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Raina Zimmering

Mythen in der Politik der DDR


Raina Zirnmering

Mythen in der Politik


der DDR
Ein Beitrag zur Erforschung
politischer Mythen

Leske + Budrich, Opladen 2000


Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme


Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich

ISBN 978-3-8100-2732-0 ISBN 978-3-663-01492-8 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-663-01492-8

© 2000 Leske + Budrich, Opladen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist lirheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
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unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für VervielfaItigungen, Übersetzungen, Mi-
kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhalt

Abkürzungsverzeichnis ............................................................................ 9

Einleitung ................................................................................................ 11

Kapitel I:
Mythen in der Politik - theoretische Ausgangsfragen ............................. 17

Kapitel 11:
Der Antifaschismus - Griindungsmythos der DDR. ................................ 37

1. Narrative Vennittlung des antifaschistischen Mythos ................. 39


2. Antifaschistische Erziehung in der DDR und ihre
mythenstiftende Funktion.......................................................... .40
2.1 Der Geschichtsunterricht in der DDR und sein
Rezeptionsdilemma ................................................................... 43
2.1.1 "Faschismus und Kapitalismus gehören zusammen" .................. .44
2.1.2 "Der antifaschistische Charakter der Arbeiterklasse" .................. 46
2.1.3 Die Überhöhung der Rolle der KPD im antifaschistischen
Widerstand ................................................................................ 47
2.1.4 "Die Rote Annee als einzige Siegermacht über den
Faschismus" ......................................................................... 49
2.1.5 "Der Kapitalismus in der Defensive" ......................................... .49
2.1.6 "Die fiihrende Rolle der KPD bei der Beseitigung des
Nationalsozialismus" ............................................................ 50
2.1.7 "Der selbstbestimmte Antifaschismus in der SBZ" ..................... 52
2.1.8 "Die Aktionseinheit der Arbeiterklasse" ..................................... 53
2.1.9 "Die Gründung der DDR als Konsequenz der Abgrenzung
gegen die undemokratische Entwicklung und faschistische
Gefahr in Westdeutschland" ....................................................... 54
2.1.10 "Die DDR als der Staat der Antifaschisten" ................................ 55

5
2.2 Der Deutschunterricht in der DDR und die Herausbildung
eines antifaschistischen Mythos ................................................. 56
2.2.1 Die Lektüre antifaschistischer Prosa im Deutschunterricht
und der Mythos vom Antifaschismus ......................................... 62
3. Die Ikonographie des Antifaschismus in der DDR ...................... 66
3.1 Politische Denkmäler zum Antifaschismus ................................. 66
3.1.1 Sowjetische Mahnmale .............................................................. 72
3. l. 1.1 Das Treptower Ehrenmal ........................................................... 73
3.l.2 Deutsche antifaschistische Denkmale in der DDR ...................... 78
3.l.2.1 Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald ........................................ 79
3.l.2.2 Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen .................................... 96
3.l.2.3 Mahn- und Gedenkstätte RavensbTÜck ..................................... 109
3.1.2.4 Die Neue Wache als Mahnmal für die Opfer des
Faschismus und Militarismus ................................................... 125
3.l.2.5 Gedenkstätte für die im spanischen Bürgerkrieg Gefallenen...... 132
3.1.3 Die Rezeption antifaschistischer Denkmäler ............................. 137
3.2 Antifaschismus in der Auftragsmalerei der DDR ...................... 139
4. Die rituelle Seite des Antifaschismusmythos ............................ 157
4.1 Der "Internationale Gedenktag für die Opfer des
faschistischen Terrors und Kampftag gegen Faschismus
und imperialistischen Krieg" .................................................... 158
4.2 Der l. Mai und der Antifaschismus .......................................... 162
5. Die Wirksamkeit des antifaschistischen Mythos in der
DDR auf Identität und Integration ............................................ 164

Kapite1m:
Bauernkrieg und Reformation als politische Mythen der DDR. ........... 169

1. Die mythische Bedeutung von Bauernkrieg und


Reformation in der DDR .......................................................... 173
2. Die geistigen und kulturellen Grundlagen des
Bauemkriegs- und Reformationsmythos in der DDR ................ 176
3. Bauernkrieg und Reformation als politische Bezugspunkte
für deutsche Intellektuelle in der Nachkriegszeit... .................... 195
4. Das offizielle Bild von Bauernkrieg und Reformation
von 1949 bis in die 60er Jahre .................................................. 204
4.1 Die nationale Zielstellung des Mythos von Bauernkrieg und
Reformation in den 50er und 60er Jahren ................................. 206
4.2 Die mythische Begründung der Bodenreform und der
Kollektivierung des Bodens durch den Bezug auf den
Bauernkrieg ............................................................................. 207

6
4.3 Der Bauernkrieg als mythischer Bezug für die Nationale
Volksarmee der DDR (NVA) ................................................... 212
4.4 Die künstlerische Rezeption von Bauernkrieg und
Reformation ............................................................................ 215
5. Arbeit am Mythos in den 60er Jahren ....................................... 217
5.1 Die frühbürgerliche Revolution als Ursprung für die
"revolutionäre" DDR ............................................................... 218
5.2 Die 450. Jahrestagsfeier der Reformation ................................. 222
6. Die Rezeption von Bauernkrieg und Reformation in
Erziehung und Bildung ............................................................ 225
7. Die Modifizierung des Mythos in den 70er Jahren .................... 230
7.1 Das Bauernkriegsjubiläum 1975 ............................................... 230
7.2 Das Bauernkriegsforum in Bad Frankenhausen von
Werner Tübke .......................................................................... 233
7.2.1 Die politische Implementierung des Bauernkriegsmythos
in Bad Frankenhausen .............................................................. 233
7.2.2 Die künstlerische Rezeption des Bauernkrieges durch
Werner Tübke .......................................................................... 243
7.2.3 Rezeption des Bauernkriegspanoramas..................................... 251
8. Den Mythos zu Ende bringen ................................................... 257
8.1 Der kurze Aufstieg Luthers zur mythischen Hauptfigur
der DDR .................................................................................. 257
8.2 Das Martin-Luther-Komitee der DDR ...................................... 261
8.3 Die programmatische mythenpolitische Wende in der
Honeckerrede zur Konstituierenden Sitzung des
Lutherkomitees 1980 ............................................................... 263
8.4 Die theoretische Grundlegung der mythenpolitischen
Wende ..................................................................................... 267
8.4.1 Die paradigmatische Rede von Horst Bartel auf der
Konstituierenden Sitzung des Luther-Komitees 1980 ................ 268
8.4.2 Die "Thesen über Martin Luther" ............................................. 271
8.4.3 Die internationale wissenschaftliche Konferenz
"Martin Luther" in Halle ......................................................... 278
8.5 Der Versuch der mythenpolitischen Annäherung des
Staates an die Kirche über die Person Luthers .......................... 280
8.6 Die symbolpolitische Besetzung des öffentlichen Raumes
durch den Luthermythos 1983 .................................................. 282
8.6.1 Die Dokumentarfilmtrilogie über Luther im Fernsehen
derDDR .................................................................................. 283
8.6.2 Der Lutherfilm von 1983 ......................................................... 285
8.7 Die Rezeptionsprobleme des neuen Lutherbildes ...................... 294

7
Kapitel IV:
DerPreußenmythos in der DDR ........................................................... 301

1. Arbeit am Mythos .................................................................... 301


2. Die ideellen Wurzeln des Preußenmythos in der DDR .............. 304
3. Preußen in den ersten 20 Jahren der DDR. ................................ 318
4. Die Relativierung eines Negativbildes ...................................... 334
5. Der Aufstieg Preußens zu einem Identitätskriterium für
die DDR .................................................................................. 339
6. Der Beitrag Preußens zum Untergang der DDR ........................ 355

Schlussbemerkung ................................................................................. 359

Literaturverzeichnis .............................................................................. 363

1. Monographien ......................................................................... 363


2. Lehrpläne und Lehrbücher ....................................................... 379
3. Dokumente .............................................................................. 380

8
Abkürzungsverzeichnis

AGB Archiv der Gedenkstätte Buchenwald


BA Bundesarchiv
BZ Berliner Zeitung
CDU Christdemokratische Partei Deutschlands
DB Deutsches Bundesarchiv
DFD Demokratischer Frauenbund Deutschlands
DM Deutsche Mark
DRA Deutsches Rundfunk- und Femseharchiv
DR Deutsches Rundfunkarchiv
DSF Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische
Freundschaft
FDGB Freier Deutscher Gewerkschaftsbund
FDJ Freie Deutsche Jugend
HA Hauptabteilung
IDNR Infonnationsstelle des Deutschen Nachrichten- und
Rundfunkarchivs
KID Kommunistische Jugend Deutschlands
KJVD Kommunistischer Jugendverband Deutschlands
KPD Deutsche Kommunistische Partei
KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion
KZ Konzentrationslager
LDPD Liberaldemokratische Partei Deutschlands
LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft
LW Lenin-Werke
MEW Marx/Engels-Werke

9
ND Neues Deutschland (SED-Tageszeitung)
NDPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands
NSDAP Nationalsozialistische Arbeiterpartei
NVA Nationale Volksannee
SAPMOD Stiftung Archiv der Parteien- und
Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv
SBZ So\\jetische Besatzungszone in Deutschland
SDAPR Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands
SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
SMAD So\\jetische Militäradministration in Deutschland

VBKD Verband Bildender Künstler Deutschlands


VDN Verfolgte des Naziregimes
VEB Volkseigene Betriebe
VVN Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
ZtG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
ZK Zentralkomitee

10
Einleitung

Die Implosion des Gesellschafts- und politischen Systems in der ehemaligen


DDR gibt den Sozialwissenschaften eine Reihe von Fragen auf, die nicht
allein durch die Analyse des politischen Systems, der Effizienz der ökono-
mischen Ordnung oder der machtpolitischen Einbindungen erklärt werden
können. Konstellationen zwischen Zusammenbruch des Systems und politi-
scher Kultur und Psychologie sind ebenso wichtig für die Untersuchung
politischer Entwicklungen in der DDR wie die vorangegangenen Gesichts-
punkte. Gerade in gesellschaftlichen Umbruchsituationen spielen Wertvor-
stellungen, Gefühle und Wahrnehmungen für die Erklärung politischen
Verhaltens eine außerordentlich große Rolle. Ich gehe davon aus, dass ge-
sellschaftliche Wandlungsprozesse nicht nur durch berechenbare Kosten-
Nutzen-Verhältnisse unterlegt sind, sondern dass sich jahrzehntelang zu-
rückgehaltene und nach außen verschlossen gehaltene Einstellungen und
Empfindungen, die bei den einzelnen irgendwann entstanden, sich aufein-
ander zu bewegen und schließlich in den Strom des gemeinsamen Handeins
münden, einen ebenso großen Einfluss auf die Entwicklung der politischen
Gemeinschaft haben. "Politische Werte, Gefühle und Meinungen - heißt es
bei Gabriel Almond - sind weder bloße Reflexe sozialer und politischer
Strukturen, noch sind sie reduzierbar auf rationelle Entscheidungen von
Individuen. Die politischen Inhalte in den Köpfen von Bürgern und Eliten
sind komplexer, langlebiger und autonomer als Marxismus, Liberalismus
und rational choice Theorie glauben machen wollen."]
In der vorliegenden Publikation wird nun die Absicht verfolgt, der Ent-
stehung, der Festigung, dem Wandel und schließlich dem Verfall von politi-
schen Meinungen, Einstellungen und Verhalten in der DDR auf die Spur zu
kommen. Hierbei geht es nicht um die Darstellung politischer Meinungen
mittels empirisch deskriptiver Untersuchungen, wie diese im Rahmen der
Oral-History-Forschung (Interviews und Befragungen einzelner) oder in der
quantitativen Sozialforschung (Umfragestatistiken) durchgeführt werden,
sondern mehr um die Art und Weise der Entstehung von Einstellungen
durch historische Reminiszenzen und kollektive Selbstentwürfe. Dies kleide
ich in den Begriff des "politischen Mythos''', der in den letzten Jahren in

Vgl. AImond, Gabriel, A: Politische Kultur-Forschung - Rückblick und Ausblick. In: Berg-
Schlosser, Dirk und Jacob Schissler (Hrsg): Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Per-
spektiven der Forschung. PVS-Sonderheft 18/1987: 27-38.

11
den Geisteswissenschaften eine Renaissance und in der Politik ein Debüt
erfuhr.
Wenn die empirischen Sozialforscher durch die Vorlage ihrer Sta-
tistiken über politische Meinungen und deren Veränderung Erstaunen über
die statistische Treffsicherheit erzeugen, so bleibt doch immer die Frage
nach Ursachen und Zusammenhängen im Raume stehen. Dass Meinungs-
wandel oftmals politischem Wandel vorausgeht, erscheint immer noch als
Novum, doch dass dieser Meinungswandel teils willentlich - teils unbewusst
konstruiert wird, teils reaktiv - teils aktiv entsteht und seinen eigenen Ge-
setzen unterliegt, blieb bisher ein noch größeres Desiderat in den Sozial-
wissenschaften, besonders in der Politikwissenschaft. Diesem Desiderat wird
die Kategorie des politischen Mythos gerecht. Erst in den letzten zwei Jahr-
zehnten wandten sich einige Wissenschaftler auf qualitativ-heuristische
Weise dem Topos des politischen Mythos zu, wozu u.a. Wissenschaftler wie
Herfried Münkler,2 Andreas Dömer und Gerhard Göhler4 zählen.
Der bisher vorliegende Fundus zur Untersuchung politischer Mythen,
die sich hauptsächlich um die Nationwerdung in Deutschland und politische
Mythen der Bundesrepublik drehen 5, sollte nun im Rahmen eines von der

2 Zu den Schriften zum politischen Mythos gehören u.a.: Münkler, Herfried und Wolfgang
Storch: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos. Berlin: Rotbuchverlag 1988. Münk-
ler, Herfried: Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken. FrankfurtIM
1992. Münkler, Herfried: Politische Bilder, Politik der Metaphern. FrankfurtlM.: Fischer
1994. Münkler, Herfried: Die Nation als Modell politischer Ordnung. In: Ders. (Hrsg): Reich,
Nation, Europa. Modelle politischer Ordnung. Weinheim 1996: 61-95.
3 Für den politischen Mythos von Bedeutung sind besonders: Dörner Andreas: Politischer
Mythos und symbolische Politik. Theoretische Perspektiven und empirische Analysen am Bei-
spiel des Hermannsmythos in Deutschland. (Dissertation) an der Universität Essen 1993. Dör-
ner, Andreas: Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannsmythos: zur Entste-
hung des Nationalbewusstseins der Deutschen. Hamburg: Rowohlt 1994.
4 Göhler, Gerhard: Der Zusanunenhang von Institutionen, Macht und Repräsentation. In: Ders.
(Hrsg): Institution - Macht - Repräsentation. Wofiir politische Institutionen stehen und wie sie
wirken. Baden-Baden 1997: 11-63.
5 Francois, Etienne: Von der wiedererlangten Nation zur "Nation wider Willen". Kann man eine
Geschichte der deutschen Erinnerungsorte schreiben? In: Francios, Etienne, Siegrist, Hannes
und Jakob Vogel (Hrsg): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich 19.
und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vanderhoeck&Ruprecht 1995.
Smith, Gary: Arbeit am Vergessen. In: Ders. und Hinderk M. Emrich (Hrsg): Vom Nutzen des
Vergessens. Berlin: Akademie Verlag 1996: 15-26: 11-20.
Smith, Gary: Ein normatives Niemandsland? Zwischen Gerechtigkeit und Versöhnungspolitik
in jungen Demokratien. In: Ders. und Avishai Margalit (Hrsg): Amnesie oder Die Politik der
Erinnerung in der Demokratie. FrankfurtlMain: Suhrkamp 1997.
Bizeul, Yves: Die großen nationalen Mythen. Vortrag auf der Tagung "Politische Mythen und
Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen" vom 04.10.-05.10.1996 an der Universität
Rostock. Rostock 1996.

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Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten und an der Humboldt-Uni-
versität durchgeführten Projektes auf das Gebiet der DDR ausgedehnt wer-
den. So ist die vorliegende Veröffentlichung Ergebnis sowohl von Untersu-
chungen im Rahmen dieses Projektes und von Diskussionen mit dem Pro-
jektleiter, Herfried Münkler, als auch von weiterfiihrenden Forschungen und
Ausarbeitungen, die von der Autorin nach der Beendigung des Projektes
unternommen wurden.
Die inhaltliche Verbindung zwischen Mythos und Politik erscheint fiir
den ersten Augenblick absurd. Es drängt sich die Frage auf, was Mythen mit
Politik zu tun haben. Wenn Politik mit dem Adjektiv "mythisch" verbunden
wird, meint man meistens falsche, verlogene oder demagogische Politik. In
der Regel fungiert Mythos als Exklusionsbegriff, mit dem Denkformen ge-
meint sind, die als rückständig, minderwertig und unterkomplex bezeichnet
werden. Jedoch gilt fiir die Politik dasselbe, was fiir die von Cassirer in
ihren verschiedenen symbolischen Formen aufgezeigte Sicht auf Welt insge-
samt gilt, nämlich, dass auch Politik nicht nur auf wissenschaftlich analy-
tischem, sondern auch auf mythischem Bewusstsein aufbaut. 6 Ja, Politik
selbst ist teilweise mythisches Bewusstsein und kann auch ohne dieses gar
nicht existieren. Ich behaupte, dass politische Mythen jedem politischen
System inhärent und konstitutiv sind. Denn nur, wenn politische Ziele durch
Sinnbewusstsein verinnerlicht werden, kann daraus auch Politik entstehen.
Gerade da Politik ein ausgesprochen komplexes Gebilde ist, ist Reduzierung
von Komplexität in Form von Sinngeschichten und Geschichtskonstruk-
tionen unabdingbar.
In diesem Sinne schließe ich mich der Mythendefinition an, die zum
großen Teil auf Herfried Münkler zurückgeht. Danach sind politische My-
then Narrationen, also Geschichten, die von den Ursprüngen, dem Sinn und
der geschichtlichen Mission politischer Gemeinschaften handeln, um Orien-
tierungen und Handlungsoptionen zu ermöglichen. 7 Politische Mythen sind
also Medien politischer Legitimation und Integration fiir Gruppen von Men-
schen, seien es Parteien. Nationen oder Staaten. Gleichzeitig fungieren My-
then als Prozessoren der Herstellung kollektiver Handlungsmacht.
Keine politische Gemeinschaft konnte jemals auf solche Narrationen
verzichten. Ich weise auf Theseus im Falle Athens, auf Romulus bei Rom,

6 Cassirer, Ernst: Die Philosophie der symbolischen Fonnen. Drei Bände. Dannstadt: Wissen-
schaftliche Buchgesellschaft 1994.
7 Münkler, Herfried und Raina Zimmering: Politische Mythen der DDR. In: Humboldt-
Spektrum. Berlin 1996/3.

13
Moses und David bei den Juden hin, um die ganz alten Herkunftserzäh-
lungen zu nennen. Aber auch in der Neuzeit waren der Sturm auf die Bas-
tille als Symbol für die Französische Revolution, die Boston Tea-Party für
den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg oder der Sturm auf das Winter-
palais für die russische Oktoberrevolution mit Ereignissen verbunden, die
nicht nach ihrer tatsächlichen und sachlichen Wirkungsträchtigkeit in der
kollektiven Erinnerung fortlebten, sondern nach ihrer Wirkungsträchtigkeit
bezüglich der Konstituierung von Identität und Sinn einer politischen Ge-
meinschaft in der Gegenwart.
Der Zusammenbruch der DDR wirft nun die Frage auf, was es mit den
Mythen dieser politischen Gemeinschaft auf sich hatte, da sie in der Situa-
tion 1989/90 keine Klammer für den Zusammenhalt der Gesellschaft darzu-
stellen vermochten und offensichtlich keinen Kristallisationspunkt für politi-
sche Identität mehr bilden konnten.
In der vorliegenden Publikation werden GlÜndungs- und Sinnstiftungs-
mythen der DDR anhand verschiedener mnemotechnischer und symbolpoli-
tischer Medien und Verrnittlungsmethoden mit der Absicht der staatlichen
Legitimierung und der Entwicklung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins
untersucht. Hauptuntersuchungsgegenstand sind dabei "der Antifaschismus"
als entscheidender GlÜndungsmythos der DDR, "der Bauernkrieg und die
Reformation" als wichtige Additionsmythen und "Preußen" als gravierend-
stes Beispiel der "Arbeit am Mythos". Die Untersuchung wird anhand der
genannten Beispiele auf folgende Fragen zugespitzt: Welche Inkonsistenzen
und WidersplÜche wiesen die politischen Mythen in der DDR von vornher-
ein auf? Beispiel war die Übertragung des Mythos vom antifaschistischen
Widerstand der wenigen Widerstandskämpfer auf die gesamte Bevölkerung
der DDR. Welche äußeren Einflüsse konterkarierten das Mythensystem?
Dies betraf insbesondere die sich verändernde Exklusionsseite des Antifa-
schismus-Mythos zur Bundesrepublik, die schließlich die Frage nach der
Arbeit am Mythos, die Frage nach dem Gelingen der Anpassung politischer
Mythen an die sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Bedin-
gungen einschloss, was besonders am Luther- und Preußenmythos nachvoll-
zogen werden konnte. In der gesamten Untersuchung wird der Zusammen-
hang zwischen dem Charakter der Vennittlung und der Rezeption politi-
scher Mythen mit dem politischen System in der DDR herausgearbeitet und
Erwartung und Erfahrung, Versprechen und Nachvollziehbarkeit mythi-
scher Narrationen ins Verhältnis gesetzt.

14
Die politischen Mythen der DDR werden anhand von Materialien der
politischen Bildung, insbesondere im Schulunterricht, am Beispiel poli-
tischer Denkmäler und ihrer Entstehung (Ausschreibungen, Wettbewerben,
Intentionen der Künstler, internen Diskussionen, unterschiedlichen Ent-
würfen, politischem Entscheidungsprozess, öffentlicher Auseinander-
setzungen und schließlich Ritualisierungen) sowie am Beispiel weiterer
Medien der Erinnerungstechnik, wie Wandgemälden, Erinnerungstafeln,
Gedenkstätten etc., beschrieben und analysiert. Außerdem wird, besonders
im zweiten und dritten Kapitel, die wissenschaftliche Unterlegung und Be-
gründung mythischer Bilder in der Symbolpolitik dargestellt und analysiert.
Das Materialstudium bezog sich hauptsächlich auf Recherchen in der
Stiftung Archiv der Parteien- und Massenorganisationen der DDR beim
Bundesarchiv, im Staatsarchiv der Bundesrepublik in Potsdam, im Archiv
der Pädagogischen Wissenschaften, im Archiv der Akademie der Künste, im
Stadtarchiv Berlin und Rundfunk- und Fernseharchiv der Bundesrepublik in
Berlin. Weiterhin wurde Primär- und Sekundärliteratur zur Thematik ausge-
wertet.
Die Autorin und ihre Mitarbeiter, Alexander Dowe und Dirk Schwie-
dergoll, führten auch Personeninterviews zum Thema durch, wie z.B. mit
der Witwe des Bildhauers Fritz Cremer, dem Schöpfer des Buchenwald-
denkmals und des Mutter-Kind-Denkmals in Ravensbrück, sowie mit der
Witwe von Waldemar Grzimek, der einige Buchenwaldreliefs konzipierte.
Diese Interviews flossen teils direkt, teils indirekt in die Untersuchung ein.
Auf alle Fälle waren sie für die Empathie der Autorin mit dem Zeitgeist des
DDR-Anfangs von außerordentlicher Bedeutung.
Das vorliegende Buch ist auch Ergebnis der umfangreichen Hilfe einer
Reihe weiterer Personen, ohne die diese Veröffentlichung nicht zustande
gekommen wäre. Hierbei denke ich in erster Linie an meinen Freund und
früheren Kollegen aus dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozial-
forschung (WZB), Burkhard Bornschein, auf den die technische Anfer-
tigung des Buches zurückgeht, der mir aber auch methodisch viele äußerst
wertvolle Hinweise gab. Ich danke ganz besonders Frau Annina Hartung für
ihre bewundernswerte Ausdauer bei der Korrektur des Textes und den vielen
Hinweisen als Zeitzeugin und Vertreterin der Kriegs- und Aufbau-
generation, die immer ein wichtiges kritisches Korrektiv bei der Heran-
ziehung von Beweismaterial und dessen Wertung darstellten. Schließlich
möchte ich an dieser Stelle auch die große Hilfe meines Mannes, Dr. Ronald

15
Zimmering, hervorheben, der mich organisatorisch und technisch und durch
inhaltliche Diskussionen sehr unterstützte.

16
Kapitel I:
Mythen in der Politik - theoretische Ausgangsfragen

Für die Beschäftigung mit Themen, die in den Bereich des politischen My-
thos fallen, insbesondere wenn es sich um Untersuchungssubjekte handelt,
die sich aus ihrer Selbstdefinition heraus dem linken politischen Spektrum
zurechnen, ist eine theoretische Unterlegung und Auseinandersetzung not-
wendig. Nicht umsonst betreten Themen zum politischen Mythos relativ
theoretisches Neuland und sind immer wieder Anfeindungen ausgesetzt, die
ihren Ursprung in einer latenten Abneigung gegen die Tatsache haben, dass
politisches Handeln nicht nur auf konkretem Wissen beruht, sondern auch
auf Vermutungen, auf Gefühle und tradierte Überzeugungen in Form von
Sinnerzählungen zurückgeht. Wenn man der Politikwissenschaft philoso-
phische Theorien zugrunde legt, so kann man konstatieren, dass der Realis-
mus durch die Favorisierung von Theorien der Interessengebundenheit poli-
tischer Einstellungen und Entscheidungen bis hin zu Auffassungen des
vulgären Materialismus', wie er in ökonomistischen Theorien zum Aus-
druck kommt, tief verwurzelt ist und idealistische Erklärungen in den Hin-
tergrund gedrängt hat. Das, was Kant und idealistische Schulen der Er-
kenntnistheorie in der Philosophie entwickelten, nämlich, dass Erkenntnis
nicht nur Widerspiegelung der außerhalb des Bewusstseins existierenden
Wirklichkeit ist, sondern auch oder in erster Linie auf unsere Vorstellungen
von Wirklichkeit zurückgeht, ist in der Politikwissenschaft nur ansatzweise
vorhanden und entbehrt einer breiten Ausdifferenzierung. Auch wenn Poli-
tik tatsächlich zu einem großen Teil auf Interessen und der Instrumentali-
sierung von nachweisbaren Vorteilen beruht, was meistens mit dem Begriff
des Kosten-Nutzen-Kalküls bezeichnet wird, so ist eine sinnvolle Verknüp-
fung zwischen idealistischen und realistischen Herangehensweisen unbe-
dingt vonnöten. Denn unmittelbare Interessen und Vorteilsberechnungen
basieren nicht nur auf reinen Erfahrungen im materialistischem Sinne, son-
dern auch auf ideellen Erfahrungen, d.h. übermittelten Einstellungen und
Wertzuweisungen, die sich über moralische, emotionale und mentale Zuge-
hörigkeiten zu bestimmten politischen, sozialen und ethnischen Gruppen
oder über individuelle Überlegungen herausbilden. Die politische Kul-
turforschung, die besonders von Almond und Verba entwickelt wurde, stellt
zwar die ideelle, sensitive und kulturelle Dimension von Politik in den Vor-
dergrund, die Frage nach den ideellen Ursachen und den eigenen Entwick-

17
lungsgesetzen von politischen Einstellungen, Haltungen und Verhalten
bleibt aber unterdimensioniert. Die konstitutive Rolle von Sinn, Bedeutung
und Erinnerung für Einstellungen, Haltungen und Verhalten stellen aus
jenen Gründen keinen Schwerpunkt in dieser Herangehensweise dar. Und
dies erklärt auch das Aussparen der Kategorie des Mythos, der über Sinn
Auskunft gibt und sich über das kollektive Gedächtnis herausbildet. Die
Ablehnung, sich mit Mythos in der Politik zu beschäftigen, hat aber nicht
nur erkenntnistheoretische, sondern auch historisch-politische Ursachen.
Da die heutige Politikwissenschaft vor allem ein Kind des zweiten Welt-
krieges ist, ist diese Abneigung auch ganz selbstverständlich, denn Mythos
in der Politik wurde unmittelbar mit dem Nationalsozialismus und Faschis-
mus assoziiert. Mythos galt und gilt noch heute als Pforte zur politischen
Hölle Hitlers, der die Massen verführte und zu passiven oder aktiven Teil-
habern seiner Verbrechen machte. Diese Haltung gründete sich auf die Tat-
sache, dass die Mythen von der "Herrenrasse" und vom "Übermenschen"
Rassenwahn und Kriegstreiberei verschleierten und rechtfertigten. Und so
wurde dem Mythos in der Politik generell die Funktion zugeschrieben, de-
magogisch und gegenaufklärerisch zu wirken, um selbstsüchtige Machen-
schaften von Eliten zu verbergen und die Massen zu verführen. Nicht unwe-
sentlich trugen zu dieser Auffassung Theoretiker aus dem Feld der Anhän-
ger und Beforderer des Nationalsozialismus, wie Alfred Rosenberg mit dem
Buch "Der Mythus des 20. Jahrhunderts",8 bei, wie auch Wissenschaftler auf
der anderen Seite. Beispiel hierfür ist Ernst Cassirer, der als der Begründer
der Philosophie der symbolischen Fonnen und der Mythenphilosophie in
seinem letzten Buch "Der Mythus des Staates" die verderblichen Auswir-
kungen des "Durchbrechens des Mythus' in der Politik" darlegte. 9
Während die Kategorie des politischen Mythos in der liberalen Tradi-
tion der Politikwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend igno-
riert oder als kontraproduktiv verstanden wurde (Carl Schmitt)10, erklärten
sie linke Vertreter vehement zum Kampfbegriff und erweiterten die negative
Konnotierung auf die Klassenfrage. Die Ansätze der 20er Jahre, die auf
George Sorel zurückgingen, wurden dabei völlig ignoriert. In "Reflexions
sur la violence" kommt Sorel bei der Analyse von Bürgerkriegen und Revo-

8 Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen
Gestaltungskämpfe unserer Zeit. München 1930.
9 Cassirer, Ernst: Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens.
(ersch. 1945) FrankfurtlM. 1985.
10 Sc1unitt, Carl: Die politische Theorie des Mythos. In: ders. (Hrsg): Positionen und Begriffe im
Kampfum Weimar - Genf - Versailles 1923-1939. Hamburg 1940; Berlin 1988.

18
lutionen zu der Auffassung, dass Mythen die Menschen zu sozialen Bewe-
gungen zusammenschmieden, die historisch folgenreich sind. Dies demonst-
riert er besonders deutlich am Beispiel der revolutionierenden Wirkungen
von Mythen im Generalstreik. II Roland Barthes hingegen ordnete Mythos
einer "Sicht auf Welt" zu, die die Wirklichkeit verzerrt und der Erkenntnis
konträr gegenübersteht. Aus semiologiseher Sicht konstatiert er, dass der
Mythos in der Phase des Übergangs vom primären zum sekundären semio-
logisehen System als Störung in Erscheinung tritt und echte Erkenntnis
verhindert. I2 Es kommt zur sekundären Deformationen von ursprünglich
klaren und eindeutigen Bedeutungen, d. h. zu Bedeutungsverschiebungen.
Barthes sieht die Bourgeoisie als den Träger des Mythos an, die an der Ver-
schleierung der Realität ein existentielles Interesse hätte. Im Gegensatz dazu
seien die arbeitenden Schichten, die tagtäglich mit der Wirklichkeit des
Arbeitslebens konfrontiert sind, unmythisch. Demzufolge gehöre der Mythos
zur Rechten und nicht zur Linken. Diese Theorie hat ganz erheblich in der
westlichen Wissenschaft dazu beigetragen, dass der politische Mythos an
den Rand des Untersuchungswerten geraten ist. Peter Glotz kann als Bei-
spiel für die Fortführung der Auffassungen von Roland Barthes gelten, der
den Mythos ebenfalls den "Rechten" und Aufklärung den "Linken" zuord-
nete. I3 Dementsprechend sah die sozialistische Studentenbewegung im Wes-
ten im Mythos lediglich nur Krisensymptome der späten bürgerlichen Ge-
sellschaft.
In der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft in den ehe-
maligen staatssozialistischen Ländern folgte man trotz der gegenteiligen
politischen Praxis der Argumentationslinie, dass Mythen in der Politik et-
was Irrationales seien und lediglich der Volksverführung dienten. In Meyers
Neuem Lexikon wurden Mythen als "Darstellung von Welt- und Lebenszu-
sammenhängen auf der Grundlage einer irrationalen, idealistisch verzerrten,
häufig religiösen Einstellung" definiert. I4 Danach sind Mythen Ausdruck
eines unkritischen Weltbildes, das nichts mit dem wissenschaftlichen Ver-
ständnis von der Welt zu tun hat. Und genau das war für den Marxismus-
Leninismus entscheidender Anspruch gewesen: die Aneignung der Welt auf
wissenschaftliche Grundlage. Gleichzeitig galt der politische Mythos auf der
Grundlage des offiziellen Antifaschismus, der zwar selbst ein konstitutiver
Gründungsmythos darstellte, als wissenschaftliches Tabu In Abgrenzung

11 Sorel, George: Ober die Gewalt. Innsbruck 1928 und Frankfurt/M. 1981.
12 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt/M. 1964.
13 Glotz, Peter: Mythos und Politik. Ober die magischen Gesten der Rechten. Hamburg 1985.
14 Meyers Neues Lexikon. Stichwort Mythos. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1974.

19
vom Faschismus und auf der Grundlage eines pejorativen Mythenverständ-
nisses sollte nun eine Gesellschaft entstehen, die nach wissenschaftlichen
Kriterien geplant und entwickelt werde, in der der Mythos keinen Platz
mehr haben dürfe.
Eine andere Konstellation ergab sich im Zusammenhang mit dem Zu-
sammenbruch der staatssozialistischen Staaten, wodurch eine enge Verbin-
dung zwischen Mythos und totalitären Systemen hergestellt, und somit eine
pejorative Wirkung des Mythos automatisch unterstellt wurde. Danach soll
der Mythos die Stabilisierung von autoritären und totalitären Systemen ent-
scheidend befordert haben. Die Frage ist nun; Sind demokratische Gesell-
schaften mythenlos? Über die Konstellation zwischen demokratischen Staa-
tensystemen und politischen Mythen existieren nur wenige Arbeiten, und
diese hauptsächlich in den USA und in Frankreich, aber nicht in Deutsch-
land. Wenn jedoch mythisches Bewusstsein Teil der "Sicht auf Welt" und
der Distanznahme zum "Absolutismus der Wirklichkeit" überhaupt ist, wie
dies Cassirer und Blumenberg eindrucksvoll nachwiesen, dann müsste dies
alle Gesellschaften, sowohl totalitäre als auch demokratische, betreffen.
Die durch die Abgrenzung zum Nationalsozialismus und zu totalitären
Systemen entstandene Abneigung, sich wissenschaftlich dem Thema des
Mythos zu nähern, beruht auf der wissenschaftlichen Annahme, dass My-
thos allein ein Instrument der Politik darstellt, mit der das Unwissen des
Volkes ausgenutzt werden kann. Es geht hier nicht um eine primäre Katego-
rie, d.h. eine grundlegende Bewusstseins- und Lebenskategorie, sondern um
eine sekundäre, abgeleitete Kategorie. Und genau da liegt das Problem.
Hierfür bietet die Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer
eine Lösung, in der er die Denk-, Anschauungs- und Lebensform des My-
thos thematisierte. 15 Ihm geht es um die verschiedenen Formen, die zur
Erkenntnis und Sicht von Welt führen, die für ihn in Fortführung des Kant-
sehen Erkenntnissystems immer nur durch "innere Scheinbilder oder Sym-
bole" möglich sind. Cassirer begründet diese Auffassung folgendermaßen:

"Ist es uns einmal geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfahrung Bilder von der
verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir an ihnen, wie an Model1en in kurzer
Zeit Folgen entwickeln, welche in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen
unseres eigenen Eingriffes auftreten werden ... Die Bilder, von welchen wir reden, sind die
Vorstel1ungen von den Dingen.,,16

15 Cassirer, Ernst: Die Philosophie der symbolischen Formen. a.a.O.


16 Cassirer, Ernst: Die Philosophie der symbolischen Formen. a.a.O. Band 1. Die Sprache
(1923): 5.

20
Wie aus dem Zitat hervorgeht, vertritt Cassirer auch die Auffassung,
dass die Menschen mittels der Symbole in der Lage sind, die Welt selbst zu
beeinflussen und Entwicklungen vorauszusehen. Die Erkenntnis, dass die
Wirklichkeit nicht linear zugänglich ist und immer der Vermittlung über
Symbole bedarf, bringt ihn zu der Überzeugung, dass es nicht nur das eine
Sein gibt, sondern eine Vielfalt des Seins, entsprechend der unterschied-
lichen Vermittlungsformen. Diese Formen sind die symbolischen Formen,
die auch als Kulturformen verstanden werden, da es um das Sich-Verhalten
gegenüber dem Gegenstand geht. So hat Erkenntnis nicht nur eine nachbil-
dende, sondern auch eine bildende Kraft. Mit der Philosophie der symbo-
lischen Formen wendet sich Cassirer auch von der bis dahin in der Philoso-
phie praktizierten Scheidung zwischen der "mundus sensibilis" und der
"mundus intellegibilis" ab, wobei er für die Sinnlichkeit sowohl den passi-
ven Eindruck als auch das aktive Tun in Anspruch nimmt.
Der Mythos nimmt neben anderen symbolischen Formen, wie der Wis-
senschaft, der Sprache, der Kunst oder der Religion, eine gleichberechtigte
Stellung ein. Auch wenn diese Gleichbedeutung mit den anderen Formen
nicht konsequent durchgehalten und oftmals als primitive Stufe von Er-
kenntnis apostrophiert wird, so weist Cassirer konsistent nach, dass sich der
Mensch der Wirklichkeit sowohl durch "reine Erkenntnis" als auch myt-
hisch nähert.
Ernst Cassirer betrachtete die mythische Form des Bewusstseins des
Menschen als eine im Rahmen der "Sicht auf Welt" fest verankerte, anthro-
pologisch und kulturell bedingte Form, die ebenso wie alle anderen symboli-
schen Formen, z.B. die wissenschaftliche Erkenntnis, die Welt objektiviert,
d.h. verallgemeinert. Jedoch unterscheidet sich die Art und Weise der "Ob-
jektivierung" durch den Mythos von den Prinzipien der wissenschaftlichen
Erkenntnis wesentlich. Im wissenschaftlichen Denken werden sinnliche
Daten in einen kausalen Relations- und Systemzusammenhang gestellt, der
zu einem Urteilszusammenhang wird. Es wird unterschieden, verglichen,
zugeordnet und identifiziert. Alles Besondere wird auf das Allgemeine bezo-
gen und an ihm gemessen. Es bildet sich ein System von Grunden und Fol-
gen, das die rein sinnliche Wahrnehmung zu einer objektiven Erkenntnis
umbildet.
Anders beim Mythos: Im Mythos werden sinnliche Eindrucke und un-
mittelbare Erfahrung als wahr betrachtet. Für ihn gibt es keine verschie-
denen Realitätsstufen, es fehlt die Tiefendimension. Cassirer schrieb:

21
"Es fehlt hier vor allem jede feste Grenzscheide zwischen dem bloß Vorgestellten und der
wirklichen Wahrnehmung, zwischen Wunsch und Erfilllung, zwischen Bild und Sache.,,17

Die Eigenart des mythischen Denkens zeigt sich darin, dass verschiede-
ne Sinneseindrücke nicht vertikal analysiert, sondern horizontal synthetisch
nach räumlicher und zeitlicher Ähnlichkeit zusammengeschlossen werden,
was sich in dem Beispiel der Volksweisheit "Die Lerche bringt den Som-
mer" verallgemeinern ließe.
Mythisches Bewusstsein unterscheidet also nicht nach verschiedenen
Realitätsstufen, nach dem Zusammenhang zwischen Ursachen und Folgen,
sondern nach dem Heiligen und dem Profanen, wobei immer das zum Heili-
gen wird, was aus dem gegenwärtigen Interesse heraus einen Sinn und Be-
deutsamkeit erhält. Cassirer führte dazu aus, dass der Gegensatz zwischen
Profanem und Heiligem "auch alle besonderen Scheidungen und Verknüp-
fungen im Ganzen des Raumes und im Ganzen der Zeit" beherrscht. 18 Dar-
aus erwächst die Resistenz des Mythos gegen "besseres Wissen" oder
schmerzliche Erfahrung, d. h. dass kollektive Überzeugungen auch bei
nachweislichen Irrtümern lange nicht aufgegeben werden, wenn sie gegen-
wärtigen Erwartungen entsprechen.
Für die Politik gilt dasselbe, was für die von Cassirer in' ihren verschie-
denen symbolischen Formen aufgezeigte Sicht auf Welt und für die allge-
meine Denk-, Anschauungs- und Lebensform insgesamt gilt, nämlich, dass
auch Politik nicht nur auf wissenschaftlich analytischem, sondern auch auf
mythischem Bewusstsein aufbaut. Wie schon ausgeführt, ist Politik selbst
mythisches Bewusstsein und kann auch ohne dieses nicht existieren. Denn
Politik ist ein komplexes Gebilde, das von allen Akteuren, auch den Politi-
kern selbst, nicht nur nach analytisch nachweisbarem Wissen, sondern vor
allem nach Glaubens- und Wertevorstellungen ausgeübt wird, die aufmythi-
scher Objektivierung beruhen. Politische Beweggründe bauen neben Wissen
um Ursachen und Folgen und reinem Kosten-Nutzen-Kalkül auch auf Iden-
titäten und Werten auf.
Anliegen des Buches "Politik als Ritual" von Murray Edelmann ist es,
die Konstellation zwischen Mythos und Politik zu analysieren, indem die
symbolische Dimension von Politik besonders herausgearbeitet wird. 19 Ri-

17 Cassirer, Ernst 1994: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische
Denken. Dannstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft: 48.
18 Ebenda: 103.
19 Edelmann, Murray 1976: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen
und politischen Handeins. FrankfurtlM., New York.

22
tuale und Symbole in der Politik haben für ihn eine identitätsstiftende und
entlastende Funktion. Edelmann definiert Symbole als verdichtete Ideen,
Gefühle und Ansichten ganz verschiedener Menschen, die deren Hoffnun-
gen, Ängste und Bedürfnisse ausdrücken. Mit Symbolen wird ein Kollektiv-
und Gruppengefühl erzeugt, das sich nicht im Solidarempfinden erschöpft,
sondern zu gemeinsamem Handeln führt. Symbole dienen der Bewusst-
machung des Eigenen und sind Mittel der Ab- und Ausgrenzung.
Wenn Mythen konstitutiver Teil von Politik sind, dann können sie auch
nicht an und für sich gut oder schlecht oder, auf die Wissenschaft bezogen,
analysewert oder analyseunwert sein. Es geht also darum, Mythos auch in
der Politikwissenschaft als einen wichtigen Gegenstand zu begreifen, der
seine Daseinsberechtigung hat und seine eigenen Bewegungsgesetze auf-
weist. Analysiere ich nicht die Sinngeschichten, die sich auf vergangene
Ereignisse und Personen berufen, und die damit in Zusammenhang befind-
lichen Zugehörigkeitsgefühle, kann ich den Grund der Motivationen für
politische Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen von sozialen
Gruppen und politischen Gemeinschaften nicht schlüssig feststellen.
Aber auch Betrachtungen aus den Religionswissenschaften, wie die Un-
tersuchungen von Mircea Eliade20 und Rudolf Bultman,21 die Mythen als
Bindeglied zwischen dem Heiligen und der Realität in der modemen, "ent-
zauberten" Welt betrachten, geben Auskunft über den Standort politischer
Mythen in der Gesellschaft. Hilfreich sind oft auch Deutungen mythischen
Verhaltens aus der Psychoanalyse, die Mythen nach Sigmund Freud22 und
Karl Abraham23 als "kollektiven Traum" und als Schuldbewältigungsstrate-
gie im kollektiven Bewusstsein definieren.
Eine weitere wichtige Quelle für die Untersuchung politischer Mythen
sind Schriften des deutschen Philosophen Hans Blumenberg, der den My-

20 Die rur den Mythos bedeutendsten Schriften sind: Eliade Mircea (1984): Das Heilige und das
Profane. Vom Wesen des Religiösen. FrankfurtlM. Und: Ders. (1988): Mythos und Wirklich-
keit. Frankfurt! M.
21 Vgl. Bultmann, Rudolf: Jesus Christus und die Mythologie. Das neue Testament im Licht der
Bibelkritik. Hamburg 1964.
22 In "Totem und Tabu" beschreibt Sigmund Freud die symbolischen Grundlagen der Herstel-
lung von Integration und Identität durch kollektive Schuldentlastung innerhalb von Gemein-
schaften. Auch in "Die Traumdeutung" werden Mythen als kollektive Entla-
stungsmechanismen herausgearbeitet. Vgl. Freud, Sigmund (1912) Totem und Tabu. In: Sig-
mund Freud: Gesanunelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 9. Frankfurt! M. 1968. Und:
Ders. 1900: Die Traumdeutung. ebenda, Bd. 1/2.
23 Vgl. Abraham, Karl (1909): Traum und Mythos. In: Karl Abraham: Schriften zur Theorie und
Anwendung der Psychoanalyse. Eine Auswahl. Hg. v. J. Cremerius. FrankfurtlM. 1972: 139-
196.

23
thos unter dem Gesichtspunkt der Distanznahme zum "Absolutismus der
Wirklichkeit" betrachtet. 24 Er geht davon aus, dass nach der "kopernika-
nischen Wende", d.h. nach der verlorengegangenen Illusion der Erschaffung
und Lenkung der Menschheit durch einen allmächtigen Gott, der Mensch
nach neuem Sinn und Bedeutsamkeit seines Daseins sucht und sie durch den
Mythos findet. Der Mythos konstruiert Sinnesgeschichten, durch die die
Menschen ihre Angst vor der Sinnlosigkeit des Daseins überwinden. Im
Anschluss an Hans Blumenberg werden danach Mythen in der nun folgen-
den Untersuchung als "Geschichten, in denen und durch die der human
unverfügbaren Faktizität der Welt eine Bedeutsamkeit für den Menschen
beigelegt wird" verstanden?5 Wenn also kein Sinn vorhanden wäre, wäre
auch Politik sinnlos und somit nicht motivierbar.
Der mehr auf den Lebenssinn abhebende Ansatz von Blumenberg, der
keinen direkten Zeitbezug kennt, steht den stärker auf die Erinnerung und
das Gedächtnis orientierenden Gedächtnistheorien gegenüber. Mythen be-
ziehen sich danach in erster Linie auf historische Ereignisse, die für die
Gegenwart einen Sinn darstellen und deshalb besonders hervorgehoben
werden. In diesem Sinne definiert Jan Assmann Mythen als "Transforma-
tion von Vergangenheit in fundierende Geschichte".26 Und etwas differen-
zierter führt er aus:

"Mythos ist eine Geschichte. die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu
orientieren, eine Wahrheit höherer Ordnung, die nicht einfach nur stimm~ sondern darüber
hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt." 7

Geschichte wird in Geschichten umgewandelt, die an bestimmte tatsäch-


liche oder erfundene historische Ereignisse oder Personen erinnern, um Sinn
und Wert in der Gegenwart zu bestimmen. Dabei geht es nicht um Gedächt-
nis schlechthin, sondern um das kollektive Gedächtnis. Kollektives Ge-
dächtnis ergibt sich nach Maurice Halbwachs aus dem kollektiven Rahmen
der Erinnerung. 28 Die gegenwärtige Gemeinschaft bestimmt, was aus der
Vergangenheit erinnert wird und was nicht. Trotz der Verdienste von Halb-
wachs für die Herausarbeitung der sozialen Verfasstheit des kollektiven

24 Blumenberg, Hans(1984): Arbeit am Mythos. FrankfurtJM.: Suhrkamp.


25 Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Manfred
Fuhrmann (Hrsg): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971: 11-66.
26 Assmann, Jan: Das kulturelIe Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in
fiühen Hochkulturen. München: Beck 1997: 77.
27 ebenda: 76.
28 Vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. FrankfurtJM.:
Suhrkamp 1985. Und: Ders.: Das kolIektive Gedächtnis. FrankfurtJM.: Fischer 1991.

24
Gedächtnisses, blieb bei ihm das Problem des kulturellen Gedächtnisses
unberührt. Demgegenüber unterscheiden Aleida und Jan Assmann zwischen
kommunikativem, also Alltagsgedächtnis, und kulturellem, d.h. vermittel-
tem Gedächtnis?9 Der Unterschied besteht zum einen im Zeithorizont, zum
anderen in den Vermittlungsagenturen und den Erinnerungsproduzenten.
Während Alltagsgedächtnis direkt von Mann zu Mann, unstrukturiert und
ohne große Hierarchie stattfindet, ist das kulturelle Gedächtnis medial und
institutionell vermittelt und interpretiert. Durch kulturelle Formung (Texte,
Riten, Denkmäler) und institutionelle Kommunikation (Rezitation, Be-
gehung und Betrachtung) werden Ereignisse der Vergangenheit zu Zeit-
inseln für Identität mit der gegenwärtigen Gesellschaft und tragen zu ihrer
Integration bei. Das gute Funktionieren des kollektiven Gedächtnisses hängt
in hohem Masse von der weitgehenden Übereinstimmung zwischen kom-
munikativem und kulturellem Gedächtnis ab. Die Theorien zum kollektiven
Gedächtnis erlauben es, der inneren Struktur und den Funktionsweisen
politischer Mythen auf die Spur zu kommen.
Wichtig für die Herausbildung von Sinn für die Identität und Integration
von politischen Gemeinschaften sind die Implentierungsmechanismen poli-
tischer Mythen. Da politische Mythen nicht nur auf überprütbares Wissen
und analytische Beweisführung rekurrieren, sondern sich vor allem über
sinnliche Wahrnehmung herausbilden, erhalten Bilder, Erzählungen, Ri-
tuale und Symbole eine konstitutive Bedeutung. Auf diese Weise werden
Mythen Erzeugnisse gesellschaftlicher Kommunikation und symbolischer
Orientierung. So treten Mythen in narrativer, d.h. erzählerischer, in iko-
nographischer - in bildlicher und in ritueller Form in Erscheinung. Die
narrative Seite politischer Mythen zeigt sich in politischen Reden, in Slo-
gans, in Losungen, aber auch in der Erziehung und Bildung in den Lehr-
büchern, in Romanen und Zeitungsberichten. Besonders wichtig sind auch
Erzählungen von Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe, die sich dem
wissenschaftlichen Beweis meistens entziehen. Ikonographisch bilden sich
politische Mythen über Denkmäler, Wandbilder,Pahnen, Embleme, Filme
oder Bauwerke heraus, die Bedeutung und Sinn erzeugen und politische
Vorstellungen prägen. Die Feierlichkeiten zur Begehung bestimmter Jah-
restage und historischer Ereignisse, in denen durch Wiederholung und
nachvollziehende und kollektive Handlung und Bewegung Zugehörigkeit

29 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan und Tonio
Hölscher (Hrsg): Kultur und Gedächtnis. FrankfurtlM.: Suhrkamp 1988: 9-19.
Weiterhin Vgl. Assmann, Aleida und Dietrich Harth (Hrsg): Mnemosyne. Formen und Funkti-
onen der kulturellen Erinnerung. FrankfurtlM.: Fischer 199 I.

25
immer wieder neu beschworen und Überzeugungen gefestigt werden, gehö-
ren zur rituellen Seite der Implementierung von Mythen in der Politik.
Wenn theoretisch unterstellt werden kann, dass Mythen und Politik ei-
nen Funktions- und Systemzusammenhang darstellen, ist noch immer nicht
das theoretische Problem benannt, nach welchen Bewegungsgesetzen dieser
Zusammenhang abläuft. Hierbei stehen folgende theoretische Fragen im
Mittelpunkt:
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Gesellschaftsfonn und Typ des poli-
tischen Systems und der Art und Weise der Mythenproduktion und -rezeption?
In welchem Funktionszusammenhang stehen Mythenrezeption und Mythenpro-
duktion?
Welchen Gesetzen der Eigenbewegung unterliegen politische Mythen, was be-
sonders die Frage der Konsistenz und inneren Logik der Narration betriffi (Sta-
bilität des narrativen Kerns und hohe periphere Variabilität)?
Der Konstellation zwischen Gesellschaft und Mythos und seiner Funk-
tion in der politischen Gemeinschaft kann auf der Grundlage der Untersu-
chungen von Aleida und Jan Assmann nähergekommen werden. Besonders
wichtig hierbei ist die Schrift "Die Metaphorik der Erinnerung", in der
Aleida Assmann bestimmte Formen der kollektiven Erinnerung mit be-
stimmten Gesellschaftstypen verbindet. 30 Die von ihr verwendete Metapher
des Tempels, auch des "Ruhmestempels" , in den zwar die Informationen
zufällig hineingelangen, doch von dem aus dann, je nach Laune der Tem-
pelhüterin, der Göttin Fama, die Erinnerungen von oben nach unten verord-
net werden, kann man mit hierarchischen autokratischen Gesellschaften
identifizieren. 3l Hingegen dient die Metapher der Bibliothek, die einen rie-
sigen Fundus an Zeugnissen über vergangene Ereignisse und Begebenheiten
aufbewahrt und aus der man, lediglich auf die Hilfe des Bibliothekars ange-
wiesen, dieses oder jenes nach eigenem Ennessen herausnehmen kann, als
Gleichnis für die Erinnerungspflege in offenen, unhierarchischen und de-
mokratischen Gesellschaften. 32 So wie es keine reinen Formen der genann-
ten Gesellschaften gibt, existieren auch keine reinen, von Assmann aufge-
zeigten Erinnerungsformen. Entscheidend jedoch ist, dass bestimmte Typen

30 Assmann, A1eida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Dies. und Dietrich Harth (Hrsg):
Mnemosyne. Fonnen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/M.: Fischer 1991:
13-35.
31 ebenda: 15.
32 ebenda: 16.

26
von Gesellschaft auch durch bestimmte Erinnerungsfonnen erkennbar sind.
Assmann schreibt:

"Die Gebäude-Metaphern der Memoria verbinden sich mit unterschiedlichen Gedächtnis-


formen. Der Ruhmestempel se\egiert, kanonisiert und monumentalisiert Personen und
Werke nach Art eines Panteons als Summe verbindlicher, zeitenthobener Werte. Der Ge-
dächtnisvorrat, der von der Bibliothek aufbewahrt wird, ist von anderer Art. Es ist die Kun-
de des Vergangenen, des durch die Zeit hindurch Geretteten. Verpflichtet der Tempel zum
Andenken für die Zukunft, so ermöglicht die Bibliothek Wissen von der Vergangenheit. Den
einen Modus der Erinnerung assoziieren wir mit dem Denkmal, den anderen mit dem Ar-
· ,,33
ChIV.

Selegieren, Kanonisieren und Monumentalisieren als Metapher für hier-


archische Gesellschaften agieren nach Jan Assmann nach dem Prinzip,
"dass nichts geändert werden darf. Nichts darf weggenommen, nichts hin-
zugefügt werden.,,34 Er bezeichnete diese Fonn auch als "hierartische Still-
steIlung". Auch Claude Levi-Strauss stellt eine Verbindung zwischen Erin-
nerungstyp und Gesellschaftstyp her, indem er entsprechend seines struktu-
rellen Theoriemodells von "societes froides" und "societes chaudes" spricht.
Er definiert die Art und Weise der Erinnerung dieser beiden Gesellschafts-
fonnen dahingehend:

" ... die einen (kalte Gesellschaften) versuchen dank der Institutionen, die sie sich geben,
auf gleichsam automatische Weise die Wirkung zu annullieren, die die historischen Faktoren
auf ihr Gleichgewicht und ihre Kontinuität haben könnten; und die anderen (heiße Gesell-
schaften) interiorisieren entschlossen das historische Werden, um es zum Motor ihrer Ent-
wicklung zu machen.,,35

Sicher ist diese Unterscheidung von Erinnerung an zwei entgegenge-


setzte Fonnen und deren Bindung an bestimmte Gesellschaftstypen proble-
matisch, denn es ist ja gerade charakteristisches Kennzeichen von Mythos,
dass bestimmte "historische Fakten" aus der dominierenden Narration aus-
geschlossen werden, deren "Wirkung zu annullieren". Dies sind konstitutive
Funktionen von Mythen, unabhängig davon, in welcher Art von Gesellschaft
sie auftreten. Wichtigeres Unterscheidungsmerkmal für die Konstellation
zwischen Gesellschafts- und Erinnerungsfonn ist die Art und Weise der
Implementierung und Rezeption der mythischen Geschichten. Fragen, ob
nur wenige oder viele Gruppen daran beteiligt sind und ob nur eine zentrale

33 Assmann, Jan: Stein und Zeit. Das "monumentale" Gedächtnis der altägyptischen Kulturen.
In: Ders. und Tonio Hölscher (Hrsg): Kultur und Gedächtnis. FrankfurtlM.: Suhrkamp 1988:
94.
34 ebenda
35 Levi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994: 270.

27
Narration in Form des Tempels oder des Monuments oder mehrere sich
wechselseitig beeinflussende existieren, wie dies das Bild der Bibliothek
oder des Archivs vermittelt, sind weitaus aussagekräftiger. Aus der Art und
Weise der Konstruktion von Vergangenheit kann nun geschlossen werden,
welche Gesellschaft und welches politische System bestimmten Formen des
Mythenumgangs entspricht 1a der folgenden Untersuchung soll der Frage
nachgegangen werden, welcher Erinnerungstyp in der Vermittlung und
Rezeption der Sinngeschichten der DDR dominierte.
Ein weiteres Problem ist die Anpassungsfähigkeit von mythischen Nar-
rationen an gesellschaftliche Veränderungen mittels veränderter Vermitt-
lungs- und Rezeptionsformen. Wenn sich die Form der Gesellschaft ändert,
müsste sich auch die Handhabung der Erinnerung, in unserem Fall die Form
der Vermittlung und Rezeption der mythischen Geschichten, ändern. Ver-
schieben sich hierarchische Gesellschaftsstrukturen hin zu funktional diffe-
renzierten Strukturen, dann verändert sich auch die kulturelle Erinnerung
von dem Typ des Tempels oder Monuments hin zur Bibliothek oder zum
Archiv. Bedingung hierfür ist jedoch, dass diese Verschiebung auch zuge-
lassen wird, dass verschiedene Erinnerungen akzeptiert werden und nicht
mehr nur eine homogenisierte Form existiert. So stellt sich die Frage, ob in
der DDR Erinnerungsform und Gesellschaftsform, vermittelt über das politi-
sche System, übereinstimmten und wie sich dieses Wechselverhältnis gestal-
tete.
Aus der Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem
Gedächtnis bei Aleida und Jan Assmann können für das Verhältnis zwi-
schen politischen Systemen und politischem Mythos weitere theoretische
Schlüsse gezogen werden. Es wird davon ausgegangen, dass für die Einheit
einer sozialen Gruppe, für deren Stabilität und gutes Funktionieren, kom-
munikatives und kulturelles Gedächtnis ein Höchstmass an Übereinstim-
mung aufweisen müssen. Wenn sich kulturell konstruierte Bilder über die
Vergangenheit nicht mit dem Alltagsgedächtnis der Mehrheit der Mitglieder
einer sozialen Gruppe decken, diese konterkarieren und beschädigen, ist die
konsensbildende Kraft politischer Mythen in Gefahr. Auch wenn sich beide
Formen des kollektiven Gedächtnisses auf Grund ihrer verschiedenen Qua-
litäten und Eigenschaften generell immer im Widerspruch miteinander
befinden, so entwickeln sie sich durch gegenseitige Reibung und Verschlin-
gung zu einer geschlossenen Sinnesgeschichte oder besser gesagt Narration.
Ist diese Entwicklung gestört, dann überwiegt entweder das Alltagsgedächt-
nis und ist für kulturelle Formung nicht mehr offen, was auf die Gemein-
schaft nachhaltige Wirkungen bis hin zum Verfall haben kann, oder aber

28
das kulturelle Gedächtnis vereinsamt und wird vom Alltagsgedächtnis nicht
mehr verarbeitet und lässt somit die mythische Narration zerbrechen. Dieser
Zusammenhang soll bei der Erörterung der Auswirkungen auf die Binde-
kraft politischer Mythen in der DDR für die Konsistenz und Stabilität der
Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen.
Wendet man sich der Untersuchung Blumenbergs über die "Arbeit am
Mythos" zu, so wird die Dynamik der Wechselwirkung zwischen Gesell-
schaft und Mythos noch aus einer anderen Sicht deutlich. Hans Blumenberg
setzt beim Mythos voraus, dass Sinneserzählung und Rezeption in eins fal-
len. 36 Wenn also Sinngeschichten nicht mehr geglaubt, d.h. nicht mehr rezi-
piert werden, dann sind sie auch kein Mythos mehr und verlieren ihre sinn-
gebende und integrierende Kraft. Dies hat etwas mit den veränderten Rah-
menbedingungen und der Fähigkeit zu tun, die Mythen mit den veränderten
Rahmenbedingungen zu verknüpfen. Wenn diese Verknüpfungsarbeit nicht
gelingt, verwandelt sich der Mythos langsam in ein Dogma oder in vage
Utopie, wodurch der nachvollziehbare Gegenwartsbezug verloren geht. Das
bedeutet, wie Hans Blumenberg ausführlich begründete, das Ende jedes My-
thos. Das Grundschema des Dogmas ist, dass an der Narration nichts hinzu-
gefügt und nichts hinweggenommen werden darf. In seiner Starrheit passt
sich die Sinnerzählung ihrer Umgebung nicht an, mag sie sich noch so sehr
verändern.
Dies ist völlig anders beim Mythos, der keine festen äußeren Konturen
besitzt, sich ständig verändert und einen hohen Grad an peripherer Varia-
bilität aufweist. Der narrative Kern kann in dieser und jener Gestalt auftre-
ten, kann völlig unterschiedliche Dinge miteinander kombinieren, wenn die
Grundgeschichte damit bedient wird. Das Dogma konterkariert die Realität
und versucht, sich diese unterzuordnen und sich nicht mit ihr zu vereinigen.
Ihm fehlt die synkretische Energie des Mythos.
Für die Wirksamkeit von Mythen auf die Integration und Identität einer
Gemeinschaft ist die Arbeit am Mythos von konstitutiver Bedeutung. Diese
Arbeit vollzieht sich nach Blumenberg nach einem Gesetz, das nicht gebro-
chen werden darf und sich nach folgendem Grundsatz richtet:

"Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und
ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit.,,37

36 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mytbos. FrankfurtJM.: Subrkamp 1990: 240.


37 ebenda: 40.

29
Das bedeutet, dass sich Mythen in ihrer äußeren Form ständig verän-
dern und den veränderten Rahmenbedingungen anpassen, dass aber dabei
niemals der narrative Kern, d.h. die Grundgeschichte des Mythos selbst,
verletzt werden darf. Wenn die Peripherie in den Kern einbricht, ist der
Mythos zu Ende. Umgekehrt impliziert die Arbeit am Mythos Anpassungs-
und Variationsfähigkeit, die sich in der Peripherie vollzieht. Dominiert der
Kern die Peripherie, zerbricht der Mythos ebenfalls. Bezogen auf die poli-
tischen Mythen der DDR stellt sich die Frage, wie sich die Arbeit am My-
thos vollzogen hat, ob der narrative Kern perpetuiert wurde, und wenn ja, ob
Narration und Rezeption ineinander liefen oder nicht.
Der Mythos ist, wie andere Gegenstände der Politikwissenschaften auch,
sowohl Objekt als auch Subjekt. Dies geht deutlich aus der Unterscheidung
hervor, die Hans Blumenberg zwischen der "Arbeit am Mythos" und der
"Arbeit des Mythos" trifft. 38 Mit dem Begriff "Arbeit des Mythos" bezeich-
net Blumenberg die Eigengesetzlichkeit der Wirkungsweisen von Sinnesge-
schichten, die eine integrierende Kraft besitzen, die sich entsprechend der
synkretischen Fähigkeiten veränderten Rahmenbedingungen anzupassen
vermögen und Sinn vermitteln können. Gleichzeitig haben Sinngeschichten
die Fähigkeit, bestehende Verhältnisse zu sprengen, wie dies Sorel im My-
thos vom Generalstreik nachgewiesen hat. Bei der Arbeit am Mythos müs-
sen die Bewegungsgesetze der Mythen Beachtung finden, denn man kann
diesen nicht entgegenarbeiten, wenn sie nicht zerstört werden und an ihr
Ende gelangen sollen. Blumenberg hob hervor:

"Die Arbeit des MgYthos muss man schon im Rücken haben, um der Arbeit am Mythos
nachzugehen ... ,,3

Wichtig für die Mythenanalyse ist, die Bedingungen herauszuarbeiten,


unter denen ein Mythos an seinem Ende angekommen ist, d.h. "die äußerste
Verformung ( .. ), die die genuine Figur gerade noch oder fast nicht mehr
erkennen lässt" und "die Form ausschöpft und erschöpft".4o Mythen kom-
men dann an ihr Ende, wenn das, was mit ihnen bezweckt werden sollte,
entweder erreicht wurde und sich erledigt hat, oder wenn die "genuine Fi-
gur" willkürlich und einseitig umgeformt wurde, ohne dass ihr Zweck er-
reicht wurde. Das Ende eines Mythos ist für die Politik ein konstitutives
Problem, denn dann ist die mit ihm verbundene Implikation auch an ihr
Ende gelangt und kann nicht mehr als Stütze einer bestimmten Politik die-

38 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990


39 ebenda: 294.
40 ebenda: 295.

30
nen. Wenn grundlegende sinnstiftende Mythen eines bestimmten Systems an
ihr Ende gelangen, dann ist das gesamte politische System einer politischen
Gemeinschaft gefährdet. Aus der Perspektive des Zusammenbruchs der
DDR ist deshalb das Ans-Ende-Gelangens von Mythen ein theoretischer
Gegenstand, um den sich die folgende Analyse immer wieder dreht.
Die mit Cassirer beginnende und über Blumenberg und Aleida und Jan
Assmann fortgeführte Herangehensweise an den Mythos in der Politik ist in
erster Linie dem Funktionalismus zuzurechnen und kann die Frage nach der
verderblichen Wirkung auf Politik, wie sie sich im Nationalsozialismus ge-
zeigt hatte, nicht beantworten. Unter diesem Blickwinkel könnte man den
Nationalsozialismus neutral neben die Französische Revolution stellen und
ihre Wirkungen auf Integration und Identität der Gemeinschaft analysieren,
wobei sich beide Ereignisse in ihrem guten Abschneiden nicht unterschieden
hätten. Die rein funktionalistische Methode müsste aus jenen Gründen durch
eine normativ-systematische erweitert werden, die in der wissenschaftlichen
Bearbeitung politischer Mythen keine so hohe Konsistenz erreicht hat wie
die funktionalistische. Vor allem können derartige Ansätze meistens der
funktionalistischen Logik nicht standhalten. Denn meistens kommen nor-
mativ-systematische Analysen, wie bei Roland Barthes mit der Theorie von
der Bedeutungsverschiebung, zu einer generellen Ablehnung des Mythos
oder zu einer Überbetonung der negativen Wirkungen. Das Problem bei
normativen Analysen besteht darin, dass diese von einem bestimmten
Standpunkt aus erfolgen, so dass sie immer nur im Sinne der Position des
Autors oder der Gruppe, zu der er sich zählt, verallgemeinert.
Basis für die pejorative und positive Wirkung von Mythen auf Politik im
Sinne einer normativen Analyse ist der symboltheoretische Ansatz von Mur-
ray Edelmann, den er besonders in "Politik als Ritual" herausarbeitete. 41
Dort legt er dar, dass Symbole in der Politik, durch die die Menschen Klar-
heit über komplizierte und unübersichtliche Situationen gewinnen, auch die
Eigenschaft besitzen, Menschen zum eigenen Nachteil und zum Vorteil
anderer zu manipulieren und zu instrumentalisieren. So schreibt Murray
Edelmann Symbolen zwei Hauptfunktionen zu: Zum einen sind sie Aus-
druckswerte für die Massenöffentlichkeit und zum anderen Instrumente zur
Gewährung von handfesten Vorteilen für bestimmte Gruppen.
Die Symbole, die Ausdruckswerte für die Massen schaffen, charakteri-
siert Edelmann als aufklärerisch und bezeichnet sie als "Verweisungs-

41 Vgl. Edelmann, Murray (1976): Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher
Institutionen und politischen HandeIns. FrankfurtIM und N ew York.

31
symbole". Im Gegenzug dazu nennt er die politischen Symbole, die gewissen
Gruppen einseitige Vorteile verschaffen und die wahre Situation der Massen
verschleiern, "Verdichtungssymbole". Die Unterscheidung zwischen aufklä-
rerischen und verschleiernden Symbolen bietet einen Ansatz, der einem
normativen Anspruch weitgehend gerecht wird. Auch wenn die Bezeich-
nung für aufklärende Mythen als "Verweisungssymbolik" und für verdun-
kelnde als "Verdichtungssymbolik" nicht günstig gewählt ist, da alle My-
then sowohl verweisen als auch verdichten, so ist das Hervorheben dieser
inhaltlichen Unterscheidung ein Gewinn. Sie bietet für die Untersuchung
politischer Mythen die Möglichkeit, verschiedene Verdunklungsschichten
bei politischen Mythen herauszuarbeiten. Allerdings muss der Standpunkt
des Autors, auf wessen Kosten Verdunklung, zu wessen Nutzen Aufklärung
erfolgt, immer mitgedacht werden.
Der Standpunkt des Autors kommt genau bei der Behandlung der Ak-
teursebene zum Ausdruck. Ähnlich wie Roland Barthes den Mythos generell
der Bourgeoisie zuordnet, spricht Edelmann die Verdichtungssymbolik den
herrschenden Klassen und den Regierungen in den USA zu. Die Volksrnas-
sen hingegen bleiben davon frei und stehen auf der Seite der Verweisungs-
symbolik. Doch gilt sicher für alle Akteursebenen, dass sie beide Arten von
Symbolen verwenden. Dies hängt immer mit bestimmten Situationen und
Bedingungen zusammen. Auf jeden Fall könnte auf der Grundlage der von
Edelmann aufgezeigten Symboltypen auch zwischen mehr verdunkelnden
und mehr aufklärerischen Mythen unterschieden werden.
Selbst der Funktionalist Cassirer hat sich der Behandlung des Mythos
aus normativer Sicht zugewandt. Das Durchbrechen des Mythos in "Mythus
des Staates" war genau dieser Frage gewidmet, nämlich dem Missverhältnis
zwischen Mythos und Wirklichkeit, auch wenn Cassirer im übrigen den My-
thos als genauso wirklich betrachtete wie analytisch berechenbare materielle
Verhältnisse. Interessant für die Analyse pejorativer Wirkungen politischer
Mythen auf die Gesellschaft ist die Rückführung auf ihre Entstehung. Ob-
wohl Cassirer in der "Philosophie der symbolischen Formen" immer betont
hat, dass die Entstehung der Mythen nicht nachvollziehbar und deshalb
auch ohne Belang für deren Bewegungsgesetze und Wirkungen ist, hebt er
in "Mythus des Staates" hervor, dass Mythen zur Vorbereitung des Natio-
nalsozialismus planmäßig erzeugt wurden:

"Mythus ist immer als Ergebnis einer unbewussten Tätigkeit und als freies Produkt der
Einbildungskraft bezeichnet worden. Aber hier finden wir Mythus planmäßig erzeugt. Die
neuen politischen Mythen wachsen nicht frei auf; sie sind keine wilden Früchte einer üppi-

32
gen Einbildungskraft. Sie sind künstliche Dinge, von sehr geschickten und schlauen Hand-
werkern erzeugt. Es blieb dem zwanzigsten Jahrhundert, unserem eigenen großen techni-
schen Zeitalter, vorbehalten, eine neue Technik des Mythus zu entwickeln. Künftig können
Mythen im selben Sinne und nach denselben Methoden erzeugt werden, wie jede andere
modeme Waffe.,,42

Cassirer zeigt auf, dass Deutschland schon lange vor der eigentlichen
militärischen Aufrüstung, geistig aufgerüstet und gedanklich den Krieg
vorbereitet hatte. Sicher ist es dem unmittelbaren Schrecken des Erlebens
der nationalsozialistischen Realität zuzuschreiben, dass Cassirer hier den
Sinn für das Allgemeine verlor und nicht realisierte, dass Kriege zu allen
Zeiten mythisch vorbereitet wurden und dies keine Besonderheit des Natio-
nalsozialismus war. Ein weiterer Irrtum Cassirers ist das Konstatieren einer
neuen Technik der Erzeugung von Mythen, die nun künstlich hergestellt
werden würden. Neue Techniken der Implementierung von Mythen sind
nicht mit neuen Formen der Entstehung identisch, die nun nicht mehr un-
bewusst, sondern bewusst erfolgen sollen.
Die Thematisierung der bewussten Erzeugung von Mythen durch Cassi-
rer wirft jedoch das Problem des Verhältnisses zwischen bewusstem und
unbewusstem Umgang mit Mythen und den Zusammenhang zwischen In-
strumentalisierung und der freien und ungebundenen Rezeption auf. Wenn
auch Mythen angeblich künstlich geschaffen werden, so ist ihr Ent-
stehungsort doch unbekannt. Denn Mythen bestehen, wie dies Blumenberg
nachwies, sowohl aus der Sinngeschichte als auch aus der Rezeption. Denkt
sich jemand eine Geschichte aus, so ist dies noch kein Mythos, wenn die Ge-
schichte nicht rezipiert wird. Wird sie rezipiert, bestehen bereits grundle-
gende Erzählstrukturen unter den Mitgliedern der politischen Gemeinschaft,
auf die die erfundene Sinngeschichte zurückgreifen kann. Blumenberg un-
terschied deshalb zwischen "Kunstmythos" und "Grundmythos" . Besonders
nach abrupten, von außen erzwungenen gesellschaftlichen und politischen
Umbrüchen oder Revolutionen, deren Initiatoren nicht die ganze Gesell-
schaft, sondern nur bestimmte Gruppe sind, werden oft Kunstmythen imple-
mentiert. In solchen Situationen ist es nicht möglich, dass die Mythen, die
die alte Ordnung begründeten, plötzlich verschwinden, und neue sinn-
stiftende Geschichten neu entstehen. Sie müssen von einer Initiativgruppe
neu geschaffen werden, ohne auf einer breiten Basis von Akzeptanz auf-
bauen zu können. Eine ähnliche Situation bestand in der DDR, als ein Staat
als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges künstlich aus der Taufe gehoben wur-
de. Für diesen Staat konnte eben nicht die von Schelling gestellte Fest-

42 Cassirer, Ernst: Der Mythus des Staates. a.a.O.: 367.

33
stellung zutreffen, nach der Völker nicht nach ihrer Sprache, Territorium
und Wirtschaftstätigkeiten entstanden, sondern nach ihrer Mythologie. Die
Frage, was denn ein Volk sei bzw. was es ausmachte, beantwortete Schelling
folgendermaßen:

"Unstreitig nicht die bloße räumliche Koexistenz einer größeren oder kleineren Anzahl
physisch gleichartiger Individuen, sondern die Gemeinschaft des Bewusstseins zwischen
ihnen. Diese hat in der gemeinschaftlichen Sprache nur ihren unmittelbaren Ausdruck; aber
worin sollen wir diese Gemeinschaft selbst oder ihren Grund finden, wenn nicht in einer
gemeinschaftlichen Weltansicht, und diese wieder, wie kann sie einem Volk ursprünglich
enthalten und gegeben sein, wenn nicht in seiner Mythologie?" 43

Es existierte keine Mythologie, die ein DDR-Volk hervorgebracht hätte,


sondern es existierte lediglich die Zuweisung eines Staates an ein Teilvolk
durch die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg, woraus nun die Be-
völkerung Sinn schöpfen sollte. An der Kreierung eines Kunstmythos war
sowohl die so\\jetische Besatzungsmacht als auch diejenigen politischen
Gruppen, die einen neuen Staat auf antifaschistischer Grundlage anstrebten,
beteiligt. Ein großes Problem besteht darin, dass Kunstmythen, wenn sie für
die gesamte politische Gemeinschaft stringent sein sollen, in Grundmythen
aufgehen müssen. Anhand der folgenden Untersuchung soll herausgearbeitet
werden, ob diese Transformationsleistung gelungen ist.
Letztendlich handelt es sich beim politischen Mythos auch inuner um
ein ganz spezifisches Verhältnis zwischen Herrschaft und Herrschaftslosig-
keit. Auch wenn behauptet wird, dass sich der Mythos Herrschaft entzieht
und selbst herrschaftslos ist, so spielt Herrschaft bei der Implementierung
von Mythen in der Politik eine entscheidende Rolle, denn Politik ist eben
neben verschiedenen Beziehungsverhältnissen, wie z.B. Rollenaustausch,
auch ein Herrschaftsverhältnis. Wer die politische Macht innehat, besitzt
ebenfalls ein hohes Maß an symbolischer Macht und deshalb bessere Mög-
lichkeiten bei der Beeinflussung der medialen Vermittlung von Mythen.
Obwohl die Herrschenden auf die Rezeptionsbereitschaft der Mehrheit der
Mitglieder einer politischen Gemeinschaft angewiesen sind, können sie
diese Rezeptionsbereitschaft ganz anders beeinflussen als Gruppen, die diese
Aktionsmöglichkeiten nicht haben. In diesem Sinne kommt die von Edel-
mann getroffene Unterscheidung von aufklärerischen und verdunkelnden
Symbolen wieder zur Geltung. Handeln die politischen Eliten nicht entspre-
chend ihres Vertretungsauftrages im Sinne der ganzen politischen Gemein-

43 Schelling: Einleitung in die Philosophie der Mythologie: 2. Abteil.; I., 62 f Zitiert bei Cassirer,
Ernst: Die Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken. a.a.O.:
211.

34
schaft, sondern deuten die allgemeinen Sinngeschichten zu ihrem eigenen
Nutzen und instrumentalisieren sie lediglich im Sinne einer einzigen Grup-
pe, dann handelt es sich um Verdunklungsmechanismen, die für die Glaub-
würdigkeit der Mythen verheerende Folgen haben. Denn wenn der Betrug
erkannt wird, was meist sehr verspätet geschieht, wird von den Mitgliedern
der politischen Gemeinschaft nicht zwischen "falschen", d.h. Verdunk-
lungsseiten, und "richtigen", ursprünglich intendierten Seiten des Mythos
unterschieden, sondern die ganze Sinngeschichte verworfen.
Dieses Alles-oder-gar-nichts hängt mit dem mythischen Bewusstsein
selbst zusammen, das nicht zwischen verschiedenen Realitätsstufen unter-
scheidet und sich nicht vertikal, sondern horizontal bildet. Bei den Betroffe-
nen kommt bei einer mythischen Enttäuschung meistens das Gefiihl des
Verratenseins auf, was nicht nur zur Ablehnung, sondern oftmals zu einer
irrationalen und aggressiven Feindschaft gegenüber ursprünglich fest ge-
glaubten Sinngeschichten fUhrt. Diese Implikation spielt fUr die Unter-
suchungen der politischen Mythen in der DDR aus der Perspektive des Zu-
sammenbruchs des gesellschaftlichen und politischen Systems eine wichtige
Rolle.

