tiert. Danach posierten die rechten Innern die ›Herrschaft des Unrechts‹
ist berüchtigt für rassistische Ausfälle, Frontmänner mit der »Wirmer-Fahne«, beenden helfen«, zitiert Kubitschek
etwa wenn er Waggons ohne Zutritt für einem Mitbringsel Kubitscheks. Die Fah- Horst Seehofer. »Und wie ich ihn kenne,
Ausländer in der Mailänder U-Bahn for- ne, die einst im Stauffenberg-Wider- wird er das versuchen.« Aber, betont der
dert oder brutale Angriffe auf Flüchtlin- standskreis entworfen wurde, hat sich Rechtsideologe, die europäische Solida-
ge mit dem Volkszorn über die Migra- die rechte Szene schon vor Jahren ange- rität dürfe dabei nicht zu kurz kommen:
tionspolitik entschuldigt. Und er sucht eignet, sie gilt heute als »Pegida-Fahne«. Italien sollte seine illegal Eingereisten
seit Jahren die Nähe zu deutschen Krei- Kubitschek referierte bei der Lega zu bitte nicht nach Frankreich und Deutsch-
sen, die viel weiter rechts stehen, als die Pegida, die Italiener waren sehr neugie- land durchwinken. Melanie Amann
Die Geschichte
immer noch sehr wirkmächtig, vor allem in diesen Tagen.
Zudem haben die USA schon einmal einen Präsiden-
ten auflaufen lassen, der das Land gen Westen öffnen
wollte. Mohammad Khatami, ein Reformer, war 1997
einer Enttäuschung
mit einer überwältigenden Mehrheit und gegen den
erklärten Willen des konservativen Establishments zum
Präsidenten gewählt worden. Er hatte mit Öffnung und
Dialog geworben, mit Frauenrechten, mit einem Iran für
alle Iraner. Als eine seiner ersten Amtshandlungen wand-
Essay Die US-Regierung will das Regime in Teheran te er sich in einem Interview mit dem US-Sender CNN
mit »den härtesten Sanktionen der Geschichte« an die Amerikaner. Wohl wissend, dass die 444 Tage
währende Besetzung der US-Botschaft in Teheran infol-
zu Fall bringen. Erreichen könnte sie das Gegenteil. ge der Revolution von 1978/79 ein amerikanisches Trau-
ma war, drückte er dafür sein allergrößtes Bedauern aus.
Das tat er durchaus zum Unmut seiner innenpolitischen
Gegner, die ihn attackierten
D
und schrieben: Das war nicht
a brennt sie wieder, das, was die Freunde der
die US-Flagge, mit- Revolution erwartet hatten.
ten im iranischen Doch egal, wie weit Khatami
Parlament. Das mag sich aus dem Fenster lehnte
in unseren Breiten als jenseits und Entgegenkommen signa-
des politisch Akzeptablen lisierte: Von den USA kam
angesehen werden, aber mög- nichts.
licherweise vertreten die Khatamis Bemühungen
Abgeordneten, die sie ent- um ein Atomabkommen, die
zündeten, damit mittlerweile es damals schon gab, liefen
mehr Bürger, als es dem also ins Leere. Das Ergebnis
Westen lieb ist. Denn auch war: Nachdem Khatami sei-
liberale Iraner sind vor den ne Versprechungen auf eine
Kopf gestoßen durch die Auf- Annäherung mit dem West-
kündigung des Atomabkom- en nicht umsetzen konnte,
Urananreicherung. Es ist fraglich, ob die auf Ausgleich größter Sorge zu betrachten. Aber aus iranischer Sicht
sinnenden Kräfte ihren Argumenten auf lange Sicht ist Saudi-Arabien, das den Dschihadismus weltweit
etwas entgegensetzen können. Sollte Iran aber die Uran- fördert, eine sehr viel größere Gefahr – und für Iran eine
anreicherung hochfahren, werden auch die Europäer existenzielle Bedrohung. Der wahhabitische Islam, mit
wohl nicht umhinkommen, sich an den Sanktionen zu dem der »Islamische Staat« (IS) wesensverwandt ist, ist
beteiligen. Dann wird ein Ausgleich undenkbar und eine in seiner Entstehungsgeschichte, seiner Legitimation und
militärische »Lösung« wahrscheinlicher. In jedem seiner Motivation zutiefst antischiitisch. Die Schiiten gel-
Fall wird ein Wettrüsten im Nahen Osten die Folge sein. ten ihnen als die größten Ketzer, schlimmer noch als die
Juden und Christen seien sie, denn sie höhlten den Islam
T
von innen aus. Der radikale sunnitische Islam der Wah-
ragisch an Trumps Ausstieg aus dem Atomdeal ist habiten und des IS richtet sich also in seiner Natur gegen
auch, dass er nicht nur Rohani, sondern die irani- die iranische Variante des Islam. Auch deshalb mischt
sche Zivilgesellschaft auflaufen lässt. All jene sich Iran in der Region ein. Dass Teheran seine Milizen
Menschen, die sich seit Monaten, ja seit Jahren in den Kampf gegen den IS in den Irak und nach Syrien
gegen das Regime auflehnen: die Frauen mit ihren Kopf- geschickt hat, diente dem ureigenen Interesse, keinen
tuchprotesten, die Demonstranten vom Winter oder antischiitischen Staat als Nachbarn zu haben. Aus diesem
auch der Regisseur Jafar Panahi, der in diesem Jahr mal Grund sind auch die libanesische Hisbollah und Syrien,
wieder nicht zu den Filmfest- das als einer von wenigen
spielen von Cannes fahren arabischen Staaten Iran im
durfte. Diese Zivilgesellschaft von Saddam Hussein einst
ist so laut, so rege, doch mit begonnenen irakisch-irani-
weiteren Sanktionen gräbt schen Krieg unterstützt hat,
man ihr das Wasser ab, die natürlichen Partner im
nimmt man ihr die Argumen- Nahen Osten. Das muss man
te für eine Öffnung. Man nicht toll finden – aber es
nimmt ihr die Lebensgrund- bringt leider wenig, diese
lage. strategischen Interessen zu
Das Kalkül der Amerika- ignorieren und die iranische
ner, die Iraner würden sich Staatsführung nur als Macht
bei Einführung der »härtes- des Bösen darzustellen.
ten Sanktionen der Geschich- Wie Hohn klingt es zudem
te« gegen ihre Regierung für die meisten Iraner, wenn
erheben, ist zynisch, und es der US-Präsident sich jetzt
ist falsch. Zum einen ist die als Freund des iranischen
Zivilgesellschaft dazu viel zu Volkes inszeniert. Schließlich
ausgezehrt vom jahrelangen hat er Iran doch auf die Liste
Kampf gegen Misswirtschaft von Ländern gesetzt, deren
und Unterdrückung, außer- Bürger nur noch in Ausnah-
dem ist das Regime viel zu mefällen in die USA ein-
gut gerüstet, als dass ein sol- reisen dürfen – obwohl dort
cher Aufstand Erfolg haben mindestens eine halbe Mil-
UPI / LAIF
85
Ausland
Verhasster Frieden
Kolumbien Das Land wählt einen neuen Präsidenten – und wahrscheinlich wird er ein
Gegner der Aussöhnung mit der Farc-Guerilla sein. In einer WG früherer
Rebellen in Bogotá lässt sich erleben, wie fragil die Ruhe nach dem Bürgerkrieg schon jetzt ist.
Sicherheitskräfte vor dem Krankenhaus El Tunal in Bogotá, Ex-Farc-Mann Pérez: »Wenn nichts geschieht, dann ist dieser Friedensprozess tot«
86
E
s ist ein Mittwochmorgen im April, an einer Parlamentswahl auf gerade ein- ließen, zahlt ihm die Regierung rund 200
als Hernán Darío Garcés, Kampf- mal 0,3 Prozent der Stimmen kam. Dollar monatlich. Pérez sagt, es komme
name Esteban Pérez, zum ersten Mit dem Frieden gewinnt man keine ihm manchmal so vor, als stecke er in ei-
Mal seit langer Zeit wieder die al- Wahlen – diese Erkenntnis hat zu der nem Zeitloch fest. Der Krieg ist vorbei,
ten Reflexe spürt. Pérez, der 20 Jahre lang sonderbaren Situation geführt, dass die aber der Frieden hat noch nicht begonnen.
für die Farc im Dschungel gekämpft hat, steht wichtigste Frage des Landes im Wahl- Etwa 600 frühere Farc-Kämpfer sind
im Zentrum der kolumbianischen Haupt- kampf kaum ein Thema ist. Präsident- mittlerweile in Bogotá gestrandet. Viele
stadt Bogotá. Um seinen Kopf flattert ein schaftskandidaten wie der linke Populist von ihnen fragen sich, wo die Euphorie ge-
Palästinensertuch. In seinem dunklen Ge- Gustavo Petro oder der Liberale Humber- blieben ist, ihre Träume, in denen sie sich
sicht flackern zwei nervöse Augen, die den to de la Calle reden lieber darüber, was ein Stück Land ausmalten, von dem sie le-
vorbeirauschenden Verkehr scannen, Pas- man mit den Ölvorkommen anfangen soll- ben könnten; sie hofften darauf, Familien
santen, den Eingang der Gefängnisverwal- te. Es ist auch kein Zufall, dass mit Iván zu gründen, einen Fußballklub, sie glaub-
tung, vor dem er mit einer kleinen Gruppe Duque ein rechter Law-and-Order-Politi- ten fest, dass es gelingen könnte, die Politik
früherer Guerillakämpfer gegen die Inhaf- ker die Umfragen anführt, ein Mann aus neu zu erfinden, als normale, friedliche
tierung eines ihrer Anführer protestiert. der Partei des Ex-Präsidenten Álvaro Uri- Partei, aber vielleicht waren sie etwas naiv.
Vor seinem Bauch trägt er ein Schild be, die den Frieden mit der Guerilla ab- Knapp 9000 Waffen gab die Farc ab;
mit der Aufschrift »Santrich inocente«. lehnt und auch deshalb als Siegerin aus mehr als 300 Millionen Dollar, die vor al-
»Wenn sie ihn wirklich vor die Hunde den Parlamentswahlen hervorgegangen ist. lem aus dem Drogenhandel stammten,
gehen lassen«, sagt Pérez, »dann kann ich »Wir sollten aufhören, Kriminelle auch zahlte sie in einen Fonds, aus dem Opfer
für nichts mehr garantieren.« noch zu belohnen«, kommentierte Duque entschädigt werden sollen. Indem sie sich
Seit Tagen kocht in ihm die Wut, er mur- triumphierend Santrichs Festnahme. Sie an die Vereinbarungen hielt, wollte sie zei-
melt Wörter wie Verrat und Betrug und spielt ihm in die Karten, wie alles, was die gen, dass sie es ernst meint. Aber die Re-
spricht von einer roten Linie, die nun über- Glaubwürdigkeit der Farc erschüttert oder gierung, glauben heute viele frühere Re-
schritten sei. das Vertrauen in den Frieden untergräbt. bellen, habe ihren Teil der Absprachen nur
Jesús Santrich ist eine der schillerndsten Die Frage, die sich viele Kolumbianer so lange eingehalten, bis die Farc pleite
Figuren der Farc, die nun eine politische deshalb stellen, ist, ob der Vertrag, den und entwaffnet war.
Partei ist; er gilt als Mastermind hinter dem Santos und die Farc geschlossen haben, in Eine Landreform, die den Kernkonflikt
Friedensabkommen, mit dem die Guerilla ein paar Wochen noch das Papier wert ist, des Bürgerkriegs lösen sollte, schafft es
und die Regierung vor anderthalb Jahren auf dem er geschrieben steht. seit Monaten nicht auf die Tagesordnung
ihren Endlosbürgerkrieg beendeten. Im des Kongresses. Noch immer sitzen Tau-
Sommer wollte Santrich als Abgeordneter sende Guerilleros in Übergangslagern fest
ins Parlament einziehen, auf einem der für »Das Problem war, und warten auf die Freigabe versproche-
die Farc reservierten Sitze. Und ausgerech-
net dieser Mann soll jetzt die Verschiffung
dass das Abkommen zu ner Mittel für Tourismus- und Agrarpro-
jekte. Etwa 50 Ex-Kämpfer sind seit der
von zehn Tonnen Kokain in die USA ge- spät in Kraft trat. Unterzeichnung des Abkommens ermor-
plant haben. So erklärte es zumindest ein Es blieb zu wenig Zeit.« det worden, auch weil der Staat zu wenig
New Yorker Staatsanwalt, als er im April unternimmt, um sie zu schützen.
Santrichs Auslieferung beantragte. Jesús Santrich, der trotz seiner Erblin-
Während der kolumbianische Präsident Für einen Mann wie Pérez heißt das, dung Erzählungen schrieb und Bilder mal-
Juan Manuel Santos mit ernster Miene dass er sich zum ersten Mal seit langer Zeit te, war einer derer, die diese Zustände am
von »eindeutigen Beweisen« sprach, glau- wieder mit dem Gedanken auseinander- schärfsten kritisierten. Im vergangenen
ben Pérez und die anderen Ex-Rebellen, setzt, in den Dschungel zurückzukehren. Sommer verbrachte er 25 Tage im Hun-
dass die Vorwürfe vorgeschoben sind. »Keine Ahnung, wie lange ich noch hier gerstreik, weil trotz des allgemeinen Am-
Wenn die Regierung Santrich wirklich aus- sein werde«, sagt er am Abend nach der nestieversprechens noch immer Hunderte
liefere, sagen sie, dann könnte der ohnehin Demo, als er in dem engen Innenhof des Farc-Mitglieder im Gefängnis sitzen. Jetzt
brüchige Frieden endgültig zerbrechen. Hauses sitzt, in dem er jetzt mit ein paar hungert Santrich wieder. Er werde eher
Es ist ein sensibler Augenblick. anderen ehemaligen Guerilleros lebt; auch sterben, als sich in die USA ausliefern las-
Noch dazu beginnt am Sonntag die Prä- Santrich wohnte hier einst. Die Fenster sen, teilte er aus seiner Zelle mit.
sidentschaftswahl, ausgerechnet jetzt, da zur Straße sind vergittert. An der Haustür Die »eindeutigen Beweise«, von denen
sich immer deutlicher abzeichnet, dass es weist kein Schild auf die Bewohner hin. der Präsident sprach, kennt Santrichs An-
leichter ist, einen Friedensvertrag zu schlie- Auf seinen Knien liegt eine alte Gitarre, walt Jhon Espinoza vor allem aus den Me-
ßen, als Frieden zu machen. Obwohl das auf der er die ersten Töne der »Ode an die dien. Einige große Zeitungen haben im
Land kriegsmüde ist, war das Abkommen Freude« zupfen kann. Pérez hat sie 2016 Internet eine Videosequenz gepostet, in
nie besonders populär. Vielen Kolumbia- während der Friedenskonferenz in Yarí ge- der Santrich angeblich mit Mittelsmännern
nern gehen die Zugeständnisse zu weit. Sie lernt, wo Tausende Farc-Anhänger zusam- des Sinaloa-Kartells zu sehen ist. Es gibt
stören sich daran, dass Männer wie Pérez mengekommen waren, um das Abkommen einen Telefonmitschnitt, in dem Santrich
mit einer großzügigen Amnestie davon- zu feiern. Nachdem er in den letzten Mo- sich für ein paar Fernseher bedankt, angeb-
kommen; dass für Anführer wie Santrich naten ein paar selbst verfasste Rapsongs lich das Codewort für die Drogen. Dazu
für die kommenden acht Jahre Sitze im aufgenommen hat, erlangte er sogar eine wurde eine Zeichnung aus seiner Feder prä-
Parlament garantiert wurden. gewisse Berühmtheit. Rapper des Friedens, sentiert, die einem Mann gewidmet war,
Wie unbeliebt das Abkommen ist, hatte so nannte man ihn in den sozialen Medien. den die US-Drogenbekämpfungsbehörde
sich schon angedeutet, als der nun aus dem Pérez ist jetzt 29. Seit ein paar Monaten DEA auf ihrer Most-wanted-Liste führt.
