Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
UMBERTO ECO
DIE BIOGRAPHIE
Umschlagabbildung: © ullstein bild – Andree
Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort . . . . 117
Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem
Piemont. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Die Insel des vorigen Tages oder ein Buch von vielen Autoren
über die Ordnung des Universums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Abbildungsnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
Kindheit im faschistischen Italien
Von nun an war das Regime Mussolinis, den Pius XI nach Unter-
zeichnung der Verträge „den Mann“ nannte, „den uns die Vorsehung“
gesandt hat, trotz gelegentlicher Differenzen eine vom Vatikan ak-
zeptierte faschistische Diktatur mit katholischer Staatsreligion, und
Mussolini konnte 1932 verkünden: „Im faschistischen Staat gilt die
Religion als eine der tiefsten Offenbarungen des Geistes; sie wird da-
her nicht nur geachtet, sondern auch verteidigt und geschützt“ Dass
dies alles die Verwirrung (nicht nur) im Ausland noch vergrößern und
widerständige Aktivitäten wie die der – 1929 in Paris von antifaschis-
tischen Emigranten um Carlo Rosselli und Nitti gegründeten – Bewe-
gung Giustizia e Libertà, Gerechtigkeit und Freiheit, noch schwieriger
machen musste, liegt auf der Hand. Denn dass ein Hitler 1927 in Mein
Kampf seine „tiefste Bewunderung für den großen Mann südlich der
Alpen“ bekundete, war die eine, logische Seite, dass ein Churchill 1929
von Mussolini als der „Verkörperung des römischen Genius“ und dem
„größten Gesetzgeber“ sprechen konnte, die andere, weniger logische
Seite einer Faszination, die verständlich macht, wieso der Bonner Ro-
manist Ernst Robert Curtius 1932 in seinem Traktat Deutscher Geist
in Gefahr für die Faschisierung Deutschlands nach italienischem
Vorbild plädieren konnte. Unter Hinweis darauf, dass Italien in sei-
ner Geschichte „starke Zuströme germanischen Blutes“ empfangen
und in seinem „Bildungsideal […] die antike und die eigene nationale
Tradition“ bewahrt habe, rief Curtius, der eine entscheidende Rolle in
Ecos geistiger Entwicklung spielen wird, zur Abkehr vom modernen
Frankreich, das diese „Tradition“ verraten habe, und zur Kollaborati-
on mit Mussolinis Italien auf und erklärte: „Seit dem Sieg des Faschis-
mus hat die Romidee eine Renaissance erlebt. […] Je mehr Trennen-
des sich zwischen Deutschland und Frankreich auftürmt, umso mehr
Verbindendes taucht zwischen Deutschland und Italien auf.“
Der Plot – Das Mittelalter ist unsere Kindheit – William von Basker-
ville oder ein Weiser, der weiß, dass er nichts weiß – Nominalistische
Logik, irdische Verfügungsgewalt und das Problem der Armut –
Bettelorden und Universitäten oder die Geburtswehen des moder-
nen Buchwesens – Jorge, der Apokalyptiker, oder die Verachtung der
visuellen Massenmedien – Mutato nomine de te fabula narratur
oder Wahrheit aus dem Windelband – Von Zahlensymbolik oder
der Name des Mädchens – Und Rose hat sie gelebt, was Rosen leben
oder das Hohe Lied
Der Plot
Ausgerechnet in jenen ebenso arbeitsreichen wie politisch wilden Jah-
ren gelingt es Eco, umzusetzen, was er seit frühester Jugend geplant,
geübt und in vielen theoretischen Abhandlungen vorbereitet hatte. Im
März 1978 beginnt er mit der Redaktion eines Romans, der im Ok-
tober 1980 erscheint und den bekannten Semiotiker als Schriftsteller
weltberühmt machen wird: Der Name der Rose. Protagonisten dieses
Textes, den Eco selbst als historischen Roman in der Nachfolge von
Manzonis Die Verlobten (1821–1842) und des englischen Krimis à la
Conan Doyle versteht,* sind der etwa fünfzigjährige Franziskaner und
ehemalige Inquisitor William von Baskerville aus England und dessen
Gehilfe, der bisweilen naive Benediktiner-Novize Adso(n) aus dem
Klosterstift zu Melk in Österreich, der die Ereignisse im hohen Alter
niederschreibt. Sie treffen Ende November 1327 in einer Benediktiner-