35
Kapitel 11:
Der Antifaschismus - Gründungsmythos der DDR

Mit der Gründung der DDR als mehr oder weniger fremdbestimmtem Akt
der deutschen Nachkriegsgeschichte, entstand das Problem, ein staatsbürger-
liches Bewusstsein und staatliche Legitimität zu schaffen, die sich nicht nur
aus rein rationellem Kalkül, sondern besonders über das sensitive Bewusst-
sein herausbilden sollte. Diese Leistung konnten vor allem politische My-
then erbringen, die als narrativ, ikonisch oder rituell vermittelte Geschich-
ten, wie von Koselleck beschrieben, politischen Erfahrungsräume strukturie-
ren und Erwartungshorizonte setzen. 44 Das heißt, dass Geschichte auf eine
Art angeeignet wird, die durch Selektion, Reduzierung von Komplexität und
Verdichtung politische Identität mit der gegenwärtigen Gemeinschaft her-
stellt und so ein kulturelles Gedächtnis schafft. 45
In diesem Sinne war die entscheidende Gründungserzählung der DDR
der Antifaschismus. Sie war die Rechtfertigung für die Bildung des neuen
Staates, indem sie versuchte, bewusst zu machen, dass die DDR die "bes-
seren Traditionen" der deutschen Geschichte verkörpere und politische
Legitimität aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus erlange.
Gleichzeitig bot diese Argumentation die Begründung sowohl für die Über-
windung der Spaltung der Arbeiterbewegung durch die Vereinigung der
KPD und SPD zur SED als auch den Anspruch der Kommunisten auf die
politische Führung, da sie die politische und physische Hauptlast des Wider-
standes getragen hätten.
Da der Nationalsozialismus in der DDR im Rahmen der Faschismus-
theorie im Sinne Dimitroffs betrachtet wurde, der Faschismus als offene
terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen und
am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals definierte46 ,
bedeutete das eine sozioökonomische Begründung des Antifaschismus. In

44 Koselleck, Reinhard und Michael Jeismann (Hrsg): Der politische Totenkult. Kriegsdenkmäler
der Moderne. München: Wilhelm Fink Verlag 1994.
45 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: ders. und Tonio Hölscher
(Hrsg): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988.
46 Pieck, WilheIm; Dimitroff, Georgi und P. Togliatti: Die Offensive des Faschismus und die
Aufgaben der Kommunisten im Kampffiir die Volksfront gegen Krieg und Faschismus. Berlin
1960:87.

37
der DDR wurde die Dimitoffsche Begründung durch Walter Ulbricht im
Sinne einer gegen die Bundesrepublik gerichteten Abgrenzung variiert:

"Der Faschismus - das war und ist diejenige Herrschaftsform des staatsmonopolistischen
Kapitalismus, die geschaffen wurde, um die Krise des Kapitalismus mit Terror im Inneren
und durch Neuaufteilung der Welt nach außen zu überwinden ... Der Faschismus ist das
Werk der aggressivsten, expansionistischsten Kräfte des Monopolkapitals, die mit dem
Mittel der Militarisierung, der staatlich formierten Herrschaft und der Manipulierung der
Menschen ein unmenschliches System schaffen.,,47

Kapitalismus und Faschismus gehörten zusammen, sowohl in der Ver-


gangenheit als auch in der Gegenwart. Die Schlussfolgerung bedeutete, dass
der "Sozialismus die beste Garantie dafiir bot, dass der Faschismus mit den
Wurzeln ausgerottet werden" würde. Regimepolitische und individuelle so-
ziale und politische Verhaltensweisen wurden dabei ausgeklammert. Dem-
entsprechend erklärte Otto Grotewohl,

dass "die Gründung des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates ein Wendepunkt in
der Geschichte unseres Volkes sei".48

An den Antifaschismus als zentralem Punkt der Grundungsrechtferti-


gung der DDR wurden eine Reihe anderer historischer Ereignisse angebun-
den, wie der deutsche Bauernkrieg, die deutsche Klassik, die Arbeiterbewe-
gung und die russische Oktoberrevolution, die durch ihr Fortleben in der
DDR zu einer besseren Gesellschaft führen würden und eben den Wende-
punkt in der deutschen Geschichte begründeten. Der Zusammenbruch der
DDR stellt nun die Frage, inwieweit der wichtigste Grundungsmythos, der
Antifaschismus, zur Integration der Gesellschaft und Identität seiner Bürger
beigetragen hat und inwieweit dies misslang.
Der Mythos vom Antifaschismus bedeutete in den ersten Jahren der
DDR ein Angebot an Sinndeutung für die Situation des Untergangs des Na-
tionalsozialismus und ermöglichte es, mit der eigenen Niederlage und den
Verlusten von Angehörigen und Besitz, aber auch mit der eigenen Schuld
der Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen fertig zu werden.
Indem für den faschistischen Terror in erster Linie das Finanzkapital verant-
wortlich gemacht und das deutsche Volk zu dessen Opfer umgedeutet wur-
de, fand eine kollektive Entlastung von Schuld statt. Auch für die jüngere
Generation, die den Krieg nur als Kinder und Jugendliche erlebt und die vor

47 Ulbricht, Walter: Die Bedeutung und die Lebenskraft der Lehren von Karl Marx /Ur unsere
Zeit. Berlin 1968.
48 Grotewohl, Otto: Über Politik, Geschichte und Kultur. Reden und Schriften 1945 - 1961.
Berlin: Dietz 1979: 7.

38
allem unter den Entbehrungen der Nachkriegszeit zu leiden hatten, machte
der Mythos vom Antifaschismus das Sinn- und Orientierungsangebot, sich
als Mitbegründer einer völlig neuen, besseren Welt zu fühlen und so ihre
Eigenart und Besonderheit zu unterstreichen. Auch viele deutsche Künstler,
wie Brecht und Becher, waren davon überzeugt, dass nur die DDR eine
wirklich demokratische und antifaschistische Entwicklung garantieren
könnte.
Es soll untersucht werden, aufweIche Weise die Geschichte vom Antifa-
schismus an die Bevölkerung kognitiv und sensitiv vermittelt wurde und
inwieweit und womit sich die Masse der DDR-Bürger identifizierte. Eine
wichtige Rolle spielten dabei die künstlerischen Eliten, die, anders als die
vom Staat in die Pflicht genommenen Lehrer und Erzieher, eigene politische
Haltungen durchzusetzen versuchten, die denen der Funktionseliten oft wi-
dersprachen und zu teilweise harten Auseinandersetzungen führten. Künst-
ler und Lehrer, die direkten Träger der symbolischen Politik und die Über-
setzer der politischen Ziele der Funktionseliten, trugen somit zu einer Mo-
difizierung der offiziellen Mythen bei, denn sie sind eine der zentralen Sozi-
alisierungsagenturen im System. 49 In den folgenden Abschnitten geht es also
um "die Methode, ein Repertoire von kognitiven Gehalten zu organisie-
ren,,50, die sich auf den Antifaschismus als wichtigsten Gründungsmythos
der DDR beziehen.

1. Narrative Vermittlung des antifaschistischen Mythos

Die narrative Vermittlung des Antifaschismus in der DDR erfolgte in erster


Linie über schriftliche und mündliche Erzählungen, angefangen bei der viel-
faltigen Emigrantenliteratur, den Kultromanen über den antifaschistischen
Widerstand, wovon "Das Siebte Kreuz" von Anna Seghers eines der wich-
tigsten ist, über Reden und Aufsätze führender Politiker bis hin zu Losungen
und Spruchbändern bei den großen Inszenierungen der Partei- und Staats-

49 Otwin Massing hat diesen sozialisationstheoretischen Begriff im Zusammenhang mit der


Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Symbolfunktion in
der Politik verwendet. Massing, Otwin: Identität als Mythopoem. Zur politischen Symbolfunk-
tion verfassungsgerichtlicher Spruchweisheiten. In: Voigt, Rüdiger (Hrsg.): Symbole der Poli-
tik, Politik der Symbole. Opladen: Leske und Budrich 1987: 247.
50 Edelman, Murray: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und
politischen HandeIns. FrankfurtlM. 1976: 95.

39
ruhrung anlässlich politischer Feiertage in der DDR, wie zum Ersten Mai,
zum "Tag der Republik" am 7.10., zum "Tag der Befreiung" am 8.5. wie
auch zu internationalen Jugendtreffen und Staatsbesuchen.
Die semiotische Vermittlung in der Literatur zum Antifaschismus trug
einen ganz anderen Charakter als die ikonographische Mythisierung. Das
Monumentale der ikonographischen Besetzung des öffentlichen Raumes,
wie dies bei den meisten Denkmälern und Auftragsgemälden der Fall ist,
bewegte sich im Hintergrund. Hier traten dem Rezipienten nicht Helden
gegenüber, die sich in anderen Hemisphären des menschlichen Daseins
befanden und deshalb unerreichbar waren. Meistens wurden ganz alltägliche
Menschen beschrieben, die sich aus der Sicht des gegenwärtigen Normal-
bürgers in einer durchaus vorstellbaren und nachzuvollziehenden Situation
befanden und dann aber in die Ereignisse der Vergangenheit und in anti-
faschistische Bewährungssituationen eintauchten. Der Beginn lag oft im
Alltag. Die Helden waren wie jeder andere, sie verhielten sich erst später
außergewöhnlich. Der Leser konnte die Handlung nachempfinden. Ihm
wurde suggeriert, dass er sich genauso wie der "Held" verhalten würde,
wenn er jener wäre.
Die Nachvollziehbarkeit, aber auch das Aufgreifen großer humaner
Werte und allgemeiner Menschheitsideale wirkten identitätsstiftend mit ei-
nem überzeugten Antifaschismus. Solche Bücher waren durchaus dazu ge-
eignet, einen echten Mythos rur die politische Ordnung in der DDR zu
schaffen. Sie suggerierten die Überzeugung, dass die DDR im Gegensatz zur
Bundesrepublik, die die nationalsozialistische Vergangenheit nur inkon-
sequent aufarbeitete, der bessere Staat sei, von dem eine neue Kultur und
Ethik ausginge, die das Vergangene in der Zukunft unmöglich machte.

2. Antifaschistische Erziehung in der DDR und ihre


mythenstiftende Funktion

In der Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen wurde der Anti-
faschismus als einer der höchsten Werte der DDR und gleichzeitig der so-
zialistischen Gesellschaft festgeschrieben. Das Bildungswesen der SBZ und
später der DDR verstand seinen "gesellschaftlichen Auftrag" darin,

40
"aktiv an der Vernichtung der faschistischen Ideologie, des Chauvinismus, des Revanchis-
mus, des Antikommunismus, des Rassismus und Militarismus mitzuwirken und die Jugend
im Geiste des Antifaschismus, des Friedens und der Völkerverständigung, des tief in der
deutschen Geschichte verwurzelten Humanismus und einer kämpferischen Demokratie zu
erziehen.,,51

Schon in dem Befehl Nr. 40 der Sowjetischen Militäradrninistration


vom 25.8.1945 "Über die Vorbereitung der Schule auf den Schulunter-
richt,,52 wurde eine antifaschistisch-demokratische Schulbildung festge-
schrieben. 53 Hinter dem Anspruch, dass die Schule nun eine andere Schule,
nämlich eine "Schule des Volkes" sein sollte, verbarg sich eine antifaschisti-
sche Umkonzeptionierung, die sich sowohl auf den Lehrstoff als auch auf
das Lehrpersonal bezog. Am 18.10.1945 folgte dann ein Aufruf der KPD
und SPD zur Durchführung einer demokratischen Schulreform, in dem die
Erziehung der Jugendlichen "im Geiste der Demokratie", die Säuberung des
Schulwesens von nazistischen und militaristischen Elementen, die Schaf-
fung eines einheitlichen Bildungswesens, die Umstellung der Lehrpläne und
neue Lehrbücher gefordert wurden. In der SBZ wurden noch 1945 drei Mil-
lionen neue Schulbücher gedruckt und von der Roten Armee mit LKWs und
Flugzeugen an die Schulen verteilt. 54
Von den 39 000 Lehrern, die es 1945 in der SBZ gab, gehörten 28000
der NSDAP an. Nach dem Befehl der Sowjetischen Militäradministration
(SMAD) Nr. 40 wurden sofort 20 000 Lehrer entlassen, denen in den fol-
genden Jahren Tausende folgten. 55 Insgesamt nahmen 40 000 Neulehrer als
die "Aktivisten der ersten Stunde" ihr Amt auf. 56 Dem Begriff "Aktivist"
wurde in der Zeit des Aufbaus eine positive Bedeutung als Synonym für
Antifaschist oder Sozialist verliehen. Ein "Aktivist" war soviel wie ein Held,
der es auf sich nimmt, Neues in Gang zu bringen, der ein hehres Ziel vor
Augen hat und eine Art Führerfigur darstellt, die Eigenschaften wie Zuver-
lässigkeit und Vertrauenswürdigkeit implizierte. Die nähere Bezeichnung
des "Aktivisten" durch den Zusatz "der ersten Stunde" charakterisierte den

51 Meumann, Eberhard (Hrsg.): Thesen zur Geschichte der zelmk1assigen allgemeinbildenden


polytechnischen Oberschule in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Pädagogik
1989/4: 452.
52 Vgl. Chowanetz, Rudolf: Zeiten und Wege. Zur Geschichte der Pionierorganisation "Ernst
ThäImann" bis 1952 in Berichten, Briefen, Erinnerungen, Bildern und einer Chronik.. Berlin:
Der Kinderbuchverlag 1985: 188.
53 Dieser Befehl stellte die Aufgabe, ab 1.10.1945, das sind knapp 5 Monate nach Kriegsende, in
der sowjetischen Besatzungszone mit dem Schulunterricht zu beginnen.
54 Chowanetz, Rudolf: a.a.O.: 213.
55 ebenda: 193.
56 ebenda.

41
Anfang von etwas Neuern, einem neuen Zeitalter, das die düstere Zeit des
Krieges hinter sich ließ.
Die großartige Betitelung als "Neulehrer" sollte über die tatsächlich vor-
handenen harten Konditionen, über Nacht Tausende neue Lehrer in einem
kriegszerstörten Land aus dem Boden zu zaubern, hinwegtäuschen. Nach
wenigen Wochen der Ausbildung mussten sich die aus dem Krieg oder vom
Arbeitsdienst Heimgekehrten vor die Schulklassen stellen und Mathematik,
Deutsch und Physik unterrichten. Aus Briefen und Berichten von Neu-
lehrern und Neulehrerinnen geht einerseits der große Enthusiasmus der Zeit
des Neuanfangs hervor57 , aber gleichzeitig wird deutlich, dass die Motive für
die EntscheidUng vom Hunger diktiert waren und weniger auf antifaschi-
stischen Einstellungen beruhten. Mit dem Neulehrersein war eine intensive
politische Bildung bzw. Indoktrination auf den MarxismuslLeninismus und
organisatorische Einbindung sowohl in die neugeschaffenen Jugendorgani-
sationen der "Jungen Pioniere" und der "Freien Deutschen Jugend" (FDJ)
als auch in die Sozialistische Einheitspartei (SED) verbunden. 58
Die enge politische Liierung der Neulehrer mit der SED über Parteilehr-
jahre und politische Bildungskurse bereitete den Weg für eine Einbindung
dieser Lehrer in die antifaschistische Tradition der DDR. Obwohl sie sich in
fast allen Fällen aus den Soldaten der Wehnnacht und den Frauen, die aus
dem nationalsozialistischen "Bund Junger Mädchen" (BDM) und den Ar-
beitsdiensten der Nazis kamen, rekrutierten, wurden sie zu Antifaschisten
quasi ohne Vergangenheit und schließlich zu wichtigen Trägern antifaschi-
stischen Gedankengutes gemacht.

57 Aus dem Brief des Neulehrers Hans Dahlke, der später Sekretär der SED der Grundorganisa-
tion an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften war: " ... An dieser Schule war ich bis
1949 Lehrer, dann wurde ich Schulleiter in der ... Eine Schule mit über 1000 Kindern, 30 leh-
rern, manche von ihnen hätten meine Grosseltern sein können. Und ich war 23 Jahre alt.
Welch eine Verantwortung, welch ein Vertrauen, welch ein Ansporn." Aus: Chowanetz, Ru-
dolf: Aa.O.: 200
58 Die politische Indoktrinierung der Neulehrer wird im gleichen Brief deutlich: " ... Genosse ...
und Genosse ... und andere Genossen unterstützten uns Neulehrer. Sie haben auch sehr viel ge-
tan, damit ich eine politische Überzeugung fmden konnte .... Wir entwickelten uns zum Teil
schneller als manch ein Lehrer aus der alten Zeit." und weiter: "Für mich war ganz entschei-
dend, dass ich in der Neulehrerweiterbildung und im Lehrerkollektiv um fortschrittliche päda-
gogische Positionen gekämpft hatte und dass ich Leitungserfahrungen in der FDJ erworben
hatte. Dazu kam die marxistisch-leninistische Schulung im Parteilelujahr und durch die Kreis-
parteischule." An anderer Stelle wird die Verquickung von SED und Neulehrerschaft beson-
ders deutlich: "Da war die Parteigruppe der Schule, die meisten Genossen Neulehrer, wir
kannten uns von der Neulehrerausbildung, von der Parteischule, aus gesellschaftlicher Tätig-
keit." In: ebenda: 179,200 und 202.

42
Die antifaschistische Erziehung in der Schule erfolgte auf verschiedenen
Ebenen, hauptsächlich über den Deutschunterricht und die Geschichts- und
staatsbürgerkundliche Bildung im Sinne einer antifaschistischen Histo-
riographie und politischen Bildung, die auf die Vermittlung von Wissen
rekurrierte und durch Auswahlverfahren ein Antifaschismusbild erzeugte,
das auf die dominierende Rolle der KPD im antifaschistischen Widerstands-
kampf und die sozialökonomische Determiniertheit des Nationalsozialismus
ausgerichtet war. Hier fand auch eine ausgesprochene Instrumentalisierung
des Antifaschismus für die expliziten Interessen des sich zunehmend veren-
genden Kreises der politischen Elite der DDR statt und endete in einem
absolut realitätsfremden absurden Konstrukt, was mythenkontraproduktiv,
also entmythisierend wirkte. Weit bedeutsamer für eine echte antifa-
schistische Mythenbildung war der Deutsch-, speziell der Literaturunter-
richt, in dem über Gedichte und Erzählungen antifaschistische Emotionen
hervorgerufen wurden. Die Widersprüchlichkeit zwischen dem Anspruch
auf eine mit dem Antifaschismus verknüpfte gerechtere und freie Gesell-
schaft auf der einen Seite und der Ungerechtigkeiten und Unfreiheiten pro-
duzierenden Interessenbezogenheit der Elite, trat hier nicht so offen zutage
wie im Geschichtsunterricht, der sich oft im krassen Widerspruch zum er-
lebten Alltag und zur Familiensozialisation befand.

2.1 Der Geschichtsunterricht in der DDR und sein


Rezeptionsdilemma

Aus den Lehrplänen zum Geschichtsunterricht in der DDR geht hervor, dass
entgegen dem Anspruch, bei den Schülern ein wissenschaftliches Ge-
schichtsbewusstsein zu entwickeln, durchaus auf gefühlsmäßige Überzeu-
gungen und Haltungen rekurriert wurde. Als ein wesentliches Ziel des Ge-
schichtsunterrichtes wurde die Schaffung von Vorbildern, die Erweckung
von "Gefühlen der Achtung der Volksrnassen und deren historischer Lei-
stung", von "Liebe zu den Kräften des Fortschritts, insbesondere zu der von
den marxistisch-leninistischen Parteien geführten Arbeiterklasse" und die
Erzeugung von "Gefühlen der Entrüstung und des Hasses gegenüber den
Feinden des Volkes und des Fortschritts" hervorgehoben. 59 Damit sollte ein

59 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium rur Volksbildung: Lehrplan


Geschichte. Klassen 5 bis 7. Berlin: Volk und Wissen 1984: 5. Seiner Funktion sollte der Ge-
schichtsunterricht dadurch gerecht werden, dass er "an der Herausbildung einer historisch-
materialistischen Grundposition und der Entwicklung eines Geschichts-, Traditions- und Per-
spektivbewusstseins arbeitet und damit einen Beitrag zur Entwicklung eines soziali~tischen

43
Beitrag zur Herausbildung des sozialistischen Bewusstseins geleistet wer-
den.
Allerdings blieben die Objekte dieser Gefühlsausrichtung ziemlich un-
scharf und konnten für die Gefühlsträger nicht klar definiert werden. Wer
unter "Kräften des Fortschritts", "Feinde des Volkes" und unter "Volk"
generell zu verstehen war, blieb weitgehend unklar. Der einzig konkrete
Hinweis betraf die Arbeiterklasse, die mit dem Volk auf der einen und den
marxistisch-leninistischen Parteien auf der anderen Seite gleichgesetzt wur-
de. Ein Identifikationsdilemma war apriori vorbestimmt. Denn mit dem
Volk konnten sich die Schüler sicher identifizieren, mit dessen engerer
Definition als Arbeiterklasse schon weniger und mit der marxistisch-leni-
nistischer Parteien nur noch ein kleiner Teil, dessen Eltern der SED oder
gleichgeschalteten Blockparteien angehörten und sich obendrein mit deren
Zielen auch wirklich identifizierten, was nur auf den kleineren Teil der
SED-Mitglieder zutraf.
Das Geschichtsbewusstsein, das nach den Lehrplänen der polytechni-
schen und erweiterten Oberschulen der DDR vermittelt wurde, orientierte
sich entlang der Interessen der herrschenden Eliten, die sich immer mehr
auf die aus dem so\\jetischen Exil kommenden Kommunisten reduzierten
und ihre sich erweiternden Machtambitionen durch eine entsprechende
Legitimationsgeschichte abzusichern versuchten. Der Staatsbürgerkunde-
und Geschichtsunterricht wurde zu einem ihrer Hauptinstrumente. Der Anti-
faschismus spielte dabei die Rolle des Gründungsmythos, der eigentlichen
und letztendlichen Rechtfertigung für die Führungsclique.
Im Folgenden werden aus der Lektüre der Lehrpläne und Geschichtsbü-
cher eine Reihe von Thesen herausgearbeitet, die einen antifaschistischen
Mythos im Geschichtsunterricht der DDR produzieren sollten:

2.1.1 "Faschismus und Kapitalismus gehören zusammen"

Im Geschichtsunterricht wurde entsprechend der Dimitroffschen Faschis-


musformel von der "offenen terroristischen Diktatur der reaktionärsten, am
meisten chauvinistischen und am meisten imperialistischen Elemente des
Finanzkapitals" 60 eine ökonomisch determinierte Faschismusdefinition

Bewusstseins, insbesondere des sozialistischen Staats- und Nationalbewusstseins, und zur poli-
tisch-moralischen Erziehung der Schüler leistet."
60 Piecle, Wilhelm, Dimitroff, Georgi und P. Togliatti: Die Offensive des Faschismus und die
Aufgaben der Kommunisten im Kampffur die Volksfront gegen Krieg und Faschismus. Berlin

44
vennittelt, die mit einer radikalen Kapitalismuskritik einherging. Kapita-
lismus wurde als der Nährboden des Faschismus betrachtet und regimepoli-
tische Ursachen ausgeklammert. 61 Im Geschichtslehrbuch der 9. Klasse
wurde die "Übertragung der Macht an die Faschisten" nicht als eine "zufäl-
lige, persönliche Entscheidung des Reichspräsidenten Hindenburg" darge-
stellt, sondern konstatiert:

"Dieser Schritt erfolgte auf Drängen der reaktionärsten Kräfte des deutschen Monopolkapi-
tals.,,62

Die Geschichtslehrbücher geben die Zusammenarbeit zwischen Teilen


der Großindustrie und der NSDAP mit einer breiten und minuziösen Be-
weisführung wieder, wie Z.B. die Anhörung Hitlers vor dem Industrieklub in
Düsseldorf, woraufhin bedeutsame Zuwendungen von Thyssen, Krupp, Bor-
sig, Duisberg, Flick und Vögler in die Kassen der NSDAP flossen. 63 Diese
Fakten sollten Abscheu und Ablehnung gegenüber der kapitalistischen Un-
temehmerschaft hervorrufen. Doch blieb die Frage offen, woher die Mas-
senbasis der NSDAP kam und welche regimepolitischen Ursachen existier-
ten.
Mit dieser reduktionistischen Ursachenbestimmung konnte eine Argu-
mentationslinie aufgebaut werden, die die neue sozialistische Gesellschaft in
der DDR rechtfertigte und den Glauben vermittelte, dass in dieser Gesell-
schaft Faschismus ein für allemal "mit der Wurzel ausgerottet" wäre. Die
Ausklammerung aller Fragen des politischen Herrschaftssystems aus der
Faschismusbetrachtung ließ den Widerspruch zwischen dem Anspruch auf
die wahre Demokratie und der tatsächlichen autoritären und totalitären
Herrschaftsfonn in der DDR nicht sichtbar werden. Andere Fonnen totali-
tärer Herrschaft, wie der Stalinismus, wurden in den Schulbüchern der

1960: 87.
61 In einem Kasten (besondere Hervorhebung) wurde Walter lnbricht zitiert, wie er sich über den
Klassencharakter des Faschismus äusserte: " Der Faschismus - das war und ist diejenige Herr-
schaftsform des staatsmonopolitischen Kapitalismus, die geschaffen wurde, um die Krise des
Kapitalismus mit Terror im Inneren und durch Neuaufteilung der Welt nach aussen zu über-
winden ... Der Faschismus ist das Werk der aggressivsten, expansionistischsten Kräfte des Mo-
nopolkapitals, die mit den Mitteln der Militarisierung, der staatlich formierten Herrschaft und
der Manipulierung der Menschen ein unmenschliches System schaffen. Zitiert nach: Ulbricht,
Walter: Die Bedeutung und die Lebenskraft der Lehren von Karl Marx rur unsere Zeit. Berlin
1968: 41. In: Lehrbuch Geschichte. Klasse 9. Berlin: Volk und Wissen 1970: 159.
62 Lehrbuch Geschichte. Klasse 9. Berlin: Volk und Wissen 1970: 145. Weiter hiess es: "den
Monopolvertretern waren die wirklichen Ziele der Nazipartei bekannt. Sie begrüssten und för-
derten jene Absichten, die die rücksichtslose Unterdrückung der Arbeiterklasse und deren de-
mokratischen Kräfte zum Ziel hatten."
63 Lehrbuch Geschichte. Klasse 9. Berlin: Volk und Wissen 1977: 137.

45
DDR, auch in der nachstalinistischen Zeit, niemals thematisiert. Es fand
keinerlei Vergleich zwischen Faschismus und Stalinismus statt. Die Be-
zeichnung "Nationalsozialismus" wurde mit der Begründung des als dema-
gogisch verstandenen Gebrauchs des Wortes "Sozialismus" innerhalb der
Wortverbindung strikt abgelehnt.
Vorerst fand der Mythos von der alleinigen Schuld der deutschen kapi-
talistischen Wirtschaft am Aufkommen des Nationalsozialismus durchaus
Verbreitung. Im politischen Bewusstsein der meisten Schüler war Faschis-
mus eine Form der kapitalistischen Gesellschaft und die Verbindung zwi-
schen Faschismus und Sozialismus erschien für die Mehrheit einfach ab-
surd. Da das Wissen über den Stalinismus nur sehr gering war und der Zu-
sammenhang zwischen politischem Herrschaftssystem und National-
sozialismus nicht thematisiert wurde, war die Sensibilität für die Verbin-
dung zwischen politischem Herrschaftssystem und Gesellschaftssystem un-
terentwickelt. Die Dominierung des gesellschaftlichen Lebens durch die
Parteielite wurde zwar mit fortschreitendem Alter der DDR als störend emp-
funden, jedoch fehlte gerade in bezug auf den Nationalsozialismus das Ge-
fühl für die SignifIkanz von Demokratie.

2.l.2 "Der antifaschistische Charakter der Arbeiterklasse"

Die Arbeiterklasse wurde in den Geschichtslehrbüchern zu einem antifa-


schistischen Mythos, indem sie als der wichtigste Gegenpol zum Faschismus
dargestellt wurde.

So war "der Faschismus in Deutschland die Antwort der reaktionärsten Kräfte des Finanz-
kapitals auf das veränderte Kräfteverhältnis (zugunsten der Arbeiterklasse) ... Er wurde im
Interesse der reaktionärsten Kreise des Finanzkapitals an die Macht gebracht, um die Ar-
beiterklasse und alle anderen Schichten des deutschen Volkes zu unterdrücken.,,64

Die Partei der Nazis konnte nach Aussage der Geschichtsbücher durch
Demagogie und falsche Versprechen Masseneinfluss gewinnen, der sich
aber nur auf "viele Bauern, Handwerker, kleine Geschäftsleute, Beamte und
Angestellte" bezog. Das Lehrbuch für Geschichte der 9. Klasse behauptete:

"Ein umfassender Einbruch in die Arbeiterklasse gelang der Hitlerpartei nicht.,,65

64 a.a.O. 1970: 159.


65 ebenda: 136.

46
Die Arbeiterklasse wurde so zu einem Mythos des Antifaschismus, der
allerdings weite Verbreitung unter der jungen Generation fand. Die Mehr-
heit der Schüler war der Meinung, die Arbeiterklasse wäre einer der größten
Gegner Hitlers und von diesem unterdrückt gewesen. Gegenteilige Informa-
tionen Ende der 80er und in den 90er Jahren führten bei vielen inzwischen
erwachsen gewordenen zu Verwirrung und Orientierungslosigkeit bei der
Einschätzung des Nationalsozialismus.

2.1.3 Die Überhöhung der Rolle der KPD im antifaschistischen


Widerstand

In den Geschichtslehrbüchern wird durch Überschriften, wie "4.6.3. Die


Kämpfe der Arbeiterklasse unter Führung der KPD gegen Imperialismus
und Militarismus,,66, und die Auswahl des historischen Faktenmaterials der
Eindruck vermittelt, dass die KPD die einzig konsequente und wirklich
opferbereite Gruppe des antifaschistischen Widerstandes war, die zudem
noch eine klare Vorstellung von der Gestaltung einer antifaschistisch-demo-
kratischen Ordnung besäße.
So nahm die Behandlung der antifaschistischen Programme der KPD in
den Lehrbüchern einen außerordentlich großen Raum ein. Bei der Gesamt-
darsteIlung der Zeit von 1919 bis 1945 mit der Beschreibung der Zwischen-
kriegszeit und dem Zweiten Weltkrieg auf 138 Seiten des Geschichtslehrbu-
ches der 9. Klasse waren 47 Seiten allein dem antifaschistischen Kampf der
KPD und deren Programmen gewidmet. 67
Der Satzeinschub "vor allem die KPD" oder "insbesondere die KPD"
hatte, wenn es um antifaschistische Widerstandsaktionen oder Haltungen
ging, in allen Staatsbürgerkunde- und Geschichtsbüchern Konjunktur. 68
Dieser Einschub transformierte zu einer Art kanonischer Formel, die zur

66 ebenda: 125. In diesem Teilabschnitt bezog man sich auf die Opposition der KPD gegen den
Locarnovertrag und die Fürstenabfindung. Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung wurde
besonders als Erfolg der KPD gefeiert, obwohl die Sozialdemokraten und parteilose Bürger
daran einen ebenso grossen Anteil hatten wie die KPD.
67 ebenda. Die Abschnitte, die nur der KPD gewidmet waren, behandelten: Die Entwicklung der
KPD zur marxistisch-leninistischen Massenpartei; Die Bildung des marxistisch-leninistischen
Zentralkomitees der KPD; Überblick über die wichtigsten von der KPD beeinflussten proleta-
rischen Organisationen; Die Brüsseler (1935) und die Berner Konferenz (1939) und die wis-
senschaftlich ausgearbeiteten antifaschistischen Programme; usw.
68 Ein Beispiel: "Der Kampf gegen die Fürstenabfmdung vermochte zwar sein unmittelbares Ziel
nicht zu erreichen, doch war durch die Vorbereitung und Durchfiihrung des Volksentscheids
die Autorität der Arbeiterparteien, insbesondere der KPD, gewachsen. In: Lehrbuch Geschich-
te, Klasse 9. Berlin: Volk und Wissen 1977: 127.

47
Fonnenlehre politischer Texte in der DDR überhaupt gehörte und in den
Schulbuchtexten eine besonders häufige Verwendung fand. Die Wortverbin-
dung "Die KPD an der Spitze aller deutscher Antifaschisten,,69 entsprach
gleichfalls dem Anspruch der führenden Rolle der KPD im antifa-
schistischen Widerstandskampf, aus der sich deren moralischer Anspruch
auf die Führungspositionen nach 1945 in Ostdeutschland automatisch ablei-
tete.
Die Sozialdemokratie wurde immer nur mit den "rechten Führern der
SPD" in Verbindung gebracht, die die Einheit der Arbeiterbewegung verhin-
derten und mit dem kapitalistischen Unternehmertum kollaborierten. 7o Nach
der Diktion der Geschichtslehrbücher hätte die Sozialdemokratie keinerlei
Anspruch auf die Führungsrolle in der Nachkriegszeit gehabt. Um die spä-
tere Einheitspartei (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) zu rechtfer-
tigen, wurde immer zwischen der "annen, betrogenen" Masse der SPD-
Mitglieder und der "verräterischen" Führung unterschieden. 71
Hieraus ergab sich das Problem, dass in der DDR das Verständnis fiir
die SPD sehr unterbelichtet war und so gut wie kein Zugehörigkeitsgefühl
zu dieser Partei, die in der SED aufgegangen war und deren Führung im Zu-
sammenhang mit dem antifaschistischen Widerstandskampf diskreditiert
worden ist, entwickelt werden konnte.

69 Lehrbuch der Geschichte. Klasse 10. Berlin: Volk und Wissen 1976: 49.
70 Der Verweigerungspolitik der sozialdemokratischen Führung wurde breiter Raum beigemes-
sen. Solche Passagen wie die folgende beherrschten das Thema Sozialdemokratie: "Den ag-
gressiven Plänen der Nazis sagte die KPD einen kompromisslosen Kampf an. Sie rief noch am
30. Januar 1933 zum Kampffur den Sturz der Hitlerdiktatur auf Ein entsprechendes Angebot
zur Organisierung des gemeinsamen Kampfes aller Arbeiter mit dem Ziel, die Aktionseinheit
der Arbeiterklasse herzustellen, wurde noch am selben Tag von Walter Ulbricht dem Partei-
vorstand der SPD überbracht. Der sozialdemokratische Parteivorstand und die sozialdemokra-
tischen Führer des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) lehnten das Ange-
bot der KPD ab." In: Lehrbuch Geschichte. Klasse 9. Berlin: Volk und Wissen 1970: 147.
71 So hiess es im Geschichtslehrbuch der 9. Klasse: "Die feste Bindung an den imperialistischen
Weimarer Staat und der tief verwurzelte Antikommunismus hinderten sozialdemokratische
Führer wie 000 Wels (Vorsitzender der SPD) und Theodor Leipart ... , gemeinsam mit der
KPD den antifaschistischen Abwehrkampf aufZunehmen. Diese Führer waren voller Illusionen
über den Faschismus und glaubten, dass die SPD und die Gewerkschaften weiter existieren
könnten, während der Faschismus bald abwirtschaften würde. Viele Mitglieder der SPD und
der Gewerkschaften sahen jedoch weiter als ihre Führer. Sie erkannten, dass nur der gemein-
same Kampf dem Hitlerfaschismus eine Niederlage bereiten konnte." In: ebenda: 147.

48
2.1.4 "Die Rote Armee als einzige Siegermacht über den Faschismus"

In der Diktion der DDR-Geschichtsbücher hatte Deutschland die Befreiung


vom Faschismus nur der Roten Armee zu verdanken. Das Faktum der größ-
ten Offensive, der höchsten Opferzahlen und der härtesten Kämpfe an der
Ostfront wurde als Rechtfertigung dafür betrachtet, den anderen Teil-
nehmern der Antihitlerkoalition nur eine äußerst periphere Bedeutung zuzu-
messen. In den Geschichtsbüchern wurde immer wieder die inkonsequente
und zögerliche Haltung der Westmächte hervorgehoben, die von dem
Wunsch beseelt waren, Sowjetrussland zu zerstören. Außerdem war die
Parallelität zwischen Faschismus und Kapitalismus nur schwer mit den
Westmächten der Antihitlerkoalition zu vereinbaren. So ist in den Ge-
schichtslehrplänen immer nur von dem "Sieg der UdSSR über den Faschis-
mus" die Rede. 72
Die Leistungen der anderen Beteiligten an der Antihitlerkoalition wur-
den vollkommen an den Rand gedrängt oder fanden überhaupt keine Erwäh-
nung. 73 Denn der militärische Sieg der größten westeuropäischen Länder
und der USA über den Nationalsozialismus hätte die These vom Weltimpe-
rialismus und der Verschärfung seiner Krise nach dem Sieg über den Fa-
schismus in Frage gestellt.
So transformierte die UdSSR zur einzigen Siegermacht über den Fa-
schismus. Überschriften wie "Die internationalen Auswirkungen des Sieges
der UdSSR über den Faschismus ... " oder "Die durch den Sieg der UdSSR
bewirkten Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis" begründen
diesen Eindruck. In den 50er und 60er Jahren fanden unter den Schülern
Dankbarkeitsgefühle für die Rote Armee infolge der Verinnerlichung des
Mythos' der Befreiung Deutschlands vom Faschismus durch die Sowjet-
union große Verbreitung, während den Amerikanern, Franzosen und Eng-
ländern diesbezüglich keine allzu große Bedeutung beigemessen wurde.
Auch spätere Generationen brachten die westlichen Staaten nicht in Verbin-
dung mit antifaschistischem Widerstand oder Befreiung.

2.l.5 "Der Kapitalismus in der Defensive"

Durch das Konstrukt der allgemeinen Krise des Kapitalismus und sein Ein-
tritt in eine weitere und schlimmere Phase durch den "Sieg der So\\jetunion

72 Lehrbuch der Geschichte. Klasse 9. a.a.O.: 11-16.


73 ebenda.

49
über den Faschismus" und die Verwendung des Imperialismusbegriffs so-
wohl für den Nationalsozialismus als auch für alle kapitalistischen Indust-
rieländer, wurde eine Gleichsetzung zwischen Faschismus und den westli-
chen kapitalistischen Staaten vollzogen. Außerdem wurde der Eindruck
vermittelt, als seien kapitalistische Staaten von da an nur noch auf dem
Rückzug gewesen. Solche Aussagen wie "der Weltimperialismus nutzte
seine verbliebenen Positionen für Versuche, den Vormarsch des Sozialismus
zu stoppen und ihn schließlich gewaltsam zurückzurollen sowie die Arbei-
terbewegung in den von ihm beherrschten Ländern zu schwächen,"74 führ-
ten zu dem Eindruck von einem gefährlichen, aber defensiven Kapitalismus.
Die Auseinandersetzung mit der "Roll-Back-Politik" wurde genutzt, um die
Vorstellung zu vermitteln, als sei der Kapitalismus seines furchtbarsten
Instruments, des Faschismus, beraubt und auf einem unaufhaltsamen Rück-
zug. Die sozialistische Gesellschaft befände sich demzufolge auf dem Sie-
geszug und würde bald auch noch die "restlichen" Teile der Menschheit,
besonders die unterdrückte Arbeiterklasse in den imperialistischen Staaten,
befreien. Der Faschismus war quasi die Hölle, durch die die Menschheit
gehen musste, um dann endgültig befreit zu werden und sich durch das
Opfer der Besten, der antifaschistischen Widerstandskämpfer, das Paradies
des Sozialismus verdient zu haben.
Viele Kinder und Jugendliche in der DDR glaubten tatsächlich, beson-
ders in den 50er und 60er Jahren, dass der Sozialismus nach dem Sieg über
den Nationalsozialismus den größten Teil der Erde beherrschte und sich im
Vormarsch befände. Es sei nur noch eine Frage weniger Jahre, bis die ganze
Welt vom "Übel" des Kapitalismus befreit sein würde.

2.l.6 "Die führende Rolle der KPD bei der Beseitigung des
Nationalsozialismus"

In der schulischen antifaschistischen Erziehung wurde die führende Rolle


der KPD während der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung beson-
ders unterstrichen. Dies geschah auf eine Weise, dass die Schüler annehmen

74 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium fur Volksbildung: Lehrplan


Geschichte. Klasse 10. Berlin: Volk und Wissen 1977: 12. Als Ergebnisse des Sieges der
UdSSR über den Faschismus wurden als wesentlich herausgestellt: Die Schwächung des impe-
rialistischen Weltsystems, die Ausschaltung Deutschlands und Japans aus der Weltpolitik, die
durch den Krieg erfolgte Schwächung der anderen imperialistischen Staaten mit Ausnahme der
USA, die Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus. S. 13.

50
sollten, dass die Kommunisten mehr taten als andere und die besseren Deut-
schen waren. Es hieß,

dass "die KPD von Anfang an die Verantwortung rur eine antifaschistisch-demokratische
Umwälzung auf deutschem Boden (übernahm), die den Interessen der Werktätigen ent-
sprach und die zur Beseitigung von Faschismus, Militarismus und Imperialismus notwendi-
gen gesellschaftlichen Bedingungen schuf.,,75

Es machte den Eindruck, als wäre ihr Führungsanspruch aus der im


Schulunterricht konstruierten Rolle bei der Niederschlagung des Nationalso-
zialismus und einer weitgehenden Akzeptanz in der Bevölkerung erwach-
sen. 76 Die Unterstützung der SMAD für die Kommunisten und die politische
Weichenstellung durch die Besatzungsmacht blieben unerwähnt. Es musste
nun die Frage auftauchen, wieso die ostdeutschen Kommunisten so aktiv
waren und die westdeutschen offensichtlich eine andere Natur aufwiesen.
Die fiihrende Rolle der KPD blieb also unhinterfragt und sollte zum My-
thos werden, zum Mythos von den wahren Antifaschisten und dem guten
Menschen, der den Namen "Kommunist trägt".77 Der Aufruf der KPD vom
1l.06.1945 wurde als Initialmoment für den wahren Antifaschismus in der
SBZ und späteren DDR gehandelt, und galt als

"klares Programm, mit dem sie (die KPD) auf die endgültige Beseitigung der Wurzeln der
imperialistischen Kriegs- und Katastrophenpolitik und auf die demokratische Neugestaltung
Deutschlands orientierte.,,78

75 Meumann, Eberhard: (Hrsg.): Thesen zur Geschichte der zehnklassigen allgemeinbildenden


polytechnischen Oberschule in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Pädagogik
1989/6: 452.
76 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik: Lehrplan Geschichte. Klasse 10. a.a.O.:
"Die Partei Ernst Thälmanns konnte sich aufjahrzelmtelange Erfahrungen ihres antiimperialis-
tischen Kampfes stützen. Von grosser Bedeutung waren insbesondere jene Erfahrungen, die sie
an der Spitze aller deutschen Antifaschisten im Kampf gegen das Hitlerregime und den vom
deutschen Imperialismus entfesselten zweiten Weltkrieg gewonnen hatte .... Ein entscheidender
Schritt zur Fonnierung deutscher Hitlergegner war während des Krieges gelungen, als im Juli
1943 auf Initiative der KPD das Nationalkomitee "Freies Deutschland" gegründet wurde.":
49.
77 Als wichtigstes Erkenntnisziel rur die Zeit der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung
wurde im Lehrplan angegeben: "In Fortsetzung des Kampfes gegen den Faschismus begann
unmittelbar nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus unter der Füluung der KPD der
Kampfum die antifaschistisch-demokratische Umwälzung in Deutschland." In: Ministerrat der
DDR, Ministerium rur Volksbildung: Lehrplan Geschichte. Klasse 10. a.a.O.: 17.
78 Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Geschichtslehrplan, Klasse 10. a.a.O.:
17/18. und
Lehrbuch Geschichte. Klasse 10. a.a.O.: 49. Zitat zum Aufruf der KPD.

51
Die Programme anderer Parteien rückten in den Geschichtslehrbüchern
an den Rand und fanden in den Lehrplänen überhaupt keine Erwähnung.
Die Darstellung des Programms vom 11.06. hinterließ den Eindruck, als sei
es das einzige Programm, dessen Befolgung unumgänglich erschien.

2.1.7 "Der selbstbestimmte Antifaschismus in der SBZ"

Für die antifaschistisch-demokratische Umwälzung in der SBZ wurde das


Attribut "revolutionärer Prozess" verwendet, was den Eindruck erweckte, als
sei dieser Prozess selbstbestimmt und von innen heraus geschehen. Die
SMA leistete lediglich Unterstützung und "uneigennützige" Hilfe im Sinne
des "proletarischen Internationalismus" . Dass die SMA Gesetzesgewalt
hatte und den politischen Entscheidungsprozess steuerte und daran vor al-
lem Kommunisten beteiligte, wurde nicht thematisiert. Wie es dann in der
DDR zur Machtergreifung der SED kam, blieb weitgehend im Dunklen und
vermittelte das Empfinden, als hätten sich die Ostdeutschen für diese Partei
und die von ihr angestrebte sozialistische Gesellschaftsordnung freiwillig
und mit Überzeugung entschieden.
Diese Auffassung fand in den 50er und 60er Jahren unter den Schülern
weite Verbreitung, da sich der antifaschistische Mythos in der DDR zu ei-
nem erheblichen Teil aus dieser Erzählung konstituierte und die Grün-
dungsrechtfertigung determinierte. Die ältere Generation, die den Krieg
mitgemacht hatte, nahm das Angebot des antifaschistischen Mythos, Täter
in Opfer umzudisponieren, bereitwillig auf und breitete einen Mantel des
Schweigens über den fehlenden Widerstand in dieser Zeit aus, so dass die
ausbleibende Hinterfragung der Elterngeneration der offiziell verbreiteten
Geschichte vom selbstbestimmten revolutionären Prozess nicht im Wege
stehen konnte. Diese vage Vorstellung von einem selbstgeschaffenen Auf-
bruch in eine neue Zeit durchdrang die Mehrheit der Schüler und Jugend-
lichen.
Auch in den späteren Jahren wurde diese Vorstellung weiterhin auf-
rechterhalten, denn ein offizielles Eingestehen der Determinierung des sozi-
alistischen Aufbaus durch äußeres Einwirken hätte das Eingeständnis des
"Exports der Revolution" bedeutet. Dieses Bekenntnis hätte keine ausrei-
chende Integrationskraft für die Gesellschaft in der DDR erbracht und wäre
außerdem mit der offiziellen Ablehnung der Möglichkeit des "Exports der
Revolution", wie dies immer wieder im Zusammenhang mit den revo-

52
lutionären Aktionen ehe Guevaras in Bolivien beteuert wurde, in Wider-
spruch geraten.

2.l.8 "Die Aktionseinheit der Arbeiterklasse"

In Fortführung der mythischen Überhöhung der KPD im antifaschistischen


Widerstandskampf und bei der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung
wurde auch ihr Beitrag bei der Herstellung der Aktionseinheit der Arbeiter-
klasse hervorgehoben. Die Übernahme der politischen Macht durch die So-
zialistische Einheitspartei und die Dominierung der Einheit durch die Kom-
munisten erhielt eine Heiligung. Die KPD wurde zur Erlöserin von dem
Fluch der gespaltenen Arbeiterklasse, die die deutsche Reaktion nicht aufzu-
halten vermocht hatte. Jetzt, da diese Spaltung überwunden wurde, war auch
der Weg zum Faschismus versperrt. Dort, wo die Arbeiterklasse nicht einig
war, konnte sich der Faschismus wieder erheben.
In der Bundesrepublik war die Arbeiterklasse in Form zweier Arbeiter-
parteien weiter in zwei Lager zerrissen. Im Lehrplan für Geschichte wurde
als entscheidendes Erkenntnisziel angeführt:

"Die Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Jahre 1946 war die
größte Errungenschaft in der Geschichte der deutschen Arbeiterklasse und des deutschen
Volkes nach de~9VeröfIentlichung des Kommunistischen Manifestes und nach der Grün-
dung der KPD."

Die hohe Mitgliederzahl der SED lässt erst einmal auf eine Akzeptanz
der Partei und eine große Erwartungshaltung, besonders der Vertreter der
Aufbaugeneration, schließen. In den Schulen zeigte sich das in der Mitglie-
derstärke der sozialistischen Jugendorganisationen der Jungen Pioniere und
der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Besonders in den 50er und 60er Jahren
konnte der Zuspruch für die SED und deren Jugendorganisationen nicht
allein auf restriktives Vorgehen der Staats- und Parteiführung der DDR und
Karrieregebundenheit zurückgeführt werden, was zu späteren Zeitpunkten
durchaus der Fall war.
Als jedoch klar wurde, dass die Einheit der Arbeiterklasse keine Einheit
war, sondern die Einheitspartei sich mehr oder weniger als Herrschaftsin-
strument der kommunistisch dominierten Elite erwies, kam deren Instru-
mentalisierung im Zusammenhang mit dem Antifaschismus deutlich zum
Vorschein.

79 ebenda: 18.

53
2.1.9 "Die Gründung der DDR als Konsequenz der Abgrenzung
gegen die undemokratische Entwicklung und faschistische
Gefahr in Westdeutschland"

Die Gründung der DDR am 7.10.1949 wurde überwiegend als Folge des
verschärften Klassenkampfes und Erfordernis zur "endgültigen Lösung der
Machtfrage im Interesse der Arbeiterklasse" gesehen. 80 Sekundär wird der
Gründungsakt als Antwort auf die "Bildung des Bonner Separatstaates an-
geführt,,81. Das Eingeständnis, dass die Gründung der DDR einen mehr oder
weniger defensiven Akt darstellte, hätte zu keiner überzeugenden Identität
mit diesem neuen Staat führen können, sondern wäre eher als Niederlage
empfunden worden.
Die Bezeichnung der DDR als "ersten Arbeiter- und Bauern-Staat auf
deutschem Boden" dockte an eine ganze Kette von traditionellen Sehnsüch-
ten in der deutschen Geschichte an, angefangen beim Bauemkrieg über be-
stimmte Interessen in der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848
bis hin zur Novemberrevolution 1918. In der DDR nun wären all die jahr-
hundert alten Träume des deutschen Volkes Wirklichkeit geworden. 82

"Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (ist) ein wichtiges Ereignis im
Kampf der deutschen Arbeiterklasse um die Erfüllung ihrer historischen Mission auf deut-
schem Boden, ein Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Volkes ... ,,83

80 Im Geschichtslehrbuch rur die 10. Klasse hiess es: "Die BRD war geschaffen worden als
Machtinstrument der gleichen Klassenkräfte, die den Faschismus hervorgebracht und den
zweiten Weltkrieg entfesselt hatten." In: Lehrbuch Geschichte. Klasse 10. a.a.O.: 86.
81 ebenda.
82 ebenda: 20/21. Die Unterrichtseinheit zum Thema "Das Ringen um die antifaschistisch-
demokratische Umwälzung" erhielt mit neun Stunden eine ungewöhnlich lange Behandlungs-
dauer . Folgender Stoff sollte behandelt werden: "Information über die Bildung von Landes-
und Provinzialverwaltungen.
Die demokratische Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone und ihre historische
Bedeutung, die Herstellung des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und Bauern (Gründung
der VdgB, Neubauernhilfsprogramm, Errichtung der MAS), die Verhinderung der Bodenre-
form in den westlichen Besatzungszonen;
Die Gründung der FDJ;
Die Gründung der SED und ihre Bedeutung: Entstehung einer breiten Bewegung zur Vereini-
gung von KPD und SPD in allen Besatzungszonen, die ruhrende Rolle Wilhelm Piecks und
Otto Grotewohls im Prozess der Vorbereitung der Vereinigung; die Durchfiihrung des Verei-
nigungsparteitages, die Annahme der Grundsätze und Ziele der SED - ihr wesentlicher Inhalt
(Orientierung auf den Kampf rur eine antifaschistisch-demokratische Ordnung als Vorausset-
zung rur den Übergang zur sozialistischen Revolution, Kampf rur die Errichtung der Diktatur
des Proletariats als zentraler Frage der revolutionären Entwicklung, Bekenntnis zum proletari-
schen Internationalismus)
83 Ministerrat der DDR. Lehrplan Geschichte. Klasse 10. a.a.O.: 22.

54
Die Gründung wurde als Konsequenz der "Verhinderung einer demo-
kratischen Entwicklung in den Westzonen" und schließlich der Spaltungs-
politik der "deutschen und ausländischen Imperialisten" betrachtet. 84
Das sozialistische Demokratiekonzept zugrundelegend, bezogen die
Lehrpläne die undemokratische Entwicklung auf den "Schutz des Monopol-
kapitals vor Enteignung und (die) spätere Restauration dessen Herrschaft,
die Verhinderung (der) antifaschistisch-demokratischen Entwicklung" und
die Bildung der Bi- und Trizone. 85 Das Feindbild war nun festgeschrieben
und hieß Bundesrepublik Deutschland, die die schreckliche Vergangenheit
restaurieren wollte und die antifaschistische Entwicklung in der DDR be-
drohte. Es entstand ein Gefühl der Bedrohung von außen, was wiederum
Befriedung im Inneren erzeugen sollte. 86
Die Verbindung zwischen Faschismus und Kapitalismus und die daraus
abgeleitete Schlussfolgerung der permanenten faschistischen Gefahr aus
dem Westen, d.h. die direkte Nutzung der Faschismustheorie Dimitroffscher
Prägung für die Systemauseinandersetzung, warf für die Schüler ein weite-
res Identifikationsdilemma auf. Da über Verwandtschaftsbeziehungen oder
die Westmedien Informationen über den Westen durchaus verbreitet waren
und vor allem die angenehmen Seiten des Lebens in der Bundesrepublik
bekannt wurden, entstand entgegen der Absicht der herrschenden Elite eher
eine Sehnsucht nach dem Westen anstatt einer Zurückweisung und Selbst-
abgrenzung. Der Verdacht, dass im Westen der Faschismus neu entstehen
und die Menschen der sozialistischen Länder bedrohen könnte, wurde nicht
geteilt.

2.1.10 "Die DDR als der Staat der Antifaschisten"

Ein gewichtiger Begründungszusammenhang kann im Geschichtsunterricht


zwischen "wahrem" Antifaschismus und der antifaschistischen Elite ausge-
macht werden. Im Geschichtslehrbuch der 10. Klasse hieß es:

"Bereits die Tatsache, dass an der Spitze der DDR so hervorragende Arbeiterführer und
Antifaschisten ( gemeint waren Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl) standen, kündete von

84 Lehrbuch Geschichte. Klasse 10. a.a.O. :88: "Die DDR entstand im Ergebnis des Kampfes
zwischen den Kräften des Fortschritts, der Demokratie und des Sozialismus und den Kräften
des imperialismus, des Faschismus und des Krieges."
85 ebenda.
86 Vgl. Voigt, Rüdiger: Mythen, Rituale und Symbole in der Politik. In: ders. (Hrsg.): Symbole
der Politik. Politik der Symbole. Opladen: Leske und Budrich 1989: 23.

55
der Entstehung eines deutschen Staates, der sich von allen früheren grundsätzlich unter-
schied.,,87

Die antifaschistischen Biographien der Elite in der DDR wurden als De-
cke benutzt, um die nationalsozialistischen Biographien eines großen Teils
der Bevölkerung zuzudecken und schließlich zu vereinnahmen. Im An-
schluss an die Behandlung der Führungsspitze der DDR folgten sowohl
Themen des sozialistischen Aufbaus in der DDR und der Errichtung des
sozialistischen Lagers (Warschauer Vertrag und Gründung des RGW) als
auch die Entwicklung in der UdSSR. Fragen der Überwindung national-
sozialistischer Einstellungen und Überzeugungen in der SBZ und DDR
fehlen ebenso wie in anderen Bereichen der Mythenbildung völlig.
Rezeptionsseitig wurde hier wiederum der Eindruck erzeugt, als seien
alle DDR-Bürger von Beginn an Antifaschisten und die Bevölkerung in der
Bundesrepublik faschistisch gewesen.

2.2 Der Deutschunterricht in der DDR und die Herausbildung eines


antifaschistischen Mythos

Der vermittelte Charakter des Deutschunterrichts und der größere Einfluss


von Schriftstellern und Dichtern auf die Bildung von politischen Überzeu-
gungen wirkte auf die Herausbildung eines echten antifaschistischen Mythos
in der DDR wesentlich günstiger als der Staatsbürgerkunde- und Ge-
schichtsunterricht, in denen die reduktionistische und instrumentalisierte
Darstellung des Antifaschismus des engen Kreises der DDR-Elite direkter
durchgesetzt werden konnte.
Anders als im Geschichts- und Staatsbürgerkundeunterricht wirkte der
Deutschunterricht stärker auf Gefiihle ein und lief mehr oder weniger auf
die Implementierung von Überzeugungen hinaus, die sich pauschal positiv
oder negativ zum Nationalsozialismus und dem Antifaschismus verhielten.
Hier wurde innerhalb des Antifaschismus-Mythos weniger differenziert und
weniger auf diejenigen Punkte hingearbeitet, die die Identität mit der Füh-
rungselite determinieren sollten. Da sich der Abstand zwischen dieser Elite
und der Bevölkerung trotz aller Schwankungen nicht verringerte, sondern
eher eine steigende Tendenz aufwies, konnte Identität über einen eliten-
orientierten antifaschistischen Mythos, auch bei der jüngeren Generation,
nicht erzeugt werden.

87 Lehrbuch Geschichte. Klasse 10. a.a.O.: 88.

56
Im Deutschunterricht ergaben sich ganz andere Implikationen. Mit Er-
zählungen und Gedichten, die Antifaschismus zu einer generellen Haltungs-
frage über Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit machten, gab es hier ein
Angebot für die junge Generation, die Schuld der nazistischen Verbrechen
der Eltern- und Großelterngeneration in dem einen Fall aktiv zu überwinden
und im anderen Fall passiv zu verdrängen. Aktive Überwindung wurde da-
durch erzeugt, dass die Schüler Sympathie für die in den Geschichten und
Gedichten beschriebenen Aktionen und Personen, die Kämpfer gegen den
Nationalsozialismus oder dessen Opfer waren, empfanden und sich selbst im
Alltag oder der gesellschaftlichen Arbeit in ihnen wiedererkannten. Mit sol-
chen Identitätsakten ging eine Art Selbstbefreiung von der Erblast des Nati-
onalsozialismus einher, die erleichterte.
Allerdings stießen diese Ansätze für eine tiefe antifaschistische Identität
ständig mit der politischen Realität und dem sich eng mit den Interessen der
Elite verbundenen Antifaschismus zusammen. Der in den antifaschistischen
Geschichten und Gedichten vertretene Anspruch auf Menschlichkeit, Frei-
heit und Demokratie konnte mit dem autoritären und totalitären Regime der
DDR und den äußerst eingeschränkten politischen Freiheiten nicht in Über-
einstimmung gebracht werden. Der Deutschunterricht trug so entscheidend
dazu bei, einen allgemeinen antifaschistischen Mythos aufzubauen, der aber
keinen konkreten Ort und keine konkrete Zeit hatte. Dieses Erscheinungs-
bild ähnelt dem Dilemma auf anderen Feldern der Mythenvermittlung und -
rezeption wie in der Auftragskunst oder der Widerstandsliteratur, die echte
Mythen erzeugten, aber schließlich an der politischen Realität zerbrachen
bzw. sich verdünnten, um sich schließlich regelrecht zu verflüchtigen.
Eine Untersuchung der Deutschlehrpläne von 1949 bis 1990 zeigt, dass
antifaschistische Themen in den 40er Jahren bei den Empfehlungen für den
Literaturunterricht so gut wie keine Rolle spielten. Hier wurde in dem Ab-
schnitt über Ziele des Deutschunterrichts allgemein auf die Erziehung der
"jugendlichen Menschen ... im Geiste der Humanität" orientiert, was den
wesentlichen Beitrag zur Bildung der neuen Generation liefern sollte. 88

88 Vgl. Deutsche ZentralvetWaltung filr Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone


Deutschlands: Lehrpläne filr die Grund- und Oberschulen. Deutsch. 1.7.1946. Best.Nr.
19003: 3. Als Ziele des Deutschunterrichts wurden weiter ausgewiesen: "Er öffuet dem Schü-
ler das Verständnis filr die Muttersprache, ihr Leben und ihre Gesetzlichkeit, weckt die Liebe
zu ihr und lehrt ihn, deutsch zu sprechen und zu schreiben. Er lehrt ihn lesen, weckt die Freude
an der Dichtung und filhrt ihn in die deutsche Literatur der Vergangenheit und Gegenwart und
lässt ihn innerlich teilnehmen an dem in ihr gestalteten Ringen um soziale Gerechtigkeit und
Freiheit, um die Wahrung und Erhöhung der Menschlichkeit. Er lehrt ihn, aus den besten

57
Breiten Raum nahm die Behandlung der deutschen Klassik ein. In den
niederen Klassen (ab Klasse 5) wurden Märchen, Sagen und Abenteuerge-
schichten behandelt. Die Empfehlungen für die Deutschlehrpläne dieser Zeit
waren völlig frei von politischen Themen. Die Aneignung von Wissen über
die deutsche Literatur, Stilkunde und die Herausbildung eines guten Aus-
drucks bestimmten das Feld dieses Faches. Allerdings trat in den Empfeh-
lungen für die 11. Klasse 1946 erstmals ein Bredel-Buch, "Verwandte und
Bekannte" auf. 89 In der 12. Klasse sollten dann schon Zweig ("Der Streit um
den Serganten Grischa"), Bredel ("Die Prüfung", "Kommissar am Rhein")
und Anna Seghers ("Das Siebte Kreuz") gelesen werden. 90 Ein Jahr später
stand unter der Rubrik "Grundsätzliches" des Deutschlehrplanes für die 9.
bis 12. Klassen:

"Diesem Unterricht kommt eine besonders verantwortliche Aufgabe fur die Revision jenes
herkömmlichen Wesens- und Wertbildes vom deutschen Menschen zu, das keine hinrei-
chende Klarheit und Festigkeit gegenüber reaktionärem und faschistischem Denken ge-
währt.,,91

Hier taucht das erste Mal ein antifaschistischer Duktus auf, der ausge-
sprochen allgemein gehalten wird. Im Stoffplan wurde die 1946 genannte
antifaschistische Literatur jedoch nicht wieder aufgenommen.
Eine jähe Wende in den Deutschlehrplänen wird nach der Gründung der
DDR sichtbar. Das Streben nach deutscher Einheit kommt in den Zielset-
zungen des Deutschunterrichts zum Ausdruck, indem die deutsche Sprache,
als gemeinsames Gut aller Deutschen, das Zusammengehörigkeitsgefühl und
das deutsche Nationalbewusstsein befördere, als Waffe für die Einheit und
gegen die sogenannten Spaltungsversuche des Imperialismus verwendet
werden sollte. 92 Von jetzt an gehören Gedichte und Monographien von

Werken unserer Dichtung Kraft zu schöpfen zu einem Leben im Geiste der Humanität in dem
ihm zugemessenen Lebenskreis." S.3.
89 Deutsche Zentral verwaltung rur Volksbildung der Sowjetischen Besatzungszone Deutsch-
lands.: Lehrpläne rur die Grund- und Oberschulen. Deutsch. 1.7.1946: 56.
90 ebenda: 58.
91 Deutsche Verwaltung rur Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands.
Lehrpläne rur die Grund- und Oberschulen. Deutsch. 1.9.1947: 40.
92 Ministerium rur Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik: Lehrplan rur Ober-
schulen. Deutsch. 9. bis 12. Klasse. Berlin.: Volk und Wissen 1951: 3. In der Vorbemerkung
zum Lehrplan heisst es: "Die nationale Einheit unseres Vaterlandes ist bedroht durch die impe-
rialistische Politik der USA, die die Beschlüsse von Jalta und das Potsdamer Abkommen
gebrochen haben. Die USA-Imperialisten und der wiedererstandene Imperialismus in West-
deutschland begnügen sich nicht damit, künstliche Grenzen aufZurichten. Sie wollen die histo-
risch gewachsene Einheit des nationalen Wirtschaftslebens und der nationalen Kultur zerstö-
ren, indem sie den Wirtschaftskörper zerreissen, den Fortschritt auf allen Gebieten henunen

58
Johannes R. Becher, Willi Bredel, Arnold Zweig, K. Simonow, W. Maja-
kowski, Maxim Gorki, Friedrich Wolf, Erich Weinert, Ilja Ehrenburg, Anna
Seghers, Stephan Hermlin und Bertolt Brecht zum festen Repertoire des
Deutschunterrichts. Selbst Reden von Politikern wie Rosa Luxemburg, Karl
Liebknecht93 , Stalin, Lenin, Otto Grotewohl, Wilhelm Pieck und Walter
Ulbricht wurden in die Deutschlehrbüchern aufgenommen. 94
Der Deutschunterricht wurde explizit dafür genutzt, den Schülern neben
den Lebensdaten Gefiihle der Zugehörigkeit und der Hochachtung für deut-
sehe Arbeiterführer und Antifaschisten im Sinne einer Vorbildfunktion zu
vermitteln. Die vielen Gedichte und Kurzgeschichten, die Ernst Thälmann
gewidmet wurden, entsprachen seiner Rolle als Identiftkationsfigur Nummer
eins bei der Mythisierung des Antifaschismus in der DDR. 95 Dieser Name
erhielt weniger über die genaue Kenntnis seines Lebens eine mythische Be-
deutung, als vielmehr durch die Verbindung des Namens mit den Thäl-
mannpionieren, die in der Stufenleiter der Pionierhierarchie nach den Jung-
pionieren die höhere Form darstellten.
Sowohl in der 5. als auch in der 6. Klasse wurden ganze Behandlungs-
abschnitte unter dem Titel "Erzählungen, Berichte und Gedichte vom Leben
der Thälmannpioniere und ihrer Freunde und vom Neuen, was in unserem
Land geschaffen wird" mit einer außerordentlich hohen Stundenzahl von 13
bzw. sieben Stunden bedacht. 96 Die Zielabfolge in der Überschrift zeigt, dass
eine mythische Linie zwischen Thälmann - Pionieren - DDR und neuer
Gesellschaft hergestellt wird. Thälmann ist der Ursprung, der Gründungsva-
ter der neuen Gesellschaft, und die Pioniere sind seine Schüler und die Voll-
strecker, die für den Fortbestand der großen Idee garantieren. Die DDR ist
das Umfeld, die Garantie für die Durchsetzung der ursprünglichen Ziele, die
im Neuen eingelöst werden, und die Schutzburg für die Jugend. Außerdem
hat alles, was mit Thälmann und der neuen Gesellschaft verbunden ist, viele
Freunde. Die Freunde, die immer massenweise zitiert werden mussten, soll-

und bewusst politische. weltanschauliche und kulturelle Gegensätze schaffen. Diese Mass-
nahmen bedrohen nicht nur den Bestand der deutschen Nation, sondern gefährden zugleich
auch den Weltfrieden."
93 Im Lesebuch der 9. Klasse wurde die Antikriegsresolution von Karl Liebknecht an den Deut-
schen Reichstag abgedruckt. Lesebuch. Klasse 9. Berlin: Volk und Wissen 1956.: 74.
94 ebenda: 1-20 und in: Ministerium filr Volksbildung der DDR. Lehrpläne filr die Zehnjahres-
schule. Deutsch. Berlin: Volk und Wissen 1951:3-13.
95 Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium filr Volksbildung. Lehrplan
der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule. Themen filr den Sprachun-
terricht. Berlin 1963.
96 ebenda: 12 und 18.

59
ten über das Dilemma der nur schwer in Gang kommenden internationalen
Anerkennung der DDR hinweghelfen. Der Abschnitt mit dem Titel: "Erzäh-
lungen und Gedichte vom Heldentum im antifaschistischen Wider-
standskampf'97 wiederholt sich von der 6. Klasse an gleich zweimal.
In den 70er und 80er Jahren wird der in den 60er Jahren entwickelte an-
tifaschistische Themenkanon beibehalten und kaum verändert. Stalin wurde
aus allen Lehrbüchern verbannt, und die Reden von Politikern wechselten
entsprechend dem Politikerwechsel in der DDR. Was sich änderte, war der
Zusammenhang, in den der antifaschistische Mythos gestellt wurde. So
wurde "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers behandelt neben anderen Ge-
dichten und Erzählungen, die sich mit der kubanischen Revolution, dem
Vietnamkrieg oder der lateinamerikanischen Befreiungsbewegung beschäf-
tigten. 98 Das Feindbild "Faschismus" blieb durchaus vorhanden, doch wäh-
rend es in den 50er und 60er Jahren einen überwiegend westdeutschen Ge-
genwartsbezug erhielt, bezog es sich in den 70er und 80er Jahren auf die
USA, den sogenannten USA-Imperialismus, oder den "Imperialismus"
schlechtweg, wovon die Bundesrepublik lediglich ein Teil war. Der USA-
Imperialismus wurde somit an den Faschismus angedockt.
Von 1963 an ist ein fester Stamm von antifaschistischer Literatur in den
Lehrplänen für den Deutschunterricht festgeschrieben, der sich bis zum
Ende der DDR hielt.
Kleine Geschichten über den antifaschistischen Widerstandskampf wa-
ren in den Lesebüchern aller Klassenstufen zu finden. Besonders in den
niedrigeren Schuljahren tauchen Erzählungen auf, die über den Umweg der
Darstellung des Schicksals eines Tieres oder eines Kindes, die mit dem
Widerstand unmittelbar nichts zu tun hatten, über die Grausamkeit der Na-
ziherrschaft informierten und tiefe innere Abwehr gegenüber diesem System
erzeugten. Anschauliches Beispiel hierfür ist die Geschichte "Kiki" von
Friedrich Wolf, die sich von den 60er Jahren an bis zum Ende der DDR in
allen Lesebuchausgaben der 6. Klasse befindet. 99

97 ebenda: 17.
98 Als Beispiele können hier die Gedichte aufgefiihrt werden wie: "Mutter, wie weit ist Vietnam"
von Fritz Räbiger oder "Ein Ledemac??ken1ied" von Erhard Schemer. In: Unser Lesebuch.
Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen 1970: 206 und 208. 1985 kamen Texte hinzu wie: "Erste
Seite des Tagebuchs" von Hoh chi Min, "Imperialisten1ogik" von Rainer Kirsch oder "Wenn
ich fortgeh zur Arbeit" von Victor Jara. In: Lesebuch. Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen
1985.
99 Wolf, Friedrich: Kiki. Die Geschichte eines Hundes. In: Lesebuch. Klasse 6. Berlin: Volk und
Wissen. 1985:134-140.

60
Diese Geschichte, die das Schicksal eines kleinen lustigen Hundes dar-
stellt, der den Häftlingen eines Straflagers am Rande der Pyrenäen zugelau-
fen war, unterscheidet deutlich zwischen der Güte und Tierliebe der Häft-
linge, die dem Hund von ihrer mageren Ration abgeben und ihn nach seiner
Verletzung unter großer Gefahr pflegen, und der Grausamkeit der den Hund
quälenden und zu Tode hetzenden faschistischen Aufseher. Man erfährt
nicht, wer die Häftlinge sind und wessen sie angeklagt sind, und nicht, wer
die Aufseher sind und in wessen Namen sie strafen. Allein ihr Verhalten
dem Hund, einem völlig neutralen Wesen gegenüber, entscheidet, wer gut
und wer böse ist. Der Hund, der für fast alle Kinder in einem bestimmten
Alter einen Primärwunsch verkörpert und dem sie tagtäglich auf der Strasse
begegnen, wird zum sinnlichen Werkzeug, um in die Geschichte einzutau-
chen und zu den Handelnden Zugang zu finden. Gleichzeitig transformiert
der Hund zum Richter.
Die Erzählung "Die Tochter der Delegierten" von Anna Seghers lOO hatte
einen ähnlichen Effekt wie die Geschichte von Kiki. Ein kleines polnisches
Mädchen wird durch die Reise ihrer Mutter, die zum Gewerkschaftskon-
gress in die Sowjetunion delegiert wurde, in die Auseinandersetzung zwi-
schen deutscher faschistischer Besatzungsmacht und dem polnischen Wider-
stand hineingezogen. Obwohl das Mädchen Felka sich zwei Wochen lang
nur versteckt halten muss, damit die Reise der Mutter geheim bleibt, wird
sie angesichts der Schrecken des Alleinseins und der Angst des Entdeckt-
werdens zur HeIdin. Die kindlichen Leser konnten diese Bewährungssitua-
tion sehr wohl nachempfinden und stellten sich automatisch auf die Seite
derjenigen, die litten und gegen die, die dieses Leiden verursachten.
Über Erzählungen, die humane Werte und Handlungsweisen mit dem
antifaschistischen Widerstand verbanden, entstand eine tiefe emotionale
Bindung an den Antifaschismus, der als das moralisch Überlegene und als
der Gegenpol zum Nationalsozialismus als dem Inbegriff alles Schlechten
empfunden wurde. Solange diese Geschichten immer von anderen Men-
schen handelten und sich oft auch in anderen Ländern abspielten, wie dies
bei der "Tochter der Delegierten" und "Kiki" der Fall war, war man von der
eigenen Vergangenheit weit entfernt. Die Mehrheit aller Kinder in der DDR
nahmen an, dass die eigenen Eltern und Großeltern, die sie mit den gleichen
Wertmassstäben maßen wie besagte Geschichten, natürlich nicht Vertreter

100 Seghers, Anna: Die Tochter der Delegierten. In Lesebuch. Klasse 6. Berlin: Volk und Wissen.
1975: 124-133.

61
dieses von ihnen als negativ erkannten Systems waren. Dies schien ihnen
völlig unmöglich.

2.2.1 Die Lektüre antifaschistischer Prosa im Deutschunterricht und der


Mythos vom Antifaschismus

Das Buch, das als das antifaschistische Buch des DDR-Deutschunterrichtes


schlechthin bezeichnet werden kann, ist "Das siebte Kreuz" 101 von Anna
Seghers. I 02 Dieses Buch gehörte schon im Deutschlehrplan von 1946 zur
Pflichtliteraturl03 und blieb es bis 1990. In dem Roman wird die Flucht des
deutschen Kommunisten Georg Heisler aus dem Konzentrationslager West-
hofen in einer Weise beschrieben, die in großen Teilen das Metier eines
Kriminalromans, aber auch Seiten des großen Charakterromans der franzö-
sischen und russischen Klassiker assoziiert. Als einzigen von sieben Häft-
lingen gelingt Georg Heisler die Flucht in die Freiheit. Die anderen wurden,
nachdem sie wieder eingefangen waren, an die Kreuze geschlagen, die der
Lagerkommandeur dafür errichten ließ. Eines der sieben Kreuze blieb frei.
Anna Seghers verwendete die Kreuzmetapher für die Opfer des Nationalso-
zialismus, die KZ-Häftlinge, die durchweg in ihrer Charakterver-
schiedenheit ein breites Identifikationsangebot an die jungen Leser machten.
Die Häftlinge traten den Schülern keinesfalls in einer abgehobenen Stel-
lung gegenüber, die sie als Heilige in unerreichbarer Feme erscheinen lie-
ßen. Ihre Verhaltensweisen waren durch Trotz, Mut, Widerspruch, aber
auch durch Kleinmütigkeit, Schwäche, Angst und Verzagtheit geprägt, wie
ein Beispiel aus dem "siebten Kreuz" zeigt:

"Georg griff ins Gestrüpp. Er kroch langsam seitlich. Er war jetzt viel1eicht noch sechs
Meter von dem letzten Strunk weg. Plötzlich, in einer grel1en, in nichts mehr traumhaften
Einsicht, schüttelte ihn ein solcher Anfal1 von Angst, dass er einfach hängen blieb auf dem
Außenabhang, den Bauch platt auf der Erde. Ebenso plötzlich war es vorbei, wie es ge-
kommen war." und weiter: "Ein zweiter Anfal1 von Angst, die Faust, die einem das Herz
zusammendrückt. Jetzt nur kein Mensch sein, jetzt Wurzel schlagen, ein Weiden stamm
unter Weiden stämmen, jetzt Rinde bekommen und Zweige statt Arme. Meissner (KZ-Auf-
seher) stieg in das Gelände hinunter und fing wie verrückt zu brül1en an. Plötzlich brach er

101 Seghers, Anna: Das siebte Kreuz. Berlin: Aufbauverlag 1946. Das Buch wurde 1942 ge-
schrieben.
102 Anna Seghers, eigentlich Netty Radvanyi, geb. Reiling.
103 Vgl. Deut~che Zentralverwaltung rur Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone
Deutschlands: Lehrpläne rur die Grund- und Oberschulen. Deutsch. 1.7.1946. Best.Nr.
19003.

62
ab. Jetzt sieht er mich, dachte Georg. Er war auf einmal vollständig ruhig, keine Spur von
Angst mehr, das ist das Ende, lebt alle wohl."lo4

Es macht keine Mühe, sich in diesen Figuren wiederzuerkennen. Selbst


der Held des Buches, Georg Heisler, wird, besonders zu Beginn, als ein et-
was leichtsinniger und geltungssüchtiger Typ beschrieben, der die Freundin
seines Freundes heiratet und diese dann mit einem Kind im Stich lässt.
Anna Seghers arbeitete ziemlich deutlich heraus, dass die ungewöhnliche
Situation des politischen Kampfes, die Inhaftierung im KZ und schließlich
die Flucht mit ihren harten bis an die existentiellen Grenzen heranreichen-
den Prüfungen den Menschen verändern, seinen Reifungsprozess beschleu-
nigen und einen "positiven Helden" aus ihm machen, der er am Anfang
überhaupt nicht war. Das Kreuz blieb frei, das Opfer transformierte zum
Sieger.
Diese Opfertransformation ist hier von ganz anderer Art als die der gro-
ßen antifaschistischen Denk- und Mahnmale. Dort wird das Opfer erst durch
den Tod zum Sieger. Der Sieger aus dem Jenseits, der sich in der politischen
Mythologie immer wieder so großer Beliebtheit erfreut, da er von oben ge-
setzte Mythen mit der nötigen Konsequenz der absoluten bis zum Tod rei-
chenden Treue für eine Sache oder Person versieht, wird von Anna Seghers
in einen Sieger des Diesseits verwandelt. Er ist am Schluss kein Opfer mehr,
sondern wirklich Sieger, indem er überlebte und zum Niedergang des Fa-
schismus beitrug. Und gerade weil er weiterlebte, konnte er es tun. Seghers
verkehrt das Kreuz als ein Zeichen des Opfers der einen, damit die anderen
leben können, in sein Gegenteil. Das Kreuz wird nicht mehr angenommen.
Dass es das siebte ist, setzt im mystischen Kontext der weit verbreiteten Auf-
fassung von der Schicksalszahl "Sieben" eine Art Endpunkt auf dem Weg
des sich ewig wiederholenden Opferganges der Menschen. Obwohl das
Schicksal den Flüchtenden oftmals günstig gestimmt zu sein schien, wurden
sie gefangen. Opfer reihte sich an Opfer - bis zum sechsten Kreuz. Das freie
siebte Kreuz war Sinnbild des Sieges, nicht nur über die Henker, über den
Nationalsozialismus, sondern auch über sich selbst.
Der Haupthandlungsralunen wird von einer Vielfalt von Geschichten
und Charakterbeschreibungen durchwoben, die einen guten Einblick in das
Alltagsleben des Nationalsozialismus geben und die systemunterstützende
Einstellung von Leuten verständlich machten, die durchaus sympathisch
dargestellt werden und sich in der Konfrontation mit dem Schicksal des
Haupthelden jedoch zur Solidarität mit ihm entscheiden. Dies wird an einer

104 Seghers, Anna: Das siebte Kreuz. a.a.O.: 22 und 23.

63
Textstelle deutlich, in der sich Georg Heisler während seiner Flucht in der
Wohnung eines alten Bekannten unterhält:

'''Nie hat ein Hahn nach uns gekräht', sagte die Liese!. 'Jetzt geschieht doch was.' Paul
sagte mit lachenden Augen: 'Liesel hat einen staatlichen Glückwunsch von der Direktion
bekommen ... , Spaß beiseite, Georg, all die Vergünstigungen und die Zulagen, 7 Pfennig
pro Stunde, das spürst du. Die Befreiung von den Abzügen und ein solcher Stoss bester
Windeln!' , Als ob die NS-Volkswohlfahrt geahnt hätte, 'sagte Paul,' dass die alten von drei
Vorgängern morsch geschissen sind.' 'Hör nicht auf den', sagte LieseI, 'dem Paul seine
Äuglein haben ganz schön gefunkelt, er war fidel wie in seiner Bräutigamszeit diesen Au-
gust auf der Sommerreise.' 'Wo ging's denn hin?' ' Nach Thüringen, und wir haben die
Wartburg besichtigt und den Martin Luther und den Sängerkrieg und den Venusberg. Das
war auch noch eine Art Belohnung. Nein, so was war noch nie da auf der Welt. ",105

Auch die KZ-Aufseher sind keine gesichtslosen Wesen, die das geballte
Böse darstellen, das nichts Menschenähnliches mehr aufweist. Sie erschei-
nen zwar als oftmals unglückliche und moralisch fragwürdige Personen,
doch von sehr unterschiedlichem Charakter und differenzierter Motivation:

"Overkamp schloss hinter sich ab, um ein paar Minuten vor Wallaus Verhör allein zu sein.
Er ordnete seine Zettel, sah seine Angaben durch, gruppierte, unterstrich, verband Notizen
durch ein bestimmtes System von Linien. Seine Verhöre waren berühmt. Overkamp könnte
einer Leiche noch nützliche Aussagen entlocken, hatte Fischer gesagt. Seine Anlagen zu den
Verhören seien bloß mit Partituren zu vergleichen." 106

Mit Beschreibung von Verhaltensweisen, die aus dem eigenen Alltag zu


stammen scheinen, gelingt es Seghers, die Schüler zu einer scheinbaren
Identität mit den nationalsozialistischen Tätern der Erzählung zu verführen,
die aber in dem Moment des Eintritts in das Verbrechen ein erschreckendes
Erwachen darüber auslöst, wie man denn so unbedarft in Gedanken bis
dahin mitlaufen und nichts Ungewöhnliches entdecken konnte. Es ist so, als
würde das eigene Misstrauen oder die kritische Vernunft durch die Autorin
eingeschläfert, um dann das aufrüttelnde Gefühl des Erwachens zu durchle-
ben und sich so der Gefahr des Verführtwerdens bewusst zu werden. Die
Botschaft heißt, das Unmenschliche hat im ganz Menschlichen, im Alltäg-
lichen seinen Anfang. Es entwickelt sich schleichend und unauffällig. Es
besteht die Gefahr, dass der Verführte nicht mehr abspringen kann. Als
Leser ist es möglich, umzukehren, doch in der Realität vielleicht nicht. Der
Roman enthält somit eine eindringliche Warnung an die Leser, nach der
schrecklichen historischen Erfahrung einen geschärften Blick zu entwickeln
und das gesellschaftliche Leben kritisch auf die faschistische Gefahr hin zu

105 ebenda: 228.