Amt scheidende Präsident Santos es sei- geht er wieder zur Schule. Santrich, sagt »Es sind aus dem Zusammenhang geris-
nen Landsleuten zur Abstimmung vorleg- er, wollte das so, und sein Wort gelte für sene Puzzleteile«, sagt Espinoza. »Sie er-
te und eine Niederlage einsteckte. Eine ihn wie das eines Vaters, seit er als neun- klären nichts, aber sie ergeben einen guten
ähnliche Erfahrung machte die Farc-Partei jähriger Junge zur Farc kam. Wie allen an- Plot.« Es leuchtet ihm nicht ein, wie ein
im März, als sie bei ihrer ersten Teilnahme deren Ex-Rebellen, die sich registrieren blinder Mann, der rund um die Uhr von
Polizisten bewacht wird, unbemerkt zehn »Das Problem war, dass das Abkommen
Tonnen Kokain verschieben sollte. zu spät in Kraft trat«, sagt er. »Dem Prä-
»Wo ist das Geld?«, fragt er. »Wo ist die sidenten blieb zu wenig Zeit, es umzu-
Flugzeugflotte, die die Drogen in die USA setzen.«
bringen sollte? Warum wartete die DEA Je näher das Ende von Santos’ Amtszeit
nicht darauf, Santrich in flagranti zu erwi- rückt, desto mehr entgleitet ihm die
schen, wie sie es sonst tun würde?« Kontrolle. Viele Abgeordnete, die jedes
Es ist ein rätselhafter, undurchsichtiger Kapitel des Vertrags in Gesetze umwan-
Fall. Die Leute, die mit ihm das Haus teil- deln müssen, wenden sich von ihm ab.
ten, erklären, dass Santrich mit den Jahren, Santos’ Friedensbemühungen, sein Nobel-
in denen sein Augenlicht langsam erlosch, preis, das alles wirkt nun wie ein anste-
eine große Sehnsucht nach der Stadt ent- ckendes Gift.
wickelt habe. Der Frieden erschien ihm Arnault runzelt die Stirn.
weniger beschwerlich als der Dschungel. »Möglich«, sagt er, »dass die Farc erst
Sie verstehen nicht, warum er das leicht- jetzt begreift, dass sie den Frieden nicht
fertig aufs Spiel setzen sollte. mit einem Mann geschlossen hat, sondern
An einem Abend, an dem Pérez eine mit einem Staat, dessen Institutionen ein
Hausaufgabe über Schweinezucht in sein gewisses Eigenleben führen.«
Handy tippt, hocken sie um einen Tisch Während Santos ein letztes Mal durch
im Wohnzimmer. Mario, Santrichs Cousin, die Welt reist und versucht, Zweifel an dem
der während des Kriegs als verdeckter In- Friedensabkommen zu zerstreuen, fragen
formant im Militär war. Félix, Santrichs sich in Kolumbien viele, ob man einen No-
einstiger Fahrer, der dieser Tage zum ers- belpreis eigentlich auch wieder aberken-
ten Mal seit Jahren seine Tochter traf. Da- nen kann. Und was es bedeutet, wenn San-
niel, ein erschöpft aussehender Chilene, tos’ Nachfolger ein Friedensgegner ist.
der in Mexiko für die Zapatisten kämpfte, Es gibt jetzt so viele Fragen: Warum soll-
ehe er sich der Farc anschloss. An den te ein Parlament, in dem die Vertreter der
Wänden hängen Bilder von Mao und Le- Großgrundbesitzer bald wieder die Mehr-
nin. In einem Regal liegen Schach- und heit stellen, jemals eine Landreform ver-
Kartenspiele. Es ist ein bisschen wie in ei- abschieden? Welcher Richter wird sich
ner Kreuzberger WG der Siebzigerjahre. künftig für die Freilassung von Farc-Häft-
Sie rauchen und zerbrechen sich die Köpfe. lingen einsetzen? Wo zieht einer wie Már-
»Wenn es jetzt schon Santrich trifft«, quez die rote Linie; was könnte die Farc
sagt Mario, »dann kann es jeden von uns dazu veranlassen, ihre Mitglieder wieder
treffen. In jedem Augenblick.« in die Wälder zu beordern?
»Und Duque ist noch nicht mal Präsi- In den Gebieten, aus denen sich die Farc
dent«, sagt Daniel. zurückgezogen hat, wird inzwischen so
Dann schalten sie den Fernseher ein. viel Koka angebaut wie nie zuvor. Andere
Auf einem Kanal läuft ein Interview mit bewaffnete Gruppen wie die ELN stoßen
Iván Márquez, dem Vorsitzenden der Farc- in das Vakuum vor. Gleichzeitig lösen sich
Partei. Seit Santrichs Haft hat Márquez die alten Farc-Strukturen langsam auf. Leu-
sich in ein Übergangscamp am Rand des te wie Pérez treiben ziellos durch die Städ-
Dschungels zurückgezogen. Es ist ein Ort, te. Márquez hockt in seinem Dschungel-
an dem er sich sicher fühlt. Márquez sitzt camp. Santrich hungert. Und Rodrigo Lon-
am Ufer eines Bachs. Er trägt erdverkrus- doño, der eine Weile sogar davon träumte,
tete Stiefel. Mit ruhiger Stimme kündigt als Präsident zu kandidieren, erholt sich
er an, sein Mandat als Abgeordneter nicht von einer Herz-OP.
anzutreten, weil er nicht wolle, dass man Spätnachts, an ihrem WG-Tisch, kommt
ihn als Kriminellen im Parlament begrüße. es Pérez und seinen Mitbewohnern manch-
»Wenn nichts geschieht«, sagt Márquez, mal so vor, als wäre dieser Frieden eine
»dann ist dieser Friedensprozess tot.« Falle. Als wäre er nur eine andere, smar-
Um den Tisch ist es nun still. tere Strategie, um sie zu besiegen.
Pérez nickt. Aber sie fragen sich, worauf Santos, sagen sie jetzt, war doch früher
Márquez hinauswill, denn anders als eine mal Uribes Verteidigungsminister.
Kreuzberger Kommune ticken sie noch im- Dann wird Santrich Ende April plötz-
mer wie Soldaten, die auf Befehle warten. lich in ein Krankenhaus verlegt. Nach
Ein paar Tage später lässt sich der fran- knapp drei Wochen Hungerstreik droht er
zösische Diplomat Jean Arnault am ande- zu kollabieren. Innerhalb weniger Minu-
ren Ende der Stadt lächelnd auf ein Sofa ten verwandeln Sicherheitskräfte die Klinik
fallen. Arnault, ein weißhaariger, weltge- El Tunal in eine Festung. Alle Fahrzeuge
wandter Mann, leitet die Uno-Mission, die werden gründlich durchsucht. Polizisten
die Umsetzung des Friedensabkommens durchwühlen die Ladeflächen von Wäsche-
überwachen soll. Vieles von dem, was die reiwagen. Selbst Ambulanzen, die das Ge-
Farc-Vertreter bemängeln, findet sich auch lände verlassen, werden gefilzt.
in seinen Berichten. Arnault versteht die Es gibt kein treffenderes Bild für diesen
Unzufriedenheit, aber er ist kein Mensch, sonderbaren Frieden. Marian Blasberg
der sich von Emotionen leiten lässt.
Deutsche Trainer und ihre Teams im Finale der Champions League (ab 1993) und des Europapokals der Landesmeister (bis 1992)
Jürgen Klopp Jupp Heynckes Klaus Toppmöller Ottmar Hitzfeld Udo Lattek Dettmar Cramer Paul Oßwald
2017/2018 2012/2013 2001/2002 2000/2001 1986/1987 1975/1976 1959/1960
FC Liverpool Bayern München Bayer Leverkusen Bayern München Bayern München Bayern München Eintracht Frankfurt
Real Madrid Borussia Dortmund Real Madrid FC Valencia FC Porto AS Saint-Étienne Real Madrid
2:1 1:2 5:4 n. E.
n.E. 1:2 1:0 3:7
Jürgen Klopp ist der siebte deutsche Trainer, der im Endspiel Dettmar Cramer zählen zum illustren Zirkel von Trainern, die
des wichtigsten Europapokals für Vereinsmannschaften steht. zweimal siegten. Sie werden nur übertroffen von Bob Paisley
Gewonnen haben die Champions League – und ihren Vorgänger- und von Carlo Ancelotti. Der Engländer triumphierte dreimal
wettbewerb, den Europapokal der Landesmeister – erst vier mit Liverpool, der Italiener gewann die Champions League mit
deutsche Übungsleiter. Jupp Heynckes, Ottmar Hitzfeld und Real Madrid und zweimal mit dem AC Mailand.
pools vor ein paar Wochen kam alles wie- Kennedy: Das stimmt. Diese Angst, zu Kennedy: Sie sind das erfahrenere Team.
der hoch. Mein Treffer, der Jubel, alles versagen, hat mich sicher besser gemacht. Wir sind die »new kids on the block«, wie
sehr intensiv. Es war unser dritter Landes- So konnte ich das Beste aus mir heraus- man in England sagt.
meister-Pokal. Wir haben damals mit holen: das Tor gegen Real. SPIEGEL: Werden Sie in Kiew im Stadion
Liverpool eine Ära geprägt, wir waren dabei sein?
das, was Real Madrid heute ist. Kennedy: Ich muss mich entscheiden:
SPIEGEL: Nach dem Spiel waren Sie eine Das Fernsehen hat mich als Experten
Legende. Dabei war Ihr Start nicht ein- angefragt. Aber wenn ich da bin, dann
fach. In der Halbzeitpause Ihres ersten nicht auf der Ehrentribüne. Tickets
IMAGO STOCK&PEOPLE
Ligaspiels 1978 sagte Ihr Trainer Bob bekommen nur die Ehemaligen, die heute
Paisley: »Ich glaube, sie haben den fal- für den Klub arbeiten. Ich finde es eh viel
schen Kennedy erschossen!« schöner zwischen den Fans in der Kurve,
Kennedy: Als ich geholt wurde, waren das mache ich häufiger. Mal sehen, ob ich
die anderen Spieler schon Legenden, ich ein paar von uns alten Recken dort
nur ein junger Spieler von Newcastle Kennedy (r.) 1981 in Paris wiedertreffe. JDO
89
Sport
Am Boden
Turnen Ein prominenter US-Arzt missbraucht Hunderte Sportlerinnen. Jahrzehntelang, ungehindert.
Jetzt sitzt er in Haft, lebenslang. Seine Opfer sollen mit einer halben Milliarde
Dollar entschädigt werden. Doch der Kampf hat für sie erst begonnen. Von Antje Windmann
I
hr Turnanzug glitzert. Er ist dem rinnen und als Mediziner an der Michigan Gegenteil. Inzwischen beschäftigt er sogar
amerikanischen Sternenbanner nach- State University (MSU). das US-Parlament. Vergangenen Mittwoch
empfunden. Jordyn Wieber holt tief Im Zuge des weltweit beachteten Pro- mussten Funktionäre vom amerikanischen
Luft. Sie steht in einer Ecke der Wett- zesses hatte die Richterin seinen Opfern Turnverband USA Gymnastics (USAG)
kampffläche, jeder Muskel angespannt. ermöglicht, von ihrem Leid und ihrer Ohn- und vom amerikanischen Olympischen
Die Musik ertönt, fanfarengleich. Die 17- macht zu berichten. Psychologen halten Komitee (USOC) vor dem Repräsentanten-
jährige Favoritin streckt sich, nimmt An- dies für wichtig, um das Geschehene zu haus aussagen. Eine Untersuchungskom-
lauf. Es sind die Olympischen Spiele 2012 verarbeiten. Mehr als 150 Frauen nahmen mission will unter anderem herausfinden,
in London. Ihr größter Traum ist wahr ge- das Angebot an. wer wann wo und wie versagt hat. Wieder-
worden. Als Erste sprach eine junge Frau, deren holt hatten Opfer berichtet, dass sie Nas-
Jordyn Wieber ist bekannt für ihre kraft- Eltern mit Nassar befreundet waren. Sie sars Verhalten gegenüber den Sportverbän-
volle Präzision. Sie wirbelt durch die Luft, war sechs Jahre alt, als der Missbrauch be- den, der MSU oder der Polizei angezeigt
post, tanzt – aber sie patzt. Immer wieder gann. Als sie ihren Eltern verwirrt davon hatten. Zum Teil schon vor vielen Jahren.
verliert sie die Balance, wenn sie nach erzählte, glaubten die ihr nicht. Ihr Vater Ohne dass jemals etwas geschah.
Sprüngen landet. Als ihre Kür endet, hält ist inzwischen tot. Er hat sich umgebracht. Wie so viele Betroffene findet Jordyn
sie mit Mühe die Tränen zurück. Eine andere Frau war 13, als Nassar sich Wieber deshalb keine Ruhe. Rund zwei
Zu diesem Zeitpunkt ahnt noch nie- an ihr verging. Er nannte sie »Sweetie«, Monate nach ihrer Aussage vor Gericht
mand, was mit ihr los ist. sitzt sie an einem dunklen Holztisch in der
Fast sechs Jahre später sind wieder alle University of California von Los Angeles.
Kameras auf Jordyn Wieber gerichtet. Die- Große Fenster geben den Blick auf die
ses Mal steht die weltberühmte Kunsttur- darunterliegende Turnhalle frei. Jordyn
nerin in einem Gerichtssaal im US-Bun- Wieber unterstützt dort das Training der
desstaat Michigan. Sie trägt einen hellen Uni-Athletinnen.
Blazer, ein schwarzes Shirt, eine feine Ket- Die heute 22-Jährige hat ihre Arme ver-
te. Sie tritt vor ein Mikrofon, buchstabiert schränkt, ihr Blick ist ernst. Sie hasst es,
ihren Namen, die Stimme bebt. Dann be- immer wieder über das Erlebte zu spre-
ginnt sie: »Ich dachte, dass das Training chen. Dennoch hat sie einem Treffen
für die Olympischen Spiele das Härteste mit dem SPIEGEL zugestimmt. Sie muss
gewesen sei, was ich jemals habe tun müs- weitermachen, denn sie ist noch lange
sen; aber das Härteste, was ich jemals tun nicht an ihrem Ziel.
IMAGO SPORT
musste, ist zu verarbeiten, dass ich ein Op- Kurz vor dem Termin wurde Nassars
fer von Larry Nassar bin.« ehemaliger Chef von der Universität Mi-
Mit diesem Satz macht Jordyn Wieber chigan verhaftet. Der Leiter der osteo-
erstmals öffentlich, dass auch sie von dem Olympionikin Wieber in London 2012 pathischen Fakultät war einer derjenigen,
Teamarzt der amerikanischen National- Jeder Sprung pure Folter die Nassar gedeckt haben sollen. Studen-
mannschaft im Turnen missbraucht wurde. tinnen beschuldigen den Dekan der sexuel-
Jahrelang. Wie Hunderte andere Sportle- schlug ihr auf den Po und sagte: Wenn du len Belästigung, was er bestreitet. Die Er-
rinnen. deine Tage hast, sag mir vorher Bescheid. mittler fanden jedoch belastende Bilder
Sie spricht sechs Minuten lang, weint. Als Letzte kam Rachael Denhollander, auf seinem Computer.
Sie berichtet, wie der Osteopath ihr 33, zu Wort, eine dreifache Mutter aus »Mich überrascht nichts mehr«, sagt Jor-
Snacks zusteckte, wenn sie hungrig war Kentucky. Für viele Amerikaner ist die dyn Wieber. »Larry ist nur ein kleiner Teil
und Angst hatte, vor ihren Trainern zu ehemalige Turnerin zu einer Heldin gewor- des Problems. Viele Leute in vielen Orga-
essen. Sie schaut zu ihm herüber. »Alles, den. Sie hatte Nassars Taten im Herbst nisationen haben uns nicht beschützt – wi-
um mein Vertrauen zu erschleichen.« 2016 öffentlich gemacht, kurz danach wur- der besseres Wissen.«
Nassar, 54, dunkle Haare, randlose Bril- de er verhaftet. Wie einige ihrer Turnkolleginnen hat
le, sitzt zusammengesunken auf einem Am Ende des Gerichtsverfahrens im Ja- auch sie deshalb die MSU und die Sport-
Stuhl. Er gibt sich als gebrochener Mann, nuar 2018 wurde Nassar, der sich nur in verbände USAG und USOC verklagt. Sie
schüttelt immer wieder den Kopf. So, als wenigen Fällen schuldig bekannte, zu bis will zudem erreichen, dass deren Kulturen,
würde sie lügen. Als würden sie alle lügen. zu 175 Jahren Haft verurteilt. Die Richterin Strukturen und Prozesse durchleuchtet wer-
Dr. Lawrence G. Nassar, genannt Larry. wollte mit diesem Strafmaß sicherstellen, den. Sie zeigt dabei denselben Kampfes-
Sein Name steht für den wohl schlimmsten dass er unter keinen Umständen wieder willen, der sie bis zu Olympia gebracht hat.