Abtei im norditalienischen Apennin ein. Dort soll Baskerville im Auf-
trag König Ludwigs des Bayern (1314–1347), der sich im Jahr danach
von den ghibellinischen Verbündeten in Rom zum Kaiser krönen lässt,
bei einem Treffen zwischen Vertretern des Franziskanerordens und
einer Legation des Papstes Johannes XXII (1316–1334), eines ebenso
korrupten wie fanatischen Ketzerverfolgers, der in Avignon im frei-
willigen Exil residiert und Ludwig befehdet, zwischen der Kurie und
des Ketzertums verdächtigten franziskanischen Randgruppen vermit-
teln. Doch noch bevor er mit dieser Arbeit beginnen kann, wird Bas-
kerville, der unmittelbar bei der Ankunft im Kloster seine Fähigkeit
118 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort
unter Beweis gestellt hat, geradezu kriminologisch Zeichen (bzw. Spu-
ren und Indizien) zu deuten, vom Abt des Klosters, Abbone von Fos-
sanova, gebeten, einen Todesfall aufzuklären. Baskerville möchte so-
fort mit der Spurensuche beginnen, stößt aber auf ein überraschendes
Hindernis: Der Zugang zum vermutlichen Tatort, dem Obergeschoss
des Hauptgebäudes der Abtei, ist verboten. Fossanova begründet dies
damit, dass sich dort die Klosterbibliothek befinde, die so labyrin-
thisch angelegt sei, dass sich nur der Bibliothekar und sein Gehilfe
in ihr zurechtfänden. Zudem sei es aus religiösen Gründen verboten,
die Bibliothek zu betreten, stünden dort doch auch Lügenbücher von
Magiern, Juden, heidnischen Dichtern und anderen Ungläubigen, die
als Teil des göttlichen Plans zwar auch einen Abglanz der göttlichen
Weisheit enthielten und darum aufbewahrt werden müssten, Unkun-
digen aber zum Schutz ihres Seelenheils nicht zugänglich sein dürften.
Damit sind die Handlungskoordinaten abgesteckt. Baskerville und
Adson werden während ihres siebentägigen Aufenthaltes im Kloster,
in dessen Verlauf sich noch weitere Morde ereignen, heimlich die Bi-
bliothek erforschen, zumal deutlich wird, dass die Verbrechen etwas
mit einer geheimnisvollen griechischen Handschrift zu tun haben
müssen, die dort aufbewahrt wird. Die Morde lasten auch auf der
Begegnung zwischen den Franziskanern, unter Leitung ihres Or-
densgenerals Michael von Cesena, und der päpstlichen Legation aus
Avignon, unter Leitung der Inquisitoren Bernard Gui vom Domini-
kanerorden und Kardinal Bertrand del Poggetto, die beide am vierten
Tag im Kloster eintreffen, an dem sich wieder ein Mord ereignet, was
auch die Inquisitoren kriminalistisch tätig werden lässt. Sie verhaf-
ten Salvatore, einen etwas närrischen Mönch, der in seiner Jugend den
Dolcinianern, einer inzwischen als Ketzer verdammten Bettlersekte
angehört hatte, und ein armes Bauernmädchen, mit dem Adson zuvor
eine höchst erotische Begegnung gehabt hatte und das um Nahrung
bettelnd ins Kloster gekommen war, wo es von den Inquisitoren zur
Hexe erklärt wird. Am folgenden Tag nehmen sie noch Remigius fest,
den Kellermeister, den sie bezichtigen, einen der Morde begangen zu
haben, was er nach Androhung von Folter auch zugibt.
Da die Verhandlung zwischen den Franziskanern und der Legation
aus Avignon zuvor schon in die vom Papst gewünschte Feindseligkeit
umgeschlagen und damit gescheitert war, verlassen die päpstlichen
Abgesandten die Benediktiner-Abtei bereits am 6. Tag und nehmen
als Ausweis ihrer Kompetenz das Mädchen, Salvatore und Remigius
mit nach Avignon, wo der Scheiterhaufen auf sie wartet. Während
die Franziskaner ebenfalls (und zum Teil in wilder Flucht) die Ab-
Das Mittelalter ist unsere Kindheit 119
tei verlassen, ermitteln Baskerville und Adson weiter und erkennen,
dass alle Indizien auf Jorge von Burgos deuten, einen uralten, blinden
Mönch aus Spanien, dem sie bereits bei ihrer Suche begegnet waren
und der unentwegt gegen jede Form von Heiterkeit und Lachen zu ei-
fern pflegt. Sie finden ihn am Ende des sechsten Tages im Finis Africae,
dem geheimsten aller Räume der Bibliothek, wo Jorge zuvor den Abt
umgebracht hat und nun vor einem Folianten auf Baskerville wartet.