106 ebenda: 173.

64
untersuchen. Diese Warnung kann auch mit der von Aleida Assmann ent-
wickelten Gedächtnismetapher des "Erwachens" oder des eschatologischen
Gedächtnisses verglichen werden, die sie am Beispiel des gnostischen Dra-
mas aufzeigt:

"Die Gefahr des Vergessens ist nicht mehr nur das immanente Trägheitsmoment, das es
ständig zu überwinden gilt, es entspringt dem Anschlag einer dämonischen Macht und
gehört zur Strategie feindlicher Überlistung. Der Mensch wird mit Macht und List in einer
Welt gehalten, in die er nicht gehört; mit Lärm übertönt man den Ruf aus einer anderen
Welt, und mit Trunkenheit nebelt man das Bewusstsein ein. Die Hoffnung besteht darin,
dass der Lärm selbst das Opfer aus seiner Lethargie reißt und zum Erwachen bringt." 107

So kann das Buch von Anna Seghers als "Weckruf aus dem Jenseits"
verstanden werden, das "inmitten einer erstarrten und schlechten Welt dem
Lebendigen und Neuen zum Durchbruch verhelfen" will. IOS
Ein Buch mit ähnlicher Wirkung war Bruno Apitz' Roman "Nackt un-
ter Wölfen", der zum festen Bestand der schulischen Pflichtlektüre gehörte.
Hier wurde auch wieder eine Geschichte von Opfern erzählt, von denen
viele starben, einige sich aber schließlich selbst befreiten und so aus ihrer
Opferrolle herausstiegen und zu Siegern wurden.
In beiden Werken, wie auch in vielen anderen Büchern der schulischen
antifaschistischen Pflichtlektüre, wird der traditionell idealtypische Zyklus
"Opfer - Tod - Sieg", der für die Mythensetzung in der deutschen Kulturge-
schichte häufige Verwendung findet, bewusst durchbrochen. Bei Bruno
Apitz gilt wie bei Anna Seghers' Roman "Das siebte Kreuz" ein neuer Zyk-
lus "Opfer - Befreiung/Leben - Sieg". Dieser Zyklus ist gerade für Ju-
gendliche viel anschlussfahiger als der Imperativ des Todes als Voraus-
setzung für Triumph und Glück. Die Forderung, dass das Opfer sterben
muss, determiniert das Bedürfnis, mit einem sadistischen Schauer versehen,
nach dem anderen zu suchen, der diese Rolle übernehmen kann, um alle zu
retten. Doch selbst bleibt man am liebsten draußen, was gleichzeitig ein
schlechtes Gewissen erzeugt. Die Identität erfährt einen Riss. Die Identität
wird nicht die zutiefst eigene, sondern die der imaginär vorhandenen ande-
ren der gleichen Gemeinschaft, die an seiner Stelle das Opfer übernehmen
sollen. Dass das Opfer am Leben gelassen wird, schafft also eine klarere
Identität, mit weniger Angst und schlechtem Gewissen durchdrungen, als

107 Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Assmann, Aleida und Dietrich Harth
(Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. FrankfurtiM. 1991:
13-35.
108 ebenda: 24.

65
der herkömmliche Opferbegriff, der ja auch in der antifaschistischen Mo-
numentalkunst der DDR Konjunktur hatte.
Diese einfühlsame und realistische Art der Beschreibung des National-
sozialismus schuf bei den jungen Lesern Vertrauen in die Wahrhaftigkeit
des Beschriebenen, und diese Wahrhaftigkeit hatte eine starke mythische
Natur. Solche Geschichten wurden geglaubt. Sie stellten die Wurzeln eines
echten Antifaschismus im Bewusstsein einer großen Anzahl von DDR-
Schülern dar. Ob diese Wurzeln zu antifaschistischen Einstellungen und
Haltungen führen konnten, hing in hohem Masse von ihrer Kontextuali-
sierung ab.

3. Die Ikonographie des Antifaschismus in der DDR

3.1 Politische Denkmäler zum Antifaschismus

Auf dem Territorium der ehemaligen DDR begegnet man einer großen An-
zahl von nach 1949 geschaffenen politischen Denkmälern, was sich durch-
aus von der Bundesrepublik unterscheidet, in der zwar die großen National-
denkmäler des 19. Jahrhunderts Landschafts- und Stadtansichten prägen,
wogegen sich modeme politische Denkmäler recht rar ausnehmen. Warum
nun spielte dieses kulturelle kommunikative Medium in der DDR eine solch
große Rolle?
Um diese Frage beantworten zu können, erweist es sich als sinnvoll, den
Begriff des politischen Denkmals zu bestimmen, sein Wesen zu kennzeich-
nen und die Funktion zu benennen. Von Interesse ist dabei der Zusammen-
hang zwischen Erinnerungskultur und Gesellschaftsmodell.
Denkmäler stellen die Stiftung kulturellen Gedächtnisses durch materia-
lisierte Geschichtsbildung dar. Vergangenheit wird über sie als Medium
immer interpretiert. Keineswegs können sie als historische Dokumente be-
trachtet werden, es sei denn der gesellschaftliche Rahmen ändert sich, und
sie werden selbst zu Dokumenten über die kulturelle Erinnerungsarbeit der
vergangenen Ordnung. Erinnerung wird durch Denkmäler nicht direkt,
sondern indirekt erzeugt. Sie verknüpfen kulturelle Formung mit institutio-
nalisierter Kommunikation und sind so auch Lemorte. Der Charakter des

66
Denkmals als komplexes Zeichensystem impliziert Identifizierung, Distan-
zierung oder gar Gegnerschaft mit den gesetzten Zeichen, die ja die Abs-
traktion und Präsentation bestimmter Inhalte in kompakter und gedrängter
Form darstellen.
Nun haben Denkmäler, wie Robert Musil aus der Selbstbeobachtung
heraus beschrieb, die eigenartige Eigenschaft, nicht wahrgenommen zu wer-
den. Dies veranlasste ihn, in einer Satire 1927 folgende These zu vertreten:

"Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler." "Sie sind", so schrieb
er, "gegen Aufmerksamkeit imprägniert... Es geht vielen Menschen selbst mit überlebens-
großen Standbildern so. Man muss ihnen täglich ausweichen oder kann ihren Sockel als
Schutzinsel benutzen, man bedient sich ihrer als Kompass oder Distanzmesser, wenn man
ihrem wohlbekannten Platz zustrebt, man empfindet sie gleich einem Baum oder als Stra-
ßenkulisse un~ o~rde augenblicklich verwirrt stehen bleiben, wenn sie eines Morgens
fehlen sollten."

Sicher ist im Musilschen Erfahrungszeitraum kein großes Denkmal er-


richtet worden, das ein wichtiges Ereignis seiner Zeit interpretiert hat, denn
dies ist solch eine ähnliche Situation, wie sie der Abriss eines Denkmals er-
zeugt, nämlich dass es wahrgenommen wird. Die Errichtung und der Abriss
oder die Veränderung von Denkmälern sind Situationen, in denen diese
Erinnerungsorte zu harten Streitereien und Auseinandersetzungen führen
können. Es stellt sich die Frage, wieso kommt es zu dieser Rezeptionseigen-
art?
Ebenso wie der Mythos ist das Wirkungspotential des politischen Denk-
mals mehrstufig zu sehen. Es fordert die Rezipienten zu einer Erinnerungs-
leistung auf, die retrospektiv auf ein Ereignis oder eine Person der Vergan-
genheit gerichtet ist. Die Erinnerungsleistung kann jedoch nicht Selbst-
zweck sein, sondern bedeutet Transfonnation des Vergangenen in die Ge-
genwart, die die Rezipienten in ihre Pflicht nimmt. Erinnerung erfolgt wie
Maurice Halbwachs betont, immer in einem bestimmten kollektiven Bezugs-
rahmen, in den die individuellen Erinnerungen bzw. Interpretationen ein-
fließen. IIO So wird ein kollektives oder soziales Gedächtnis geschaffen. Von
der Vergangenheit wird nur das bewahrt, "was die Gesellschaft in jeder
Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann" .111

109 Musil, Robert: Denkmale. In: Gesammelte Schriften, Bd. II. Reinbek b. Hamburg 1978: 506.
110 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1985: 201.
111 ebenda.

67
Auch wenn sich Halbwachs hauptsächlich auf das Alltags- bzw. kom-
munikative Gedächtnis bezog, so betrifft seine Aussage in um so größerem
Masse das kulturelle Gedächtnis, bei dem nicht unbedingt eigene Erinnerun-
gen an das zu Erinnernde vorhanden sein müssen. Denkmäler sind also
nicht nur Ausdruck des kollektiven und sozialen Gedächtnisses, sondern
auch immer des von Jan und Aleida Assmann als Begriff entwickelten kul-
turellen Gedächtnisses. Unter kulturellem Gedächtnis versteht Jahn Ass-
mann

"den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchstex-


ten, -bildern und -riten, in deren Pflege die Gesellschaft ihr Selbstbild stabilisiert und ver-
mittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise über die Vergangenheit, auf das eine
Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt." 112

Somit besteht die explizite Funktion politischer Denkmäler als Form der
kulturellen und kollektiven Erinnerung in der Legitimation und Integration
gegenwärtiger politischer Verhältnisse oder Herrschaft. Sie stellen Zeitin-
seln dar, die sich zu einem Erinnerungsraum retrospektiver Besonnenheit
ausweiten.
Denkmäler haben so an der Implementierung und Kommunizierung von
politischen Mythen einen entscheidenden Anteil. Der mythische Gehalt der
politischen Denkmäler schafft eine enge Verbindung zwischen Erscheinun-
gen verschiedenen Ursprungs, der nur in den obersten Schichten von Abläu-
fen sichtbar wird. Denkmäler haben keine Tiefendimension, denn der Be-
grüDdungszusarnmenhang ist in der verkürzten Form der Denkmalsaussage
nicht gegeben. Wie Ernst Cassirer im zweiten Band der "Philosophie der
symbolischen Formen" zum Mythos herausgearbeitet hat, umgeht der My-
thos die Analyse des Dargestellten, das Zerlegen in Einzelteile, und schreitet
gleich zur Synthese, die eben oberflächlich stattfindet. Das von Cassirer
angeführte Beispiel "Die Lerche bringt den Sommer,,113 ist typisch für die
Denkmalskultur.
So wird Antifaschismus als GrüDdungsrechtfertigung für die DDR mit
dem aktiven Widerstand, der auf alle Bürger des Staates übertragen wird,
verbunden. Die mythische Formel heißt: DDR ist gleich Antifaschismus und
als Gegenpart: Bundesrepublik ist gleich Faschismus. Diese mythische Ver-
kürzung findet sich in vielen politischen Denkmälern der DDR wieder. Die

112 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: ders. und Tonio Hölscher
(Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988:15.
113 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Fonnen. Erster Teil. Die Sprache. Einleitung
und Problemstellung. Dannstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994: 29.

68
Tiefenschichten historischer Zusammenhänge werden nicht erfasst, so auch
nicht, dass die übergroße Mehrheit der DDR-Deutschen mit dem National-
sozialismus sympathisierten. Die antifaschistische Ordnung in der DDR war
kein selbstbestimmter Akt, sondern wurde von außen, von der Roten Armee
und den Alliierten gebracht. Auch die Tatsache, dass nur ein Teil der akti-
ven Antifaschisten Anerkennung fanden und andere, die aus dem westlichen
Exil kamen oder in Buchenwald inhaftiert waren, davon ausgeschlossen
waren, wurde mittels der mythischen Reduzierung von Komplexität wegge-
lassen.
Je weniger ein Mythos aus den Mitgliedern der zu konstituierenden Ge-
meinschaft selbst hervorgeht, d.h., je künstlicher eine Gründungserzählung
ist, um so sichtbarer muss dieser Mythos gemacht werden und um so auffäl-
liger sind auch die Zeichen seiner Setzung. Ein Mythos wird also kon-
struiert, und so spielen Konstruktionen eine bedeutende Rolle. Der Am-
bivalenzfaktor, wie ihn Freud in "Totem und Tabu" durch eine Verbindung
zwischen Soziologie und Psychoanalyse herausarbeitet, wird auch zum ent-
scheidenden Indikator für die Handhabung des Totems als heiliger Scheu
und des Tabus als Verbot. Verdrängung und Übertragung versuchen die
Ambivalenz, die aus Schuld und Anbetung besteht, zu überwinden. Das
Opfer wird in Verinnerlichung und Verehrung transformiert und schließlich
geheiligt.
Auf den politischen Mythos übertragen, heißt das, je ambivalenter die
Mythenkonstruktion ist, um so mehr wird sie zur Schau gestellt und letzt-
endlich in Macht umgesetzt. Dem Nationalsozialismus wurde der Antifa-
schismus entgegengesetzt und als Gründungsmythos für die gesamte DDR
gehandelt. Schuld wurde entsorgt - für die sich an der politischen Macht
Befindenden, da sie andere Antifaschisten und Opfer des Nationalsozialis-
mus ausgrenzten und selbst ein totalitäres System schufen und für die Masse
der Bevölkerung, da sie auf diese oder jene Weise mit dem Nationalsozia-
lismus verbunden waren und dessen Verbrechen direkt oder indirekt zu
verantworten hatten. So konnte die politische Führung und das Volk über
die Brücke des Antifaschismus vorerst zusammenfinden.
Das Zur-Schau-Stellen des wichtigsten Gründungsmythos ist also eine
wesentliche Ursache für das Florieren der politischen Denkmäler in der
DDR.
Der psychologische Hintergrund für die Bedeutung selbstgeschaffener
politischer Denkmäler in der DDR muss durch einen politiksystemischen
und kulturellen Zusammenhang verdichtet werden. Aus den Untersuchun-

69
gen von Jan Assmann über die kulturelle kollektive Erinnerungsform im
alten Ägypten l14 wird der systemische Zusammenhang zwischen kulturellen
Formen der Erinnerung und Gesellschaftstyp zum Ausdruck gebracht. In-
dem er nach der Intention und Funktion des Monumentalismus als dem
harten Gesetz in der Baukunst in Ägypten fragt, wird deutlich, dass es vor
allem das Kollektiv und die Ewigkeit symbolisiert. Die sich daraus ergeben-
de Denkmalsethik bedeutet das Aneinander- Denken und Füreinander-
Handeln. Auch das Monument eines Einzelnen gilt nicht dem Individuum,
sondern dem Repräsentanten, der sowohl in Richtung der Gemeinschaft und
des Unvergänglichen gedacht werden soll.
All das wird durch die Unvergänglichkeit des Materials und der über-
wältigenden Monumentalität der Formensprache des mit einer heiligen
Scheu versehenen In-den-Himmel-Reichenden erzwungen. Von dem kano-
nisierten Bestand des Gesetzten darf nichts verändert, nichts weggenommen
und nichts hinzugetan werden. Dieses von Burckhard als "hieratische Still-
stellung,,115 bezeichnete Prinzip gilt besonders für die von Claude Levi-
Strauss als "societes froides" bezeichneten Gesellschaften, die Wandel und
Veränderung nicht zulassen wollen. Den Gegensatz dazu bilden die societes
chaudes, die Geschichte verinnerlichen, um sie "zum Motor ihrer Entwick-
lung zu machen". 11 6 So stellt die "hieratische Stillstellung" in der Form, die
mit der Monumentalität der Gedächtnissetzung einhergeht, die Entspre-
chung zur Starre einer auf Zentralismus und Autorität fußenden Gesellschaft
dar, die Veränderung und Beweglichkeit als Existenzgefahr betrachtet.
In der SBZ und später der DDR entstanden eine Reihe von antifaschisti-
schen Denk- und Mahnmalen, deren Ära in den 50er Jahren begann. Die
monumentale Form der Mythenrezeption macht deutlich, dass etwas ehern
festgehalten werden sollte, was nach und nach dem Verfall preisgegeben
werden könnte. Die offene kommunikative Form der Mythisierung des Anti-
faschismus brachte die Gefahr mit sich, sich den Ritualen zu entziehen oder
diese unterschiedlich auszulegen. Letztendlich kann niemand die Interpreta-
tion eines Buches durch den einzelnen reglementieren. Sie kann über die
Zensur, Rezensionen und die Schule beeinflusst, aber niemals fixiert wer-
den. Der Spielraum des einzelnen ist immer noch groß. Es besteht die Mög-

114 Assmann, Jan: Stein und Zeit. Das "monumentale" Gedächtnis der altägyptischen Kultur. In:
Assmann, Jan und Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. FrankfurtlM.: Suhrkamp
1988: 87 - 114.
115 Burckhart, J.: Die Kunst der Betrachtung. Aufsätze und Vorträge zur Bildenden Kunst. Hrsg.
von Henning Ritter. Köln 1984.
116 Levi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973: 39-42.

70
lichkeit des Schwankens zwischen totaler Ablehnung, kritischer Betrach-
tung und Zustimmung.
Beim Denkmal ist das anders. Hier wird dem Betrachter suggeriert, was
er zu denken und zu fühlen hat. Es entsprach der Art und Weise des politi-
schen Systems in der DDR, dass die monumentale Mnemotechnik eine au-
ßerordentlich große Rolle spielte. In einer Broschüre des VEB E.A. See-
mann Verlages, Leipzig, über antifaschistische Mahnmale in der DDR aus
dem Jahr 1970 heißt es zu Beginn des Textes:

"Nach dem zweiten Weltkrieg entstanden in vielen europäischen Ländern, in denen Krieg
und faschistische Barbarei unermessliche Opfer gefordert hatten, vor allem an den Stätten
des Widerstandes, plastische und architektonische Mahnmale. Sie sind den Menschen
gewidmet, deren Widerstand das faschistische Regime durch brutalsten Terror, Folter und
Mord zu brechen versucht hatte. In der DDR sind diese Mahnmale als Manifestation der
vollkommenen Abrechnung mit der Vergangenheit wirksam. Zwar entstanden in West-
deutschland ebenfalls viele Ehrenmale, doch konnten sie meist ihrer eigentlichen Aufgabe
nicht gerecht werden, da die endgültige Vernichtung des Faschismus dort noch immer
aussteht."!!?

Aus den einführenden Worten des Autors wird die Absicht recht deut-
lich. Erst einmal soll mit der nationalsozialistischen Vergangenheit abge-
rechnet und die Opfer gewürdigt werden, um somit die eigene antifaschisti-
sche Haltung zu dokumentieren. Allerdings kommt hinzu, dass die "faschis-
tische Barbarei" als etwas Imaginäres erscheint, deren konkrete Täter unklar
erscheinen und nichts mit der Vergangenheit des eigenen Volkes zu tun
haben können. Der genannte Terror wurde nicht mit dem eigenen Volk
verbunden, als sei er von außen durch eine fremde Macht ins Land gekom-
men. Und dies wird dann auch mit der "vollkommenen Abrechnung" in der
DDR bestätigt, die sich ja nicht gegen das eigene Volk richten sollte.
Die gleichen Denkmäler in der DDR und in der Bundesrepublik waren
nach dem Verständnis der Meinungsmacher nicht dasselbe. Hier wird deut-
lich, wie sich politischer Mythos an der Systemauseinandersetzung und am
kalten Krieg orientierte. Allerdings zeigt ein Vergleich zwischen der politi-
schen Memorialkultur in beiden Teilen Deutschlands, dass in der Bundesre-
publik in den 50er Jahren die Erinnerungen an die Verbrechen der NS-Zeit
eine sehr geringe Rolle spielten und im öffentlichen Raum untergingen.
Wenn auf den Widerstand aufmerksam gemacht wurde, dann fast aus-
schließlich auf den konservativen.

117 Frank, Volker: Antifaschistische Mahnmale. Ihre künstlerische und architektonische Gestal-
tung. Leipzig: Seemann 1970.

71
Politische Erinnerungsarbeit für den Antifaschismus war in der DDR im
monumentalen Bereich vor allem den Toten gewidmet, d.h. sie war politi-
scher Totenkult. Diejenigen, die überlebt und in der SBZ und DDR die poli-
tische Herrschaft innehatten, wurden in personenkultartigen Riten verehrt,
jedoch gingen sie zu Lebzeiten nicht wie in der So\\jetunion in die Monu-
mentalkunst ein, wenn man vorn Stalindenkmal in der Stalinallee und vorn
Standbild des ersten Kosmonauten der DDR Siegrnund Jähn,1I8 im Trepto-
wer Park absieht. Wie Reinhart Koselleck schrieb, gehört es zur menschli-
chen Natur, der Toten zu gedenken.

Doch "der Gefallenen zu gedenken, der gewaltsam Umgebrachten, derer, die im Kampf; im
Bürgerkrieg oder Krieg umgekommen sind, gehört zur politischen Kultur ... ,vor allem an
Siege zu erinnern, zählt zu den ersten Motiven, eine zurückliegende Geschichte aufZuschrei-
ben und bildlich auf Dauer zu stellen." 119

Denkmäler mit ihren Zeichen und Symbolen wurden zu Instnunenten


kultischer und ritueller Erinnerung, an denen sich die Nachgeborenen die
großen Ereignisse ins Gedächtnis rufen sollten.

3.1.1 So\\jetische Mahnmale

Nach dem Sieg der Roten Armee über den Nationalsozialismus erfolgte
zeitgleich mit der Verwaltung und politischen Umgestaltung des eroberten
Gebietes ein komplexer, breit angelegter antifaschistischer Memorialkult in
der SBZ, der von den zuständigen Stellen der SMA in Gang gebracht wurde.
Die ersten antifaschistischen Denkmäler waren Soldatenfriedhöfe der
Roten Armee, die in Ehren- und Mahnmale umdisponiert wurden. Aller-
dings hatte das erst einmal nichts mit der DDR zu tun, da sie weit vor ihrer
Gründung und nicht nur auf ihrem späteren Territorium auf Betreiben der
SMA geschaffen wurden. In vielen ostdeutschen Städten wurden zentrale
Plätze zu Soldatenfriedhöfen mit Denkmalcharakter oder verbunden mit

118 Siegmund Jähn wurde am 13.02.1937 in Rautenkranz im Vogtland geboren. Nach einer
OffIZierslaufbahn in der DDR erhielt er zwischen 1976 und 1978 eine Ausbildung am sowjeti-
schen Kosmonautenzentrum. Als Partner des sowjetischen Kosmonauten nahm er vom 26.08.
bis 03.09.1978 an einem Weltraumflug teil und war somit der erste Deutsche im Weltraum.
1979 erhielt er die Auszeiclmung "Held der DDR". 1986 stieg er zum Generalmajor auf. Ab
1989 ist er als Berater zur Vorbereitung von Weltraumflügen bei der Deutschen Forschungs-
anstalt filr Luft- und Raumfahrt in Köln-PoTZ und freiberuflicher Wissenschaftler tätig. Die
Ehrenbürgerschaft von Ostberlin wurde nach der Wende von Westberlin übernommen. Er
schrieb ein Buch mit dem Titel "Erlebnis Weltraum" (1983).
119 Koselleck, Reinhart und Michael Jeismann (Hrsg.): Der politische Totenkult. Kriegsdenkmäler
in der Moderne. München: Wilhelm Fink Verlag 1994: 9.

72
Mahnmalen von der sowjetischen Armee umgestaltet und somit öffentlicher
Raum in Besitz genommen. In der SBZ entstanden auf diese Weise 226
Ehrenfriedhöfe und Ehrenmale der Roten Armee. 120 Für alle sichtbar war
die öffentliche Moral an den Sieger übergegangen. Abgesehen von der sym-
bolischen Setzung der Macht des Siegers, sollte mit diesen Denkmälern das
weitreichende Ereignis der Zerschlagung der nationalsozialistischen Dikta-
tur für immer festgehalten werden, damit die Erinnerung daran nicht ver-
geht und alle zukünftigen Generationen, die dieses Ereignis nicht mehr
erleben können, durch die Geschichten in Stein davon erfahren, unabhängig
davon, was man später denken und erzählen wird. Es ging mit den von
Frank Kämpfer geprägten Begriffen um die "Manipulation des einzelnen
und die Akkulturation der Nachkommen.,,121
In den sowjetischen Mahnmalen wurden sowohl die Opfer des nazisti-
schen Aggressionskrieges als auch der Sieg über den deutschen Nationalso-
zialismus zur Darstellung gebracht, wobei das Siegesbewusstsein gegenüber
den Opferdarstellungen dominierte. Die sowjetischen Ehrenmale sind vor
allem Siegesmale. Das Totengedenken an die in zahlreichen Schlachten Ge-
fallenen wird weniger mit dem Begriff des Opfers zusammengebracht, als
vielmehr mit dem Pathos von "Kampf, Heldentat, Heroismus" .122 Wir wür-
den diesem Begriffskomplex noch das Wort "Heldentod" hinzufügen. Der
Tod transformierte vom Opfer zur Tat und zum Sieg.

3.1.1.1 Das Treptower Ehrenmal

Eines der bekanntesten sowjetischen Denkmäler ist das Ehrenmal in Berlin-


Treptow im Treptower Park, das für 7000 sowjetische Soldaten die letzte
Ruhestätte darstellt. Durch die SMA wurde 1946 ein Wettbewerb zur
Errichtung des Ehrenmales ausgeschrieben, an dem sich 45 Künstler, auch
deutsche Bildhauer, beteiligten. Der sowjetische Bildhauer E. W. Wutsche-
tisch und der sowjetische Architekt 1. B. Belopolski gewannen den Wettbe-

120 VgJ. Institut für Denkmalpflege in der DDR (Hrsg.): Gedenkstätten. Arbeiterbewegung,
Antifaschistischer Widerstand, Aufbau des Sozialismus. Leipzig, Jena, Berlin: Urania-Verlag
1974.
121 Kämpfer, Frank: Vom Massengrab zum Heroen-Hügel. Akkulturationsfunktionen sowjeti-
scher Kriegsdenkmäler. In: KoselIeck, Reinhart und Michael Jeismann (Hrsg.): Der politische
Totenkult. Kriegsdenkmäler in der Modeme. München: Wilhelm Fink Verlag 1994: 335.
122 ebenda.

73
werb und errichteten das Ehrenmal von 1947 bis 1949, das durch den so\\je-
tischen Stadtkommandanten, General Kotokow, eingeweiht wurde. 123
Das Ehrenmal ist ein typisches Beispiel für sowjetische antifaschistische
Gedächtniskultur vom Typ des Memorialkomplexes mit archaischem und
orthodoxem Charakter, das eine ganz bestimmte Funktion erfüllen soll. Hier
soll nicht ein zufällig Vorbeigehender an etwas erinnert werden, sondern die
Lage des Denkmales erfordert, dass der Rezipient extra hingeht und dass er
nicht allein kommt. Es ist für Massen gemacht. Das Denkmal lässt Natur
(inmitten eines großen Stadtparks), Architektur und Skulptur zu einem Ge-
dächtniskomplex zusammenfließen und versetzt den Besucher in einen eige-
nen Gemütszustand. Die großen Bäume und weiten Wiesen des Parks sind
wie dicke Mauern, die vom Alltagsleben trennen und Raum für Kontempla-
tion lassen. Diese mystische Imagination bringt den Besucher in eine Stim-
mung des sich Hingebens und des Selbstvergessens, wie dies der Effekt in
großen, sakralen Bauten der Hochgotik oder in Präsentationsbauten der
römischen Antike der Fall ist. Dieses Denkmal erfordert Prozessionen zu
seinem Heiligtum. Frei vom Druck des Alltages nimmt die Denkmalanlage
den Besucher beim Betreten der Hauptachse durch die strenge Symmetrie
und Weite der Anlage und die Überdimensionalität der Skulpturen gefan-
gen. Der Betrachter fühlt sich klein, verloren und schrumpft angesichts der
Gigantomanie zu einem Nichts.
Die Statue der trauernden "Mutter Heimat" verbeugt sich in unsagbarem
Schmerz und überlebensgroß auf einem Marmorsockel vor dem Denkmal
des "Unbekannten Soldaten", das viele hundert Meter gegenüber auf einem
Hügel in die Lande ragt. Die "Mutter" und das Soldatendenkmal werden
nicht nur durch die Entfernung getrennt, sondern auch durch einen Durch-
gang von zwei riesigen rotgranitnen Pylonen, die gesenkte Fahnen symboli-
sieren und vor denen zwei Figuren knien, sowie den tiefer liegenden Grab-
feldern. Aus der Sicht der "Mutter" mutet es an, als würde sich das Tor zu
einer anderen Welt öffnen und im Hintergrund aus dieser fremden, unbe-
kannten Sphäre eine himmlische Erscheinung, nämlich der Soldat, der ge-
liebte gefallene Sohn, als Held mit seinem heiligen Schwert und dem geret-
teten Kind auf dem Ann auftauchen. Der Sieg ist stärker als Trauer und
Leid, was schon die Größenverhältnisse zwischen Mutter und Soldat deut-
lich machen.

123 Institut fur Denkmalspflege in der DDR (Hrsg.): Gedenkstätten. Arbeiterbewegung, antifa-
schistischer Widerstand, Aufbau des Sozialismus. Leipzig, Jena, Berlin: Urania Verlag 1974:
43.

74
Sowjetisches Ehrenmal in Berlinffreptow. Blick von der "Mutter Heimat" über die gesenkten
Fahnen aus rotem Marmor zum Hauptmonument.

Wenn der Besucher an den Fahnen vorbeigeht, betritt er den eigentli-


chen heiligen Bezirk mit den Gräbern und 16 Marmorsarkophagen, deren
Reliefs über Stationen des "Grossen Vaterländischen Krieges,,124 in den 16
Sowjetrepubliken berichten. Hinter den Gräbern erhebt sich auf einem etwa
10 Meter hohen Hügel und einem darauf stehenden Rundbau die Bronzesta-
tue des jungen Soldaten, der in dem einen Arm das gerettete Kind als Sym-
bol für den Frieden und mit dem anderen das gesenkte Schwert hält, dessen
Spitze auf das zerschlagene Hakenkreuz weist.
Die Figur des Soldaten ist durch den Unterbau des Erdhügels und des
Rundbaus in eine Höhe gerückt, die für den Besucher unerreichbar ist. Got-
tesgleich erhebt sich der Soldat über dem Boden und beherrscht durch seine
Größe und erhöhte Stellung das gesamte Areal des riesigen Denkmalkom-
plexes. Die Entfernung schafft Abstand und lässt die eigene Kleinheit
deutlich werden. Die Bedeutungsperspektive mittelalterlicher Gemälde wird

124 "Grosser Vaterländischer Krieg" bedeutet der Verteidigungskrieg gegen die deutsche Aggres-
sion im Zweiten Weltkrieg.

75
Sowjetisches Ehrenmal in Berlinffreptow. Monument des "Befreiers", Soldat mit Kind und
Schwert.

hier in den natürlichen und architektonischen Raum übersetzt und lässt die
Hierarchie unmittelbar spürbar werden.
Das Göttliche und Hierarchische wird durch den Rückgriff auf traditio-
nelle Formen der Grabgestaltung des slawischen Kulturkreises noch ver-
stärkt. Der Erdhügel geht auf den "Kurgan" zurück, einen künstlichen
Memorialhügel der kleinasiatischen Steppenvölker, der im 19. und 20. Jahr-

76
Sowjetisches Ehrenmal in Berlinffreptow. Mosaik innerhalb des Denkmals mit dem ,,Befreier".

hundert in der Memorialkunst der Ukraine als goldgespickte "Pyramide der


Steppe" Verbreitung fand. 12S Der Kurgan wurde ein häufig benutztes Stil-
element in der politischen Mnemotechnik der Sowjetunion. Beispiele hierfiir
sind das Mahnmal des KZ Doneck, der "Kurgan des Ruhms" bei Odessa,
der "Hügel des Ruhms" und der Hügel "Blume des Lebens" bei Leningrad
oder der "Kurgan der Unsterblichkeit" von Smolensk. 126 Der Kurgan fordert
zur aufsteigenden Prozession auf.
Vom Anliegen und der Art der Inszenierung symbolischer sozialer In-
teraktion her gleichen sich die sowjetischen Ehrenmale. Der Sowjetische
Ehrenfriedhof in der Schänholzer Heide in Berlin-Pankow ähnelt dem Trep-
tower Ehrenmal in seiner strengen Komposition und auf Abstand bedachten
und hierarchischen Anordnung deutlich. Zwei Säulen, auf denen sich Scha-
len mit dem ewigen Feuer befinden, stellen den Eingang zum Ehrenmal dar.
Zum Haupteingang führt eine Allee, an deren Ende sich wieder zwei Pylo-
nen aus rotem Granit mit Bronzereliefs befinden. Der heilige Bezirk des
Ehrenhains ist im Halbrund angelegt, in dem 13000 sowjetische Soldaten

125 Vgl. Kämpfer, Frank: Vom Massengrab zum HeroenhUgel. a.a.O.: 333.
126 ebenda

77
begraben liegen. Den zentralen Punkt bildet das Denkmal der russischen
Mutter, die ihren Sohn, der mit der Fahne des Sieges bedeckt ist, betrauert.
Die pyramidemormige Anordnung und die erhöhte Stellung der Gruppe
zwingen den Betrachter wiederum zum Hinaufschauen und lassen die
menschlichen Dimensionen schrumpfen.
Den sowjetischen Mahn- und Ehrenmalen wurde erst durch die rituelle
und zeremonielle Nutzung mythischer Charakter zuteil. Nicht durch ihre
sichtbare Existenz allein und die zufällige oder individuelle Begehung übten
sie ihre akkulturierende Funktion aus, sondern durch soziale Interaktion,
durch kollektive Begehung, durch Festlichkeiten und "heilige" Zeremonien.
In der DDR wurden mythische Akte der Ehrung des Sieges der Roten Armee
über den Nationalsozialismus am "Tag der Befreiung", dem 8. Mai, der offi-
zieller Feiertag war, oder zu anderen Anlässen vorgenommen. Begehungen
der Ehrenmale gehörten auch zum festen Programm der Jugendstunden, den
Vorbereitungsveranstaltungen für die Jugendweihe, an denen fast alle Ju-
gendlichen der DDR teilnahmen.
Am Beispiel der So\\jetischen Ehrenmale wird deutlich, dass mit dem
politischen Mythos in der DDR das Kunststück versucht wurde, zwei Seiten
eines Krieges und zwei Kulturen miteinander zu vereinen. Der Sieg wurde
gefeiert, auch wenn er im Selbstverständnis der meisten Deutschen der
Kriegsgeneration Niederlage bedeutete. Die andere Seite ist das Zusammen-
führen zweier Arten der Mythifizierung politischer Ereignisse, die in der
Monumentalkunst besonders deutlich werden.

3.1.2 Deutsche antifaschistische Denkmale in der DDR

In der DDR wurden zwischen 1950 und 1960/61 die großen Mahn- und Ge-
denkstätten auf dem Gelände ehemaliger KZ's als signifikante Orte des
kultischen Gedächtnisses eingerichtet und eingeweiht. Die politische Ent-
scheidungskompetenz und die Leitung des ganzen Aufbauprozesses über-
nahm das "Kuratorium für den Aufbau Nationaler Gedenkstätten", dessen
Vorsitzender der ehemalige Ministerpräsident der DDR, O1to Grotewohl,
war und dessen Mitglieder sich aus Vertretern der VVN (Vereinigung der
Verfolgten des Naziregimes) und bildenden Künstlern zusammensetzten. 127

127 Mitglieder waren: Staatssekretär Holtzhauer, Berlin, Ministerpräsident Eggerath, Weimar,


Professor Amold, Leipzig, Professor Hopp, Berlin,
Professor Grzimek, Berlin; Walter Funcke, Berlin,
Walter Bartei, Berlin, Robert Siewert, Berlin,

78
Es sollte die Absicht verfolgt werden, dass

"dort, wo von den Faschisten die Menschlichkeit am übelsten geschändet worden war, dort
aber auch, wo sich antifaschistisches Kämpferturn unüberwindbar bewährt hatte, dort
sollten die Stätten der MahnuW! und des Gedenkens errichtet werden: Buchenwald - Ra-
vensbrück - Sachsenhausen.,,12

3.1.2.1 Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald

Einer der wichtigsten Orte für den GIiindungsmythos der DDR ist die
Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald mit dem Denkmal über die Selbstbe-
freiung des KZ von Fritz Cremer, das 1958 eingeweiht wurde.
Das Konzentrationslager Buchenwald wurde 1937 errichtet. Zusammen
mit den 136 Außenkommandos und Außenlagern wurden hier rund 240 000
Häftlinge aus 32 Ländern gefangen gehalten. Die Nationalsozialisten ermor-
deten von 1937 bis 1945 an diesen Orten 56 000 Menschen, deren Überreste
in Massengräbern am Fuße des Ettersbergs vergraben wurden. 1943 bildete
sich im Lager eine Widerstandsorganisation, die im Wesentlichen von der
KPD angeführt wurde. Am 11.4.1945 gelang es den Häftlingen, unter den
Bedingungen der Annäherung der alliierten amerikanischen Soldaten und
der Auflösungserscheinungen unter dem Wachpersonal, einen bewaffneten
Aufstand durchzuführen, der die Grundlage für den Begriff der Selbstbefrei-
ung darstellte.
Buchenwald wurde als eine Art mythische Geburtsstätte der DDR be-
trachtet, wo aus unsagbarem Leid, aber auch aus der kämpferischer Über-
windung des Alten, sozusagen den Geburtswehen, die neue Gesellschaft
entstand. Die Spezifik der Lagergeschichte von Buchenwald kam der mythi-
schen Vermittlung des Antifaschismus in der DDR besonders entgegen.
Die Schlüsselrolle wurde vor allem durch den Aufstand und die Selbst-
befreiung des KZ sowie die führende Rolle der Kommunisten determiniert.
Dies war einzigartig und mit keinem anderen Lager vergleichbar. Die Ge-

Franz Dahlem, Berlin, Professor Haesler, Rathenow,


Quelle: Stiftung Archiv der Parteien- und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv
Berlin (SAPMD) Akte NY 4090 551.
128 Aus: Mahn- und Gedenkstätten in der Deutschen Demokratischen Republik. Bild- und Lese-
heft rur die Kulturbetrachtung. Berlin: Volk und Wissen 8. Auflage 1983, Ausgabe 1972.

79
schichte von der Selbstbefreiung des Lagers bot für die Mythisierung des
Antifaschismus l29 ausreichend Material. Aus diesen Gründen kam der Ge-
denkstätte nicht nur die Funktion zu, an die schrecklichsten Taten der Nati-
onalsozialisten zu erinnern und der Opfer zu gedenken, sondern der negati-
ve Mythos wurde mit einem positiven staatstragenden verbunden. Hier
konnte demonstriert werden, dass die Kommunisten der konsequenteste und
aktivste Teil der deutschen Antifaschisten waren, die durch das Schicksal
Thälmanns bewiesen, dass sie das eigene Opfer nicht scheuten, um allen
Häftlingen und letztendlich allen Deutschen ein freies Leben und eine besse-
re Zukunft zu ermöglichen.
Ein weiterer wesentlicher Grund für die mythische Schlüsselrolle Bu-
chenwalds ist die Ermordung des Führers der KPD, Ernst Thälmann, dessen
Opfer in der Symbolpolitik der DDR eine außerordentlich große Rolle spiel-
te. Sein Name war der am häufigsten verwendete bei Namensgebungen von
politischen Organisationen, in der politischen Erziehung und Propaganda.
Die Pionierorganisation trug seinen Namen, viele Traditionskabinette wur-
den für ihn eingerichtet, Volkseigene Betriebe, Brigaden, Schulen und
Hauptstrassen (z.B. in Dresden) wurden nach ihm benannt.
Es gab zwei große, mit kulturpolitischer Priorität versehene Kultfilme
über ihn, die zum UnterrichtsstotI gehörten, und mehrere Erzählungen, Ge-
dichte und Romane. In einem Lied heißt es: "Thälmann und Thälmann vor
allem, Deutschlands unsterblicher Sohn, Thälmann ist niemals gefallen,
Stimme und Faust der Nation.,,130 Die Zeilen des Refrains geben die mythi-
sche Überhöhung, symbolische Prägnanz und die Verpflichtung zur Nach-
folge zu erkennen, die auf die Gemeinschaft mittels einer mythischen Füh-
rungsfigur und deren ewiger Gegenwart einschwören soll. Thälmann ist eine
jener Personen, die sich in das Gedächtnis der in der DDR Aufgewachsenen,
unabhängig von positiver oder negativer Rezeption, unweigerlich eingruben.
In der Sinnvermittlung der DDR-Meinungsmacher stand er für Arbeiterbe-
wegung, Antifaschismus, Gerechtigkeit, gegen Ausbeutung und Unterdrü-
ckung und schließlich für eine lichte Zukunft. Mit ihm wurden humane
Ideale wie Ehrlichkeit, Mut, Opferbereitschaft und Unbeugsamkeit verbun-
den. Die Aufbaugeneration und die ihr Nachfolgenden wussten nicht viel
über seine Ideen und sein tatsächliches Wirken in der Arbeiter- und antifa-
schistischen Bewegung. Richtungsweisende Gesellschaftsentwürfe von

129 Niethanuner, Lutz: Der gesäuberte Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Bu-
chenwald. Berlin 1994.
130 Ringsum erwachen Lieder. Chorbuch fur Oberschulen. 9. - 12. Klasse, Berlin 1956: 74-77.

80
Thälmann waren so gut wie völlig unbekannt, geschweige denn, dass seine
Meinungen und sein Wirken Gegenstand von politischen Diskussionen
waren. Thälmann war somit eine Art Kunstfigur, mit deren Namen be-
stimmte Implikationen verbunden wurden, die man aus der Gegenwart
schöpfte und die tatsächliche historische Figur uninteressant werden ließ.
Der Antifaschismus erhielt somit einen konkreten Namen und ein konkretes
Gesicht. Ernst Thälmann kam im Mythos vom Antifaschismus die Rolle des
Opfers "Nummer eins" zu, was der Stätte seines gewaltsamen Todes zu ihrer
besonderen sinnpolitischen Bedeutung verhalf.
So entstand in Buchenwald das wichtigste mythentragende politische
Denkmal der DDR. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland
(SMAD) regte schon 1949 an, auf dem Gelände des KZ, das nach 1945 von
der sowjetischen Besatzungsmacht als Speziallager i 31 genutzt wurde, eine
ähnliche Gedenkstätte zu errichten wie in Auschwitz, wo das faschistische
KZ im wesentlichen original erhalten blieb. 132 Vorschläge ehemaliger Bu-
chenwaldhäftlinge, die sich im Buchenwaldkomitee unter Leitung von Wal-
ter Bartel organisiert hatten, und der "Kommission für Gedenkstätten für die
Opfer des faschistischen Terrors" der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-
regimes (VVN) liefen darauf hinaus, das Lager so zu belassen, wie es war,
um so am eindrucksvollsten den Zeitgenossen und Nachgeborenen das
Grauen und die Unmenschlichkeit der Nazis vorstellbar zu machen. 1951
gab es einen Beschluss des Generalsekretariats der VVN, der der sowjeti-
schen Empfehlung folgend die Errichtung der Gedenkstätte nach dem
Auschwitzer Vorbild festschrieb.
Bis Anfang der 50er Jahre war das Buchenwalddenkmal eine Angele-
genheit der ehemaligen Häftlinge wie Walter Bartel und Kalinke gewesen,
dann wurde es Sache des Politbüros und wichtiger Teil der Symbolpolitik
des Staates. Eine reine Rückbesinnung wie in Auschwitz reichte der DDR-
Elite für die in die sozialistische Zukunft weisende Mythisierung des Antifa-
schismus nicht aus. Dies konnte ihrer Meinung nach nur durch eine zielge-
richtete symbolische Inszenierung realisiert werden. Es sollte anstatt eines

131 Nach dem Sieg der Sowjetischen Annee wurde das KZ von der SMA als Gefangenenlager rur
nationalsozialistische Funktionäre und Kriegsverbrecher genutzt. Allerdings waren dort auch
viele Unschuldige gefangen. In dem Lager starben an den Folgen von Krankheiten, Hunger
und Überarbeitung viele Menschen. Heute erinnert in Buchenwald eine eigens rur diese Insas-
sen errichtete Gedenkstätte an das Speziallager Nr. 2.
132 Der Antrag fusst auf einem Vorschlag der SMAD, die M~or Olympiew an das ZK der SED
am 23.07.1943 weitergab. 10: Archiv der Gedenkstätte Buchenwald (AGB), 062-13. Nach:
Volkhard Knigge: Buchenwald-Denkmal. 10: Auftrag: Kunst. 1949 - 1990. Katalog zur Aus-
stellung des Deutschen Historischen Museums vom 27. Januar bis 14. April 1995: 106-118.

81
Barackendenkmals ein Mahnmal errichtet werden, das neben Massenmord
und Darstellung der Grausamkeiten auch die vorwärtsweisende Idee von der
besseren Gesellschaft durch das "Opfer der Besten" und den Widerstand
vorstellbar machte und Massenmanifestationen zuließ.
Schon 1949 bildete sich parallel zu den Häftlingsaktivitäten ein Arbeits-
ausschuss für die Gestaltung des Ettersberges zu einem "Ehrenhain für die
Opfer des Faschismus und zur Errichtung eines großen Mahnmales". 133
Dem Ausschuss gehörten führende Parteifunktionäre an, die öffentliche
Ämter innehatten, und die offensichtlich vor allem die aus dem sowjetischen
Exil eingereisten Kommunisten vertraten. Wie sich die Idee der Errichtung
eines Ehrenhaines anstatt eines Mahnmales im Sinne eines historischen
Dokuments, das das Grauen nachvollziehbar machen und veranschaulichen
sollte, durchsetzte, kann bis jetzt noch nicht ganz nachvollzogen werden.
Interessant ist hierfür eine Niederschrift der Stiftung Archiv der Partei- und
Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv, aus der hervorgeht,
dass Walter Bartei, der Vorsitzende des Buchenwaldkomitees, für die Er-
richtung eines "weithin sichtbaren Mahnmales in Buchenwald, das nachts
leuchtet,,134, eintrat. Der ausgeprägte Drang nach Präsentation und Sicht-
barmachung widersprach der vorhergehenden Haltung der VVN-Aktivisten
und ist möglicherweise auf die Prämierung der Unterstützung der Ehren-
hainidee zurückzuführen. In der Niederschrift wird nämlich auch davon
berichtet, dass Herrn Bartel mitgeteilt wurde, dass die Regierung der DDR
einen Betrag für eine "gute Wohnsiedlung für Opfer des Faschismus" bereit-
stellen will. Der Arbeitsausschuss zur Errichtung des Ehrenhaines war sich
somit der Unterstützung des Buchenwaldkomitees sicher.
Nach der Etablierung der Idee musste nun die politische Kompetenz auf
die Makroebene des Staates übertragen werden, um der Funktion der Identi-
tätsbildung für die gesamte DDR und der Heiligsprechung der sozialisti-
schen Gesellschaft, aber eigentlich der herrschenden Entscheidungselite,
gerecht werden zu können. S~ übertrug die Arbeitsgruppe die Errichtung
des Ehrenhaines mit der Begründung der zu hohen finanziellen Belastung
der Kompetenz der gesamten DDR. Im Brief des Thüringischen Minister-
präsidenten Eggerath an Otto Grotewohl hieß es dazu, dass

"es sich hier um eine Angelegenheit handelt, die weit über den Rahmen des Landes Thürin-
gen hinausgeht und von internationaler Bedeutung ist und dass diese Frage daher auch von

133 Quelle: Brief des Ministerpräsidenten von Thüringen, Eggerath, an den Ministerpräsidenten
der DDR 000 Grotewohl. SAPMD, Akte NY 4090551.
134 Niederschrift vom 03.0l.l950. SAPMD, Akte NY 4090551.

82
den höchsten Orßanen der Deutschen Demokratischen Republik zu behandeln und zu
entscheiden ist.,,1

Weiter folgt noch die Bitte, die Angelegenheit dem Präsidenten der
DDR und dem Finanzminister vorzutragen und das Projekt in den Haus-
haltsplan der DDR aufzunehmen. 136 Mit dieser Kompetenzübertragung, die
erst nach etwa zwei Jahren ihre Wirkung entfaltete, war den eigentlich Be-
troffenen, den Häftlingen von Buchenwald und dem Lande Thüringen, spä-
ter dem Bezirk Erfurt, die selbstbestimmte Gestaltung des Denkmals entzo-
gen. Folge war, dass beim Zentralvorstand der VVN eine Gedenkstättenpla-
nungskommission rur Buchenwald gegründet wurde, die 1951 einen "Be-
schränkten Wettbewerb zur Erlangung von Entwürfen rur die architektoni-
sche, bildhauerische und landschaftsgärtnerische Gestaltung des Ehrenhains
zum Gedenken der Opfer des faschistischen Terrors in Buchenwald" aus-
schrieb. 13 ? Das fiir den Wettbewerb gebildete Preisgericht138 kürte Otto Gro-
tewohl zu seinem Vorsitzenden und verlieh dem Mahnmalprojekt die ent-
sprechende Autorisierung und Legitimierung durch die Staatsgewalt. 139 Der
Ausschreibungstext rur den Ehrenhain lautete:

"Unweit des ehemaligen faschistischen Konzentrationslagers Buchenwald soll durch die


Errichtung eines Ehrenhains in landschaftlich schönster Gegend an einem Südhang die
würdige Ehrung aller Opfer der faschistischen Barbarei von Buchenwald in großzügiger und
schönster Form erfolgen.,,140

Weiter heißt es, dass mit Vorarbeiten schon begonnen wurde, dass eine
Bruchsteinmauer und das Verwalterwohnhaus in die Gesamtkonzeption auf-
genommen werden sollten. Entscheidend rur die Wahl des Ortes waren auch
die Massengräber am Fuße des Ettersberges. Bis dahin waren die Gräber mit
Kiefern umpflanzt, und es sollten nun "geeignete Vorschläge" erbracht wer-

135 Brief des Ministerpräsidenten von Thüringen, a.a.O.: I.


136 Wörtlich heisst es: "Im Namen der Regierung bitte ich Sie daher, sehr geehrter Ministerpräsi-
dent, dieser Frage Ihre Aufinerksamkeit zu widmen und im Einvernehmen mit dem Präsiden-
ten der Deutschen Demokratischen Republik und dem Herrn Minister filr Finanzen, an die ich
mich ebenfalls wende, zu klären, ob und welche Möglichkeiten bestehen, dass die Finanzie-
rung des Vorhabens durch Aufuahme in den Haushaltsplan der Deutschen Demokratischen
Republik durchgefilhrt wird." Quelle: ebenda: 2.
137 Quelle: Brief des Generalsekretärs der VVN, Fritz Beyling, an den Ministerpräsidenten der
DDR, 000 Grotewohl, vom 14.12.19951. SAPMD, Akte NY 4090 551.
138 Die Kommission, der auch Lea Grundig angehört, beschliesst am 24.11.1951, dass das Lager
Buchenwald erhalten bleiben soll. In: Archiv der Gedenkstätte Buchenwald (AGB), 062-14.
Aus: Knigge a.a.O.
139 ebenda.
140 VVN-Dokument zur Ausschreibung von Fritz Beyling, Generalsekretär der VVN, vom
14.12.1951. Quelle: SAPMD, Akte NY 4090 551.

83
den, um das Überwuchern und Verschwinden zu verhindern. Im Ausschrei-
bungstext heißt es:

"Ein Ehrenmal, Ehrenhalle oder sonstige Form, ... , sollte sowohl zum Eingang und zu dem
geplanten Kundgebungsplatz in dem Ehrenhain in Beziehung gebracht werden, als auch
weit in die Landschaft hinaus wirken. Die beiden Geländetrichter am unteren Teil des Han-
ges, in denen Tausende von Opfern verscharrt sind, sind in die Gesamtanlage durch
geeignete Wegeftihrung, Bepflanzung und architektonische Mittel einzubinden.,,141

Die "kleinliche und billige Gestaltung der Grabstätten" bedürfe "einer


würdigen Gestaltung". Und noch einmal wurde betont, dass eine "kleinliche
Blumenbepflanzung der Gräber" vermieden werden sollte. Am Schluss der
Aufgabenbeschreibung steht:

"Die Gesamtanlage und alle gestalterischen Details sollten unsere Liebe und Verehrung der
Unbeugsamen vielen Nationen gegenüber zum Ausdruck bringen. Es ist selbstverständlich,
dass abstrakte Formen dies nicht vermögen.,,142

Der Ausschluss abstrakter Gestaltungsformen hing mit der in den 50er


Jahren laufenden Formalismusdebatte zusammen. Aus einem dilettantischen
Kunstverständnis vieler Parteifunktionäre heraus wurde abstrakte Kunst als
Formalismus bezeichnet und galt als Ausdruck "imperialistischer Deka-
denz", die einer Verbindung zwischen Kunst und Volk im Wege stünde.
Das Schöne, das sich durch den Teilsatz "in landschaftlich schönster
Gegend" am Anfang des Ausschreibungstextes präsentiert, wird zum Beglei-
ter der grausamen Tat. Schönheit und Hässlichkeit gehen Hand in Hand.
Der Beginn des Textes hinterlässt den Eindruck, als würde es sich hier um
die Ausschreibung für die Errichtung einer Ferienanlage oder eines Wo-
chenendausflugszieles handeln. Die Ästhetik des Schönen tut der schreckli-
chen Tat keinen Abbruch und lässt sie letztendlich hinter der Inszenierung
zurücktreten.
Die Massengräber bilden einen zentralen Punkt in der Ausschreibung,
bei weitem aber nicht den Mittelpunkt der Anlage. Dieser soll durch die Eh-
renhalle dargestellt werden, den Ort im Diesseits, der die Auferstehung und
die Nachfolge symbolisiert. Aus dieser Konstruktion ergibt sich ein mehr
vorwärts- als rückwärtsgewandtes eschatologisches mythisches Bild. Die
Verbrechen des KZ sollen nicht nur dokumentiert werden, sondern durch
die Heiligung der Opfer in einer sakralen Erinnerungsform sollte der An-
fang von etwas Neuem gesetzt werden. Die Opfer sollten nicht für sich selbst

141 ebenda.
142 ebenda.

84
sprechen, sondern sie wurden in den Dienst der Nachfolgenden genommen
und heiligten gleichzeitig mit ihrer Heiligung die neue Ordnung. Pierre
Bourdieu würde dies als eine Verdoppelung der Werte bezeichnen. Der
objektive Wert als Ermordeter wurde durch die Bezeichnung "Opfer" ver-
doppelt, und dieser wiederum wurde durch die symbolische Ordnung mit
einem weiteren Wert, dem Widerstand, versehen, der den sekundären Wert
um ein weiteres Mal verdoppelte. 143
Die Funktion der symbolischen Ordnung, die in Distinktion und Konsti-
tution besteht, wäre aber nicht in ausreichendem Masse für die DDR nutzbar
gewesen, wenn das Opfer der Tausenden nur auf die Grausamkeit des Natio-
nalsozialismus aufmerksam gemacht und sich so von diesem unterschieden
und abgesetzt hätte. Die Distinktion vom Nationalsozialismus allein hätte
noch nicht das andere einer sozialen Ordnung dargestellt, sondern puren
Antifaschismus. Deshalb mussten die Opfer, um ein Verbindungsglied zur
angestrebten Ordnung darzustellen, auch in deren Dienst gestellt werden
und durch Manifestationen und die Errichtung einer Festhalle Raum für
Interpretationen schaffen.
Die Konstitutionsseite der symbolischen Ordnung war noch weitaus
problematischer als die Distinktionsseite. Denn wie konnte man mit den
Opfern eine Gemeinschaft konstituieren, die nicht im geringsten gegeben
war. Sollten in dieser neu gedachten Ordnung nun die Ermordeten und die-
jenigen, die diese Morde mitgetragen hatten, zusammengehen? Die Konsti-
tution sollte dadurch vollzogen werden, dass die Rezipienten den Leidens-
weg der Häftlinge symbolisch nachvollzogen, indem der Weg durch die
Gedenkstätte, wie es im Ausschreibungstext hieß, an den Massengräbern
vorbei oder gar hindurchfiihrte. Das, was aber weithin sichtbar ist und in die
Höhe ragt, soll die Ehrenhalle sein, die die Gräber hinter und unter sich
lässt.
Zum Wettbewerb wurden vom Preisgericht fünf Gruppen von Künstlern
aufgefordert, deren Entwürfe in das Eigentum des Generalsekretariats des
VVN übergehen sollten. 144 Aus den dann vier eingereichten Entwürfen wur-

143 Vgl. Bourdieu, Pierre: Soziologie der symbolischen Ordnung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1987.
144 Zur Teilnahme am Wettbewerb wurden folgende Architekten, Gartengestalter und Bildhauer
aufgefordert:
- 1. Prof. Paulik, Deutsche Bauakademie Berlin,
- 2. Prof. Otto Engelberger, Hochschule filr Architektur Weimar,
- 3. Prof. Fritz Cremer, Akademie der Künste Berlin,
Gartenarchitekt Lingner, Deutsche Bauakademie Berlin,

85
den zwei prämiert. Dem ersten Entwurf, der von Reinhold Lingner, Nierade,
Cremer und Brecht stammte, wurde zwar die "künstlerisch reifste Darstel-
lung der Aufgabe" zugebilligt,145 gleichzeitig jedoch das wirkliche Begreifen
der AufgabensteIlung abgesprochen. Dieser Entwurf sah ein inmitten der
Gräberfelder liegendes Theater vor, in dem Kundgebungen und sogen. Trau-
erspiele stattfinden könnten. Außerdem sollten eine Gedenkhalle und eine
plastische Figurengruppe wichtige Teile der Mahnstätte bilden. Das Preisge-
richt nahm vor allem daran Anstoß, dass Kundgebungen nunmehr als "Sitz-
veranstaltungen" stattfinden sollten und konstatierte: "Das ehrende Geden-
ken der Opfer des Faschismus ist mit Kundgebungen stehender Menschen
verbunden." 146
Dem zweiten Entwurf, den junge Künstler der Brigade Makarenke der
Bauakademie vorgelegten, wurde vom Preisgericht" die stärkste gedankli-
che Konzentration" zugesprochen. 147 Die Idee des Anmarsches auf der
Blutstrasse, der Gang durch das Lager, der Abstieg zu den Gräbern und der
sich zwangläufig ergebende Aufstieg zu der Gedenkstätte, die zugleich den
Weg ins Freie schafft, fand einstimmige Zustimmung. Nun sollten beide
prämierten Entwürfe miteinander verbunden werden und den entgültigen
Entwurf liefern.
So wurde das KZ Buchenwald Anfang der 50er Jahre entgegen dem
Willen der Betroffenen und der SMAD geschleift. Nur das Eingangstor, die
beiden Wachtünlle rechts und links davon, der Stacheldraht, das Kremato-
rium, drei Massengräber und einige unbedeutende Gebäude blieben erhalten
und wurden in die neue Denkmalprojektion einbezogen. Nach den beiden
preisgekrönten Entwürfen wurde nun Buchenwald zur Heldenstätte und zum
Ehrenhain am Fuße des Ettersberges umgestaltet. Die tragende symbolische
Idee bestand in der Nachahmung des christlichen Auferstehungsmotivs. Als
erstes wird der Besucher über die "Blutstrasse" (die Lagerzufahrt) in das
Lager und dann durch das Tor in die Gedenkstätte geleitet, um dann auf
einem Stelenweg zu den Gräbern herabgeführt zu werden. Die Strasse, die
an zwei Massengräbern vorbei und durch das dritte hindurch geht, nennt

- 4. Kollektiv Makarenke, Deutsche Bauakademie Berlin,


- 5. Prof. Gustav Seitz, Akademie der Künste Berlin;
145 Aus dem Protokoll der Sitzung des Preisgerichts unter Vorsitz von 000 Grotewohl über die
Entwürfe der Gestaltung der Gedenkstätte Buchenwald vom 31.03.1952. Quelle: SAPMD,
Akte NY 4090 551.
146 ebenda.
147 ebenda.

86
Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar. Originales Eingangstor zum ehemaligen KZ. Im
Vordergrund erinnern Schotterflächen an die weggerissenen Häftlingsbaracken.

sich "Strasse der Nationen", da sie verschiedenen Herkunftsländern ehema-


liger Häftlinge gewidmet ist. Durch das dritte Massengrab, "durch den
Tod", erfolgt der Aufstieg zu der eigentlichen Gedenkstätte, den Sieg über
den Nationalsozialismus und die Wiederauferstehung symbolisierend. Hier
findet die Begegnung mit der Gruppenplastik von Fritz Cremer statt. Es
folgt ein Versammlungsplatz, ausreichend für 20 000 Menschen, und
schließlich der Glockenturm, auf dessen Eingangstür die Worte des Schwurs
der Häftlinge von Buchenwald stehen, die sie auf der Befreiungskundgebung
sprachen. Der Glockenturm erinnert in seiner aus rotgrauen behauenen
Feldquadern bestehenden klotzigen Monumentalität an das Kyffhäuser-
denkmal, das sowohl entrücktes, vergangenes Heldentum suggeriert als auch
hoffnungsvolle Verheißung des Wiedererwachens und kommende Siege
verspricht.
Die einzelnen Stelen, die den Stufenweg hinab zu den Gräbern säumen,
wurden von den Bildhauern Hans Kies, Waldemar Grzimek und Rene
Graetz geschaffen und stellen verschiedene Szenen des Lagerlebens wie
"Ankunft der Häftlinge im Lager", "Aufbau des Lagers", "Ausbeutung und

87
Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar. Luftaufuahme von der gesamten Anlage. (Quel-
le: Frank, Volker: Antifaschistische Mahrunale in der DDR, Ihre Künstlerische Gestaltung. Leipzig:
Seemann 1970: Abb. 26).

Vernichtung der Häftlinge" oder "Die Befreiung" dar. 148 Unter den Reliefs
befinden sich erläuternde Texte in Versfonn von Johannes R. Becher. Diese
Erläuterungen zeigen den mythischen Charakter der Gedächtnissetzung

148 Die Themen und Autoren der Reliefs sind:


- Aufbau des Lagers von Hans Kies
- Ankunft der Häftlinge von Waldemar Grzimek
- Fronarbeit im Steinbruch von Hans Kies
- Ausbeutung und Vernichtung der Häftlinge von Waldemar Grzimek
- Solidarität trotz Leid und Vernichtung von Rene Graetz
- Illegale Thälmannfeier und Vorbereitung zum bewaffueten Widerstand von Rene Graetz
- Die Befreiung von Rene Graetz

88
deutlich auf. Auf die Frage "Sagt, warum wurdet ihr hierher verschickt?"
gab Becher die Antwort:

"Verdächtigt wurde, wer die Wahrheit sprach, Verurteilt, wer den Volksbetrug durchblickt,
Verfemt, wer fragte: Und was kommt danach? Verdammt war der zu lebenslanger Haft.
Seht, welch ein Mensch, der dennoch nicht zerbrach!
Oh Leidenskraft - welch eine Schöpferkraft!"

Der Text suggeriert, dass nur diejenigen nach Buchenwald karnen, die
Widerstand geleistet hatten. Denn auf die Frage nach der Ursache des Häft-
lingsdaseins folgt eine Aufzählung verschiedener Formen der Widersetzung
gegen den nationalsozialistischen Terror. Die vielen Häftlinge aus anderen
Nationen oder diejenigen, die aus rassischen Gründen oder wegen in Nazi-
deutschland verfemter Lebensformen, wie Homosexualität, Lagerinsassen
waren, fanden keine Erwähnung. Der mythisierte Opfertypus wurde also auf
die aktiven Widerständler zugeschnitten, die in Wirklichkeit nur einen Teil
der Lagerinsassen bildeten. Der letzte Vers schafft eine Brücke zwischen
Leidens- und Schöpferkraft. Aus Leiden erwächst Kraft und aus dieser
Schöpferturn, das den neuen Staat DDR erstehen lässt, Kraft für den Wie-
deraufbau und für die Errichtung einer neuen Gesellschaft.

Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar. Blick auf den Stelenweg vom Eingang aus.

89
Ernst Thälmann ist eine eigene Stele gewidmet, die die illegale Thäl-
mannfeier und den bewaffneten Widerstand darstellt. Die künstlerische Prä-
sentation verbindet die Person Thälmanns unmittelbar mit dem Befreiungs-
motiv. Etwas aus dem Zentnun gerückt erscheint Thälmann mit erhobener
Faust seinen Genossen, die sich zur Trauerfeier versanunelt haben. Es
drängt sich die Parallele zu vielen bildnerischen Darstellungen der Kirchen-
kunst auf, in denen Jesus Christus nach seiner Auferstehung und vor der
Himmelfahrt seinen Jüngern erscheint. Die kontemplative Erscheinung wird
zusätzlich durch eine Art Baldachin über Thälmann gesteigert. Nahe der
Thälmannfigur erstreckt sich die größte Figurengruppe, die im fieberhaften
Treiben Vorbereitungen für den Aufstand trifft. Der Text unter der Stele
besagt:

"Gegrüßt, Ernst Thälmann, Deutschlands großer Sohn!


Er stand vor uns in einem hellen Schein.
Und ringsum war ein feierlicher Ton." Und an anderer Stelle:
"Und Thälmann hob die Fahne hoch empor.
Was Thälmann sah, sich eines Tags begab.
Sie gruben aus die Waffen, die versteckt.
Die Todgeweihten stiegen aus dem Grab."

Dieser letzte Satz weist auf das Hauptanliegen der Gedenkstätte hin, die
die Wiederauferstehung symbolisiert.
Die Massengräber selbst sind in Form von runden Trichtern angelegt,
um die eine dicke Mauer herumführt, die zum Weg hin offen gelassen wird
und den Eindruck von einem vorstädtischen Barbakan vermittelt. Barbakane
wurden in mittel- und osteuropäischen Orten von den Slawen zum Schutze
ihrer Ansiedlungen in Form eines trutzigen Rundbaues mit meterdicken
Mauem angelegt. Die Übernahme dieses Stilmittels soll nun den Schutz des
Andenkens an die Toten vor dem Vergessen vermitteln. Die Trichter, unter
denen die sterblichen Überreste liegen, sind mit Gras und niedrigem Busch-
werk bewachsen und assoziieren das Leben, das aus dem Tod neu hervor-
geht - die Weitergabe der Tradition.

90
Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar. Mauer eines Massengrabes.

Den geistigen Mittelpunkt des Mahnmals bildet die Plastik von Fritz
Cremer. Er wurde vom Preisgericht 1952 mit dem Auftrag zur Errichtung
eines Denkmals über den Widerstand in Buchenwald bedacht. 149 Cremer
gehörte zu den Künstlern, die wie Brecht und Becher, Antifaschismus radi-
kale Kapitalismuskritik und aktiven Pazifismus miteinander verbanden. In

149 Fritz Cremer wurde 1906 in Amsberg geboren. Nach seiner Steinbildhauerlehre in Essen bei
Gerstel studierte er an der Hochschule filr Freie und Angewandte Kunst in Berlin-
Charlottenburg. Zwischen 1946 und 1950 war er Professor an der Akademie filr angewandte
Kunst in Wien und siedelte 1950 in die DDR über, wo er ein Meisteratelier der Deutschen
Akademie der Künste leitete.

91
der DDR sahen sie die folgerichtige Bildung eines konsequent antifaschi-
stischen Staates. Bereits 1936 hatte der Künstler ein Relief "Trauernde
Frauen" als Antikriegsmanifestation geschaffen und 1947/48 übernalun er
dieses Motiv für die "Trauernde" des Wiener Mahnmals. In Wien entwarf
Cremer Vorlagen für die Mahnmale in Auschwitz, Mauthausen und Knitt-
feld.
Die von ihm bis dahin geschaffenen und entworfenen Denkmäler zeig-
ten vor allem Einzelfiguren, die den Schmerz der Opfer ausdrückten. Die
Buchenwaldkonzeption, in der eine Figurengruppe vorgegeben war, die
Trauer und Triumph zugleich darstellen sollte, bedeutete einen Bruch mit
seinem bisherigen Stil. Einerseits wurde der Bruch durch die AufgabensteI-
lung bedingt, andrerseits war er auf die vehemente Intervention von Seiten
der politischen Entscheidungsträger determiniert, die ihre Version der My-
thenvermittlung stringent durchgeführt sehen wollten. So kam es zu drei
Entwürfen, wovon der letzte endlich Anerkennung des Preisgerichts fand.
Im ersten Entwurf knüpft Cremer an Auguste Rodins "Bürger von Ca-
lais" an. In dieser Plastik gibt es keine hierarchische Gliederung als Sinn-
bild für eine demokratische und gleichberechtigte Gemeinschaft. Der
Schwörende soll symbolisieren, dass sich die Häftlinge trotz Erniedrigung
und Tod nicht unterkriegen ließen. Doch dies reichte den Parteifunktionären
als Hauptaussage nicht aus. Das Heldenhafte und Zukunftsweisende, das
Sichtbarmachen des kommunistischen Widerstandes als Motor für die Ge-
schichte schien ihnen nicht ausreichend dokumentiert. Besonders wurde die
Kleidung der Häftlinge kritisiert, die für diese Aussageoption zu schäbig
wäre.
Cremer versuchte mit seinem zweiten Entwurf, der Kritik zu entspre-
chen, und schuf ein Modell, das nach dem Vorbild der von Delacroix ge-
schaffenen über Barrikaden stürmenden Freiheit gebildet wurde. Die Häft-
lingsgruppe ist nunmehr hierarchisch gegliedert, bewaffnet und unter das
Banner der Partei gestellt, bereit zum nächsten Sieg. Das Gesicht des
Schwörenden trägt die Züge von Thälmann. Doch es ist klar, dass diese
Einengung der Symbole auf die KPD und den Sieg des Sozialismus keine
ausreichende Grundlage für die Identität der Mehrheit der Deutschen mit
dem neuen Staat bieten konnte.
Der dritte Entwurf endlich stellte das Preisgericht und die politischen
Entscheidungsträger zufrieden und schien ihren mythisch/symbolischen In-
tensionen zu entsprechen. Er stellt eine Gruppe von Häftlingen dar, die
verschiedene Formen des Widerstandes und unterschiedliche Prototypen der

92
Erster EntwUlf des Buchenwalddenkmals von Fritz Cremer von 1952. (Quelle: Frank, Volker:
Antifaschistische Mahrunale in der DDR. Ihre künstlerische Gestaltung. Leipzig: Seemann
1970: 17).

Häftlinge wie Kämpfer, Fahnenträger, Schwörender, Zyniker, Zweifler, Dis-


kutierender und Sterbender vor Augen führt. Durch eine leichte Erhöhung
werden der Kämpfer, der Schwörende und der Rufer hervorgehoben, die
somit auch den inhaltlichen Schwerpunkt darstellen, da gerade sie in die
Zukunft weisen und den Aufbau einer neuen Gesellschaft symbolisieren, die
ihren "Vorkämpfern"und Vorbildern treu bleibt. Der Stürzende steht für die

93
Opfer in Buchenwald, doch ist er kein Geschlagener, "der stürzende Kämp-
fer von Buchenwald siegt im Sterben" .150

Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar. Plastikgruppe von Fritz Cremer.

Das Denkmal ist für das Selbstverständnis der DDR fundamental gewe-
sen. Es nahm in der symbolischen Politik eine zentrale Stellung ein und
schuf der DDR einen "mythischen Ursprungsort" und einen "Stamm von

150 Frank, Volker: Antifaschistische Maluunale in der DDR. ihre künstlerische und architektoni-
sche Gestaltung. Leipzig: VEB E.A. Seemann Verlag. 1970: 15.

94
heroischen Gründungsvätern" ,151 deren Vermächtnis erfüllt werden musste.
Gleichzeitig wiesen die Attribute der Häftlinge, wie die Fahne und das Ge-
wehr, eindeutig auf deren politische Ausrichtung hin. Es waren Vertreter
der Arbeiterklasse, die die konsequentesten und mutigsten Kämpfer darstell-
ten, und die einzigen, die in der Lage waren, die Befreiung des Lagers
durchzufiihren und zu leiten. Das Fazit des Denkmals lautet: In der kom-
menden Gesellschaft werden es auch diese sein, die leiten und fuhren wer-
den. Volkhard Knigge schlussfolgerte: "Buchenwald (ist) nichts anderes als
Golgatha und Ostern der Arbeiterbewegung in einem.,,152 Buchenwald sollte
fur alle Bürger der DDR eine Art Weihe- und Wallfahrtstätte darstellen,
durch die die Menschen, ähnlich wie das jüdische Volk durch das Deutero-
nomium (5. Buch Moses) am Ende der Flucht aus Ägypten, auf die zukünf-
tige Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung eingeschworen werden
sollten. Folgen die kommenden Generationen den Verheißungen der Opfer
und Kämpfer und verwirklichen ihre Ideen, dann ist eine große glückliche
Zukunft gewiss. Missachten sie ihren Ruf und verletzen sie die Pflicht der

Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar. Ausschnitt aus der Plastikgruppe von Fritz
Crerner.

151 Knigge, Volkhard: Buchenwald-Denkmal. a.a.O.: 115.


152 ebenda.

95
Nachfolge, wird der Fluch der nationalsozialistischen Vergangenheit über
sie kommen.
Buchenwald ist in der DDR die größte antifaschistische Gedenkstätte
dieser Art gewesen. Von ähnlichem Charakter sind die Gedenkstätten in
Sachsenhausen und in Ravensbrück.

3.1.2.2 Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen

In der Mythisierung des Antifaschismus durch politische Denkmäler im Be-


reich der KZ-Gedenkstätten stand Sachsenhausen nach Buchenwald und vor
Ravensbrück an zweiter Stelle. Diese Rangordnung wurde durch die Größe
des Lagers, seine politisch-strategische Bedeutung bei den Nazis als SS-
Schule und KZ-Kommandozentrale, durch das Geschlecht der Gefangenen
und deren Verbindung mit dem Widerstand und der Befreiung des Lagers
durch die Rote Armee determiniert. In der Abschrift einer Vorlage aus der
Stiftung Archiv der Parteien- und Massenorganisationen der DDR beim
Bundesarchiv heißt es:

"Die Rolle, die das Konzentrationslager Sachsenhausen als Sitz der SS-Inspektion filr alle
Konzentrationslager in Europa spielte, und die Lage unmittelbar in der Nähe der Hauptstadt
Deutschlands, Berlin, machen eine großzügige Gestaltung des Lagers erforderlich, da es zu
der am meisten besuchten Terrorstätte des Naziregimes in Deutschland werden wird." 153

Die RangsteIlung der Gedenkstätten macht gleichzeitig deutlich, welche


mythischen Konstanten oder Fixpunkte für den DDR-Antifaschismus von
Bedeutung waren. Es ist eindeutig, dass der eigene Widerstand vor der Be-
freiung von außen verortet wurde, wodurch eine Bedeutungsumkehrung der
wichtigsten Gegner des Nationalsozialismus stattfand. Während die Mythi-
sierung des Kampfes der Roten Armee nach Murray Edelmann eher der
"Verweisungssymbolik" zuzuordnen ist, auch wenn eine Reihe von Umdeu-
tungen für die Rezipientenseite, z.B. von "Niederlage" zu "Befreiung", statt-
gefunden hatten, so fällt die Mythennarration über den deutschen Wider-
stand und dessen Überhöhung zum "erfolgreichen Widerstand der KPD"
eindeutig in die Rubrik der "Verdichtungssymbolik", die von mythischen
Verkürzungen und Reduzierung von Komplexität im Sinne und zum Nutzen
einer bestimmten Gruppe lebt.
Das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg in der Nähe
von Berlin wurde 1936 zur gleichen Zeit, als die olympischen Spiele in

153 SAPMOD NY 4030/554: 88.

96
Deutschland stattfanden, errichtet. Das Lager diente als SS-
Ausbildungsstätte für das Personal in den KZs. Gleichzeitig befand sich in
der Nähe des Lagers die "Inspektionszentrale für die Konzentrationslager"
und von 1939 bis 1945 die zentrale Leitung aller Konzentrationslager.

Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen bei Oranienburg. Gruppe "Befreiung" von Rene Graetz
und "Turm der Nationen".