Missbrauchsskandal in der Geschichte des freikommt. Nicht mal ihre Hunde würde »Sonst können Eltern ihre Kinder nie wieder
Sports. Über Jahrzehnte hinweg verging sie ihm anvertrauen, sagte sie. mit gutem Gefühl zum Turnen schicken.«
er sich an Mädchen und Frauen. In seiner Das Urteil ist gesprochen. Abgeschlos- Jordyn Wieber stand erstmals im Alter
Rolle als Mannschaftsarzt der US-Turne- sen ist der Fall aber noch lange nicht. Im von vier Jahren in einer Turnhalle. Schon
Ehemalige Turnerin Wieber: »Viele Leute haben uns nicht beschützt – wider besseres Wissen«
91
Sport
damals sei sie »ein kleiner Muskelball« ge- Kalamazoo, Michigan, das Turnen liebte. gegangen. Ich war mir sicher, niemand
wesen, erzählt sie. Sie sah, was die Mäd- Das Training verdiente sie sich mit Baby- würde mir glauben. Wenn es Ihrer Bericht-
chen machten, und wollte es auch können. sitten. erstattung hilft, bin ich bereit, öffentlich
»Ich war wie besessen.« Drei Jahre später Nassar sei sehr freundlich gewesen, über alles zu sprechen.«
turnte sie erste Wettkämpfe, bereits mit habe sich erkundigt, auf welche Schule sie Für einen Moment sitzt Rachael Den-
zehn zählte sie zur Elite. Ein Ausnahme- gehe, was sie sonst noch so mache. Dann hollander gedankenverloren in dem Café.
talent. Ein »Hot shot«, sagt sie. Es ist das habe er sie zu ihren Schmerzen befragt Sie kämpft mit den Tränen. Sie habe sich
einzige Mal, dass sie ein Lächeln andeutet. und mit der »Prozedur« begonnen. damals ihrer Trainerin offenbart, weil sie
30 Stunden pro Woche verbrachte sie in »Es war so erniedrigend«, sagt sie. »In mitbekommen hatte, dass diese ein sieben-
der Turnhalle. »Sie war mein Zuhause«, sagt meinem Kopf haben sich die Gedanken jähriges Mädchen zu Nassar schicken woll-
sie. Für die Schule lernte sie abends. überschlagen.« Es sind dieselben wie bei te. Die Kleine hatte Sichelfüße. »Ich habe
Als sie 14 Jahre alt ist, reißt ihr ein Mus- Jordyn Wieber: Er ist so ein berühmter gehofft, dass sie es nicht tun würde, wenn
kel im Oberschenkel. »Das war mit Ab- Arzt, meine Mutter war doch dabei. Im ich ihr von mir erzähle.« Sie schüttelt den
stand die schlimmste Verletzung, die ich Auto, auf dem Weg nach Hause, spricht Kopf. Kurz danach zog die Familie des
je hatte«, sagt sie. Sie bekommt einen Ter- sie kein Wort. Mädchens weg.
min bei Nassar. Er hatte schon ihre Rachael Denhollander sitzt in einem Um 10.32 Uhr an jenem Augustmorgen
Schleimbeutelentzündung im Ellenbogen Café in Louisville, Kentucky, wo sie mitt- drückt sie auf »senden«. Nicht ahnend,
behandelt. »Ich mochte ihn, er war immer lerweile lebt. Sie ist zart, elfenhaft, ihre dass diese E-Mail ihr ganzes Leben ver-
hilfsbereit, der gute Kerl in der strengen langen Haare hat sie zu einem Zopf ge- ändern würde.
Turnwelt«, sagt sie. flochten. Unter dem hellen Mantel wölbt Zwei Wochen lang geschieht nichts,
Doch als er sie dieses Mal behandelt, ist sich ihr Bauch. Sie erwartet ihr viertes dann meldet sich einer der Reporter bei
alles anders. Jordyn Wieber beginnt, auf Kind. ihr. Sie sei nicht die Einzige, die sich ge-
ihrer Lippe zu kauen. Sie habe sich ge- Eigentlich sollte sie sich schonen, aber meldet und den Namen Nassar genannt
krümmt, so unangenehm sei es gewesen. sie ist noch immer im Auge des Hurrikans, habe. Außer ihr sei aber niemand bereit,
»Aber ich dachte, da muss ich jetzt durch, des Sturmes, den sie am Morgen des 4. Au- offen über das Erlebte zu sprechen.
damit die Schmerzen besser werden.« gust 2016 in ihrer Küche entfacht hat. Sie trifft sich mit den Journalisten, fin-
Was er mit ihr gemacht hat, sagt sie Sie hatte gerade ihren Computer hoch- det heraus, dass sie Nassar wider Erwarten
nicht. Nur dies: »Die Prozedur, die inzwi- gefahren, als am Rand des Bildschirms ein doch noch anzeigen kann.
schen jeder kennt.« Artikel geteasert wurde. Der »Indianapolis Rachael Denhollander geht zur Polizei.
Unter dem Vorwand, er würde ihren Be- Star« berichtete, dass der amerikanische Sie schildert einer Beamtin, was Nassar
ckenboden behandeln, ihre Hüften justie- Turnverband Klagen über missbräuchliche mit ihr gemacht hat, oft 20 Minuten lang,
ren oder ihre Muskulatur lockern, pene- Trainer ignoriert habe. Der Name Nassar und wie er sie dabei leise fragte: »Tue ich
trierte Nassar seine Opfer vaginal und anal. wurde an keiner Stelle erwähnt. »Für mich dir weh, Rach?«
Mit den Fingern, ohne Handschuhe. war in dem Moment klar: Das ist meine Sie hat eine Vielzahl von Dokumenten
»Er war der Arzt des Olympiateams. Er Chance«, sagt Rachael Denhollander, »die mitgebracht, darunter ihre Arztberichte
galt als Wunderheiler«, sagt Jordyn Wie- Chance, ihn endlich zu stoppen.« von damals und Aussagen von Experten,
ber. Und dann leiser: »Ich war 14. Ich wuss- Sofort schreibt sie eine E-Mail an die die bestätigen, dass es in der Osteopa-
te das alles nicht besser.« Journalisten: »Ich weiß nicht, ob Sie das thie tatsächlich ein Verfahren gibt, den
Sie habe danach ihre Teamkameradin- interessiert, aber ich wurde vom Teamarzt Beckenboden durch eine »vaginale und
nen gefragt, ob er das bei ihnen auch ma- missbraucht. Ich habe das meiner Traine- anorektale manuelle Therapie« zu stär-
che. Antwort: Ja, das macht er bei uns rin offenbart, Jahre später. Aber sie riet ken. Nassars Vorgehen dagegen halten sie
auch. »Ich dachte, okay, dann muss das mir zu schweigen, ich würde sonst Proble- für alles Mögliche – nur nicht für medizi-
wohl so sein.« me bekommen. Ich bin nicht zur Polizei nisch angemessen.
Noch entscheidender war aber: Bei vie-
len Behandlungen war ihre Mutter oder
ihr Vater anwesend. Nassar platzierte sie
auf einem Stuhl, von dem aus sie nur einen
bestimmten Teil der Behandlungsbank se-
hen konnten.
Es war eine perfide Manipulation Nas-
sars, um jeden Zweifel bei seinen jungen
Patientinnen zu ersticken, dass er etwas
Unerlaubtes tue. Schließlich konnten die
Eltern alles sehen. Glaubten die Mädchen
zumindest.
Rachael Denhollander war 15, als sie
das erste Mal das Behandlungszimmer von
Nassar betrat. 18 Jahre liegt dieser Tag zu-
PAUL SANCYA / PICTURE ALLIANCE
92
Nassar war seit 1996 der Arzt des Na-
tionalteams. Auf die Frage, was ihn am
Turnen fasziniere, antwortete er einmal:
»Es war der Sport, der mir am härtesten
erschien. Ich dachte: Wow, diese Kinder
sind erstaunlich. Und sie beklagen sich
über nichts.«
Am 12. September 2016 erscheint Ra-
chael Denhollanders Geschichte im »In-
dianapolis Star«. Darin kommt auch eine
weitere Athletin zu Wort, anonym. Sie
identifiziert sich später selbst: Es ist Jamie
Dantzscher, sie erturnte mit dem US-Team
2000 eine Bronzemedaille.
Der Artikel wird landesweit auf allen
Kanälen zitiert. So erfährt auch Jordyn
Wieber in Kalifornien davon. »Mein erster
Gedanke war: Das kann nicht sein. Ich
habe es sofort verdrängt«, erinnert sie sich.
»Beim Turnen wirst du darauf getrimmt,
deine Gefühle und Ablenkungen zu igno-
rieren. Es war also leicht für mich, es erst
mal in eine Box zu packen, Deckel drauf,
funktionieren, fertig.« Nachfragen ihrer
Eltern, egal wie einfühlsam sie formuliert
sind, verbittet sie sich.
Erst nach und nach habe sie den Gedan-
ken zugelassen, dass auch sie jahrelang
missbraucht wurde. Wie eine Rüstung
schließt Jordyn Wieber ihre Arme nun um
ihren Oberkörper. »Mein Ding ist: Ich will
nicht als schwach angesehen werden«, sagt
sie. »Ich bin kein Opfer, ich bin eine Olym-
pionikin.« Als sei es ein notwendiger Be-
weis, zeigt sie die Innenseite ihres linken
Handgelenks, ihr Tattoo. Es sind die olym-
A
ls Gianni Infantino 2016 für das Amt des Fifa-Präsi- Johannesburg. Ein Regelbruch? Nein. Die Fifa entschied noch
denten kandidierte, gab er ein Wahlversprechen: am selben Tag, solche Treffen seien ab sofort erlaubt.
mehr Geld für alle. Unter seiner Ägide würden etwa Beispiel zwei: US-Präsident Donald Trump twitterte im
1,3 Milliarden Dollar pro WM-Zyklus an National- April, es wäre eine »Schande, wenn Länder, die wir unter-
und Kontinentalverbände ausgeschüttet werden; eine knappe stützen, gegen die US-Bewerbung lobbyieren würden«. Wa-
Verdreifachung der bis dahin üblichen Zahlungen. Ein über- rum die USA solchen Staaten weiter beistehen sollten, fragte
zeugendes Argument, Jurist Infantino gewann. Trump. Artikel 9, Punkt 1, Ziffer 4 der Fifa-Bewerbungs-
Nun, etwas mehr als zwei Jahre später, fallen Infantino, regularien warnt vor einer »unangemessenen Einflussnahme«
48, die Worte von einst auf die Füße. Rund 700 Millionen einer Regierung auf den Wahlprozess. Ob Trumps Aussagen
Dollar Verlust schrieb der Fußballweltverband in den ver- diesen Tatbestand erfüllen? Die Fifa äußert sich nicht zu
gangenen drei Geschäftsjahren, die Reserven schrumpfen. dem Fall.
Will Infantino Wort halten, braucht er neue Geldquellen. Beispiel drei: Die Marokkaner behaupten, die Fifa habe
Ein wichtiger Termin ist deshalb der 13. Juni in Moskau, sie erst zwei Tage vor Einsendefrist für die Bewerbungsunter-
wenn der Fifa-Kongress tagt, das höchste Entscheidungsorgan lagen über Neuerungen im Anforderungskatalog informiert.
mit Vertretern aller 211 Mitgliedsverbände. Tagesordnungs- Als WM-Spielorte kämen demnach nur noch Städte mit min-
punkt 13: »Die Wahl des Ausrichters der FIFA-WM 2026«. destens 250 000 Einwohnern infrage, wodurch die vorgese-
Ein Kandidat: »United 2026«, eine gemeinsame Initiative henen Austragungsorte Ouarzazate, Nador und Dschadida
Mexikos, Kanadas und der USA. durch das Raster fielen. Die Fifa
Die Macher versprechen Zuschau- weist die Version der Nordafrikaner
er- und Vermarktungsrekorde, stel- zurück, die Auflagen hätten sich seit
len der Fifa elf Milliarden Dollar 2017 nicht geändert.
Gewinn in Aussicht. Traumzahlen. Zur Prüfung der Bewerbungen
Eine Offerte, die Infantino gele- setzte die Fifa eine fünfköpfige Kom-
gen kommt. Doch der Sieg der Ame- mission ein, gespickt mit Günstlin-
rikaner ist unsicher. Der mögliche gen Infantinos. In den vergangenen
Spielverderber: Marokko. Das Kö- Wochen inspizierte das Quintett
nigreich, einziger Konkurrent von mögliche Spielorte und Trainings-
»United 2026«, verheißt ein Sport- stätten, bewertete Status quo und
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fest der kurzen Wege, betont seine Potenzial der Bewerbungen nach
Liebe zum Fußball, beschwört das einem Punktesystem. Mit mögli-
vermeintliche Vermächtnis einer sol- cherweise weitreichenden Folgen:
chen Veranstaltung für Afrika. Nur Funktionär Infantino Sammelt ein Kandidat zu wenige
das Plus für die Fifa sei geringer, Punkte, kann die Kommission des-
lediglich fünf Milliarden Dollar blie- sen Disqualifikation empfehlen. Ein
ben am Ende, weniger als die Hälfte also. Dennoch scheinen Novum. Schon in der Vergangenheit besuchten Fifa-Prüfer
viele Nationalverbände Marokko zu favorisieren: Die Unter- die WM-Aspiranten – ihr Urteil diente den Wählern aber
stützung fast aller 53 afrikanischen Länder gilt als sicher, auch nur als Orientierungshilfe. Katar rangierte nach der Inspek-
aus Teilen Europas und Asiens gibt es Zuspruch. tion vor der Wahl um die WM 2022 auf dem letzten Platz,
Fifa-Boss Infantino bringt das in Bedrängnis, Milliarden bekam dennoch den Zuschlag.
stehen auf dem Spiel. In Moskau greift ein neues Wahlsystem, So wird der Kandidat Marokko peu à peu geschwächt, als
erstmals ermittelt der Kongress in offener Abstimmung den einziger ernsthafter Kandidat bleibt Amerika übrig. »Die
WM-Gastgeber; unter Vorgänger Sepp Blatter votierten nur Fifa wird nicht die Gans schlachten wollen, die ihr ein golde-
wenige Funktionäre hinter verschlossenen Türen, wie inzwi- nes Ei legen könnte«, sagt Simon Chadwick, der sich an der
schen als sicher gilt, unter Einfluss von millionenschweren englischen Salford University mit geopolitischen und ökono-
Bestechungsgeldern. Vorgänge, für die sich bis heute die Straf- mischen Einflüssen auf den Weltsport beschäftigt. »Infantino
ermittlungsbehörden interessieren. ist gerissen. Er weiß, wie er seine Ziele erreichen kann.« Der
Nun sei das Auswahlverfahren »fair, objektiv und transpa- Weltverband selbst betont auf Nachfrage, der Fifa-Präsident
rent«, sagt Infantino. Und gerade das ist sein Problem: Sein sei in das Auswahlverfahren nicht involviert.
Einfluss auf den Wahlausgang ist begrenzt. Infantinos Finten Kommenden Dienstag gibt die Fifa das Ergebnis der Prüf-
der vergangenen Wochen zeigen: Er scheint die Abstimmung kommission bekannt, es könnte Marokkos letzter Tag als
verhindern zu wollen. Mit allen Mitteln. WM-Bewerber sein. »Ich vermute, dass es keine Wahl geben
Beispiel eins: Im Februar unterband die Fifa eine Rede des wird«, sagt Chadwick, die Gefahr eines Abstimmungserfolgs
marokkanischen Verbandspräsidenten bei einem Treffen der der Nordafrikaner sei Infantino wohl zu groß. So bliebe dem
afrikanischen Föderation. Begründung: Verbänden sei jede Fifa-Kongress kaum noch Spielraum: Entweder winken die
Form der Zusammenarbeit mit Bewerbern verboten. Einige Funktionäre »United 2026« durch – oder sie öffnen den Be-
Tage später berichtete der damalige Chef der »United«-Kam- werbungsprozess für neue Interessenten. Eine Entscheidung
pagne öffentlich über seinen Auftritt vor Funktionären in würde dann erst in zwei Jahren fallen. Thilo Neumann
»Stimmungskiller«
SPIEGEL: Gerade die Unterbrechungen
durch den Videobeweis verhindern dies,
sie wirken sehr störend für das Spiel.
Plessner: Und das kann noch schlimmer
werden. Als im Turnen der Videobeweis
Fußball Der Sportpsychologe Henning Plessner über Sinn eingeführt wurde, dauerte es nicht lange,
und Unsinn des Videobeweises bis sich die Kampfrichter jede Entschei-
dung durch Videobilder absichern lassen
wollten. Das ist ein zirkulärer Prozess: Je
Plessner, 53, ist Professor für so aus, als falle Martínez durch die Be- mehr ich mich abzusichern versuche, desto
Sportwissenschaft, Schwer- rührung. Wenn man sich die Szene in der unsicherer werde ich. Das Vertrauen in die
punkt Psychologie, an der Originalgeschwindigkeit anschaut, kann eigene Entscheidungsfähigkeit schwindet.