Er sei, so berichtet Jorge, einst selbst in der Abtei als Bibliothekar tätig
gewesen und habe seitdem als ihr heimlicher Herrscher darüber ge-
wacht, dass das gefährlichste aller Bücher niemandem zugänglich war,
weil es vom Lachen handle: das zweite Buch der Poetik des Aristoteles,
das der Komödie gewidmet war und das Jorge einst selbst – zusammen
mit Apokalypse-Darstellungen – in Spanien erworben hatte.
Auf Baskervilles Einwand, dass Lachen doch naturgegeben und
auch durch Wegschluss der Poetik nicht aus der Welt zu schaffen sei,
erläutert Jorge, dass die Rechtfertigung des Lachens durch Aristoteles
jede Autorität untergraben und damit auch die gottgewollte Ordnung
des Universums zum Einsturz bringen würde. Baskerville, so Jorge,
der die Seiten des Folianten mit Gift getränkt hat, an dem einige seiner
Opfer zugrunde gingen, möge den Text konsultieren und sich selbst
davon überzeugen. Doch als er hört, dass Baskerville die List durch-
schaut und Handschuhe angezogen hat, um die Seiten umzublättern,
reißt er die Poetik wieder an sich, beginnt, sie zu verschlingen, und
setzt im Handgemenge die Bibliothek in einen Brand, der die gesamte
Abtei vernichtet. Baskerville und Adson flüchten zu Ludwig dem Bay-
ern nach München, wo sich ihre Wege trennen, und während Basker-
ville im Nirgendwo verschwindet, kehrt Adson nach Melk zurück, um
dort am Ende seines Lebens zu notieren: Ich gehe und hinterlasse dies
Schreiben, ich weiß nicht für wen, ich weiß auch nicht mehr, worüber:
Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus’. [Die Rose von einst
steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen (NdR 635)].
William von Baskerville oder ein Weiser, der weiß, dass er nichts weiß
Mit dem Namen der Rose will Eco in unserer „Kindheit“, dem „Mittel-
alter“, die „Ursachen dessen […] aufspüren, was in der Folge entstan-
124 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort
den ist“, erkennt Max Kerner und registriert bewundernd, dass Eco zu
diesem Zweck nicht nur Zitate aus mittelalterlichen Texten in seinen
Roman einbaut, die aus unserer Zeit stammen könnten, sondern dass
er sogar „moderne Texte“ wie Wittgensteins Tractatus logico-philoso-
phicus von 1918 „in das Mittelalter“ zurückprojiziert, ohne damit die
historische Wahrscheinlichkeit seines Textes zu beeinträchtigen. Wie-
so das möglich ist, macht Eco gleich zu Beginn des Romans klar, lässt
er doch durch den (fiktiven) Baskerville daran erinnern, dass der von
ihm als Meister verehrte (und absolut reale) Franziskaner, Naturwis-
senschaftler und Mathematiker Roger Bacon (ca. 1214–ca. 1292) da-
von überzeugt war, man könne den göttlichen Plan (der Errichtung des
Paradieses auf Erden) durch die Wissenschaft der Maschinen realisie-
ren. Diese nämlich würde den Bau von Schiffen ermöglichen, die dank
Navigationsinstrumenten schneller als Segelschiffe auf den Meeren
kreuzen, von Wagen, die aus eigener Kraft fahren, und von winzigen
Instrumenten, die ungeheure Gewichte heben könnten. Das alles, er-
läutert Baskerville dem jungen Adson, seien Weiterentwicklungen
von Maschinen, die bereits seit der Antike existierten, wohingegen die
Flugmaschinen, deren Konstruktion Bacon ebenfalls voraussähe, der
Menschheit bislang unbekannt geblieben seien. Das freilich hindert
Baskerville nicht, an ihre Produktion zu glauben, was er (NdR 26) da-
mit begründet, dass Gott wolle, dass sie existieren und dass sie deshalb
gewiss längst schon in seinem Geist existierten.