Sachsenhausen wurde von den Architekten Ludwig Deiters, Horst Kut-


zat, Hubert Matthes, Hugo Lamslauer und Kurt Tausendschön zusammen

97
mit den Bildhauern Rene Graetz 154 und Waldemar Grzimek155 zwischen
1956 und 1961 geschaffen. In der Mittelachse des dreieckigen Lagergelän-
des steht das "Ehrenmal der Nationen", eine dreiseitige Betonsteie. Durch
das erhaltene Eingangstor wird der Besucher auf den Appellplatz geführt,
der von einer halbkreisförmigen Mauer umgeben ist, die sich auf dem ersten

154 Rene Graetz, biographische Daten: Er wurde am 02.08.1908 in Berlin geboren und starb am
17.09.1974 ebenfalls in Berlin. Als Bildhauer betätigte er sich autodidaktisch, nachdem er 23
Jahre die Tätigkeit eines Druckers ausgeübt hatte. Er studierte in Genf und Paris und arbeitete
in Afrika, Frankreich und England. 1940 wurde er in London interniert. Ein Jahr später wurde
er Mitglied der Vereinigung "Künstler- Internationale". Nach dem Krieg kehrte er 1948 nach
Deutschland zurück und verbrachte sein weiteres Leben in der DDR. 1969 wurde er zum Vi-
zepräsidenten der AIAP (Internationale Vereinigung Bildender Künstler) gewählt. 1959 erhielt
er rur seine Arbeiten an den Reliefs des Buchenwalddenkmals im Kollektiv von Waldemar
Grzimek den Nationalpreis der DDR zweiter Klasse. Weitere Preise waren: Käthe-Kollwitz-
Preis (1973) und Vaterländischer Verdienstorden in Silber (1973). Teilnahme an Aus-
stellungen: "Kunst gegen den Faschismus" VEB Chemie-Werke Buna (1969); "Kunst im
Kampf gegen den Faschismus", Halle, Staatliche Galerie Moritzburg (1975); "Erzwingt den
Frieden", Halle, Staatliche Kunstgalerie Moritzburg,(1983); "Künstler zu Krieg und Frieden",
FrankfurtJO, Galerie "Junge Kunst" (1984); "Alltag und Epoche", Berlin, Altes Museum
(1984); "Auf gemeinsamen Wegen", Berlin, Nationalgalerie (1985); Gedenkausstellung, Ber-
lin, Altes Museum (1988); "Plastik der 50er Jahre", Berlin, Galerie Pankow (1989);
155 Waldemar Grzimek, biographische und Werkdaten: Grzimek wurde am 05.12.1918 in Rat-
zenburg geboren und starb 28.05.1984 in Berlin. Schon als Schüler schuf er 1926 erste Skulp-
turen, die im Berliner Zoo aufgestellt wurden. Seiner Intention folgend nahm er 1937 eine
Steinmetzlehre bei der Firma Philipp Holzmann in Berlin auf. Dann folgte ein Studium bei
Prof. WilheIm Gerstel an der Hochschule rur Bildende Künste in Berlin. Zwischen 1938 und
1941 ermöglichte ihm Prof. Richard Scheibe, in einem Privatatelier selbständig zu arbeiten.
Seit 1939 hielt er Kontakte zu Gerhard Marcks. 1941 wurde er Meisterschüler bei Gerstel. Ein
achtmonatiger Studienaufenthalt in der Villa Massimo in Rom 1943 vervollkommnete seine
Studienzeit. Zwischen 1941 und 1945 absolvierte Grzimek seinen Militärdienst. Nach dem
Krieg war er zwischen 1946 und 1948 Leiter einer Fachpraxis an der Kunsthochschule Burg
Giebichenstein und wechselte dann als Professor an die Hochschule rur Bildende Künste in
Berlin, wo er bis 1951 tätig war. Ab 1952 war er in Berlin freischaffend. Zwischen 1957 und
1961 war er wieder Professor an der Hochschule rur Angewandte Kunst in Berlin-Weissensee.
1955 wurde er Vorsitzender der Berliner Bezirksleitung des Verbandes Bildender Künstler
Deutschlands (VBKD). Ausserdem leitete er einen Lehrstuhl rur Plastik an der Architekturfa-
kultät der Technischen Hochschule Darmstadt. Auszeichnungen: Rompreis (1942), National-
preis der DDR zweiter Klasse rur die Reliefs in der Gedenkstätte Buchenwald zusannnen mit
Rene Graetz, Bremer Bildhauerpreis (1984); Ausstellungen: Bauernkrieg, Bodenrefonn, sozi-
alistische Landwirtschaft in der bildenden Kunst der DDR", Bad Frankenhausen Kreishei-
matmuseum (1975); "Der Bauer und seine Befreiung", Dresden Albertinum (1975); "Als der
Krieg zu Ende war", Berlin, Akademie der Künste West (1975); "Buchenwald mahnt, nie
wieder Faschismus", Weimar Kunsthalle (1988); Literatur dazu: Decho, Roselene: Waldemar
Grzimek, Dresden 1961 (Künstler der Gegenwart); Geismeier, WiIIi: Vielseitiges Werk, Wal-
demar Grzimek Ausstellung in der Nationalgalerie. In Neues Deutschland, 15.10.1960, Beila-
ge 42; Feist, Peter: Interesse am Ungewöhnlichen, Waldemar Grzimek in der Nationalgalerie,
In: Sonntag, 23.10.1960; Howard, Elfriede: Vom Raum her gestaltet. In: Bildende Kunst
1958/8: 540-543; Roters, Eberhard: Der Bildhauer Waldemar Grzimek; Sernrau, Jens: Über
Selbstverständnis und Konzeption bei Cremer, Grzimek und Seitz. In: Bildende Kunst 197912.

98
ehemaligen Barackenring befindet. Flache Granitblöcke kennzeichnen die
weiteren Baracken, die auf dem Lagergelände standen. Hinter dem Appell-
platz befindet sich der Turm der Nationen, vor dem sich die zentrale Figu-
rengruppe von Rene Graetz erhebt, die der christlichen Darstellung der
Schutzmantelmadonna gleicht. Ein sowjetischer Soldat, der seinen Mantel
behütend um zwei Häftlinge hält, ist das Symbol für die Befreiung des La-
gers durch die Rote Armee am 22.04.1945, wodurch 5000 Häftlingen das
Leben gerettet wurde.

Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen bei Oranienburg. Gruppe "Befreiung" von Rene Graetz.

Die beiden Häftlinge stehen wieder wie in Buchenwald für verschiedene


Charaktere der Gefangenen, der eine kraftvoll entschlossen, der andere zag-

99
haft und zögernd. Eine weitere Plastik von Waldemar Grzimek auf dem Ge-
lände des ehemaligen Krematoriums symbolisiert die 100 000 Ermordeten
des Lagers. Zwei Häftlinge bergen einen Toten in einem Tuch. Wieder wer-
den zwei Charaktere und zwei Situationen vorgeführt. Der eine Häftling
beugt sich schmerzzerrissen über den Kameraden, der andere drückt durch
seine aufrechte Haltung Kampfentschlossenheit und Hass aus. Der erste Ent-
wurf Grzimeks war noch nicht auf diese optimistische Aussage des stehen-
den Häftlings ausgerichtet, sie zeigte nur einen knienden Häftling, auf des-
sen Bein der Kopf eines Toten gebettet war.156

Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen bei Oranienburg. Gruppe am ehemaligen Krematorium


von Waldemar Grzimek.

Der Weg der Entwürfe Grzimeks von leidvollen Darstellungen zu opti-


mistischeren, die Kampfentschlossenheit und aktives Eingreifen in die Ge-
schehnisse symbolisieren, entspricht den Veränderungen der Entwürfe der
zentralen Buchenwaldplastik von Fritz Cremer. Ebenso wie in Buchenwald
überwiegt in Sachsenhausen die Darstellung des Kampfentschlossenen und
Siegreichen gegenüber der Hilflosigkeit und dem Elend der geschundenen
und ermordeten Häftlinge, obwohl es in Sachsenhausen keine Selbstbefrei-
ung gab.

156 Vgl. Frank, Volker: Antifaschistische Mahnmale ...a.a.O.: 18/19.

100
Der Eindruck des Siegreichen wird durch weitere Kunstwerke, wie das
dreiteilige Glasfenster von Walter Womacka in der Eingangshalle im "Mu-
seum des antifaschistischen Freiheitskampfes" und die Bronzeplastik "Stär-
ker als der Tod" von Fjodor Fiwjeski, unterstützt. Das Glasfenster zeigt,
ähnlich wie im Treptower Park, einen sowjetischen Soldaten mit einem
Kind auf dem Arm, einen schwörenden befreiten Häftling und eine Frau mit
einer roten Fahne. Auf den Seitenfenstern ist der illegale Widerstandskampf
in Deutschland und der Partisanenkampf in Europa abgebildet. 157 Diese
Komposition vermittelt den Eindruck des Aufbruchs in eine glückliche Zu-
kunft, die ihren Anfang mit der Befreiung durch die Rote Armee nimmt und
sich durch eine überwundene dunkle Vergangenheit abgrenzt. Die Bedeu-
tungsperspektive des Mosaiks unterstreicht, dass die Überwindung des Ver-
gangenen in erster Linie der Roten Armee zu verdanken ist, die Nebensze-
nen über den Widerstand jedoch weisen auch dem antifaschistischen Wider-
standskampf eine größere Relevanz zu. In der sowjetischen Plastik werden
sowjetische Kriegsgefangene heroisiert, die im Moment der Erschießung
trotzig Standhaftigkeit beweisen, und deren Tod keine Niederlage bedeutet,
was allein schon durch die Haltung des mittleren Häftlings und die kraftvol-
len und jugendlichen Körper aller drei Figuren ausgedrückt wird.
Das gerade beschriebene endgültige Gesicht der Sachsenhausener Ge-
denkstätte war wie auch in Buchenwald und Ravensbrück das Ergebnis eines
beschwerlichen Weges harter Auseinandersetzungen zwischen verschiede-
nen politischen Kräften, die wiederum verschiedene Strömungen des Antifa-
schismus verkörpern und gleichzeitig unterschiedliche Seiten des antifaschi-
stischen Mythos in der DDR darstellen. Eine Vorlage vom 01.10.1954, die
auf die Notwendigkeit der Errichtung einer Mahnstätte in Sachsenhausen
hinweist und wahrscheinlich auf das Komitee der Antifaschistischen Wider-
standskämpfer zurückgeht, gibt über vehemente Intentionen für eine Mne-
motechnik Auskunft, die auf das Bewahren im Sinne von musealem Aufbe-
wahren zur Ingangsetzung von Empathie bei den Rezipienten gerichtet war.
Die Autoren waren folgender Meinung:

"Die historische Erinnerung an die faschistische Barbarei in Sachsenhausen soll sich streng
an die Gegenständlichkeit der früheren Bedingungen und Verhältnisse anlehnen ... ,,158

157 ebenda: 18.


158 Der Text der gesamten Passage lautet: "Die historische Erinnerung an die faschistische Barba-
rei in Sachsenhausen soll sich streng an die Gegenständlichkeit der früheren Bedingungen und
Verhältnisse anlehnen und mit seiner künstlerischen Gestaltung an der Spitze des Lagerdrei-
ecks verbunden werden, die der Bedeutung dieser Gedenkstätte gerecht wird." In: SAPMOD
NY40901554: 88.

101
Schon damals wurde vorgeschlagen, das ehemalige Innenlager als
Grundlage für die Gedenkstätte zu benutzen, so dass der Grundriss ein
gleichschenkliges Dreieck bildete, das durch die Lagerstrasse als Achse in
zwei Teile unterteilt wird. Die Achse lenkte den Blick der Besucher auf ein
Monument. Die Baracken des ersten Rings sollten vollständig wieder aufge-
baut werden, wodurch "im wesentlichen der ursprüngliche Eindruck des
Lagers optisch wieder hergestellt" werden würde. 159 Auch die Revierbara-
cken, Waschküche und Küche sollten erhalten bleiben.
Ein Jahr später tauchte eine gänzlich neue Konzeption auf, die der Vor-
lage vom Oktober 1954 in ihrer mnemotechnischen Form geradezu entge-
gengesetzt war. Hier ging es nicht um das Zurückversetzen und Mitfühlen
mit den Gefangenen und Ermordeten im Sinne der "Verweisungssymbolik",
sondern um eine symbolische Inszenierung, die voll in den Bereich der
"Verdichtungssymbolik", einer theatralischen Inszenierung der Erinnerung
fiel, wodurch für die Rezipienten Ferne zu den tatsächlichen historischen
Ereignissen, aber Nähe zu der angestrebten Ordnung hergestellt werden
sollte. In einer Erläuterung der Architektur-Werkstatt Lingner des Ministe-
riums für Aufbau vom 21.10.1955 wurde eine Neufassung der bisherigen
Ideenskizze ausgearbeitet. Die Absicht der Verfasser der Erläuterungen wird
in nachstehender Feststellung deutlich:

"Hier gedenken wir der großen Opfer! die die Konzentrationäre in Sachsenhausen fur den
Sieg des Sozialismus gebracht haben." 60

Die Bezeichnung der KZ-Insassen mit dem Wort "Konzentrationäre"


weist auf einen selbstgewählten Status hin, auf eine Art Mensch, die sich zu
einer bestimmten einheitlichen Sache bekennt und daraus eine bestimmte
Existenz- oder Lebensform wählt. Ihr gemeinsames Ziel schien die Opfe-
rung für den Sozialismus zu sein. Diese wirklichkeitsfremde Darstellung
untermauerte die Verpflichtung für die folgenden Generationen, das Opfer
anzunehmen und den Sozialismus aufzubauen.
Für eine solche Verdichtungssemantik musste eine adäquate Erinne-
rungsform und Symbolsprache gefunden werden, die diese Leistung erbrin-
gen konnte. Man wendete sich vehement gegen die Absicht zur Erhaltung
des ursprünglichen Aussehens des Lagers. In den Erläuterungen zur Ideen-
skizze hieß es:

159 ebenda.
160 Erläuterungen zur Ideenskizze, Neufassung auf Grund der Beratungen vom 05.10.1955. In:
SAPMOD NY 4090 /554: 107.

102
"Die Bauten, die die Nazis geschaffen haben, um in ihnen ihre unmenschlichen Ziele durch-
zusetzen, können niemals Mittel der künstlerischen Formgebung sein ... ,,161

Es soll ein "Feierplatz" als Kunstwerk errichtet werden, der sich von
den "hässlichen Zweckbauten, mit denen die Erinnerung an Leid, Schmach
und Grauen verbunden sind", loslöst. 162 Es wurde vorgeschlagen, den Ap-
pellplatz, der zum "Feierplatz" umfunktioniert werden sollte, durch eine
Porphyrmauer, eine Baumreihe und blühende Kletterrosen von den aus
musealen Zwecken erhaltenen wenigen Bauten des KZ abzuschotten. Nach
dieser Version liegt das Schwergewicht auf dem Feierplatz und einer theat-
ralischen und monumentalen Mnemotechnik, die besonders die neue sozia-
listische Ordnung rechtfertigen und den kommunistischen Widerstand her-
vorheben soll.
Ehe diese Version, wie sie im Prinzip heute zu sehen ist, festgeschrieben
wurde, kam es auf einer Beratung im Institut für Grünplanung bei der Deut-
schen Bauakademie am 05.10.1955 zu harten Auseinandersetzungen zwi-
schen den Anhängern der verschiedenen Gedenkstättenkonzeptionen. Die
Beratung wurde unter Vorsitz des Stellvertreters des Ministers für Kultur
Alexander Abusch geführt. 163 Die Teilnehmerliste der Beratung beweist,
dass sich die Partei- und Staatsfunktionäre gegenüber den Vertretern des
Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der absoluten
Mehrheit befanden, so dass von vornherein eine Situation gegeben war, in
der die ehemaligen KZ-Häftlinge ihre Vorschläge nicht durchsetzen konn-
ten. Der Vertreter des Komitees Acker erläuterte, dass die ehemaligen Insas-
sen den Wunsch hegten, "Sachsenhausen etwas anders als Buchenwald zu
gestalten. Es soll hier der museale Charakter etwas stärker in den Vorder-
grund treten.,,164 Der andere Vertreter des Komitees der Antifaschistischen

161 ebenda.
162 ebenda.
163 Weitere Teilneluner der Beratung waren: Aus der Abteilung Grünplanung des Ministeriums
filr Aufbau: Lingner, Baeseler, Radey, Stefke; aus dem Kollektiv Buchenwald: Deiters, Tau-
sendschön; vom Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer: Acker, Raddatz; vom
Ministerium filr Kultur: Stellvertreter des Ministers filr Kultur: Abusch, Staatssekretär im Mi-
nisterium filr Kultur Apelt, Pers. Referenten im Ministeriums filr Kultur: Fritzmann und Rei-
nert; von der Abteilung Planung und Investitionen des Ministeriums filr Kultur: Siering und
Eggers-Ebert; von der Hauptabteilung filr Bildende Kunst des Ministeriums filr Kultur: Balt-
schun und Albrecht. In: Niederschrift über die vom Ministerium filr Kultur einberufene Bera-
tung über die von Herrn Gartenbauarchitekt Reinhold Lingner, Leiter der Werkstatt Grünpla-
nung des Ministeriums filr Aufbau, erarbeiteten Ideenentwurffilr die Gestaltung der Nationa-
len Gedenkstätte Sachsenhausen. Aus: SAPMOD, NY 4080/554: 112.
164 In der Niederschrift schliessen sich folgende Sätze nach Acker an: "Danach ist erwünscht, dass
der erste Barackenring wieder errichtet wird. Zwei der Baracken sollen so eingerichtet werden,
wie sie waren. Die anderen Baracken können den beteiligten Nationen zur Einrichtung von

103
Widerstandskämpfer Raddatz monierte ebenfalls den Entwurf von Lingner
und meinte, dass

"durch die allzu vielen Grünanlagen des Entwurfs nicht so sehr die Stätte des Grauens als
vielmehr eine Art Anlage entstehen würde und damit der Eindruck der Grausamkeit ver-
wischt würde." I 65

Die Entscheidung zwischen den entgegengesetzten Vorschlägen der an-


tifaschistischen Widerstandskämpfer und des Ministeriums für Aufbau wur-
de schließlich durch den Schiedsspruch des Stellvertretenden Ministers für
Kultur entschieden, der die Frage stellte,

"ob der Nachdruck auf der Erhaltung zur Erinnerung an die faschistischen Greuel gelegt
werden soll oder auf den Widerstandskamp( das Heroische."

In der Niederschrift heißt es weiter:

"Er selbst ist der Ansicht, dass der Widerstandskampf betont werden müsse, und sieht
deshalb die Konzep,tion des Herrn Lingner als richtig an. Der Schwerpunkt sollte auf dem
Appellplatz liegen.,,166

Ein Vergleich zwischen der ikonographischen Mythenvermittlung mit


der narrativen und ritualisierten Implementierung des antifaschistischen
Mythos in Sachsenhausen lässt einen Widerspruch deutlich werden. Wäh-
rend die Plastiken, besonders die Hauptplastik von Rene Graetz und die
Sowjetische Plastik, den Aspekt der Befreiung durch die Rote Armee und
die Vorbildfunktion der sowjetischen Gefangenen in den Vordergrund stel-
len, hob die Ausstellung und die Eröffnungsrede von Walter Ulbricht vor
allem den Widerstand der deutschen Kommunisten und der europäischen
Antifaschisten hervor. In seiner langen Rede ging Walter Ulbricht nur an
zwei Stellen mehr beiläufig auf die Befreiung des Lagers und auf die Befrei-
er selbst überhaupt nicht ein.

Museen zur Verfilgung gestellt werden. Die beiden noch vorhandenen Gebäude, die (Wäsche-
rei und ein Lager) sollten zu musealen Zwecken erhalten bleiben, ebenso das Zellengebäude
und der Erschiessungsgang, die Totenkammer und einige andere Baulichkeiten. Alle anderen
Dinge könnten nach den vorliegenden Plänen gestaltet werden. Im Schenkel des Dreiecks als
Begrenzung des ehemaligen Lagers sollte ein Monument (Denkmal) entstehen. Herr Acker ist
der Meinung, dass man im Grundsätzlichen nicht von diesen von den Widerstandskämpfern
erarbeiteten Vorschlägen abgehen kann." Aus: ebenda: 113.
165 ebenda.
166 Er schlägt weiter vor, über den Fundamenten der Baracken, die nicht wieder aufgebaut wer-
den, Platten mit Inschriften anzubringen, an denen Kränze niedergelegt werden können. Aus:
ebenda.

104
Die Überführung der Tatsache des Sieges der Sowjetunion in den My-
thos von der Befreiung durch die Rote Armee hatte trotz ihres Verwei-
sungscharakters eine Reihe von Schwierigkeiten, die ähnlichen Verinnerli-
chungsproblemen gegenüberstanden, wie die Erzählung vom erfolgreichen
antifaschistischen Widerstand. Für die große Mehrheit der deutschen Bevöl-
kerung kam die "Befreiung" von der "falschen" Seite, sie hätte es lieber
gesehen, von den Amerikanern befreit worden zu sein. Die Haltung gegen-
über der Sowjetunion war ja bei der Kriegsgeneration durch ein Gemisch
von antikommunistischen und antisowjetischen Einstellungen, verbunden
mit Überlegenheits- und gleichzeitig Minderwertigkeitskomplexen, geprägt.
Diese diffuse Vorstellung schuf Unklarheit und Angst bei der Mehrheit der
Bevölkerung, eine Angst, die nie ganz verloren ging, und die die Implemen-
tierung des Widerstandsmythos aus den eigenen Gefilden erst möglich
machte. Lieber berief man sich auf etwas, das der Siegermacht zwar entge-
genkam, aber etwas Eigenes darstellte und einer vollständigen Abhängigkeit
gegenüber der Sowjetunion, vor allem auf moralisch-ethischem Gebiet,
etwas entgegenzusetzen hatte.
Neben den Schwierigkeiten der Überführung des Sieges der Roten Ar-
mee über den Nationalsozialismus in den Mythos von der Befreiung ver-
suchte die Partei- und Staatsführung Anfang der 60er Jahre, kurz vor dem
Mauerbau, in Hinsicht auf die angestrebte deutsche Konföderation eine ge-
wisse Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu demonstrieren. Aus jenen
Gründen wurde zur Eröffnung der Gedenkstätte durch Walter Ulbricht die
Befreiung des Lagers betont und die Ausstellung nicht dem Thema der Be-
freiung durch die Rote Armee, sondern dem "europäischen Befreiungskampf
vom Faschismus" gewidmet.
Die Gefangenen und Ermordeten von Sachsenhausen wurden zu aktiven
Widerständlern, ja zu "Märtyrern" und "Helden" mythisiert. Auf der Eröff-
nungsveranstaltung am 23.04.1961 hielt Walter Ulbricht eine Rede, die den
antifaschistischen Mythos der DDR bediente. Er sagte:

"Dem Gedenken und der Mahnung ist diese Stätte geweiht, dem Gedenken an die ungezähl-
ten Märtyrer und Helden des antifaschistischen Widerstandskampfes, der Mahnung - ge-
richtet an unsere wie die uns folgenden Generationen -, nie wieder zuzulassen, dass faschi-
stische und militaristische Barbarei über unser Volk und andere Völker hereinbrechen.,,167

167 Rede des Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, WalteT
Ulbricht, aniässlich der Einweihung der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen am
23.04.1961. Aus: Deutsches Rundfunkarchiv, DOK 907/1/2 - 90712.

105
Wie aus dem Text hervorgeht, besteht die mythische Hauptfunktion der
Sachsenhausener Gedenkstätte im "Gedenken" und in der "Mahnung", um
das "Nie wieder" zu garantieren. Die Garanten dafür sind die Opfer, die
Helden und Märtyrer, und die in ihrer Nachfolge befindlichen folgenden
Generationen. Nach der mythischen Darstellung wurde in Sachsenhausen
getötet, weil die Märtyrer

"Freiheit, Frieden und Demokratie mehr liebten als das eigene Leben, weil sie Sozialisten
waren, ... , weil sie ihr Leben dem Humanismus und der Völkerfreundschaft gewidmet
hatten." I 68

Dem Tod der vielen Gefangenen im KZ wurde so nachträglich ein Sinn


verliehen, der sich mit der eingeschlagenen politischen und gesellschaftli-
chen Entwicklung in der DDR deckte. All diejenigen, die aus rassischen,
religiösen und kulturellen Gründen ins KZ gekommen waren, transformier-
ten zu Sozialisten und aktiven Widerständlem, die ja auch im KZ nur eine
Minderheit darstellten. 169
An weiteren Stellen ist vom "Geist der Kämpfer für Freiheit und Recht
und ihrem Widerstandskampf' die Rede. 170 Mit der Feststellung, dass die
Geschichte des Widerstandskampfes in Sachsenhausen ein "schmerzvolles,
aber ehrenvolles Kapitel der heroischen Geschichte des illegalen Wider-
standskampfes der deutschen Kommunisten und anderer Antifaschisten"I?1
ist, wurde die mythische Aussage auf den DDR-Antifaschismus charak-
terisierenden instrumentellen Punkt gebracht, so dass eine mythische Reihe
entstand, die von den Verbrechen der Nationalsozialisten über den illegalen
Widerstandskampf zu den deutschen Kommunisten als Krönung führte.
Die Ummünzung der Befreiungserzählung durch die Rote Armee in die
Erzählung vom Widerstandskampf der europäischen Völker gegen den Fa-
schismus ließ sich zur Implementierung der Vorstellung verwenden, dass

168 ebenda
169 Der vollständige Text dieses Redeabscbnittes heisst: "Jeder Fussbreit dieses Bodens ist ge-
tränkt mit dem Blut und dem Todesschweiss Zehntausender Märtyrer aus vielen Nationen,
Zehntausender Menschen verschiedener Weltanschauungen. Hier wurden sie gehetzt und zu
Tode gequält, gequält und hingemordet, nur weil sie ihr Volk, nur weil sie Freiheit, Frieden
und Demokratie mehr liebten als das eigene Leben, weil sie Sozialisten waren, weil sie Völ-
kerhass und Völkermord verabscheuten, weil sie ihr Leben dem Humanismus und der Völker-
freundschaft geweiht hatten. ebenda.
170 Die Textstelle heisst: "Aber weder die Hölle sadistischer Quälerei noch der blutige Terror
vermochten den Geist der Kämpfer rur Freiheit und Recht und ihren Widerstandskampf gegen
den Ungeist, gegen das damals anscheinend allmächtige Mörderregime der Lüge, des Unrechts
und der Menschenverachtung zu brechen." ebenda.
171 ebenda.

106
europaweit ein koordinierter breit ausufernder Kampf gegen die deutschen
Faschisten unter Führung der Kommunisten stattgefunden hätte, um das
deutsche Volk zu retten:

"Innerhalb und außerhalb der Konzentrationslager und Kerkermauern, innerhalb Deutsch-


lands und außerhalb seiner Grenzen, von der Emigration aus, ruhrten deutsche Kommuni-
sten, Sozialdemokraten, Angehörige des Bürgertums, Menschen der verschiedensten Welt-
anschauungen gemeinsam den unerhört opferreichen Kampf ~eß.en das blutbesudelte Hitler-
regime und retteten damit die Zukunft der deutschen Nation."

Die Konzentrationslager sind nach dieser Darstellung Teil der großen


Bewegung, die Deutschen werden von Anhängern oder Duldern des NS-
Regimes zu Widerständlern gemacht, die sich bereitwillig der Führung der
Kommunisten anvertrauen und europa- oder weltweit gegen den deutschen
Faschismus kämpften. Der herbeierzählte Widerstand erlangte in der Ära
Ulbricht eine besonders hohe Verdichtung.
Trotz des Bedürfnisses nach einer gewissen Abgrenzung von der So-
wjetunion erlangte die Trennungs- und Oppositionsleistung des antifaschis-
tischen Mythos gegenüber der Bundesrepublik eine besonders harte konfron-
tative Form. Über die Hälfte der Ulbricht-Rede wurde diesem Thema ge-
widmet, das eine stark appellierende Sprache aufwies. In seiner Rede hieß
es,

dass es rur "uns Deutsche beschämend" ist, "feststellen zu müssen, dass in einem Teil
unseres Vaterlandes, in der westdeutschen Bundesrepublik, die Hintermänner, Drahtzieher
und Nachfolger der nazistischen und militaristischen Verbrecher wieder Oberwasser ge-
wonnen haben, sich ihrer Taten brüsten und neue Untaten vorbereiten." 173

172 Im Text heisst es: "Die Geschichte des Widerstandskampfes auch unter den unmenschlichen
Bedingungen der Menschenvernichtungsfabrik Sachsenhausen ist ein schmerzvolles, aber eh-
renvolles Kapitel der heroischen Geschichte des illegalen Kampfes der deutschen Kommunis-
ten und anderer Antifaschisten. lnnerhalb und ausserhalb der Konzentrationslager und Ker-
kermauern, innerhalb Deutschlands und ausserhalb seiner Grenzen, von der Emigration aus,
fiihrten deutsche Kommunisten, Sozialdemokraten, Angehörige des Bürgertums, Menschen der
verschiedensten Weltanschauungen gemeinsam den unerhört opferreichen Kampf gegen das
blutbesudelte Hitlerregime und retteten damit die Zukunft der deutschen Nation." ebenda.
173 Aus Rundfunkarehiv, DOK 907/112: 4. In der Rede heisst es weiter: "Die Grundgedanken der
Antihitlerkoalition und der Potsdamer Abkommen sind dort längst - und das ganz offensicht-
lich - über Bord geworfen. Westdeutschland ist zum Hauptherd der Kriegsgefahr in Europa
geworden. Die westdeutschen Militaristen betreiben eine vor allem fiir ihre Bundesgenossen
lebensgefährliche Revanchepolitik. Sie verfechten hartnäckig territoriale Forderungen, die
Krieg bedeuten. Jene deutschen Monopole, die in der Hitlerzeit fiir die Ausrüstung der Kon-
zentrationslager, dieser Menschenvernichtungsfabriken, sorgten, Todesöfen, Gaskammern und
das Gas Zyklon B herstellten, wie z.B. IG-Farben und der Siemens-Konzern, sind jetzt in das
Geschäft "Atomtod" eingestiegen. Hitlergenerale, Wehrwirtschaftsfiihrer und Ribbentrop-

107
Das Traktat gipfelte in der Aussage: "Westdeutschland ist zum Haupt-
herd der Kriegsgefahr in Europa geworden." Es wird deutlich, dass sich der
Imperativ des "Nie wieder!" an einer Gegnerschaft zum westdeutschen Staat
festmachte, der als der schlechtere Teil Deutschlands definiert wurde, von
dem die Gefahr der Wiederholung der Geschichte ausging.
Die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten
war mit der Intention verbunden, dass der "bessere Teil" des deutschen
Vaterlandes sein System und seine guten Traditionen auf ganz Deutschland
übertragen werde, und so eine Garantie für die Überwindung des Faschis-
mus geben würde. Ulbricht leitete aus dieser Überzeugung die Feststellung
ab:
"Es ist ein Glück für das deutsche Volk wie für die Sache des Friedens in Europa, dass
heute die Deutsche Demokratische Republik besteht, wächst und an Kraft wie nationalem
und internationalem Ansehen gewinnt. Denn die Deutsche Demokratische Republik ver-
körpert in ihrem Wesen wie in ihrem Handeln die guten demokratischen und humanisti-
schen Traditionen des deutschen Volkes.,,174

Aus der Nachfolge der KZ-Häftlinge, die die DDR sich verpflichtete an-
zutreten, erwuchs ihr die Mission des Retters des deutschen Volkes und
sogar ganz Europas. Also nicht die Sowjetunion wird hier als der Retter der
Menschheit angesehen, wie in früheren und dann wieder späteren Zeiten der
DDR, sondern die DDR. Nicht mehr nur Juniorpartner sein, sondern selbst
den Fokus darzustellen, war die Intention und mythische Botschaft dieser
Rede. Außerdem wurden die guten Traditionen der deutschen Geschichte als
für die Führungsrolle geeignet betrachtet. Die DDR war also durch den
Antifaschismus und die guten Traditionen geheiligt und prädestiniert, Frie-
densgarant in Deutschland und Europa zu sein, was nach der langen,
schrecklichen Kriegszeit ein "Glück" für die Menschen darstellte.
Diese Bedeutungsaufwertung, die im Zusammenhang mit dem Geden-
ken an die Verbrechen des Nationalsozialismus stattfand, stellte für die
damalige Autbaugeneration und ihre Kinder ein Sinnangebot dar, um über
die Schwierigkeiten der Nachkriegszeit hinwegzuhelfen und als Begründer
einer neuen, noch nie dagewesenen Epoche der Geschichte mitzuwirken.
Besondere Wirkung zeitigte das "Retterbewusstsein", selbst Teil einer Vor-

Diplomaten sind wieder in alter Eintracht verbunden. Die Bonner Regierung lässt militärische
Einheiten zur Übung in Frankreich und anderen NATO-Ländern einmarschieren. Und die Spe-
zialisten der deutschen Kolonialpolitik sind Teilnehmer in der unheiligen Allianz zur Vernich-
tung der nationalen Unabhängigkeit und Freiheit der Völker Asiens, Afrikas und Südameri-
kas." S. 4/5.
174 ebenda: 6.

108
hut zu sein, die gravierende Mängel der kapitalistischen Gesellschaft ab-
schafft und den Frieden in der Welt fiir immer rettet.
Das Museum im Lager Sachsenhausen, das den Namen "Museum des
antifaschistischen Freiheitskampfes der europäischen Völker" trug, bediente
ebenfalls die mythische Konstruktion vom breiten Befreiungskampf der eu-
ropäischen Völker, so als hätte ein einheitliches Volksheer, ähnlich wie im
spanischen Bürgerkrieg, gegen den Nationalsozialismus gekämpft. Von ei-
nem Mitglied des illegalen Lagerkomitees, Max Opitz, wurde dann auch
von den "Volksmassen in allen vom Hitlerfaschismus überfallenen Ländern"
gesprochen, die fiir das gleiche Ziel kämpften: Demokratie, Menschlichkeit,
Freiheit und Unabhängigkeit. 175

3.1.2.3 Mahn- und Gedenkstätte RavensbfÜck

Der dritte Schwerpunkt der Stiftung antifaschistischen kulturellen Gedächt-


nisses durch materialisierte Geschichtsbildung in der DDR war die Mahn-
und Gedenkstätte RavensbfÜck. In dem ehemaligen Frauen- und Kinder-KZ
fanden von 132 000 Insassinnen 92 000 den Tod. Die Nazis fiihrten hier an
gesunden Frauen medizinische, stark gesundheitsschädigende, bis zum Tod
führende Versuche durch. Anfangs wurden Kranke und zur Vernichtung
vorgesehene Frauen nach Bernburg verschickt und dort vergast. Erst später
erhielt das KZ ein Krematorium. Die Asche der ermordeten Frauen wurde in
den angrenzenden See geschüttet. Die Befreiung des Lagers erfolgte am
30.04.1945 durch die Rote Armee. 176
Die Gedenkstätte befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Zellen-
baues und des Krematoriums. Im Gegensatz zu Buchenwald und Sachsen-
hausen weist RavensbfÜck eine starke Opfersemantik auf. Hier wird weniger
"siegreicher Widerstand" als mehr "die Aussage der Trauer um die Op-
fer,,177 dargestellt, was schon aus der architektonischen Gesamtkonzeption
der Anlage ablesbar ist, die einfacher und weniger monumental gehalten
wurde. 178 Der Bildhauer Will Lammert schuf das Hauptmonument, das Fritz

175 Eröffuung des Museums des antifaschistischen Freiheitskampfes der europäischen Völker,
Max Opitz. In: Rundfunkarchiv. C DOK 907/ZG 8067.
176 Frank, Volker: Antifaschistische Mahnmale in der DDR. Ihre künstlerische und architektoni-
sche Gestaltung. Leipzig: Seemann Verlag 1970: 20.
177 ebenda.
178 Der Entwurf stanunt vom Architektenkollektiv Ludwig Deiters, Hans Grotewohl, Horst
Kutzak und Kurt Tausendschön. In: Institut fiir Denkmalpflege der DDR (Hrsg.): Gedenkstät-
ten, Arbeiterbewegung, antifaschistischer Widerstand, Aufbau des Sozialismus. Berlin: Urania

109
Cremer nach seinem Tode vollendete. Es ist eine 4.30 m große, der Pieta
vergleichbare Gruppe von zwei Frauen auf dem Sockel einer Stele am Ufer
des Schwedtsees. Eine schreitende, von einem über den Kopf gezogenen
Tuch bedeckte Frau trägt eine andere, zusammengebrochene Frau, die aus-
einander zu fallen und nur noch durch die Arme der Trägerin zusammen-
gehalten zu werden scheint. Das Antlitz der Tragenden ist vom seelischen
und körperlichen Schmerz gezeichnet, doch gleichzeitig strahlt es Willens-
kraft und Entschlossenheit aus. Lammert nannte diese Plastikgruppe die
"Benario-Gruppe" nach Olga Benario Prestes. 179 Die Hinwendung der Figu-
ren zum See stellt die Sehnsucht nach der Freiheit dar. Mit diesem Monu-
ment sollte vor allem die Solidarität der Frauen im Lager, die sich gegensei-
tig halfen, ausgedrückt werden.
Vor der Umfassungsmauer befindet sich ein Massengrab mit den Über-
resten der Toten, die bei der Befreiung des Lagers aufgefunden wurden. Zu
ebener Erde vor der Mauer stehen zwei weitere Frauenfiguren von Will
Lammert, die er kurz vor seinem Tod noch fertiggestellt hatte. In einer Nie-
derschrift des Künstlerisch-wissenschaftlichen Beirats für antifaschistische
Mahnmale stand: "Diese beiden Plastiken sind durch ihre Haltung der Trau-
er ... besonders geeignet.,,180
Die Müttergruppe von Fritz Cremer, die am Eingang des Krematoriums
Aufstellung fand, ist Bedeutungsverdichtung der im Lager gefährdeten Mut-
ter-Kind-Beziehung und der Anstrengung ihrer Bewahrung. Drei Frauen,
leicht auf einem Sockel erhöht, tragen eine Bahre mit einem sterbenden
Kind. Die hinter der Trage Gehende senkt verzweifelt den Kopf, die Frau in
der Mitte wendet sich dem Kind zu, während sie mit der linken Hand ihr
Tuch über ihre Brust zum Kind hin zieht, als ob sie es vor äußeren Gefahren

1974: 145/146.
179 Olga Benario-Prestes wurde am 12.02.1918 als Tochter eines sozialdemokratischen Rechts-
anwalts in München geboren. Mit 15 Jahren wurde sie Mitglied der Kommunistischen Jugend
Deutschlands (KJD). Sie erlernte den Beruf einer Buchhllndlerin. Nach ihrer Übersiedlung
nach Berlin, wurde sie Funktionärin des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands
(KJVD). 1933 emigrierte sie in die Sowjetunion, wo sie den brasilianischen Kommunisten
Luis Carlos Prestes kennen1ernte. Mit ihm zusammen reiste sie 1935 nach Brasilien, wo sie
1936 verhaftet und der deutschen Gestapo ausgeliefert wurde. Im Berliner FrauengeBngnis
gebar sie eine Tochter, die 1938 an die Mutter von Prestes übergeben wurde. Nach der Über-
filhning Olga Benarios Prestes in das KZ Ravensbrück, wurde sie im April 1942 vergast.
180 Niederschrift über die Besprechung des Künstlerisch-wissenschaftlichen Beirats rur die Gestal-
tung der Gedenkstätte Ravensbrück am 07.03.1958. In: SAPMOD/4090/554.

llO
Mahn- und Gedenkstätte Ravensbriick bei Fürstenberg. Stele mit Plastik "Die Tragende" von Will
Lammert.

beschützen wolle, und die vor der Bahre schreitende Trägerin geht aufrecht,
den Blick nach vom gerichtet. Ein zweites Schutz suchendes Kind klammert
sich an den Rock der vorderen Frau. Dieses bei Käthe Kollwitz und Fritz
Cremer wiederholt auftauchende Motiv verweist auf ein wesentliches Stil-
element des deutschen "proletarischen Realismus" .181 Auch diese Plastik
betont mehr das Opfer- als das Widerstandsmotiv, das in Buchenwald und

181 In vielen Graphiken und Plastiken von Käthe Kollwitz, wie z.B. bei der "trauerenden Mutter",
und bei Fritz Cremer in dem Relief "Trauernde Frauen" von 1936 kommt das Motiv des bei
der Mutter Schutz suchenden Kindes vor.

III
Sachsenhausen als "erfolgreicher Widerstand", gepaart mit Gewalt, verstan-
den wurde. Widerstand im Sinne von innerem Widerstehen gegen die Lei-
den, was ein den Leiden-nicht-Erliegen oder ein Nicht-sieh-Aufgeben be-
deutet, wird in allen drei Plastikgruppen künstlerisch gestaltet, fand jedoch
keine gleichrangige gesellschaftliche Wertschätzung. Buchenwald mit seiner
Befreiungslegende, umgesetzt in dem Auferstehungsdiktus der gesamten
Denkmalsanlage und in der Häftlingsplastik von Cremer, und Sachsenhau-
sen mit der Hervorhebung des Befreiungsmotivs rangierten in der mythi-
schen Implementierung der DDR vor Ravensbriick.
Die mythische Hauptaussage der Gedenkstätte von Ravensbriick wird in
den Worten von Anna Seghers am Eingang zur Gedenkstätte zu-
sammengefasst:

"Sie sind unser aller Mütter und Schwestern. Ihr könntet heute weder frei lernen noch
spielen, ja., ihr wäret vielleicht gar nicht geboren, wenn solche Frauen nicht ihre zarten
Körper wie stählerne Schutzschilder durch die ganze Zeit des faschistischen Terrors vor
euch und eure Zukunft gestellt hätten." 182

Die Verbindung zwischen den Ravensbriicker Gefangenen wird in leib-


liche Verwandtschaft übersetzt, deren Erbe die Menschen in der DDR -
"unser aller Mütter und Schwestern" - antreten. Das Erbe verpflichtet zur
Nachfolge und zur Vollendung der Taten dieser Frauen. Die Inschrift geht
sogar über das leibliche, verpflichtende Erbe hinaus. Nicht nur die zufällige
Nachkommenschaft ermöglicht das Dasein der Menschen in der DDR, son-
dern diese Frauen retteten, indem sie "ihre zarten Körper wie stählerne
Schutzschilder" benutzten, das Leben der Mitmenschen "durch die ganze
Zeit des faschistischen Terrors" und das der Nachkommen, so dass diese
nun "frei lernen und spielen konnten". Der faschistische Terror erschien
wieder wie etwas Fremdes, nichts, was aus dem eigenen Volk gekommen
wäre und wenn, dann nur von einer Minderheit, die die Mehrheit der Deut-
schen beherrschte. Die Verwicklung der meisten Deutschen mit dem Natio-
nalsozialismus und die Mitschuld am Tod der in Ravensbriick Umgebrach-
ten verkehrte sich so in ihr Gegenteil. Die Schuldigen wurden zu Opfern
umdisponiert, um die Identität mit der sich in der Tradition des Antifa-
schismus befindenden DDR herzustellen.
In der Rangfolge der drei großen KZ-Gedenkstätten der DDR nahm Ra-
vensbriick den untersten Platz ein. Dies lässt sich an verschiedenen Fakten
ablesen. Während für Buchenwald 10 Millionen DM und für Sachsenhausen

182 Frank, Volker: Antifaschistische Mahrunale in der DDR. a.a.O.

112
6 Millionen DM ausgegeben wurden, waren es bei Ravensbrtick nur 2 Mil-
lionen DM. 183 Als ehemalige Häftlinge des Lagers Ravensbrtick mehr Geld
forderten, insbesondere für die nicht von Anfang an in der Denkmalskon-
zeption befindliche Cremer-Plastik, wurden diese Bitten von Georg Spiel-
mann, dem Leiter des Sekretariats des Komitees des antifaschistischen Wi-
derstands als "unersättlich" bezeichnet. Zudem versah der Bericht die Akti-
vitäten der ehemaligen Häftlinge mit dem Prädikat "sektiererisch", was in

Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück bei Fürstenberg. Gruppe von zwei Frauen von Will Lam-
mert.

183 siehe SAPMODINY/40901554.

113
den 50er Jahren als eines der wirksamsten Mittel für die Abwendung einer
nicht gewollten Aktivität oder gar deren Kriminalisierung benutzt wurde. 184
Wenn die finanziellen Forderungen wirklich zu hoch gewesen wären, wa-
rum wurden die von Buchenwald und Sachsenhausen, obwohl um ein Viel-
faches höher, als nicht übertrieben und unersättlich betrachtet? Die geringe-
ren Mittel für Ravensbrück wurden mit "günstigen natürlichen Vorausset-
zungen" begründet,185 um somit den politischen Zweck der Zurücksetzung
der Gedenkstätte gegenüber Buchenwald und Sachsenhausen zu verschlei-
ern.
Älmlichkeit bei der politischen Indienstnahme der Gedenkstätte Ravens-
brück mit Buchenwald ergab sich durch eine spannungsgeladene und wider-
sprüchliche Kommunikation zwischen den politischen Entscheidungsträ-
gern, vor allem vertreten durch das Zentralkomitee der SED, Hauptabteilung
Kultur, das Ministerium für Kultur sowie das Präsidium und den künstle-
risch-wissenschaftlichen Beirat für Nationale Gedenkstätten einerseits und
andrerseits den ehemaligen Lagerinsassen, vertreten durch das Ravens-
brück-Komiteel86 und teilweise durch das Komitee der Antifaschistischen

184 In einer Aktennotiz des Staatssekretärs Toeplitz heisst es: "Ich teile ihm meine Meinung zu
den Nachforschungen des Ministeriums rur Kultur vom 23.06.1959 in Höhe von fast 700
000,- DM mit. Gen. Spielmann erklärte dazu, dass die Genossen im RavensbrOck-Komitee,
aber vor allem die Genossin Erika Buchmann, "unersättlich" in ihren Forderungen seien.
Vermutlich werde in der Planungsabteilung im Ministerium rur Kultur den zum Teil sektiere-
rischen Forderungen nicht konsequent entgegengetreten." Aus: SAPMODI NY/40901554.
185 Notiz. Besprechung mit Frau Handke, Buchmann und Jung vom Komitee RavensbrOck über
Instandhaltung und Ausgestaltung der Gedenkstätte am 14.11.1956. In:
SAPMODINY/40901554.
186 Das Ravensbruck-Komitee setzte sich folgendermassen zusanunen: Präsidentin: Rosa Thäl-
mann; August Bach, Vorsitzender des Hauptvorstandes der CDU; Gertrud Bamekow, Genoss-
senschaftsbäuerin LPG Kuntzow; Edith Baumann, Kandidatin des Politbüros; Lilli Becher;
Irmgard Benthin, Vorsitzende der LPG "Freiheit" in Hundorf; Fritz Beyling; Vorsitzender des
Zentralvorstandes der Gesellschaft rur Deutsch-Sowjetische Freundschaft; Dr. Lothar Bolz,
Minister rur Auswärtige Angelegenheiten; Karl Brauer, Mitglied des Komitees der Antifaschis-
tischen Widerstandskämpfer; Horst Brasch, Vorsitzender des Rates des Bezirkes Neubranden-
burg; Willi Bredel, Mitglied des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer, Prof.
Dr. Theodor Brugsch, Mitglied des Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen
Deutschland; Erika Buchmann, Mitglied des Ravensbruck-Komitees; Wolfgang Caffier, Pfar-
rer; Prof. Dr. Dr. Erich Correns; Präsident des Nationalrates der Nationalen Front des demo-
kratischen Deutschland
Prof. Fritz Cremer, Bildhauer; Mathilde Danegger, Schauspielerin; Dr. Johannes Dieckmann,
Präsident der Volkskanuner der Deutschen Demokratischen Republik; Ludwig Einicke, Mit-
glied des Präsidiums des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer; Karl Fischer ,
Pastor, Mitglied des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer; Therese Florin; El-
se Fugger, ehemalige RavensbrOckerin; Elfriede Funke, Mitglied des Präsidiums des Bundes-
vorstandes des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands; Dr. Dr. Günther Gereke, Präsi-

114
dent der Zentralstelle rur Zucht- und Leistungsprüfungen der Vollblut- und Traberpferde;
Ernst Goldenbaum, Vorsitzender des Hauptvorstandes der Demokratischen Bauernpartei
Deutschlands; Margarete Götzelt, Abgeordnete der Volkskammer; Grete Groh-Kummerlöw,
Abgeordnete der Volkskammer; Herbert Grünstein, Staatssekretär; Nelly Haalck, CDU; Em-
my Handke, Mitglied des Präsidiums des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämp-
fer; Wilhelmine Heckert; Emmi Heinrich, 1. Vorsitzende des Bezirksverbandes der CDU Neu-
brandenburg; Meta Hering, Betriebsarbeiterin im VEB Schwermaschinenbau "Karl Lieb-
knecht"; Käthe Hörig, Mitglied des Hauptausschusses der National-Demokratischen Partei
Deutschlands; Herbert Hultsch, 1. Sekretär des Berliner Ausschusses der Nationalen Front des
demokratischen Deutschland; Ilse Hunger, Mitglied des Ravensbruck-Komitees; MandreI
Jendretzky-Husemann; Marga Jung; Inge Keller-von SchnitzIer, Schauspielerin; Hedwig Kess-
ler, Mitglied des Ravensbruck-Komitees; Willi Kling, Mitglied des Präsidiums des Komitees
der Antifaschistischen Widerstandskämpfer; Dr. 000 Korfes, Vorsitzender des Bezirksaus-
schusses der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, Potsdarn; Olga Körner, Mit-
glied des Ravensbruck-Komitees; Dr. Greta Kuckhoff, Mitglied des Komitees der Antifaschis-
tischen Widerstandskämpfer; Maria Kuhn, Mitglied des Ravensbruck-Komitees; ChristeI
Kunde; Genossenschaftbäuertin LPG Bobzin; Inge Lange, Sekretär des Zentralrates der FDJ;
Wolfgang Langhoff; Intendant des Deutschen Theaters; Maria Langner; Dr. Hermann Ley,
Vorsitzender des Staatlichen Rundfunkkomitees; Dr. Hans Loch, Vorsitzender des Hauptvor-
standes der LDPD; Trude Marx, Kreissekretär des Kreisauschusses der Nationalen Front des
demokratischen Deutschland Oranienburg; Melis, Ernst, Mitglied des Komitees der Antifa-
schistischen Widerstandskämpfer; Meslien, Bürgermeister von Fürstenberg; Erich Mückenber-
ger; Mitglied des Politbüros, Mitglied des Präsidiums des Komitees der Antifaschistischen Wi-
derstandskämpfer; Karl Narnokel, 1. Sekretär des Zentralrates der FDJ; Robert Neddermayer,
Parteiveteran; Fritz 000, Mitglied des Büros des Präsidiums des Nationalrats der Nationalen
Front des demokratischen Deutschland; Liselotte OOing; Deutscher Frauenrat; Maria Pleisner;
Anton Plenikowski, Staatssekretär; Marta ReicheI, ehemalige Ravensbruckerin; Erna Röhl,
Genossenschaftsbäuerin; Rutschke, Vorsitzender des Rates des Bezirkes Potsdarn; Elise Rutz;
Aenne Saefkow, Mitglied des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer; Ruth
Schirmer, Vorsitzende des Bezirksverbandes des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands
von Gross-Berlin; Wilhelrnine Schirmer-Pröscher, Mitglied des Präsidiums des Bundesvor-
standes des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands; Else Schmidt, Abgeordnete der
Volkskammer, Mitglied des Präsidiums der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands, Ge-
nossenschaftsbäuerin; Waldemar Schmidt, Ständiger Stellvertreter des Bürgermeisters von
Gross-Berlin; Hilde Schneller; Anna Seghers, Schriftstellerin; Kurt Seibt, 1. Sekretär der Be-
zirksleitung der SED Potsdarn; Hans Seigewasser, Vorsitzender des Büros des Präsidiums des
Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen Deutschland; Robert Siewert, Mitglied
des Präsidiums des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer; Georg Spielmann,
Leiter des Sekretariats des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer; Else
Splettstösser, Genossenschaftsbäuerin LPG "III. Parteikonferenz" in Halberstadt; Richard
Staimer, Vorsitzender des Zentralvorstandes der Gesellschaft rur Sport und Technik; Dipl.-Ing.
Prof Stanek, Vorsitzender des Berliner Ausschusses der Nationalen Front; Steffen, 1. Sekretär
der Bezirksleitung der SED Neubrandenburg; Herbert Stösslein, Mitglied des Komitees des
Antifaschistischen Widerstandskämpfer; Elfriede Stoecker; Ilse Thiele, Vorsitzende des Bun-
desvorstandes des demokratischen Frauenbundes Deutschlands; Wilhelm Thiele, Sekretär des
Magistrats von Gross-Berlin; Prof Dr. P. A. Thiessen, Vorsitzender des Forschungsrates der
Deutschen Demokratischen Republik; Dr. Heinz Toeplitz, Staatssekretär, Mitglied des Präsi-
diums des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer; Lotte Ulbricht; Herbert
Warnke, Vorsitzender des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes; Li
Weinert; Weiprecht, Staatssekretär; Hedda Zinner-Erpenbeck, Schriftstellerin

115
Widerstandskämpfer. Der Künstlerisch-wissenschaftliche Beirat zur Gestal-
tung der Nationalen Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ra-
vensbrück vereinte die staatstragenden Kräfte und bildete von nun an die
Klammer für alle Gestaltungsfragen der Gedenkstätten. 187
Aus einer Aktennotiz über die Besprechung zwischen drei ehemaligen
Insassinnen von Ravensbrück und Vertreterinnen des Komitees und Siering
von der Planungsabteilung im Ministerium für Kultur am 14.11.1956 geht
hervor, dass die Vertreterinnen des Lagerkomitees mit der Vorgehensweise
bei der Errichtung der Gedenkstätte nicht einverstanden waren und sich
"zurückgesetzt" fühlten. 188 Die Begründung bezog sich sowohl auf die
Nichtbeteiligung an der Planung als auch auf die zu geringe Finanzierung.
189 Selbst auf einer Sitzung des Künstlerisch-wissenschaftlichen Beirates zur
Gestaltung der Nationalen Gedenkstätten am 26.11.1957 wurde deutlich,
dass über den Kopf des Ravensbrück-Komitees hinweg entschieden wurde.
Die einzige Anwesende des Komitees war mit der Denkmalskonzeption
nicht einverstanden, was zwar im Protokoll Erwähnung fand, bei der Ent-
scheidungsfindungjedoch keinerlei Rolle spielte. l90 Dies stellte einen Unter-
schied zu Buchenwald dar, wo trotz der anders gearteten Vorstellungen des

187 Dem Beirat gehörten an: Alexander Abusch, Staatssekretär; Prof. Laux, Hauptabteilungsleiter
fllr Bildende Kunst des ZK; Baltschun, Abteilungsleiter des ZK; Hirsch, Leiter der Zentralen
Planung beim ZK; Siering, Zentrale Planung beim Kultunninisterium; Schebesta, Hauptabtei-
lung Bildende Kunst; Emmy Handke, Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer;
Prof. CoDein und Dipl. Ing. Junghans, Deutsche Bauakademie; Fritz Cremer, Tausendschön,
Grotewohljunior, Architektenkollektiv Will Lammert.
188 An der Besprechung nahmen folgende Personen teil: Emmy Handke, Mitglied des Präsidiums
des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer und Mitglied des Ravensbrilck-
Komitees; Erika Buchmann, Mitglied des Ravensbrück-Komitees; Marga Jung, Mitglied des
Ravensbrück-Komitees, und Siering, Planungsabteilung des Ministeriums fllr Kultur. Aus:
SAPMODINY/4090/554.
189 Die besagte Textstelle heisst: "Die Vertreterinnen des Komitees brachten am Schluss zum
Ausdruck, dass sie sich bei der Behandlung der Pläne fllr Ravensbrück zurückgesetzt fllhIen.
Sie sind bisher vom Ministerium fllr Kultur noch nicht zur Besprechung der Pläne hinzugezo-
gen worden. Die Genossinnen erblickten auch darin eine Zurilcksetzung, dass fllr den Aufbau
der Gedenkstätte in Ravensbrilck die geringsten Mittel zur Verfilgung gestellt werden. .. Ich ha-
be darauf hingewiesen, dass die Bereitstellung der Mittel fllr die vorgesehenen Anlagen diesen
Vorwurf nicht rechtfertigen. Die Anlage in Ravensbrllck hat günstigere natürliche Vorausset-
zungen. Daraus ergibt sich, dass bei einer grösseren Wirkung der geplanten Gedenkstätte mit
verhältnismässig geringeren Mitteln ausgekommen werden kann. Die Vertreterinnen des Ko-
mitees haben meiner Auffassung nicht zugestimmt, konnten aber auch Beweise fllr ihren eige-
nen Standpunkt nicht vorbringen." Aus: SAPMODINY/4090/554.
190 Im Text heisst es: "Der künstlerisch-wissenschaftliche Beirat, mit Ausnahme der Vertreterin
des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer, war einhellig der Meinung, dass die
Konzeption des Denkmals von Prof. Lammert erhalten werden soll und vertrat die Auffas-
sung... " In: SAPMODINY/4090/554.

116
Buchenwaldkomitees die ehemaligen Häftlinge von Beginn an in die Ge-
denkstättenplanung mit einbezogen wurden. Die Ausgrenzung der Ravens-
brückerinnen fand in einer Art Verzweiflungsakt seinen Niederschlag. Das
Komitee wandte sich in einem persönlichen Brief an Ministerpräsident Gro-
tewohl und bat diesen um Hilfe. Der Brief bezieht sich auf die Besprechung
im Ministerium :für Kultur am 26.11.1957, die "zum Ergebnis einen Vor-
schlag hatte,. dem wir als ehemalige Ravensbrückerinnen nicht zustimmen
können.,,191

Die Frauen des Komitees waren der Auffassung, dass durch die damali-
gen Gestaltungspläne "die politische Aussage des Denkmals völlig verän-
dert" wurde. Weiter monierten sie:

"Unsere Genossin Handke, die als Vertreterin des Komitees an der Besprechung im Mini-
sterium für Kultur teilnahm, stand mit ihrer Ansicht gegenüber den 11 anderen Persönlich-
keiten der verschiedenen Institutionen mit ihren Argumenten allein.,,192

Die Ravensbrückerinnen waren der Meinung, dass die damalige Kon-


zeption der Bedeutung des Lagers nicht gerecht wurde, da

191 Brief des Komitees ehemaliger Ravensbrücker Häftlinge an den Ministerpräsidenten Otto
Grotewohl vom 30.11.1957. In: SAMPODINY/40901554. Der Text lautet: "Werter Genosse
Grotewohl! Am 26. November des Jahres fand im Ministerium filr Kultur eine Besprechung
über die Weiterfilhrung der bildhauerischen Gestaltung an der Gedenkstätte in Ravensbrück
statt. Diese Verhandlung hatte zum Ergebnis einen Vorschlag, dem wir als ehemalige Ravens-
brückerinnen nicht zustimmen können. Bei aller Würdigung der Verdienste des verstorbenen
Prof. Lammert bei den bisherigen Arbeiten an dem Ehrenmal scheint es uns nicht richtig, es bei
den bisher geschaffenen Figuren zu belassen und auf dem Obelisk, wie vorgesehen, nur ent-
sprechend vergrößert zu postieren und die Figurengruppe um den Obelisk herum überhaupt
fortfallen zu lassen und die beiden, von Prof. Lammert bereits geschaffenen Figuren im Ehren-
hof aulZustellen. Wir bitten darum, nunmehr eine andere Lösung bei der Gestaltung des Eh-
renmales zu finden. Unsere Genossin Handke, die als Vertreterin des Komitees an der Bespre-
chung im Ministerium filr Kultur teilnahm, stand mit ihrer Ansicht gegenüber den 11 anderen
Persönlichkeiten der verschiedenen Institutionen mit ihren Argumenten allein. Wir wollen dar-
auf hinweisen, dass der Hauptanteil der in Europa vom Faschismus verfolgten Frauen aus 18
Nationen kam und daher in ganz Europa in der Kennzeichnung der Grausamkeit des Faschis-
mus und seiner rigorosen Verfolgung selbst Frauen und Kindern gegenüber der Name Ra-
vensbrück ein Begriff ist. Die äußere Gestaltung der Gedenkstätte - und das sollte in der Figu-
rengruppe am Obelisk dargestellt werden - muss herausstellen, dass es ein Frauen- und Kinder-
lager war. Außerdem kommt in den bereits geschaffenen Figuren unserer Auffassung nach
ausschließlich der Gedanke der Solidarität zum Ausdruck, nicht aber der Kampf, den die
Frauen gegen den Faschismus auch im Lager filhrten. Beim Ministerium filr Kultur wurden
diese unsere Einwände, wie einige andere, abgetan mit dem Hinweis, dass man das im Muse-
um darstellen müsse ... "
192 ebenda.

117
"Ravensbruck das Frauenlager in Europa war, durch das der Hauptanteil der in Europa vom
Faschismus verfolgten Frauen aus 18 Nationen ging und daher in ganz Europa in der Kenn-
zeichnung der Grausamkeit des Faschismus und seiner rigorosen Verfolgung selbst Frauen
und Kindern gegenüber der Name Ravensbrück ein Begriff ist. ,,193

Mahn- und Gedenkstätte Ravensbruck bei Fürstenberg. Gruppe von drei Frauen mit Bahre von Fritz
Cremer.

An dieser Stelle werden zwei wichtige mythische Bedeutungsanspriiche


deutlich. Erstens wurde auf die wirkliche Größenordnung und Rolle des
Lagers innerhalb der nationalsozialistischen Vernichtungsstrategie verwie-
sen und deren nicht adäquate mythische Inszenierung moniert. Zweitens
leiteten die Frauen ihren Anspruch auf eine Verdichtung der mythischen
Aussage aus der Tatsache der "Verfolgung selbst Frauen und Kindern ge-
genüber" ab, was nichts anderes bedeutete als die Einklagung eines alten,
aber vorwiegend in der proletarischen politischen Kulturtradition benutzten
Vorrechts, das für Frauen und Kinder einen besonderen Opferstatus in der
obersten Reihenfolge festschrieb. Die weitverbreitete Auffassung, dass, wenn
Frauen und Kinder ermordet wurden, der Mörder oder das mordende Re-
gime den höchsten Grad der Grausamkeit erreicht haben, kollidierte mit der
Zuriicksetzung der kulturellen Erinnerungsarbeit in Ravensbriick. Entgegen

193 ebenda.

118
der weit verbreiteten mythischen Opferzuweisung an ermordete Kinder
sollte diese Häftlingsgruppe in der Gedenkstättenkonzeption überhaupt nicht
visuell in Erscheinung treten, worauf sich die Forderung der
Ravensbrückerinnen bezog:

"Die äußere Gestaltung der Gedenkstätte - und das sollte in der Figurengruppe am Obelisk
dargestellt werden - muss herausstellen, dass es ein Frauen- und Kinderlager war.,,194

Die Unterbewertung sahen die Vertreterinnen des Ravensbrück-


Komitees auch in der inhaltlichen Festschreibung der Gedenkstätte auf das
Motiv der Solidarität und nicht das des Kampfes, so wie dies in Buchenwald
und Sachsenhausen geschehen war. Im Brief an Otto Grotewohl schrieben
sie:

"Außerdem kommt in den bereits geschaffenen Figuren unserer Auffassung nach aus-
schließlich der Gedanke der Solidarität zum Ausdruck, nicht aber der Kampf; den die Frau-
en gegen den Faschismus auch im Lager filhrten." 195

Nach dem Gespräch der Vertreterinnen des Ravensbrück-Komitees mit


Ministerpräsidenten wurde zwischen der Konzeption des künstlerisch-wis-
senschaftlichen Beirates und den Ravensbrückerinnen ein Kompromiss ge-
funden, der aber recht vage war. Die am unteren Sockel des Obelisken ge-
forderte Figurengruppe wurde ad acta gelegt, jedoch ließ sich Otto Grote-
wohl von dem Argument überzeugen, dass auch das Thema "Mutter und
Kind" in die Denkmalskonzeption aufgenommen werden sollte. Er wollte
dem Arbeitsausschuss für nationale Mahnmale und dem Ministerium für
Kultur einen Vorschlag zu einem Denkmalsprojekt mit diesem Thema zur
Beschlussfassung vorlegen. 196
In einem Brief des persönlichen Referenten des Ministerpräsidenten,
Tzschom, vom 22.02.1958 an Staatssekretär Abusch im Ministerium für
Kultur wird darum gebeten,

"den künstlerisch-wissenschaftlichen Beirat zu einer Überprüfung seines Beschlusses zu


veranlassen und gemeinsam mit dem Komitee ehemaliger RavensbfÜcker Häftlinge die
Frage zu entscheiden, ob nunmehr eine Einigung im Sinne des Vermerks herbeigefilhrt
werden kann.,,197

194 ebenda.
195 ebenda.
196 "Vermerk über die Besprechung der Genossinnen Jung und Buchmann mit Genossen Grote-
wohl am 20. Januar 1958,13 Uhr." In: SAPMODINY/4090/554.
197 Brief des persönlichen Referenlen des Ministerpräsidenten, Tzschom, an das Ministerium rur
Kultur vom 22.02.1958. In: SAPMODINY/4090/554. Im Briefheisst es weiter: "Das Minis-

119
Der Bildhauer Fritz Cremer hatte sich auf die Seite der Ravensbrücke-
rinnen gestellt und arbeitete von sich aus an der Plastik zum "Mutter-Kind-
Thema". In dem Bericht des persönlichen Referenten des Ministerpräsiden-
ten, Tzschom, über das Gespräch mit Spielmann vom Juli 1959 heißt es:

"Obwohl in Beschlüssen nicht festgelegt, sollen neben der Eingangsstele noch Plastiken
einer Mutter und eines sterbenden Kindes zur Aufstellung gelangen. Gen. Cremer arbeitet
ohne Auftrag an dieser Gruppe. Er soll erklärt haben, dass er diese Arbeit unabhängig
davon ausruhre, ob diese Gruppe in Ravensbruck aufgestellt wird.,,198

In dem Interview mit der Witwe von Fritz Cremer wurde deutlich, dass
dem Künstler diese Arbeit besonders am Herzen lag und er damit keine Ge-
wissensprobleme wie mit der Buchenwald-Plastik verband. Durch die Inter-
vention des Ministerpräsidenten kam es schließlich auch zu der Aufstellung
der "Mutter-Kind-Gruppe" Fritz Cremers.
Die Zurücksetzung der Ravensbrückhäftlinge kam auch bei der Vorbe-
reitung der Eröffnungsveranstaltung der Mahn- und Gedenkstätte Ra-
vensbrück deutlich zum Ausdruck. Zwar nahm man einige Vertreterinnen
des Ravensbrück-Komitees in das Vorbereitungskomitee fiir die Eröffnungs-
veranstaltung auf, doch wurden diese Delegierten kaum beachtet. 199 In dem
Protokoll einer Vorbereitungssitzung wird deutlich, dass die Diskussionsbei-
träge der Ravensbrückerinnen vom Protokollanten nur beiläufig mit ein,
zwei Sätzen Erwähnung fanden, diejenigen des Vertreters der Nationalen
Front, Dr. Otto Korfes, und der Vertreterin des Bundesvorstandes des De-
mokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD), Wilhelmine Schirmer-
Pöschel, jedoch um so ausftihrlicher dargestellt wurden. 2OO Aus der Art und
Weise der Protokoll:fiihrung wird die Bedeutungszuweisung fiir die mythi-

terium filr Kultur müsste dann die filr das Mahnmal in Frage kommenden Plastiken des ver-
storbenen Bildhauers Lammert übernehmen, so dass die Arbeiten am Mahnmal Ravensbrück
in nicht allzu ferner Zeit der Vollendung entgegengefilhrt werden könnten. Es wird um weitere
Veranlassung bis zum 10.03.1958 gebeten."
198 Siehe Besprechungsvermerk von Tzschorn mit Spielmann vom 10.7.1959. in:
SAPMODINY140901554.
199 Mitglieder des Präsidiums des Vorbereitungskomitees waren: Rosa Thälmann, Vorsitzende;
Edith Baumann, Kandidatin des Politbüros des ZK der SED; Prof. Erich Correns, Präsident
des Nationalrates der Nationalen Front; Dr. Johannes Dieckmann, Präsident der Volkskammer
der DDR; Emmi Handke, Ravensbrück-Komitee; Meta Hering, Betriebsarbeiterin im VEB-
Schwermaschinenbau "Karl Liebknecht"; Wilhelmine Schirmer-Pöschel, Mitglied des Bun-
desvorstandes des Präsidiums des DFD; Georg Spielmann, Leiter des Sekretariats des Komi-
tees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer; I1se Thiele, Vorsitzende des Bundesvorstan-
des des DFD; Dr. Heinz Toeplitz, Staatssekretär und Mitglied des Komitees Antifaschistischer
Widerstandskämpfer; Lotte Ulbricht. in: SAPMODINY/40901554.
200 Protokoll der konstituierenden Sitzung des Komitees filr die Einweihung der Mahn- und
Gedenkstätte Ravensbrück vom 19.01.1959. in: SAPMODINY/40901554.

120
sche Inszenierung des Gedenkens an dieses Konzentrationslager deutlich
sichtbar. Die Träger des Mythos' und dessen Ritualisierung in Form der
Eröffnungsveranstaltung sollten nicht die Betroffenen sein, die sich in den
Mythos vom erfolgreichen antifaschistischen Widerstand eingereiht wissen
wollten, sondern die politischen Funktionseliten, die Ravensbrück den drit-
ten Platz in der Reihenfolge der Erinnerungsarbeit an die nationalsozialisti-
sche Vernichtungspolitik auf dem Territorium der DDR zuwiesen.
Der Vertreter der Nationalen Front machte die offizielle, von der politi-
schen Elite angestrebte, Funktionsbestimmung der Gedenkstätte klar, was
aus dem Protokoll hervorgeht:

"Dr. Korfes meinte, die Errichtung dieses Mahnmales zum Andenken an die tapferen und
mutigen Frauen, die im Konzentrationslager gelitten haben, findet unser aller Zustimmung.
Das Mahnmal soll unseren Dank gegenüber den dort Gestorbenen ausdrücken, es soll uns
aber vor allem dazu verpflichten, aufzupassen, dass sich diese unmenschlichen Scheußlich-
keiten niemals in Deutschland und in der Welt wiederholen können.,,201

Eindeutig geht es hier um die mythische Erinnerungsform, wie sie Jan


Assmann in "Kultur und Gedächtnis" als "Angst (die Vergangenheit) wie-
derholen zu müssen" beschrieben hat. 202 Für die Konstituierung des ne-
gativen Erinnerns wird der Wert der dort gefangen gehaltenen und ermorde-
ten Frauen durch die Adjektive "tapfer" und "mutig" verdoppelt. 203 Das
Moment des Leidens - "die im Konzentrationslager gelitten haben," - und
nicht das des Widerstandes wird unterstrichen. Der "Dank gegenüber den
Verstorbenen" verweist auf eine Form des Totenkultes, der darin besteht,
dass die Lebenden ihre Existenz dem Tod der Opfer zu verdanken haben
und ihnen gegenüber somit verpflichtet sind. Dank und Verpflichtung be-
dingen einander. Diese mythische Konstruktion konnte nicht an die Kriegs-
generation des deutschen Volkes, sondern nur an die Widerständler und
Opfer gerichtet sein. Bei der Aufbaugeneration fand diese Konstruktion
jedoch volle Wirksamkeit, sie fühlte sich den in den Lagern Ermordeten und
Gequälten gegenüber verpflichtet.
In seinem Referat geht Korfes von Buchenwald aus und unterstreicht
dessen vorrangige Bedeutung in der DDR-Erinnerungskultur. Die Notwen-

201 ebenda: 2.
202 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan und Tonio
Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988: 16.
203 VergI.: Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. FrankfurtlM.: Suhrkamp
1994.

121
digkeit weiterer antifaschistischer Gedenkstätten leitet er von der Gefahr aus
dem Westen ab:

"Heute mahnt uns die von Prof. Cremer geschaffene Figurengruppe (gemeint ist die in
Buchenwald) und verpflichtet uns, alles zu vernichten, was vom Westen Deutschlands
droht. Darum genügt es nicht, nur dieses eine Mahnmal in Buchenwald errichtet zu haben,
sondern überall dort, wo diese Verbrechen und Scheußlichkeiten begangen wurden, müssen
Gedenkstätten errichtet werden, die das ganze deutsche Volk immer wieder daran erinnern,
dass dieser Geist nicht in seinen Wurzeln getötet wurde, - und wenn man ihn gewähren lässt
- seine Herrschaft sofort wieder antreten wird.,,204

Die Funktion von Ravensbrück ist ähnlich wie die der anderen Gedenk-
stätten, vor der faschistischen Gefahr aus dem Westen zu warnen und eine
abschreckende Wirkung auszuüben. Der faschistische "Geist" sollte im Sin-
ne des Kampfes der Symbole durch die Inszenierung von kulturellem antifa-
schistischem Gedächtnis aufgehalten werden. Nach der Logik dieser Sicht-
weise hieße das, je mehr Gedenkstätten bestünden, desto größer würde der
Schutz vor der "Gefahr aus dem Westen" sein.
Das aus dem kalten Krieg hervorgehende Bedrohungsgefühl in den öst-
lichen Ländern und die inkonsequente Entnazifizierung im Westen waren
Grundlage fiir die These von der faschistischen Gefahr aus dem Westen, die
sich mit dem antifaschistischen Mythos gut verbinden ließ. Bis in die 60er
Jahre konnte diese These, besonders fiir die Aufbaugeneration, aufrechter-
halten bleiben. Spätestens nach 1968 musste sie sich durch den innenpoliti-
schen Wandel in der Bundesrepublik und der darauf folgenden außenpoliti-
schen Entspannungsphase in den 70er Jahren totlaufen.
Aus den Auseinandersetzungen zwischen den ehemaligen Häftlingen
von Ravensbrück und den Vertretern der Partei- und Staatsführung wird
deutlich, dass der politische Mythos vom antifaschistischen Widerstands-
kampf durch die Ravensbrückerinnen verinnerlicht und eingefordert wurde,
jedoch durch die politischen Entscheidungsträger nicht in gleichem Masse
wie in Buchenwald und Sachsenhausen gewährleistet werden sollte. Ra-
vensbrück wurde genauso wie Sachsenhausen durch die Rote Armee befreit,
es gab Solidarität und Widerstandsaktionen ebenso wie in den anderen La-
gern. In Ravensbrück sollten das Leiden und der Tod der gefangenen Frauen
und Kinder, aber nicht das Heroenepos des erfolgreichen Widerstandes
dargestellt werden. Es wurde die bedeutungsschwächere Geschichte des
weiblichen Widerstehens und Durchhaltens, der Solidarität, des Leidens, der

204 Protokoll der konstituierenden Sitzung des Komitees fllr die Einweihung der Mahn- und
Gedenkstätte RavensbTÜck. a.a.O.: 3.

122
Trauer und der Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungswahns er-
zählt. Obwohl diese Geschichte durch ihre Wahrhaftigkeit und das persönli-
che Engagement der Künstler eine viel größere Chance auf Langlebigkeit
und Verinnerlichung besaß, war solch ein Effekt durchaus nicht beabsich-
tigt, denn er widersprach der Auffassung von symbolischen Verdichtungen,
die politisches Wunschdenken widerspiegelten und deren mythische Bilder
grotesk übersteigert wurden. Diesem Denken waren auch die Ravensbrücke-
rinnen verschrieben. Sie waren mit der Opferzuweisung nicht zufrieden, sie
wollten als erfolgreiche Widerstandskämpferinnen dargestellt werden.
Warum die politische Elite die Zurücksetzung des politischen Mythos in
Ravensbrück betrieb, kann nur aus einer weitgehend unbewusst existieren-
den Geringschätzung des weiblichen Geschlechts, aber vor allem aus einer
maskulin dominierten Heroengeschichte des Antifaschismus herrühren. Die
Mythisierung weiblicher Heidinnen, wie der Pasionaria im Spanienkrieg,
kam nur selten vor. Außerdem nahmen die Heidinnen eine periphere Rolle
ein. Im Rahmen der mythischen Vermittlung des Kampfes der deutschen
Arbeiterbewegung blieb Rosa Luxemburg eine große Ausnahme, und auffäl-
lig ist, dass sie immer mit Karl Liebknecht in einem Atemzug genannt und
nicht als Einzelperson mythisiert wurde. In der symbolischen Ikonographie
stehen für die erfundenen Sieger über den Faschismus immer männliche
Figuren, für die Opfer überwiegend Frauen und Kinder. Ravensbrück ist die
Inkarnation für diese mythische Symbolsprache, hinter der aber auch ein
ganzes Mythenverständnis steht. So wird verständlich, dass Ravensbrück
nicht die Geschichte des erfolgreichen antifaschistischen Widerstandes,
weder des eigenen wie in Buchenwald, noch des von außen kommenden wie
in Sachsenhausen, erzählen durfte. Die Frauen und Kinder waren lediglich
die Opfer, mit denen Mitleid geübt wurde. Das große Vorbild des aktiven
Widerstands, aus dem Kraft für den jungen Staat und für den Aufbau einer
neuen Gesellschaft geschöpft werden sollte, wurde in den Männerlagern
geschaffen, wo auch die größeren rituellen Inszenierungen stattfanden.
Trotz der schwächeren Bedeutungszuweisung mittels der Opfersemantik
an das Mahnmal in Ravensbrück sollte diese Erinnerungsstätte sinnstiftend
mit Politik und Gesellschaft der DDR, besonders für die Frauen, wirken. Der
Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) übernahm in Ravensbrück
die Rolle des Protektors, und gleichzeitig diente ihm die Gedenkstätte als
mythischer Ort seiner Rechtfertigung und Identiftkation. Im Komitee für die
Einweihung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück war sowohl die Vor-
sitzende des DFD, Ilse Thiele, als auch das Mitglied des Präsidiums des
Bundesvorstandes des DFD, Wilhelmine Schirmer-Pröscher, vertreten.

123
Schirmer-Pröschers Rede im Januar 1959 bringt die Absicht zum Ausdruck,
Ravensbrück zu einer mythischen Zeitinsel zu machen, durch die die Frauen
auf die DDR verpflichtet werden sollen. Als wichtigste Frauenorganisation
der DDR tritt der DFD die Nachfolge der in Ravensbrück gefangengehalte-
nen und ermordeten Frauen an, da "unsere stolze Frauenorganisation, der
DFD, ... einen großen Teil unserer Frauen umfasst.,,205 Die Vorbereitungszeit
bis zur Einweihung der Gedenkstätte soll in der DDR und in Westdeutsch-
land für die Mobilisierung der Frauen genutzt werden.

"Wir müssen ihnen Ravensbrück vor Augen halten, ihnen die Schrecken des Faschismus
aufZe~en und ihnen klarmachen, dass der Militarismus der Todfeind des deutschen Volkes
ist.,,2

In patemalistischer Art und Weise erhob sich die stellvertretende Vor-


sitzende des DFD in die Position einer Verkünderin für ein besseres Zeital-
ter. Sie besaß, die Organisation im Rücken, das Wissen um die wahren Zu-
sammenhänge, die besagten, Faschismus und Militarismus, d.h. die Seite
äußerer Aggressivität des Nationalsozialismus, seien zwei Seiten eines Gan-
zen, und gleichzeitig bildeten Militarismus und die Bundesrepublik ein
Bedeutungspaar. So war die Bedrohungsgeschichte des Antifaschismusmy-
thos in die Gegenwart gerückt und der Bogen zur System- und Blockausei-
nandersetzung geschlossen.
Die moralische Verpflichtung, die sich der DFD als Aufklärer auferleg-
te, implizierte gleichzeitig dessen Führungsanspruch gegenüber den Frauen
in der DDR und eine moralisch höhere Stellung in der Gesellschaft als die
"Durchschnittsfrauen" . Dies wird besonders durch folgende Passage belegt:

"Es gibt noch sehr viele Frauen bei uns, die ohne Parteilichkeit durch das Leben gehen ....
Die Frauen müssen ihre Neutralitätsstellung aufgeben. Die Durchschnittsfrau hält es doch
mit dem Lager, das rur sie am stärksten erscheint. Darum müssen wir den Frauen sagen,
wie stark unser Weltfriedenslager, wie unüberwindlich das sozialistische Lager ist.,,207

Die politische Unbedarftheit und Dummheit, mit der die "Durch-


schnittsfrau" in diesem Abschnitt phallisch analysiert wird, zeugt von der

205 Protokoll der konstituierendeo Sitzung des Komitees filr die Einweihung der Mahn- und
Gedenkstätte Ravensbrück vom 19.01.1959 a.a.O.: 4. In der Rede von Wilhelmine Schirmer-
Pröscher heisst es u.a.: "Wir Versammelten hier sind alles Menschen, die mehr oder weniger
grosse Organisationen vertreten. Da ist beispielsweise unsere stolze Frauenorganisation, der
DFD, der einen grossen Teil unserer Frauen umfasst. Unsere Aufgabe müsste es sein, diese
Vorbereitungen auszunutzen, um alle Frauen in unserer DDR und Millionen Frauen in West-
deutschland zu mobilisieren."
206 ebenda.
207 ebenda.