Universität Heidelberg. Er man erkennen, dass Martínez nach dem Mit der Folge, dass ich noch mehr Absiche-
forscht unter anderem da- Treffer am Fuß für einen kurzen Moment rung suche.
rüber, wie sich Kampfrich- noch steht. Er hätte stehen bleiben kön- SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
ter- und Schiedsrichterleis- nen, fällt dann aber plötzlich um. Heißt: Plessner: Klarere Regeln als bisher, wann
tungen optimieren lassen. Er hat nachgeholfen, er wollte den Elf- Videobilder herangezogen werden. Vor al-
meter schinden. In diesem Fall verzerrt lem aber müssen Schiedsrichter besser ge-
SPIEGEL: Herr Plessner, hat der Schieds- die Zeitlupe das Geschehen eher, statt es schult werden. Wir hatten ein Projekt für
richter dem FC Bayern München den aufzuklären. den DFB, in dem Schiedsrichtern Video-
Pokalsieg 2018 gestohlen? SPIEGEL: Ziehen Sie die Objektivität des szenen in Echtzeit vorgespielt wurden. Sie
Plessner: Sie spielen auf das angebliche Videobeweises in Zweifel? mussten sofort Entscheidungen treffen,
Foul des Frankfurters Kevin-Prince Boa- Plessner: Schon das Wort Videobeweis und ihnen wurde unmittelbar zurückge-
teng im Strafraum gegen Javier Martínez ist Unsinn. Mit den Bildern aus Köln wird meldet, ob sie richtiglagen. Dadurch wur-
in der 93. Minute an. Schiedsrichter Zwayer kein Beweis geliefert. Es ist lediglich eine de die Entscheidungsgenauigkeit trainiert.
versagte den Bayern trotz einer Videoüber- technische Entscheidungshilfe, auf deren Die Ergebnisse waren sehr gut.
prüfung einen Elfmeter. Ich kann seine Ent- Grundlage weiterhin der Schiedsrichter SPIEGEL: Macht der Videobeweis das
scheidung nachvollziehen, seine Argumen- allein entscheiden muss. Spiel gerechter?
te gegen einen Elfmeter halte ich für über- SPIEGEL: Sind Sie gegen den Videobeweis? Plessner: Gerechtigkeit ist das oberste Ziel
zeugend. Plessner: Nicht grundsätzlich, bei Tätlich- im Sport: Es soll der bessere Athlet, die bes-
SPIEGEL: Mit dieser Ansicht stehen Sie keiten, die der Schiedsrichter nicht gesehen sere Mannschaft gewinnen. Wird die unter-
ziemlich allein da. Selbst Frankfurter Spie- hat, oder der Frage, ob der Ball hinter der graben, ist das Spiel kaputt. Wenn man ganz
ler sagen, Boateng habe foul gespielt. Torlinie war, ist er sinnvoll. Aber bei Hand- konsequent wäre, dann müsste man es auch
Plessner: Auch wenn die Frankfurter spielen wird es schon schwierig. Da spielt ahnden, wenn Spieler wie in der Szene mit
zustimmen, muss das nicht automatisch die Absicht des Spielers eine wichtige Rolle, Martínez betuppen wollen. Und man muss
Elfmeter heißen. Aus Studien wissen wir, und dort helfen dem Schiedsrichter Zeit- es härter bestrafen, wenn die Autorität des
dass Spieler und Trainer wenig geeignet lupen aus mehreren Positionen recht we- Schiedsrichters unterhöhlt wird.
sind, objektive Schiedsrichterentscheidun- nig. Außerdem kommt es ja nicht nur auf SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
gen zu treffen. Ich hätte mir gewünscht, die korrekte Einhaltung der Regeln an. Plessner: Im Rugby zum Beispiel ist das
dass Kollegen von Zwayer ihm in der SPIEGEL: Wie bitte? Spiel viel härter, es ist komplizierter für die
öffentlichen Erregung stärker beigesprun- Plessner: Der Schiedsrichter soll auch das Schiedsrichter. Dennoch werden dort alle
gen wären. Spiel leiten, mit Fingerspitzengefühl, er Entscheidungen ohne Murren akzeptiert.
SPIEGEL: Aber Foul bleibt Foul. soll für Spielfluss sorgen. Das steht nicht Vor dem Fußballpokalendspiel der Männer
Plessner: Das ist die zentrale Tücke des im Regelwerk, wird den Schiedsrichtern wurde im Fernsehen das Finale der Frauen
Videobeweises: In der Zeitlupe sieht es aber auf jedem Lehrgang beigebracht. übertragen. Auch dort gab es strittige Sze-
nen. Der Reporter wunderte sich, dass die
Spielerinnen alle Entscheidungen akzeptier-
ten, ohne zu protestieren. Dabei sollte das
die Regel sein, nicht die Ausnahme.
SPIEGEL: Kritiker des Videobeweises sa-
gen, die Emotionalität des Spiels gehe ver-
loren. Sehen Sie das auch so?
Plessner: Ich war beim Spiel zwischen Le-
verkusen und Hannover, kurz vor Schluss
ein Elfmeterpfiff, Stefan Kießling hätte in
dem letzten Bundesligaspiel seiner Karrie-
re ein Tor schießen können – eine traum-
hafte Romantik. Und dann nimmt ihm der
Videoschiedsrichter diese Möglichkeit.
Das ist natürlich blöd, ein Stimmungskiller
TIMGROOTHUIS / WITTERS
JETZT
EL
IM H A N D
WEIT ER VORA N
Kultur
Der Gedanke an die eigene Mutter ist manchmal stärker als jede Erektion. ‣ S. 106
Kino I
Wasserstoffblonde
Kämpferin
G Den Kokainentzug hat sie gerade
hinter sich. Jetzt wartet Angie – um
die dreißig und von Beruf C-Promi-
nente – auf den nächsten Karriere-
schritt: eine Einladung ins »Dschungel-
camp«. Bis dahin versucht sie, von
Auftritten in Diskotheken und bei Spon-
sorenpartys zu leben. Ein trostloser
Job für jeden, der noch einen Rest
Selbstachtung besitzt, wie der Spielfilm
»Back for Good« zeigt. »Du hast so
haben einen Fehler gemacht und wollen Wahrscheinlich hat die Welt schon raf-
von nun an gehorsame Bürger einer Repu- finiertere Krisen-PR erlebt. Diese Insze-
blik der guten Werte sein. nierung hat etwas Rührendes, weil sie
Die Fotos sind Waffen in einem kleinen so tut, als gäbe es das noch: ein gemeinsa-
Krieg um die Frage, wem diese beiden mes Wir, das alle wollen und alle ein-
Fußballjungs gehören. Den Deutschen? schließt. Ist natürlich nicht so. Lothar Gorris Riedle in »Back for Good«
98
Kulturpolitik Schafhausen: Das ist ein Vorwurf, der Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
»Ressentiments
wohl im Raum stehen bleiben wird. Ich
gehe aber erst im kommenden März, Früher klug
und Ausgrenzung«
also nicht von heute auf morgen. Und es
ist auch eine psychologische Entschei- Die Jugend kommt mir im Rück-
dung, es gibt Ressentiments gegen blick vor wie jene Phase, in der
Der deutsche Kurator Nicolaus alle, die von außen kommen und alle Erwachsenen immer von
Schafhausen, 53, über seine Gründe, diese nationale Show im Land nicht früher redeten. Dieses Früher
die Leitung der städtischen Wiener mitmachen, diese österreichische war aber für uns Heranwach-
Kunsthalle vorzeitig abzugeben, die Selbstdarstellung. Jeder von außen ist sende so wenig differenziert wie
er 2012 übernommen hatte da ein Nestbeschmutzer, also auch ich. das Erwachsensein überhaupt. Der
Die Angriffe kommen zum Beispiel über für diese Personen, die Auto fuhren, ins
SPIEGEL: Herr Schafhausen, in einem soziale Medien. Für mich ist das hier ein Büro gingen, Urlaube planten und Steuer-
Statement beklagen Sie den zu- Leben im Konjunktiv, was wäre, wenn, erklärungen machen mussten, so unerhört
nehmenden Nationalismus in Öster- was sollte sein. Das will ich nicht mehr. wichtige Unterschied zwischen einem 40.
reich. Wie wirkt sich der auf Ihre SPIEGEL: Haben Sie Ihren Glauben an und einem 50. Geburtstag, von den nach-
Arbeit aus? die Kraft der Kunst verloren? folgenden gar nicht zu reden, erschloss sich
Schafhausen: Ich habe keine inhalt- Schafhausen: Zumindest brauchen niemandem unter 20: Alle diese Menschen
lichen Einschränkungen erfahren, etwa wir wohl neue Modelle der Kultur- waren ohnehin jenseits der eigenen Erfah-
wenn es um das Ausstellungsprogramm vermittlung und nicht nur Museen als rungswelt, jenseits allen Verständnisses.
geht. Doch wir leben mit einer beson- touristisches Marketing. UK Und die meisten Versuche der anderen Sei-
deren Stimmung in der Stadt, im Land. te, diese San-Andreas-Verwerfung zwi-
SPIEGEL: Wie lässt sich diese Stimmung schen den Generationen zu überbrücken,
beschreiben? begannen mit einem »Früher«. Keines-
Schafhausen: Es gibt ein Leben in wegs ein Damals. Das wäre eigentlich die
Wien abseits des Tourismus und angemessene Tonart gewesen für eine
der Wohlfühlzonen, und der Alltag ist Geschichte aus grauer Vorzeit, ein Mär-
bestimmt davon, dass sich die Men- chen aus einem Land, das es nicht mehr
schen gegenseitig ausgrenzen. Die gab oder vermutlich niemals gegeben hatte
Flüchtlinge müssen für noch viel mehr – denn man hörte den Erwachsenen ja an,
herhalten als in Deutschland. Die Öster- dass sie nicht in aktiver Erinnerung, son-
reicher sind trainiert, sich selbst auch dern in Anekdoten sprachen: Das meiste,
noch als Opfer darzustellen. Das rot was es zu hören gab, war nicht im
regierte Wien erweckt gern den Ein- Gespräch entwickelt, sondern eine Kleinst-
druck, mit dem Rest des Landes nichts vorstellung in pädagogischer Absicht. Hier
zu tun zu haben, und doch arrangiert sollte das Gegenüber nicht einmal zum
man sich. Hinzu kommt: Das Land ist Nachdenken gebracht werden, sondern zur
SABINE HAUSWIRTH / KUNSTHALLE WIEN
Grütters, 1962 in Münster geboren und seit Grütters: Das stimmt. Nur war man da- Grütters: Geißler war damals fast so etwas
2013 Kulturstaatsministerin, ist neben An- mals generell nicht gerade zimperlich im wie ein Apostel, ein Glücksfall für die C-
gela Merkel und Ursula von der Leyen die Umgang miteinander. Partei; er stand für die katholische Sozial-
einzige Politikerin, die aus der alten in die SPIEGEL: Sie haben Geisteswissenschaften lehre als politisches Element. Später hat
neue Regierung gewechselt ist. Sie emp- studiert, da wehte der Geist links. Fühl- Norbert Blüm das verkörpert. Heute feh-
fängt in ihrem Büro im Kanzleramt, mit ten Sie sich gemobbt von Ihren linken len uns markante Vertreter dieser Haltung.
Blick auf den Reichstag. Es geht um Fragen Kommilitonen? SPIEGEL: Jens Spahn, indirekt ein Nach-
der Identität, die Renaissance konserva- Grütters: Die schärfste Form solchen Mob- fahre Blüms als CDU-Sozialpolitiker, müss-
tiver Werte und ihren persönlichen Ehrgeiz bings habe ich in Münster erlebt, wo ich te Ihnen doch sympathisch sein: wie Sie
auf andere Ämter. zuerst studiert habe. Als sich der Asta vor- katholisch und aus dem Münsterland.
stellte, saß ich im Publikum für den Ring Grütters: Jens Spahn und ich sind uns auch
SPIEGEL: Frau Grütters, Sie sind 1978 in Christlich-Demokratischer Studenten, bis sympathisch. Aber er begründet seine Poli-
die Junge Union eingetreten, als 16-Jäh- der Hausmeister kam und mich – auf dem tik öfter etwas pointierter, als ich es täte.
rige. Warum? Stuhl sitzend – heraustrug. Ich würde da SPIEGEL: Er hat den Eindruck erweckt,
Grütters: Weil wir in Münster gute CDU- nicht hingehören, meinte er. Später bin ich den Hartz-IV-Empfängern ginge es nicht
Leute hatten. Und weil ich schon damals nach Bonn gewechselt. Das war die Zeit schlecht.
ein politischer Mensch war. der Demos im Hofgarten, gegen Pershing Grütters: Erfolgreiche Politik hat viel mit
SPIEGEL: Der Zeitgeist der Siebzigerjahre II und die Nachrüstung. Empathie zu tun. Die Grundlagen dafür
war völlig anders: Da waren die Langhaa- SPIEGEL: Haben Sie mitdemonstriert? sind bei mir in dem sehr undogmatischen
rigen, die Punks – und dazwischen Sie, das Grütters: Wir haben viel diskutiert, über christlich-katholischen Milieu Münsters
Mädchen von der Jungen Union? Aufrüstung, über das Gleichgewicht der gelegt worden. Vielleicht würde ich des-
Grütters: Auch wir waren locker und etwas Kräfte oder: Wenn der Klügere immer halb solche Aussagen so nicht treffen. Ich
widerspenstig. Auch ich wollte unbedingt nachgibt, regieren nur noch die Dummen. habe einen tief verwurzelten Respekt vor
mit einem Palästinensertuch herumlaufen Ein naiver Pazifismus war unsere Sache Menschen in völlig anderen Lebenslagen
oder mit diesen lila gefärbten Windeln um nicht, Hochrüstung aber auch nicht. als meiner eigenen, doch eher privilegier-
den Hals. Oder Patschuliparfum und Vanil- SPIEGEL: Haben Sie damals nie an der ten. Allerdings: Parteien brauchen Strate-
letee, Berberjacke, Parka, Kreppsohlen- CDU gezweifelt? gen, die gezielt Positionierungen vorneh-
schuhe, Clogs – all das musste sein. Ich habe Grütters: Doch, als Kurt Biedenkopf Mitte men, um sie hinterher wieder ein Stück
mich mit meiner Jeans in die Badewanne der Achtziger von Helmut Kohl als Spitzen- weit zurückzunehmen. So steckt man
gelegt, damit sie wirklich hauteng ist, oder kandidat in NRW abserviert wurde. Und Claims und Ziele ab.
nachts heimlich Flicken daraufgenäht. Mei- später, 1989, als Heiner Geißler als CDU- SPIEGEL: Wenn die Sozialpolitiker Geiß-
ne Mutter meinte: Damit kannst du nicht Generalsekretär das Feld räumen musste, ler und Blüm Ihre Vorbilder waren – wa-
als Messdienerin vor den Altar treten … auch er irgendwie ein Opfer Kohls. Ich rum sind Sie dann in die Kulturpolitik
SPIEGEL: Haben Sie denn Franz Josef habe per Brief meinen Parteiaustritt mit- gegangen?
Strauß unterstützt? 1980, als Sie 18 waren, geteilt und ihn wohl auch abgeschickt, aber Grütters: Weil ich mich von Anfang an für
trat er als Kanzlerkandidat der Union an. ich glaube, die haben das bei der CDU nie Literatur, für Kunst und Geschichte inte-
Grütters: Strauß fand ich echt schwierig. registriert. ressiert habe. Und dafür, nach grundsätz-
Aber als er auf einem Poster als Fleischer- SPIEGEL: Warum hat Sie die Sache mit lichen Zusammenhängen zu suchen und
meister, als Schlächter verunglimpft wurde, Geißler so aufgebracht? sich nicht nur in der Tagespolitik zu er-
haben sogar wir Jüngeren uns mit ihm so- Grütters: Ich bin bis heute eine große Be- schöpfen. Das ist kein Widerspruch zum
lidarisiert. wunderin Heiner Geißlers, der eine intel- sozialpolitischen Denken.
SPIEGEL: Das war ein Plakat des Politgra- lektuelle Schärfe hatte, der austeilen konn- SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
fikers Klaus Staeck, eines SPD-Mitglieds. te und einstecken. Vor allem hat er die Grütters: Dass die Kulturpolitik in den ver-
Strauß war für viele ein Gottseibeiuns, für CDU sozialpolitisch geformt und bis heute gangenen Jahren ganz anders in die Wahr-
die Linke damals in etwa das, was heute nachhaltig geprägt. nehmung der allgemeinen Öffentlichkeit
die AfD ist. SPIEGEL: Hat er die Sozialdemokrati- gerückt ist, zeigt doch, dass »Kultur«
Grütters: Mutige These. sierung der CDU eingeleitet, die schließ- schon lange keine Milieufrage mehr ist,
SPIEGEL: Für seine politischen Gegner war lich zu einer Kanzlerin Angela Merkel sondern dass hier in einem breiteren Kul-
er die Hassfigur schlechthin. führte? turbegriff viele gesamtgesellschaftliche Fra-
101
gen verhandelt werden. Daraus leiten sich
viele, zum Beispiel bildungs- und sozial-
politische, Aspekte ab.
SPIEGEL: Welche?
Grütters: Beispielsweise eine Flüchtlings-
politik, die dem Grundgedanken der Barm-
herzigkeit verpflichtet ist. Macht endlich
Ernst mit dem C in unserem Parteinamen!
Deshalb bin ich nach wie vor überzeugt
davon, dass die Bereitschaft zur Aufnahme
von Flüchtlingen in akuter Not grundsätz-
lich richtig war und dass wir die damit zu-
sammenhängenden Probleme in den Griff
bekommen. Schlimmer, als daran zu schei-
tern, wäre, es gar nicht erst versucht zu
haben.
SPIEGEL: Wir sitzen hier in Ihrem Büro
mit Blick auf das Kreuz an der Wand. War
es klug vom bayerischen Ministerpräsi-
denten Markus Söder, ein Kreuz für jede
bayerische Amtsstube zu verordnen?