Natürlich weiß Baskerville, dass diese Erklärung im Widerspruch
steht zur philosophischen Überzeugung seines (ebenfalls nicht fik-
tiven) franziskanischen Mitbruders William von Ockham (1285/95–
1349/50), mit dem ihn seit Oxforder Studienzeiten tiefe Freundschaft
verbindet und der solch eine Existenzweise der Ideen negiert. Und da-
mit sind wir mitten in jener Kontroverse, die seit Aristoteles’ logisch-
methodologischer Antwort auf Platons Ideenlehre das philosophische
Denken bestimmt, der man für das „Mittelalter“ den Namen des
„Universalienstreits“ gab und die mutatis mutandis in der Auseinan-
dersetzung von Idealismus und Materialismus ihre Fortsetzung in der
Neuzeit besitzt. Grosso modo ging es für die Philosophen des „Mittel-
alters“ darum, zu entscheiden, ob Gattungsbegriffe oder universalia
(wie „der Mensch“) den individuellen Ausprägungen („den einzelnen
Menschen“) bzw. den konkreten Dingen als das Wahre-Eigentliche
vorausgehen (universalia ante rem), eine Auffassung, die von den so-
genannten „Realisten“ wie Anselm von Canterbury (1033–1109) oder
Wilhelm von Champeaux (†1121) vertreten wurde (also von denje-
nigen, die – platonisch inspiriert – die universalia für das eigentlich
William von Baskerville oder ein Weiser, der weiß, dass er nichts weiß 125
Wirkliche oder Reale hielten), oder ob die universalia nicht im Sinne
der aristotelischen Entelechie als den Dingen innewohnende Entwick-
lungsmöglichkeit (bzw. universalia in rebus) zu verstehen seien, eine
Position, die von Pierre Abaelard (1079–1142) und ein Jahrhundert
später von den Thomisten eingenommen wurde, oder aber ob es sich
bei den universalia nicht um termini oder voces bzw. Wörter, Zeichen,
nomines oder Namen handelt, die die Menschen erschaffen hatten, um
die bereits existierenden Dinge zu benennen (universalia post rem), wie
die sogenannten „Nominalisten“ meinten, die man als die Phalanx der
empirisch orientierten Moderne betrachten kann.
Der Streit zwischen „Realisten“ und „Nominalisten“, der fun-
damentale Konsequenzen für das Nachdenken über Gott und die
Schöpfungsgeschichte hatte, steckt den philosophischen Rahmen
des Namens der Rose ab, in dem sich die historischen und fiktiven
Hauptgestalten bei aller grundsätzlichen Positionierung im Lager der
„Realisten“ oder „Nominalisten“ der historischen Wirklichkeit ent-
sprechend jeweils individuell-differenziert artikulieren, was durch-
aus Irrtümer, Widersprüchlichkeiten oder Kompromisse einschließt.
Das erklärt, wieso Baskerville dem von ihm als Naturwissenschaftler
und vor allem als Optik-Spezialist bewunderten Bacon, dem er – im
Roman – auch die Augengläser verdankt, ohne die er kaum noch le-
sen kann, auch einmal eine „realistische“ Reverenz erweist,* selbst
wenn Adson dies noch im Greisenalter missbilligt und nur (26) mit
den finsteren Zeiten entschuldigen kann, die auch einen klugen Mann
gezwungen hätten, Dinge zu denken, die zueinander im Widerspruch
standen. Und in der Tat scheint Baskerville vorwiegend im nomi-
nalistischen, der wissenschaftlich-experimentellen Erforschung der
Wirklichkeit zugewandten, von den konservativen Fraktionen der
Kirche als Häretiker bekämpften Lager engagiert zu sein. Das aber
wird vom doctor invincibilis und venerabilis inceptor, dem „unbe-
zwingbaren Gelehrten“ und „verehrenswerten Pionier“ William von
Ockham angeführt, dem Freund des ebenfalls nicht-fiktiven Michael
von Cesena, der (als Ordensgeneral) auch zur Franziskaner-Delega-
tion im Namen der Rose gehört und der zusammen mit Ockham – wie
der erzkatholische Louis Moréri (1643–1680) säuerlich vermerkt – die
„närrische Diskussion“ vom Zaun gebrochen hatte, die man „das Brot
der Franziskaner“ genannt habe und die um die Frage kreiste, ob die
Geistlichkeit die Konsumgüter („wie das Brot und den Wein“) nur
„benutze“ oder de facto besäße, eine Debatte, die im Namen der Rose
fröhliche Urstände feiert und in der historischen Wirklichkeit absolut
nichts Närrisches an sich hatte.
Michael Nerlich
Umberto Eco
Die Biographie
2010, 376 Seiten, 20 Abb., geb. mit SU,
Format 13,5 x 21,5
€[D] 29,90/SFr 49,90
ISBN 978-3-7720-8353-2