124
Arroganz der Funktionärselite gegenüber der nonnalen Bevölkerung, in
diesem Fall mit femininem Akzent. Die weiblichen Funktionärinnen des
DFD verstanden sich, wie am vorangegangenen Beispiel schon ablesbar ist,
als etwas Besseres und Höheres, das auf die Masse halb bedauernd, halb zur
Erziehung berufen, herabschaute, um zu erklären, wie die bessere Zukunft
zu erreichen sei. Auch an dieser Stelle wird wieder die mythische Verkür-
zung durch die Zeiten und verschiedenen Orte hindurch vorgenommen:
Faschismus - Kapitalismus - Krieg und als Gegenpart Antifaschismus -
Sozialismus - Frieden. Außerdem wurde die Geschichte von der nur schein-
baren Stärke des "westlichen Lagers" und der wirklichen Stärke des Frie-
dens- bzw. des sozialistischen Lagers erzählt, die besonders in der Aufbau-
generation und der ihr folgenden Generation zum großen Teil geglaubt
wurde. Besonders großen Einfluss erlangte die Überzeugung, dass Kapita-
lismus aggressiv ist und deshalb dem Faschismus nahe steht. Ravensbrück
sollte dafür Beweis sein und besonders die Frauen auf ihre Zustimmung fiir
die neue Gesellschaft in der DDR einschwören.

3.1.2.4 Die Neue Wache als Mahnmal für die Opfer des Faschismus
und Militarismus

Anband der Neuen Wache wird die Angliederung von Denkmälern an die
jeweiligen legitimatorischen Bedürfnisse verschiedener Herrschaftssysteme
mit Hilfe von symbolischen Mitteln besonders deutlich. Kein anderes Bau-
werk musste seine Aussagekraft, entsprechend den wechselnden politischen
Regimen, so großen Wenden und abrupten Veränderungen unterwerfen wie
das von Schinkel erbaute Wachegebäude Unter den Linden in Berlin. 208
Schon seine ursprüngliche Bestimmung war politisch gewesen, es diente der
Erinnerung an die Befreiungskriege gegen Napoleon. 209 Nach dem ersten
Weltkrieg war die Wache Ort der Ehrung der für das deutsche Vaterland
Gefallenen. Ihr Outfit entsprach dem damaligen Gebrauch des Totenkultes
mit viel Pathos und ehernen Materialien. Besonders der aus Edelmetall ge-
fertigte Eichenkranz auf einem Granitblock in der Mitte des Raumes knüpfte

208 Die Neue Wache hat einen quadratischen Grundriss, vier Ecktünne, Sockel und Attika. Der
Portikus ist vorgelagert und wird in der Front von sechs und zwischen den Ecktünnen von vier
Säulen getragen. Über den Säulen im Gebälk sind zehn Siegesgöttinnen und Allegorien zu se-
hen, die Kampf, Sieg, Flucht und Niederlage darstellen. Aus: Erhalten, zerstören, verändern.
Denkmäler der DDR in Ostberlin. Ausstellungskatalog. Aktives Museum des deutschen Wi-
derstands. Berlin 1990: 64.
209 Die Neue Wache wurde 1816-1819 nach den Plänen von Schinkel errichtet. In: Erhalten,
zerstören, verändern. Denkmäler der DDR in Ost-Berlin. Ausstellungskatalog. ebenda.

125
an die nationaldeutsche Tradition der Erd- und Natunnotivsymbolik der
deutschen Nationwerdung an und sollte Treue, Ewigkeit und Opferbereit-
schaft symbolisieren. 2lo Die Nationalsozialisten bedachten die Neue Wache
schließlich mit der Funktion des "Reichsehrenmals" , das die zentrale Stätte
der Ehrung der Kriegstoten als "Ehrenmal deutschen heldischen Sterbens"
darstellte. 21 I
Nach dem zweiten Weltkrieg stand das Denkmal zunächst leer. 1956
beschloss der Magistrat von Berlin, die Neue Wache zum Ehrenmal für die
"Opfer des Faschismus und der beiden Weltkriege" zu gestalten, was im
Rahmen des sogenannten Verschönerungsplanes von Berlin vollzogen wur-
de. 212 Diese Entscheidung verbildlichte den Willen, das Alte zu überwinden
und ein bisher von den "Feinden" benutztes Denkmal mit der Symbolik des
neuen Staates DDR zu besetzen, der das Gegenteil von dem darstellen sollte,
was bisher gewesen war. Der Kampf der Symbole als Kampf zwischen den
politischen Ordnungen fand in der Neuen Wache seine Inkarnation. Die
DDR reihte sich somit in die Linie der ständigen Neubesetzung des Gebäu-
des mit systemeigenen Symbolen ein. War die Neue Wache bisher Identität-
sort der Nationalsozialisten, so wurde sie in der DDR zu einem heiligen Ort
der Opferverehrung der durch eben diese Nationalsozialisten Ermordeten.
In der Rekonstruktion des durch Kriegszerstörungen geschädigten Ge-
bäudes stellte man den Zustand von 1931 wieder her, so dass die Wache im

210 Nach dem ersten Weltkrieg wurde ein Wettbewerb rur die Neue Wache ausgeschrieben.
Schliesslich erhielt Tessenow den Auftrag. Nach seinen Plänen wurden die Fenster zugemauert
und die Wände verblendete man mit Naturstein. In die Mitte des Raumes wurde ein Granit-
block aufgestellt, aufdem ein Eichenkranz aus Metall gelegt war. ebenda.
211 Die Nationalsozialisten rugten der Tessenowschen Gestaltung lediglich ein grosses Holzkreuz
hinzu. Aus: Kaiser, Katharina: Offene Fragen. Kassandrarufe. Die Diskussion um die Neue
Wache. In: Kulturpolitische Mitteilungen 1994/1: 47/48.
212 Magistratsbeschluss Nr. 752 vom 21.09.1956. Darin heisst es: "1. Der Magistrat stimmt dem
vom Chefarchitekten ausgearbeiteten Verschönerungsplan zu. Der Vorsitzende der Plankom-
mission wird beauftragt, gemeinsam mit dem Chefarchitekten und den zuständigen Fachabtei-
lungen eine Aufgliederung dieses Verschönerungsplanes rur die einzelnen Planjahre des zwei-
ten Fünfjahrplanes vorzunehmen und dem Magistrat zur Beschlussfassung vorzulegen. Und: 2.
Das erste Teilstück dieses Verschönerungsplanes, das die Umgestaltung von Plätzen und Stras-
sen - wie sie in der Anlage aufgeruhrt sind - enthält und mit einer Summe von 12,5 Millionen
DM geschätzt wird, ist sofort zu beginnen und im Jahre 1957 abzuschliessen ... " Zur Neuen
Wache hiess es unter Punkt 4: "Die Neue Wache von Schinkel ist als Mahnmal rur die Opfer
des Faschismus und der heiden Weltkriege wiederherzustellen in ihrer vor dem Kriege vorhan-
denen Form und dem neuen Inhalt entsprechend zu gestalten. Die Arbeiten sind sofort zu be-
ginnen und bis zum Jahre 1957 abzuschliessen. Die Projektierung rur die reinen Bauarbeiten
ist bis zum 31.12. 1956 fertigzustellen. Für die bildhauerische Innengestaltung ist sofort ein
engerer Wettbewerb auszuschreiben. Die Arbeiten müssen im Jahre 1957 abgeschlossen sein."
Quelle: Akte Nr. 1012 des Landesarchivs Berlin.

126
Prinzip das von Tessenow geschaffene Aussehen erhielt, das allerdings
durch die angebrachte Inschrift an der Stirnwand des Innenraumes, "Den
Opfern des Faschismus und Militarismus", von der neuen Zielrichtung über-
lagert wurde. Der Granitblock wurde weiterhin in der Mitte gelassen, der
Eichenkranz allerdings, der 1948 nach Westberlin gebracht worden war,
ersetzte man nicht mehr.
In der Umgestaltung der neuen Wache 1956 können zwei mythische
Ziele ausgemacht werden. Zum einen sollte das Alte überwunden und zer-
stört werden. Dem entsprach die Widmung des Denkmales und die Anwei-
sung des Magistrats, die Wache "dem neuen Inhalt entsprechend zu gestal-
ten.,,2)3 Die ausdrückliche Opferbezogenheit bezieht das Denken an die
Täter und deren moralische Verurteilung automatisch mit ein. Hier ging es
im Gegensatz zu der Neuköllner "Zentralen Gedenkstätte für die Kriegsto-
ten" nicht nur um die gefallenen Soldaten und Offiziere, die dem NS-
Regime gedient hatten. Letztendlich hätte Hitler damit selbst als Kriegstoter
bezeichnet werden können. Hier verlagerte man den Schwerpunkt auf dieje-
nigen, die ermordet wurden und durch Kriegshandlungen umgekommen
waren. Aber auch die deutschen Soldaten waren in diese Opferrolle mit
eingeschlossen.
Zum anderen soll die Wache "in ihrer vor dem Kriege vorhandenen
Form,,214 wiederhergestellt werden. Der Magistrat entschied sich nicht für
ein völlig neues Konzept der Innenausstattung, und man kann annehmen,
dass dabei nicht nur Finanz- und Materialmangel sowie Zeitdruck aus-
schlaggebend waren. Die Wiederaufnahme der Ausstattung von Tessenow
weist sowohl auf das Anknüpfen an die deutsche Geschichte und Tradition
vor dem zweiten Weltkrieg und das Eingestehen einer historischen Kontinu-
ität als auch auf eine nationale Tradition hin. Es sollten nicht alle Brücken
zu dem, was war, abgebrochen werden. Auch die ausdrückliche Betonung
von Schinkels Namen in der Magistratvorlage macht deutlich, dass die DDR
nicht nur den Antifaschismus f6rderte, sondern auch die "positiven Traditio-
nen" der deutschen Geschichte hochhielt. Antifaschismus und Befreiungs-
kriege gingen in dem Selbstverständnis der DDR-Eliten durchaus gut zu-
sammen. So bedeutete die Neue Wache als Gedenkstätte für die Opfer des
Faschismus und Militarismus nicht nur einen Sieg über das "schlechte Al-
te", sondern auch ein Anknüpfen an das "gute Alte", einerseits Zerstören,
andrerseits Aufbauen und Weiterbauen. Die Übernahme der Tessowschen

213 ebenda. Abs. 4: 44.


214 ebenda.

127
Gestaltung bedeutete zudem Identitätssetzung für das gesamte deutsche
Volk.
In den 60er Jahren verlor diese mythische Richtung an Bedeutung. Vor
allem erschien es der Partei- und Staatsfiihrung nicht tragbar, mit der Innen-
ausstattung weiterhin an die Zeit der Weimarer Republik und die Ehrung
der im ersten Weltkrieg Gefallenen anzuknüpfen. So wurde die Neue Wache
1969 in den letzten Regierungsjahren von Walter Ulbricht umgestaltet, in
denen die DDR immer stärker eine eigene Mythologie anstrebte. Die Umge-
staltung setzte nun ganz neue Akzente. Sie gab dem Inneren ein neues
DDR-spezifisches Gesicht. Der Boden wurde pantheonähnlich mit hellem
Marmor ausgelegt, wobei man die Mitte mit einer Vertiefung aus grünlichen
Marmor versah. An der Stirnwand prangte jetzt das DDR- Emblem. Von der
Ehrung aller deutschen Opfer des Faschismus und Militarismus konnte
keine Rede mehr sein.
Der Granitblock wurde durch einen geschliffenen Glasblock ersetzt, in
dessen Innerem eine ewige Flamme brannte und sich in dem geschliffenen
Glas hundertfach brach. Das ewige Feuer erinnerte an das ewige Licht auf
den Altären der katholischen Kirchen oder Friedhöfe. Es brannte jedoch
nicht ruhig und stetig wie jene, das ewige Leben und die Beständigkeit der
Kirche symbolisierend, sondern es war ein unruhig flackerndes Licht, das,
durch den Glasschliff hervorgerufen, nach allen Seiten zuckte und züngelte
und somit seine Betrachter in eine Art mystischen Bann zog. Dieses Licht
hatte eine ähnliche Bedeutung wie die Altarlichter in der Kirche, es sollte
auf die Ewigkeit und die Dauer des Vermächtnisses der geopferten Antifa-
schisten, hinweisen: Der Antifaschismus der DDR ist heute und wird immer
sein! Andrerseits symbolisierte das unruhige Flackern nicht Harmonie und
Kontinuität, sondern Veränderung und Bewegung. Dauer und Verändern
waren das Credo dieser Flamme, die die Grundlage für den Antifaschismus
in der DDR darstellen sollte. Allerdings wirkte diese eigenartige Flamme in
dem schweren Glasquadrat wie eingeschlossen und gefangen. Das lebendige
Licht und der neureich wirkende Glaspanzer waren starke Gegensätze, die
wohl unbewusst die ganze Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit des
gesamten DDR-Antifaschismus widerspiegelten. So anziehend und lebendig
die zuckende Flamme wirkte, so unnahbar und unbeweglich war der Glas-
block.
An wen sich dieses Lichtzeichen wandte, wurde aus den beiden Grab-
platten davor sichtbar, die dem "Unbekannten Widerstandskämpfer" und

128
dem "Unbekannten Soldaten" gewidmet waren. 215 Die Opferzuweisung
bezieht sich hier also nicht allein auf die antifaschistischen Widerstands-
kämpfer, sondern auch auf diejenigen auf der anderen Seite, die Soldaten
der Wehrmacht. Die breite Opferdefinition erlaubte ein breites Feld der
Identitätsfindung für die DDR-Bevölkerung. Hier wurde also auch der eige-
nen gefallenen Angehörigen ehrend gedacht. Und diese stellte man sogar an
die Seite der antifaschistischen Widerstandskämpfer, der "echten Opfer",
mit denen sich die neuen Machthaber identifizierten. Die Verkehrung des
Täter- in den Opferstatus, einer der wesentlichsten Punkte des DDR-
Antifaschismus, fand damit einen sichtbaren Ausdruck. Wenn sich aller-
dings die Westdeutschen als Opfer und Gegner des Nationalsozialismus
darstellten, wurde dieses Prinzip angeprangert und als Neofaschismus der
Bundesrepublik deklariert. Die Freisprechung der ostdeutschen Bevölkerung
von Schuld, ihre Aufnahme in die Reihen der Opfer und die damit vollzoge-
ne Separierung in die "guten" und "schlechten" Deutschen führte genau zu
den tiefen Widersprüchen des offiziellen Antifaschismus der DDR und dem
Niedergang dieses Mythos'.
Im "Neuen Deutschland" (ND) wurden die Feierlichkeiten so kommentiert:

"Eine würdige Stätte des Gedenkens an die Toten und ihre Ehrung durch die Lebenden, ein
Denkmal zur Besinnung an die Traditionen des antifaschistischen Kampfes ist im Herzen
der Hauptstadt der DDR entstanden.,,216

Die Betonung der Lage des Denkmals im Herzen der Hauptstadt zeigte
seine zentrale symbolische Bedeutung und deren mythisierende Funk-
tionszuweisung. In der politischen Mitte des Landes befand sich der lebens-
spendende Keim für alles, was in diesem Lande entstanden ist und in Zu-
kunft entstehen sollte. Und dieser Urkeim des "neuen Staates" wurde ent-
sprechend gewürdigt und behütet wie das Allerheiligste in einem jüdischen
Tempel - die Heilige Schrift. Die Asche der Toten verpflichtete so wie einst
die Heilige Schrift.

215 Unter der Grabplatte filr den "Unbekannten Widerstandskämpfer" befmdet sich die Urne mit
der Asche eines unbekannten KZ-Häftlings, der 1945 bei einem Evakuierungsmarsch des KZs
in Spitzkunnersdorf von der SS erschossen wurde. Ausserdem wurde der Urne blutgetränkte
Erde aus zehn Konzentrationslagern beigegeben. Die Urne des "Unbekannten Soldaten" ent-
hält die Asche eines Mannes, der in den Apriltagen 1945 bei Kampfhandlungen in der Nähe
der Gemeinde Gross-Kuschar ums Leben gekommen war. In dieser Urne befindet sich Erde
von neun Schlachtfeldern, Z.B. aus Moskau, Stalingrad, Narvik, Warschau und der Norman-
die. Aus: Erhalten, zerstören... a.a.O.: 64/65.
216 Neues Deutschland vom 07.10.1969.

129
Die antiwestdeutsche Ausrichtung dieses zentralen Ortes, oder gar sym-
bolischen Ursprungsortes, des antifaschistischen Mythos der DDR war un-
verkennbar. Das Anbringen des DDR-Emblems an der Stirnseite des Innen-
raumes bei gleichzeitig umfassender Opferdefinition :fiir alle Antifaschisten
und alle gefallenen Soldaten schließt die Bundesrepublik automatisch aus
und lässt sie in die Reihe der Täter rücken. Auch die Lage des Ehrenmals
unweit der Grenze zu Westberlin macht die Besetzung des öffentlichen Rau-
mes in der Nähe des anderen deutschen Staates deutlich, es sollte sozusagen
ein "Aushängeschild" auch gegen den "Westen" sein. Der Kommentar des
ND zur Wiedereröffnung veranschaulicht diese politische Ausrichtung ein-
dringlich:

"So ehrt dieser Staat der Arbeiter und Bauern das Andenken an die Opfer des Faschismus
und bekräftigt seine Entschlossenheit, durch eine starke, zuverlässig geschützte Arbeiter-
und Bauernmacht dem in Westdeutschland wiedererstandenen Imperialismus, Militarismus
und Neofaschismus den Weg zu neuem Unheil zu versperren.,,217

Die Wache war also nicht nur der Hort der heiligen Asche der Antifa-
schisten und gefallenen Soldaten, sondern auch ein symbolisches Schutz-
schild für die DDR vor der nahen Bedrohung des "Bösen" aus dem Westen,
der die Arbeiter- und Bauemmacht durch "Imperialismus, Militarismus und
Neofaschismus" gefährdete. Die Funktion des Gebäudes als Wache sollte
durchaus auch als Wache, nicht nur in ihrer ehrenden, sondern vor allem in
ihrer schützenden Option symbolisch aufgefasst werden. Deshalb wurde sie
ja auch durch Militär bewacht.
Um die Neue Wache rankte sich eine ausgeprägte Ritualisierung. Nicht
nur Staatsbesuche, offizielle Delegationen ausländischer Gäste und Kinder-
und Jugendgruppen besuchten die Gedenkstätte an zentraler Stelle in Berlin,
sondern von 1962 an wurde das Gebäude durch eine Ehrenwache von Solda-
ten des Wachregiments "Felix Dzerzynski,,218 der Nationalen Volksarmee

217 ebenda.
218 Felix Edmundowitsch Dzerzynski war russischer und polnischer Arbeiterfiihrer, später sowjeti-
scher Staatsmann. Er wurde am 11.09.1877 in Dshershinowo (Oblast Grodno, Belorussland)
geboren und ist am 20.07.1926 in Moskau gestorben. Er entstammte dem kleinen polnischen
Landadel des Gouvernements Vilnius. Als Gymnasiast trat er 1895 der Litauischen Sozialde-
mokratie bei. 1897 wurde er verhaftet und 1898 nach Sibirien verbannt, von wo aus er 1899
flüchtete. Im gleichen Jahr wurde er einer der Führer der Sozialdemokratie des Königreiches
Polen und Litauens, die später mit den Bolschewiki eng zusammenarbeitete. D. nahm an der
Revolution von 1905 teil und verbrachte 11 Jahre in zaristischer Haft. 1906 wurde er in das
ZK der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) kooptiert und 1907 als Mit-
glied ins ZK gewählt. 1917 nahm er in entscheidenden Positionen an der Oktoberrevolution
teil. Am 20.12.1917 wurde er von Lenin zum Vorsitzenden der Gesamtrussischen Ausseror-
dentlichen Kommission zum Kampf gegen die Konterrevolution und Sabotage (Tscheka) er-

130
(NYA) bewacht, die zu beiden Seiten des Eingangs auf einem Sockel ste-
hend, mit präsentiertem Gewehr, unbeweglich verharrend, postiert waren.
Die Wachablösung im Stechschritt gab das originalgetreue Abbild eines
militärischen Rituals auf einem preußischen Kasernenhof wieder und lenkte,
ähnlich wie ein Straßentheater, die Aufmerksamkeit der Fußgänger "Unter
den Linden" auf die Wache. 219 Allerdings entbehrte diese Aufführung nicht
einer gewissen Lächerlichkeit, und der eigentlich ernste Anlass - die Ehrung
der Opfer - verkam zu einem operettenhaften Vergnügen, das von der Par-
tei- und Staatsfiihrung sicher eher als Machtdemonstration denn als Ehren-
ritual gedacht war. Außerdem kann hier wieder an die beschützende Funkti-
on der Wache angeknüpft werden. Die Wachsoldaten stellten symbolisch
den Schutz der Werte der DDR und letztendlich des Landes überhaupt dar.
Sie sollten den Eindruck der unbedingten Kampfbereitschaft, des Nicht-von-
der-Stelle-Weichens gegenüber dem "Feind" Bundesrepublik erwecken.
Auch die Szenen zur Einweihung des umgestalteten Denkmals 1969
waren symptomatisch fiir die Bedeutung, die die Partei- und Staatsfiihrung
der Neuen Wache als zentralem antifaschistischem Denkmal der DDR zuge-
dachte. Schon die Anberaumung der Neueröffnung am Vorabend des 20.
Jahrestages der DDR am 6.10.1969 weist auf die explizite Inanspruchnahme
des Antifaschismus durch die DDR hin. Die Art und Weise der Feierlichkei-
ten könnten mit der Beisetzungsfeier eines hohen Staatsmannes mit militäri-
schem Geleit, Ehrentribüne, Ehrenbannern und Trauermarsch verglichen
werden. Der sakrale Bezug wäre eine Prozession zu Fronleichnam oder auch
zu einem orthodoxen Kirchenfest. Die Trauergemeinde bestand aus zehntau-

nannt. 1921 erlangte er weiterhin Funktionen wie Volkskommissar rur Verkehrswesen, Volks-
kommissar rur lnnere Angelegenheiten und Vorsitzender der Kommission rur die Verbesse-
rung des Lebens der Kinder. Ab 1924 war er Kandidat des Politbüros der KPdSU und Vorsit-
zender des Obersten Volkswirtschaftsrates. In: Meyers Neues Lexikon, Leipzig: VEB Biblio-
graphisches Institut 1972: Band 4.
219 Zur Wachablösung öffuete sich als erstes die schwere Seitentür des ehern. Museums rur deut-
sche Geschichte Unter den Linden, und zwei Soldaten und ein OffIzier des Wachregiments
marschierten im Gleichschritt bis kurz vor die Wache. Der Vorderste erteilte die Befehle. Die
letzten Schritte wurden im Stechschritt vollzogen. Direkt vor der Mitte der Wache angelangt,
machten alle eine Wendung mit dem Gesicht zur Wache. Nun stiegen die beiden bisher wa-
chenden Soldaten im Gleichschritt vom Sockel und marschierten im Stechschritt auf ihre Kol-
legen zu und übergaben diesen das Gewehr, gingen um sie herum und stellten sich auf. Dar-
aufhin marschierten die neuen Wachenden im Stechschritt auf die Wache zu und plazierten
sich auf den Sockeln, wo sie in eine Art Starre verfallen mussten. Nun gab es wieder eine
Wendung bei den vor dem Gebäude Stehenden und der Offizier marschierte mit den Soldaten
ab.

131
senden Teilnehmern, Militär und der Staatsmacht, vertreten durch die höch-
sten Repräsentanten der Partei und des Staates?20

3.1.2.5 Gedenkstätte für die im spanischen Bürgerkrieg Gefallenen

In der DDR existierten neben den großen antifaschistischen Mahn- und


Gedenkstätten unzählige kleinere Denkmäler, die nicht den Charakter von
Kultstätten von nationalem Ausmaß hatten, an denen Zeremonien von Tau-
senden Teilnehmern stattfinden konnten. Diese kleineren Denkmäler wur-
den vor allem von den örtlichen gesellschaftlichen und politischen Instituti-
onen und Organisationen zum Gedenken und zur Mahnung an die Opfer des
Nationalsozialismus genutzt. Hier fanden lokale Feiern zu den öffentlichen
Gedenktagen und Begehungen durch Jugendgruppen und Schulen der Um-
gebung statt. Gleichzeitig wurde beabsichtigt, dass die Menschen bei der
Verrichtung ihrer täglichen Angelegenheiten, auf dem Heimweg von der
Arbeit, auf Einkaufstouren, Spaziergängen oder Friedhofsgängen zu den
eigenen Verstorbenen an diesen Denkmälern zuf'allig vorbeigehen und auf
die antifaschistische Botschaft aufmerksam gemacht werden. Beispiele sind
das Mühlhausener Mahrunal am Bahnhofsplatz, das Zerbster Mahrunal, das
Thälmann-Denkmal in Weimar, das Denkmal im ehemaligen Landgericht
(heute Georg Schumann-Bau der TU) in Dresden sowie die Mahrunale auf
dem Südfriedhof in Leipzig, auf dem Heidefriedhof in Dresden und dem
Gertraudenfriedhof in Halle.
Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Art mythischer Kommunikation
ist die Gedenkstätte für die Kämpfer gegen Faschismus im Spanischen Bür-
gerkrieg im Berliner Friedrichshain, die 1968 von Fritz Cremer und Sieg-
fried Krepp geschaffen wurde. Der Ort sollte Anschluss an die revolutionäre
deutsche Tradition bieten. Im Friedrichshain liegen nämlich die Märzgefal-
lenen von 1848 begraben. 221 Die Bronzefigur des Interbrigadisten suggeriert
einen wutentbrannten Kämpfer, der mit erhobenem Schwert aus dem Schüt-
zengraben steigt. Es wird nicht klar, ob er im Begriff ist, auf den unsichtba-
ren Feind einzuschlagen oder aber die anstürmenden Franco-Truppen auf-
zuhalten. Diese etwas zweideutige Wirkung entsteht durch die Haltung des

220 Die Beschreibung der Feierlichkeiten im ND vom 06.10.1969 sind sehr aufschlussreich: "Am
Vorabend der sozialistischen deutschen Republik wird im Zentrum ihrer Hauptstadt das
Mahnmal der Opfer des Faschismus und Militarismus wiedereröffuet. .. Das Ehrengeleit for-
miert sich gegen 16 Uhr in der Glinkastrasse: die Mitglieder des Politbüros des ZK, Erich Ho-
necker, usw., marschieren vorneweg...
221 BZ am Abend vom 07.09.1968.

132
Schwertes, das nicht zum Angriff nach vom zeigt, sondern sich leicht nach
hinten neigt. Die Defensivposition vermittelt den Eindruck des Unentschie-
denseins. Fritz Cremer gestaltete seine Plastik so, als wäre der Betrachter
gerade in eine Szene des Spanischen Bürgerkrieges getreten, wo noch nicht
klar war, welche Partei siegreich daraus hervorgehen würde. Die linke Hand
hält der Interbrigadist, zur Faust geballt, dicht vor sein grimmiges, zum
Letzten entschlossenes Gesicht. Die Figur ist von einer übermäßigen Span-
nung durchzogen, so dass der überstreckte Körper jeden Augenblick zu
zerreißen scheint. Von der Szene geht eine mächtige Kraft aus, die eine
mitreißende Wirkung hat. Die geballte Faust soll nicht nur die Kampfent-
schlossenheit und Wut darstellen, sondern sie ist auch Symbol - das Symbol
der Arbeiterklasse. Es weist auf die politische Zuordnung hin. Auch wenn
im spanischen Bürgerkrieg viele Intellektuelle als Interbrigadisten freiwillig
kämpften, so wurde die spanische Republik von 1936 und ihre Verteidigung
vor allem der Tradition der Arbeiterklasse zugeschlagen. Der Spanienkämp-
fer zeigt deshalb das Symbol der Arbeiterbewegung.

Spanienkämpfer- Denkmal in Berlin- Friedrichshain von Fritz Cremer.

Die seitlich neben der Bronzefigur befestigten vielfigürlichen Reliefplat-


ten, die verschiedene Geschichten aus dem antifaschistischen spanischen
Bürgerkrieg und den Kämpfen der Interbrigadisten erzählen, sind eine Art

133
Erklärung der historischen Geschehnisse und rahmen die Handlung der
Hauptfigur ein. Sie stellen die Fortfiihrung dessen dar, was die Plastik durch
ihre Figurensprache symbolisch verkörpert - das große Anliegen, die heroi-
sche Tat und ihr tragischer Ausgang. In dieser Art fassten die Künstler
dieses für den DDR-Antifaschismus wichtige Ereignis auch auf, ohne mit
der mythischen Absicht der Eliten vollkommen konform zu gehen.
Das Interbrigadistendenkmal wurde ebenso wie die Neue Wache für Ri-
tuale zur Ehrung der deutschen antifaschistischen Widerstandskämpfer ge-
nutzt. Zum "Internationalen Gedenktag für die Opfer des faschistischen Ter-
rors" fanden in der Umgebung des Denkmales Kranzniederlegungen und
Kundgebungen statt, die zwischen dem Ereignis des verlustreichen Kampfes
im spanischen Bürgerkrieg, in dem 3000 deutsche Interbrigadisten ihr Le-
ben ließen, und der Politik und Gesellschaft der DDR einen Bogen schlugen.
Als Erich Honeckers zum 50. Jahrestages der Formierung der Internationa-
len Brigaden 1986 am Denkmal persönlich erschien und fuhrende Personen
der DDR-Elite Kränze niederlegten, wurde deutlich, dass die DDR auf die
Nachfolge dieses Ereignisses verpflichtet werden sollte. Ein Vertreter der
Sektion der Spanienkämpfer im Komitee der antifaschistischen Wider-
standskämpfer bezeugte diese Implikation:

"Das Ehren~al soll den dia~ektis.chen Zusammenha~2zwischen der nationalen Aufgabe und
dem proletansehen InternatlOnahsmus ausdrücken."

Die Interbrigadisten im spanischen Bürgerkrieg umgab durch ihre ge-


fährliche, aber auch abenteuerliche Mission eine Aura des Anarchistischen,
des Ungehorsams, des Widerstandes und des Kampfes gegen Unrecht und
Unterdrückung. In vielem erinnerten sie an mittelalterliche Piraten, an Ge-
schichten von Störtebecker oder Andreas Hofer, deren eindrucksvolle Spu-
ren Sagen und Märchen hervorbrachten, die an intensiver Wirkung nie
nachließen. Der Reiz von mittelalterlichem Heldentum und neuzeitlichem
Abenteurertum, verbunden mit Vorstellungen christlicher Gleichheits- und
Gerechtigkeitsvorstellungen, bot eine optimale Grundlage für Identität mit
einer Gesellschaft, die die sozialistischen Ideale von Gleichheit und Gerech-
tigkeit verwirklichen wollte. Die deutschen Interbrigadisten im spanischen
Bürgerkrieg stellten für die DDR das dar, was die Partisanen der Resistenza
für Italien und der Resistence für Frankreich hinsichtlich ihres antifaschisti-
schen Mythos' bedeuten - eine anziehende Legende, die über faschistische

222 Prof Albert Schreiner von der Sektion der Spanienkämpfer im Komitee der antifaschistischen
Widerstandskämpfer zur BZ am Abend, BZ am Abend vom 07.09.1968.

134
Mittäterschaft und Tatenlosigkeit wirkungsvoll hinweghilft. So hieß es auch
im "Neuen Deutschland" zu dem Spanienkämpferdenkmal:

"Und, so steht es in der Figur ~schrieben: Das Erlebnis Spanien, groß und tragisch
zugleich, lehrend und vorbildhaft." 3

Wären nicht einige kleine Störelemente in der Legitimationsgeschichte


vorhanden gewesen, hätte der Kampf der Interbrigadisten an und für sich
einen wunderbaren und klaren Kurzschluss zwischen der DDR nach 1949
und dem Kampf der Interbrigadisten zwischen 1936 und 1939 geben kön-
nen. Diese Störelemente für einen Kurzschluss zwischen der ehrenvollen
Vergangenheit und der "lichten" Gegenwart lagen besonders in der Art und
Weise des politischen Verhaltens. Während die Interbrigadisten freiwillig
und selbständig handelten, so waren diese Verhaltensweisen in der DDR
alles andere als erwünscht. Gänzlich unannehmbar war dieser Geruch von
"Partisanentum" für die DDR-Elite, wo blieb da die Parteidisziplin?224 Ganz
ähnlich verhielt es sich mit dem Mythos um ehe Guevara.
Ein weiterer nicht tradierter Effekt war, dass die Lieder wie "Spaniens
Himmel breitet seine Sterne,,225 oder Erzählungen über den spanischen Bür-
gerkrieg die ganz natürliche Sehnsucht weckten, den Ort des großen Ge-
schehens mit eigenen Augen zu sehen und die mit dem Blut der Helden
getränkte Erde einmal zu betreten. Doch Spanien blieb ein ortloser Mythos,
es gehörte zum anderen "unerreichbaren" Teil der Welt. Die Orthaftigkeit
des Mythos' wurde effektlos - eine der wichtigsten Bedingungen dafür, dass
ein Mythos auch ein Mythos werden kann.
So bildeten die Interbrigadisten des spanischen Bürgerkrieges schon ei-
nen Identitätspunkt für viele DDR-Bürger, hauptsächlich für Jugendliche
und Intellektuelle. Diese Träger des Spanienmythos verbanden jedoch ande-
re Ziele und Werte mit ihm als die Parteielite.

223 Neues Deutschland vom 14.04.1968.


224 Das Wort Partisan erfuhr in der DDR in der Wortverbindung "Partisanenmethoden" eine
negative interpretation und galt als disziplinlos, planlos, subversiv. (Anmerkung der Autorin)
225 in dem Lied heisst es in der ersten Strophe: "Spaniens Himmel breitet seine Sterne über unsren
Schützengräbern aus, und der Morgen grüsst uns aus der Ferne, bald geht es zu neuem Kampf
hinaus." Obwohl dieses Lied ein typischen Kriegs- und Soldatenlied ist, wurde es in Kinderfe-
rien-, Pionier- und FDJ-Lagern sehr häufig gesungen und erweckte bei den Kindern und Ju-
gendlichen die Vorstellung von eigenem Heldentum im Kampf gegen den Faschismus. Gleich-
zeitig rief das Lied eine romantische Sehnsucht nach dem fernen Spanien wach, die in der Rea-
lität enttäuscht wurde. Vgl. "Lied der internationalen Brigaden aus dem Spanischen Bürger-
krieg" von 1936. in: Ringsum erwachen Lieder. Chorbuch tUr Oberschulen, 9. - 12. Klasse.
Berlin: Volk und Wissen 1956: 103.

135
Der Spanienkrieg gehörte zu den Geschichten, die wirklich ein Mythos
geworden sind und auch entscheidend bei der Formierung eines antifaschis-
tischen Mythos' mitwirkten, durch die Frustrationen angesichts der politi-
schen Realität in ihrer Wirkung jedoch stark nachließen. Für Fritz Cremer
war dieser Auftrag auch einer, den er gern annahm. Die Auseinanderset-
zungen, die er bei der Konzipierung der Plastik mit führenden Vertretern
der Partei hatte, zeigten genau die Widersprüchlichkeit, die mit dem Spa-
nienmythos verbunden war. 226 Die Diskussionen drehten sich hauptsächlich
um das Schwert als Symbol des Kampfes, des Widerstandes und des Sieges.
Seine Stellung, die die Unentschiedenheit des Kampfes ausdrückt und nicht
klar werden lässt, ob es Sieg oder Niederlage anzeigt, entsprach nicht den
Intentionen der Parteifunktionäre, die eine siegreiche spanische Volksrepu-
blik und vor allem unbesiegte Interbrigadisten sehen wollten, denn konnten
Verlierer die Basis für einen Mythos sein? Auch stand zur Debatte, warum
Cremer ein Schwert und kein Gewehr verwendete. 227 Unabhängig vom Hang
der meisten Vertreter der Parteielite zum Naturalismus, den sie als "sozialis-
tischen Realismus" bezeichneten, war ein Gewehr für sie eine offensivere
und modernere Waffe, die eher mit der Nationalen Volksarmee assoziiert
werden konnte als ein Schwert, das an Ritter und Edelleute erinnerte. Da
das Denkmal gerade in der Zeit der Besetzung der CSSR durch die Truppen
der Warschauer Vertragsstaaten gesetzt wurde, kam der Vermittlung des
Eindrucks der Sieghaftigkeit um so größere Bedeutung zu. Von der Nieder-
lage im spanischen Bürgerkrieg hätte auf die Unentschiedenheit des Sieges
des Sozialismus überhaupt geschlossen werden können. Somit leitete man
von der Gefahr des Faschismus zur Gefährdung durch den "Imperialismus"
über. Damals waren es die Faschisten aus vielen Ländern, die Franco bei der
Niederschlagung der spanischen Republik halfen, heute wollten die "Impe-
rialisten" die CSSR von ihren sozialistischen Bruderländern trennen und
somit die sozialistische Gemeinschaft zerstören. Faschismus und Impe-
rialismus flossen ineinander über und stellten eine fortdauernde Bedrohung
dar. Diesen Gedanken vollzogen die Künstler, in die Zeit des Kalten Krieges
hineingestellt, überwiegend nach, auch wenn sie die Art und Weise der Ab-
wehr nicht billigten. 228

226 Interview mit der Witwe des Künstlers, Frau Cremer, im Juli 1995
227 ebenda.
228 In der Berliner Zeitung wird Fritz Cremer wörtlich zitiert, als er nach seinen Werken mit
antifaschistischen Inhalten befragt wird: "Diese Seite meiner künstlerischen Arbeit betrachte
ich mit als das Wichtigste. Sie ist sozusagen die Grundarbeit, das Fundament, auf dem sich al-
les andere aufbaut Der Faschismus versucht immer wieder, sich in neuen geBhrlichen Er-
scheinungsformen zu erbeben. In die historische Situation einer weltweiten Auseinanderset-

136
3.1.3 Die Rezeption antifaschistischer Denkmäler

Die eigentliche mythische ikonographische Setzung des Antifaschismus im


Alltag fand durch eine ausgesprochen große Zahl von Gedenkplatten und -
tafeln statt, auf denen einzelne Antifaschisten geehrt oder auf bestimmte
Ereignisse des Widerstandskampfes und der Verfolgung durch die Nazis
aufmerksam gemacht wurde. Das Bild aller Städte und Dörfer der DDR war
durch die Präsenz derartiger Male geprägt. An diesen Tafeln fanden jedoch
nur selten Ehrungen und Erinnerungsveranstaltungen statt, so dass sie mehr
oder weniger der individuellen Rezeption überlassen blieben, die wiederum
eher zurückhaltend ausfiel. Da Denkmäler meist die Eigenschaft an sich
haben, nicht gesehen zu werden, hatte die Form der mythischen iko-
nographischen Vermittlung, die nicht mit rituellen Handlungen gekoppelt
war, nur wenig Chancen, Haltungs- und Meinungsbildung zu beeinflussen.
Die Gedenktafeln waren gewöhnlich farblich zurückhaltend, aus grauem
verwitterten Metall hergestellt und konnten optisch schwer ausgemacht
werden. Die Fixierung oberhalb des Blickfeldes der Fußgänger war eine
zusätzliche Schwierigkeit für die Wahrnehmung.
Die intensivste Rezeption erfuhren die großen Mahn- und Gedenkstät-
ten, wie Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück, in Verbindung mit
groß angelegten Gedenkzeremonien. Besonders wichtig war, dass der größte
Teil der in der DDR Geborenen in ihren Jugendjahren diese Gedenkstätten
im Rahmen von Jugendweihe oder Schulausflügen kennenlemten.
An dieser Stelle muss die Frage aufgeworfen werden, ob die Rezeptions-
schwierigkeiten mit generellen Vermittlungsproblemen von historisch au-
ßergewöhnlichen und schwer nachvollziehbaren Ereignissen der Vergan-
genheit zu tun haben oder ob sie auf Dissoziationen in der Mythensetzung
zwischen außen und innen einerseits und zwischen oben und unten andrer-
seits beruhten. Empfanden die damaligen Schüler die Besichtigungen der
KZ-Gedenkstätten als lästig, weil sie ihnen ein Einfühlungsvermögen abver-
langten, das sie angesichts des Grauens und der vollkommen anderen eige-
nen Lebenssituation nicht aufbringen konnten? Oder war es das instinktive
Wissen darum, selbst Deutsche zu sein, die in ihrer Mehrheit keine Wider-
standskämpfer in der eigenen Familie hatten und sich deshalb schuldig zu
fühlen, auch wenn dies mehr unterbewusst geschah? Mit Sicherheit bestand
das Problem darin, sich selbst nicht wiedererkennen zu können. Die Vorstel-

zung mit dem Imperialismus bin ich als sozialistischer Künstler hineingestelh. Ihr kann und
will ich mich nicht entziehen. Sie bestimmt auch meinen künstlerischen Auftrag." aus: Berliner
Zeitung vom 21.06.1968.

137
lung des tausendfachen und fabrikmäßigen Menschenmords bedeutete etwas
Fremdes, was verbunden mit unterdrückten Schuldgefiihlen Abwehr hervor-
rufen musste.
Die Jugendlichen wurden im allgemeinen nur sehr schlecht auf derarti-
ge Erlebnisse vorbereitet. Lakonische Aufklärungsversuche, dass die Berge
von Menschengerippen allein auf das Konto der deutschen Monopolbour-
geoisie geschrieben werden sollten, konnten nicht ausreichen. Mit fort-
schreitender Entwicklung in der DDR., in der eine immer stärkere Annähe-
rung an westliche Staaten vollzogen wurde und der "Western Way Of Life"
größere Popularität erlangte, erschien diese Erklärung zunehmend fragwür-
diger. Niemals wurde in Vorbereitung auf solche Gedenkveranstaltungen
über das Naheliegendste, über die eigenen Verwandten in dieser Zeit, ge-
sprochen. Dies alles ist eigentlich das typische Verhalten in einer Gemein-
schaft, in der Mythos und Gemeinschaft und zwischen der oral history und
kulturellem Gedächtnis auseinanderweichen. Zwischen Mythos und eigener
Erfahrung bestand eine zu große Distanz, die in der ikonographischen Ver-
mittlung des antifaschistischen Mythos besonders deutlich wurde.
Die Distanz rührte u.a. auch von der weitgehenden Transition einer öst-
lichen Formensprache und Übertragung sowjetischer semiotischer Zeichen
auf die Denkmalskultur her. Während bei den kleineren antifaschistischen
Denkmälern im Alltagsraum eine zeitgemäße und lokal angepasste Aus-
drucksform verwendet worden ist, weisen die großen nationalen Mahn- und
Gedenkstätten eine zu weit ausgreifende Verräumlichung und semiotische
und bauliche Hierarchisierung auf, die weder dem Zeitgeschmack noch den
proklamierten demokratischen, auf Gleichheit und Brüderlichkeit bedachten
Zielen der Politik entsprachen. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft
hätte zugleich auch die ihr adäquate Formensprache abgeschüttelt werden
müssen. Inhalt (zumindest proklamierter) und Form stimmten einfach nicht
überein, denn die hierarchische und auf antike Vorbilder zurückgehende
Formung des Treptower Ehrenmals oder der Gedenkstätte Buchenwald ent-
sprach mehr dem Verständnis totalitärer als demokratischer Regime.
Die ersten Generationen, die in der DDR groß wurden, verinnerlichten
diese Formensprache durchaus noch. Die Nachkriegsentwicklung mit ihren
Defiziten an funktionaler Differenzierung und einem breiten gesellschaftli-
chen Konsens des Neuanfangs machten hierarchische Stilformen annehm-
bar. Es war die Zeit, in der die Aufbaugeneration tatendurstig etwas Neues,
ein besseres Deutschland aufbauen wollte und nur durch größtmögliche
Koordination, Gemeinsamkeit und straffe Disziplin etwas erreichen konnte.

138
In diesem Sinne erschien ein Gang Seite an Seite durch die Gedenkstätte
Buchenwald von den Gräbern am Ettersberg zum erlösenden Glockenturm
hinauf gleichbedeutend mit der gelebten Nachkriegssituation in Deutsch-
land. Aus der Zeit heraus begriffen, ist es nur verständlich, dass die antifa-
schistischen Denkmäler jener spezifischen Semiotik folgten. Der Einzelne
war nichts, nur die Gemeinschaft konnte die Trümmer wegräumen und
neues gesellschaftliches Leben in Gang bringen. Bei den späteren Generati-
onen verkehrte sich diese Situation ins Gegenteil, und die Formensprache
der Denkmäler wurde zur Gegensprache ihrer Ambitionen. Die Gangarten
und Richtungen der vielen wichen zu sehr auseinander als dass sie alle den
gleichen Weg in ein und dieselbe Richtung gehen wollten. Die Erinnerungs-
technik funktionierte nicht mehr.

3.2 Antifaschismus in der Auftragsmalerei der DDR

Die Auftragsmalerei hatte ebenfalls an der Bildung eines antifaschistischen


Mythos' in der DDR teil, denn für das mythische Denken ist der Gebrauch
von Bildern typisch.

"Bildhaftes Denken kommt der Neigung des Menschen entgegen, sich eher gefilhlsmäßig als
mit dem Verstan?i eher konkret als abstrakt, eher holistisch als sezierend neuen Sachverhal-
ten zu nähem.,,22

Allerdings nahm diese Form der mythischen Vermittlung in der ikone-


graphischen Setzung des antifaschistischen Mythos' nicht gerade eine zent-
rale Bedeutung ein. Sie stand in der Rangfolge weit hinter dem Bemühen,
über Denkmäler, Literatur oder Schulbildung Antifaschismus in den Geruh-
len der DDR-Bürger zu implementieren. Am ehesten waren dafiir die Bema-
lung der Wände von öffentlichen Gebäuden, Wohnhäusern, Werkseingän-
gen und Betriebskantinen geeignet, die sich ähnlich wie Denkmäler dafiir
eigneten, von Massen wahrgenommen zu werden und die Objekt öffentli-
cher Teilhabe sind. Ein weiteres Mittel zur Besetzung öffentlichen Raums
und der Einflussnahme auf das mythische Bewusstsein waren Kunstausstel-
lungen, insbesondere die alle vier Jahre stattfindenden Kunstausstellungen
in Dresden.
Die Kunst wurde in der DDR generell durch die Partei- und Massenor-
ganisationen verwaltet. Auftraggeber waren die SED, der FDGB (Freier

229 vgJ. Voigt, Rüdiger: Mythen, Rituale und Symbole in der Politik. In: Ders. (Hrsg): Symbole
der Politik, Politik der Symbole. Opladen: Leske und Budrich 1989: 28.

139
Deutscher Gewerkschaftsbund), der Kulturbund und Betriebe wie die Max-
hütte Unterwellenbom. 230 Von der SBZ bis weit in die 70er Jahre hinein
wurden die Themen und künstlerischen Formen der Werke der bildenden
Kunst durch die genannten Massenorganisationen fixiert. Ein wichtiges
Dokument für die Einflussnahme der SED auf die bildende Kunst in der
DDR sind die "Richtlinien der Kunstpolitik" des Referats für bildende Kunst
der SED von 1946. 231 Aus diesem Material wird das Bemühen der SED
sichtbar, die Kunstentwicklung in der SBZ zwar beeinflussen zu wollen,
aber der Anspruch auf alleinige Führung wurde hier noch nicht erhoben.
Angesichts der Ergebnisse der Wahlen von 1946, bei denen die SED zwar
fast in allen Ländern der SBZ 40 Prozent der Stimmen erreichte, in Berlin
waren es nur 20 Prozent, und somit nicht die absolute Mehrheit besaß, wur-
de besonders auf das Bündnis mit allen antifaschistischen Künstlern ange-
strebt. So wurde die Unterstützung derjenigen Künstler betont gefordert,
denen nach den Entbehrungen und Verfolgungen der Nazizeit ein neuer
Anlauf ermöglicht werden sollte.
In den 40er Jahren, in der SBZ und in den Anfangsjahren der DDR,
gingen die politischen Ambitionen zwischen der Mehrheit der bildenden
Künstler und der der führenden politischen Gruppen noch nicht so ausein-
ander wie in späteren Zeiten. Anfanglich existierte ein breiter Konsens über
die Abgrenzung von der nazistischen Vergangenheit und die wesentlichen
Ziele des Neuanfangs. Gerade Maler und Bildhauer waren den Angriffen der
nationalsozialistischen Verfolgung und Ausgrenzung besonders ausgesetzt
und kehrten nach 1945 aus dem, meist westlichen Exil oder wie Hans Grun-
dig aus den Konzentrationslagern, zurück. Viele von ihnen glaubten, dass
der Nationalsozialismus am konsequentesten unter der Besatzungsmacht der
Sowjetunion überwunden werden könnte und gingen in die SBZ. Nach ihrer
Vorstellung sollte der Nationalsozialismus durch eine neue demokratische
Gesellschaft, die den Einfluss des Volkes auf die Politik erhöhte und die
wirtschaftliche Macht der Großunternehmen und des Großgrundbesitzes
einschränkte, vernichtet und sein Wiederaufleben verhindert werden. In
diesem Zusammenhang fand die enge Koppelung des Antifaschismus an
einen Antikapitalismus weite Verbreitung. Die Einschätzung des Kunsthis-

230 Vgl. Flacke, Monika: Einfilhrung in den Ausstellungskatalog "Auftrag Kunst" - 1949-1990. In:
Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 27. Januar bis 14. April
1995. Berliß, München: Klinkhardt & Biermann Verlagsbuchhandlung GmbH 1995: 9-12.
231 Strauss, Gerhard: Richtlinien der Kunstpolitik. 11.11.1946. In: Stiftung der Parteien- und
Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO), IV 2/9.06/170, BI. 27f.

140
torikers Lothar Lang entsprach der Auffassung der Mehrheit der Künstler
der damaligen Zeit:

"Nach der Zerschlagung des Faschismus, nach dem zweiten Weltkrieg, nach den Konzentra-
tionslagern, nach der Atombombe von Hiroschima war das Vertrauen in die alte Gesell-
schaft (gemeint ist die kapitalistische Gesellschaft) und in ihre Kultur tief erschüttert.,,232

Der Einschluss aller Künstler, die nicht dem Nationalsozialismus ge-


dient hatten, in die politische Gemeinschaft der SBZ geht auch aus der Rede
von Wilhelm Pieck, dem späteren Präsidenten der DDR, auf der 1. Kulturta-
gung der KPD 1946 hervor, in der darauf abgehoben wurde, dass

"alle aufbau willigen, antifaschistischen und demokratischen Kräfte, ganz gleich welcher
Partei- oder Konfessionszugehörigkeit, ob Arbeiter oder Intellektueller, ob Bauer oder
Handwerker, zusammenzufassen und eine große und leistungsfahige Einheit aller Kultur-
schaffenden zu begründen. Denn nur auf dem Boden solcher Einheit und im Geiste wahrer
kämpferischer Demokratie kann eine Erneuerung des deutschen Kulturlebens in wirklich
fruchtbringender Weise durchgefilhrt werden. 233

Die während der NS-Zeit verfemten Künstler sahen durch die Anerken-
nung ihrer Themen und verschiedene Fördermaßnahmen durch die SMA im
Osten Deutschlands die Zukunft für ihre künstlerische Arbeit. Das Treffen
zwischen einer Reihe antifaschistischer Künstler und Vertretern der SMA
zur "Wiederbelebung der deutschen Kunst" in Berlin war für die Ausstel-
lungstätigkeit und materielle Absicherung von nicht unwesentlicher Bedeu-
tung. 234 Bereits im Dezember 1945 hatte mit Unterstützung der SMA in
Dresden die erste Kunstausstellung stattgefunden, die als "Ausstellung freier
Künstler Nr. 1" bezeichnet wurde. 235 Besonders bekannt aus dieser Ausstel-
lung wurde das Bild des Dresdner Malers Wilhelm Lachnit "Der Tod von
Dresden", auf dem eine Mutter mit Kind in verzweifelter Geste im Augen-
blick des Bombenangriffe mit dem Tod hinter sich festgehalten wurde. Das
Bild ist in teils kubistischer, teils expressionistischer Form gemalt. 236 Die "I.
Allgemeine Deutsche Kunstausstellung" fand dann im Sommer 1946 eben-
falls in Dresden statt, die sich zum Ziel machte, die in der NS-Zeit als "ent-
artet" bezeichneten Künstler zu rehabilitieren. Es wurden Vertreter der

232 Lang, Lothar: Malerei und Graphik in der DDR. Leipzig: Philipp Reclamjun., 1972.
233 Pieck, Wilhelm: Um die Erneuerung der deutschen Kultur. 1. Kulturtag der KPD, Februar
1946. Stenographisches Protokoll. Berlin: Neues Leben 1946: 20. Zitiert nach: Kuhirt, Ul1-
rich: Kunst ... a.a.O.:9.
234 Kuhirt, Ullrich: Kunst in der Deutschen Demokratischen Republik. Plastik. Malerei. Gra-
flkI949-1959. Dresden: Verlag der Kunst 1959:11.
235 Ebenda: 11
236 Wilhelm Lachnitw war ein kommunistischer Maler, der am 13.02.1945 beim Bombenangriff
auf Dresden sein ganzes Werk durch die Zerstörung seines Ateliers verlor.

141
verschiedensten Stilrichtungen wie Expressionisten, Kubisten und des prole-
tarischen Realismus ausgestellt: Max Beckmann, Oskar Kokoschka, Otto
Dix, Karl Hofer, Lyonel Feininger, Gerhard Marcks, Karl Schmidt-Rottluff,
Rudolf Schlichter, George Grosz, Heinrich Ehmsen, Hans und Lea Grundig,
Oskar Nerlinger. Zu den lebenden Künstlern kamen Werke älterer Künstler,
die von den Nazis ebenfalls als "entartet" bezeichnet wurden, wie: Ernst
Barlach, Käthe Kollwitz, Paul Klee, Wilhelm Lehmbruck, Ernst-Ludwig
Kirchner und Fritz Schulze. Neue Bilder gab es nur wenige, eines dieser war
"Vor der brennenden Stadt" von Heinrich Burckhardt. Dass der sowjetische
Kulturverantwortliche der SMA Major Alexander Dymschitz die Eröff-
nungsansprache zur Ausstellung hielt, macht den dominierenden sowjeti-
schen Einfluss in der bildenden Kunst deutlich. In dieser Rede wurden auch
entscheidende Richtlinien der Kunst- und Künstlerpolitik der östlichen Be-
satzungszone gelegt. Das Hauptziel war der "Sieg über den Nazismus" und
als Hauptaufgabe der Kunst wurde allgemein der "Humanismus" prokla-
miert, der" im Volke wurzelt, das Volk begeistert und mit allen Völkern
verbindet".237 Die Verwendung des Volksbegriffs war in seiner Allgemein-
heit und die durch den Nationalsozialismus geförderte Vertrautheit fur die
Masse der Deutschen gut anschlussfahig. Allerdings ließ er die Richtung des
einzuschlagenden gesellschaftlichen und regimepolitischen Weges noch
offen.
Was den Mythos des Antifaschismus anbetrifft, spielten die Maler in der
SBZ über die ersten Kunstausstellungen, die auch große BesucherzaWen
aufwiesen, eine wichtige Rolle. 238 So beteiligten sich die bildenden Künstler
an der Schaffung eines antifaschistischen Mythos' in der SBZ. Alle mögli-
chen politischen und künstlerischen Richtungen und Ansätze vereinten sich
zu einer breit und offen angelegten antifaschistischen Front und waren ge-
willt, eine antifaschistische Gesellschaft aufzubauen. Maler wie Max Beck-
mann, Otto Dix, Lyonel Feininger, George Grosz, Erich HeckeI, Oskar Ko-
koschka, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff brachten sich in die
Kunstszene der SBZ ein, indem sie an offiziellen Ausstellungen teilnahmen.

237 Dymschitz sagte: "Der sieg über den Nazismus ist der Sieg der humanistischen Weltanschau-
ung. Darum wird auch die neue deutsche Kunst sich als eine humanistische Kunst entwickeln."
Als Aufgaben rur die bildende Kunst formulierte er: ,,1. Schaffi eine Kunst, die die Seele eines
befreiten Volkes widerspiegelt. 2. Schaffi eine Kunst, die dem deutschen Volke die Selbstach-
tung und die Achtung anderer Völker wiedergibt. 3. Schaffi eine Kunst, die tief im Volke wur-
zelt, die das Volk begeistert und die es mit allen Völkem verbindet." In: Kuhirt, Ullrich: Kunst
... a.a.O.: 11112.
238 In der "I. Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung" 1946 waren 75000 und in der ,,11. Deut-
schen Kunstausstellung" 1949 waren 50 000 Besucher. Vgl.: Kuhirt, Ullrich: Kunst ... a.a.O.

142
Schmidt-Rottluff, der in Chemnitz lebte, schuf Plakate für den Neuaufbau,
Z.B. "Chemnitz baut auf', und kandidierte bei der Wahl als Parteiloser für
die Liste der SED. 239
In der SED schufen bildende Künstler die "Arbeitsgemeinschaft sozia-
listischer Künstler", die sich vor allem als Antifaschisten verstanden, die im
Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft die beste Garantie für eine demo-
kratische und konsequent antifaschistische Ordnung sahen. Die Offenheit
gegenüber allen politischen demokratischen Künstlern war charakteristisch
für die Arbeitsgemeinschaft. 24o Doch das, was die Künstler unter Antifa-
schismus verstanden, war nicht das gleiche, was die SED-Führung damit
verband. Antikapitalismus allein reichte für ein loyales Antifaschismus-
Verständnis nicht aus, denn schließlich wurde dieses von der Mehrheit der
bildenden Künstler mit der Hoffnung auf die "bessere Demokratie" verbun-
den.
Der Konsensus zwischen der Mehrzahl der antifaschistischen Künstler
und dem offiziellen durch die politische Elite gesetzten Antifaschismus in
der SBZ zerbrach schon vor der Gründung der DDR, Ende der 40er Jahre.
Auslöser dafür war die Formalismusdebatte, die der Partei- und Staatsfüh-
rung für das Recht des Hineinregierens in die künstlerische Form ein Mittel
in die Hand gab, das die Indienstnahme der bildenden Künstler für die herr-
schende Politik enorm erleichterte. Stalin nutzte in den 40er und 50er Jah-
ren die Formdebatte zwischen Anhängern verschiedener Kunstrichtungen
aus, in der sich besonders die Vertreter der abstrakten und der gegenständli-
chen Malerei konfrontierten, um eine Kunst zu etablieren, die rein zur
Machtabsicherung seines totalitären Systems 'diente. Abstrakte Kunst wurde
von der sowjetischen Nomenklatura als Formalismus bezeichnet, und dieser
diente als Symbol für westliche Werte und Roll-back des Sozialismus, dem
Faschismus und Imperialismus, um nach deren Lesart die Menschen zu
verderben, ihre gesunden Seelen zu zerstören und allgemeine Dekadenz zu
verbreiten, schlimmer noch, dieser Kunstrichtung wurde unterstellt, sie
verdecke imperialistische Ziele hinter nicht zu entziffernden Codes.
Der Kampf gegen den Formalismus fand zuerst über den Artikel "Über
die formalistische Richtung in der Malerei" in der "Täglichen Rundschau"
Ende 1948 Einzug in die DDR. 241 In ihm wurde der Malerei im Nachkriegs-

239 Lang, Lothar: Malerei ... a.a.O.: 10.


240 Vgl. Schütrumpf, Jörn: Auftragspolitik der DDR. In: Katalog zur Ausstellung des Deutschen
Historischen Museums. a.a.O.: 13/14.
241 Titel des Artikels: "Über die formalistische Richtung in der deutschen Malerei. Bemerkungen

143
deutschland unterstellt, "unrealistische Tendenzen" aufzuweisen, was Aus-
druck "imperialistische Dekadenz" sei. In Fortführung dieses Artikels wurde
in den 50er Jahren für die Kunst aus dem Formalismus eine regelrechte
Endzeitstimmung abgeleitet:

"Daher ist der Kampf gegen den Formalismusein Kampf um die Kunst, um die Rettung des
künstlerischen Schaffens vor dem ihm drohenden Untergange.,,242

Dieser Artikel von Alexander Dymschitz hätte für sich genommen keine
besondere Reaktion auszulösen brauchen, außer dass sich die Vertreter der
abstrakten Kunst mit einem weiteren Gegner konfrontiert gesehen hätten.
Doch dieser Artikel wurde in den Parteiversammlungen der Bildenden
Künstler und im Kulturbund "ausgewertet", woraufhin der "sozialistische
Realismus" zum einzig zugelassene Stil avancierte. Wer sich abstrakter
Fonnen bediente und sich so den Fonnalismusvorwurf auflud, machte sich
der Unterstützung des Klassengegners verdächtig oder wurde zumindest
gesellschaftsunfähig. Im Januar 1951 erschien ein weiterer Artikel unter
dem Titel: "Wege und Irrwege der modernen Kunst" von Orlow in der
"Täglichen Rundschau", der die Fonnalismusdebatte fortsetzte. Der Autor
kam zu dem Schluss, dass die bildende Kunst die am meisten zurückgeblie-
bene Kunstart in der DDR sei, da sie "Fonnalisten", "Subjektivisten" und
"Modernisten" beherberge. Er schrieb:

"Wenn aber die Malerei aufhört, die Wirklichkeit darzustellen und der Maler anstelle von
Menschen stereometrische Figuren, Linien, Punkte und anderen Unsinn in Würfelform
zeichnet, dann ist das alles das Ende der Malerei, ihre Liquidierung, ihre Zerstörung. ,,243

Wichtiger Schritt zur Durchsetzung des von der Parteifiihrung ausge-


wählten Stils war die Kunstausstellung "Mensch und Arbeit", die durch
massive Eingriffe der SED schon im Vorfeld, so z.B. in Auseinandersetzun-
gen in der Jury, charakterisiert war.
Die Fonnalismusdebatte wurde in den fünfziger und teilweise in den
sechziger Jahren fortgesetzt, erst in den 70er und 80er Jahren nahmen die

eines Außenstehenden" In: Tägliche Rundschau vom 24.11.1948. Der Artikel stanunte von
Alexander Dymschitz, einem fiihrenden Kulturoffizier.
242 Kuhirt, UIlrich: Kunst ... a.a.O.: 20.
243 Studienmaterial der künstlerischen Lehranstalten. Reihe I. Heft 4. 1953:46. Zitiert nach:
Kuhirt, UIlrich: Kunst ... a.a.O.: 27. Weiter schrieb Orlow: "Der wahre Entwicklungsweg der
heutigen Kunst, die fortschrittlichen gesellschaftlichen Zielen dient, ist der Weg des modernen
Realismus, in dessen Mittelpunkt die gesellschaftlichen Interessen unserer Zeit und die diesen
Interessen dienenden Menschen stehen. Das werktätige Volk - das ist die Gegenwart und die
Zukunft der Menschheit. Dem Dienst am werktätigen Volk muß die Begabung und Kraft jedes
ehrlichen Künstlers und Intellektuellen geweiht sein."

144
Kunstpolitiker und Kritiker keine Notiz mehr davon und wendeten sich
anderen Themen zu. Besonders nachhaltige Auswirkungen hatte diese De-
batte auf das Verhältnis zwischen Malerei und Antifaschismus. Wenn die
antifaschistischen Maler in der SBZ durch die Ausstellungen und eine breite
Integrationspolitik sehr gefördert wurden, so wurden die meisten von ihnen
im Zuge der Formalismusdebatte schnell von der Bildfläche verdrängt. Und
mit ihrer Verdrängung wurde auch das Thema Antifaschismus in der Male-
rei zu einer Randerscheinung. Während in der Denkmalskunst der Antifa-
schismus in den 50er Jahren erst richtig aufblühte, schien er in der Malerei
ein zweitrangiges Thema geworden zu sein. Eine wichtige Ursache dafür
war, dass die antifaschistischen Maler verschiedene Kunstrichtungen vertra-
ten, die durch die stalinistische Kunstauffassung als dekadent und als der
"bürgerlichen Ideologie" zugehörig bezeichnet wurden. So kritisierte Kuhirt
die I. und 11. Kunstausstellung als "nicht auf der Höhe der Zeit" und nicht
dem Neuen dienend. Zur I. Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung
schrieb er:

"Noch nichts deutet unter den ausgestellten Werken darauf hin, dass in der Geschichte
unseres Volkes eine neue Etappe begonnen und die bildende Kunst neue historische Aufga-
ben zu lösen hatte.,,244

Schließlich fallte Kuhirt entsprechend der SED-Richtlinien und der


Formalismustheorie über die antifaschistischen Maler ein vernichtendes
Urteil:

"Große Teile der antifaschistischen Kräfte unter den Künstlern, die zur Naziherrschaft in
Opposition gestanden hatten, waren zwar dem Aufbau einer neuen demokratischen Kultur
ganz allgemein positiv gesinnt, aber infolge ihrer bürgerlichen Klassenposition und entspre-
chend ihrer politischen und künstlerischen Anschauung nicht fähig, eine neue Kunst zu
schaffen. Es waren jene, die ideologisch noch auf dem Boden der Weimarer Republik stan-
den. Man müsse dort wieder anfangen, wo man 1933 aufgehört, wo der hereinbrechende
Faschismus die freie Entwicklung der Künstler unterbrochen habe, - das war die Devise
dieser Künstler, die teils liberal, teils anarchistisch-radikalistisch gesinnt, im Grunde noch
allesamt der bürgerlichen Ideologie verhaftet waren. Die Nazis hatten zum Teil auch sie,
gemeinsam mit den aufrechten an der Seite der Arbeiterklasse kämpfenden antifaschisti-
schen Künstlern, als . entartet' verfemt und verfolgt, weil ihre abstrakte, das nationale Ele-
ment negierende kosmopolitische Kunst für die nationalistische und soziale Demagogie der
Faschisten nicht taugte. Damit hörte aber die Kunst jener Vertreter und Nachfahren des
Expressionismus, des Kubismus,j Surrealismus und aller möglichen anderen 'Ismen' nicht
auf; bürgerliche Kunst zu sein.,,2 5

Aus dem Zitat wird ausgesprochen deutlich, wie sich die Beurteilung

244 Kuhirt, Ullrich: Kunst ... a.a.O.: 11.


245 Ebenda: 14.

145
der antifaschistischen Künstler änderte. Waren Weltanschauung und politi-
sche Herkunft bei Wilhelm Pieck 1945 zur Bildung einer antifaschistischen
Künstlergemeinschaft als Teil der politischen Gemeinschaft des
nachfaschistischen Deutschlands vollkommen gleichgültig, so gerieten jetzt
alle Kunststile, die nicht den Kunstauffassungen der stalinistischen
Kulturpolitiker entsprachen, zum exkludierenden bürgerlichen Moment. Die
stark abwertende Bezeichnung als "bürgerlich" schloss sie von der Funktion
der Produktion eines antifaschistischen Mythos oder dessen Vermittlung
aus. Auf einmal erschienen diese Künstler, die vorerst nach der Meinung
der politischen Elite die Basis für die Erneuerung der Kunst in einem
demokratischen Deutschland darstellten, als ungeeignet für die Erneuerung,
ja sogar als etwas Feindliches. Da sich eine Vielzahl der antifaschistischen
Künstler nicht in den sich immer mehr auf die aus dem sowjetischen Exil
kommende kommunistische Elite und stalinistischen Normen verengenden
Antifaschismus-Mythos einpassen ließ, sollten sie davon ausgeschlossen
werden. Die auf eine breite und tiefe Volksdemokratie orientierten Künstler
konnten nicht mehr als Vermittler des Antifaschismus-Mythos verwendet
werden. Allerdings hätte sich eine Distinguierung zwischen "guten" und
"schlechten" antifaschistischen Malern nicht unbeschadet durchführen
lassen. Hinzu kam, dass eine Umwandlung des Hitlerschen
Ausschlusskriteriums für diese Künstler als "entartet" in "dekadent" eine
Übernahme der nazistischen Ideologie bedeutet hätte. Um diesem Dilemma
zu entgehen, kreierte man kunstpolitisch neue Themen und einen neuen
Mythos, der nicht wie der Antifaschismus ruckwärtsgewandt und negierend
sein sollte, sondern positivierend vorwärts in die neue Gesellschaft weisen
sollte. Zum Hauptthema wurde nun der "Neue Mensch" erklärt, der von
seinem ideellen Boden her zwar antifaschistisch sein sollte, der aber in
erster Linie ein Held und Erbauer der sozialistischen Gesellschaft war. Aus
der Beurteilung der Ausstellung ,,150 Jahre soziale Strömungen in der
bildenden Kunst" von 1947 und 1948 in den 50er Jahren wird das Dilemma
zwischen dem Anspruch auf Sinnstiftung für eine neue Gesellschaft und
antifaschistischer Kunst deutlich.:
"Diese Ausstellung umfasste neben Werken der Vergangenheit, die die gesellschaftlichen
Kämpfe in der Geschichte der Völker widerspiegeln ... auch Arbeiten lebender Künstler,
die in der Gegenwart schufen. Aber sie alle gingen über eine Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit, über eine Kritik an den Verhältnissen der alten, überwundenen bürgerlichen
Gesellschaft nicht hinaus. Im Dresdner Katalog dieser Ausstellung schrieb der damalige
Landesvorsitzende der SED Sachsen, Wilhelm Koenen: ... ' der Inhalt ist zur Zeit fast aus-
schließlich nichts anderes als eine bloße Gestaltung der Gegenwartsnot. Da ist noch nichts,

146
was erhebt und vorwärts stürmt. Noch ist der tiefe Glaube an den besseren Morgen künstle-
risch noch nicht zum Durchbruch gekommen' .,,246

Aber nicht nur dass der Antifaschismus nicht mehr ausreichend Materi-
al für die Identität mit der neuen Gesellschaft bot und sich nur mangelhaft
in die stalinistische Politik einbinden ließ, war Grund für sein schnelles
Verschwinden aus der Malerei, sondern auch deshalb, weil sich viele antifa-
schistische Bilder nur schlecht für eine Verurteilung der Bundesrepublik
Deutschland eigneten. Dies wird aus einem Zitat von Kuhirt sichtbar:

"Mit der Wandlung der historischen Situation veränderten sich in gewisser Weise auch die
Aufgaben, die der Kunst objektiv gestellt waren. Galt es auf der ersten Stufe der antifaschis-
tisch-demokratischen Etappe, die vom Faschismus verfolgten Künstler zu rehabilitieren und
alle demokratisch gesinnten Künstler zu einem Bündnis auf breiter Grundlage gegen den
Faschismus und seine Ideologie zu gewinnen, so musste man nun, da sich der verbrecheri-
sche deutsche Imperialismus wieder erhob und mit Hilfe der dekadenten Kunst auch seinen
ideologischen Einfluss wieder geltend zu machen suchte, dieses demokratische Bündnis
allmählich einen neuen Inhalt erlangen, antiimperialistischen Charakter annehmen und sich
gegen die formalistische, dekadente Kunst als Träger reaktionärer, bürgerlicher Ideen in der
bildenden Kunst richten.,,247

Hier wird klar, dass Antifaschismus in Antiimperialismus umgewandelt


wurde, der sich in erster Linie gegen die Bundesrepublik als Sachwalter des
"Bürgerlichen", das gleichzeitig das "Reaktionäre" war, gerichtet war.
Kunst und politischer Inhalt trafen sich in ihrer mythischen Verarbeitung,
so dass die Künstler, die in den militanten Antiimperialismus nicht einzu-
binden waren, aus der Mythenarbeit von offizieller Seite ausgeschlossen
wurden. Die Durchsetzung dieser Arbeit am Mythos fand hauptSächlich über
die Auftragspolitik statt.
Mit der Festigung der Macht der SED, der Stalinisierung der Politik in
der SBZ und dem Beginn des kalten Krieges wurden die Künstler immer
strikter in das Netz der Ideologisierung und der offiziellen Mythensetzung
der politischen Eliten eingebunden. Die Auftragspolitik war dafür ein gut
handhabbares Instrument. In einem Papier von dem für die bildende Kunst
zuständigen Mitarbeiter des Parteivorstandes der SED, Max Grabowski,
wird vorgeschlagen, Künstler-Arbeitsgruppen zu schaffen, auf deren Basis
Künstler feste Angestellte in Betrieben, Wirtschafts- und Verwaltungsein-
richtungen werden sollten. Die Aufträge würden dann von Wirtschaftsstel-

246 Ebenda: 19.


247 Ebenda: 23.

147
len oder der Deutschen Wirtschaftskonunission (DWK) vergeben werden. 248
Es hieß:

,,zur zweckmäßigen Lenkung und Kontrolle der Tätigkeit der Künstler ... wird eine zentrale
Kommission gebildet, an der neben der DWK, dem Kulturbund, der Partei vor allem der
FDGS beteiligt wird.,,249

Voraussetzungen für das Auftragswesen waren verschiedene staatliche


Verordnungen, die zwar einerseits den Künstlern soziale Sicherheit boten,
andrerseits aber eine weitgehende Einmischung in das künstlerische Schaf-
fen ennöglichten. Zu diesen gesetzlichen Grundlagen zählten: die Verord-
nung über die Erhaltung und Entwicklung der deutschen Wissenschaft und
Kultur vom 31. März 1949 und die Verordnung zur Entwicklung einer fort-
schrittlichen, demokratischen Kultur des deutschen Volkes vom 16. März
1950, in der die Bestimmungen über Kreditgewährung zur Einrichtung von
Ateliers, die Künstlerausbildung an den Kunsthochschulen, die Verleihung
von Nationalpreisen, die Beteiligung von Künstlern an staatlichen Bauvor-
haben und die Einrichtung von Kulturfonds fonnuliert wurden. Sowohl der
Verband Bildender Künstler als auch die Gründung der Deutschen Akade-
mie der Künste, beides im Jahr 1950, waren für die Implementierung politi-
scher Mythen eine wichtige institutionelle Grundlage, einerseits zur Kon-
trolle künstlerischer Tätigkeit, andrerseits aber auch zur Herausbildung
eines mythenpolitischen Diskurses.
Die kunstpolitischen Institutionen machten im Verlaufe der Geschichte
der DDR immer wieder Veränderungen durch, die sich im Widerspruchs-
verhältnis von staatlicher Reglementierung und freiem Diskurs bewegten.
Dabei nahmen die Künstler teils die Rolle von Mythenproduzenten und
Mythenvermittlern ein. Es war ein ständiges Hin und Her zwischen Mythos
und Dogma, in das die Künstler einbezogen waren. In den 70er und 80er
Jahren spielten staatliche Reglementierungen in der Kunst kaum noch eine
Rolle. Über die Auftragsvergabe wurden zwar Themen, die der Elite beson-
ders am Herzen lagen, bevorzugt, jedoch blieb es den Künstlern und Kunst-
einrichtungen selbst überlassen, ihre Stile und Themen zu wählen. Der An-
tifaschismus wurde als großes Thema trotz dieser künstlerischen Freiheiten
nicht wieder aufgenommen. Dieser Mythos hatte sich zu diesem Zeitpunkt
schon verbraucht, konnte keine Kraft mehr fiir Sinnstiftung schaffen und die
Fonnalismusdebatte hinterließ außerdem bei den meisten Künstlern ein

248 Aufgaben der bildenden Künstler im Rahmen des Zweijahresplanes. In: SAPMO, IV
2/9.067169, BI. 8-11.
249 ebenda B1.8.

148
ungutes Geftihl der Unterordnung unter die Macht der politisch Herrschen-
den.
Das Hineinregieren der SMA Ende der 40er Jahre und nach der Grün-
dung der DDR der Partei- und Staatsführung in die künstlerische Tätigkeit
zeigte sich ganz deutlich in der Fonnensprache und Themenwahl. Während
in den ersten Jahren Darstellungsweisen des proletarischen Realismus oder
sogenannten sozialistischen Realismus weite Verbreitung fanden, änderte
sich dieses Bild in den späteren Jahren, es spaltete sich auf in eine Gruppe
von Werken und Künstlern, die von den Fonnen und Symbolen des
sozialistischen Realismus abwichen, und einer weiteren Gruppe, die diese
Fonnen beibehielt und sogar weiter ausbaute. Der sozialistische Realismus
knüpfte an die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung an, die in den
90er Jahren des vorigen Jahrhunderts begann, Massenagitation explizit mit
Symbolen und Allegorien zu unterlegen. Bilder und Kunst wurden zu
Medien politischer Überzeugung, da Kommunikations- und
Interaktionsrituale eine ikonographische Gestaltung erfuhren. Die andere
Seite ist, dass die Methode nationaler Bewegungen der Zeit nach der
Französischen Revolution, Identität zu stiften, fortgeführt wurden. 250
Typisch für diese Ikonographie war nach Gerhard Brunn, dass "Sakrales
profanisiert und Profanes sakralisiert" wurde. 251 Die Malerei, die sich mit
antifaschistischen Themen beschäftigte, entsprach aber nur teilweise den
Fonnen des proletarischen Realismus, sie schloss auch surrealistische,
esxpressionistische, abstrakte und kubistische Fonnen ein. Nach 1945 sind
nur recht wenige Arbeiten zu antifaschistischen Themen entstanden. Nach
der Fonnalismusdebatte wurden es dann noch weniger Bilder.
Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind Bilder wie "Der Tod von
Dresden" von Wilhelm Lachnit, "Der Hungermarsch" von Hennann Bruse
von 1946, auf dem KZ-Häftlinge dargestellt werden, "Zwei Kriege, zwei
Witwen" von Max Lingner, das 1948 gemalt wurde und die beiden Gemälde
"Trümmerstraßen in Dresden" von Wilhelm Rudolph und "Nach dem
Angriff' von Theodor Rosenhauer, die sogar erst 1954 und 1956 entstanden.
Eines der wenigen großen Werke, die nach 1945 zum Antifaschismus
entstanden, war das Ölgemälde von Hans Grundig252 "Den Opfern des Fa-

250 Brunn, Gerhard: Gennania und die Entstehung des deutschen Nationalstaates. Zum Zusam-
menhang von Symbolen und Wir-Geruh!. In: Voigt, Rüdiger (Hrsg): Symbole der Politik, Poli-
tik. der Symbole. Opladen: Leske und Budrich 1989: 101-122.
251 Ebenda: 102.
252 Der Maler und Graftker Hans Grundig wurde am 19.02.1901 in Dresden geboren und starb am
11.09.1958 ebenfalls in Dresden. Er studierte von 1920 bis 1922 an der Kunstgewerbeschule

149
schismus", das er 1946 und 1949 in zwei Fassungen malte. Nachdem der
Maler fünf Jahre im Konzentrationslager Sachsenhausen zugebracht hatte,
wurde er als deutscher Soldat an die ungarische Front geschickt, wo er zur
"Roten Armee" überlief. Er kehrte 1946 aus der So\\jetunion nach Deutsch-
land zurück, begann sofort mit der Arbeit an einem Bild, das den KZ-
Häftlingen gewidmet war und seine eigenen Erlebnisse im Konzentrations-
lager verarbeitete. Noch im Rückkelujahr stellte er die erste Fassung fertig.
1948 kam dann die zweite Fassung zustande. Beide Bilder sind im schmalen
Breitformat und düsteren infernoassoziierenden Farben gehalten. Der Bild-
eindruck wird durch zwei tote Häftlinge bestimmt, die die ganze Breite
beherrschen. In rotes und blaues Tuch eingehüllt liegen sie, der Kopf des
einen bei den Füssen des anderen, auf einem weiten Platz, der von einem
Stacheldrahtzaun mit Wachtürmen im Halbrund eingerahmt ist. Schwarze
Krähen vor einem rot aufgewühlten Himmel kreisen drohend über den To-
ten. Mit diesem Bild verbinden sich Assoziationen zur mittelalterlichen
Tafelmalerei und erinnern an Bilder der Kreuzabnahme Christi von Matthi-
as Grünewald. Dadurch werden die Toten sakralisiert und verpflichten un-
willkürlich zur Nachfolge. In der zweiten Fassung wird diese Implikation
durch die Unterlegung des Untergrundes, auf dem die Toten liegen, mit
Goldfarbe noch verstärkt.
In mythenpolitischer Hinsicht sind die Veränderungen, die Hans Grun-
dig von der ersten zur zweiten Fassung des Bildes vorgenommen hat, auf-
schlussreich. Während er in der ersten Fassung nur politische Gefangene
darstellte, was an dem roten Dreieck auf der Sträflingskleidung des vorderen
Toten deutlich wird, trägt der vorne liegende in der zweiten Fassung einen
Judenstern an seiner Kleidung und der Hintere das Zeichen der politischen
Gefangenen. Dieser Austausch der Zeichen zu einem Zeitpunkt, als bereits
die Formalismus-Debatte begonnen hatte, zeigt, dass eine Reihe von Künst-
lern nicht der stalinistischen Interpretation des Antifaschismus folgten.
Hinzu kommt, dass in der ersten Fassung der politische Gefangene die Häft-

Dresden und von 1922 bis 1927 an der Akademie der bildenden Künste, wo er sich von 000
Dix beeinflussen ließ. 1928 heiratete er Lea Langer, die Tochter eines jüdischen Kaufinannes.
1929 wurde er Mitglied der Dresdner Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler (ASSO)
und arbeitete künstlerisch für die KPD. Ab 1933 wurde der Maler politisch unterdrückt und
verfolgt (Haussuchungen, mehnnalige Verhaftungen). In dieser Zeit entstanden viele seiner
wichtigsten Werke: "Tiere und Menschen", "Kampf der Bären und Wölfe", das Triptychon
"Das tausendjährige Reich". Von 1940 bis 1944 war er im Konzentrationslager Sachsenhau-
sen, dann im Strafbataillon an der ungarischen Grenze und schließlich zur Roten Annee über.
1946 kehrte er nach Dresden zurück und war zwischen 1947 und 1948 Rektor und Professor
an der Hochschule für bildende Künste in Dresden. Die Werke von Hans Grundig erfuhren im
Rahmen der Formalismus-Debatte eine offene Ablehnung.