Grütters: Jemand, der das Bekenntnis
nicht mehr so gewohnt ist und dem es
nicht selbstverständlich zur Haltung ge-
worden ist, neigt im Bekenntnisfall auch
mal zu Übereifer und Unbeholfenheit.
Man kann über die Amtszimmer das
Kreuz nicht wieder in die Herzen der Men-
schen verpflichten. Ich finde, der Ge-
brauch zum Zwecke der Politik ist nicht
nur fatal, sondern gefährlich. Das entwer-
tet das Kreuz.
SPIEGEL: Ist die christliche Partei über-
haupt noch christlich?
Grütters: Zumindest fehlt manchmal das
ausdrückliche Sichbesinnen, die Berufung
auch funktioniert. Dabei geht es übrigens Grütters: Und die hatte ordentlich zu Grütters: Es ist für mich eine große Ehre
nicht nur um Geschlechtergerechtigkeit, kämpfen. und Herausforderung, auch heute schon
sondern vor allem um eine Vielfalt der SPIEGEL: Waren, als Sie anfingen, sexuelle meiner Wahlheimat, dieser großartigen
Perspektiven. Übergriffe in der Politik üblich, und man Stadt Berlin, in meinem politischen Amt
SPIEGEL: Aus welchem Antrieb heraus? sprach einfach nicht darüber? dienen zu können. Wie es weitergeht,
Weil Sie die vorherige Situation als unge- Grütters: Ich habe keine erlebt und kann wenn ich diese zweite Amtszeit als Kultur-
recht empfanden? deshalb da nicht mitreden. staatsministerin vorangebracht habe,
Grütters: Weil ich es falsch finde, auf das SPIEGEL: Haben Sie je davon gehört? möchte ich in Ruhe entscheiden.
Potenzial der Frauen zu verzichten. Bei Grütters: Nein, und wenn das ein latenter SPIEGEL: Sie schließen eine Kandidatur
den Gremien im Filmbereich zum Beispiel Charakterzug der damaligen Politik gewe- nicht aus.
kann sich keiner herausreden, es gäbe die- sen wäre, wüsste ich es. Grütters: Entscheiden werden wir das –
se Frauen nicht. Es gibt sie. Deshalb haben SPIEGEL: Der FDP-Politiker Wolfgang Ku- unabhängig von meiner Person – nicht vor
wir auch das Filmförderungsgesetz geän- bicki erwähnte einmal die einschlägige 2020, weil man jeden Kandidaten, jede
dert, zugunsten einer stärkeren weiblichen Atmosphäre in der Hauptstadtpolitik. Er Kandidatin verheizen würde, wenn man
Präsenz in Gremien. wäre – so sagte er 2010 – »vielleicht zum sie zu früh nennt. Für mich ist das ein ech-
SPIEGEL: Viele Männer reagieren auf sol- Hurenbock« geworden, wäre er länger in tes inneres Ringen.
che Veränderungen allergisch. Berlin geblieben. SPIEGEL: Weil Sie sich ein Leben als Kul-
Grütters: Klar – einige denken, dass wir Grütters: Gott sei Dank gehört er nicht zu turstaatsministerin auch über diese Amts-
ihnen etwas wegnehmen. Dass sie es so unserer Partei. zeit hinaus vorstellen könnten?
empfinden, lässt tief blicken. Sie haben Grütters: Gemach, gemach – nun hat ja
schließlich keinen Anspruch auf Macht erst mal meine zweite Amtszeit hier be-
und Einfluss. Außerdem wissen wir doch gonnen. Ich habe Ideen, auch Leidenschaf-
inzwischen alle: Gemischte Teams sind »Männer haben mich ten für manche Vorhaben. Und ich bin un-
erfolgreicher. gefördert – so lange, geduldig, das merkt man ja. Deshalb gehe
SPIEGEL: Im Film- und Fernsehbereich hat ich mit Eifer an die jetzt anstehenden Auf-
man den Eindruck, sexualisierter Macht-
bis ich auf Augenhöhe gaben.
missbrauch sei ein strukturelles Problem. angekommen war.« SPIEGEL: Es könnte eine schwierige Amts-
Grütters: Ja, denn die asymmetrischen zeit werden, weil Ihr Vorzeigeprojekt – das
Machtverhältnisse sind leider typisch für Humboldt Forum im Stadtschloss – zur
diese Branchen. SPIEGEL: Er schilderte ein parteiübergrei- Blamage zu werden droht. Vor langer Zeit
SPIEGEL: Wobei im WDR, der zuletzt in fendes Milieu. wurde beschlossen, dort Schaustücke aus
diesem Zusammenhang in die Schlagzei- Grütters: Das sagt mehr aus über ihn als außereuropäischen Kulturen zu präsentie-
len geraten ist, viele Frauen in Führungs- über die Politik. Allein seine Sprache ist ren, aber erst jetzt kommt man darauf, die
positionen sitzen. Dort regierte lange verräterisch. Es bleibt also hoffentlich sein dazugehörige Kolonialzeit zu thematisie-
eine Intendantin, dort arbeiten Chefre- Spezialproblem. ren. Ein wenig zu spät, um glaubwürdig
dakteurinnen. Dort gibt es eine hohe SPIEGEL: Und diese Welt, die er da andeu- zu sein.
Frauenquote. tet, haben Sie nie erlebt? Grütters: Ich nehme unsere Museen
Grütters: Sie können auch als Frau in einer Grütters: Nein, im Gegenteil. Ich bin anders wahr. Sie wissen viel über unsere
sehr großen Institution nicht überall ver- von Männern, auch in der Berliner Union, Objekte und stellen das dar. Aber das
hindern, dass jemand übergriffig wird. immer gefördert worden. Allerdings nur öffentliche Interesse ist – anders als zur
Aber viel zu lange waren Scham und so lange, bis ich auf Augenhöhe ange- Zeit der Dahlemer Ausstellungen – stark
Angst stille Begleiter. Dieses Schweigekar- kommen war. Dann wurde es auch ein- gestiegen, gerade auch an den Herkunfts-
tell darf es nicht mehr geben. Und übri- mal schwierig. Aber das gilt für Männer geschichten aus kolonialen Kontexten. Da
gens: Von neun ARD-Intendanten plus wie Frauen gleichermaßen. Und klar, hat das Humboldt Forum wie ein Kataly-
Deutsche Welle und Deutschlandradio es gibt überall auch ziemliche Rüpel. sator gewirkt, und zwar schon vor seiner
sind gerade einmal zwei weiblich. In der SPIEGEL: Was meinen Sie? Eröffnung.
Zeitungsbranche ist es übrigens auch nicht Grütters: Na, wenn man Sätze hört SPIEGEL: Der Katalysator waren doch
besser: In Regionalzeitungen sind 95 Pro- wie: »Setz dich neben mich, gibt gute eher die Aktivistengruppen, die ein Um-
zent aller Chefs Männer. Das hat natürlich Bilder.« denken eingefordert haben, die infrage
Auswirkungen auf die Auswahl und Auf- SPIEGEL: Heute führen Sie die Berliner stellten, ob uns überhaupt gehören darf,
bereitung der Themen. Und jetzt bestätigt CDU an. Könnten Sie sich vorstellen, was da ausgestellt werden soll.
eine aktuelle Studie zu den Vorständen in 2021 für das Amt der Regierenden Bürger- Grütters: Ja, die sind während des Richt-
Dax-Unternehmen, dass Deutschland da meisterin zu kandidieren? festes sogar zu mir auf die Bühne gestiegen.
Schlusslicht ist. Und ich habe sie damals schon zum Dialog
SPIEGEL: Sehen Sie sich Ihre eigene kul- eingeladen. Das Thema Kolonialismus war
turelle Großunternehmung an, das Hum- lange ein blinder Fleck in der Erinnerungs-
boldt Forum. Da wirken an den wirklich kultur. Diese Erinnerungskultur ist mir
entscheidenden Stellen Männer. wichtig, nicht weil ich mir einrede, man
Grütters: Aber nicht ausschließlich, und könnte Menschen läutern, aber man kann
HANNES JUNG / DER SPIEGEL
wir müssen noch wichtige Positionen be- sie sensibilisieren für Unrecht.
setzen, für die wir gezielt Frauen anspre- SPIEGEL: Und dann müssen Sie bei aller
chen werden. Aufarbeitung, bei aller Erinnerungskultur
SPIEGEL: Die CDU war vor Merkel von auch noch die Leerstelle im Auge behalten,
Männern dominiert, von Ausnahmen wie die von der Rechten bewirtschaftet wird –
Rita Süssmuth abgesehen. denken Sie an den AfD-Mann Björn
Grütters, SPIEGEL-Redakteure* Höcke, der das Holocaust-Mahnmal ein
* Sebastian Hammelehle und Ulrike Knöfel in Berlin. »Ich bin ungeduldig, das merkt man ja« »Denkmal der Schande« nannte. Vernach-
103
Kultur
DER SPIEGEL live im lässigen wir den Blick auf die positiveren
Kapitel der deutschen Geschichte?
Grütters: Warum wollen Sie das gegen-
privat
privat
Grütters: Wir waren in den vergangenen
70 Jahren zu Recht mit der Aufarbeitung
der monströsen Verbrechen der NS-Dik-
tatur beschäftigt. Das war und ist richtig
und absolut notwendig. Aber zur deut-
schen Geschichte gehören eben auch die
positiven Momente, mit denen wir uns in
der Vergangenheit durch die Überlagerung
der beiden Weltkriege, die von Deutsch-
Nicolas Berg Christine Achinger Gerhard Scheit »Der AfD liegt vielleicht
die Bewahrung des Erbes
näher, von den Burgen
Das ökonomische Denken nicht-jüdischer Deutscher ist tief
bis zu Grimms Märchen.«
vom Antisemitismus geprägt. Warum? Darüber spricht
die SPIEGEL-Redakteurin Dr. Eva-Maria Schnurr land ausgingen, schwergetan haben. Im
Land Berlin denkt man jetzt über einen
mit dem Autor Dr. Gerhard Scheit sowie den Historikern neuen Feiertag nach, und mit einem sol-
Dr. Christine Achinger von der University of Warwick und chen Tag könnte man erinnern an den
18. März 1848, auch an den 17. Juni 1953,
Dr. Nicolas Berg vom Simon-Dubnow-Institut Leipzig. den Tag des Arbeiterwiderstandes in der
DDR. Oder an die friedliche Revolution
von 1989, immerhin das größte Ereignis der
jüngeren Geschichte. Bisher ehren wir diese
mutigen Anfänge dort ja viel zu wenig.
SPIEGEL: Ausgerechnet die AfD hat den
Anspruch auf den Vorsitz des Unteraus-
schusses für Auswärtige Kulturpolitik. Der
Montag, 18. Juni 2018, 18.00 Uhr erste Kandidat, der aufgestellt wurde, ist
abgelehnt worden. War das politisch klug?
Zeughauskino, Deutsches Historisches Museum, Grütters: Nun ja, die AfD-Abgeordneten
Unter den Linden 2, 10117 Berlin sind jetzt unsere Kollegen im Deutschen
Bundestag, und da gibt es Regeln, die wir
Der Eintritt ist frei. Anmeldung erbeten bis zum 15. Juni unter einhalten. Wenn die AfD also einen An-
https://events.dhm.de. spruch auf einen Ausschussvorsitz hat,
Weitere Informationen unter www.spiegel-live.de. finde ich es schwierig, das zu konterkarie-
Einlass ist ab 17.00 Uhr. Änderungen vorbehalten. ren. Aber auch da hängt, wie so oft, viel
Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich davon ab, welche Personen vorgeschlagen
für unseren Newsletter unter spiegel-live.de an.
werden. Insgesamt gilt jedoch: Wir müs-
sen mit den AfD-Politikern korrekt und
regelkonform umgehen, selbst wenn das
bei mancher Pöbelei aus der Fraktion
schwerfällt.
SPIEGEL: Und wenn der AfD-Politiker
Marc Jongen sagt, er wolle den Kultur-
betrieb »entsiffen«?
104
Grütters: Das ist nicht mehr als eine Wort-
hülse, vieles darf man bei denen nicht zu
ernst nehmen. Da geht es in erster Linie
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
um Provokation. Aber wir müssen klar nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Haltung zeigen, wenn es um die Verteidi-
gung einer freien, unabhängigen, auch Belletristik Sachbuch
sperrigen und unangepassten, aber dis-
kursfreudigen Kunst und Kultur geht. Das
ist das Lebenselixier unserer aufgeklärten 1 (1) Frank Schätzing 1 (2) Richard David Precht
Demokratie. Das gilt auch bei der Diskus- Die Tyrannei des Schmetterlings Jäger, Hirten, Kritiker Goldmann; 20 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro
sion, ob wir wieder zu einem nationalen 2 (1) Bas Kast Der Ernährungs-
Kulturbegriff kommen müssen. 2 (2) Volker Klüpfel / Michael Kobr kompass C. Bertelsmann; 20 Euro
SPIEGEL: Und, muss man? Kluftinger Ullstein; 22 Euro
Grütters: Nationale Identität erwächst zu- 3 (–) Jan Frodeno Eine Frage
allererst aus dem Kulturleben eines Lan- 3 (4) Maja Lunde der Leidenschaft Ariston; 20 Euro
des und nicht aus der Dichte eines Auto- Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro
bahnnetzes. Kultur wiederum beruht zum 4 (–) Otto Waalkes
4 (3) Jojo Moyes Mein Herz Kleinhirn an alle Heyne; 22 Euro
einen auf der Bewahrung des materiellen
in zwei Welten Wunderlich; 22,95 Euro
und immateriellen Erbes, was der AfD 5 (5) Peter Hahne Schluss mit euren
vielleicht näherliegt, also von der Bewah- 5 (5) Ferdinand von Schirach ewigen Mogelpackungen! Lübbe; 10 Euro
rung von Burgen und Schlössern bis hin Strafe Luchterhand; 18 Euro
zu den großen Mythen und Grimms Mär- 6 (3) James Comey
chen. Zum anderen geht es aber auch um 6 (7) Martin Walker Größer als das Amt Droemer; 19,99 Euro
die Ermöglichung der gesellschaftlichen Revanche Diogenes; 24 Euro
ten wollen und müssen wir prüfen, ob alles Olga Diogenes; 24 Euro
14 (–) Ingo Zamperoni
so bleiben kann und ob die Struktur von Anderland
damals den Aufgaben von heute noch ge- 14 (17) Haruki Murakami Die Ermordung des
Commendatore Band II DuMont; 26 Euro Ullstein; 18 Euro
recht wird. Denn es stimmt, es sind oft zu
wenige Besucher, es gibt schwierige Hie- 15 (16) Ralf Rothmann Der Gott Er ist nicht der Einzige,
rarchien, es herrscht mitunter noch eher jenes Sommers Suhrkamp; 22 Euro der an Trump ver-
ein Amtsverständnis und zu wenig ein Ser- zweifelt. Aber Mr Tages-
16 (20) Lucinda Riley themen hält trotzdem
vice- und Dienstleistungsdenken. an seiner Faszination für
SPIEGEL: Die ehemalige Messdienerin Die Perlenschwester Goldmann; 19,99 Euro die USA fest
Grütters agiert als Staatsministerin mit har-
17 (18) Marc-Uwe Kling 15 (6) Michael Wolff
ter Hand. Sie haben einmal gesagt, es fehle
QualityLand Ullstein; 18 Euro Feuer und Zorn Rowohlt; 19,95 Euro
der Mut zur Autorität.