150
lingsnummer des Malers trägt und diese in der zweiten Fassung auf denje-
nigen mit dem Judenstern übergegangen ist. Es hat sich also auch eine Än-
derung in der ideellen Zugehörigkeit und persönlichen Identifizierung voll-
zogen. Dies entsprach dem Bedürfnis des Malers, der mit der jüdischen
Malerin Lea Grundig verheiratet war, allen durch die Nazis verfolgten
Gruppen gerecht zu werden und in einen antifaschistischen Mythos mit
einzubeziehen. So wie im Bild nicht nur politische Kämpfer geehrt wurden,
so beabsichtigte er immer, einen breiten Rezipientenkreis zu erreichen.
Antifaschismus reduzierte sich bei ihm nicht nur auf den Widerstand, nicht
nur auf die Kommunisten oder die in den Konzentrationslagern Umgebrach-
ten. Er dachte beim Malen seines Bildes auch an das Leid der deutschen
Bevölkerung, die meistenteils selbst den Nazismus unterstützten, aber Opfer
des Krieges wurden. In einem Brief des Malers an seine Frau vom
23.12.1946 wird diese Implikation sichtbar:

,,Ich habe mir hier eine Aufgabe gestellt, die sehr schwer zu lösen ist. Eine Szene will ich
malen, ganz einfach den schweren Schlaf entrechteter Menschen. Ich glaube, wenn es mir
gelingt, dass es jeder nachftlhlen mUsste. Denn nach a1l dem Bombengrauen, nach a1l dem
Warten auf das Ungewisse, was heute jeder Mensch während dieses Krieges erleben musste,
ist anzunehmen, dass der Betrachter nachfilhlt, was ich ausdrUcken möchte, da es doch
irgendwo auch sein eigenes Erlebnis war... GleichgUltig ist den allermeisten Konzentrati-
onslager und das, was man an Grauen darnber berichtet, es erscheint ihnen als ubertrieben
und Propaganda. Seine eigenen Nächte im Keller, auf der Flucht vor dem Tod in vielfacher
Gestalt, vor dem Tod als Ungewisses, sind Realität. Diesen einen Gefilhlswert will ich
packen und damit den Mitmenschen sagen, dass auch sie Gehetzte und Gefangene waren,
obwohl sie es nicht wussten. Damit werde ich die BrUcke bauen.,,253

Hans Grundig dachte beim Malen des Bildes nicht in erster Linie daran,
etwas zu gestalten, um seine Gedanken und Gefühle künstlerisch umzuset-
zen, sondern er wollte einerseits informieren und andrerseits aufklären.
Somit betätigte er sich als Mythenproduzent, dessen Narration mit der der
politischen Eliten in der Antifaschismusfrage Anfang der 40er Jahre über-
einstimmte. Allerdings vollzog Hans Grundig die damals schon sichtbar
werdende Separierung in "echte" und "unechte" Antifaschisten nicht nach
und grenzte sich mehr und mehr von der offiziellen Antifaschismus-
Narration ab, was schließlich in der Konfrontation mit der politischen Elite
mündete. Hans Grundig wollte fast alle Deutschen in den Antifaschismus
einbeziehen und knüpfte an Dinge an, die auch all diese Menschen betrafen.
Hier sollte nicht etwas versprochen werden, um die Rezipienten an eine
mythische Erzählung zu binden, die für eine Minderheit instrumentalisiert

253 Zitiert nach: Kunstbetrachtung. Entwicklungstendenzen der bildenden Kunst vom Altertum bis
zur Gegenwart. Lehrbuch filr die Klassen 11 und 12. Berlin: Volk und Wissen 1980: 202.

151
werden sollte. Ganz verschiedene Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus
sollten bei Hans Grundig in einen breiten Antifaschismus münden, der die
Leiden durch Bomben, den Tod der deutschen Soldaten und Hunger nach
Kriegsende genauso ernst nahm wie den Widerstand der wenigen aktiven
Antifaschisten. Die verschiedenen Lebensgeschichten liefen in der einen
Geschichte der verderblichen Auswirkungen der NS-Herrschaft auf fast alle
Teile der Deutschen zusammen und fiihrte zum Antifaschismus. Nach Mur-
ray Edelmann könnte diese Art antifaschistischer Mythos als "Verweisung-
symbolik", als aufklärender Mythos, bezeichnet werden, während die offi-
zielle Kunstpolitik und ihre Nutzung zur Mythenvermittlung immer mehr
der "Verdichtungssymbolik", d.h. verdunkelnden Mythen, zuzurechnen
war. 254 Wenn man von der Art und Weise kollektiver Erinnerung ausgeht,
so wird bei Hans Grundig deutlich, dass er die Kongruenz von kommunika-
tivem und kulturellem Gedächtnis als Bedingung fiir einen antifaschisti-
schen Mythos betrachtete. Ihm, als langjährigen KZ-Häftling in Sachsen-
hausen, war klar, dass die Mehrheit der Bevölkerung gegenüber der Erinne-
rung an die Verbrechen der Nazizeit, in die sie meistens auf irgend eine
Weise verwickelt waren, eine Abwehrreaktion entwickelte, und dass Identi-
tät nicht durch Schuldzuweisung oder durch Entfernung unangenehmer
Wahrheiten über einen längeren Zeitraum hinaus erzeugt werden konnte.
Deshalb versuchte er gefiihlsmäßig anzuknüpfen an das eigene Leid der
Rezipienten und dieses mit dem Leid der toten Häftlinge auf seinem Bild
zusammenfließen zu lassen. Das Bild "Den Opfern des Faschismus" gehörte
zu den mythenimplementierenden Medien, die einen echten antifaschisti-
schen Mythos erzeugten, aber durch die ständige Konterkarierung durch die
offizielle Mythenpolitik dessen Wirksamkeit aufhob. Bei dieser Form der
Mythenvermittlung gab es eine von Aleida und Jan Assmann als Bedingung
fiir politische Identität herausgearbeitete weitgehenden Übereinstimmung
zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. 255 Da solchen
Künstlern wie Hans Grundig das Produzieren und Transportieren politischer
Mythen immer mehr verwehrt wurde, wurde der Antifaschismus-Mythos in
der Malerei schon sehr früh regelrecht erstickt. Zwar waren antifaschistische
Bilder in den ständigen Galerien und Kunstmuseen noch ausgestellt und
wurden von Schulklassen und Brigaden in obligatorischen Museumsbesu-
chen rezipiert, doch entstanden nur noch sehr wenig neue Werke zu dem
Thema, was nach so kurzer Zeit des Endes der NS-Herrschaft ausgesprochen

254 VgJ. Edelmann, Murray (1976): Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher insti-
tutionen und politischen HandeIns. FrankfurtJM und New York.
255 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders. und Tonio Hölscher
(Hrsg): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988.

152
unlogisch erscheint und zeigt, dass keine tiefgängige psychologische und
politisch-analytische Verarbeitung des Themas stattfand.
In den 50er und 60er Jahren kamen hauptsächlich Themen zur Geltung,
die sich mit dem "neuen Menschen" und dem "werktätigen Volk" beschäfti-
gen. Es war die Zeit, in der Brigadebilder und Arbeiterporträts Hochkon-
junktur hatten. Die Kunstausstellungen waren voll davon, in den Betriebs-
kantinen und Verwaltungsräumen offizieller Gebäude und großer Fabriken
besetzten derartige Bilder öffentlichen Raum. Der Antifaschismus war auf
den Kunstausstellungen nicht mehr präsent, er hatte sich einfach erledigt.
Ein wichtiges Medium zur Implementierung der Mythen vom "neuen
Menschen" und dem "werktätigen Volk" in der Malerei waren die an öffent-
lichen Gebäuden auftauchenden Wandbilder, die sich durch ihren monu-
mentalen Charakter besonders zur kollektiven Aneignung eigneten. Die
Wandbildbewegung hatte ihren Keim unter einem Teil der Künstlerschaft
selbst gefunden, die entsprechend ihrer politischen Überzeugung als Sozia-
list und dem Anspruch auf Erziehung der Gesellschaft durch die Kunst die
mexikanische Wandmalerei von Diego River, David Alvaro Siqueiros und
David Orozco zum Vorbild wählten. 256 Auch wenn die Formalismus- Debat-
te die Wandbilder der 40er und 50er Jahre zu einem bevorzugten Thema
ihrer Kritik machte, so war die weite Verbreitung dieses Kunstsujets eine
Folge der thematischen Umorientierung von einer kritischen zur lobpreisen-
den Kunstgestaltung. Der Antifaschismus war deshalb kein großes Thema,
vielmehr wurde dieses Sujet für die mehr zukunftsweisenden Mythen, die
den Weg in die lichte Zukunft des Sozialismus aufzeigten, instrumentali-
siert. Da das Bild der Städte durch Wandgemälde mitgeprägt wird, sollte
offensichtlich der "schöne Anblick der sozialistischen Städte und Dörfer"
nicht durch Bemalung der Gebäude mit dem hässlichen Gesicht der Ver-
gangenheit verdunkelt werden. Die Wandbilder stellten somit mehr den
Schmuck der Orte dar, während Denkmäler wie Z.B. KZ-Gedenkstätten,
wenn sie Massencharakter besaßen, meist abseits lagen und sowieso durch
Perspektive (gleiche Ebene), Farbe und Material (meist Stein oder dunkles
Metall) mehr in den Hintergrund traten und sich zu festlichen und Reprä-
sentationsgebäuden in einer räumlichen Distanz befanden.
Die Wandbilder sollten vor allem eine diesseitsbezogene Paradiesvision
vom schon angebrochenen "Goldenen Zeitalter des Sozialismus" vermitteln,

256 Vgl. Schönfeld, Martin: Das "Dilemma der festen Wandmalerei". Die Folgen der Fonnalismus-
Debatte rur die Wandbildbewegung in der SBZlDDR 1945 - 1955. In: Kunstdokumentation
SBZlDDR. 1945 - 1990. Berlin: DuMont-Buchverlag 1996: 444-465.

153
die die Apotheose des "Neuen Menschen" und der "vollkommensten Gesell-
schaft in der Geschichte" beschworen.
Beispiel hierfür war das in den 50er Jahren entstandene Wandbild von
Max Lingner257 am Eingang des "Hauses der Ministerien", das nur glückli-
che, zufriedene und schaffende Menschen darstellt. Zwar verharren die
dargestellten Personen nicht in Untätigkeit, sondern sind aktive Menschen,
doch scheint sich ihnen nichts in den Weg zu stellen. Die Darstellung ist
ohne Kontrapunkte, durch unendliche Glückseeligkeit und Problemlosigkeit
gekennzeichnet. Die den Mythen eigene Ambivalenz findet hier keine Wi-
derspiegelung, was von vornherein ein Rezeptionsproblem gewesen sein
dürfte.

Ausschnitt des Wandbildes von Max Lingner arn Haus der Ministerien

257 Max Lingner lebte von 1888 bis 1959. Er wurde in Leipzig geboren und studierte von 1908 bis
1913 an der Kunstakademie Dresden. Er wählte Themen der Antikriegsbewegung und des
proletarischen Realismus. 1928 siedelte er nach Paris über. Er wurde im Lager Gurs interve-
niert und arbeitete nach seiner Flucht in der Resistance. 1949 kehrte er in die DDR zurück und
wurde Professor der Hochschule rur bildende und angewandte Kunst in Berlin Weißensee. Er-
war starken Anfeindungen innerhalb der Formalismus-Debatte ausgesetzt.

154
Auch das Wandbild von Walter Womacka258 am ehemaligen Haus des
Lehrers in Berlin zeigt, zwar malerisch stärker abstrahiert, doch in seiner
inhaltlichen Aussage ähnlich, diese spezielle Form mythische Vermittlung.
Nicht unbeschwertes Genießen, sondern tätige Kulturvision und brüderli-
ches Beisammensein charakterisiert die Menschen, die ganz nach dem Vor-
bild der antiken Dichter kein Alter kennen, in einfacher Schönheit und
Anmut und gegenseitiger Liebe die Botschaft irdischer Glückseligkeit ver-
künden. Das Private versöhnt sich mit dem Öffentlichen, das Individuelle
mit dem Kollektiven. Die "Paradiesbewohner" sind allerdings keine sensib-
len Elfen und prächtigen Herolde, sondern meist grob bäuerliche oder prole-
tarische Gestalten, die das einfache Volk symbolisieren und heiligen. Die

Wandgemälde am Haus des Lehrers in Berlin, von Walter Womacka.

258 Walter Womacka wurde am 22.12.1925 geboren. Der Maler war Rektor der Kunsthochschule
Berlin. Von 1940 bis 1943 erhielt er eine Ausbildung in der Staatsschule fiir Keramik und
verwandte Gebiete in Teplitz. Von 1946 bis 1948 Studium an der Meisterschule fiir gestalten-
des Handwerk Braunschweig, 1949bis 1951 Studium für Wandmalerei an der Hochschule fiir
Baukunst und bildende Künste Weimar und zwischen 1951 und 1952 an der Hochschule fiir
bildende Künste Dresden. 1953/54 Assistent fiir Malerei, 1963 bis 1968 Lehrtätigkeit, 1969
Professor, 1968 bis 1988 Rektor der Hochschule fiir bildende und angewandte Kunst in Berlin
Weißensee. Ab 1959 war er Vizepräsident des Verbandes bildender Künstler. Von 1961 bis 71
war er Mitglied der Bezirksleitung Berlin.

155
verschiedenen Tätigkeitsbereiche einer Gesellschaft, wie die Großprodukti-
on, die Landwirtschaft, die Forschung und Kunst greifen ineinander und
gestalten gemeinsam eine sorgenfreie und schöne und friedliche Gesell-
schaft. Eine nationalsozialistische Vergangenheit schien nie existiert zu
haben.
Die sich in den 70er und 80er Jahren in der DDR herausbildenden eige-
ne Malschulen und der mit ihnen verbundene unterschiedlichen Handschrif-
ten, die zur Bildung neuer Stile beitrugen, sicherten eine weitgehend von der
Partei- und Staatsführung unabhängige Malerei. Entsprechend der Kunst-
zentren entwickelte sich die Leipziger, die Dresdner, die Berliner oder Hal-
lensische Schule, die trotz ihrer Differenziertheit, eigene Stilkennzeichen
aufwiesen. Besonders bekannt wurde die "neue Sachlichkeit" der Leipziger
Schule oder der "historizierende Stil" von Wemer Tübke und Zander. Aller-
dings führte die neu gewonnene Freiheit in der Malerei nicht dazu, dass der
Antifaschismus als Thema wieder aufgenommen und an Werke der 20er und
30er Jahre wieder angeknüpft wurde. Antifaschistische Themen kamen hin
und wieder vor, spielten aber keine wichtige Rolle.
Eines der wenigen Rückgriffe auf die antifaschistische Thematik von
größerer Bedeutung war die Werkschau "Kunst im Aufbruch. Dresden 1918-
1933" von 1980. Anlass war der 35. Jahrestag der "Befreiung vom Faschis-
mus" und die Rettung der Dresdner Kunstschätze durch die Rote Armee.
Das Ziel sollte die "Erschließung des reichen Erbes proletarisch-
revolutionärer Kunst" sein. Allerdings erfasste diese Ausstellung nur Werke
des Dresdner Raumes, was zwar nach den Aussagen des Generaldirektors
der Dresdner Kunstsammlungen Manfred Bachmanns keine Unterbewertung
dieser Art von Kunst bedeuten sollte, jedoch die Problematik des Umganges
mit der antifaschistischen Malerei geradezu deutlich wurde, wenn er sagte:

"Diese lokale Beschränkung soll aber keine inhaltliche Begrenzung bedeuten ... Die Aus-
stellung 'Kunst im Aufbruch' präsentiert eine Vielzahl von bisher unbekannten oder wenig
gezeigten Werken,,259

Aus dieser Aussage wird deutlich, dass das Thema lange Zeit hinten an-
gestellt wurde und die Wiederaufnahme etwas neues und besonders darstell-
te. Der Anspruch, den der Generaldirektor mit der Ausstellung verband, "bei
jungen Menschen zur Ausprägung eines sozialistischen Epochebildes" bei-
zutragen, konnte sich unter den Bedingungen von 1980 aber nicht mehr

259 Bachmann, Manfred: Vorwort zum Katalog "Kunst im Aufbruch. Dresden 1918-1933." Aus-
stellung im A1bertinum vom 30.09.1980 bis zum 25.02.1981. Dresden: Staatliche Kunst-
sammlungen Dresden Gemäldegalerie Neue Meister 1980: 9.

156
verwirklichen. Der Mythos vom Antifaschismus hatte sich zu diesem Zeit-
punkt durch den Widerspruch zwischen dogmatischer Implementierung und
mythischer Rezeption derart ausgedünnt, dass er nicht mehr in der Lage
war, ausreichend Sinnangebote für die damalige Gesellschaft in der DDR zu
machen. Derartige Versuche der Wiederbelebung eines einst unter den bil-
denden Künstlern sehr lebendigen politischen Mythos und eines ideellen
Bekenntnisses großer Teile der Aufbaugeneration in der SBZ und am Be-
ginn der DDR in der Generation der 80er Jahre über das Medium der Male-
rei mussten fehlschlagen.

4. Die rituelle Seite des Antifaschismusmythos

Durch Rituale werden die durch die Mythen aufgezeigten Bindungen an


eine Gruppe und an bestimmte Inhalte durch "stete und gleichbleibende
Wiederholung bekräftigt".260 Die Zeit wird durch diesen Vorgang aufgeho-
ben, indem sich die Vergangenheit verlebendigt. Rituale vermitteln "Sinn
nicht über das verstandesmäßige Denken, also nicht über den Kopf, sondern
über den Körper oder - wenn man so will - über das Herz.,,261 R. Rytlewsky
und D. Kraa betonen, dass Rituale "soziale Beziehungen ausdrücken und
eingrenzen."262 Allerdings unterscheiden sie hinsichtlich der Funktion von
Ritualen zwischen den Bedürfnissen der Bevölkerung und denen der Herr-
schenden, die einmal dem "metaphysischen Bedürfnis nach integrierender
Sinngebung" und zum anderen dem "nach Stabilität und Loyalität" zuge-
ordnet werden. Diese Trennung dürfte zumindest für funktional differenzier-

260 Voigt, Rüdiger: Mythen, Rituale und Symbole in der Politik. In: Ders. (Hrsg.): Symbole der
Politik. Politik der Symbole. a.a.O.: 12.
261 ebenda.
262 Rytlewsky, R. und D. Kraa: Politische Rituale in der SO\~jetunion und der DDR. In: Aus
Politik und Zeitgeschichte B 3/1987 (17.01.1987): 34. Es wird der Versuch untemonunen, ei-
ne Definition filr politische Rituale zu geben, deren Text folgenderrnassen lautet: Rituale sind
"stilisierte, sich wiederholende Aktivitäten, die soziale Beziehungen ausdrücken und eingren-
zen. Dies geschieht in der Regel unter Verwendung von Symbolen, die Bedeutungsgehalte
transportieren sollen. Auf der Seite der Beherrschten konunen sie den metaphysischen Bedürf-
nissen der Bevölkerung nach integrierender Sinngebung, auf der Seite der Herrschenden Be-
dürfuissen nach Stabilität und Loyalität entgegen. Rituale verbinden den Einzelnen mit der
Gruppe, die wiederum Bestandteil des politisch-sozialen Umfeldes ist. Sie werden überwiegend
von oben eingesetzt und verbinden in der DDR wie in anderen sozialistischen Staaten Nomen-
klaturkader in der Form von institutionalisierten Haltungen." Zitiert nach Kraa, Detlef: Sozia-
listische Rituale und kulturelle Überlagerung in der DDR. In: Rüdiger Voigt (Hrsg.): Symbole
der Politik, Politik der Symbole. Opladen: Leske und Budrich 1987: 198.

157
te Gesellschaften hinfällig sein und bleibt auch in Diktaturen fraglich. Wenn
das Volk kein Interesse an Stabilität hätte, könnten diese nicht funktionie-
ren.
Im Ritual werden oft verschiedene Ordnungen miteinander versöhnt.
Rituale erzeugen ein Gefühl des Zur-Gruppe-Gehörens und bieten emotiona-
len Halt. "Im Ritual nimmt der Einzelne am Gefühlshaushalt, aller Grup-
penmitglieder ... teil...,,263 Rituale sind wichtige Instrumente zur Durchset-
zung politischer Zielsetzungen. Feste und Feiertage dienen der wiederholten
Beschwörung von politischen Mythen und der Akzeptanz der proklamierten
politischen Inhalte. 264

4.1 Der "Internationale Gedenktag für die Opfer des faschistischen


Terrors und Kampftag gegen Faschismus und imperialistischen
Krieg"

Der 13. Dezember wurde in der DDR als "Internationaler Gedenktag der
Opfer des faschistischen Terrors und Kampftag gegen Faschismus und im-
perialistischen Krieg" begangen. Wie der Titel des Gedenktages aussagt,
wurde die Erinnerung an die aus rassischen und politischen Gründen Getö-
teten und Geschädigten wachgehalten und erneuert, die Opfer geheiligt und
daraus die Motivation für den Kampf gegen eine solche Ordnung bezogen.
Der Kampf gegen eine Ordnung jedoch, die nicht mehr vorhanden war,
richtete sich einerseits an der Absicht aus, dass die Vergangenheit im Sinne
der Typologie von Jan Assmann nicht wiederholt werden durfte und zum
anderen daran, dass dieses nicht zu Wiederholende in der Gegenwart von
außen kommen und eine neue Gefahr für das eigene System darstellen könn-
te. Der zu bekämpfende "Faschismus und imperialistische Krieg" hatte in
den rituellen Inszenierungen dieses Tages einen Vergangenheits- als auch
einen Gegenwartsbezug. Einerseits wurde daran erinnert, was für Leiden
und Schrecken der Faschismus und imperialistische Krieg gebracht hatten.
Das hier thematisierte Leiden bezog sich aber nicht auf das durch die
Kriegsfolgen verursachte Leid der Deutschen, sondern auf das der Antifa-
schisten und das der Millionen in den vom nationalsozialistischen Deutsch-
land besetzten Gebieten. Andererseits wurde der Begriff Imperialismus in
der DDR auf alle westlichen Länder angewendet, und alle militärischen

263 ebenda: 14.


264 VgI. Voigt, Rüdiger: Mythen, Rituale und Symbole in der Politik. In: Ders. (Hrsg.): Symbole
der Politik. Politik der Symbole. a.a.O.: 11

158
Konflikte, in die ein westliches Land direkt oder indirekt verwickelt war,
wurden als imperialistische Kriege bezeichnet. Imperialistischer Krieg war
auch immer das, was vor der Mauer in den westlichen Ländern als Bedro-
hung für die sozialistischen Staaten lauerte. Über den imperialistischen
Krieg wurde der Faschismus als Bezugspaar in die Gegenwart geholt. Droh-
te imperialistischer Krieg, so drohte auch Faschismus.
Dass der Gedenktag als internationaler bezeichnet wurde, verweist dar-
auf, dass aus dem beanspruchten "internationalistischen" Charakter der
sozialistischen Gesellschaftsordnuni65 auch eine internationale Gefahr für
diese Ordnung abgeleitet wurde. Außerdem stellte der Faschismusbegriff
nicht, wie der des Nationalsozialismus, auf nationale Entwicklungsspezifik
ab, sondern verstand diesen als ein Systemkennzeichen des internationalen
Kapitalismus oder Imperialismus. Somit stellte schon der Name dieses Ge-
denktages die gesamte Widerspriichlichkeit des Antifaschismus in der DDR
und dessen Identifikationsschwierigkeiten dar.
Der ausgesprochen offizielle und elitäre Charakter der rituellen Insze-
nierung dieses Tages, wobei die Parteiführung und die Regierung als Haupt-
akteur, die Mehrheit der von nationalsozialistischer Verfolgung Betroffenen
als Statisten und die Bevölkerung als Zuschauer fungierte, bezeugte die
Schwierigkeit bei der Verinnerlichung des offiziellen Antifaschismus und
die immer stärker werdende Einengung des Antifaschismus auf dessen In-
dienstnahme für die politische Legitimation der kleinen Führungsspitze. Der
Tag der "Opfer des Faschismus", wie er kurz bezeichnet wurde, wurde im-
mer mehr zu einer öffentlichen Partei- und Regierungsveranstaltung, die mit
zunehmendem Alter der DDR kaum noch Beachtung fand.
Das rituelle Procedere vollzog sich durch Kranzniederlegungen am
Denkmal der Interbrigadisten in Berlin Friedrichshain und am Mahnmal
Unter den Linden. Die Bedeutungszuweisung der Akteure des Rituals in der
offiziellen Berichterstattung konzentrierte sich entsprechend der elitären
Vereinnahmung auf die Kranzniederlegung des

265 Unter dern Adjektiv "internationa1istisch" verstand man in der marxistisch-leninistischen Lehre
in den ehemaligen staatssozialistischen Ländern den nationenübergreifenden Charakter des
"Kampfes der Arbeiterklasse", als deren Nachfolger sich diese Länder verstanden. Ausserdern
implizierte dieser Begriff eine internationale Schicksalsgemeinschaft, die eine neue Gesell-
schaftsordnung errichtete und deshalb von den Ländern der alten Ordnung gemeinschaftlich
bekllmpft wurden. Aber nicht nur die Gemeinschaft der sozialistischen Staaten war gemeint,
sondern auch die Oppostionsbewegungen in den kapitalistischen Staaten und die "Nationale
Befreiungsbewegung" in den Entwicklungsländern.

159
"Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR,
Erich Honecker, weitere f1ihrende Persönlichkeiten der DDR zusammen mit ehemaligen
Spanienkämpfern und weiteren antifaschistischen Widerstandskämpfem.,,266

Das Ritual vollzog sich halb in Fonn eines Begräbnisses und halb eines
militärischen Zeremoniells. Dem Demonstrationszug, der sich aus zumeist
bestellten Angestellten, Arbeitern, Studenten und Schülern zusammensetzte
und als "Zug der Ehrenden,,267 bezeichnet wurde, schritt eine Formation von
Soldaten und Unteroffizieren voran, die die Kränze des Zentralkomitees der
SED, der Volkskammer, des Staatsrates und des Ministerrates trugen und
schließlich bei den Klängen eines Trauennarsches, meist des russischen
Marschs "Unsterbliche Opfer", am jeweiligen Denkmal niederlegten. Am
Interbrigadistendenkmal erstattete der Vorsitzende der Sektion ehemaliger
Spanienkämpfer der Zentralleitung des Komitees der Antifaschistischen
Widerstandskämpfer dem Generalsekretär des ZK der SED gegenüber Mel-
dung über die Teilnahme der Spaniernkämpfer. Die Spanienkämpfer trugen
mit sich die Fahne der XI. Internationalen Brigade, in der im Spanienkrieg
die deutschen Interbrigadisten kämpften. Die Reihenfolge der Kranznieder-
legungen ließ die Bedeutungsskala der Gruppen sichtbar werden, denen das
politische Ritual diente. Als erstes legten die NYA-Soldaten die Kränze des
Politbüros nieder, dann folgten die der internationalen Gäste und des Komi-
tees Antifaschistischer Widerstandskämpfer, und als letztes wurden Kränze
verschiedener Organisationen und Institutionen dargebracht. Für eine Trau-
erehrung durch Einzelpersonen und nichtorganisierte Menschen blieb kein
Raum.
Das Trauerritual in der Mahnstätte Unter den Linden erfolgte auf ähnli-
che Weise, nur dass es im Inneren des Gebäudes stattfand. Wenn die Partei-
und Staatsführung das Gebäude betrat, erfolgte "dumpfer Trommelwirbel".
Nach dem Niederlegen der Kränze verharrten sie in einer Schweigeminute
und verbeugten sich. Am Ende wurde die Hymne der DDR intoniert, wäh-
rend die Ehrenkompanie an der Wache vorbeimarschierte und militärisch
grüßte?68 Auch hier erfolgte die Verbindung zwischen Totengedenken und
militärischem Ritual, das an preußische Traditionen anknüpfte und in die
neue Welt einer anderen Ordnung herübergeholt wurde.
Die im spanischen Bürgerkrieg Gefallenen und durch die Nazis Ennor-
deten wurden an diesem Tag zu Opfern geheiligt. Sie hatten ihr Leben gege-

266 In: Neue Zeit, Berlin vom 15.01.1986.


267 ebenda.
268 ebenda.

160
ben, damit der Staat und die damit verbundene Ordnung existieren konnte.
Ihr Tod war nach der mythischen Erzählung des DDR-Antifaschismus der
Lebensborn für die folgenden Generationen gewesen, so dass im übertrage-
nen Sinne ein Schuldvorwurf rur die DDR-Bürger mitschwang, der in sol-
chen Feierlichkeiten wie im September abgetragen wurde. Diejenigen, die
das direkte Erbe der Toten antraten und das Bindeglied zwischen ihnen und
den Lebenden darstellten, gingen dem Zug voran, legten als erste die Kränze
nieder und wurden selbst geheiligt. Sie brauchten die Kränze nicht selbst zu
tragen, und wenn sie die Neue Wache betraten, erscholl Trommelwirbel. Oft
war nicht klar, wer eigentlich geehrt wurde, ob die Lebenden oder die Toten,
es verschwammen die Linien zwischen Trauer und Huldigung der Leben-
den. Im Opferstatus entwickelte sich ein Widerspruch. In der DDR wurde
Opfer im Sinne von Hingeben und Weggeben, hier Geben des eigenen Le-
bens rur etwas HöhereslHeiliges, nämlich rur Antifaschismus und den Sozia-
lismus, interpretiert. Dieses Weggeben glitt aber in Nehmen über, sobald die
apriori beanspruchte Macht durch eine Gruppe von Antifaschisten über-
nommen wurde. Geben wurde zu Nehmen. Dieses Nehmen wurde nun in
ritueller Form durch die vorzugsweise Positionierung der Partei- und Staats-
ruhrung bestätigt. Die Zuspitzung der Ehrerweisung auf eine kleine Gruppe
der Antifaschisten verletzte den offiziell proklamierten, auf die gesamte
Gemeinschaft zielenden Opferstatus um so mehr.
Im Grunde vermengten sich hier zwei Formen der Opferdefinition. In
dem einen Fall bezeichnet "das Opfer im klassischem Sinne die Weggabe
von etwas, das dem Gebenden Nahestand und ihm bedeutungsvoll war, und
zwar in Anerkennung eines über dem Gegebenen stehenden Höheren,
gleichsam als ein Akt der Selbstidentifikation des Gebenden gegenüber dem
Höheren. ,,269

Die andere Form ist mit der Substitution der Opfernden verbunden, d.h.
das die Gebenden aus der Gabe Vorteile ziehen. Es ist ähnlich wie das Her-
fried Münkler für Spende, Stiftung und Sponsoring für die westlichen Ge-
sellschaften beschrieb, dass das Eigene strategisch platziert wird und einer
Logik des Investierens folgt, nach der am Ende alles oder gar mehr zurück-
gegeben wird. Wenn das in den westlichen Gesellschaften in erster Linie auf
ökonomische Ambitionen zutraf, bezog es sich in den realsozialistischen
Ländern, hier speziell in der DDR, auf den Machterhalt und die Legitimie-
rung der herrschenden politischen Elite. In dieser Doppelung der Opferre-

269 Siehe Münkler, Herfried: Verzichten, Sterben und Töten - wofilr? 'Notwendigkeit des Opfers'
in den Politischen Theorien und der politischen Realität des 20. Jahrhunderts. Berlin 1995.

161
flektion lag eine große Grauzone des Undefinierten, die Unverständnis,
Nichtnachvollziehbarkeit und Aversionen bei den Rezipienten erzeugte. Da
die offizielle Opferrhetorik jedoch überwiegend auf die herkömmliche Defi-
nition abstellte, war das Verhalten der Partei- und Staatsfiihrung, die sich zu
solchen Anlässen selbst ehrte, völlig unverständlich. In all den Erzählungen
der antifaschistischen Literatur, wie bei Seghers, Becher, Wolf und Brecht,
und in den ikonographischen Darstellungen der politischen Denkmäler oder
Wandgemälde standen Verhaltensweisen der sich für eine höhere Sache
Opfernden im Mittelpunkt.
Um diesen Opfertypus rankten sich die verschiedensten Darstellungs-
weisen und Geschichten. Er bildete den Fokus des antifaschistischen My-
thos' überhaupt. Die Selbstfeier und Selbstbeweihräucherung der SED-
Führung stand nun im krassen Gegensatz zu dieser, besonders unter der
Aufbaugeneration verinnerlichten Geschichte. Sie fand in zunehmendem
Masse Missfallen, zuerst bei der jüngeren Generation, aber auch bei den
alten Antifaschisten, die von der ersten Garnitur der Machtelite immer mehr
ausgeschlossen und besonders bei den antifaschistischen Ritualen an den
Rand gedrängt wurden. Die alten Antifaschisten, die selbst Teil des großen
antifaschistischen Opfers waren, wurden immer weniger an diesen Ritualen
beteiligt und durch die Selbstfeierung der Staats- und Parteiführung ver-
drängt. Diese Handhabung von Symbolpolitik stellte eine wesentlichste
Ursache für die sinkende Effektivität auf Identität und Integration der Ge-
sellschaft in der DDR dar. Erstens verschwand die Plastizität und Plausibili-
tät der Rituale. Zweitens wurde sie als instrumentell machterhaltend erkannt
und drittens befand sie sich zu dem proklamierten Opfertypus im eklatanten
Widerspruch.

4.2 Der 1. Mai und der Antifaschismus

Auch der l. Mai wurde nicht nur als Kampftag der internationalen Arbeiter-
bewegung begangen, sondern diente oft der Implementierung des anti-
faschistischen Mythos. So wurden Bilder von bekannten Antifaschisten,
Tafeln und Transparente mit Losungen gegen den wiederauflebenden Fa-
schismus in der Bundesrepublik bei den Kundgebungen getragen und die
Sowjetunion als Befreier vom Faschismus gehuldigt. Auf der Maikundge-
bung 1965 fuhr ein Wagen, auf dem ein Theaterstück das historische Ereig-
nis von 1945 nachstellte, bei dem Rotarmisten die Sowjetfahne auf dem

162
Reichstag hissten. 270 Oder 1975 bildeten Thälmannpioniere einen roten So-
wjetstem, über dem die Nachbildung des Treptower Ehrenmals aufragte. 271
Dazu erklang das Lied von Ernst Busch. "Dank an die Sowjetannee" mit

"Kampfdemonstration" zum 1. Mai 1989 in Berlin mit Tribüne im Hintergrund. (Quelle: Zentral-
komitee der SED: ,,40 Jahre DDR." Mai 1989: 127.)

270 Kraa, Detlev: Sozialistische Rituale und kulturelle Überlagerung in der DDR. In: Voigt,
Rüdiger (Hrsg.): Symbole der Politik., Politik der Symbole. Opladen. Leske und Budrich
1989: 205.
271 ebenda: der ausfilhrliche Text, den er aus der Tageszeitung "Neues Deutschland" entnommen
hat, heisst: "Thälmannpioniere formierten sich zu einem leuchtend roten Siegesstern, über dem
eine Nachbildung des Treptower (sowjetischen) Ehrenmals aufragt: der Sowjetsoldat, das Ha-
kenkreuz zerschlagend, ein Kind auf dem Ann."

163
dem Liedanfang "Wer hat vollbracht die Taten ... " und dem Refrain "Dank
euch, ihr Sowjetsoldaten" .272 Außerdem wurde die Siegesmeldung des Mos-
kauer Rundfunks vom 9.5.1945 eingespielt. Pioniere stürmten mit Blumen
zu den sowjetischen Soldaten, die zu beiden Seiten der Strasse aufgereiht
waren. 273

Das Nachstellen der Befreiungsszenen hatte sowohl einen kognitiven als


auch einen sensitiven Aspekt. Ähnliche Spiele werden in Amerika durchge-
führt, wenn es darum geht, dass die Besucher des Bostoner Museumsbootes
die Boston Tea-Party möglichst originalgetreu nachspielen. Erstens soll an
das historische Ereignis erinnert und vor dem Vergessen geschützt werden
und zweitens erfahren die am Spiel Beteiligten und die zuschauenden Ange-
hörigen und Bekannten eine gefühlsmäßige Bindung an das nachgestellte
Ereignis. Ist es doch so, als ob sie selbst für einen Moment Teil der histori-
schen Szene seien und durch ihr Tun die Geschichte beeinflussten. Seit jeher
ist das Nachspielen Mittel der Identifikation. Allerdings waren an derartigen
Szenen, wie sie anlässlieh der Maifeierlichkeiten in der DDR beschrieben
wurden, relativ wenige beteiligt, so dass sie keinen Massencharakter entwi-
ckeln konnten. Die Zuschauer, die nichts mit den Personen zu tun hatten,
empfanden solche Mittel der Symbolpolitik eher langweilig und unzeitge-
mäß, wenn nicht lächerlich.

5. Die Wirksamkeit des antifaschistischen Mythos in der


DDR auf Identität und Integration

Die Geschichte von wenigen im nationalsozialistischen Deutschland wurde


zur Geschichte fast aller in der DDR. Dies war die mythische Geschichte der
antifaschistischen Mahn- und Gedenkstätten als auch die der Widerstands-
und Schulliteratur. Das Prinzip, die Werte und Handlungen weniger zu
Werten und Handlungen aller zu machen, ist ein typisches Prinzip für Situa-
tionen von grundlegenden politischen und sozialen Veränderungen, wie dies
auch im Mythos der Französischen Revolution der Fall ist. Immer wieder
setzten die niedrigen Zahlen der Beteiligten am Sturm auf die Bastille in
Erstaunen, denn im Unterbewusstsein war es das gesamte französische Volk.

272 Der Text des Liedes stanunt von Joh3lUles R. Becher und die Musik von Ernst Henn3lUl
Meyer.
273 Kraa, Detlev: Sozialistische Rituale ... a.a.O.

164
Ähnlich verhält es sich mit der Besetzung des Winterpalais 1917 in Russ-
land. Das, was einige unternahmen, wird zum Unternehmen des ganzen
Volkes.
Der Unterschied des Sturmes auf die Bastille zum deutschen antifaschi-
stischen Widerstand als symbolträchtiges, mythisches Ereignis besteht darin,
dass der antifaschistische Widerstandskampf selbst keine neue Entwicklung
eingeleitet hat, wie es die Französische Revolution oder die Oktoberrevolu-
tion getan hatten. Der Antifaschismus kam von außen und die eigenen Anti-
faschisten hatten nur einen geringen Einfluss, und sie lösten selbst keine
neue Entwicklung aus. Diesem Umstand wurde am Beginn der DDR keine
große Bedeutung beigemessen, denn der politische Mythos, dass sich die
DDR im Gefolge der Tradition des antifaschistischen Widerstandskampfes
befand, schaffte der politischen Elite, die mit Hilfe der SMAD an die Macht
kam, eine moralische Rechtfertigung für die Machtübernahme.
Trotz der Instrumentalisierung des antifaschistischen Widerstands und
trotz der geringen Verwurzelung in der deutschen Geschichte bildete sich in
der Nachkrlegs- oder Aufbaugeneration und zum großen Teil in den nach-
folgenden Generationen ein antifaschistischer Mythos heraus, auch wenn
seine Alterungsfähigkeit und Integrationskraft einem raschen Verschleiß
unterlag. Die kulturelle Erinnerungsarbeit der politischen Elite und der
Meinungsbildner in der DDR konnte zum Mythos werden, da sie sich mit
der historischen Situation des Untergangs des Nationalsozialismus deckte
und ein Angebot an Sinnmaterial darstellte, mit der Niederlage fertig zu
werden. Indem das Finanzkapital in erster Linie fiir den faschistischen Ter-
ror verantwortlich gemacht und das deutsche Volk zu dessen Opfer umdis-
poniert wurde, fiel es leichter, mit der Schmach der Niederlage zu leben und
Verantwortung fiir die nationalsozialistischen Verbrechen abzugeben. Hier
setzte das von Sigmund Freud im Rahmen der Psychoanalyse thematisierte
Verdrängungsmoment ein. Nach dem Ödipusmodell kommt Freud zu dem
Schluss, dass Mythen oft als Schuldbewältigungsarbeit im kollektiven Be-
wusstsein fungieren. 274 Für die junge Generation, die Aufbaugeneration,
bedeutete der antifaschistische Mythos eine gute Grundlage, sich mit dem
sozialistischen Gesellschaftsmodell identisch zu fiihlen, denn Sozialismus
und Faschismus waren Antagonismen, Sozialismus und Demokratie er-
schienen identisch. Antifaschismus, Demokratie und Sozialismus waren
somit in deren Selbstverständnis eine feste und logische Dreieinigkeit. Diese

274 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. In: Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Bd. und 3.
FrankfurtJM. 1987.

165
Auffassung wird in der ständigen Verbindung dieser drei Begriffe als Sub-
stantive und noch häufiger als Adjektive in der öffentlichen und kulturellen
Sprache deutlich. Vor alle Bezeichnungen, die das Wort Antifaschismus in
sich trugen, wurde auch das Wort Demokratie oder demokratisch gesetzt,
z.B. "antifaschistisch-demokratische Ordnung" oder "antifaschistisch-
demokratische Umwälzung" bis hin zum "antifaschistisch-demokratischen
Schutzwall" .
In den Vorstellungen vieler bekannter Intellektueller in der SBZ und
späteren DDR überwog das Bekenntnis zur Demokratie im Zusammenhang
mit dem Antifaschismus gegenüber dem zum Sozialismus, der entweder als
eine Entwicklungsmöglichkeit in einer nicht zu bestimmenden Zukunft
betrachtet wurde oder keine Beachtung fand. Dies entsprach den Konzeptio-
nen von bekannten Schriftstellern wie Thomas Mann, Bertolt Brecht, Willi
Bredel, Johannes R. Becher oder Anna Seghers, die sich nach dem Krieg im
Kulturbund zusammengeschlossen hatten.
Die Formung der politischen Elite nach stalinistischen Kriterien und die
Inthronisierung der aus dem sowjetischen Exil kommenden Kommunisten
zur politischen Führungsrnacht indoktrinierte ein politisches Wertesystem,
das die Verbindung des Antifaschismus mit Demokratie durch die Liierung
mit dem sozialistischen Gesellschaftsmodell ablöste und das demokratische
Element marginalisierte und letztendlich eliminierte. Der Begriff der Demo-
kratie blieb zwar erhalten, wurde jedoch zur Worthülse. Antifaschismus re-
flektierte somit immer weniger das Bild der gesamten Gesellschaft, sondern
immer stärker das der Gruppe der an der Macht befindlichen Elite. Da das
demokratische Element in der politischen Praxis aus den Herrschaftsinstru-
menten immer stärker ausgegrenzt wurde und nur noch als fossiles Adjektiv
der unmittelbaren Nachkriegsjahre fungierte, überwog in der kulturellen
Erinnerungsarbeit auch immer stärker das Merkmal der Selbstreflexion der
Gruppe, die sich an der Macht befand, d.h., das Selbstbild der Gruppe
stimmte immer weniger mit dem tatsächlichen und ursprünglichen Grup-
penbild, nämlich als Vertreterin der konsequentesten Demokratie, überein.
Das Übergewicht der Selbstreflexivität der Partei- und Staatsführung in der
DDR ist sicher eine der wichtigsten Ursachen für eine beschränkte Alte-
rungsfähigkeit des politischen Mythos vom Antifaschismus und der abneh-
menden Fähigkeit, Identität und Integration zu schaffen.
Ein weiteres wichtiges Moment für die eingeschränkte Wirksamkeit des
antifaschistischen Gründungsmythos in der DDR ist der Bruch zwischen
kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Im kommunikativen Ge-

166
dächtnis der Deutschen war der Antifaschismus fast nicht vorhanden. Wie
konnte dann die weiche zu einer festen Form der Erinnerung gerinnen? Kol-
lektives Gedächtnis wurde gleich in seiner festen Form durch Riten, Denk-
mäler, Festtage, Begehungen usw. geformt, doch es fehlte der individuelle
Bezug. Zwar konnte bei der Aufbaugeneration und ihren Kindern ein politi-
scher Mythos auf dieser Grundlage geschaffen werden, doch hatte er nicht
ausreichend Kraft, sich auf die folgenden Generationen zu übertragen.
Ein großer Bruch entstand Mitte der 70er Jahre, als das Fehlschlagen
der Ulbricht-Ära offensichtlich wurde. Die rein instrumentelle Seite des
Antifaschismus der Herrschenden wurde von breiten Bevölkerungsschichten
wahrgenommen, und es entwickelten sich Aversionen gegen den herrschen-
den Antifaschismus. Die politische Haltung der Aufbaugeneration und die
der Nachfolgegenerationen begannen immer mehr auseinander zu klaffen.
Zwar bekannte sich fast die gesamte Bevölkerung formal zum Antifaschis-
mus, doch verlor dieses Bekenntnis an Kraft für die Identitätsbildung. Der
Antifaschismus wurde einfach entmythisiert. Die festgefahrenen Feierlich-
keiten zum "Tag der Befreiung", offizielle und kollektive Begehungen der
antifaschistischen Mahn- und Gedenkstätten und Traditionskabinette durch
die Schulen wurden überwiegend als oktroyierte Pflichtübung betrachtet und
meistenteils als lästig empfunden.
Seinen endgültigen Todesstoss erhielt der Mythos des Antifaschismus
unter der Ära Honecker. Im Bemühen, die Talfahrt der DDR-Identität auf-
zuhalten, beschloss die Partei- und Staatsfiihrung, stärker auf nationale
Mythen zurückzugreifen und besonders den Stolz auf die positiven Traditio-
nen der preußischen Geschichte neu aufleben zu lassen. Dieses Unterfangen
musste zwangsläufig scheitern. Es stellte den direkten Gegensatz zu den
bisherigen Begründungsargumenten für die Ursachen des Nationalsozialis-
mus dar. Das Preußenturn wurde als eine der bestimmenden historischen
Ursachen für den deutschen Militarismus und Faschismus betrachtet. Die
Flut von Bismarck- und Friedrichbiographien, die große Preußenausstellung
und die Umsetzung des Denkmals Friedrich 11. von Potsdarn mitten Unter
die Linden wirkte wie eine Verhöhnung aller bisherigen symbolischen Poli-
tik über den Antifaschismus, in dessen Umfeld sich weitere Mythen wie der
von der deutschen Arbeiterbewegung, der Oktoberrevolution, vom positiven
Erbe der Klassik, vom "neuen Menschen" und vom Aufbau einer "besseren
Gesellschaft" rankten. Was Friedrich 11. und Bismarck mit dem antifaschis-
tischen Widerstandskampf zu tun hatten, war nicht nachzuvollziehen. Hier

167
wurde nicht im Blumenbergschen Sinne "Arbeit am Mythos,,275, d.h. die
Anpassung und Veränderung von Mythen entsprechend den veränderten
Umständen vollzogen. Selbst das von Levi-Strauss entwickelte Paradigma
des Trickster276 - der Verbindung völlig unterschiedlicher Gegenstände, die
zu völlig unterschiedlichen Zeiten stattgefunden hatten, zu einem Mythos
mit einem Sinnzusammenhang - funktionierte hier nicht. Während zwi-
schen der deutschen Klassik und dem Antifaschismus noch ein Sinnzusam-
menhang ausgemacht werden kann, ist das zwischen Bismarck und dem
Antifaschismus nicht möglich. Diese Gegensätzlichkeit, die die Negation
des bisherigen Mythos darstellte, war eine wesentliche Ursache für den Zu-
sammenbruch des Antifaschismus als Mythos in der DDR.
Mit der hier dargelegten Argumentation über den Zusammenbruch eines
der wichtigsten DDR-Mythen, will ich deutlich machen, dass die Funkti-
onsweise politischer Mythen nicht allein davon abhängt, ob sie mehr sozia-
len oder nationalen Charakter tragen, sondern auch ganz entscheidend da-
von, auf welche Weise der Mythos entstanden ist, nämlich, ob er im Gefolge
weit verbreiteter Stimmungen, Einstellungen und Haltungen entstanden ist
oder ob er sich auf der Grundlage der Überzeugung einer kleinen Gruppe
entwickelt hat, die durch bestimmte historische und politische Umstände,
die meist von außen diktiert sind, in der Lage sind, die "Symbolgewalt"
auszuüben, den öffentlichen Raum einzunehmen und aus dieser Warte My-
then zu setzen. Auf diese Weise vollzieht sich ein Bruch zwischen kommu-
nikativem und kulturellem Gedächtnis innerhalb der Gesellschaft. Der enge
Zusammenhang zwischen beiden Gedächtnisformen macht erst den Mythos
aus und kann zu seiner identitätsstiftenden und Integration schaffenden
Funktion beitragen.
Unter bestimmten Umständen, in Zeiten von Orientierungslosigkeit und
eines Mythenvakuums, können auch von oben oder außen gesetzte Ge-
schichten zu Mythen werden, wie dies in beiden deutschen Staaten nach
dem Krieg der Fall war. Bringen diese mythischen Geschichten es jedoch
nicht fertig, zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis zu
vermitteln, sind sie zum Scheitern verurteilt. Die Alterungsfahigkeit und
identitätsstiftende Wirkung bleibt dann beschränkt.

275 vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986.


276 Vgl. Levi-Strauss, Claude: Mythologica. a.a.O.

168
Kapitel III:
Bauemkrieg und Reformation als politische Mythen
der DDR

Über die gesamte Zeit der DDR hinweg unterlagen die einschneidenden
Ereignisse des 16. Jahrhunderts, namentlich der Bauernkrieg von 1525 und
die Reformation ab 1517, einer ausgeprägten Mythisierung. Sie stellten
"Additionsmythen,,277 zum wichtigsten Gründungsmythos vom Antifaschis-
mus dar, charakterisierten ihn näher und schrieben seine sozialpolitische
Richtung fest. Thomas Müntzer und der Bauernkrieg stellten dabei den
Kern mythischer Zugehörigkeitsbezüge dar, da diese den Versprechungen
und Erwartungen auf eine auf Gleichheit und Volksherrschaft beruhende
Gesellschaft in der DDR entsprachen und einem sich als revolutionär defi-
nierenden Staates wie kein anderes geschichtliches Ereignis gerecht wurden.
Dies änderte sich, als Anfang der 80er Jahre plötzlich Martin Luther und die
Reformation in den Vordergrund mythischer Narrationen rückten und Bau-
ernkrieg und Thomas Müntzer marginalisierten.
Die breitangelegte Lutherehrung der DDR im Jahre 1983, die mit offi-
ziellen Würdigungen durch die Staats- und Parteiführung, Festveranstaltun-
gen, wissenschaftlichen Tagungen, Ausstellungen und einem ausgesprochen
aufwendig produzierten fünfteiligen Fernsehfilm zu Luther einherging, mu-
tete für einen sich atheistisch gebenden und genuin klassenkämpferisch und
marxistisch-leninistisch definierenden Staat widersprüchlich an. 278 Das

277 Das Wort "Additionsmythen" beschreibt Mythen, die den Haupt- und Gründungsmythen
angegliedert werden, um das mythische Bild abzurunden und gTössere Rezipientenkreise zu er-
fassen. An späterer Stelle wird der Begriff näher beschrieben.
278 Die Bedeutung der Lutherehrung zu Beginn der 80er Jahre im politischen Mythos der DDR
wird aus dem gTossen AufWand an symbolischer und repräsentativer Politik deutlich: Am
13.06.1980 wurde das Martin-Luther-Komitee der DDR unter dem Vorsitz des Generalsekre-
tärs der SED, Erich Honecker, konstituiert; zahlreiche wissenschaftliche Tagungen, u.a. die in-
ternationale wissenschaftliche Konferenz "Martin Luther - geschichtliche Stellung und histori-
sches Erbe", organisiert von der Akademie der Wissenschaften der DDR und dem Ministerium
filr Hoch- und Fachschulwesen in Halle (Saale) im Oktober 1983; Ausstellungen wie "Martin
Luther und seine Zeit" im Museum filr Deutsche Geschichte 1983; öffentliche Vorträge und
Lesungen; der filnfteilige Fernsehfilm "Martin Luther" von Hans Kohlus und Kurt Veth, der
1983 ausgestrahlt wurde, der Film "Martin Luther und seine Zeit", der zusätzlich zur gleich-
namigen Ausstellung im Museum filr Deutsche Geschichte gezeigt wurde, die Dokumentar-
filmtrilogie zu Luther filr das DDR-Fernsehen. ("Ein Schüler in Mansfeld" -Erstsendung am
31.08.1983; "Der die Zeit beim Worte nahm" - erste Ausstrahlung am 07.09.1983 und "Bür-

169
ganze Land wurde von einem Lutherkult erfasst, der bis dahin nicht seines-
gleichen fand. Und dies, obwohl 1983 der 100. Todestag und 165. Ge-
burtstag von Karl Marx gefeiert wurden, und das ZK das Jahr zum Karl-
Marx-Jahr erklärte. Hatte Martin Luther Karl Marx verdrängt?
Diese mythische Fixierung der DDR auf Luther soll mit der Mythisie-
rung des Bauernkrieges und der Reformation, die eng mit dem antifaschisti-
schen Gründungsmythos verschränkt waren, in Bezug gesetzt werden. Lu-
ther kam nicht von ungefähr und über Nacht in das Bewusstsein der DDR-
Bürger, sondern er war von Beginn an eine Bezugsfigur, zu der sich das
politische System entweder distanzierend oder integrierend verhielt.
Die Beschäftigung mit Bauernkrieg und Reformation hat in der deut-
schen Geschichtsdiskussion eine lange Tradition, wobei es um die Ausle-
gung als verhängnisvoll oder den gesellschaftlichen Fortschritt befördernd
ging. Beide Themen erscheinen für die Untersuchung des politischen My-
thos der DDR deshalb von so großer Wichtigkeit, da sie alles erfüllen, was
mit mythischen Narrationen verbunden wird, die von den Ursprüngen einer
politischen Gemeinschaft handeln, von deren Sinn und geschichtlicher Mis-
sion. Beide Ereignisse und die mit diesen verbundenen wichtigsten Füh-
rungsgestalten Martin Luther und Thomas Müntzer fungierten in der DDR
als "Bedeutungsinvestitionen", um politische Orientierungen zu ermögli-
chen. 279 Sie wurden zur politischen Legitimation der Herrschenden instru-
mentalisiert und sollten zur Integration der Gesellschaft beitragen. Bauern-

ger Luther" - Erstsendung am 14.09.1983), "Bürger Luther" von Lew Hobmann wurde zu Ju-
gendweihveranstaltungen und in Vorträgen der URANIA gezeigt. Es fanden auch eine Reihe
von kirchlichen TV -Sendungen zu Luther statt: eine Sendung zum kirchlichen Reformations-
tag 1982 "Luther in unserer Stadt", der das Wirken Luthers in Halle zeigte, "Die Entdeckun-
gen des Dr. Martin Luther" vom 21.05.1983, "Vertrauen wagen" über den Thüringer Kirchen-
tag vorn 11.06.1983, "Die Bibel- das Buch der Gemeinde" vom 01.10.1983, "Martin Luther
auf dem Wege" über die ökumenische Bedeutung Luthers vom 29.10.1983; Der Bereich Un-
terhaltung beim Fernsehen der DDR strahlte am 10.10.1983 eine Sendung aus "Ein neues
Lied wir heben an ... ", in der ein Konzert mit Liedern aus der Lutherzeit gezeigt wurde; in der
Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" wurden 1983 24 Beiträge zum Lutherjubiläum ge-
sendet, grosse Direktübertragungen, Z.B. der staatliche Festakt am 09.11.1983, die Feierstunde
im Palas der Wartburg, der Festgottesdienst am 04.05.1983, die kirchliche Festveranstaltung
auf dem Marktplatz in Eisleben am 10.10.1983; ein Kurzfilm des DEFA-Studios Dresden
"copyright by Luther" von Lew Hobmann, die Wiederherrichtung der Wirkungs- und Lebens-
stätten von Martin Luther in Wittenberg, Erfurt und Eisenach, z.B. Wiedereröffuung des Ge-
burts- und Sterbehauses Luthers in Eisleben am 18.02.1983, Wiedereröffuung der Wartburg
und ihrer Ausstellungen am 21.04.1983, die Festveranstaltung im Palas der Wartburg aus An-
lass der Eröffuung des Lutherjahres am 04.05.1983; Kranzniederlegungen an Lutherdenkmä-
lern, z.B. Kranzniederlegung am Lutherdenkmal in Wittenberg am 10.11.1983.
279 Tenbruck, Friedrich: Die Sozialwissenschaften als Mythos der Moderne. Köln 1985.

170
krieg und Reformation wurden im Sinne von Jan Assmann in das kollektive
Gedächtnis der DDR durch kulturelle Formung (Texte, Riten und Denkmä-
ler) und institutionelle Kommunikation (Rezitation, Begehung und Betrach-
tung) eingearbeitet und verarbeitet. 280
Die Mythisierung von Bauernkrieg und Reformation ist in zweierlei
Hinsicht für die Mythenforschung interessant. Einmal handelt es sich um
das Rekurrieren auf den Ursprung, um die Verstärkung und Verdopplung
des Gründungsmythos, des Antifaschismus. Bauernkrieg und Reformation
sind Additionsmythen zum Ursprungsmythos, die seine spezifisch klassen-
kämpferische und revolutionäre Richtung hervorheben sollten. Unter Addi-
tionsmythen versteht die Autorin politische Mythen, die dem Hauptmythos
bzw. Gründungsmythos eines Staates, einer politischen Gemeinschaft oder
Gruppe angegliedert werden, um diesen näher zu charakterisieren und aus-
zugestalten. Additionsmythen erweitern den sich mit der politischen Ge-
meinschaft identisch fühlenden Personenkreis, da somit auch Gruppen er-
fasst werden können, die vorerst dem Griindungsmythos skeptisch gegenü-
berstehen.
Besonders wichtig, d.h. notwendig, sind Additionsmythen für "Negativ-
gründungsmythen", die aus der Negation des Vorhergehenden bestehen und
Utopien mit sehr unklaren Zukunftsbildern, wie dies Blumenberg sehr ein-
drucksvoll schilderte, ~ehr nahe kommen. 281 Die Additionsmythen haben
nun die Aufgabe, durch den Bezug auf bestimmte vergangene Ereignisse,
die nicht negiert, sondern nachgeahmt werden sollen, ein klareres Ge-
genwarts- und Zukunftsbild zu produzieren. So wird das Verhältnis zwi-
schen den beiden von Assmann genannten Gedächtnisformen wiederherge-
stellt, das zwischen Nachahmung und Verhinderung vermittelt. 282 Denn
Antifaschismus als Negativmythos allein sagte noch nichts darüber aus,
nach welchen Kriterien und Vorbildern sich die neue Gesellschaft gestalten
sollte. Diese Implikation leisteten in der DDR neben dem Mythos über die
Nachfolge der Arbeiterbewegung und der Oktoberrevolution vor allem der
Bauernkrieg und z.T. die Reformation.
Neben Aussagen über die Funktionsweise und Wirkung von Additions-
mythen ist eine weitere Untersuchungsebene mit der Umbildung und Verän-
derung des Mythos, d.h. der Arbeit am Mythos, wie dies Blumenberg nannte

280 Vgl. Assmann, Jan und Tonio Hölscher (Hrsg.): Das Kulturelle Gedächtnis. FrankfurtJM.
1987.
281 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeite am Mythos. FrankfurtJM: Suhrkamp, S. Auflage. 1990.
282 Assmann, Jan und Tonio Hölscher: Das kulturelle Gedächtnis und seine ...a.a.0.

171
und wie auch der Titel seines 1981 erschienenen Buches heißt, verbun-
den. 283 Bauernkrieg und Refonnation bieten nur wie wenige andere politi-
sche Mythen ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine im mythischen Sys-
tem eines Staates und einer politischen Gemeinschaft fest verankerte identi-
tätsstiftende Narration umgedreht und gewendet und mit ganz neuen Zielen
versetzt wurde und schließlich an ihr Ende gelangte. Es geht dabei beson-
ders um das Verhältnis zwischen der Arbeit des Mythos auf der einen und
der Arbeit am Mythos auf der anderen Seite. Arbeit am Mythos als Voraus-
setzung dafür, dass Mythen überhaupt funktionieren können, kann an der
Mythendefinition von Blumenberg gemessen werden:

"Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und
ebenso ausgeprägter marginaler Variationsflihigkeit. ,,284

Trotz der ständigen Anpassung der Mythen an die veränderten Umstän-


de und die laufende Variabilität der Geschichten muss in diesen ein "narra-
tiver Kern" bestehen bleiben, der der Gemeinschaft durch seine Kontinuität
einen fortlaufenden Sinn bescheinigt. Wird dieser Kern deformiert, bricht
das Marginale in das Zentrum ein und saugt die Narration auf, so gelangen
Mythen an ihr Ende. Umgekehrt können geronnene "narrative Kerne" die
ständig ablaufenden Veränderungen nicht aufsaugen und aushalten, die
Bedingung der Nachvollziehbarkeit ist nicht mehr gewährleisten. Auch
diese Mythen kommen an ihr Ende, denn sie werden zum Dogma. Sowohl
Dogmatik als auch übersteigerte Variabilität unterlaufen den Fortbestand
von politischen Mythen, sie können nicht mehr zur Integration und Identität
einer Gemeinschaft beitragen.
In diesem Kapitel soll neben dem systematischen Aspekt, der Rolle von
Bauernkrieg und Reformation als Additionsmythen zum Ursprungsmythos
vom Antifaschismus, auch der funktionale Aspekt, die Konsistenz und Ar-
beitsfähigkeit dieses Mythos, untersucht werden.

283 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. FrankfurtJM: Suhrkamp, 5. Auflage. 1990.


284 ebenda: 40.

172
1. Die mythische Bedeutung von Bauernkrieg und
Reformation in der DDR

Der Bauernkrieg gehörte von Beginn der DDR an zum festen mythischen
Repertoire des neu gegründeten Staates und hatte auch schon in der SBZ
erheblichen Einfluss auf die politisch-symbolische Strukturierung des öffent-
lichen Raumes. Alexander Abusch konstatierte in seinem Buch "Wir Enkel
fechten' s besser aus":

"Unsere erste deutsche sozialistische Republik hat das Erbe auch des deutschen Bauern-
krieges angetreten.,,285

Im Unterschied zur Vermittlung des Antifaschismus war zwar nur we-


nig von einer monumentalen und rituellen Mythisierung zu bemerken, aber
um so mehr in narrativer Form im Medium des Theaters, des Filmes, im
Geschichtsunterricht und vor allem der Literatur.
Im Schulunterricht nalunen beide Ereignisse einen breiten Platz ein,
und die Namen Thomas Müntzer, Martin Luther, van Hutten, Zwingli, Jan
Hus und Melanchthon waren den DDR-Schülern hinreichend bekannt.
Die Namen führender Personen des Bauernkrieges und der Reformation
standen gegenüber den antifaschistischen Namen für die Benennung von
Institutionen,286 Strassen, Plätzen und öffentlichen Gebäuden nicht weit
zurück. 287 Dabei wurden alle Strassen und Plätze, die schon vor 1949 die

285 Abusch, Alexander (Hrsg.): Wir Enkel fechten's besser aus. Dokumente, Lyrik und Prosa zur
revolutionären Tradition des deutschen Bauemkrieges. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag
1975: 7.
286 Ein Beispiel hierrur ist die 1952 erfolgte Benennung der Universität HallelWittenberg nach
Martin Luther zur "Martin-Luther-Universität."
287 Strassennamen mit Reformations- und Bauemkriegsbezug in ausgewählten Städten der DDR:
Berlin (Ost): Lutherstr. (Köpenick), Lutherstr. (Lichtenberg), Lutherstr. (Pankow), Florian-
Geyer-Str. (Treptow) (Umbenennung 1951), Thomas-Müntzer-Str. (Treptow) (Umbenennung
1951), Quelle: Stadtplan Berlin, Hauptstadt der DDR, VEB Tourist Verlag. Berlin!Leipzig, 7.
Auflage 1988;
Dresden: Florian-Geyer-Str. (Umbenennung nach 1945), Huttenstr., Martin-Luther-Platz,
Martin-Luther-Str., Melanchthonstr., Sickingenstr., Thomas-Müntzer-Platz (Umbenennung
nach 1945), Quelle: Stadtplan Dresden, VEB Tourist Verlag Berlin!Leipzig, 15. Auflage
1983;
Erfurt: Huttenplatz, Lutherstr., Melanchthonstr., Thomas-Müntzer-Platz (Umbenennung nach
1945), Quelle: Stadtplan Erfurt, VEB Tourist Verlag Berlin!Leipzig, 12. Auflage 1983;
Leipzig: Florian-Geyer-Platz (Umbenennung nach 1945), Huttenstr., (Umbenennung nach
1945), Lutherstr., Melanchthonstr., Thomas-Müntzer-Siedlung (Neubenennung nach 1945),
Quelle: Stadtplan Leipzig, VEB Tourist Verlag Berlin!Leipzig, 8. Auflage 1986;
Potsdam: Lutherplatz, Lutherstr., Ulrich-von-Hutten-Str. (nicht sicher geklärt), Quelle: Stadt-

173
Namen von Vertretern der Refonnation trugen, belassen, während Führer
des Bauernkrieges, insbesondere Thomas Müntzer, bei Neubenennungen
überragten. So traten die Refonnation und Martin Luther zu Beginn der
mythischen Vermittlung im öffentlichen Raum nicht so stark in Erschei-
nung, denn diese waren auf untergeordneter mythischer Ebene nur die Weg-
bereiter des eigentlich Grossen, des Bauernkrieges, und schließlich dessen
Verderbnis.
Bauernkrieg und Reformation wurden in der DDR, vorwiegend in der
ersten Hälfte ihres Bestehens, mit der radikalen Umwälzung der gesell-
schaftlichen Verhältnisse und mit sozialer Revolution in Zusammenhang
gebracht, als deren Nachfolgerin und Vollenderin sich die DDR betrachtete.
Nach Abusch sollte durch den Bauernkrieg und die Reformation vermittelt
werden,

"warum wir die Verkündung, die Hoffnung, die Utopie von einst, ,die irdische Gerechtigkeit
tur den gemeinen Mann" nunmehr gemeinsam durch unsere Arbeiter- und Bauernmacht auf
deutscher Erde verwirklichen können,,?88

Beide Ereignisse bedeuteten den Beginn dessen, was Ende der 40er und
in den 50er Jahren höchsten moralischen Wert und Bedeutsamkeit besaß,
der sozialen Revolution. Sie galten als Vorläufer der sozialistischen Revolu-
tion und waren somit der Ausgangspunkt rur eine sich fortentwickelnde
revolutionäre Linie, die über die Befreiungskriege, die 48er Revolution, die
Oktoberrevolution 1917, die Novemberrevolution 1918 und schließlich über
den antifaschistischen Widerstand bis zur DDR ruhrten. Wissenschaftlich
unterlegt wurde dies mit dem Begriff der "frühbürgerlichen Revolution."289

plan Potsdam, VEB Tourist Verlag Berlin/Leipzig, 12. Auflage 1988;


Rostock: Thomas-Müntzer-Platz (Umbenennung nach 1945), Ulrich-von-Hutten-Str. (Neube-
nennung nach 1945), Quelle: Stadtplan Rostock., VEB Tourist-Verlag Berlin/Leipzig, 6. Auf-
lage 1983;
Ergebnisse: 1. Strassen, die den Namen Martin Luthers bereits vor 1945 trugen, sind zu DDR-
Zeiten (zumindest in den aufgefilhrten Städten) nicht umbenannt worden. Das wurde im Ver-
gleich mit älteren Stadtplänen deutlich. 2. Die Namen der "revolutionären Bauernfiihrer"
(insb. Thomas Müntzer und Florian Geyer) treten erst nach 1945 in Erscheinung. Sie waren
vorher in den obengenannten Städten überhaupt nicht vertreten. 3.Die Umbenennungen erfolg-
ten, soweit sich das herausfmden liess, sehr frühzeitig; meist fallen sie noch in die erste Hälfte
der filnfziger Jahre. 4. Neben Umbenennungen gab es auch Neubenennungen: so wurden nicht
nur alte Strassen mit neuen Namen versehen, sondern auch neuerrichtete Strassen bzw. Sied-
lungen (Beispiele dafilr sind Rostock und Leipzig).
288 ebenda.
289 Dieser Begriff, der von den marxistischen Historikern und Politikern bis 1990 verwendet
wurde und erstmals im "Deutschen Bauernkrieg" bei Engels auftauchte, wird an späterer Stei-
le näher untersucht.

174
Die Bedeutung des Bauernkrieges und Thomas Müntzers wird erst dann
deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich die DDR als eine
revolutionäre Gesellschaft betrachtete, als einen Teil der umfassenden
Weltrevolution, die Karl Marx und Friedrich Engels theoretisch begründet
hatten und die von Lenin weiterentwickelt worden ist, um schließlich in der
Oktoberrevolution 1917 in die Praxis umgesetzt zu werden und eine neue
Zeit einzuleiten. Die Selbstzuschreibung als revolutionäre Gesellschaft
resultierte aus zwei Vorstellungen: Einerseits bedeutete diese Revolution
Übergang zu einer neuen Gesellschaft ohne Privateigentum und ohne
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, was Vorstellungen vom
Eintritt ins Paradies auf Erden gleichkam. Und dieser Übergang war
weltweit noch nicht vollzogen. Die sozialistischen Länder waren eine Art
Vorboten für diesen Übergang und deshalb revolutionäre Gesellschaften.
Die andere Seite der Selbstdefinition bestand darin, dass die revolutio-
näre Gesellschaft schon einen Wert an und für sich darstellte und auf eine
permanente Bereitschaft zur Veränderung hinwies. Die Veränderung wurde
jedoch mehr nach rückwärts, nämlich im Vergleich zu den vorangegange-
nen Klassengesellschaften gedacht, als nach vorwärts. Die Suche nach dem
Anfang, nach den Wurzeln der "revolutionären Gesellschaft" wurde deshalb
sehr wesentlich. Doch gerade für die DDR als "revolutionäre Gesellschaft"
stellte sich die Begründung auf ein revolutionäres Grunderlebnis so schwie-
rig dar. Als Kompensation für das Fehlen einer eigenen siegreichen Revolu-
tion hatten der antifaschistische Widerstand und die Oktoberevolution ge-
dient, die großen Rezeptionsproblemen gegenüberstanden. Weder konnte
der nie im breiten Maßstab stattgefundene antifaschistische Widerstands-
kampf als revolutionäres Grunderlebnis erfahren werden, noch identifizier-
ten sich die Deutschen mit der Oktoberrevolution, die im Land der Besat-
zungsmacht stattgefunden hatte, in dem Sinne, dass die Sowjetunion das
"Vaterland aller Werktätigen"290 wäre. Aufgrund des Dilemmas der Ur-
sprungssuche für die Selbstzuschreibung als "revolutionärer Gesellschaft"
war die DDR auf den Bauernkrieg und Thomas Müntzer angewiesen. Im
Bauernkrieg und der Reformation als Vorbereitung und ideeller Umrah-
mung der Revolution lag der Anfang der revolutionären Eigenschaften im
deutschen Volk, die immer wieder in der Geschichte verhindert wurden und
sich nun in der DDR endlich verwirklichen sollten.

290 Die Fonnel "Vaterland aller Werktätigen" als Synonym filr die Sowjetunion wurde in der
deutschen Arbeiterbewegung sehr häufig gebraucht und gehörte in der DDR, besonders in den
50er Jahren, zum festen politischen Sprachgebrauch.

175
2. Die geistigen und kulturellen Grundlagen des
Bauernkriegs- und Reformationsmythos in der DDR

Dass das Bild von Bauernkrieg und Reformation in der DDR nicht aus dem
Nichts erwuchs, sondern Vorläufer hatte, wird an der Übernahme zweier
Sichtweisen deutlich: Zum einen wurde die Traditionslinie der KPD fortge-
setzt, die sich ebenso wie die Sozialdemokratie überwiegend auf Karl Marx
und Friedrich Engels stützte, wobei auch nur eine bestimmte, hauptsächlich
die Jugend- und mittlere Werkphase beider Philosophen rezipiert und insbe-
sondere durch die KPD sehr einseitig ausgelegt wurde. Schon der junge
Marx sah in der Reformation in Analogie zur Revolution von 1848 eine
revolutionäre Angelegenheit, wenn auch auf das Ideelle beschränkt:

"Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation.


Wie damals der Mönch, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution be-
ginnt.,,291 Seine Lutherkritik war unverkennbar, wenn er schrieb: "Luther hat allerdings die
Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle
gesetzt hat ... Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung brachte, so war es
die wahre Stellung der Aufgabe.,,292

Entgegen der späteren DDR-Rezeption ordnete Marx die Reformation,


zwar eingeschränkt auf ihre theoretische Seite und die "wahre Stellung der
Aufgabe", in die revolutionäre Tradition ein, auch wenn Luther durch sei-
nen devoten Charakter nur eine Knechtschaft durch eine andere abgelöst
hatte. Der Einschätzung Luthers lag der Analogieschluss zur Bewertung der
Liberalen in der Revolution von 1848 zugrunde. 293 So sah Marx im "Bau-
ernkrieg die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte", 294 was für die
DDR-Ideologen bis in die 70er Jahre hinein den Ausgangspunkt für die
hohe Wertschätzung des Bauernkrieges als Identitätskonstante darstellte,
ohne aber der relativierenden positiven Bewertung von Marx über die Re-
formation gerecht zu werden.

291 MarxlEngels Werke. Bd.l: 385.


292 ebenda: 386.
293 Der Analogieschluss von Marx und Engels gründete sich auf die Analogie zwischen 16. und
19. Jahrhundert, die von DDR-Autoren als Epochenanalogie bezeichnet wurde. Hierbei berie-
fen sie sich auf den Satz von Karl Marx: "Wir können es nicht leugnen, dass die bürgerliche
Gesellschaft zum 2ten mal ihr 16tes Jahrhundert erlebt, ein 16tes Jahrhundert, von dem ich
hoffe, dass es sie ebenso zu Grabe läutet, wie das erste sie ins Leben poussierte." In:
MarxlEngels Werke. Bd.29: 360.
294 MarxlEngels Werke. Bd. 1: 386.

176
Der junge Engels widmete seine Aufmerksamkeit für das 16. Jahrhun-
dert, ebenfalls wie Marx, vor allem der Reformation, die er als wirkungs-
trächtig für die deutsche Geschichte betrachtete, während er dem Bauern-
krieg zunächst kaum Aufmerksamkeit schenkte. 295 Später rückte der Bau-
emkrieg stärker in den Mittelpunkt seines Interesses. In seinem 1850 ent-
standenen Buch "Der deutsche Bauemkrieg", das auf der Schrift von Zim-
mermann von 1843 aufbaut,296 wendete er sich Müntzer zu und kritisierte
Luther. 297 "Der deutsche Bauemkrieg" war im Zusammenhang mit der
Revolution von 1848 entstanden, wobei Engels Luther in Analogie zu den
Liberalen betrachtete. 298 Engels schrieb im Vorwort zur zweiten Auflage des
"Deutschen Bauemkrieges":

"Die Parallele zwischen der deutschen Revolution von 1525 und der von 1848/49 lag zu
nahe, um damals ganz von der Hand gewiesen zu werden. Neben der Gleichförmigkeit des
Verlaufs, wo immer ein und dasselbe ftlrstliche Heer verschiedene Lokalaufstände nachein-
ander niederschlug, neben der oft lächerlichen Ähnlichkeit des Auftretens der Städtebürger
in beiden Fällen, brach indes doch auch der Unterschied klar und deutlich hervor: Wer
profitierte von der Revolution von 1525? Die Fürsten. - Wer profitierte von der Revolution
von 1848? Die großen Fürsten, Österreich und Preußen. Hinter den kleinen Fürsten von
1525 standen, sie an sich kettend durch die Steuer, die kleinen Spießbürger, hinter den
großen Fürsten von 1850, hinter Österreich und Preußen, sie rasch unterjochend durch die
Staatsschuld, stehn die modemen großen Bourgeois. Und hinter den großen Bourgeois
stehen die Proletarier.,,299

Wie die Liberalen setzte auch Luther eine Revolution in Gang, bis sie
sich von den revolutionären Ereignissen überrollt sahen. Luther stellte sich
gegen die aufständigen Bauern und die Liberalen gegen die Arbeiterklasse.

295 Vgl. Brendler, Gerhart: Luther im Traditionskonflikt der DDR. In: Dähn, Horst und Joachim
Heise (Hrsg.): Luther und die DDR. Der Reformator und das DDR-Fernsehen. Berlin: edition
ost 1996: 9-20.
296 Engels schrieb dazu in der ersten Vorbemerkung zur zweiten deutschen Ausgabe des "Deut-
schen Bauemkrieges": "Sie (die Arbeit) macht keinen Anspruch darauf, selbständig erforschtes
Material zu liefern. 1m Gegenteil, der gesamte und auf die Bauernaufstände und auf Thomas
Müntzer sich beziehende Stoff ist aus Zimmermann genommen. Sein Buch, obwohl hie und da
lückenhaft, ist immer noch die beste Zusammenstellung des Tatsächlichen. Dabei hatte der alte
Zimmermann Freude an seinem Gegenstand. Derselbe revolutionäre Instinkt, der hier überall
rur die unterdrückte Klasse auftritt, machte ihn später zu einem der Besten auf der äussersten
Linken in Frankfurt." In: Engels, Friedrich: Der Deutsche Bauernkrieg. Leipzig: Reclam
1975: 7.
297 Engels, Friedrich: Der deutsche Bauemkrieg. In: MEW, Bd. 4: 331.
298 Engels schrieb in der Ersten Vorbemerkung zur zweiten deutschen Ausgabe von 1870: "Die
nachstehende Arbeit wurde im Sommer 1850, noch unter dem unmittelbaren Eindruck der e-
ben vollendeten Konterrevolution, in London geschrieben: sie erschien im 5. und 6. Heft der
"Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue", redigiert von Karl Marx, Ham-
burg 1850." In: Engels, Friedrich: Der Deutsche Bauemkrieg. Leipzig Reclam 1975: 7.
299 Engels, Friedrich: Der Deutsche Bauemkrieg. Leipzig: Reclam 1975: 8/9.

177
Obwohl Engels Luther als "großen Mann" bezeichnete, verleiht er ihm das
Bild eines Versöhnlers und Verräters, das er seinem Eintreten fiir "friedliche
Entwicklung" und "passiven Widerstand" zuschrieb. Aus dieser Kritikzu-
schreibung wird die Intention deutlich, Revolution mit Gewalt zu verbinden
und alle anderen Wege zur Veränderung von Gesellschaften als nicht revo-
lutionär und unter den Bedingungen des revolutionären Bekenntnisses als
linienabweichende Phänomene zu diskreditieren:

"Er, der Schützling des Kurfilrsten von Sachsen, der angesehene Professor von Wittenberg,
der über Nacht mächtig und berühmt gewordene, mit einem Zirkel von unabhängigen Krea-
turen und Schmeichlern umgebene große Mann zauderte keinen Augenblick. Er ließ die
populären Elemente der Bewegung fallen und schloss sich der bürgerlichen, adeligen und
fürstlichen Seite an. Die Aufrufe zum Verteidigungskampfe gegen Rom verstummten; Lu-
ther predigte jetzt die friedliche Entwicklung und den passiven Widerstand.,,300

Aus diesem Verhalten Luthers erwuchs, nach Engels, Schaden fiir die
Entwicklung der politischen Atmosphäre und politischen Kultur in Deutsch-
land, die sich 1848 dann zur Konterrevolution wandelte. An diese Stelle
knüpfte später die sogenannte Misereformel über die deutsche Geschichte
an. In dem folgenden Abschnitt wird die Implikation von Luther und der
negativ verorteten politischen Kultur in Deutschland deutlich:

"Von dieser Wendung, oder vielmehr von dieser bestimmten Feststellung der Richtung
Luthers, begann jenes Markten und Feilschen um die beizubehaltenden oder zu reformie-
renden Institutionen und Dogmen, jenes widerwärtige Diplomatisieren, Konzedieren, Intri-
gieren und Vereinbaren, dessen Resultat die Augsburger Konfession war, die schließlich
erhandelte Verfassung der reformierten Bürgerkirche. Es ist ganz derselbe Schacher, der
sich neuerdings in deutschen Nationalversammlungen, Revisionskammern und Erfurter
Parlamenten in politischer Form bis zum Ekel wiederholt hat. Der spiessbürgerliche Charak-
ter der offiziellen Reformation trat in diesen Verhandlungen aufs offenste hervor.,,301

Engels trug ganz entscheidend zu der Entgegensetzung zwischen Revo-


lutionären und Reformisten als der zwei Hauptrichtungen politisch Handeln-
der in der deutschen Arbeiterbewegung bei, an deren jeweiligem Bekenntnis
oder deren Fremdzuschreibung sich der Streit zwischen Kommunisten und
Sozialdemokraten bis 1945 bewegte. Reformation wurde bei Engels in Re-
form übertragen und der Revolution entgegengesetzt. Das konservierende
oder reaktionäre Element überwiegt nach dieser Interpretation, wobei Revo-
lution Neuanfang und Umbruch auf der einen und Reform Erhalten des
Alten und dessen Fortsetzung auf der anderen Seite bedeuteten. Diejenigen,

300 Engels, Friedrich: Der deutsche Bauernkrieg. In: MEW, Bd. 4: 331.
Engels, Friedrich: Der Deutsche Bauernkrieg. Leipzig: Reclam 1975: 55.
301 ebenda: 56.

178
die vor dem Neuanfang und Umbruch zurückschreckten, waren entweder
Verräter oder Feiglinge.

Engels stellte dem "Reformisten", alias Reformator Luther, den "Revo-


lutionär" Thomas Müntzer gegenüber,302 den er in dreifacher Weise von
Luther abhob: als Revolutionär, als Rebell und als Theologe, der die Bibel
verwarf. Engels interpretierte Müntzer, der eigenen atheistisch mate-
rialistischen Weltanschauung entsprechend, als einen dem Atheismus nahe-
stehenden Geistlichen, der so in weltanschaulicher Hinsicht für die Arbeiter-
bewegung anschließbar gemacht werden konnte:

"Seine theologisch-philosophische Doktrin griff alle Hauptpunkte nicht nur des Katholi-
zismus an. Er lehrte unter christlichen Formen einen Pantheismus, der mit der modemen
spekulativen Anschauungsweise eine merkwürdige Ähnlichkeit hat und stellenweise sogar
an Atheismus an streift. Er verwarf die Bibel sowohl als ausschließliche wie als unfehlbare
Offenbarung. Die eigentliche, die lebendige Offenbarung sei die Vernunft, eine Offenba-
rung, die zu allen Zeiten und bei allen Völkern existiert habe und noch existiere. Der Ver-
nunft die Bibel entgegenzuhalten, heiße den Geist durch den Buchstaben töten.,,303

Der Heilige Geist sei für Müntzer nichts anderes als die Vernunft. En-
gels sah in dem Wirken Müntzers eine Verwandlung der von Cassirer als
solche bezeichneten symbolischen Form der Religion in die der reinen Er-
kenntnis, die hier mit Vernunft bezeichnet wird. Diese Sichtweise machte
die Anschlussfähigkeit an den Marxismus leicht und somit auch an die sich
atheistisch definierende kommunistische Bewegung:

"Wie Müntzers Religionsphilosophie an den Atheismus, so streifte sein politisches Pro-


gramm an den Kommunismus, und mehr als eine kommunistische Sekte hatte noch am
Vorabend der Februarrevolution über kein reichhaltigeres theoretisches Arsenal zu verfügen
als die 'Müntzerschen' des sechzehnten Jahrhunderts." 304

Engels vollzog durch seine Interpretation des Programms von Thomas


Müntzer nicht nur einen zeitlichen Kurzschluss zwischen der radikalen Re-

302 Engels kündigte am Ende des 2. Kapitels des "Bauemkrieges" die Gegensätzlichkeit zwischen
Luther und Müntzer an, die er als "Parteichefs" bezeichnete. Die Passage lautet: "Wir werden
sehen, wie treu der Charakter und das Auftreten der beiden Parteichefs die Haltung ihrer Par-
teien selbst widerspiegeln; wie die Unentschiedenheit, die Furcht vor der ernsthaft werdenden
Bewegung selbst, die feige Fürstendienerei Luthers ganz der zaudernden, zweideutigen Politik
der Bürgerschaft entsprach und wie die revolutionäre Energie und Entschlossenheit Münzers in
der entwickelsten Fraktion der Plebejer und Bauern sich reproduzieren." In: Engels, Friedrich:
Der Deutsche Bauernkrieg. Leipzig: Reclam 1975: 69. Es flillt auf, dass die Fürstendienerei
Luthers mit der zweideutigen Politik der Bürgerschaft in Eins gedacht wurde. Dies entsprach
der Zielsetzung des kommunistischen Manifestes, das in der Bourgeoisie den Hauptfeind sah,
wodurch vor allem dieser Bezug von Interesse war.
303 Engels, Friedrich: Der Deutsche Bauernkrieg. Leipzig: Reclam 1975: 6l.
304 ebenda: 62.

179
fonnationsbewegung des 16. Jahrhunderts und den kommunistischen Grup-
pen des 19. Jahrhunderts, sondern er setzte auch den eigentlichen Beginn
der plebejischen Bewegung seiner Zeit mit stark eschatologischem Impetus
in das 16. Jahrhundert ZUIiick. Indem er dem Kommunismus Müntzers
offensichtlich eine größere Kompetenz zuschrieb als dem der kommunisti-
schen Sekten seiner Zeit, anvancierte Müntzer vom Auslöser der Bewegung
sogar zum Vorbild, dem es nachzueifern galt.

"Dies Programm - weniger die Zusammenfassung der Forderungen der damaligen Plebejer -
als die geniale Antizipation der Emanzipationsbedingungen der kaum sich entwickelnden
proletarischen Elemente unter diesen Plebejern - dies Programm forderte die sofortige Her-
stellung des Reiches Gottes, des prophezeiten Tausendjährigen Reiches auf Erden, durch
Zuruckfiihrung der Kirche auf ihren Ursprung und Beseitigung aller Institutionen, die mit
dieser angeblich urchristlichen, in Wirklichkeit aber sehr neuen Kirche im Widerspruch
standen. Unter dem Reich Gottes verstand Müntzer nichts anderes als einen Gesellschafts-
zustand, in dem keine Klassenunterschiede, kein Privateigentum und keine den Gesell-
schaftsmitgliedern gegenüber selbständige, fremde Staatsgewalt mehr bestehen.,,305

Das Hervorheben wesentlicher Punkte, wie Abschaffung der Klassen,


des Privateigentums, und eine eigene Staatsgewalt, verweist auf den Zusam-
menhang mit dem Kommunistischen Manifest.
Die Lobpreisung Müntzers als Rebell, d.h. nicht nur als Revolutionär,
sondern als zur Gewaltanwendung entschlossenen Kämpfer, im Gegensatz
zu dem "feigen Luther", wurde bei Engels besonders durch die Würdigung
der Entschlossenheit Müntzers, mit der Waffe gegen die Fürsten zu kämp-
fen, deutlich. 306 Hier lassen sich wiederum Parallelen zur gewaltsamen Be-
freiung des Proletariats im Kommunistischen Manifest feststellen.
Als negatives Hauptergebnis des Bauernkrieges nannte Engels die Zer-
splitterung Deutschlands, aus der auch der von ihm konstatierte niedrige
Entwicklungsgrad gegenüber anderen europäischen Ländern resultiere:

"Die Zersplitterung Deutschlands, deren Verschärfung und Konsolidierung das Hauptresul-


tat des Bauernkrieges war, war auch zu gleicher Zeit die Ursache seines Misslingens.,,307

305 ebenda: 63.


306 Engels führte dazu aus: "Sämtliche bestehenden Gewalten, sofern sie nicht sich fugen und der
Revolution anschliessen wollten, sollten gestürzt, alle Arbeiten und alle Güter gemeinsam und
vollständigste Gleichheit durchgefuhrt werden. Ein Bund sollte gestiftet werden, um dies
durchzusetzen, nicht nur über ganz Deutschland, sondern über die ganze Christenheit.; Fürsten
und Herren sollten eingeladen werden, sich anzuschliessen; wo nicht, sollte der Bund sie bei
der ersten Gelegenheit mit den Waffen in der Hand stürzen oder töten." ebenda: 63.
307 ebenda: 142.

180
Nach Engels nahm nicht nur die nationale, sondern auch die soziale und
politische Entwicklung an der Zersplitterung Schaden. Die mit der Ei-
genentwicklung der verschiedenen deutschen Gebiete und Fürstentümer
einhergehende Dispersion der Interessen der Bauern und Plebejer ließ ein
Zusammengehen der beiden unterdrückten Klassen nicht Zustandekom-
men?08 Diese von Engels bezeichnete "Zersplitterung des Klassenkampfes"
war die Grundlage für die "vollständige Niederlage der revolutionären und
halbe Niederlage der bürgerlichen Bewegung.,,309 Wieder wurde eine Ana-
logie zwischen dem Bauemkrieg und der Revolution von 1848 hergestellt,
denn "auch 1848 kollidierten die Interessen der oppositionellen Klassen
untereinander, handelte jeder für sich."3\O Allerdings verortete Engels den
Bauernkrieg überwiegend national und die Revolution von 1848 europäisch:

"Die Revolution von 1525 war eine deutsche Lokalangelegenheit. Engländer, Franzosen,
Böhmen, Ungarn hatten ihre Bauernkriege schon durchgemacht, als die Deutschen den
ihrigen machten. War schon Deutschland zersplittert, so war Europa es noch mehr. Die
Revolution von 1848 war keine deutsche Lokalangelegenheit, sie war ein einzelnes Stück
eines großen europäischen Ereignisses.,,311

Mit der Fokussierung dieses Unterschiedes zwischen Bauemkrieg und


48er Revolution ignorierte Engels den europäischen Charakter der Refonna-
tion und somit auch des Bauemkrieges und blendete die Verzahnung zwi-
schen den verschiedenen refonnatorischen Bewegungen in Europa aus. Zu
Anfang wurde diese Sichtweise in der DDR übernommen, doch im Rahmen
des Paradigmas von der "frühbürgerlichen Revolution,,312 entfernte man sich
von der Bezeichnung der" deutschen Lokalangelegenheit" und hob die euro-
päische Dimension stärker hervor.

308 Engels kommentierte diese Situation: " Wie die lokale und provinzielle Zersplitterung und die
daraus notwendig hervorgehende lokale und provinzielle Borniertheit die ganze Bewegung
ruinierte; wie weder die Bürger noch die Bauern, noch die Plebejer zu einem konzentrierten,
nationalen Auftreten kamen; wie die Bauern Z.B. in jeder Provinz auf eigene Faust agierten,
den benachteiligten insurgierten Bauern stets die Hülfe verweigerten und daher in einzelnen
Gefechten nacheinander von Heeren aufgerieben wurden, die meist nicht dem zehnten Teil der
insurgierten Gesamtmasse gleichkamen - das wird wohl jedem aus der vorhergehenden Dar-
stellung klar sein. Die verschiedenen Waffenstillstände und Verträge der einzelnen Haufen rnit
ihren Gegnern konstituierten ebensoviel Akte des Verrats an der gemeinsamen Sache, und die
einzig mögliche Gruppierung der verschiedenen Haufen nicht nach der grösseren oder geringe-
ren Gemeinsamkeit ihrer eigenen Aktion, sondern nach der Gemeinsamkeit des speziellen
Gegners, dem sie erlagen, ist der schlagendste Beweis rur den Grad der Fremdheit der Bauern
verschiedner Provinzen gegeneinander." ebenda: 144.
309 ebenda: 143.
310 ebenda: 144.
311 Ebenda.
312 Der Begriff"Frühbürgerliche Revolution" wird an späterer Stelle ausruhrlich erklärt.

181
Der Bogen der unterschiedlichen Ausdeutungen des 16. Jahrhunderts
durch Engels schloss sich, als sich der alte Engels unter dem Eindruck der
Bismarckschen Reformen wieder stärker der Reformation zuwendete und
den Bauernkrieg interessanterweise als "kritische Episode" verstand. 313 Ge-
gen Ende seines Lebens betrachtete Engels das deutsche Bürgertum und
"seine ideologischen Repräsentanten, zu denen Luther gerechnet wird, in
einem weit höheren Masse als Fortschrittspotenz" als 1850?14 In diesem Zu-
sammenhang maß Engels dem Übergang von der bürgerlichen zur proletari-
schen Revolution einen viel größeren Zeitraum zu, der auch eine veränderte
Konstellation zwischen Reformation und Bauernkrieg nach sich zog. Die
Reformation wurde somit "das historisch übergreifende Moment, das auch
nach dem Bauernkrieg über Fortschrittspotenzen verfügte.,,315 Auch betrach-
tete der späte Engels Reformation und Bauernkrieg viel stärker im europäi-
schen Zusammenhang, wenn er die Reformation Luthers und Calvins als
"Revolution Nr. 1 der europäischen Bourgeoisie" bezeichnete. 316 Engels
sprach von einem

"Sieg der Revolution Nr.l, die viel europäischer als die englische und viel rascher europä-
isch wurde als die französische.,,317

Jedoch fanden die Untersuchungen der Auffassungen des alten Engels


über die längste Zeit der DDR im politischen Mythos keine Widerspiege-
lung. Dies hatte zwei Gründe: Erstens wurden die handschriftlichen Notizen
des alten Engels erst 1940 in Moskau im "Archiv Marksa i Engelsa" veröf-
fentlicht. Moissej Mendelson Smirin, der führende sowjetische Spezialist für
deutsche Geschichte, war der erste, der sie zur Kenntnis nahm, sie aber in
seinen Veröffentlichungen über den deutschen Bauernkrieg und die Refor-

313 Vgl. Brendler, Gerhard: Luther im Traditionskonflikt der DDR. In: Dähn, Horst und Joachim
Heise: Luther und die DDR. .. a.a.O.: 28.
314 ebenda: 29.
315 ebenda: 30.
316 ebenda. Zu der Haltung von Friedrich Engels zu Bauernkrieg und Reformation in seinen
Altersnotizen fUhrt Brendler weiter aus: "Luther wird jetzt nicht nur in nationalgeschichtlicher,
er wird in weltgeschichtlicher Sicht erfasst und damit durchgängig positiver bewertet, als dies
im Erkenntnishorizont der 48er Revolution der Fall war. Unverkennbar schwingt darin jenes
Denkbild von der Epochenanalogie mit und das "gecrusht"-Werden (er bezieht sich hier auf
Marx - die Autorin) der jeweiligen Fortschritts- und Revolutionsspitze (Marxens schwierige
"question"!), mit der sich die Revolutionshoflhung abfmden muss, ohne daran zu verzweifeln.
Zwischen der Sehweise von 1848 und der achtziger und neunziger Jahre lag die Revolution
von oben, mit der Bismarck das Deutsche Reich hergestellt hatte. Also eine fundamentale Ver-
änderung der historischen Erkenntnisbedingungen. Unter diesen Bedingungen wurde der Blick
geschärft fUr das historische Leistungsvermögen von Bürgertum, Bourgeoisie und deren Rep-
räsentanten. "
317 Marx Engels Werke, Bd. 21: 402.

182
mation unter der stalinistischen Herrschaft nicht verarbeitete. 318 Jedenfalls
konnte die Arbeiterbewegung die Altersschriften von Engels in ihre Ein-
schätzung über die Ereignisse des 16. Jahrhunderts gar nicht einfließen las-
sen. Da die DDR über die Kommunisten direkt an diese Haltung anschloss,
und auch Smirin in seinen Büchern über den deutschen Bauemkrieg keine
Rezeption sichtbar werden ließ, war die Rezeption des alten Engels kein
Thema.
Neben dem Grund des Nicht-Bekannt-Seins, zumindest in den ersten
Jahren der DDR, kam noch ein ideologischer dazu. Auch wenn einigen Poli-
tikern und erst recht Historikern die Notizen nach und nach bekannt wur-
den, so lag es nicht im Interesse der symbolischen und mythischen Politik
der DDR-Elite, das bisherige Bild von Bauemkrieg und Reformation nach-
zubessern, denn dann hätte es keine Sinnschöpfung für die Bodenreform
und die Begründung für die antiwestdeutsche Haltung mehr bieten können.
Brendler begründete dies unter methodologischem Gesichtspunkt 1996 so:

"Nur wurden unsere Manuskripte in der DDR nicht von Methodologen allein, sondern
vornehmlich von Ideologen geprüft. Und denen ging es - verständlicherweise - gegen den
Strich, dass der Bauernkrieg nur eine 'Episode' sein sollte: Es passte einfach nicht zur über-
kommenen Ikonographie. Hier zeigte sich der Traditionskonflikt im Luther- (und Müntzer-)
Bild als Kluft zwischen Erkenntnisgewinn und nachhinkender Staatsliturgie. ,,319

So wurde Friedrich Engels' "Der deutsche Bauemkrieg" von 1850 zu ei-


ner der wichtigsten theoretischen Grundlagen für die Einordnung von Bau-
emkrieg und Reformation in das Mythensystem der DDR. 320 Es war eins der
ersten Bücher, die in der DDR zum Bauemkrieg erschienen. Außerdem
wurde das Buch auch durch die Herausgabe der dreibändigen Ausgabe von
Marx, Engels, Lenin und Stalin "Zur deutschen Geschichte" von 1953 ver-
breitet. 321 Die Aussage des Buches von Engels über den Bauemkrieg lieferte
den Beweis dafür, dass das deutsche Volk für die Revolution geeignet wäre,
denn "auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition".322 Das war

318 ebenda: 30.


319 ebenda.
320 Vgl. Brendler, Gerhard: Luther im Traditionskontlikt der DDR. 10 Dähn, Horst und Joachim
Heise: Luther und die DDR. Berlin: edition ost 1996: 21-52.
321 Gerhard Schilfert, Professor filr Geschichte an der Humboldt-Universität, besprach die Ausga-
be in der "Einheit" (Heft 5/1953) und in der zro (Heft 3/1953). Zu Engels schrieb er folgen-
des: Die Beiträge zur Reformation "enthalten die wichtigsten Leitgedanken zur Lösung der
Probleme der flühen bürgerlichen Revolution in Deutschland und geben die beste wissen-
schaftliche Anleitung zur Darstellung dieses Wendepunktes der deutschen Geschichte und
darüber hinaus auch der europäischen Geschichte."
322 Friedrich Engels schrieb im "Deutschen Bauernkrieg": "Auch das deutsche Volk hat seine
revolutionäre Tradition. Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich

183
für die mythische Begründung der "historischen Mission" der DDR das al-
lerwichtigste.
Die Niederlage 1525 wurde von Engels "postum" in einen Sieg umge-
wandelt und dies gleich zweimal. Denn er tröstete sich damit in der Situati-
on der Enttäuschung über den Ausgang der 48er Revolution mit der Ge-
wissheit, dass im deutschen Volk revolutionäre Fähigkeiten schlummern,
die zu einem anderen Zeitpunkt wieder aufbrechen würden, um die proleta-
rische Revolution durchzuführen. Die SED-Führung ging über die Selbst-
vergewisserung von Friedrich Engels noch hinaus. Die DDR, die sich als die
Vollenderin der Revolution sah, weckte die revolutionären Fähigkeiten, die
im deutschen Volke schlummerten. So war dieser Staat nicht nur Vollender,
sondern auch Erwecker. Im Gegensatz dazu würden die revolutionären Fä-
higkeiten in der Bundesrepublik unterdrückt und ins Vergessen gedrängt,
eine Erweckung fand nicht statt.
Müntzer war bei Friedrich Engels die Revolutionsfigur per se: konse-
quent, kompromisslos, unkorrumpierbar und gegenüber der Sache bereit
zum Untergang der eigenen Person. Luther hingegen war zwar der geistige
Vorbereiter, der Wegbereiter der Revolution gewesen, doch versagte er und
verriet schließlich die "aufbegehrenden Volksrnassen", ebenso wie die bür-
gerliche Revolution von 1848 verraten wurde. Reformen galten als das ver-
räterisch Böse und Revolutionen als das absolut Gute.
Diese Sichtweise aus Engels' Buch von 1850 wurde zum großen Teil
von der deutschen Arbeiterbewegung übernommen. Allerdings zog Franz
Mehring sogar Bauernkrieg und Reformation zur "deutschen Revolution"
zusammen, "die in dem großen Bauernkrieg ihren Gipfel erreichte.,,323 Meh-
ring lehnte sich an Kautzkys Schrift "Die Vorläufer des neueren Sozia-
lismus" an, in der besonders die Bedeutung des Silberbergbaus im 16. Jahr-

den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können. wo das deut-
sche Volk eine Ausdauer und Energie entwickelte, die bei einer zentralisierten Nation die
grossartigsten Resultate erzeugt hätte, wo deutsche Bauern und Plebejer mit Ideen und Plänen
schwanger gingen. vor denen ihre Nachkommen oft genug zulÜckschauderten." Aus: Engels,
Friedrich: Der Deutsche Bauernkrieg. MEW Bd. 4: 331. Aus: Bartel, Horst: Das Lutherbild
der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung. In: Bartel, Horst; Brendler, Gerhard u.a.
(Hrsg.): Martin Luther. Leistung und Erbe. Berlin: Akademie Verlag 1986.
323 Mehring. Franz: Werke. Bd 5. Berlin 1982: 299. Mehring macht zwischen Calvin und Luther
Unterschiede, indem er ersteren der "historisch-ökonomischen Richtung" zuordnete und Lu-
thers Haltung als schändlich charakterisierte. Aus: Bartel, Horst: Das Lutherbild der revoluti-
onären deutschen Arbeiterbewegung. In: Bartel, Horst; Brendler, Gerhard u.a. (Hrsg.): Martin
Luther. Leistung und Erbe. Berlin: Akademie Verlag 1986.

184
hundert und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft geschildert werden. 324
Die Geschichtsbücher von Franz Mehring gehörten zum festen Repertoire
der Schulliteratur der ersten Jahre der DDR und wurden als wesentliche
Grundlage der Ausbildung der Neulehrer benutzt.
Wichtig für die Rezeption des 16. Jahrhunderts in der Arbeiterbewe-
gung war auch das Buch von Clara Zetkin von 1920 "Revolutionäre Kämpfe
und revolutionäre Kämpfer von 1919", worin Reformation und Bauernkrieg
als "ebenbürtiges Seitenstück der Novemberrevolution" bewertet wurden. 325
Wenn Engels eine Parallele zur Revolution von 1848 zog, so tat es Clara
Zetkin zur Novemberrevolution. Dabei kam der Vergleich Luthers mit den
sozialdemokratischen Führern auf:

''Nach einem kühnen Anlaut: ein Revolutionär der Gesellschaftsordnung zu werden, be-
gnügte sich Martin Luther mit der weit bescheideneren Rolle eines Reformators der Kirche.
Aber Seite an Seite gestellt mit diesem urwüchsigen, saftstrotzenden Bauernsohn, der ein
Dichter und Denker war, wirkt Dr. David, die geistige Leuchte des Regierungssozialismus,
wie ein verhutzeltes, verstaubtes scholastisches Magisterlein. Alle regierungssozialistische
Weisheit zusammengepackt, erinnert höchstens in einem Zuge an die 'Realpolitik' des
'teuren Gottesmannes', der vom Erwecker burgenbrechender Bauern zum Freund der Fürs-
ten wurde, die geistliches Besitztum säkularisierten ... ,,326

Trotz des Vorwurfes des Verrats gegenüber Luther, wird seine Rolle als
Erwecker betont und diese von den sozialdemokratischen Führern abgeho-
ben, denen nicht einmal ein Erweckertum zugebilligt wird. Beide jedoch
vereint in der kommunistischen Rezeption der Vorwurf des Verrats der Re-
volution und weiterführend des Verrats der Volksmassen.
Hermann Duncker, Max Beer und Edwin Hoemle schlossen sich an die
Auffassungen von Clara Zetkin und Franz Mehring mit gewissen Akzent-
verschiebungen an. Hermann Duncker hob hervor, dass im Bauernkrieg "die
erste deutsche Revolution ihren Höhepunkt fand und sogleich ihr tragischer
Abstieg" begann. 327 Jedoch wurden, abgesehen von Franz Mehring, diese

324 Vgl. Kautzky, Karl: Die Bergarbeiter und der Bauemkrieg, vornehmlich in Thüringen. In:
Neue Zeit, 188917. Aus: Bartel, Horst: Das Lutherbild der revolutionären deutschen Arbeiter-
bewegung. In: BarteI, Horst; Brendler, Gerhard u.a. (Hrsg.): Martin Luther. Leistung und Er-
be. Berlin: Akademie Verlag 1986.
325 Zetkin, Clara. Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 2. Berlin 1960: 147 ff. Aus: Bartel,
Horst: Das Lutherbild der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung. In: BarteI, Horst;
Brendler, Gerhard u.a. (Hrsg.): Martin Luther. Leistung und Erbe. Berlin: Akademie Verlag
1986.
326 ebenda: 178/179.
327 Duncker, Hermann: Einleitung zu Friedrich Engels "Der deutsche Bauemkrieg". Berlin 1926:
7. Aus: Bartel, Horst: Das Lutherbild der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung. In:
BarteI, Horst; Brendler, Gerhard u.a. (Hrsg.): Martin Luther. Leistung und Erbe. Berlin: Aka-

185
kommunistischen Theoretiker mit einer mehr oder weniger differenzierten
Betrachtung über Verhängnis oder Fortschritt beider Ereignisse des 16.
Jahrhunderts für die deutsche Geschichte und für die Revolution in der DDR
nur sehr peripher rezipiert.
Nur geringen Einfluss auf den politischen Mythos hatten in den ersten
Jahren der DDR die im Zusammenhang mit dem Sozialistengesetz entstan-
denen polemischen Verurteilungen von Martin Luther als "Heros des reakti-
onären Preußentums,,328, die besonders in den Artikeln zum 400. Geburtstag
von Martin Luther in der illegalen Zeitung "Sozialdemokrat,,329 erschienen,
in denen erklärt wurde, dass die Sozialdemokratie dem LutheIjubiläum
"direkt feindselig" gegenüberstünde, da es zu "infam-reaktionärem Hum-
bug" benutzt wurde?30
Auch die Kommunistische Partei nahm gegenüber Luther in der Propa-
gandapolitik, besonders 1918/19 und in der Zeit des Nationalsozialismus
eine extrem negative Haltung ein. Hingegen waren Bauernkrieg und Münt-
zer in ihrer Traditionspflege bevorzugte Themen, während Luther und die
Reformation das negative Pendant dazu bildeten. 331 Als die Kommunistische
Partei 1925 in Eisleben und Mühlhausen die Müntzertage mit ziemlich
großem Aufwand beging, war Müntzer Ernst Thälmann und Luther Ebert,

demie Verlag 1986: 33. Horst Bartel schrieb über Hoernle, dass dieser den deutschen Bauern-
krieg als "eine Begleiterscheinung der bürgerlichen Revolution" bezeichnet hatte. Quelle:
Hoernle, Edwin: Der grosse Bauemkrieg vor 400 Jahren und das revolutionäre Proletariat von
heute. In: Die Internationale 1925/4: 183. Max Beer sah nach Bartel Bauemkrieg und Refor-
mation als deutsche Revolution an, die den Beginn der Neuzeit setzte. Diese deutsche Revolu-
tion umfasste den Zeitraum von 1517 bis 1536. Quelle: Beer, Max: Allgemeine Geschichte
des Sozialismus und der sozialen Kämpfe. 1924.
328 Bartel, Horst: Das Lutherbild ... a.a.O.: 33.
329 Sozialdemokrat, 9.August, 25. Oktober, 01., 08., 15.,22. und 29. November 1883. In: Bartel,
Horst: Das Lutherbild ... a.a.O.: 33.
330 Sozialdemokrat, 9. August 1883.
331 Die DDR-Historiker schlossen sich der scharfen Entgegensetzung zwischen Müntzer und
Luther zu keinem Zeitpunkt voll an, wenn die Politiker das hin und wieder auch taten. Horst
Bartel schrieb 1983 über die KPD-Rezeption, dass sie von "gewissen Einseitigkeiten und sek-
tiererischer Enge und Überspitzungen sowie auch Irrtümern" gezeichnet war, die er so begrün-
dete: "Sie bestanden vor allem in einer zu starken Trennung des Zusammenhangs von Refor-
mation und Bauemkrieg, in überdimensionierter Hervorhebung des negativen Wirkens Luthers
während des Bauemkrieges und in der nach der Niederlage des Bauemkrieges einsetzenden
Fürstenreformation im Gesamtbild Luthers. Doch blieben dessenungeachtet die historischen
Leistungen Martin Luthers als Auslöser und Ideologe, als Verteidiger der Reformation auf
dem Reichstag in Worms 1521 uinstritten, ebenso wie seine kulturschöpferischen Leistungen,
der bürgerliche Charakter der Reformation und ihre Rolle bei der Vorbereitung des Bauern-
krieges. " Bartel, Horst: Das Lutherbild der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung. In:
Bartel, Horst, Brendler, Gerhard, Hans Hübner und AdolfLaube: Martin Luther. Leistung und
Erbe. Berlin: Akademie-Verlag 1986: 34.

186
Noske und Scheidemann. Was hiermit ausgesagt werden sollte, war die Ab-
grenzung von der Sozialdemokratie, die als die Revolutionsverräter von
1918 galten. 332
Die Konzentration auf den Bauernkrieg und strikte Distanzierung von
Luther stand innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung im engen Zusam-
menhang mit der Vereinnahmung Luthers durch deutsch-nationalistische
Gruppen und Deutschtümelei und später durch den Nationalsozialismus. Ein
Beispiel :für nationalistische Lutherinterpretation ist das Buch von Heinrich
von Treitschke "Luther und die deutsche Nation", in dem Luther als Verkör-
pe~g deutschen Wesens glorifiziert wurde. Darin heißt es:

"Ein Ausländer mag wohl ratlos fragen, wie nur so wunderbare Gegensätze in einer Seele
zusammenliegen mochten: diese Gewalt zermalmenden Zornes und diese Innigkeit frommen
Glaubens, so hohe Weisheit und so kindliche Einfalt, so viel tiefsinnige Mystik und so viel
Lebenslust, so ungeschlachte Grobheit und so zarte Herzensgüte. . . Wir Deutschen finden
in alledem kein Rätsel, wir sagen einfach: Das ist Blut von unserem Blute. Aus den tiefen
Augen dieses urwüchsigen deutschen Bauernsohnes blitzte der alte Heldenmut der Germa-
nen, der die Welt nicht flieht, sondern sie zu beherrschen sucht durch die Macht des sittli-
chen Willens." 333

Nach 1941 wurde in der KPD eine intensive Diskussion zu Grundpro-


blemen der deutschen Geschichte in Gang gesetzt, die schließlich in der Bil-
dung der "Geschichtskommission" des Nationalkomitees "Freies Deutsch-
land" institutionalisiert wurde. Die Bewertung von Bauernkrieg und Refor-
mation bildeten Eckpunkte dieser Diskussion, da sie mit dem Status des
Wendepunktes in der deutschen Geschichte ausgestattet wurden. In dieser
Zeit zeichnete sich eine Distanzierung von dem stark negativen Lutherbild
und der krassen Entgegensetzung zwischen Bauernkrieg und Reformation
ab. 334
An dieser Stelle vollzog sich der Beginn des offiziellen Geschichtsbildes
der DDR das seinen Ausgangspunkt in der Geschichtskommission des Na-
tionalkomitees "Freies Deutschland" in der sowjetischen Emigration nahm.
Indem die Interpretation von Friedrich Engels, dass Luther und die Refor-
mation Voraussetzung:für eine politische Kultur des Verderbens in Deutsch-
land seien, entstand die Formel von der deutschen Misere. Sinnbild dieses

332 Vgl. Brendler, Gerhard: Luther im Traditionskonflikt der DDR. In: Dähn, Horst und Joachim
Heise: Luther und die DDR. Der Reformator und das DDR-Fernsehen 1983. Berlin: edition
ost 1996.
333 Vgl. Treitschke, Heinrich: Luther und die deutsche Nation. In: Preussische Jahrbücher
1883/52.
334 Bartel, Horst: Das Lutherbild der deutschen Arbeiterbewegung. a.a.O.: 35.

187
Paradigmas wurde das Buch "Der Irrweg einer Nation" von Alexander A-
busch. 335 Was die deutsche Geschichte in die nationalsozialistische Katast-
rophe geführt hatte, war nach dieser Interpretation der besondere Weg der
deutschen Geschichte, der durch die verlorenen sozialen und politischen
Revolutionen, die Kleinstaaterei, den Konservatismus der Romantik, die
Reichseinigung von oben durch Bismarck, den preußischen Militarismus
Voraussetzungen für Ritler schuf.
J. M. Lange hatte mit seinem Artikel in der Deutschen Volkszeitung
vom 19.02.1946 zum 400. Geburtstag Luthers die Formel vom "Verhängnis
Luther" das erste Mal im Nachkriegsdeutschland beschrieben:

"Wann begann die deutsche Misere? Der furchtbare Zwiespalt zwischen den ideellen Forde-
rungen und ihrer Verwirklichung?" Die Antwort lautete: "Nicht erst Luther, der gewaltige
Mann, . . . ist an ihm gescheitert. Im Kleinen wie im Grossen geht der Riss durch die Ge-
schichte unserer geistigen und materiellen Kultur.,,336

In dem Buch von Alexander Abusch, das 1944/45 im mexikanischen


Exil entstand, tauchte diese Verhängnistheorie von neuem wieder auf. Der
Aufbauverlag brachte es 1946 in Berlin heraus, so dass es zu einer ersten
geschlossenen Darstellung der deutschen Geschichte eines kommunistischen
Autors gehörte, die Bauernkrieg und Reformation u.a. thematisierten. A-
busch stellte sich die Aufgabe, zu bestimmen: "an welchem Wendepunkt der
deutschen Geschichte . . . die unheilvolle Entwicklung" begann, "die zur
Etablierung der Nazibestialität auf deutschem Boden führte oder zumindest
ihr Kommen erleichterte. ,,337
Diesen Zeitpunkt des Beginns der deutschen Misere setzte Abusch im
16. Jahrhundert mit der Reformation an. Die Überschrift des Abschnitts über
die Reformation nannte Abusch "Der Totengräber der deutschen Frei-
heit",338 indem er ein Zitat von Ludwig Böme übernahm. So hieß es dann
im Text:

335 Abusch, Alexander: Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Ge-
schichte. Neubearbeitete Ausgabe mit einem Nachwort des Autors. Berlin 1949.
336 Lange, M. J.: Martin Luther. Zu seinem 400. Todestage. In: Deutsche Volkszeitung vom
19.02.1946. Abdruck des Artikels bei Kurt Aland: Apologie der Apologetik. Berlin 1948: 103
f.
337 ebenda: 6.
338 ebenda: 20.

188
Die Reformation begann "als revolutionäre Fanfare im Jahre 1517" und endete "in Luthers
Ruf zum Totschlag 'wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern', an der
Seite der Fürsten und Erzbischöfe." 339

In diesem Zusammenhang schrieb Abusch den für das Refonnationsbild


der DDR folgenschweren Satz:

"Luther wurde zur größten geistigen Figur der deutschen Gegenrevolution fllr Jahrhunder-
te.,,340

Abusch betonte, wie Engels und die Mehrheit der sozialdemokratischen


und kommunistischen Schriftsteller vor ihm, die Verdienste Luthers bei der
Bibelübersetzung und der Herausbildung einer einheitlichen deutschen Spra-
che. Dieser Spaltungsakt in einen guten und einen schlechten Luther gab
auch immer Auskunft über das eigentliche Anliegen, mit dem ihn die
jeweiligen Historiker oder Politiker verbanden. Bei Abusch überwog in der
Bewertung Luthers aufgrund des Rekurses auf die soziale Revolution der
"schlechte Luther", der "Konterrevolutionär", der eine "echte bürgerlich-
demokratische Revolution" verhinderte und somit zur deutschen Misere
beitrug. Der Gradmesser für Revolution war für die deutschen Kommunisten
dabei meistens die Französische Revolution von 1789.
Diese Auffassung von Abusch stimmte mit den Positionen anderer
antifaschistischer Politiker in dieser Zeit überein. Otto Grotewohl sprach
z.B. im Herbst 1945 vor SPD-Funktionären über die deutsche Misere, deren
Ursprung er ebenfalls in der Refonnation sah. 341
Die radikal antilutherische apodiktische Richtung der Einschätzung der
Refonnation, die vor allem durch Wolfram von Hanstein mit seinem Buch
"Von Luther zu Hitler,,342 vertreten wurde, fand unter den Antifaschisten
und später in der DDR keine Resonanz. Die SED-Führung distanzierte sich

339 ebenda: 27. Das Zitat heisst: "Die Reformation war die Schwindsucht, an der die deutsche
Freiheit starb, und Luther war ihr Totengräber" aus: Geiger, Ludwig (Hrsg.): Ludwig Bömes.
Werke. Historisch-kritische Ausgabe in zwölf Bänden.
340 ebenda: 22.
341 Grotewohl, 000: Wo stehen wir, wohin gehen wir? Rede des Vorsitzenden der Sozialdemokra-
tischen Partei Deutschlands, am 14.09.1945. 10: Neue Welt, Berlin 1945: 37-42.
342 Hanstein, Wolfram: Von Luther zu Hitler. Dresden: Voco Republikanische Bibliothek 1947.
Die englische Polemik gegen Luther wurde durch Peter F. Wiener mit seinem Buch "Martin
Luther, Hitler's Spiritual Ancestor", London 1945, ausgelöst. Dies war eine Reaktion auf die
Schrift "Martin Luther, Hitler's Cause or Cur?, London 1945, von Gordon Rupp. Diese Dis-
kussion wurde aber ausserhalb von England nicht aufgenommen. Vgl. Matheson, Peter Clark-
son: Luther and Hitler. Controversy Reviewed, Journal of Ecumenical Studies, Philadelphia.
1945/17: 445f.

189
im theoretischen Organ "Die Einheit" entschieden davon. 343 Luther blieb
immer noch ambivalent für sie und war keine Teufelsperson wie Hitler. Der
Schwerpunkt des Geschichtsbezugs lag nicht bei Luther mit der Begründung
seiner Ambivalenz und seines Verrätertums, sondern bei Müntzer und dem
Bauemkrieg, wie dies im Buch von Engels dargelegt wurde.
Eine weitere wichtige Quelle für die theoretische Untermauerung des
Mythos von Bauemkrieg und Reformation der DDR war die sowjetische
Geschichtsdarstellung, die auf die Zeit der Sowjetischen Besatzungsmacht
(SMA) zurückgeht. Dass der Ausgangspunkt ein völliger Verriss Deutsch-
lands als ein "Nitschewo", als ein Nichts, mit einer Ausnahme war, nämlich
der von Thomas Müntzer, konnte von dem Historiker Moses Mendelson
Smirin nicht ganz akzeptiert, doch wegen seines geringen Spielraumes ge-
genüber S.D. Skaskin, der ZK-Interessen vertrat, auch nicht übergangen
werden?44 Smirins Buch "Die Volksreformation des Thomas Müntzer und
der Grosse Bauemkrieg"345, das er während des Zweiten Weltkrieges weitab
von allen Archiven in der mittelasiatischen Evakuierung schrieb, wurde in
der SBZ ins Deutsche übersetzt und als Unterrichtsgrundlage benutzt.
Smirin war, ebenso wie die Anhänger der Verhängnisformel, der Auf-
fassung, dass die deutsche Geschichte vollkommen anders gelaufen wäre,
wenn der Bauemkrieg erfolgreich geendet hätte. Im Vorwort zu seinem
Buch schrieb er deshalb:

"Der Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts in Deutschland gehört zu den wichtigsten Ereignis-
sen in der Geschichte dieses Landes. Bei einer anderen Einstellung des deutschen Bürger-
tums zum Bauernaufstand und bei einem anderen politischen Niveau desselben, hätte dieses
Ereignis zu einem Wendepunkt werden können, und die ganze deutsche Geschichte hätte
eine neue Richtung bekommen.,,346

Aus dieser Passage wird deutlich, dass die Ursache für das Scheitern des
Bauemkrieges nicht auf das Verhalten der Fürsten, auf Luther oder Fehler
der Bauern im Sinne von Erklärungen des "Noch-nicht-reif-seins", eine
Anfang der 50er Jahre in der DDR übliche Formel, zurückgeführt wurde,

343 Gropp, Otto Rugard: Unter aller Kritik. In: Einheit 1948/3: 668-669. Vgl. auch Brendler,
Gerhard: Luther im Traditionskonflikt... a.a.O.: 31. Und in: Bräuer, Siegfried: Martin Luther
in marxistischer Sicht von 1945 bis zum Beginn der achtziger Jahre. Berlin: Evangelische Ver-
lagsanstalt 1983: 6.
344 Vgl. Brendler, Gerhard: Luther im Traditionskonflikt... a.a.O.
345 Smirin, Moses Mendelson: Die VoIksreformation des Thomas Müntzer und der grosse Bau-
emkrieg. Berlin: Dietz 1952. Ursprünglich wurde das Buch 1946 in Leningrad das erste Mal
herausgebracht.
346 ebenda: 5.

190
sondern einzig und allein auf den Verrat der deutschen Bourgeoisie. Dieses
Approach entsprach dem Grundverständnis der so\\jetischen Geschichts-
schreibung in den 40er Jahren, wonach das deutsche Bürgertum der Haupt-
schuldige am Nationalsozialismus und am Zweiten Weltkrieg war und zum
politischen Hauptfeind erklärt wurde. Die ausgebliebene bürgerliche Revolu-
tion war das deutsche Verhängnis.347
Nach Smirin galten nur die Volksreformation des Thomas Müntzer und
der Bauernkrieg als akzeptabel, um als progressiv begriffen zu werden, die
Reformation von Martin Luther galt bei ihm als rückschrittlich. Smirin
prägte die beiden Begriffe "Volksreformation" und "Fürstenreformation".
Diese Unterscheidung schuf die Implikationen: Müntzer - Volk und Luther-
Fürsten, wonach ein ideeller Anschluss in der sich als Volksdemokratie
verstehenden DDR an Müntzer logisch war. Smirin schrieb:

"Die Analyse des Kampfes der Richtungen im Lager der Reformation von 1520 zeigt, dass
die Lehre Thomas Münzers in der radikalen Bewegung all ihrer volkstümlichen Strömungen
und Sekten die fIlhrende Rolle spielte. Das erklärt sich aus dem Charakter der besonderen
Auffassung der Reformation, die sich bei Münzer schon 1521 herausbildete. Die Lehre
Münzers entsprach den Bestrebungen aller Volksströmungen der Reformation und gab
ihnen den gemeinsamen theoretischen Ausdruck. Außerdem förderte sie das Hinaustreten
dieser Strömungen aus dem en§en Rahmen sektiererischer Doktrinen auf die breite Strasse
des revolutionären Kampfes.,,34

Hält man sich die Aussage Smirins vor Augen, dass Müntzers Lehre
"den Bestrebungen aller Volksströmungen der Reformation" entsprach, wird
die Überschätzung Müntzers innerhalb der Reformation deutlich, die dem
mythischen Bezug zu Müntzer in der DDR für lange Zeit zugrunde lag. Die
Lutherische Bewegung hingegen als sektiererisch einzustufen, implizierte
den Eindruck eines wirkungslosen und isolierten Unternehmens. Außerdem
hatte das Wort "sektiererisch" in den 50er Jahren einen stark abwertenden
und kriminalisierenden Impetus. Es wurde für alle Abweichungen von der
"reinen Lehre" des stalinistisch interpretierten und gewendeten Marxismus
benutzt und war ein Mittel zur Charakterisierung des Feindes, des Verführ-
ten und Verräters, auf dessen Grundlage unter Stalin massenweise getötet
wurde. Mit der Interpretation von Smirin wurden also revolutionärer Kampf,

347 Smirin begründete dies folgendermassen: "Der Sieg des Bauernkrieges in Deutschland hätte
der Anfang des Sieges der bürgerlichen Revolution werden können, der dem deutschen Volk
einen hervorragenden Platz unter den anderen europäischen Völkern gesichert hätte." In: eben-
da.
348 Smirin, Moses Mendelson: Die Volksreformation des Thomas Münzer und der grosse Bauern-
krieg. Berlin: Dietz 1952: 653. Diese Passage wurde als Fazit in den Schlussbemerkungen ge-
schrieben.

191
dem Müntzer zugeschlagen wurde, und Sektierertum, zu dem Luther gehör-
te, gegenübergestellt. Diese krasse Entgegensetzung fand zwar im politi-
schen Mythos der DDR keine absolute Entsprechung, doch verstärkte sie
durchaus die auf Engels zurückgehende negative Beurteilung Martin Lu-
thers und den starken Bezug auf Thomas Müntzer und den deutschen Bau-
ernkrieg. Die wissenschaftliche Untersuchung Smirins über den deutschen
Bauernkrieg und seine theoretischen Ansätze mündeten am Ende des Bu-
ches in der offensichtlich mythischen Anschauung, die den in eine lichte
Zukunft weisenden, utopischen Aspekt hervorhob:

"Die Volksreformation blieb nicht nur eine Phantasie. Ihre Träger nahmen aktiv teil an den
beginnenden Aufständen, das Ziel vor allem des künftigen allgemeinen Umsturzes vor
Augen; aber unabhängig von ihren phantastischen Zielen wurde die Idee der Volksreforma-
tion in der Tat zum organisierenden Faktor der realen gesellschaftlichen Bewegung; diese
'Revolution der leibeigenen Bauern beseitigte', wie Genosse Stalin ze~e, später 'die Feu-
dalherren und hob die Leibeigenschaft als Form der Ausbeutung auf." 9

Die fehlgeschlagene "Volksreformation" des Thomas Müntzer war also


nicht umsonst gewesen, blieb keine Phantasie, sondern endete mit der Auf-
hebung der Leibeigenschaft. Den kämpfenden Bauern wurde in mythischer
Selbstvergewisserung unterstellt, sie hätten dieses Endergebnis vor ihrem
inneren Auge gesehen, als sie starben. So reichte die Vergangenheit in die
Gegenwart hinein und umgekehrt die Gegenwart in die Vergangenheit zu-
rück.
Ähnlich wie Engels, transformierte Smirin Müntzer zu einem Gegner
nicht nur der offiziellen Kirche, sondern der Religion überhaupt und unter-
stellte ihm einen latenten Atheismus. Dass Müntzer die Offenbarung Gottes
in das Gewissen des einzelnen verlegte und somit auch die Bibelauslegung
von institutionellen Gesichtspunkten befreite, wurde in Atheismus übersetzt.
Smirin ging aber noch einen Schritt weiter als Engels, indem er Müntzer für
sein Auftreten im "religiösen Gewand" entschuldigte, schließlich wäre dies
zum damaligen Zeitpunkt nicht anders möglich gewesen. Das heißt, Smirin
unterstellte Müntzer einen vulgären Materialismus und behauptete, seine
Theologie wäre nur reine Taktik, ohne die er die ungebildeten Massen nicht
hinter sich bekommen hätte. 350

349 ebenda: 660. Smirin bezieht sich hier auf ein Zitat von Stalin aus: Stalin, 1. P.: Fragen des
Leninismus. Berlin: Dietz 1951: 499.
350 Die folgende Passage belegt das recht deutlich: "Doch die ersten Predigten Münzers zeigten
schon, dass seine Lehre tatsächlich gegen die Idee der religiösen Autorität selbst gerichtet war
und die Menschen zur Aktivität, zur Errichtung der Grundlagen der menschlichen Moral und
der menschlichen Vernunft aufrief. Seine Lehre, die 'alle Hauptpunkte nicht nur des Katholi-

192
Hier wird ein in den 50er Jahren sehr üblicher Vorgang unter den politi-
schen und geistigen kommunistischen Eliten sichtbar. Die eigene atheisti-
sche und kommunistische Weltanschauung wird zur einzig möglichen
"Sicht auf Welt" 351 , deren Wertmassstäbe in die Vergangenheit verlängert
und nach deren Kriterien Geschichte und historische Akteure beurteilt wer-
den. Wenn eine historische Figur zur mythischen Identifikationsperson für
die Gegenwart ausgewählt wurde, dann entschuldigte man die Distanz die-
ser Person zu den kommunistischen Dogmen mit widrigen historischen
Gegebenheiten in dem Sinne, dass diese Person nicht anders hätte handeln
können, aber dies sicher getan hätte, wenn sie heute lebte.
Den der mythischen Auswahl angereihten Personen wurde historische
Originalität und ein dem historischen, sozialen und ideengeschichtlichen
Rahmen kohärente Identität nicht zugestanden. Sie wurden sozusagen in die
eigene Gegenwart einverleibt. Dies ist ein im höchsten Masse mythischer
Vorgang. der in dieser Zeit keinerlei weltanschauliche Abweichungen zu-
ließ. Mythischer Anschluss wäre grundsätzlich auch bei unterschiedlicher
Weltanschauung möglich, doch dies entsprach nicht totalitären Gesellschaf-
ten, die bis in die innere Anschauung des Einzelnen, die Confessio, hinein-
regieren und kontrollieren. Diese Kontrolle bezieht sich grundsätzlich nicht
nur auf die Mitglieder der eigenen Gesellschaft, sondern auch auf die myt-
hisch ausgesuchten IdentifIkationsfIguren. Wie in den offiziellen Leistungs-
und Arbeitsbeurteilungen in der DDR das "Klassenbewusstsein" und die
"Parteilichkeit" des Einzuschätzenden einen der wichtigsten Kristallisati-
onspunkte darstellten, wurde Müntzer unter parteipolitischen Gesichtspunk-
ten weltanschaulich evaluiert.
Was der von Smirin geprägte Begriff "Volksreformation" besagte, wird
durch die Analogie zu den damaligen volksdemokratischen Revolutionen
deutlich. Der "große Bauemkrieg" wiederum war ein Bezug auf den "Gros-
sen Vaterländischen Krieg". Somit stellten Bauernkrieg und Thomas Münt-

zismus, sondern des Christentums überhaupt' (Engels: Der Deutsche Bauernkrieg ) angriff,
wurde die ideologische Waffe der Bauern und Plebejer, ein Aufiufzu revolutionären Aktionen
des Volkes. Erzeugt durch den mächtigen Aufschwung des Kampfes der bäuerlichen und ple-
bejischen Massen gegen die feudale Ausbeutung, brach die Lehre Münzers, trotz ihrer religiö-
sen mystischen Hülle, tatsächlich mit den mystischen und sektiererischen Lehren des Mittelal-
ters." ebenda: 96.
3 51 Diesen Ausdruck benutzte Cassirer verhältnismässig oft in der "Philosophie der symbolischen
Formen" als Synonym rur den Begriff der Erkenntnis, den er eben nicht im Sinne der reinen
Erkenntnis von Kant versteht, sondern im Sinne des Erkennens von Welt, in die alle symboli-
schen Formen einlliessen, z.B. Religion, Kunst, Wissenschaft, Mythos. Vgl. Cassirer, Ernst:
Philosophie der symbolischen Formen. Drei Teile. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell-
schaft 1994.

193
zer eine wichtige strategische Brücke für die Einbeziehung zuerst der SBZ
und später der DDR in das Bündnissystem der UdSSR dar. Auf dieser Brü-
cke trafen sich die Interessen der deutschen Kommunisten mit denen der
Sowjetunion, beide bekannten sich zu Müntzer und zur sozialen Revolution.
Folge war ein typisch mythischer Vorgang, wie Cassirer ihn als zeitliches
und räumliches Zusammenschließen völlig unterschiedlicher Kategorien
analysierte. 352 So wurden Bauernkrieg, volksdemokratische Revolution und
der Grosse Vaterländische Krieg in eins gegossen und flossen zu einem
Ganzen zusammen, wobei zeitlicher Abstand und geographische Entfernung
keinen Unterschied ausmachten.
In den Anfangsjahren der DDR wurde es zu einer Gewohnheit, Bauern-
krieg und Oktoberrevolution als Einheit zu denken. Die in der Tradition der
deutschen Arbeiterbewegung übliche Analogie zur Revolution von 1848 und
zur Novemberrevolution von 1918 wurde nun von der zur Oktoberrevolution
in Russland verdrängt und erlangte für relativ kurze Zeit Priorität. Der Pfar-
rer, Politiker und Publizist Karl Kleinschmidt trug dieser Richtung in sei-
nem Buch "Thomas Münzer, die Seele des deutschen Bauernkrieges von
1525", das er 1952 herausbrachte, Rechnung, indem er am Schluss sehr
unvermittelt auf das Jahr 1917 und die Grosse Sozialistische Oktoberrevolu-
tion, in der sich das Volk seiner Peiniger entledigt hatte, zu sprechen
kam. 353 Das russische Volk

"richtete auf; wofur Münzer gefallen war: das Volksgericht Ober die FOrsten und Herren und
ein Reich, in dem der Mensch nit herrscht Ober den Menschen und Gerechtigkeit auf dem
Acker wohnt.,,354

Und weiter heißt es:

"Das Jahr 1917 brachte die große Wende. In den Weiten des russischen Reiches hatten die
Arbeiter auch die Bauern zu gemeinsamem Kampf gegen die gemeinsamen Ausbeuter und
Unterdrücker gerufen, und Oberall waren sie, wie einst BOrger, Bauern und Knappen im
VerbOndnis von Allstedt, zu Vereinigungen zusammengetreten. In der Grossen Sozialisti-
schen Oktoberrevolution entledigten sie sich ihrer Peiniger. Sie richteten auf; wofur MOnzer
gefallen war.,,355

Dass der Bauernkrieg mit der Oktoberrevolution zusammengebracht


wurde, war eine typische von Levi-Strauss beschriebene "Trickster-Figur",

352 Vgl. ebenda.


353 Kleinscbmidt, Karl: Thomas MOntzer. Die Seele des deutschen Bauernkrieges. Berlin: Kon-
gress Verlag 1952.
354 ebenda: 131.
355 ebenda

194
die ganz unterschiedliche Ereignisse mit verschiedenen Zeithorizonten zu
einem Sinnzusammenhang zusammenbindet. 356 Zwischen Bauernkrieg und
Oktoberrevolution wurde eine Art Zeittunnel oder im Sinne von Aleida
Assmann ein Kurzschluss hergestellt, die beide Ereignisse als logisch auf-
einander aufbauend und als zwei Teile eines konstitutiv Ganzen erscheinen
ließen. 357 Allerdings fand diese Auffassung unter den Historikern der DDR
von Anfang an keine Unterstützung, da der Bauernkrieg eher mit der deut-
schen Einheit oder mit Europa zusammen gedacht wurde.
Dass die Haltung zum Bauernkrieg ein Gradmesser für die Einstellung
zur sozialen Revolution war und konstitutives Element des Revolutionsmy-
thos ' überhaupt darstellte, war schon bei Marx und Engels relevant. Der
Bezug war dabei die Revolution von 1848. Bei Clara Zetkin und Franz Meh-
ring spielte die Analogie zur Revolution von 1918 die wesentliche Rolle.
Und auch Thomas Mann hob diesen Bezug wieder hervor. Das Neue war
das Zusammenbinden des Bauernkrieges mit der Oktoberrevolution in Russ-
land, was sich durch den hohen Anteil der bäuerlichen Bevölkerung in
Russland und durch das von der so\\jetischen Regierung verkündete Bünd-
nis zwischen Arbeitern und Bauern,als Grundlage der Klassenherrschaft in
einem sozialistischen Staat für die kommunistischen Eliten verbindlich war.

3. Bauernkrieg und Reformation als politische


Bezugspunkte für deutsche Intellektuelle in
der Nachkriegszeit

Dass sich Bauernkrieg und Reformation überhaupt als ein wichtiger politi-
scher Mythos durchzusetzen vermochten, kann nicht allein auf den Einfluss
der sowjetischen Geschichtsauffassung zurückgeführt oder mit dem der der
KPD und deren Instrumentalisierung für die SED-Führungselite erklärt
werden, sondern dies war auch Ergebnis davon, dass beide Themen bei einer
Reihe deutscher Künstler und Historiker bei der Suche nach der Standortbe-
stimmung der Deutschen in der Weltgeschichte nach dem Ende des zweiten
Weltkrieges einen hohen Stellenwert einnahmen. Die Auffassungen der

356 Vgl. Levi-Strauss, Claude: Mythologica. FrankfurtlM.: Suhrkamp 1976.


357 Vgl. Assmann, A1eida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Hemken, Kai-Uwe (Hrsg.): Ge-
dächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst. Leipzig: Reclam 1976: 16-
46.

195
Künstler und Intellektuellen, die sich zumeist in der Westemigration befun-
den hatten, versehen mit großen Sympathien für soziale Revolutionen und
Volksherrschaft, inszenierten die Mythisierung des Bauemkrieges und der
Reformation regelrecht mit. Beispiel hierfür war das 1952 von Alfred Meu-
seI geschriebene Buch "Thomas Müntzer und seine Zeit", in dem steht: "In
den Jahren 1517 bis 1525 erlebte das deutsche Volk seine frühbürgerliche
Revolution." Hier wird die erste Zeit des Lutherischen Wirkens in die Revo-
lutionsgeschichte mit einbezogen.
Der die geistige Haltung eines großen Teils der Deutschen stark beein-
flussende Thomas Mann erachtete die Bewegungen des 16. Jahrhunderts für
die deutsche Geschichte, besonders hinsichtlich der Herausbildung des deut-
schen Nationalcharakters, für ausgesprochen prägend. 358 Luther war für ihn,
wie er in seinem Vortrag "Deutschland und die Deutschen" im Mai 1945 in
der Library of Congress in Washington äußerte, "eine riesenhafte Inkarnati-
on deutschen Wesens". Weiter sagte er:

"Ich liebe ihn nicht, das gestehe ich offen. Das Deutsche in Reinkultur, das Spartistisch-
Antirömische, Anti-Europäische befremdet und ängstigt mich, auch wenn es als evangeli-
sche Freiheit und geistige Emanzipation erscheint, und das spezifisch Lutherische, das
Cholerisch-Grobianische, das Schimpfen, Speien und Wüten, das filrchterlich Robuste,
verbunden mit zarter Gemütstiefe und dem massiven Aberglauben an Dämonen, Incubi und
Kielköpfe, erregt meine instinktive Abneigung.,,359

Nach Blumenberg hieße das, hier steht das Entsetzen, der reine Schre-
cken des gerade Erlebten Pate bei der Beurteilung der reformatorischen
Auswirkungen auf die deutsche Geschichte, die geradezu danach schreit, in
mythische Distanz gebracht zu werden. 360 Die definitorische Beurteilung
Luthers durch Thomas Mann hatte sicher eine erhebliche Tiefenwirkung auf
die Haltung der Mehrzahl der Intellektuellen, aber auch auf verschiedene
Politiker der DDR. Die von Thomas Mann beeinflusste Haltung zu Martin
Luther bewegte sich manchmal mehr an der Oberfläche, manchmal verbor-
gen in der Tiefe, vorbei an den Wenden offizieller Mythenpolitik der SED
und beeinflusste nachhaltig die offizielle Rezeption des Luthermythos so-

358 Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. 2. Auflage. Frankfurt/M. 1974, Bd.
11: 1132 f Zu Manns Lutherauffassung vergleiche Lehmann, Hartmut: Katastrophe und Kon-
tinuität. Die Diskussion über Martin Luthers historische Bedeutung in den ersten Jahren nach
dem zweiten Weltkrieg. In: Geschichte, Wissenschaft und Unterricht. 1974/ 25.: 129-131. Und
Aland, Kurt: Martin Lutber in der modernen Literatur. Witten und Berlin 1973: 295-397.
359 Mann, Thomas: Reden und Aufsätze. 2. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M.: Fischer 1974:
1133.
360 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. a.a.O.

196
wohl fördernd als auch konterkarierend. Dies trifft besonders auf jenen Satz
zu:

"Und wer wollte leugnen, dass Luther ein ungeheuer großer Mann war, groß im deutsches-
ten Stil, groß und deutsch, auch in seiner Doppeldeutigkeit, als befreiende und zugleich
rückständige Kraft, ein konservativer Revolutionär." 361

Der "Konterrevolutionär" von Alexander Abusch wird hier in die auf


den ersten Blick selbstwidersprüchlich anmutende Definition des "konserva-
tiven Revolutionärs" übersetzt, die als Inkarnation des ambivalenten Revolu-
tionsbezugs zur Refonnation überhaupt angesehen werden kann. Wenn der
Konstruktion des "konservativen Revolutionärs" eine Antinomie unterstellt
wird, so entspricht das nicht voll und ganz der eigentlichen Bedeutung und
Begriffswerdung des Wortes "Revolution", das von vornherein Zwiespältig-
keit einschließt. Revolution kann durchaus mit Konservieren zusamrnenge-
dacht werden, denn schließlich wird das lateinische revolutio mit Umdre-
hung oder Umwälzung übersetzt. Führt man sich das Stammwort, von dem
Revolution abgeleitet wird, volvere, das so viel wie zurückdrehen, wiederho-
len, zurückkehren heißt, vor Augen, wird die zwiespältige Bedeutung noch
deutlicher. Schließlich wurden im Mittelalter die Sternläufe und -bahnen als
Revolution bezeichnet.
Erst im 17. Jahrhundert wurde der Begriff Revolution zu einer festste-
henden Vokabel mit der Bedeutung von Umbruch in der Politik. 362 Sicher
waren Thomas Mann diese Begriffsgeschichte und die damit verbundene
Bedeutungsambivalenz bekannt. Wie der Begriff, so war auch der tatsächli-
che Verlauf von politischen und sozialen Revolutionen ambivalent. Sie hat-
ten stets eine revitalisierende und eine destruktive Seite, auch wenn sie, wie
es Blumenberg beschrieb, beanspruchten, eine totale Negation zu betrei-
ben. 363 Immer wenn plötzliche Umbrüche stattfinden, das gewohnte Umfeld
der Menschen gewaltsam zerstört wird, "greift die Suche nach Legitimati-
onsfiguren nicht selten auf die ältesten Symbole, Geschichten und Bildarse-
nale zurück.,,364

361 Mann, Thomas: Reden und Aufsätze. a.a.O.


362 Dietrich Harth weist daraufhin, dass der Begriff der Revolution, der vordem vor allem von der
Astrologie zur Stellung von Horoskopen verwandt wurde, bereits im 14. Jahrhundert, zuerst
im Sinne der Horoskope, eingefiihrt wurde und erst im 17. Jahrhundert die Bedeutung des po-
litischen Umsturzes erlangte. In: Harth, Dietrich: Revolution und Mythos. Sieben Thesen zur
Genesis und Geltung zweier Grundbegriffe historischen Denkens. In: Harth, Dietrich und Jan
Assmann (Hrsg.): Revolution und Mythos. FrankfurtJM.: Fischer Wissenschaft 1992: 9-38.
363 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. a.a.O.
364 Harth, Dietrich: Vorbemerkung. In: Harth, Dietrich und Jan Assmann (Hrsg.): Revolution und

197
In diesem Sinne sind Revolutionen nicht nur zerstörend, sondern auch
rekonstruktiv. Doch Thomas Mann wollte sicher das, was fiir eine Revoluti-
on als normal gelten kann - Bewahren und Zerstören- noch einmal von
Luther absetzen. Er benutzte diese Konstruktion des konservativen Revoluti-
onärs, um das jeder Revolution zugrunde liegende bewahrende Element
durch das Adjektiv "konservativ" zu verstärken. So rechnete Thomas Mann
Luther durchaus zu den Revolutionären, die einen Umsturz in Gang brin-
gen, wie er dies bezüglich des Bruchs mit der Kirche in Rom auch getan hat,
doch meinte er auch, dass der Reformator eine Figur des Bewahrens war, da
er die Macht der Fürsten und weltlichen Feudalherren erhalten wollte. Ob-
wohl sich Thomas Mann somit nicht in Widerspruch zu Einschätzungen wie
von Abusch begab, wurde die Konstruktion "konservativer Revolutionär" im
Schulunterricht kaum und in politischen Reden überhaupt nicht verwendet.
Sie war einfach zu missverständlich.
Wie auch Engels unterstrich Thomas Mann den positiven Einfluss Lu-
thers auf die deutsche Sprache und Kultur. 365 Von Bedeutung war seine
Einschätzung des Verhältnisses zwischen der Person von Martin Luther und
dem Begriff der Freiheit, der in der Literatur der marxistischen Historiker
meistenteils und der DDR-Politiker vollkommen ignoriert wurde. Hinsicht-
lich dieses Zusammenhangs führte Thomas Mann aus:

"Er war ein Freiheitsheld, - aber im deutschen Stil, denn er verstand nichts von Freiheit. Ich
meine jetzt nicht die Freiheit des Christenmenschen, sondern die politische Freiheit, die
Freiheit des Staatsbürgers - die ließ ihn nicht nur kalt, sondern ihre Regungen und Ansprü-
che waren ihm in tiefster Seele zuwider. Vierhundert Jahre nach ihm sprach der erste Präsi-
dent der Deutschen Republik, ein Sozialdemokrat, das Wort: 'Ich hasse die Revolution wie
die Sünde.' Das war echt lutherisch, echt deutsch. So hasste Luther den Bauernaufstand,
der, evangelisch inspiriert, wie er war, wenn er gesiegt hätte, der ganzen deutschen Ge-
schichte eine glückliche Wendung, die Wendung zur Freiheit hätte geben können, in dem
aber Luther nichts als eine wüste Kompromittierung seines Werkes, der §eistlichen Befrei-
ung, sah und den er darum bespie und verfluchte, wie er es nur konnte.,,36

Mythos. FrankfurtJM.: Fischer Wissenschaft 1992: 7. Weiter schreibt Dietrich Harth: " Die
Bilder des Glücksversprechens, an denen sich jede revolutionäre Hoffuung nährt, sind in Ar-
kadien und in Utopia zu Hause."
365 Thomas Mann sagte: ''Nichts gegen die Grösse Martin Luthers! Er hat nicht nur durch seine
gewaltige Bibelübersetzung die deutsche Sprache erst recht geschaffen, die Goethe und Nietz-
sche dann zur Vollendung filhrten, er hat auch durch die Sprengung der scholastischen Fesseln
und die Erneuerung des Gewissens der Freiheit der Forschung, der Kritik, der philosophischen
Spekulation gewaltigen Vorschub geleistet. Indem er die Urunittelbarkeit des Verhältnisses des
Menschen zu Gott herstellte, hat er die europäische Demokratie befördert, denn 'Jedermann
sein eigener Priester', das ist Demokratie." ebenda: 1134.
366 ebenda. Weiter hiess es bei ihm: "Wie tolle Hunde liess er die Bauern totschlagen und rief den
Fürsten zu, jetzt könne man mit Schlachten und Würgen von Bauernvieh sich das Himmel-

198
Unter dem Blickwinkel der politischen Freiheit sah Thomas Mann im
Luthertum eine Gefahr, denn Luther setzte sich lediglich für die geistliche
Befreiung ein, was hieß, dass die Freiheit von den Fürsten nicht angestrebt
wurde. Ähnlich wie Marx und Engels und später Clara Zetkin proklamierte
Thomas Mann die Analogie zwischen Luther und der sozialdemokratischen
Regierung nach der Revolution von 1918. Das "Verhängnis Luther" bestand
nach dieser Auffassung darin, als Katalysator zur Fixierung eines deutschen
Charakters gewirkt zu haben, der eine wesentliche Ursache für das Zustan-
dekommen zweier Weltkriege war:

"Seine antipolitische Devotheit, dies Produkt musikalisch-deutscher Innerlichkeit und Un-


weltlichkeit, hat nicht nur für Jahrhunderte die unterwürfige Haltung der Deutschen vor den
Fürsten und aller staatlichen Obrigkeit geprägt; sie hat nicht nur den deutschen Dualismus
von kühnster Spekulation und politischer Unmündigkeit teils begünstigt und teils geschaf-
fen. Sie ist vor allem repräsentativ auf eine monumentale und trotzige Weise für das kern-
deutsche Auseinanderfallen von nationalem Impuls und dem Ideal politischer Freiheit. Denn
die Reformation, wie später die Erhebung gegen Napoleon, war eine nationalistische Frei-
heitsbewegung ... Der deutsche Freiheitsbegriff war immer nur nach außen gerichtet; er
meinte das Recht, deutsch zu sein, nur deutsch und nichts anderes, nichts darüber hinaus, er
war ein protestierender Begriff selbstzentrierter Abwehr gegen alles, was den völkischen
Egoismus bedingen und einschränken, ihn zähmen und zum Dienst an der Gemeinschaft,
zum Menschheitsdienst anhalten wollte ... Warum muss immer der deutsche Freiheitsdrang
auf innere Unfreiheit hinauslaufen? Warum musste er endlich gar zum Attentat auf die
Freiheit aller anderen, auf die Freiheit selbst werden? Der Grund ist, dass Deutschland nie
eine Revolution gehabt und gelernt hat, den Begriff der Nation mit dem der Freiheit zu
vereinigen. ,,367

In der Rede von Thomas Mann wird die viele Intellektuelle in der DDR
prägende Sehnsucht nach politischer Demokratie im Sinne der Französi-
schen Revolution und gleichzeitig ein tiefes Verlustempfinden darüber deut-
lich, dass die Revolution von 1789 in Deutschland nicht stattgefunden hatte,
obwohl sich 1525 das erste Mal Gelegenheit dafür geboten hätte. 1525 war
für Thomas Mann der Wendepunkt in der deutschen Geschichte, in dem
sich der antirevolutionäre Weg der Deutschen entschied. Hätte Luther nicht
geholfen, den Bauernaufstand zu verhindern, wäre Deutschland einen ande-
ren progressiven Weg gegangen, und beide Weltkriege wären nicht von
diesem imaginären Land der Freiheit ausgegangen. An dieser Stelle wird die

reich erwerben. Für den traurigen Ausgang dieses ersten Versuches einer deutschen Revoluti-
on, den Sieg der Fürsten nebst allen seinen Konsequenzen, trägt Luther, der deutsche Volks-
mann, ein gut Teil Verantwortung."
367 ebenda: 1136. Etwas weiter unten konkretisiert Thomas Mann das Thema der Freiheit: "Ein
Volk, das nicht innerlich frei und sich selbst verantwortlich ist, verdient nicht die äussere Frei-
heit; es kann über Freiheit nicht mitreden, und wenn es die klangvolle Vokabel gebraucht, so
gebraucht es sie falsch.": 1137.

199
Nähe zu der Auffassung von Smirin sichtbar. 368 Bei Thomas Mann kommt
das Verhängnis von der Reformation über die ausgebliebene Revolution und
die fehlende innere und äußere politische Freiheit zum Verhängnis zweier
Weltkriege zurück, auch wenn er dieses Verhältnis nicht unmittelbar, son-
dern über viele Zwischenglieder herstellt und sich nicht in dem Denkzu-
sammenhang "Von Luther zu Hitler" von Wolfram von Hanstein bewegt?69
Was ihn jedoch von Abusch unterscheidet, ist die Betonung des Man-
gels an innerer Freiheit und des Devotismus gegenüber der Obrigkeit. Für
die kommunistische Bewegung war diese Seite der sogenannten
Verhängnisformel nicht sehr sympathisch, denn obrigkeitliches Denken
gehörte zur stalinistischen Doktrin und konnte somit nicht Gegenstand der
Kritik sein. Zwar war der Freiheitsbegriff bei Abusch stark vertreten, doch
verschwand er in der DDR zunehmend aus dem Vokabular der Diskussion
um die Ereignisse des 16. Jahrhunderts. Die genannte Rede von Thomas
Mann wurde im Schulunterricht oder zu rituellen Begehungen oder
Feierlichkeiten zu Bauernkriegs- oder Reformationsjubiläen nicht
verwendet. In der Schule war das Buch von Smirin und später auch von
Alexander Abusch Bestandteil der Standardliteratur und wurde zum festen
Kanon der kollektiven Erinnerung an Bauernkrieg und Reformation. 37o
Doch das geistige Bewusstsein einer breiten Schicht von Intellektuellen,
für die Thomas Mann eine Orientierungsfigur darstellte, und die sich z.T. in
Opposition zur herrschenden Elite befand, war gerade diese Einschätzung
der Reformation und des Bauernkrieges, ausgesprochen prägend. Einerseits
erleichterte diese Haltung den Zugang der Vermittlung des Bauernkriegs-
und Reformations-Mythos im Sinne der SED-Führung, doch andrerseits
setzte sie auch Erwartungen, die die politische Realität nicht erfüllte und
große Enttäuschungen hervorrief.
Die negative Beurteilung deutschen Nationalcharakters in der Gestalt
Luthers durch Thomas Mann widerspiegelte die Haltung vieler Künstler und
Intellektueller, die sich in der westlichen Emigration aufgehalten hatten und
durch das eigene Leid, aber auch den Einfluss der späteren Siegermächte
den Nationalsozialismus und Hider mit dem deutschen Charakter in Ver-
bindung brachten. Von da aus entstand eine antinationale Grundhaltung

368 Nach Wissen der Autorin kannte Thomas Mann M.M. Smirin nicht, so dass bestimmte Über-
einstimmungen nicht auf der Grundlage von Übernahme oder Vergleich zustande gekommen
sein können.
369 Vgl. Hanstein, Wolfram: Von Luther zu Hitler. Dresden: Voco Republikanische Bibliothek
1947.
370 ebenda.

200
vieler Schriftsteller, Schauspieler und Maler, die dazu neigten, die deut-
schen Probleme zu universalisieren und zu Menschheitsproblemen zu erhe-
ben. Die Luthereinschätzung ist ein typisches Beispiel dafür. So wurde die
Person Luthers zur Grundlage eines Mythos der Verachtung gegenüber den
Deutschen.
Durch den ideellen Einfluss dieser antinationalen universalistischen
Gruppe von Schriftstellern und Künstlern in der DDR, der zumindest bei der
Aufbaugeneration und deren Kindern sehr prägend war, entstand die Situa-
tion, dass sich eine Reihe von DDR-Bürgern mehr als Teil eines neuen
Weltsystems mit der Sowjetunion als Zentrum anstatt als Deutsche begrif-
fen. Man hatte Deutschland hinter sich gelassen und somit alles Schreckli-
che und Schuldhafte, das mit Luther seinen Ausgang genommen hatte.
Diese Konstellation macht deutlich, dass sich im politischen Mythos der
DDR von Beginn an zwei Richtungen gegenüberstanden - die nationale und
antinational-universalistische, die immer wieder zu Auseinandersetzungen
zwischen deren Anhängern führten, die aber oftmals auch eng miteinander
verwoben auftraten. Beide waren sie in der DDR tief verwurzelt und konn-
ten deshalb auch von den Mythenmachern der politischen Elite gut gegen-
einander ausgespielt werden. Sie schufen einen größeren politischen Hand-
lungsspielraum. Die universalistische Richtung, deren bedeutender Protago-
nist Thomas Mann ist, wurde in den Internationalismus der kommunisti-
schen Bewegung übersetzt und in der DDR-Politik in die Solidaritätsbewe-
gung. Bis zum Ende der DDR konnten diese Kristallisationspunkte auf
Grund einer universalistischen und antinationalen Prägnanz noch immer
Inseln von Identität erhalten, die auf der nationalen Schiene schon lange
nicht mehr funktionierten.
So war die Miseretheorie von Thomas Mann, die wie bei den anderen
Vertretern mit Luther begann, nicht in erster Linie auf die fehlende deutsche
Einheit gegründet, deren Ursprung in der Konservierung der separaten deut-
schen Fürstentümer gesucht wurde, sondern auf die von Luther kultivierte
"Devotheit" und fehlende politische Toleranz.
Beispiel für die nationale Richtung der Implementierung der Anschau-
ung über die deutsche Misere war Johannes R. Becher. In seiner Rede
"Deutsches Bekenntnis" von 1945 stellte Johannes R. Becher unter dem
Blickwinkel des Neuanfangs nach der deutschen Niederlage die Frage, wo-
her die Katastrophe kam und wie die deutsche Tragödie begonnen hatte. 371

371 Johannes R. Becher begann seine Rede mit den Sitzen: "Dass unser Leben tiefernst und

201
Er brachte den Anfang im 16. Jahrhundert mit der "realen geschichtlichen
Notwendigkeit . . . einer nationalen Einheit Deutschlands" in Verbin-
dung. 372 In diesem Zusammenhang stieß er unmittelbar auf die Gestalt Lu-
thers, zu der er ausführte:

"So betrachten wir Luther als eine widersprüchliche Erscheinung: Er war der Einiger
Deutschlands auf sprachlichem Gebiet, aber zugleich fOrderte der geniale Schöpfer der
deutschen Spracheinheit durch seine verhängnisvolle Fürstenpolitik die Zerrissenheit
Deutschlands. Die Schwäche der Städte und damit im Zusammenhang die Niederlage der
Bauernschaft in ihrem großen nationalen Bauernkrieg hatten zur Folge, dass Deutschland
als ein uneinheitliches, zerrissenes, in all seinen Teilen sich widerstrebendes und sich be-
feindendes Gebilde dem dreißigjährigen Krieg anheimfiel.,,373

Nicht die negativen Auswirkungen auf den deutschen Charakter und das
kulturelle Manko wie bei Thomas Mann werden hier zum Verhängnis, son-
dern die ökonomische und staatspolitische Fehlleistung Luthers, die die
Zerrissenheit Deutschlands und den dreißigjährigen Krieg zur Folge hatte.
Während Mann sowohl vom geistigen als auch materiellen Verhängnis
sprach, trennte das Becher. Er setzte "geistig-kulturelle Macht" und "politi-
sche Staatsmacht" bei den Deutschen einander gegenüber und sah gerade in
dieser Trennung das Verhängnis bzw. die Tragödie:

"Dieses Missverhältnis, dieser tur das Gedeihen unseres Volkes lebensgefahrliche Wider-
spruch zwischen dem deutschen Wesen, wie es sich im Kulturellen ausdrückt, und seiner
politischen Erscheinungsform bezeichnen wir als deutsche Tragödie.,,374

Das deutsche Wesen wird bei Becher im Gegensatz zu Thomas Mann


als Positivum aufgefasst. Bei dem von ihm proklamierten Missverhältnis
zwischen dem Kulturellen und dem Politischen kam es Becher vor allem auf
das Nationale an:

erdrückend schwer geworden ist, das empfindet heute wohl jeder. Aber die meisten lassen es
bei solch einem dumpfen Gefilhlsausdruck bewenden. Sie verharren in einem Zustand von
Niedergeschlagenheit und Benommenheit, in einer Art von Betäubung und Bewusstlosigkeit,
als hätten sie sich noch immer nicht von der Erschütterung, von der niederschmetternden
Wucht der Ereignisse erholt. Nur einige wenige, vereinzelte Ausnahmen sind es, die sich die
Mühe geben und die auch über die geistigen und moralischen Fähigkeiten verfilgen, um nach
dem Grund zu forschen, warum dies alles so geworden ist und woher diese erdrückende
Schwere stammt, die uns alle gleichermassen belastet." In: Becher, Johannes R.: Deutsches
Bekenntnis (1945). In: Haase; Horst (Hrsg.): Johannes R. Becher: Bemühungen, Reden und
Aufsätze. Berlin: Aufbau-Verlag 1971: 367.
372 ebenda: 375.
373 ebenda: 376. Becher bezog sich hierbei auf eine Aussage von Humboldt von 1844: "Sie
werden es erleben, dass die ganze hiesige Wirtschaft ein allmähliches Ende nehmen wird. Der
grosse Fehler in der deutschen Geschichte ist, dass die Bewegung des Bauemkrieges nicht
durchgedrungen ist."
374 ebenda: 376.