Grütters: Mir hat noch niemand mangeln- 18 (15) Éric Vuillard 16 (13) Yuval Noah Harari
den Mut unterstellt. Autorität in einem Die Tagesordnung Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
schwierigen Umfeld ist gut und richtig, Matthes & Seitz; 18 Euro
manchmal auch gerade in dieser kreativen Was später zur Weltgeschich- 17 (14) Elke Heidenreich
Szene, die ja mitunter eigenwillig und an- te gerinnt, muss auch Alles fließt Corso; 24,90 Euro
spruchsvoll sein kann. Aber auch die Fä- lächerliche Aspekte gehabt
haben. Der Franzose betrach- 18 (15) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt
higkeit zum fairen Ausgleich gehört dazu, tet Hitlers Machtübernahme
ein kommunikatives Talent, Zuneigung aus dieser Perspektive Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
und Lust auf die Herausforderung. Man 19 Greta Silver Wie Brausepulver
19 (–) Elena Ferrante Die Geschichte (–)
sollte das alles haben. des verlorenen Kindes Suhrkamp; 25 Euro auf der Zunge Scorpio; 18 Euro
SPIEGEL: Frau Grütters, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch. 20 (19) Nina George Die Schönheit 20 (19) Wilhelm Schmid
der Nacht Knaur; 18,99 Euro Selbstfreundschaft Insel; 10 Euro
SPIEGEL TV
pier, im Nachruf auf einen anderen ameri- Ära, die Ende der Sechzigerjahre unter
kanischen Schriftsteller, Joseph Brodsky, anderem mit »Portnoys Beschwerden« be-
den legendär gewordenen Satz schrieb: gann, neigt sich auch deshalb dem Ende Gebirgszüge auf Korsika
»Wir protestieren gegen diesen Tod.« Der zu, weil es heute nicht mehr darum geht,
Feuilletonist als letzte Berufungsinstanz die Sexualität zu befreien, sondern wieder Autonomie, wenn auch nicht voll-
gegen ein eigentlich unabwendbares Schick- darum, sie einzuhegen. ständige Unabhängigkeit von
sal. Darunter machte man es nicht. Doch es ist nicht nur das Zeitalter der Frankreich. Ansichten einer rauen
Die abendländische Literaturgeschichte, Libertinage, das nun endet, es ist auch das Mittelmeerinsel.
die so richtig ja erst mit der Säkularisie- Zeitalter der Helden. Es gibt viele erfolg-
rung, mit der Aufklärung des 18. Jahrhun- reiche Schriftsteller und Schriftstellerin-
derts begann, ist eine einzige Geschichte nen, Schreiber mit Fangemeinde, Bestseller- SPIEGEL GESCHICHTE
des Upgrades, der Überhöhung, des Über- autoren. Doch welcher Schriftsteller wird DIENSTAG, 29. 5., 21.45 – 22.35 UHR | SKY
lebensgroßen und damit auch der Mythen- heute noch so zur Größe ausgerufen wie
bildung, dem Gegenteil jeder Aufklärung Philip Roth? Und welcher Preis hat die Mein Bruder, der Terrorist
und Säkularisierung. In Weimar hat man Aura, die der alte Literaturnobelpreis hat- Autor Rob Leech sucht in seinem
Goethe ein Denkmal gesetzt, gemeinsam te? Es bricht eine neue Epoche an in der Dokumentarfilm nach den Gründen
mit Schiller, den Lorbeerkranz in der Kulturgeschichte, in der die große Geste für die Radikalisierung seines
Hand, cäsarengleich. Im deutschen Sprach- außer Mode geraten ist. Stiefbruders Rich, der sich Salahud-
raum hat Thomas Mann, der sich als Nach- Sollte der Literaturnobelpreis im kom- din nennt und wegen der Vor-
folger Goethes sah, diese aristokratische menden Jahr wieder vergeben werden, bereitung von Terroranschlägen in
Pose ins 20. Jahrhundert gerettet. Die erst dürfte er ein anderer sein. Die Kriterien einem britischen Gefängnis sitzt.
verschaffte der Literatur ihre Aura, einen transparenter, das Verfahren demokrati-
weihevollen Nimbus und damit auch eine scher, die Jury postheroischer, bemüht,
Bedeutung, die weit über tatsächliche Auf- den starken Männern dieser Welt die Nah- SPIEGEL TV REPORTAGE
lagenzahlen hinausging. barkeit des westlichen Liberalismus ent- DIENSTAG, 29. 5., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1
Philip Roth, dem bewusst war, dass gegenzusetzen. Womöglich gibt es eine
spätestens seit Hemingway das Leben ei- Shortlist oder eine Social-Media-Beauf- Brennpunkt – Die Feuerwehr
nes Schriftstellers Teil seines Mythos ist, tragte. Ein ganz normaler Preis. Neukölln
hat den eigenen Mythos im realen Leben Man kann das begrüßen, die Welt än- Deutschlands älteste Berufsfeuer-
kaum inszeniert, er war vor allem ein be- dert sich, so wie sie sich auch damals, Ende wehr arbeitet am Limit. Besonders
sessener Arbeiter, der, ob in seinem Land- der Sechziger, geändert hat. Und man betroffen: der Bezirk Neukölln.
haus in Connecticut oder an der Upper kann das betrauern. Des toten Dichters Mehr als 2000-mal im Monat rücken
West Side in Manhattan, wo er sonst lebte, Roth wegen. Aber auch, weil in diesen Ta- hier die Retter vom Dienst aus. Die
pro Tag mindestens eine Seite schrieb. Sei- gen die letzten Wellen einer unzeitgemäß Arbeit im Zentrum Berlins gilt als
ne Selbstdarstellung war die Selbstdarstel- gewordenen Tradition verebben, einer Tra- besonders fordernd und spannend
lung durch seine Literatur. dition, die noch von etwas anderem wuss- und zieht deshalb vor allem Feuer-
Es dürfte zu seinem Ruf erheblich bei- te als von der Ratio. wehrleute an, für die ihr Beruf nicht
getragen haben, dass irgendwann kaum nur ein Job, sondern Berufung ist.
107
Kultur
In der Angstblase
Person mit dem Nutzernamen »Brand_1«
schrieb dort, das Schauspiel Köln sei »weit
davon entfernt, ein Ort von Angstfreiheit
und Gleichberechtigung zu sein, vielmehr
ist es ein Ort von krassem Mobbing, ange-
Theater Mobbingvorwürfe am Schauspiel Köln: Duldet der Intendant führt von der Frau des Intendanten«. Der
Stefan Bachmann Psychoterror gegen Schauspieler und Regisseure? wisse davon und mache sich das zunutze.
»Was für ein verlogenes Interview!«
Die Frau von Bachmann ist die Schau-
108
© ELKE WETZIG / CC-BY-SA
Bühnenhaus im Kölner Theater: »Toxische Atmosphäre«
Gepflogenheiten am Theater nicht hinrei- Schauspielerin, so beschreiben es ihre Kol- Ein Schauspieler, der namentlich nicht
chend vertraut« sei. Die Arbeitsatmosphä- legen von damals, dazu befragt, sie wegen genannt werden will, weil er noch in Köln
re sei »hervorragend«. ihrer »Undiszipliniertheit« gerügt. Dabei arbeitet, sagt, er habe sich von Kretsch-
Es gibt viele, die das anders sehen. Einer, erklärte damals ein Regieassistent, dass die mann gemobbt gefühlt. Er sei an allem
der bereit ist, mit Namen von seinen Er- Geschichte gar nicht stimmen könne, weil schuld gewesen, das sei »zermürbend« ge-
fahrungen zu berichten, ist der Regisseur er zu dem Zeitpunkt mit Riedler essen ge- wesen. Nach den ersten Probentagen habe
Adam Traynor, der 2014/15 in Köln insze- wesen sei. Vor drei Jahren verließ Riedler Intendant Bachmann ihn plötzlich vorge-
nierte. Schon nach den ersten Proben habe das Schauspiel Köln, wechselte zu den laden und ihm 20 Minuten lang eine Stand-
Melanie Kretschmann diese torpediert. Sie Münchner Kammerspielen. pauke gehalten, sagt er. Der junge Schau-
sei immer wieder ausgerastet, hätte Requi- Die Regisseurin Angela Richter erzählt, spieler zeige zu wenig Demut, er sei ein
siten zerstört, ihn beschimpft oder sei gar Kretschmann habe Unwahrheiten über Nichts. Seine Version der Ereignisse hätte
nicht erst aufgetaucht. Bachmann habe ihre Familie verbreitet – und Bachmann Bachmann nicht interessiert.
daraufhin zwar Krisengespräche einberu- habe dies nicht gestoppt. Sie sei in den ver- Der Anwalt teilt mit, dass es »im Rahmen
fen, geändert habe sich nichts. Traynor gangenen Jahren auf Premierenfeiern in eines künstlerischen Schaffensprozesses zwi-
selbst habe während der Probenzeit um Köln, Zürich oder Wien wiederholt ange- schen der Regisseurin und einem Schauspie-
die zehn Kilo abgenommen, Freunde hät- sprochen worden, ob ihr Lebensgefährte ler zu Kontroversen« kommen könne. Dass
ten sich Sorgen gemacht. heroinabhängig sei. Auch er arbeitet in der der Intendant da vermittle, sei übliche Praxis
Der Anwalt von Bachmann und Kretsch- Theaterbranche; derlei Gerüchte können am Theater. Bachmann habe den Schauspie-
mann schreibt, es sei »nachweislich un- Karrieren zerstören. ler aber nicht als »ein Nichts« bezeichnet.
wahr«, dass sie Requisiten zerstört habe Wer so etwas Furchtbares und Falsches Selbst einer, der lange mit Bachmann
beziehungsweise nicht zu Proben erschie- denn behaupte, habe Richter bestürzt ge- zusammengearbeitet hat und ihn schätzt,
nen sei. Den Nachweis bringt er allerdings fragt. »Melanie Kretschmann«, habe man bestätigt die schwierige Situation vor Ort.
nicht. Zu den Beschimpfungen gegen Tray- ihr jedes Mal geantwortet. Richter sagt, sie Er glaubt allerdings, dass Bachmann sich
nor teilt er nichts mit. habe darüber nachgedacht, Kretschmann selbst mehr schadet als anderen. Er sei ja
Ganze acht Personen berichten außer- wegen Verleumdung anzuzeigen, schließ- der Leidtragende, wenn gute Leute gingen.
dem, dass Kretschmann bei der Produktion lich habe es genügend Zeugen gegeben. Und die, die gegangen seien, seien alle an
von »Brain & Beauty« aggressiv und mani- Aber keiner sei bereit gewesen, auch vor guten Häusern untergekommen.
pulativ mit der Schauspielerin Julia Riedler Gericht gegen die Frau des Intendanten Tatsächlich läuft Bachmanns Vertrag in
umgegangen sei. Sie habe Riedler fertigge- auszusagen. Köln 2021 aus, verlängern will er nicht.
macht, sie beschimpft oder vor versammel- Richter betont, sie wolle keine »persön- Bachmann ist also bald auf der Suche nach
ter Mannschaft gebrüllt: »Was will die hier?« liche Vendetta«. Aber: »Irgendjemand einem Job – an einem neuen Theater.
Außerdem habe Kretschmann bei einer Pro- muss das stoppen, es verfolgt uns schon Laura Backes, Ann-Katrin Müller
be eine Lügengeschichte erzählt, wonach seit Jahren!« In Köln habe jeder Angst, Mail: laura.backes@spiegel.de,
Riedler in ihrem Kostüm posiert habe. Bach- der Nächste zu sein und aus dem Nichts ann-katrin.mueller@spiegel.de
mann habe diese offenbar geglaubt und die angegriffen zu werden.
W
er die Filme von Agnès Varda einer amerikanischen Filmcrew ein Inter- da murmelt dann, als sie das Interview mit
kennt, der kennt auch dieses view, das ich also störe. Sie fragt höflich, den Amerikanern beendet hat, etwas von
eingeschossige Haus in der zu wem ich denn bitte wolle. Als ich an Einträgen mit Bleistift, die ihre Assisten-
Rue Daguerre in Paris. Es ist unsere Verabredung erinnere, erklärt sie tinnen in den Kalender schrieben, und de-
der Sitz ihrer Produktionsfirma, ihr Archiv, mir mit großem Ernst, dass das nicht sein ren Schrift könne kein Mensch mehr ent-
privates Museum und als Kulisse zahlloser könne, heute werde sie keinen Journalis- ziffern. Dann sind wir bei Rogier van der
Szenen ein Schauplatz der Filmgeschichte. ten aus Deutschland treffen. Ich solle mir Weyden, dem Meister der altniederländi-
Sie wohnt hier auch. In der Tür ist ein brei- nebenan den richtigen Termin sagen las- schen Malerei, der Mitte des 15. Jahrhun-
ter Schlitz für Post, durch ihn führte sie sen. Hinter der schlichten Fassade verbirgt derts wirkte. In der Varda-Welt gibt es, wie
ein 90 Meter langes Kabel heraus, als sie sich ein Labyrinth aus Wohnzimmern, Bü- in der Science-Fiction, Wurmlöcher der
seinerzeit in den Läden der Nachbarschaft ros, Archiv- und Lagerräumen. Ein halbes Kulturgeschichte. Plötzlich plaudert die
drehte, aber nicht deren Stromrechnung Dutzend junger Leute arbeitet hier. Agnès, Pionierin der Nouvelle Vague – die in
belasten wollte. Alles ist wohlvertraut, so erklären sie mir, übertreffe sie alle an Wahrheit schon Filme machte und produ-
aber ein unerwartetes Problem tut sich auf: Arbeitskraft, an reiner Power. Und sie be- zierte, als die jungen Männer noch unbe-
Ich finde die Klingel nicht. Ist es doch bloß stätigen den Termin, ich solle warten. Var- kannt waren – von ihrem Freund Andy
eine Kulisse hier? Findet das Treffen wo-
anders statt, in der sogenannten wirk-
lichen Welt?
Es war nicht ganz einfach, sich zu ver-
abreden. Agnès Vardas Leben und Werk
gleichen einem Labyrinth, in dem man im-
mer bei ihr ist und doch nie das Ganze
sieht. Sie ist die älteste Filmemacherin, die
noch arbeitet. Bei den Filmfestspielen in
Cannes erklomm sie an der Seite von Cate
Blanchett die Stufen des Filmpalasts, und
sie erhielt in Hollywood einen Ehren-
Oscar für ihr gesamtes Schaffen. Auf den
Fotos dieser festlichen Ereignisse ist sie an
ihrer zweifarbigen Bobfrisur – oben weiß,
dann rot – leicht zu erkennen. Sie macht
eine verhaltene Miene, denn es verbindet
sich mit dem Ruhm dieser Jahre eine un-
angenehme Frage: warum erst jetzt? Wa-
rum erfährt diese Frau, die schon seit den
Fünfzigerjahren mit dem Stoff des Lebens
und den Mitteln der Fotografie und des
Films die verblüffendsten Werke herstellt,
erst so spät gerechte Anerkennung? In all
der Zeit brachte das französische Kino ja
nicht nur François Truffaut und Jean-Luc
Godard hervor, sondern auch jede Menge
mittelmäßige Regisseure, Schauspieler und
Autoren, von denen sehr viele zu Stars
wurden. Sie nicht.
AGNÈS VARDA-JR-CINÉ-TAMARIS, SOCIAL ANIMALS 2016
111
stoffbälle auf die Spitze der Hörner zu
setzen, wie Clownsnasen, um die Verlet-
zungsgefahr zu verringern?
In Paris, während unseres Gesprächs,
sind ihr der Mann, sein Vorschlag und die
ganze Situation ein wichtiges Beispiel für
ihre Methode: nicht dozierend über Land
ziehen, auch nicht verehrend oder heroi-
112
Kultur
Kommentar
Kein Forscher kann heute Karriere machen, ohne große Sum- erhielt statt rund 630 000 wie ein männlicher Kollege. Auch die
men Forschungsgelder einzuwerben, mit denen er Doktoranden, Wahrscheinlichkeit, mit einem Antrag Erfolg zu haben, lag bei
teure Geräte und Materialien bezahlt. Die meisten aufstreben- den Männern höher. Von 2000 bis 2013 landeten nur 22 Prozent
den Wissenschaftler verbringen einen Großteil ihrer Arbeitszeit der Fördergelder in der Krebsforschung bei Antragstellerinnen.
nicht mehr im Labor, sondern am Computer mit dem Schreiben Dieser Missstand könnte ein Teil der Erklärung dafür sein,
von Forschungsanträgen. Sie wissen genau: Die Höhe der Dritt- warum zwar 46 Prozent der Doktoranden in der EU weiblich
mittel bestimmt maßgeblich über ihr berufliches Fortkommen. sind, aber nur 22 Prozent der Professoren. Langfristig, befürch-
Umso erschreckender ist, was britische und US-amerikanische ten viele Wissenschaftler, könnte die Ungleichheit in der For-
Wissenschaftler im »British Medical Journal« berichten. schung sogar die Wettbewerbsfähigkeit Europas beeinträchtigen.
Für diese Arbeit haben sie untersucht, wohin Forschungs- Wer daran etwas ändern will, darf nicht nur »Girls’ Days«
zuwendungen großer Förderorganisationen wie des Wellcome organisieren und Kitas an den Hochschulen gründen. »Equal
Trust in Großbritannien fließen. Ergebnis: Ein männlicher Pay«, gleiches Geld für gleiche Leistung, muss auch bei der
Wissenschaftler bekam in der Krebsforschung pro genehmigtem Forschungsförderung gelten; dieser Gedanke muss einsickern
Forschungsantrag im Durchschnitt 1,6-mal so viel Geld zuge- in das Hirn von Gutachtern und Geldverteilern.
sprochen wie eine Wissenschaftlerin – die etwa 395 000 Pfund Veronika Hackenbroch
115
Wissenschaft
Adieu, Menschlichkeit
Migration Etwa 15 000 Flüchtlinge stecken in Lagern auf griechischen Inseln fest, ohne Hoffnung.
Die »Ärzte ohne Grenzen« wollen zeigen, was die Frauen und Männer
dort ertragen, wie groß das Leid der Kinder ist. Aber die Welt schaut weg. Wie kann das sein?
A
n einem Sonntagmittag tritt auf zu. Asma ist zwölf, sie stammt aus Mossul Die Ärzte ohne Grenzen leisten dort
der griechischen Insel Chios ein im Irak. »Wie viele Monate bist du schon medizinische Hilfe, wo es kaum welche
junger Iraker aus einem grauen unterwegs?«, will Liu von ihr wissen. Eine gibt. Sie arbeiten mit etwa 40 000 Mit-
Wohncontainer. Der Mann, Mitte Mitarbeiterin übersetzt. Asma versteht arbeitern in mehr als 70 Ländern auf der
zwanzig, zieht seine schwarze Wollmütze die Frage nicht. Wie viele Monate? Ah! Welt. In Niger, im Südsudan, im Jemen.
tief ins Gesicht. Er blinzelt in die Sonne, Dann erklärt sie, dass ihre Familie seit Nach dem Erdbeben in Haiti waren sie
blickt sich um. vier Jahren unterwegs ist. Jahre. Nicht unter den Ersten, die die Opfer aus den
Vor seiner Unterkunft schart sich ein Monate. Trümmern versorgten. In Westafrika be-
Pulk Menschen um eine dunkelhaarige Der junge Iraker tritt zu dem Pulk, er handelten sie Ebola-Patienten, sechs Mo-
Frau. Joanne Liu, 53, die internationale bleibt stumm. Ein älterer Mann bemerkt nate bevor die Weltgesundheitsorganisa-
Präsidentin der Ärzte ohne Grenzen, ist den Neuankömmling, tritt zu ihm. Er ruft: tion den internationalen Notstand ausrief.
für ein paar Tage nach Griechenland ge- »Look, look!«, und zerrt ihm den Ärmel In Syrien bekommen sie von der Assad-
kommen, um zu sehen, was es in den seines Pullovers nach oben. Regierung bis heute keine Genehmigung
Flüchtlingslagern auf den Inseln zu tun Der Unterarm des jungen Mannes ist zu helfen. Sie tun es trotzdem, in Kran-
gibt. weiß bandagiert. Joanne Liu blickt den kenhäusern, mit mobilen Teams. Sie ver-
Im Camp auf Chios leben derzeit rund Iraker an. Sie ist Kinderärztin. Sie hat lassen, wie man in der Sprache der Helfer
1500 Menschen. Es ist nicht, wie viele im Sudan, im Kongo, in Haiti gearbeitet. sagt, oft als Letzte »das Feld«. Sie riskieren
andere, doppelt oder dreifach belegt. Ein Gerade hat sie die Ruinen von Rakka in dafür ihr Leben: Seit ihrer Gründung 1971
Helfer vor Ort nennt es deshalb lakonisch Syrien besucht. Liu weiß, wozu Menschen starben 98 Mitarbeiter im Einsatz.
das »Fünfsternehotel«. fähig sind.
Joanne Liu trägt feste Stiefel und eine Sie fragt: »Das hast du dir selbst an- In den fünf Aufnahmelagern der griechi-
blaue Jacke. Die weiße Weste mit dem getan?« Der junge Mann nickt. schen Inseln sind rund 15 000 Flüchtlinge
Logo der Organisation hat sie vorhin am Der Alte neben ihm übernimmt das Re- untergebracht. Sie müssen bleiben, bis ihre
Eingang nicht angelegt. Liu möchte he- den. Er sagt: »46 Messerstiche, in seinen Asylverfahren entschieden sind. Viele Ver-
rausfinden, wie es den Menschen hier geht. eigenen Arm. Sein Vater ist gerade gestor- fahren ziehen sich, es passiert monatelang
Das funktioniert besser ohne Weste. ben. Auf der Flucht durch Syrien.« Dann nichts. Rund 60 000 Flüchtlinge leben im
Die Frauen und Männer um Liu erzäh- reckt er die Hände zum Himmel und reißt ganzen Land. Griechenland soll dafür in
len von ihrer Heimat, von Syrien oder die Augen auf. So als wollte er sagen: Da den kommenden Jahren etwa eine Mil-
Afghanistan. Ein Mädchen, Asma, hört muss man doch verrückt werden. liarde Euro Unterstützung von der EU er-
halten.
Wer hier angekommen ist, der hat es
nach Europa geschafft. Der muss keinen
Krieg, keine Folter mehr fürchten. In
Griechenland gibt es Ärzte, Krankenhäu-
ser, Notaufnahmen. Die Flüchtlinge dürfen
dort Hilfe suchen.
Warum sind dann die Ärzte ohne Gren-
zen hier?
Sieben Uhr, ein Montagmorgen. Das
Team um Joanne Liu ist mit einer frühen
Fähre auf Lesbos angekommen. Es will
das Flüchtlingscamp in Moria besuchen.
5000 Menschen leben zurzeit dort, fast
doppelt so viele, wie offiziell Platz haben.
Im Laufe des Frühjahrs und im Sommer,
wenn das Meer wieder wärmer und ruhi-
ger wird, werden es mehr werden. Lesbos
OLGA STEFATOU / DER SPIEGEL
117
Wissenschaft
Iraker im Lager leben, aber auch viele genuntersuchung warte man Wochen, Un- Um neun Uhr brechen Liu und ihr Team
Geflüchtete aus Afrika. 40 Prozent der mut verbreite sich überall. nach Moria auf. Der weiße Van fährt an
Bewohner sind noch nicht volljährig. »Ich kann das verstehen«, sagt Liu. »Die der Küste entlang, vorbei an Strandbuden
Vor den Toren des Lagers haben die Leute wollen einfach ihr Leben leben.« und Restaurants. Die Flüchtlinge sind auf
Ärzte eine kleine mobile Klinik aufgebaut. Die Bevölkerung habe nicht die Kapazitä- einem ehemaligen Militärgelände unter-
Jeden Abend fahren sie die weißen Vans, ten, das Thema langfristig anzugehen. Die gebracht.
in denen sie Sprechstunden anbieten, wie- Regierung müsse handeln. Neben dem Camp, in einem Olivenhain,
der vom Gelände. Die griechischen Insel- haben Migranten eigenmächtig blaue und
bewohner wollen nicht, dass sich feste Immer wieder kommt es auf Lesbos zu graue Zelte des Flüchtlingshilfswerks der
Strukturen bilden. Protesten. Erst vor wenigen Wochen wur- Vereinten Nationen (UNHCR) aufgestellt.
Die Ärzte ohne Grenzen beraten hier den Flüchtlinge, die in der Hauptstadt Sie werden geduldet. Liu und ihr Team
Schwangere, Mütter mit Neugeborenen. einen Platz besetzt hatten, um gegen die stapfen durch das Biwak.
Sie bieten auch eine Sprechstunde für Kin- Überfüllung des Lagers zu protestieren, Auf dem Boden liegen Plastiktüten, Fla-
der an. Rund 200 Patienten kommen pro von rechten Demonstranten mit Leucht- schen, Windeln, Exkremente. Zwischen
Woche zu ihnen. raketen und Flaschen angegriffen. den Zelten, auf Schnüren, trocknen De-
Die Helfer tupfen Kindern, die gegen Die Ärzte ohne Grenzen spüren, dass cken, Babystrampler, T-Shirts.
Masern, Mumps und Röteln geimpft wur- es schwerer wird, auf die Nöte der Geflüch- In den Boden sind hier und da kleine
den, einen schwarzen Punkt auf die Spitze teten aufmerksam zu machen. Die Einstel- Feuerstellen gegraben. Um eine solche
des kleinen Fingers. Die Kinder zeigen die lung vieler Bürger hat sich in den vergan- Kuhle steht eine Familie, Mutter, Vater, ein
Punkte im Camp wie Medaillen herum. genen Jahren verändert. Sie sind froh, dass kleines Kind. Zu ihren Füßen schmurgelt
Müssen Patienten ins örtliche Kranken- weniger Flüchtlinge kommen. eine Plastiktüte in sich zusammen. Im Oli-
haus, schicken die Ärzte ohne Grenzen In Deutschland sprach sich im vorigen venhain fühlen sich die Flüchtlinge siche-
Übersetzer mit. Allein schaffen es die we- Jahr in Umfragen eine Mehrheit gegen die rer als im Camp. Vor allem Eltern mit Kin-
nigsten, die Formulare auszufüllen. Flüchtlingspolitik der Regierung aus. Ende dern versuchen, hier unterzukommen.
25 Millionen Euro hat die Organisation des Jahres gaben 55 Prozent an, keinen Nachts kommt es in Moria oft zu Schlä-
2016 in dem Land ausgegeben. So viel Familiennachzug für Flüchtlinge zu wollen. gereien, Kinder und Frauen trauen sich
Geld wie für Afghanistan. Die Ärzte ohne In Italien, seit vielen Jahren Ziel der nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr
Grenzen fangen auf, was lokale Strukturen Flüchtlinge, die übers Mittelmeer kommen, auf die Toilette. Das UNHCR deckte vor
überfordert. Auch um zu verhindern, dass gingen die Spenden für viele humanitäre Or- Kurzem auf, dass 28 Prozent der weib-
die Stimmung gegenüber den Flüchtlingen ganisationen, auch für die Ärzte ohne Gren- lichen Flüchtlinge auf den ägäischen Inseln
in der Bevölkerung endgültig kippt. zen, teilweise um fast 20 Prozent zurück. bereits sexuelle Gewalt erlitten haben.
Auf der Insel, erzählt Fontana, sei die Im Café auf Lesbos erzählt Liu, dass in Eine blonde Frau Ende zwanzig kommt
Hilfsbereitschaft der Einwohner anfangs den Siebzigerjahren ein Mensch, der aus dem Team entgegen. Sie wird es im Camp
sehr groß gewesen. Doch allmählich sei sie Vietnam floh, noch als Held gegolten habe. herumführen. Für die Ärzte ohne Grenzen
überstrapaziert. Die Menschen beklagten Allmählich sei der Flüchtling aber zur habe sie schon in vielen Flüchtlingslagern,
sich zunehmend über Müll und Diebstähle. Belastung erklärt worden. Und schließlich auch in Afrika, gearbeitet, erzählt sie. Sie
Im Krankenhaus der kleinen Hauptstadt zu einer Bedrohung. Die Welt, sagt Liu, lacht und sagt: »Ich weiß schon gar nicht
Mytilini werden die Termine rar. sei am Ende der globalen Solidarität an- mehr, was schlimm und was richtig
Eine Mitarbeiterin aus Athen erzählt, gelangt. Man betrachte die Ereignisse zu- schlimm ist.«
wie sehr sich im ganzen Land die Zustände nehmend durch die Linse der Sicherheit. Am Eingang des Camps rennt ihr ein
vor allem im Gesundheitssystem ver- Wie können die Ärzte ohne Grenzen da kleiner Junge entgegen, nicht älter als drei
schlechtert hätten. Auf eine einfache Rönt- noch Gehör finden? Jahre. Er trägt eine löchrige Jogginghose,
Schlappen an den nackten Füßen. Die
Mitarbeiterin nimmt ihn in den Arm. Sie
tauschen ein paar Worte auf Arabisch aus,
dann knufft sie den Jungen in die Seite
und schickt ihn weiter.
Im Camp wird jeder Quadratmeter
genutzt. Zum Schlafen, Kochen, Wäsche-
trocknen. Zwischen den größeren Zelten
stehen kleine. Die Bewohner leben nach
Nationalitäten geordnet. Allein reisende
Männer sind in einem eigenen Eck des La-
gers untergebracht. Für Frauen, die ohne
Familie reisen, und unbegleitete Kinder
gibt es eine sogenannte Safe Zone. Sie ist
mit zwei Stacheldrahtzäunen abgegrenzt
und wird von Wachposten bewacht. Im
Moment haben dort 41 Menschen Platz.
PETROS GIANNAKOURIS / DPA
118
LOUISA GOULIAMAKI / AFP
Lager auf Chios: »Sollen wir Lärm machen?«
gangenen Jahr innerhalb weniger Monate Anlagen sind Dauereinrichtungen gewor- Lärmmachen als Strategie, als Politik,
um 50 Prozent zugenommen. Jede Woche den. Die Flüchtlinge fühlen sich wegge- das ist ein Markenkern der Ärzte ohne
sehen sie im Durchschnitt sechs Patienten sperrt, vergessen. Sie warten monatelang, Grenzen. Ihre Gründungsmitglieder ha-
nach Suizidversuchen, Selbstverletzungen manche mehr als ein Jahr. Weil sich die ben beschlossen, im Ernstfall über das, was
oder in psychotischen Krisen. Europäische Union nicht darauf einigen sie auf ihren Einsätzen sehen, öffentlich
Ein Team wollte den Flüchtlingen in kann, wie die Menschen auf die Mitglied- zu sprechen.
einer kleinen Klinik psychologische Be- staaten verteilt werden könnten. Weil das 1971 arbeitete eine Gruppe junger
ratung anbieten, doch kurz nach der Bearbeiten der vielen Asylanträge so lange französischer Ärzte für das Rote Kreuz in
Eröffnung standen bereits 500 Menschen dauert. Weil der Nachzug von Familien- Nigeria. Die nigerianische Regierung hatte
auf der Warteliste. Das Haus musste wie- mitgliedern in vielen Ländern ausgesetzt die abtrünnige Region Biafra im Südosten
der schließen, es war nicht auf solch einen ist. Wer hier gestrandet ist, kommt nicht des Landes von der Außenwelt abgeschnit-
Andrang eingerichtet. Demnächst soll ein mehr ohne Weiteres weg. ten. Es folgte eine schreckliche Hungersnot.
größeres eröffnet werden. Die Menschen, sagt Liu, litten nun drei- Die Ärzte betrachteten das Geschehen
Nach ihrem Rundgang durch Moria will fach: an dem, was sie vor ihrer Flucht er- als Völkermord, wollten mit ihrem Wissen
Joanne Liu im Hauptquartier der Ärzte lebt haben, an der Flucht selbst und dann, an die Öffentlichkeit gehen. Doch das Neu-
ohne Grenzen auf Lesbos mit den Helfern hier, an ihrer Hoffnungslosigkeit. tralitätsprinzip des Roten Kreuzes verbot
sprechen. Vor ihr steht ein großer Holz- Der Arzt Apostolos Veizis meldet sich das. Daraufhin gründeten sie ihre eigene
tisch, rund 40 Mitarbeiter drängeln sich zu Wort. Er leitet die medizinische Unter- Organisation, eben die Ärzte ohne Gren-
drum herum. stützung für die Ärzte ohne Grenzen im zen, die »Médecins Sans Frontières«.
Land. Er sagt: »In mehr als 15 Jahren »Weil wir keine Waffen hatten, mussten
2015 war Liu schon einmal in Griechen- Arbeit in diesem Bereich ist das die wir unsere Patienten mit der Macht der
land, in einem Lager bei Idomeni im Nor- schlimmste Situation, die ich je in Europa öffentlichen Meinung schützen«, sagte
den des Landes, in dem zeitweise über gesehen habe.« Im Sommer könnten die damals der Arzt Bernard Kouchner, der
14 000 Menschen ausharrten, um dann Griechen mehr als 30 Millionen Touristen später Außenminister in Frankreich wurde.
über die Balkanroute weiterzureisen. versorgen, sie transportieren, beherbergen, Die Bilder der Biafra-Kinder mit ihren
Liu erzählt, dass die Situation damals mit Essen bewirten, aber sie schafften es durch Mangelernährung aufgeblähten
eine ganz andere gewesen sei: »Den Men- nicht, diese Lager zu managen. Veizis sagt: Bäuchen gingen um die Welt. Die Bilder
schen ging es nicht gut, aber sie wussten, »Das ist politisch gewollt.« machten Lärm.
sie kommen weiter«, sagt Liu. »Ihre Augen Ein anderer Mitarbeiter fragt: »Was Sollen die Ärzte in Griechenland jetzt
waren auf die Zukunft gerichtet.« können wir machen? Die Leute haben uns also auch wieder laut werden?
Von den Inseln kommt jetzt fast nie- vergessen. Sollen wir laut werden, Lärm Liu kennt diese Frage, den Wunsch zu
mand mehr weg. Aus den provisorischen machen?« reden. Sie weiß aber auch, dass das immer
Alchemie im
eine kohlenstoffhaltige Flüssigkeit wie seinen Partner Lewtschenko nennt. »Wir
Alt- oder Schweröl in einen Reaktor. Und müssen doch an uns glauben, sonst hat das
zerlegen angeblich mithilfe eines ge- Ganze keinen Sinn.«
Hobbykeller
zielten kleinen elektrischen Impulses Drei Geldgeber haben bereits deutlich
die langkettigen Kohlenwasserstoffe und mehr als 100 000 Euro in die Hennefer
fügen sie zu wertvollen kurzkettigen Keller-Innovateure investiert: ein Land-
Produkten wie Benzin neu zusammen. wirt, ein Unternehmer aus den USA und
Wichtig dabei ist die Erzeugung von ein Manager eines Stahlkonzerns. Eine
Erfinder In einem Reihenhaus in Unterdruck, eine sogenannte kontrollier- eigens gegründete Firma gibt es auch, die
Hennef planen zwei Forscher te Kavitation. Heion GmbH.
einen Coup: Sie wollen sauberen, Ihre Synthesemethode, so sagen sie, sol- Lewtschenko wuchs in der Ukraine auf,
le ohne hohe Temperaturen und Drücke kam 2001 als Spätaussiedler nach Deutsch-
günstigen, umweltfreundlichen gezielt und kostengünstig ablaufen. Um land. Schon sein Vater habe gern experi-
Kraftstoff erzeugen. Genau. die gewünschten Stoffe zu erzeugen, ne- mentiert, sagt er. »Immer ist irgendwas in
ben Benzin und Diesel auch Schweißgas die Luft gegangen. Wir sind eine Erfinder-
oder Ammoniak. familie.«
Hof eines seiner Investoren bewei- in den nächsten Wochen eine grö-
sen, dass seine Erfindung funktio- ßere computergesteuerte Anlage
niert. Dass er mit ein bisschen entstehen. Die Erfinder wollen
Strom aus Altöl und Wasser in ein dann versuchen, gezielt Stoffe für
paar Sekunden Wertvolles für die die Industrie herzustellen.
Menschheit erschaffen kann. Und Vincent Blouin will, sobald
Lewtschenko, ein schmaler, stil- die Anlage in Deutschland steht,
ler Mann, zupft nervös an den Ka- Tüftler Ledwon, Lewtschenko eine zweite an seiner Universität
beln, überprüft die Einstellungen, »Immer ist irgendwas in die Luft gegangen« aufbauen, finanziert mit öffent-
dreht an einem Rädchen. Blouin lichen Geldern. »Klar, es können
beugt sich über die Flasche, riecht. »Ben- Wohl kein Thema treibt die Petrobran- immer noch unüberwindbare technische
zin!«, sagt Lewtschenko, der Maschinen- che aktuell so um wie die Frage nach der Probleme auftreten«, sagt er, »aber die
bauer nickt. preiswerten und umweltfreundlichen Her- Technik hat Potenzial.« Es fällt Blouin
Nach vier Stunden des Zeigens, Erklä- stellung synthetischer Kraftstoffe. Automo- sichtlich schwer zu verstehen, warum die
rens, Fragens, Fragens und noch mal Fra- bilhersteller, Ölmultis und Chemiekonzerne Deutschen sich geradezu fürchten vor Er-
gens klappt Blouin sein Notizbuch zu, ver- investieren Milliarden in den Treibstoff der findern mit schrulligen Ideen.
schränkt die Arme und schaut in die Ge- Zukunft. Aus CO² und Wasser sollen neue Lewtschenko und Ledwon wollen jetzt
sichter der Investoren. »Wow«, sagt er. Stoffe entstehen (siehe SPIEGEL 15/2018). zeigen, dass sie es schaffen können. In
Lewtschenko und sein Miterfinder, der »Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass sechs Wochen ist es so weit. Dann gilt es,
58-jährige deutsche Ingenieur Anton Led- wir das Ding gefunden haben«, gibt Led- aus gewöhnlichem Dreckdiesel sauberen
won, wollen in der Werkstatt eines Rei- won zu. Vor ein paar Jahren gewann ein herzustellen. In einem kleinen Versuch
henhauses im rheinischen Hennef die Che- Unternehmen mit einer von ihm entwi- habe es schon geklappt, versichern sie.
mie revolutionieren. ckelten Erdwärmesonde den Deutschen Aber sie müssen ja auch an sich glauben.
Ihre Erfindung ist eigentlich zu schlicht, Innovationspreis für Klima und Umwelt. Jesko zu Dohna
um wahr zu sein. Sie geben Wasser und Jetzt unterstützt er den »Kopf«, wie er
121
Wissenschaft
123
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Leserbriefe
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Nachrufe
Clint Walker, 90 Manfred Schaub, 60
Wenn es in Hollywood je Längst nicht alle Politiker
ein echtes Mannsbild gab, sind auch Promis. Manfred
dann war es Clint Walker. Schaub war ein einfluss-
Fast zwei Meter groß, ein reicher Mann in der SPD,
Kreuz wie ein Olympia- aber er trat nicht in Koch-
schwimmer, ein Gesicht, sendungen auf und wetterte
das wie in Stein gemeißelt nicht in Talkshows. Als
wirkte – der Schauspieler Bürgermeister der nordhes-
kam daher wie eine Natur- sischen Stadt Baunatal,
gewalt. Er war also perfekt als Landespolitiker und Be-
schwand hinter dem Logo, hinter dessen Weltpräsenz. Als Manfred Schaub starb
homosexueller Mann hatte er es auf der kleinen, nicht an einem Herzinfarkt am
gerade fortschrittlichen Hummerinsel dann nicht immer 20. Mai in Baunatal. NM
einfach. Schlimmer war es womöglich, vom Kunstbetrieb
ignoriert zu werden. 2013 folgte dann doch eine Wür- Jürgen Jürgens, 65
digung im New Yorker Whitney Museum, Titel: »Beyond Ein Name, den man Radio-
Love« (Jenseits der Liebe). In den letzten Jahren, sogar oder Burt Reynolds über- hörern kaum hätte vorent-
noch in den letzten Tagen vor seinem Tod wurde aber viel nahm er immer wieder halten können, so schön
gestritten – immer ging es um »Love«, um die Verwertung, Nebenrollen. Weil er sie war es für seine Fans, wenn
anderen war das alles längst wichtiger geworden als ihm. manchmal um Kopfgröße Jürgen Jürgens angekündigt
Robert Indiana starb am 19. Mai in Vinalhaven, Maine. UK überragte, mussten sie sich wurde. Schon als Schüler
sehr anstrengen, aus seinem zog es ihn vors Mikrofon.
Schatten zu treten. Wenn Begeistert von der Sendung
Reggie Lucas, 65 es in den Filmen eher darum »Hey Music« im Sender
Er war ein Frühstarter. Gerade mal 18 Jahre alt, bekam ging, elegant, charmant Freies Berlin, schrieb er
Reginald Grant Lucas, genannt Reggie, das Angebot eines und geschmeidig zu sein, hartnäckig Leserbriefe, bis
legendären Musikers: Der Jazzer Miles Davis lud ihn ein, konnte Walker mit Verve er 1969 schließlich selbst
in seiner Band Gitarre zu spielen. Bei Davis lernte Lucas den besonders groben Songs dort ansagen durfte.
den Schlagzeuger James Mtume kennen, mit dem er einige Klotz geben. Wie er sich in Er übernahm später die
Jahre später Stephanie Mills’ »Never Knew Love Like der Doris-Day-Komödie Sendung und prägte nicht
This Before« produzierte; der R&B-Song brachte ihm einen »Schick mir keine Blumen« nur den Musikgeschmack
Grammy ein. Musikgeschichte aber schrieb Lucas mit (1964) aus einem für ihn einer Berliner Generation,
einer anderen Künstlerin. 1983 produzierte er sechs der viel zu kleinen Sportwagen sondern führte auch Inter-
acht Songs auf dem Debütalbum einer gewissen Madonna windet, ist ein Meisterstück views mit Größen wie Whit-
Louise Veronica Ciccone, darunter den Hit »Borderline«, der Komik. Clint Walker ney Houston oder Johnny
den er auch geschrieben hatte. Ein Kickstart zur Weltkar- starb am 21. Mai im kalifor- Cash. Jürgen Jürgens starb
riere. Reggie Lucas starb am 19. Mai in New York. TOB nischen Grass Valley. LOB am 21. Mai. XVC
Widerstand
G Manchmal braucht man erst die Einschät-
zung von Außenstehenden, um selbst zu
merken, was eigentlich gerade los ist. Als
das berühmte US-amerikanische Magazin
»Time« Angela Merkel 2015 zur »Person of
the Year« und sogar »Chancellor of the Free
World« kürte, stellte man als Deutscher fest,
dass sich der Blick auf dieses Land verän-
dert hatte. Kevin Kühnert, 28, wurde nun
ebenfalls auf ein Podest gestellt: Das Maga-
zin präsentiert ihn in der aktuellen Ausgabe
als einen von zehn einflussreichen jungen
Menschen weltweit, die die »Anführer
einer neuen Generation« seien. Kühnert
wird als »Angstgegner« Angela Merkels
eingeführt, der »eine nationale Debatte
über die politische Zukunft Deutschlands«
angestoßen habe. Dazu kommt, dass sich
auf Englisch alles etwas dramatischer
anhört: Kühnerts Satz »So we launched
a resistance« klingt mehr nach »Star Wars«
127
»Hätte der katholische Klerus noch die Machtfülle
früherer Zeiten, würden für die mutigen Autoren dieses Artikels
schon die Scheiterhaufen errichtet!«
Georg Malkowsky, Bockenem (Niedersachsen)
Gegen das Establishment heute 266 Päpsten waren übrigens etliche Wenn Sie in der Redaktion wüssten, wie
verheiratet. Eine kleine, aber aussagekräf- gut der Glaube tut, wie viele Menschen
Nr. 21/2018 Die Gespenster
tige Ergänzung zum Thema Zölibat, an die Hoffnung auf Ewigkeit brauchen und
des Vatikan – Wie Verbrecher und Heilige
eine Weltmacht schufen dem die katholische Kirche nebst anderem nur allein daraus Kraft zum Durchhalten
noch zugrunde gehen wird. Gut, dass ich beziehen und wie wichtig letztendlich die
Religiöse Heilsbotschaften sind schon im- mich vor etwa 20 Jahren aus diesem Liebe ist, die man nirgendwo anders ler-
mer erste Wahl gewesen, wenn machtbe- »Klub« verabschiedet habe. nen kann – so würden Sie mehr positiv als
sessene Diktatoren ein Instrument benö- Robert Bleuer, Zollikofen (Schweiz) negativ über Kirche und Glauben berich-
tigten, um sich für Mord und Totschlag an ten. Aber vielleicht setzt sich diese Er-
Andersdenkenden zu rechtfertigen. Wenn kenntnis ja noch durch.
der derzeitige gutherzige Papst da korri- Hans Günter Comnick, Braunschweig
gierend eingreifen möchte, ist das ehren-
haft, kann aber einen aufgeklärten Men- Alle Gläubigen sollten ein Zitat von Ste-
ken an, da die Neutralitätspflicht des Staa- Nein nicht hinnehmen können, sondern hauer kritisiert die Debatte, er hinterfragt
tes infrage gestellt wird. Herr Söder sollte glauben, das Recht zu haben, den beruf- sie nicht. Die zwei Seiten sind kein Debat-
doch erst mal an die CSU-Mitglieder ap- lichen Lebensweg des Opfers zu zerstören. tenbeitrag, sondern eine Trotzreaktion. Im
pellieren, dass diese zu Hause, deutlich Peter Heinrichs, München ersten Absatz ist schon alles gesagt, was
sichtbar im Eingangsbereich, ein Kreuz an- der Autor offensichtlich sagen möchte:
bringen sollen. Vielleicht ist ja der nächste Eine Debatte über #MeToo ist sicherlich Geb’ Gott, dass das endlich aufhört, und
Schritt schon geplant, dass in Ämtern, Be- erlaubt und auch wichtig, aber solange in recht hab ich doch. Was Jan Fleischhauer
hörden und Bildungseinrichtungen deut- den Köpfen unser altes kulturelles Erbe, nicht zu sehen scheint: Immer, wenn sich
lich sichtbar ein Porträt des neuen Landes- das Patriarchat, fest verankert ist, werden die Macht eines Menschen mit durch die-
fürsten Dr. Markus Söder aufzuhängen ist. Frauen sich gegen sie wehren, zumal wenn sen Menschen ausgeübter Gewalt gegen
Guido Immler, Augsburg sie so unqualifiziert daherkommt und ei- andere mischt, liegt ein Vergehen vor,
nen offensichtlichen Machtmissbrauch ver- das nur eins gehört: verurteilt, möglichst
Der »Kreuzzug« des Herrn Söder geht in harmlost. Eine 25-jährige Praktikantin, die juristisch.
die Richtung dessen, was wir zu Recht am nachts per SMS von ihrem Chef zu einem Amanda Gänsel, Berlin
Islamismus kritisieren: des Missbrauchs Dienstgespräch zitiert wird, muss nicht
der Religion durch die Politik. davon ausgehen, dass sie vergewaltigt wer-
Ekkehard Sander, Denkendorf (Bad.-Württ.) den wird. Hier besteht ein Abhängigkeits-
verhältnis, und es geht um Macht. Ein
Wo bleibt der Wechsel? Armutszeugnis für den Mann, der nicht
anderem war in der SMS die Rede. Ihrer verstecken – ist das nicht ein Armutszeug-
derben Kritik entnimmt man, dass Sie, nis? Männer sind schnell mal zu begeistern,
Herr Fleischhauer, als junger Mann wohl darauf geht man ein, oder man lehnt dan-
nie Angst hatten, durch die Verweigerung kend ab. Wir Frauen sind keine Opfer –
einer zuvor schriftlich angekündigten »Ar- die #MeToo-Debatte will uns das einreden.
beitsbesprechung« ihren Job zu verlieren. Und erst Jahre, oft Jahrzehnte später von
Willkommen in der Realität von Frauen. einem Übergriff zu berichten, wie ängst-
Konzernlenker Winterkorn 2014 Brigitte Wolfsteiner, Merkenbach (Hessen) lich ist das denn? Mein Fazit: Ihre Frage
in dem Artikel ist absolut berechtigt! Und
Unabhängig davon, ob Winterkorn, Stad- Wegen Jan Fleischhauers Lust am Provo- notwendig. Bleiben Sie bitte unbequem!
ler oder der Aufsichtsrat davon gewusst zieren lese ich seine Kolumnen eigentlich Hilke Flickenschildt, Berlin
haben, sie sind für eine Unternehmenskul- mit Vergnügen. In puncto Machtstruktu-
tur verantwortlich, welche den Betrug an ren scheint er jedoch erheblichen Nach- Wenn jemand abends auf der Straße über-
den Kunden erst möglich gemacht hat, und holbedarf zu haben: Angesichts der Aus- fallen wird und dieser Person das Handy
dafür, dass immer noch so weitergemacht sage »solange intime Beziehungen am Ar- geklaut wird, ist das Erste, was Ihnen ein-
wird. Wo bleibt da die Verantwortung? beitsplatz nicht verboten sind, kommt fällt, wirklich, diese Person zu fragen, wa-
Wo bleibt der Wechsel? man nicht umhin, von Menschen zu ver- rum sie denn abends unterwegs war und
Jochen Richter, Karlsruhe langen, dass sie zu erkennen geben, wenn dann auch noch ihr Handy dabeihatte?
ihnen etwas unangenehm ist« entfuhr mir Meiner Ansicht nach geht es bei der #Me-
Es geht um Macht ein fassungsloses: »Ja, wie oft denn? Wie Too-Debatte erst mal darum klarzuma-
oft soll ich Nein sagen, soll ich mich ent- chen, dass sexuelle Übergriffe auf Frauen
Nr. 20/2018 Kritik unerwünscht –
winden und abwenden, bis ein sich selbst immer noch Teil der uns allumgebenden
Jan Fleischhauer über
die #MeToo-Diskussionskultur für unwiderstehlich haltender Auftrag- Struktur sind und auch ein Indiz dafür,
geber dieses Nein endlich akzeptiert?« dass das Machtungleichgewicht zwischen
Ich stimme den Argumenten von Herrn Meine langjährigen Erfahrungen mit älte- Männern und Frauen immer noch den ge-
Fleischhauer weitgehend zu. Nur in einem ren, fest angestellten Kollegen: Als Frei- lebten Alltag prägt.
Punkt muss ich widersprechen. Nicht jede beruflerin bist du Freiwild! Zumindest bis Jana Vasil’eva, Erlangen
Frau traut sich, umgehend Nein zu sagen zu einem gewissen Alter.
oder eine SMS zu ignorieren, viele könn- Anke Pedersen, freie Journalistin, Düsseldorf
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
ten dies in einer solchen Situation noch (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
nicht mal auf verträgliche Weise tun. Das Die Unterzeile »Was einem Mann wider- sowie digital zu veröffentlichen und unter
liegt vor allem daran, dass zu viele erbärm- fahren kann, der den modernen Femi- www.spiegel.de zu archivieren.
liche Typen in Chefetagen sitzen, die ein nismus hinterfragt« ist falsch. Herr Fleisch-
129
Hohlspiegel Rückspiegel
Jetzt
in der Schweiz landete.
testen:
Aushang an einem Ladenlokal Mitte Mai erhob die Staatsanwaltschaft
in Hameln Frankfurt gegen die ehemaligen DFB-
Funktionäre Horst R. Schmidt, Wolfgang
www.deinspiegel.de Niersbach und Theo Zwanziger Anklage
wegen Steuerhinterziehung. Die Ermittler
sind überzeugt, dass der DFB mit der
Zahlung ein Privatdarlehen von Dreyfus
an Franz Beckenbauer, damals Chef
des WM-Organisationskomitees, ausge-
glichen und später als Betriebsausgabe
steuerlich geltend gemacht hat. Schmidt,
Niersbach und Zwanziger wiesen die Vor-
Aus der »Bruchsaler Rundschau« würfe zurück.
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Bier schmecken.
Andreas Dick,
Hopfenbauer für Bitburger