202
"War das Misslingen der Schaffung der Zentralgewalt im Zeitalter der Reformation das
erste große geschichtliche Versäumnis, war die jahrhundertelange Verschleppung in der
Herausbildung einer einheitlichen deutschen Nation das zweite große Versäumnis in unserer
Geschichte, so bestand das dritte große geschichtliche Versäumnis darin, dass 1871 eine
Reichseinheit wurde ohne die schöpferische Anteilnahme des Volksganzen ... Dass diese
geschichtliche Forderung zu erfilllen wir in der Folge ebenfalls wiederum versäumt haben,
hat letzten Endes zu dem katastrophalen Abschluss der deutschen Tragödie geftlhrt, deren
tiefer Ernst und erdrückende Schwere heute auf uns allen lastet.,,375

Wenn man Becher folgt, und das "Versäumen", d. h. das bewusste Un-
terlassen bestimmter notwendiger Handlungen in der Geschichte unterstellt,
dann müsste die Geschichte ein durch und durch bewusst gestalteter Prozess
sein, in dem man genau weiß, was zu tun ist. Wenn man das, was zu tun ist,
versäumt, dann deshalb, da das Falsche gewollt ist oder das Richtige nicht
erkannt wird. Diese normative und mythisch orientierte Betrachtung von
Geschichte war wichtige Grundlage für das System des politischen Mythos
in der DDR. Die Unterstellung des Bewusst-Bösen konnte Identität mit der
Gemeinschaft erzeugen, die sich vorgenommen hatte, dieses Böse zu entlar-
ven und wieder in die richtige Richtung zu bringen. Das Bewusst-Böse be-
zog sich im Zusammenhang mit den Ereignissen des 16. Jahrhunderts auf
die Reformation, die es versäumt hatte, eine deutsche Zentralgewalt zu
schaffen. Diese Versäurnnisformel war ein stärkeres Argument gegen alle,
die absichtlich etwas versäumten, als die Verhängnis- oder Misere-Formel.
Letztere hatte einen stärker objektiven Impetus und ließ die Unterstellung
von guten Absichten zu. Trotz guter Absichten konnte man durch objektive
Konstellationen zum Verhängnis werden.
Was bei Becher weiterhin auffällt, ist, dass er der sogenannten Klassen-
frage nicht so einen großen Raum beimaß wie dies bei Engels und Smirin
der Fall gewesen ist. Er machte Begriffe stark, wie die "deutsche Zentral-
gewalt", die "einheitliche deutsche Nation" und die "Reichseinheit", deren
Defizite er als Eckpunkte der "deutschen Tragödie" betrachtete.

375 ebenda: 377/378.

203
4. Das offIZielle Bild von Bauernkrieg und Reformation von
1949 bis in die 60er Jahre

Die Misereformel erschien den aus dem Moskauer Exil kommenden stalinis-
tischen Kommunisten und später der SED-Elite bald nicht mehr ausreichend
zur mythischen Determinierung ihres Führungsanspruches und wurde für
das von ihnen installierte autoritäre und totalitäre politische Regime als
Bedrohung betrachtet. Abuschs Transformation von der Verhängnis- in die
Versäumnisformel bot dafür einen günstigen Anknüpfungspunkt. Bauern-
krieg und Reformation mussten klassenmäßig eingeordnet werden. Bei Al-
bert Norden war in seinem Buch "Um die Nation" nicht mehr vom deut-
schen Verhängnis, der deutschen Misere oder Tragödie, so wie noch bei
Alexander Abusch, Thomas Mann oder Johannes R. Becher, die Rede. Diese
Formulierung tauchte nun in Schriften über die deutsche Geschichte nicht
mehr auf. 376
Da die SED-Elite proklamierte, im Namen der unterdrückten und aus-
gebeuteten Klassen zu agieren und deren Interessen zu vertreten, war Münt-
zer derjenige, der geehrt wurde, der Bauernkrieg die Revolution, Luther, der
zur herrschenden Klasse gehörte und die Reformation die Konterrevolution.
So heißt es in der Entschließung der 7. Tagung des ZK der SED im Oktober
1951 über die "wichtigsten ideologischen Aufgaben der Partei":

"Das ZK hält es rur notwendig, die Gedenkstätten, die mit dem Leben und der Tätigkeit von
Marx, Engels, Lenin und Stalin verbunden sind, würdig zu gestalten. Dies betrifft auch alle
Stätten, die an Deutsche erinnern, die eine fortschrittliche Rolle in der Geschichte des deut-
schen Volkes gespielt haben.,,377

Nun erscheinen eine Reihe von Namen in Klammer, wobei Müntzer an


erster Stelle auftaucht, Luther aber nicht erscheint. 378

376 Norden, Albert: Um die Nation. Beiträge zu Deutschlands Lebensfrage. Berlin: Dietz 1952.
377 7. Tagung des Zentralkomitees der SED: Über die ideologischen Aufgaben der Partei. Berlin
1951.
378 ebenda.

204
Bildnis von Thomas Müntzer von Paul Riede im Dresdner Anneemuseum

Die DDR stellte sich die Aufgabe, Thomas Müntzer gegen alle Angriffe
in der Geschichte zu verteidigen und ihm gegen alle Verleumdungen wieder
zu seiner historischen Bedeutung zu verhelfen, die sogenannte Müntzer-
Legende, deren Ursprung von Luther selbst ausging, zu zerstören. In den
ersten Jahren der DDR glaubte man sich in das 16. Jahrhundert zurückver-
setzt, es wurden intensive Debatten zur Widerlegung der Lutherischen
Schriften geführt, als ginge es um das eigene Leben. 379 Was hier ganz deut-
lich wird, ist die von Blumenberg als bedeutungsstiftend bezeichnete "laten-
te Identität" und "Kreisschlüssigkeit". 380

379 ebenda.
380 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. a.a.O.: Abschnitt 2, Geschichtswerdung der
Geschichten.

205
Die Revolution hatte im Bauernkrieg begonnen und endete erst in der
DDR. Müntzer war den politischen Angriffen Luthers ausgesetzt wie jetzt
die DDR denen der zur Refaschisierung neigenden Bundesrepublik, in der
die Nachkommen der Fürsten und reichen Patrizier an der Macht waren,
denen die Volksherrschaft in der DDR ein Dorn im Auge war. Die DDR
verkörperte die Revolution, die BRD die Konterrevolution.

4.1 Die nationale Zielstellung des Mythos von Bauernkrieg und


Reformation in den 50er und 60er Jahren

Neben der klassenmäßigen Einordnung erlangte die Verknüpfung des Bau-


ernkrieges mit der nationalen Einheit in den 50er Jahren mehr Bedeutung,
die sich durch die Vereinigung der unteren Schichten auf sozialistischer
Grundlage vollziehen sollte. Dass der Bauernkrieg scheiterte und dass es im
16. Jahrhundert nicht zu einer gerechten Volksherrschaft gekommen ist,
wurde in erster Linie auf die Uneinigkeit unter den Bauern und den Verrat
durch Martin Luther zurückgeführt. Erst später kam die Formel vom "ver-
frühten Kampf' hinzu. Durch diesen Bezug wurde die Implikation vom
Verrat der Bonner Regierung geschaffen, die als Regierung der Herrschen-
den, ebenso wie Luther, die unteren Schichten im Stich ließ und für den
Preis der Spaltung Deutschlands die Herrschaft der Oberen erhielt. Die
Führung der DDR hingegen erschien im Müntzerischen Gewand und war
bereit, das deutsche Volk zusammenzuführen und einen Volksstaat zu er-
richten. Nationale und soziale Schwerpunktsetzung waren so eng ineinander
verschränkt. So war der Müntzer- und Bauernkriegskult eng mit der Ab-
grenzung von der Bundesrepublik verbunden bei gleichzeitigem Streben
nach deutscher Einheit auf sozialistischer Grundlage.
Jetzt ging es nicht mehr, wie in der Verhängnisformel, in erster Linie
um das Auffinden des Ausgangspunktes des verhängnisvollsten Ereignisses
der deutschen Geschichte, den zweiten Weltkrieg und die "faschistische
Barbarei", sondern um Vorbilder für eine auf sozialer Gleichheit beruhende
deutsche Einheit, um ein einheitliches Deutschland, in dem das Volk herr-
schen sollte. Dieses Vorbild wurde bei Thomas Müntzer und in den Zielen
des Bauernkrieges gefunden, was mehr an Johannes R. Becher als an Tho-
mas Mann anschloss, da der nationale Aspekt weitgehende Priorität erlang-
te. Es ist nicht verwunderlich, dass Albert Norden, der einer der wichtigsten
Wortführer der harten Auseinandersetzungen zwischen der DDR und der
Bundesrepublik in den Zeiten des Kalten Krieges und einer der wichtigsten

206
Vermittler des Mythos von Bauernkrieg und Reformation war, mit Luther
die Vorstellung von einem einheitlichen Deutschland auf sozialistischer
Grundlage verband. 381 In dem Buch "Um die Nation" betonte Norden:

"Ja, man kann nicht genug unterstreichen, dass mit der Bauemkatastrophe gleichzeitig die
Hoffuungen auf die deutsche Einheit rur Jahrhunderte untergraben waren, dass nunmehr die
Fürsten noch hemmungsloser als bisher den ritterlichen und bäuerlichen Besitz einsackten,
die große Reformationsbewegung zu eigener Bereicherung durch die Beschlagnahmung
vieler geistlicher Besitztümer degradierten und die zentrale Reichsgewalt zu vollständiger
Ohnmacht verurteilten.,,382

4.2 Die mythische Begründung der Bodenreform und der


Kollektivierung des Bodens durch den Bezug auf den Bauernkrieg

Eine weitere Implikation fiir die Mythisierung des Bauernkriegs von ausge-
sprochener Wichtigkeit war die Bodenreform. Bauernkrieg und Reformation
lieferten entscheidende Argumente für die Einbeziehung der Bauern in den
sozialistischen Umwälzungsprozess als sogenannte natürliche Verbündete
der Arbeiterklasse. Die Bodenreform 1948 in der SBZ und die Kollektivie-
rung der Landwirtschaft 1960/61 in der DDR wurden mit den Ereignissen
des 16. Jahrhunderts ideell begründet. Ihre Rückführung auf die nicht erfüll-
ten Ziele der Bauern der damaligen Zeit sollte bei den Bauern der DDR
kognitive und sensitive Zustimmung für die sozialistischen Veränderungen
in der Landwirtschaft hervorrufen. Die Narration beinhaltete folgende The-
sen: Da der Bauernkrieg niedergeschlagen wurde, fielen die Bauern in den
nachfolgenden Zeiten wieder in die Position armer, bedauernswerter Opfer,
in die Pose des "bloßen Objekts,,383 zurück, die sie erst in der DDR abwerfen

381 Albert Norden war einer der wichtigsten Propagandisten gegen die Bundesrepublik Deutsch-
land. Er war bekannt rur seine Reden und Aufsätze, die den Kalten Krieg und das Phänomen
der ehemaligen Nazis, die in der Bundesrepublik wieder hohe politische Positionen erlangten,
zum Thema hatten.
382 Norden, Albert: Um die Nation. Beiträge zu Deutschlands Lebensfrage. Berlin: Dietz 1952:
16.
383 Dieser Begriff erscheint an folgender Stelle: "Die Bauern blieben, soweit sie sich nicht indivi-
duell zu Grossbauern und Gutsbesitzern entwickelten, in ihrer klein- und mittelbäuerlichen
Masse jahrhundertelang bIosses Objekt der Politik. Unter dem rurstlichen Absolutismus so-
wohl wie im beginnenden Verfassungsleben des 19. Jahrhunderts spielen sie keine Rolle. Die
preussischen Reformer Stein und Hardenberg versuchten das zu ändern, scheiterten aber, da sie
ihre Versuche von oben und ohne die Bauern selbst unternahmen. Unter den achthundert Ab-
geordneten der Frankfurter Paulskirche sass nicht ein einziger Bauer. Als um die Jahrhundert-
wende sich landwirtschaftliche Organisationen bildeten, hatten nicht Bauern, sondern Grossag-
rarier die Führung. In den Parlamenten der Länder wie im Reichstag selbst spielten sich Junker
als Bauernvertreter auf. Die einst revolutionären Bauern schienen zu einer Kraft der Behar-

207
konnten. Erst nach der Vertreibung der Großgrundbesitzer und der Auftei-
lung des Bodens konnten die Bauern ihre wahre Freiheit erlangen und das
jahrhundertealte Joch der Ausbeutung und Unterdrückung loswerden. In der
ganzen deutschen Geschichte nach dem Bauernkrieg schienen nach Karl
Kleinschmidt "die einst revolutionären Bauern ... zu einer Kraft der Behar-
rung geworden zu sein. ,,384
Da die Bodenreform und in noch größerem Masse die Kollektivierung
in der Landwirtschaft 1961 erhebliche Widerstände zu überwinden hatte,
sollte die Rückführung dieser Ereignisse auf uralte Ziele der Bauern, auf die
Urväter, die ihr Leben im großen Bauernkrieg gelassen hatten, Kontinuität
und verpflichtende Nachfolge implizieren. Der erste und zugleich letzte
Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, hob in seiner programmatischen Rede
zur Bodenreform am 02.09.1945 in Kyritz den Zusammenhang zwischen
Bodenreform und Bauernkrieg explizit hervor, indem er die Kampfaktionen
1525 und Thomas Müntzer an den Beginn der "Kampftradition" der DDR
stellte. 385
Sich auf die Bodenreform von 1945 beziehend, schrieb Alexander A-
busch in einer Propagandabroschüre, dass

"auf dem Gebiet der DDR das verwirklicht (wurde), wovon seit Jahrhunderten die werktäti-
gen Bauern träumten: Die entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes, der erst
durch Raub von Bauernland entstanden war, und die Übergabe des Landes an die werktäti-
gen Bauern und Landarbeiter.,,386

Er erwähnte noch, dass dies in der BRD noch ausstehe. Die spätere "so-
zialistische Umgestaltung auf dem Lande vollendete die Bauernbefreiung in
der DDR. ,,387
Auch in der Konzeption des Ministerrates der DDR zur Vorbereitung
des 450. Jahrestages des Bauernkrieges 1975 wurde zwischen der Bodenre-
form und dem Bauernkrieg eine enge Verbindung, eine Art historischer
Kurzschluss gezogen:

rung geworden zu sein." In: Kleinschmidt, Karl: Thomas Müntzer. Die Seele des deutschen
Bauernkrieges. Berlin: Kongress Verlag 1952: 130.
384 ebenda.
385 Pieck, WilheIm: Die demokratische Bodenreform. Kyritz am 02.09.1945.
386 Abusch, Alexander: Wir Enkel fechten's besser aus. Dokumente, Lyrik und Prosa zur revolu-
tionären Tradition des deutschen Bauernkrieges. Berlin und Weimar 1975.
387 ebenda.

208
"Zwischen dem 450. Jahrestag des Bauernkrieges, dem 30. Jahrestag der Befreiung vom
Hitlerfaschismus und dem 30. Jahrestag der demokratischen Bodenreform ... besteht ein
tiefer innerer Zusammenhang.,,388

Die zahlreichen Namensverleihungen von Führern des Bauernkrieges


und der Refonnation an LPGs wurden als Ehrenbezeigung und Auszeich-
nung für Produktionserfolge und politische Legitimität gehandhabt.
Eine wichtige Implikation des Bauernkriegsmythos bestand weiterhin in
der Bündnisfrage. Der Mythos erzählte, dass die "Befreiung" der Bauern aus
ihrem sozialen Joch nicht in erster Linie durch sich selbst erfolgte, sondern
durch ihre "natürlichen Verbündeten", die Arbeiterklasse, die immer auch
im Interesse der Bauern handelte. Diese Auffassung ging auf die Bündnis-
orientierung der KPD zurück, was aus der Thälmann-Rede von 1931 zur
Verkündung des Bauemhilfsprogramm, sehr deutlich wird:

"Die Volksrevolution unter Führung der Kommunistischen Partei wird auch den werktäti-
gen Bauern die Freiheit bringen. . . Die Agrarkrise in Deutschland stellt den deutschen
Kleinbauern vor die Alternative: Entweder mit den Kommunisten unter der Fahne eines
Freiheitsprogramms, für dessen Sieg auf dem Traktor - oder mit den Bürgerlichen und
Faschisten, dann kommst du unter den Traktor und wirst zerstampft.,,389

Bürgerliche und Faschisten wurden als gemeinsame Feinde der Bauern


betrachtet, die diese, falls sie sich nicht den Kommunisten anvertrauen, ins
Elend stürzen.
Der von Thälmann initiierten Verbindung zwischen bäuerlicher Befrei-
ung und proletarischer Führerschaft folgten in der DDR die die mythische
Vermittlung tragenden Historiker, Publizisten und Politiker. Albert Norden
führte in seinem Buch "Um die Nation" von 1952 dazu aus:

"Die Geschichte hat gelehrt, dass nur unter Führung des Proletariats die Bauernrevolution
siegen kann; aber solch ein seiner Mission bewusstes Proletariat existierte damals erst im
Keime, und die Bauern, in ihrer gesamten Heeresmasse zwar dem fürstlichen Aufgebot weit
überlegen, kämpften in provinzieller Abgeschlossenheit, ließen sich von jedem fürstlichen
Versprechen zum Waffenniederlegen und Auseinanderlaufen verleiten, so dass die Lands-
knechtsheere ein verhältnismäßig leichtes Spiel hatten. Wie entsetzlich blutig mit den Bau-
ern abgerechnet wurde, ist bekannt.,,39o

388 Konzeption zur Vorbereitung des 450. Jahrestag des deutschen Bauemkrieges. In: Komitee
beim Ministerrat der DDR zur Vorbereitung des 450. Jahrestages des deutschen Bauernkrie-
ges: Der deutsche Bauemkrieg. Zum 450. Jahrestag. Berlin: Staatsverlag 1974: 12.
389 Thälmann, Ernst: Rede zur Verkündung des Bauernhilfsprogramms der KPD, Oldenburg,
16.05.1931.
390 Norden, Albert: Um die Nation. Beiträge zu Deutschlands Lebensfrage. Berlin: Dietz 1952:
15/16.

209
Albert Norden bescheinigte den Bauern, dass sie im 16. Jahrhundert un-
fähig gewesen wären, militärische und politische Operationen selbständig
durchzuführen, denn sie ließen sich verfUhren. Durch die apodiktische Be-
hauptung, dass die Bauernrevolution nur unter der Führung des Proletariats
siegen kann, das zum damaligen Zeitpunkt nur in Ansätzen existierte, später
aber fiir die Bauern da war, generalisiert die Annahme, dass die Bauern
eines Protektors bedürfen, der altruistisch genug ist, ihre Unfähigkeit durch
die eigenen Kräfte zu ersetzen. Hier kam besonders das die SED legitimie-
rende Element zum Tragen. In ähnlicher Weise suggerierte Alexander A-
busch:

"Der Bauernkrieg ... lehrte uns, dass die Interessen der werktätigen Bauern nur im Bündnis
mit der Arbeiterklasse und unter Führung ihrer revolutionären Partei verwirklicht werden
könne.,,39J

Das Zusammenbinden zwischen Bauemkrieg und der führenden Rolle


der Arbeiterklasse wurde auch zum 450. Jahrestag des deutschen Bauern-
krieges durch die Partei- und Staatsfiihrung 1975 wieder aufgenommen:

"Der bäuerliche Klassenkampf bedarf einer Führung durch die jeweils historisch fortschritt-
lichste Klasse, wenn er siegreich sein soll.,,392

Es wurde konstatiert, dass die Handels- und Manufakturbourgeoisie des


16. Jahrhunderts, wie auch Albert Norden interpretierte, fiir diese Führungs-
rolle unfähig gewesen wäre, da sie die Bauern im Stich gelassen und sich
auf die Seite der "Feudalgewalten" geschlagen hatte. Dies war nach der
Interpretationslogik der Partei- und Staatsftihrung der Ausgangspunkt ftir
"die verhängnisvolle Rolle der Bourgeoisie in der deutschen Geschichte."
Über die Bündnisformel zwischen Arbeitern und Bauern tauchte die Ver-
hängnisthese der deutschen Geschichte, wie sie Thomas Mann und Johannes
R. Becher verwendeten, über die Hintertür und in abgewandelter Form wie-
der auf. Die Abwandlung bezog sich vor allem auf die Bourgeoisie als der
einzig Schuldigen am deutschen Verhängnis. Auf dieser Grundlage wurde
geschlussfolgert:

"Erst in der Arbeiterklasse fanden die Bauern und alle anderen Werktätigen, wie erstmals
der Sieg der Grossen Sozialistischen Oktoberrevolution bewies, den zuverlässigen Bündnis-
partner und Führer im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung.,,393

391 Abusch, A1exander: Wir Enkel fechten's besser aus ... a.a.O.
392 Komitee beim Ministerrat der DDR: Der deutsche Bauernkrieg. Zum 450. Jahrestag. (Materi-
al zur Vorbereitung). Berlin: Staatsverlag 1974: 14.
393 ebenda.

210
Es ist offensichtlich, dass der Bauernschaft nur eine mehr oder weniger
passive Rolle als einem zu protegierenden Teil der Gesellschaft zugemessen
wurde, womit ihr ein Eigengewicht, auch wenn es nur ein relatives gewesen
wäre, abgesprochen wurde.
Aber nicht nur benötigten die Bauern die Arbeiterklasse, um siegreich
zu sein, sondern auch brauchte umgekehrt die Arbeiterklasse die Bauern,
um ihre führende Rolle ausüben zu können. Erlch Honecker unterstrich auf
dem XI. Bauernkongress 1972:

"Von Anfang an hat unsere Sozialistische Einheitspartei Deutschlands die Leninsche Er-
kenntnis befolgt, dass die Arbeiterklasse das historische Werk der Errichtung des Sozialis-
mus vollbringt, indem sie mit den anderen werktätigen Klassen und Schichten zusammen-
geht... Unser Parteitag hob den geachteten Platz hervor, den die Klasse der Genossen-
schaftsbauern in der sozialistischen Gesellschaft einnimmt. Unter Führung der Arbeiterklas-
se und fest verbunden mit ihr nehmen unsere Genossenschaftsbäuerinnen und -bauern aktiv
an der Leitung des Staates, der Volkswirtschaft und der Entwicklung in allen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens teil.,,394

Trotz der Omnipotenz der SED bezüglich ihres Führungsanspruches


wurde den Bauern unter Honecker, der diese sogar in die Leitung des Staates
einbinden wollte, eine eindeutig aktivere Rolle zugedacht als in den vorher-
gehenden Jahren.
Was aber trotz des ideellen Wechsels von einer passiven zu einer mehr
aktiven Rollenzuweisung für die Bauern erhalten blieb, war die Postulierung
der Notwendigkeit des Bündnisses mit der Arbeiterklasse. In diesem Zu-
sanunenhang diente der Bauernkrieg als warnendes Beispiel, sich anderen
Klassen als der Arbeiterklasse, wie etwa "der Bourgeoisie", anzuvertrauen,
wodurch die Exklusionsseiten des Mythos von Bauernkrieg und Reformation
benannt sind. Von der Handels- und Manufakturbourgeoisie des 16. Jahr-
hunderts führte nach der offiziellen mythischen Geschichte eine direkte
Linie zu den Kriegsverbrechern des zweiten Weltkrieges und schließlich zu
der Unternehmerschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Von damals bis
heute profitierten diese vom "Bauernopfer" , das erst im Sozialismus nicht
mehr gebracht zu werden brauchte, da die Arbeiterklasse den "Fluch des
geschundenen Bauern" gebrochen hätte.

394 Honecker, Erich: Rede auf dem XI. Bauernkongress am 08.06.1972. Berlin 1972.

211
4.3 Der Bauernkrieg als mythischer Bezug für die Nationale
Volksarmee der DDR (NVA)

Von gleichrangiger Bedeutung für politische Integration und Sinnstiftung


waren Bauernkrieg und Thomas Müntzer für die 1956 gegründete Nationale
Volksarmee (NYA), aber auch die Kampfgruppen der DDR und die Gesell-
schaft für Sport und Technik (GST). In der Konzeption des Ministerrates
der DDR zum 450. Jahrestages des Bauernkrieges 1975 stand:

"Die kämpfenden Bauern und ihre Bundesgenossen gaben zu Beginn des 16. Jahrhunderts
das begeisternde Beispiel des ersten revolutionären Volksheeres in der deutschen Geschieh-
t e. ,,395

Und weiter heißt es: "Der Kampfesmut der Revolutionäre und die mili-
tärischen Lehren des Bauernkrieges sind für die sozialistische Wehrerzie-
hung, insbesondere die Jugend, für die Nationale Volksarmee und die
Kampfgruppen der Arbeiterklasse Ansporn und Mahnung zugleich ... ,,396
Die Niederlage des Bauernkrieges zwang die Implikation auf, dass für
die Fortführung und Sicherung einer Revolution, die ihre Heimat in der
DDR gefunden hatte, eine dem Feind ebenbürtige Kampftruppe notwendig
war. Bauernkrieg und Reformation waren besonders geeignet, eine Begrün-
dung für die machtpolitische Sicherung der DDR im Sinne der realistischen
Schule in der Politikwissenschaft zu liefern. Wenn eine Revolution stattfin-
det, so war der Slogan der Machthaber der DDR, so hat sie Todfeinde, ge-
gen die sie sich verteidigen muss. Da sich die DDR als revolutionär betrach-
tete, so wie die aufständigen Bauern damals revolutionär waren, musste sie
sich ebenso wie diese gegen die Vertreter der Reaktion verteidigen. Der
Bauemkrieg und die Volksreformation des Thomas Müntzer hatten gezeigt,
wenn man wirkliche Veränderungen will, wird einem nichts geschenkt.
Alles muss hart erkämpft werden. So setzte Friedrich Wolf in seinem Thea-
terstück über Thomas Müntzer auch dessen Zitat voran:

"Die ganze Gemeinde muss die Gewalt des Schwertes haben.,,397

395 Konzeption zur Vorbereitung des 450. Jahrestages des deutschen Bauemkrieges. In: Komitee
beim Ministerrat der DDR zur Vorbereitung des 450. Jahrestages des deutschen Bauemkrie-
ges: Der deutsche Bauemkrieg. Zum 450. Jahrestag. Berlin: Staatsverlag 1974: 23.
396 ebenda.
397 Friedrich Wolf: Thomas Münzer. Der Mann mit der Regenbogenfahne. Berlin: Aufbau Verlag
1953: 11.

212
Eine der großen Lehren, die aus dem Bauemkrieg gezogen wurden, war,
dass die Bauern militärisch zu schlecht gerüstet waren und der Frage der
militärischen Verteidigung zu geringe Aufmerksamkeit beigemessen hatten.
In den Schulbüchern der 50er und 60er Jahre wurde diese Lehre als Haupt-
ursache für das Scheitern des Bauernkrieges und der verlorenen Schlacht in
Frankenhausen angesehen.
In der Einleitung zum Bauemkriegs-Hörspiel "Im Zeichen des roten H"
wird genau dieses Argument aufgenommen:

"Tapfer, doch schlecht bewaffnet und ohne einheitlichen Plan und ohne straffe zentrale
Leitung kämpften die Bauern rur ihre gerechte Sache.,,398

Ein anderes Beispiel fiir diese Interpretation war die Aussage in der
Konzeption zum 450. Jahrestag des Bauemkrieges, in der dargelegt wurde:

"Durch regionale Zersplitterung und mangelnde militärische und taktische Erfahrung erla-
gen sie (die Bauern) schließlich den vereinigten Landsknechtsheeren der Fürsten.,,399

Wer nun die richtige Lehre aus der Geschichte zöge, müsste unweiger-
lich zu dem Schluss kommen, dass die DDR sich verteidigen muss, dass sie
eine Annee braucht und auch Verbündete. Bauernkrieg und Volksreformati-
on lieferten zentrale Argumentationspunkte zur Begründung der Schaffung
der Nationalen Volksarmee und ihrer Verankerung im Warschauer Vertrag.
So wurde im Zusammenhang mit dem 450. Jahrestag des Bauemkrieges
hervorgehoben, dass es notwendig ist,

"die Verteidigungskraft ständig zu stärken, wachsam alle Anschläge des Imperialismus zu


vereiteln und die Waffenbrüderschaft mit den befreundeten Armeen der sozialistischen
Militärkoalition, vor allem mit der Sowjetarmee, zu vertiefen.,,4oo

Die beginnende Blockkonfrontation und die Anfange des kalten Krieges


banden in der DDR diese beiden historischen Ereignisse als Begründung
eines entsprechenden Feindbildes bei gleichzeitiger Verfolgung des Zieles
der deutschen Einheit mit ein. Hier zeigt sich die Ambivalenz der 50er und
60er Jahre sehr deutlich. Einerseits sollten Bauernkrieg und Reformation die
Botschaft der deutschen Einheit verkünden, doch andrerseits warnten sie vor
den Feinden der Revolution, die vor allem als unmittelbare Bedrohung aus
Westdeutschland gesehen wurden.

398 Wettstädt, Günter: Im Zeichen... a.a.O.


399 Konzeption zur Vorbereitung des 450. Jahrestages des deutschen Bauemkrieges. In: Komitee
beim Ministerrat der DDR... a.a.O.: 23.
400 ebenda.

213
• • • rI

Zirurliguren-Diorama zum "Großen Bauemkrieg" im Anneemuseum Dresden.

So verpflichtete der Kampf und der Tod der Urväter für Gerechtigkeit
und soziale Gleichheit die Soldaten der NYA, die revolutionäre Heimat zu
verteidigen.

"Die revolutionären Bauern und ihre Bundesgenossen - schrieb Abusch- gaben zu Beginn
des 16. Jahrhunderts das begeisternde Beispiel des ersten revolutionären Volksheeres der
deutschen Geschichte.,,401

Sie sollten für die bewaffneten Organe "Ansporn und Mahnung" sein.
Der Bauernkrieg wurde somit in die Systemauseinandersetzung und den
Kalten Krieg eingearbeitet. Es existierten eine relativ große Anzahl von
Kasernen, die den Namen Thomas Müntzer trugen. In den Armeemuseen in
Dresden und Potsdam begannen die Traditionsschauen der NYA immer mit
einer Abteilung über den Bauernkrieg, Dokumentationen seines Verlaufs,
Karten und Bildern der Bauemfiihrer, Kampfpanoramen und der Ausstel-
lung von Waffen. Im Dresdner Armeemuseum wurde auch der umfangrei-
che Bauernkriegszyklus von Lea Grundig gezeigt.

401 Abusch, Alexander: Wir Enkel fechten's besser aus. Dokumente, Lyrik und Prosa zur revolu-
tionären Tradition des deutschen Bauemkrieges. Berlin und Weimar 1975.

214
4.4 Die künstlerische Rezeption von Bauernkrieg und Reformation

Dass die mythische Narration vom Bauernkrieg und der Volksreformation


des Thomas Müntzer zu einem politischen Mythos werden konnte, zeigte
u.a. die relativ breite kulturelle Rezeption des Themas, die anders als beim
Antifa-Mythos nur selten durch Aufträge ausgelöst wurde. Künstler und
Intellektuelle, aber auch große Teile der Bevölkerung verbanden mit Bau-
ernkrieg und Thomas Müntzer die politischen Vorstellungen von einer ech-
ten Volksherrschaft und demokratischen Freiheiten, eben die Herrschaft des
"kleinen Mannes". Außerdem schienen diese Themen Eckpunkte eines
neuen Nationalbewusstseins zu bieten. Aus dieser Motivation ist die intensi-
ve Beschäftigung der Künstler aller Genres mit diesem Thema zu verstehen.
Fast alle Maler und Graphiker malten Bilder zu diesem Thema, am bekann-
testen wurde der 1955/56 von Lea Grundig geschaffene Bauernkriegszyklus,
aber auch die Monumentalgemälde von Max Lingner und Magnus Zeller
zum Bauernkrieg. Mehrere Kunstausstellungen wurden nur dem Thema
Bauernkrieg gewidmet.
Es erschienen zahlreiche Romane und auch eine ganze Reihe von Ju-
gend- und Kinderbüchern zum Bauernkrieg. Aus der großen Reihe dieser
Bücher sind das Buch von Rosemarie Schuder "Meine Sichel ist scharf' und
die Luthertrilogie "Die Rebellen von Wiuenberg. Ein Lutherroman" von
Hans Lorbeer von 1959 mit den Titeln "Das Fegefeuer", "Der Widerruf'
und "Die Obrigkeit" hervorzuheben. 402 Hans Lorbeer folgte hier noch über-
wiegend dem Lutherbild vom Fürstenknecht und Bauernverräter. Dies tat
ebenfalls Friedrich Wolf in seinem 1953 geschriebenen Theaterstück "Tho-
mas Müntzer, der Mann mit der Regenbogenfahne", nach dessen Vorgaben
der Müntzerfilm gedreht wurde.
Wolfs Stück in elf Bildern und einigen Zwischenbildern ist ein äußerst
anspruchsvolles Stück, das die intensive Beschäftigung des Autors mit dem
Bauernkrieg und dem theologischen Konzept Müntzers zum Ausdruck
bringt. Allerdings wird dies auch beim Zuschauer vorausgesetzt, was die
Rezeption sehr erschwert haben dürfte. Dem Stück werden als Prolog drei
Müntzer-Zitate vorangestellt, die Auskunft über das Anliegen geben. In
Anbetracht des gerade zusammengebrochenen Nationalsozialismus, dessen
Ursachen von vielen Intellektuellen vor allem auf die Verfiihrung der

402 Lorbeer, Hans: Die Rebellen von Wittenberg. Ein Luther-Roman. Halle: Mitteldeutscher
Verlag 1964-1965, 9. Auflage. Band 1: Das Fegefeuer (1965). Band 2: Der Widerruf(1965).
Band 3: Die Obrigkeit (1964). 1. Auflage 1959.

215
Volksmassen durch die faschistische Demagogie, die nicht kognitiv über-
prüft wurde, zurückgefiihrt wurde, ging es Friedrich Wolf um das Wissen
um die wahren Zusammenhänge, so wie er Müntzer aus der Fürstenpredigt
zitierte: "Wir müssen wissen und nit in den Wind glauben." In diesem Sinne
verwandte er auch das nächste Zitat aus der" Ausgedrückten Entblößung des
falschen Glaubens" von 1524:

"Deshalb musst Du, gemeiner Mann, selber gelehret werden, auf dass du nit länger verftlh-
ret werdest. ,,403

Es wird ersichtlich, dass Friedrich Wolf, wie so viele andere aus dem
Exil in die DDR gegangene Künstler, von diesem Land den Anbruch einer
Zeit der Aufklärung und echten Volksherrschaft erwartete. Das dritte Zitat
aus der "Hochverursachten Schutzrede" : "Die ganze Gemeinde muss die
Gewalt des Schwertes haben", lässt die Überzeugung von der Notwendigkeit
der gewaltsamen Verteidigung der Volksherrschaft durchblicken. 404
In dem Theaterstück stehen sich Lager gegenüber: das plebejisch-
bäuerliche Lager mit Thomas Müntzer und Heinrich Pfeifer an der Spitze
und das fürstliche Lager: Herzog Johann von Sachsen und Kurprinz Johann
Friedrich. Es fällt auf, dass die kirchliche Obrigkeit und Luther nicht unmit-
telbar in Erscheinung traten. Sie stellten nur unsichtbare Gegner dar. Die
Handlung beginnt also auch nicht mit dem Thesenanschlag 1517, sondern
mit dem Beginn des Aufruhrs 1523. Die Hauptauseinandersetzung ist dem-
zufolge eine soziale, auch wenn die theologische ständig zugegen ist.
Durch das ganze Stück zog sich trotz der Abwesenheit Luthers die Geg-
nerschaft zu diesem Mann. Obwohl Luther zugestanden wurde, mit seiner
Bibelübersetzung ein großes Werk zur Aufklärung des Volkes geleistet zu
haben, dominierte die Verratsformel. So sagte ein befreundeter Pfarrer im
Disput mit Müntzer:

"Und doch hat der Wittenberger Doktor dem gemeinen Manne die Bibel in deutschen Wor-
ten geschenkt." Müntzer nun: "Und hat sogleich sein Geschenk zunichte gemacht, da er den
gemeinen Mann in Fürstenhudelei an die Obrigkeit verriet."

Und Luther wurde nun fortan von Müntzer mit saftigen Beschimpfun-
gen tituliert, die beim Zuschauer eine tiefe Abneigung gegen ihn erzeugen
sollten. Zum Beispiel sagte Müntzer: "Und ich sag, in einen eselsforzigen

403 Wolf; Friedrich: Thomas Münzer. Der Mann mit der Regenbogenfalme. Ein Schauspiel. In:
Zwei Dramen aus dem Bauemkrieg. Der arme Konrad. Thomas Münzer. Berlin: Aufbau-
Verlag 1959.
404 ebenda.

216
Wittenberger Professor gehört Rossmist aus dem Grafen- und FÜfstenstall."
Luther tauchte im Stück nie mit seinem Namen auf, sondern als "falscher
Schmeichler", als "Wittenberger Papst", "martinischer FÜfstendreck", "ese-
lisches Fleisch", "Bruder Leisetritt" , "Lutherischer Kolkrabe", "fiirstlicher
Madensack" oder "Bluthund".405 Wo Wolf Luther einzig zu Wort kommen
ließ, waren die durch den Studenten Stübner deklamierten Zitate aus der
Mühlhausener Flugschrift "Wider die räuberischen und kämpferischen Rot-
ten der Bauern", in denen Luther dazu aufrief:

"Darum muss sie zerschmettern, würgen und stechen, wer da kann." und "Drum schlagt ihn
nieder, den Bauern, wie man einen tollen Hund niederschlägt...,,406

5. Arbeit am Mythos in den 60er Jahren

In den 60er Jahren schwächte sich die scharfe Entgegensetzung zwischen


Müntzer und Luther etwas ab. Denn mit der Verdammung von Luther konn-
te man schlecht eine Gemeinschaft bilden, bestehend aus allen Teilen der
Bevölkerung, also auch aus den in der DDR lebenden Christen. Im Zusam-
menhang mit der immer mehr Gestalt annehmenden deutschen Teilung und
dem Mauerbau 1961, wurde die Hoffnung auf ein einiges Deutschland auf
sozialistischer Grundlage nicht aufgegeben, doch rückte sie weiter weg, und
die Gemeinschaftsbildung bekam eine andere Richtung. Walter Ulbricht
proklamierte den Sozialismus als "relativ selbständige Gesellschaftsformati-
on" und die "sozialistische Menschengemeinschaft".407
Nicht mehr nur das Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern war nun
wichtig, sondern auch das mit den Christen und der Kirche. Luther wurde
teilrehabilitiert. Seine erste Schaffensphase erfuhr eine Aufwertung, was in
der Sprache und Paradigmenwelt der DDR-Elite darin seinen höchsten Aus-
druck fand, dass seine halbe Person in den heiligen Tempel der Revolution
aufgenommen wurde, auch wenn der Bauernkrieg die eigentliche Grossakti-
on blieb und "Thomas Müntzer die alles überstrahlende Figur" darstellte,
wie dies Gerhard Brendler ausdrückte. 408 Auf der Tagung der Deutschen
Historikergesellschaft der DDR 1960 in Wernigerode datierte Max Stein-

405 ebenda.
406 ebenda.
407 Vgl. Brendler, Gerhard: Luther im Traditionskonflikt der DDR. In: Dähn, Horst ...a.a.O.
408 ebenda.

217
metz in dem Thesenpapier die fiiihbürgerliche Revolution von 1476-1535,
was hieß, dass alle Aufstände vor der Reformation einbezogen wurden, aber
auch die gesamte Reformation Luthers. Die Begehung des Jubiläums des
450. Jahrestages der Reformation zeigte es ganz deutlich, Luther wurde nun
eher im Sinne von Thomas Mann gesehen als in dem von Smirin. In der
offiziellen Festschrift, der Lutherkonferenz und den Propagandaschriften
wurde die Arbeit am Mythos deutlich. Das Lutherbuch von Gerhard Zschä-
bitz trug den Titel: "Martin Luther. Größe und Grenze.,,409

5.1 Die jrühbürgerliche Revolution als Ursprung für die


"revolutionäre" DDR

Der Terminus der "fiiihbürgerlichen Revolution" entwickelte sich von nun


an in der DDR zum definitiven Begriff für Bauernkrieg und Reformation
und bildete eine eigene mythische Prägnanz aus, die auch eine Art neue
Narrationseinheit darstellte. Neu war der Begriff in den 60er Jahren nicht,
denn schon ab 1952 benutzte Alfred Meusel ihn in seinen Schriften. 410 Je-
doch war der Begriff noch nicht allgemein offiziell anerkannt, und ging
noch nicht in die Lehrbücher und mythischen Narrationen über die politi-
sche Herkunft ein. Gewichtiges Hemmnis dabei war die Intervention so\\je-
tischer Historiker, die den bürgerlichen Charakter der Ereignisse des 16.
Jahrhunderts in Frage stellten. 411
Mit zunehmender Selbständigkeit in der gesellschaftswissenschaftlichen
Forschung und der Heranziehung eines eigenen Wissenschaftlerteams ent-
stand auch verstärkt eine eigene Wissenschaftsschule, die von der Sowjet-
union unabhängige Auffassungen durchsetzte. Hinzu kam, dass die Staats-
und Parteiführung einen neuen historiographischen Kurs fuhr, der nach
Siegfried Bräuer schon 1955 einsetzte. Er bezeichnete jenes Jahr sogar als

409 Zschäbitz, Gerhard: Martin Luther. Grösse und Grenze. Berlin 1967. Dazu auch: Brendler,
Gerhard: Luther im Traditionskonflikt der DDR. In: Däbn, Horst und Joachim Heise (Hrsg.):
Luther und die DDR. Berlin: edition ost 1996: 21-52.
410 Während der Lutherdiskussion im Museum für Deutsche Geschichte am 5.10.1952 äusserte
Meusel: "Die Reformation war die frühbürgerliche Revolution in Deutschland." Auch in sei-
nem Buch über Thomas Müntzer von 1952 bezeichnete er Bauernkrieg und Reformation als
zwei Etappen einer Bewegung, in der "das deutsche Volk seine frühbürgerliche Revolution er-
lebte". In: Bräuer, Siegfried: Martin Luther in marxistischer Sicht von 1945 bis zum Beginn
der achtziger Jahre. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1983.
411 Hierbei handelt es sich besonders um einen Artikel der sowjetischen Mediävistin O. G.
Tschaikowskaja: ''Über den Charakter des Bauemkrieges und der Reformation in Deutsch-
land" in der Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 10/1957: 720-738.

218
"Schlüsseljahr" in der DDR-Historiographie. 4J2 Die entscheidenden Hinter-
grundsdaten dafür waren sowohl der Eintritt der Bundesrepublik in die
NATO und der der DDR in den Warschauer Pakt. Von nun an wurde die
Nationalgeschichte viel stärker mit den internationalen Beziehungen und
dem Ost-West-Konflikt in Beziehung gesetzt. Die strategisch-politische
Auseinandersetzung zwischen den Blöcken spiegelte sich in dem Kampf um
die Symbole und so auch um historische Persönlichkeiten und Ereignisse der
deutschen Geschichte, weswegen Luther nun eine neue mythenpolitische
Dimension zukam. Das ZK fasste am 05.07. 1955 den Beschluss,

"im Kampf gegen die reaktionäre imperialistische GeschichtsflUschung ein neues Ge-
schichtsbild zu schaffen und damit den Werktätigen in ganz Deutschland zu helfen, die
Lehren der Vergangenheit zu b38reifen, die Gegenwart richtig zu verstehen und die Zukunft
aktiv und bewusst zu bauen,,41

Diese Aufgabenstellung wurde um das Jahr 1961 mit dem Bau der Mau-
er noch einmal forciert. Das hatte auf die Einordnung und Beurteilung von
Bauernkrieg und Reformation Auswirkungen, die den Wissenschaftlern
größere Freiheiten ließen, aber auch eine größere Instrumentalisierung bei-
der Ereignisse für den veränderten politischen Kurs bewirken sollte. So kam
es, dass das bis dahin weit verschenkte Identitätspotential der Reformation
und Luthers stärker ins Blickfeld rückte. In dieser Situation ergab es sich,
dass die Partei- und Staatsfiihrung erkannte, dass das Bedürfnis einiger
Historiker, die Reformation und Luther aufzuwerten, für die Schaffung von
Identität und Integrität unter den neuen Bedingungen von Nutzen sein konn-
te. Es wurde deutlich, wenn beide Bezugspunkte aus dem 16. Jahrhundert
nicht nur aufgewertet, sondern in die Revolutionsproblematik einbezogen
würden, wäre das eine sehr wirksame mythenpolitische Implikation.
Das Jahr 1960 wurde mit der Tagung der Deutschen Historikergesell-
schaft der DDR das Jahr, in dem der Begriff der "frühbürgerlichen Revolu-
tion" seinen Einzug in die Geschichtswissenschaft hielt und von den obers-
ten Parteiinstanzen abgesegnet wurde. Max Steinmetz, der zu dieser Zeit
einer der führenden Mediävisten der DDR war, legte ein Thesenpapier mit
24 Thesen zur frühbürgerlichen Revolution vor, die er von 1476-1535 da-
tierte, was hieß, dass alle Aufstände vor der Reformation, aber auch die
gesamte Reformation Luthers mit einbezogen wurden. Jetzt arbeitete man

412 Bräuer, Siegfried: Martin Luther in marxistischer Sicht von 1945 bis zum Beginn der achtzi-
ger Jahre. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1983: 12.
413 Zu fmden in: Die Verbesserung der Forschung und Lehre in der Gesellschaftswissenschaft der
DDR. In: zro 1955/3: 507-527.

219
eine regelrechte Konzeption der frühbürgerlichen Revolution aus. Den Er-
eignissen des 16. Jahrhunderts wurde ein "prozessualer gesetzmäßiger Ver-
lauf' zugeschrieben. 414 Der Prozess der frühbürgerlichen Revolution wurde
in drei Etappen eingeteilt:
- Eine "aufsteigende Linie der Klassenkämpfe"415 als Nachwirkung der
Hussitenbewegung. Höhepunkte dieser vorbereitenden Klassenkämpfe soll-
ten die Reformatio Sigismundi (l. Druck 1476), der Aufstand des Pfeifers
von Niklashausen (1476), die Bundschuhbewegung, der Arme Konrad, der
Aufstand der Dozsa in Ungarn und schließlich der Beginn der Lutherischen
Reformation sein.
- Reformation und Bauernkrieg waren Kernstück der frühbürgerliehen
Reformation, das vom Thesenanschlag in Wittenberg bis zur Niederlage der
Bauernheere 1525/26 reichte.
- Schließlich führte die "absteigende Linie der Klassenkämpfe,,416 zum
Untergang Zwinglis (1531), Gaismairs (1532), der Zerschlagung der revolu-
tionären Täuferbewegung und der Eroberung Münsters. 417
Steinmetz ging davon aus, dass die frühbürgerliche Revolution im Bau-
ernkrieg gipfelte als "erster Versuch der Volksmassen ... , von unten her
einen einheitlichen deutschen Staat zu schaffen".418 Er führte aus:

"Heute hat sich die Erkenntnis weithin durchgesetzt, dass es sich bei den Vorgängen von
Reformation und Bauernkrieg um eine frühe Form der bürgerlichen Revolution handelt, um
die erste große Entscheidungsschlacht des europäischen Bürgertums gegen den Feudalis-
mus, um den Beginn e~ner I~n~e~ Kette von ~assenkämpfen mi.t Nied,elltsen und Erfolgen,
als deren Höhepunkt die. sozlahstlsche RevolutIOn zu betrachten 1St, ... '

Mit dieser Aussage war die neue Definition für den Begriff der frühbür-
gerliehen Revolution gegeben worden, die nun nicht mehr nur den Bauern-
krieg und die "Volksreformation des Thomas Müntzer" (Smirin), sondern
auch die Reformation von Martin Luther mit einschloss. Die Unterschei-
dung in Volks- und Fürstenreformation tauchte fortan nicht mehr auf. Als

414 Vgl. In: Bräuer, Siegfried: Martin Luther in marxistischer Sicht von 1945 bis zum Beginn der
achtziger Jahre. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1983: 14.
415 ebenda.
416 ebenda: 15.
417 ebenda. Bräuer bezieht sich hier auf die Thesen von Max Steinmetz.
418 Steinmetz, Max: Über den Charakter der Reformation und des Bauemkrieges in Deutschland.
In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschafts- und
Sprachwissenschaftliche Reihe 1965/14: 3389-396.
419 Steinmetz, Max: Die nationale Bedeutung der Reformation. In: Stern, Leo und Max Steinmetz
(Hrsg.): 450 Jahre Reformation. a.a.O.: 49.

220
Gegenstück zur bisherigen Verhängnisfonnel wurde nun die Leistung der
deutschen Geschichte im europäischen Maßstab eher als innovativ für den
Fortschritt betrachtet als verhängnisvoll, wie dies Steinmetz begründete:

"Ungeachtet des leidvollen Verlaufs der frühbürgerlichen Revolution leistete das deutsche
Volk ftlr die Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus im europäischen Maßstab
einen bedeutsamen Beitrag, indem es diesen Prozess einleitete.,,420
Der Bauernkrieg stellte nach der wissenschaftlichen Definition sowohl
den Höhepunkt als auch das Ende der frühbürgerlichen Revolution dar, was
an und für sich eine Anäresis bedeutete. Außerdem wurden alle Refonnen
und Systemveränderungen danach ausgeklammert. 421 Wirkungsgeschicht-
lich unterschieden die Wissenschaftler zwischen kultur- und geistesge-
schichtlicher Seite einerseits und der politischen andrerseits. Der erstge-
nannten Seite wurde eine revolutionierende Wirkung zugesprochen, der
letzteren eine retardierende und deformierende. 422
Im Zusammenhang mit der Aufwertung der Reformation fand auch eine
weitaus positivere Sichtweise Luthers als bisher statt. Müntzer und Luther
bahnten nach Steinmetz den Weg "für das Nationwerden der Deutschen".423
Und Gerd Fesser schrieb:

"Größe und bleibende historische Bedeutung Martin Luthers sind ... nicht in seinem Leben
begründet, sondern in seinem Kampf gegen die römische Papstkirche sowie im positiven
Ertrag der von ihm ausgelösten Reformation.,,424
Die andere Seite Luthers als Parteigänger der Fürsten. bisher als sein
Hauptcharakteristikum herausgestellt, kam nach wie vor zur Geltung, auch
wenn sie durch die neue Wertschätzung relativiert wurde. So ist bei Gerhard
Brendler von einer "Preisgabe der Reformation als frühbürgerlicher Revolu-
tion" die Rede. 425

420 ebenda.
421 Brendler schrieb dazu: "Mit der Niederlage der Volksmassen im Bauemkrieg war die frühbür-
gerliche Revolution beendet. Zwar ging die reformatorische Bewegung anfangs noch weiter,
doch büsste sie immer mehr und mehr den Charakter einer revolutionären Massenbewegung
ein." In: Brendler, Gerhard: Die Reformation in Deutschland. Materialien zur Geschichte der
frühbürgerlichen Revolution: 41.
422 Stern, Leo: Der geistesgeschichtliche und politische Standort der Reformation in Vergangen-
heit und Gegenwart. Halle 1967: 7.
423 Steinmetz, Max: Die nationale Bedeutung der Revolution. In :Stern, Leo und Max Steinmetz:
450 Jahre Reformation. Berlin 1967: 57.
424 Fesser, Gerd: Luthers Stellung zur Obrigkeit, vornehmlich im Zeitraum von 1525 bis 1532.
In: Stern, Leo und Max Steinmetz (Hrsg.): 450 Jahre Reformation. a.a.O.: 146.
425 "Luther stellte sich gegen die Bauern auf die Seite der Fürsten, um sein Werk nicht in den

221
Als Ergebnis der Konzeption von der frühbürgerlichen Revolution kor-
rigierten die führenden Historiker der DDR die universalgeschichtliehe
Periodisierung, indem der Beginn der Neuzeit mit der Reformation zusam-
menfiel und nicht mehr dem Mittelalter zugerechnet wurde. Da die Neuzeit
im Kontext mit gesellschaftlichem Fortschritt betrachtet wurde, erhöhte
diese neue Einordnung den politisch-ideellen Wert der Reformation.
Dass die neue Konzeption mythenpolitisch bedeutsam wurde, ist an der
Neubearbeitung des Geschichtslehrbuches fiir die Klasse 6 zu ersehen, die
1967 erschien. 426 Der Begriff der "frühbürgerlichen Revolution" wurde zum
festen Kanon des Schulunterrichts und die Person Luthers ambivalenter als
bisher dargestellt.

5.2 Die 450. Jahrestagsfeier der Reformation

Die Begehung des Jubiläums des 450. Jahrestages der Reformation 1967
zeigte es ganz deutlich, Luther wurde nun eher im Sinne von Thomas Mann
betrachtet als in dem von Smirin. Die offizielle Festschrift, die Lutherkonfe-
renz und die Propagandaschriften machten die Arbeit am Mythos deutlich.
Das Lutherbuch von Gerhard Zschäbitz trug den Titel: "Martin Luther.
Größe und Grenze.,,427 Das Substantiv "Größe" im Zusammenhang mit
Luther wäre in den 50er Jahren einem Sakrileg gleichgekommen und führt
die Modifizierung der Erzählung vor.
Die Feierlichkeiten zum 450. Jahrestag der Reformation umfassten eine
Reihe von Maßnahmen, die auf die hohe Wertschätzung des Ereignisses in
der DDR und dessen Integrierung in das Selbstverständnis dieses Staates
schließen lassen. Aus dem Anlass wurden eine Festschrift "450 Jahre Re-
formation", eine große Anzahl von Propagandaschriften und eine Luther-
Biographie (Zschäbitz) herausgegeben und eine Wissenschaftliche Konfe-
renz, das internationale Symposium anlässlich der Reformation vom 24.-
26.10.1967 in Wittenberg, durchgeführt. Zum Jubiläum zählten auch die
Feiern zum 900jährigen Bestehen der Wartburg und zum 150. Jahrestag des
Burschenschaftsfestes auf der Wartburg.

Untergang der Aufstlindigen zu verstricken. Er gab die Refonnation damit als frühbürgerliche
Revolution preis, rettete sie aber als religiöse Bewegung." Brendler, Gerhard: Refonnation
und Fortschritt. In: Stern, Leo und Max Steinmetz (Hrsg.): 450 Jahre Reformation. a.a.O.: 66.
426 Lehrbuch der Geschichte filr die Klasse 6. Berlin: Volk und Wissen 1967.
427 Zschäbitz, Gerhard: Martin Luther. Grösse und Grenze. Berlin 1967.

222
Für die Durchführung der Jubiläen zeichnete das Kulturministerium
verantwortlich. 428 Das 1966 gebildete Luther-Komitee zur Vorbereitung des
Jahrestages sollte alle Aktivitäten koordinieren und auf die Durchsetzung
der von der SED-Führung geformten Linie achten. 429 Die Reformation war
für die DDR zu einem "nationalgeschichtlichen Ereignis von hohem Rang"
geworden. Der Thesenanschlag war nicht nur wichtig für eine kirchliche
Erneuerungsbewegung, sondern vor allem als

"revolutionäre Bewegung, als erster Akt der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland, als
der Beginn der gewaltigsten Massenbewegung unserer älteren Nationalgeschichte... ,,430

"Unsere Nationalgeschichte" bezog sich hier mehr oder weniger auf Ge-
samtdeutschland, auch wenn die Mauer schon gebaut war und die Wieder-
vereinigung erst einmal in weitere Feme rückte als in den 50er Jahren. Doch
die Hoffnungen auf eine deutsche Konföderation waren noch nicht aufgege-
ben. Der Bauemkrieg wurde entsprechend der klassenmäßigen Einordnung
als Höhepunkt der frühbürgerlichen Revolution betrachtet. Horst Brasch, der
Leiter des Vorbereitungskomitees, band in seiner Rede Reformation und
Bauemkrieg, Thomas Müntzer und Martin Luther zu "einer dialektischen
Einheit" zusammen und bezeichnete beide als

"großartigsten Versuch der demokratischen Kräfte zur Umgestaltung nicht nur der Kirche,
sondern auch der sozialen und politischen Verhältnisse in unserem Vaterlande ... ,,431

Dass das Lutherbild von Gerald Götting, dem ehemaligen Vorsitzenden


der DDR-CDU, in einer bis dahin noch nicht gekannten Weise positiv aus-
fiel, war durchaus auf die Modifizierung der Betrachtung der Reformation
zurückzuführen. Er äußerte:

"Wenn man die Frage beantworten will, wie Luther in den letzten Jahren der beginnenden
Reformationsbewegung zum Sprecher breitester Volksschichten werden konnte, dann muss
man nicht nur davon ausgehen, dass keiner so radikal wie er die mittelalterliche Kirche
kritisiert hat, sondern auch davon, dass seine tiefe Volksverbundenheit einer der wesent-
lichsten Gründe filr seine große historische Leistung war.,,432

428 Innerhalb des Kulturministeriums bekam Horst Brasch die Leitung der Jubiläumsfeierlichkei-
ten überantwortet.
429 Vgl. Rede von Horst Brasch. In: Brendler, Gerhard und Max Steinmetz (Hrsg.): Weltwirkung
der Reformation. Berlin 1969.
430 ebenda: 48.
431 ebenda.
432 Götting, Gerald: 450 Jahre Reformation. In: Stern, Leo und Max Steinmetz (Hrsg.): 450 Jahre
Reformation. Berlin 1969: 14.

223
Die Würdigung Luthers als radikal und volksverbunden war eine völlig
neue Assoziation und stand den bis dahin geläufigen Charakterisierungen
als "Volksverräter" und "Reformist" diametral gegenüber, was allerdings
nicht hieß, dass Luther zukünftig, zumindest bis in die 80er Jahre, nicht
mehr in diesem negativen Lichte gesehen wurde. Sicher war die Göttingsche
Lesart auch einem sich von der SED differenzierten Geschichtsbild geschul-
det, das nicht nur auf die CDU zutraf, sondern zum Ausdruck brachte, dass
es in der politischen Elite der DDR durchaus unterschiedliche Auffassungen
zu Luther und der Reformation gab, die sich besonders an dem von der Vor-
kriegs-SPD und der KPD vorgegebenen und dem so\\jetischen Lutherbild
stießen.
Horst Brasch setzte den Beginn der frühbürgerlichen Revolution mit der
Reformation an, wobei er die Verfalschung der Reformation und deren
Missbrauch zur Irreführung des Volkes in der Geschichte verurteilte. Erst
jetzt, in der DDR würde die historische Leistung der Reformation ihrer
eigentlichen Bedeutungfür den gesellschaftlichen Fortschritt entsprechend
gewürdigt.433 Im gleichen Sinne war die DDR nach dem Historiker Gerhard
Brendler

"auf Grund ihres humanistischen Charakters allein dazu berechtigt, das Jubiläum einer
fortschrittlichen Tradition aus der deutschen Geschichte ... zu begehen.,,434
Die 450-Jahrfeier der Reformation fand trotz ihres Rekurrierens auf die
gemeinsame deutsche Geschichte ganz im Sinne der Konfrontation mit der
Bundesrepublik statt und hatte die Aufgabe, diese als das Gegensätzliche zur
DDR als dasjenige, was der schlechten Vergangenheit angehörte, zu cha-
rakterisieren. Im Zusammenhang mit dem Jubiläum kam den Historikern
die Aufgabe zu, eine Konzeption für die Feier auszuarbeiten und vor allem
diese theoretisch zu begründen. 435 In einem umfangreichen Sammelband
zum 450. Jahrestag der Reformation erschienen eine Reihe von Artikeln von
DDR-Historikern, in denen sie die Parteilinie theoretisch unterlegten, in
denen aber auch einige Abweichungen zu der offiziellen mythischen Erzäh-
lung hervortraten. Ohne den Historikern ein orthodoxes Nachvollziehen der

433 Vgl. Rede von Horst Brasch. a.a.O.: 1.


434 Brendler, Gerhard: Die Reformation in Deutschland. Materialien zur frühbürgerlichen Revolu-
tion. Berlin: 4.
435 Brendler, Gerhard: Luther im Traditionskonflikt der DDR. In: Dähn, Horst und Joachim Heise
(Hrsg.): Luther und die DDR. Berlin 1996: 41. Brendler schrieb: Die Historiker sollten ein
Papier erstellen, "aus dem zu ersehen sei, wie sich die Historiker die 450. Jahrfeier der Refor-
mation vorstellten, was wir zu Luther und der Reformation zu sagen hätten und welchen Bei-
trag die Historiker von sich aus dazu leisten könnten."

224
Parteivorgaben zuschreiben zu wollen, ist doch ein Einordnen der For-
schung in die Linie der Partei zu beobachten. Was an Eigenständigkeit auf
die Historiker zurückging, waren ihr Beitrag zur phantasievollen Ausgestal-
tung dieser Linie und auch eigene theoretische Spekulationen, die aber die
offiziell gesetzten Sichtweisen niemals verletzen durften.
Wenn also in den 40er und 50er Jahren in der Mythenpolitik der DDR
vor allem das sowjetische Geschichtsbild als Dogma benutzt wurde, so spie-
gelte sich dies ebenfalls in der historischen Wissenschaft wider. Kleine Ab-
weichungen waren die Ausnahme, fanden aber statt. Doch die Geschichts-
wissenschaft hatte ihre Rahmenpläne und ihre Lehrmeinung, und diese
folgten eben den Vorgaben der SED-Führung. So kann konstatiert werden,
dass das mythische Bild vor allem durch die Partei ausgestaltet wurde und
dass die Wissenschaft in einer mehr subalternen Weise zum politischen
Mythos beitrug. Dies zeigte sich auch bei der Unterstützung der Historiker
für die 450-Jahrfeier der Reformation. Im wesentlichen folgten die Histori-
ker der neuen Lesart über die Reformation, die nun zur frühbürgerlichen
Revolution hinzugezählt wurde.

6. Die Rezeption von Bauernkrieg und Reformation in


Erziehung und Bildung

Grundlage für die schulische Rezeption von Bauemkrieg und Reformation


in der SBZ bildeten die so\\jetische Literatur, insbesondere das Buch von
Moses Mendelson Smirin "Der große Bauemkrieg", und die Auffassungen
der Geschichtskomrnission des "Nationalkomitees Freies Deutschland" in
Moskau. Beide Quellen waren Grundlage für die Richtlinien für den Unter-
richt in deutscher Geschichte in den Schulen nach 1945. 436
In den Geschichtslehrplänen des Jahres 1953 in der DDR wurde der
Darstellung Thomas Müntzers eindeutig der Vorrang gegeben. Die Stun-
deneinteilung kann als wichtiges Kriterium dafür betrachtet werden. Unter
der Überschrift: "Die Reformation und der deutsche Bauemkrieg,,437 wurde

436 Vgl. Bartel, Horst: Das Lutherbild der deutschen Arbeiterbewegung. a.a.O.: 35. Quelle ist:
Richtlinien rur den Unterricht in deutscher Geschichte. Ausgearbeitet von einer Gruppe von
Lehrern im Auftrag der Deutschen Verwaltung rur Volksbildung. Berlin, Leipzig (1945-
1946).
437 Geschichtslehrplan 6. Klasse, Herausgegeben und bestätigt vom Ministerium rur Volksbildung

225
eine Stunde der "Reformation Luthers,,438 gewidmet, jedoch fünf Stunden
dem Thema "Thomas Müntzer und der Grosse Deutsche Bauernkrieg,,439
eingeräumt. Als Lernstoff zur Reformation Luthers sollten der Thesenan-
schlag, die Verbrennung der Bannbulle sowie das Auftreten Luthers in
Worms vermittelt und seine Verdienste um die Entstehung einer einheitli-
chen deutschen Sprache hervorgehoben werden. Von Luther habe sich das
deutsche Volk eine "soziale, nationale und religiöse Erneuerung',44o erhoffi.
Jedoch "Luther wendet sich gegen die Bauern.,,44) Hingegen brachte Münt-
zer "den Unterdrückten die Berechtigung ihrer Ansprüche zu Bewusst-
sein.,,442

Im Rahmenplan von 1956 verschärfte sich die politische Sprache ge-


genüber Luther. Hier war vom "Verrat Luthers,,443 die Rede. Außerdem fiUlt
auf, was auch schon für 1953 galt, dass im Falle Luthers immer nur der
Nachname benutzt wurde, während Müntzer stets mit Vor- und Zunamen
genannt wurde. Unter der Überschrift "Hinweise(n) zur Behandlung" (des
Stoffes) stand geschrieben:

"Diese Unterrichtseinheit bildet den Höhepunkt des Geschichtsunterrichts im 6. Schuljahr....


Der Lehrer wird den Schülern schildern, wie Thomas Müntzer sein Leben filr die gerechte
Sache des Volkes einsetzte und dass er weder Mühe noch Opfer scheute. Die Charakterei-
genschaften Thomas Mün1zers, wie Treue, Heimatliebe, Mut, Standhaftigkeit, Opferbereit-
schaft, Eflzebenheit filr die Sache des Volkes, müssen den Schülern als leuchtendes Vorbild
gelten.,,44l1'

Zu Luther wurde der Hinweis gegeben:

"Spricht er (der Lehrer) von Luthers Verhal~ erkennen die Schüler, dass sich Luther filr
die gerechte Sache der Bauern nicht einsetzte." 5

Das exkludierende Element des politischen Mythos fand in der Abgren-


zung zur Bundesrepublik seinen Niederschlag:

der Deutschen Demokratischen Republik, Ausgearbeitet vom Deutschen Pädagogischen Zent-


ralinstitut, Volk und Wissen Verlag, BerlinlLeipzig 1953, S.7
438 ebenda.
439 ebenda: 8.
440 ebenda: 7.
441 ebenda: 8.
442 ebenda.
443 a.a.0. 1956: 16
444 ebenda.
445 ebenda.

226
"Der Lehrer kann ... daraufhinweisen, dass die Unterdrückung der Bauern durch die Junker
und Großgrundbesitzer bis 1945 bestand und in Westdeutschland heute noch besteht und
dass erst in unserer Republik die Bauern sich von ihren Peinigern befreit haben.,,446

Dass der deutsche Bauemkrleg, Thomas Müntzer, die Reformation und


Martin Luther Eckpunkte der Geschichtserziehung blieben, zeigte das Bei-
spiel des Lehrbuchs für den Geschichtsunterricht für das 6. Schuljahr, das
1959 herausgegeben wurde und den Titel "Bauern, Bürger und Feudalher-
ren" trug. 447 Ausgesprochen breiter Raum wurde darin der Darstellung der
Mühsal und der Unterdrückung der Bauern und Plebejer sowie der Willkür
der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit gewidmet. So hießen die Unter-
überschriften: "Ritter überfallen Kaufleute und Bauerndörfer" , "Die Feudal-
herren :fördern höhere Abgaben", "Wucherer bereichern sich an der Not der
Bauern", "Die Feudalherren vermehren die Frondienste", "Die Meister
unterdrücken die Gesellen" USW. Erst nach der ausführlichen Aufzählung
weltlicher Missstände wurden die der Kirche aufgeführt und das ziemlich
knapp. Folgerichtig schlossen sich Bauern, Bergknappen und Tuchgesellen
zusammen und waren zum Widerstand bereit. 448
Der Thesenanschlag Luthers, seine Standhaftigkeit in Worms, seine Bi-
belübersetzung und seine Leistung zur Schaffung einer einheitlichen deut-
schen Sprache wurden ausführlich gewürdigt. Schließlich stellte man Münt-
zer Luther gegenüber: zunächst als Luthers Schüler und schließlich als der
wahre Volksfreund und Revolutionär. Luther aber entwickelte sich während
des Fortgangs der bäuerlichen und städtischen Oppositionsbewegung zum
Verräter und Fürstenfreund. Der Bauernkrieg bildete den Höhepunkt und
das eigentlich wichtige Ereignis des 16. Jahrhunderts.
Durch Verrat und Unwissenheit musste der Bauernkrieg scheitern, dem
die grausame Rache der Fürsten folgte. Ausführlich wurde über die Toten
und die Racheakte der Fürsten berichtet. Was eindeutig in der Vermittlung
übelWog, war das soziale Moment, es ging um soziale Gerechtigkeit und um
Revolution, um die folgerichtige Erhebung des kleinen Mannes gegen all die
MissbilI. Die Lehrbücher vermittelten tiefe Abneigung gegen die herrschen-
de Klasse - die Fürsten - und große Sympathien für die aufständigen Bauern,
Plebeijer und für Thomas Müntzer. Luther, mochte er klug und anfangs
auch mutig gewesen sein, war doch letztendlich ein Feigling und Verräter.
Das deutsche Bürgertum wurde Luther in dieser Einordnung gleichgestellt.

446 ebenda: 17
447 Lehrbuch rur Geschichte rur die Klasse 6: Bauern, Bürger, Feudalherren. Berlin: Volk und
Wissen 1959.
448 ebenda.

227
Im Rahmenplan von 1967 wurde diese Linie im wesentlichen beibehal-
ten. Wieder sollten Luthers Rolle beim Thesenanschlag, sein Auftreten in
Worms sowie seine Bibelübersetzung positiv gewürdigt werden. Und wieder
war "auf den Verrat Luthers an den Bauern hinzuweisen.,,449 Allerdings
wurde sein Bild über den üblichen Rahmen hinaus aufgewertet, indem es
hieß:

"Bei der Behandlung der Reformation ist die nationale Bedeutung Luthers hervorzuhe-
ben. ,,450

Es war das Jahr des 450. Reformationsjubiläums und "das Nationale


hatte geradezu Konjunktur".451 1976 begann wohl nicht nur allein fiir diesen
historischen Bereich eine Verwissenschaftlichung der Stoffvermittlung,
selbstverständlich auf marxistisch-leninistischer Grundlage. Es ging nicht
mehr um die bloße Wissensvermittlung, sondern auch darum, dass die Schü-
ler größere weltanschauliche Zusammenhänge erkennen sollten. So hieß es
beispielsweise:

"Die Reformation war eine breite nationale Bewegung des deutschen Volkes gegen die
ökonomische, ideologische und politische Macht der Papstkirche. Der deutsche Bauemkrieg
war der Höhepunkt der antifeudalen Massenbewegung.,,452 Und weiter: "Das Hauptziel der
frühbürgerlichen Revolution - die Errichtung eines einheitlichen Nationalstaates - wurde
nicht erreicht. ,,453.

Den Schülern war die "Entwicklung der Reformation Luthers zur Fürs-
tenreformation bewusst zu machen". 454 Nicht allein Luthers bedeutender
Beitrag zur Schaffung einer einheitlichen deutschen Nationalsprache wurde
diesmal hervorgehoben, sondern auch, dass er damit die "Herausbildung
eines deutschen Nationalbewusstseins"455 beförderte. Zwar war noch vom
"Verrat Luthers,,456 die Rede, während "in der Folgezeit Thomas Müntzer
den radikalen Flügel des antifeudalen Lagers repräsentierte,,457 und "zum
Wortführer der unterdrückten und ausgebeuteten Volksmassen,,458 wurde,

449 a.a.O. 1967: 11


450 ebenda.
451 Brendler, Gerhard: Luther im Traditionskonflikt der DDR, In: Horst Dähn und Joachirn Heise
(Hrsg.): Luther und die DDR. Berlin: edition ost 1996: S.42.
452 a.a.O. 1976:.71.
453 ebenda: 72.
454 ebenda: 77.
455 ebenda: 71.
456 ebenda: 77.
457 ebenda: 76.
458 ebenda: 71.

228
aber Luther hatte nun in der Bewertung zumindest gleichgezogen. Aussage-
kräftig dafür war die Anweisung:

"Luther und Müntzer sind eingehend zu würdigen.,,459

Der Rahmenplan von 1981 zeichnete nur unwesentliche Veränderungen


im Hinblick auf Luther, Bauernkrieg und Reformation. Mit geringen Nuan-
cierungen wurde dieses Bild von Bauernkrieg und Reformation bis 1988
fortgesetzt und beeinflusste ganz entscheidend die mythische Haltung der in
der DDR unterrichteten Schüler zu diesen Ereignissen. 46o 1988 sollten fol-
gende Schwerpunkte der Stoffeinheit "Reformation und Bauernkrieg in
Deutschland" behandelt werden:
1. die von Martin Luther eingeleitete Bewegung für eine Refonnation der Kirche
und
2. die bewaffneten Kämpfe der Volksrnassen im deutschen Bauemkrieg und die
Rolle Thomas Müntzers. 461

Es wurde die Auflage erteilt, dass die Schüler "vom Wirken Martin Lu-
thers als Reformator" erfahren sollten.

"Thomas Müntzer und Martin Gaismair (letzterer erstmals in den Lehrplänen erwähnt)
wurden ihnen als führende Persönlichkeiten der antifeudalen Volksbewegung vorge-
stellt. ,,462

Die Reformation erfuhr einen bisher nicht dagewesenen breiten Raum in


ihrer Darstellung. Luthers Verhalten während der Bauernaufstände wurde
nunmehr polemisch abgemindert als "Abgrenzung von der Volksbewe-
gung,,463 verstanden.

459 ebenda: 75.


460 Lehrplan rur den Geschichtsunterricht rur das Jahr 1988. Berlin: Volk und Wissen 1987.
461 a.a.O. 1988: 32
462 ebenda.
463 ebenda: 33.

229
7. Die ModifIzierung des Mythos in den 70er Jahren

Für das Mythensystem der DDR und somit auch den Mythos von Bauern-
krieg und Reformation blieb die Proklamierung einer DDR-eigenen Nation
durch Erich Honecker im Jahre 1971 nicht ohne Konsequenz. Eine Nation
brauchte eigene Traditionen und ein eigenes kulturelles Erbe. Zu Beginn der
Honeckerzeit überwog, in scharfer Abgrenzung zur Bundesrepublik, die
soziale und revolutionäre Zielsetzung, die mit einer lautstarken Inanspruch-
nahme aller progressiven Traditionen der deutschen Geschichte, worunter
auch die revolutionären verstanden wurden, einherging.
Die Ehrungen für Albrecht Dürer 1971 und für Lucas Cranach 1972, die
sehr aufwendigen umfassenden Werkschauen der Künstler, die mit zahlrei-
chen Bezügen zur Zeit der Reformation und des Bauernkrieges verbunden
waren, wiesen darauf hin, dass die DDR die Tradition der antifeudalen und
reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts zu ihren ideellen Bezugs-
punkten gemacht hatte.

7.1 Das Bauernkriegsjubiläum 1975

Die erste große symbolische Staatsaktion in dem neuen Sinne bildete das
Bauernkriegsjubiläum 1975, das auf die sozialistische deutsche Nation ab-
zielte. Zur feierlichen Begehung des Jubiläums fassten das Sekretariat des
ZK der SED und der Ministerrat der DDR Beschlüsse, die dem Ereignis das
entsprechende symbolpolitische Gewicht verliehen. Ein Komitee zur Vorbe-
reitung setzte sich aus Vertretern der SED und der staatlichen Institutionen
zusammen. Das Jubiläum wurde in die "Pflege der besten Traditionen der
Geschichte der Arbeiterbewegung und des Volkes von den Bauernerhebun-
gen des Mittelalters bis zu den Heldentaten im antifaschistischen Wider-
standskampf' eingeordnet. 464 Der historische Bogen bewegte sich vom Bau-
ernkrieg über die Arbeiterbewegung und den antifaschistischen Wider-
standskampf zur DDR. Jedoch fiel nun der gesamtdeutsche Bezug völlig
weg. In der Festschrift zum 450. Jahrestag des Bauernkrieges des Minister-

464 Komitee beim Ministerrat der DDR: Der deutsche Bauernkrieg. Zum 450. Jahrestag. (Materi-
al zur Vorbereitung). Berlin: Staatsveriag 1974: 5.

230
rates465 wurde der Aufruf der Nationalen Front zur Grundlage genommen,
der "die Entstehung und Entwicklung der Deutschen Demokratischen Repu-
blik" als "das gesetzmäßige Ergebnis und die Krönung des jahrhundertelan-
gen Kampfes der fortschrittlichen Kräfte" ansah. 466
Der andere und dazu größere Teil des deutschen Volkes in der Bundes-
republik wurde aus diesem sinngebenden Ergebnis ausgeklammert und eine
ähnliche Seperationsleistung vollzogen wie im Zusammenhang mit dem
Antifaschismus. Wie es im Buch zum Jubiläum hieß, wurde kritisiert, dass

"der deutsche Bauemkrieg auch im anderen deutschen Staat seine, allerdings von den
herrschenden Klassen bis heute missachteten - und deshalb von ihnen bewusst im Gedächt-
nis des Volkes verschütteten - historischen Gedenkstätten (hat).,,467

Die weitgehende Ignorierung des Bauernkrieges in der kulturellen For-


mung und symbolischen Strukturierung des öffentlichen Raumes in der
Bundesrepublik Deutschland wurde fiir die Separierung des Erbrechts ge-
genüber dem Bauernkrieg genutzt und in die Konfrontationspolitik der DDR
gegenüber der Bundesrepublik Deutschland implementiert.
Mit der Pflege der Traditionen, wie das Gedenken an den Bauernkrieg,
sollte ein DDR-eigener Patriotismus entstehen, der sich gegen die Bundes-
republik nach außen richten und auf die DDR-Nation nach innen wenden
sollte. Der Bezug auf die DDR war aber noch stark sozial verankert und
wurde in den "Klassenkampf' eingegliedert. Dies ging besonders aus der
Betonung des "revolutionären Erbes" hervor. So hieß es in der Festschrift
des Ministerrates:

"Heute, 450 Jahre nach der ersten großen revolutionären Massenerhebung der deutschen
Geschichte, begehen wir den Jahrestag als Sieger der Geschichte, die die Ausbeuterklasse
ein für allemal beseitigt haben.,,468

In der Broschüre "Wir Enkel fechten's besser aus" wurde hervorgeho-


ben, dass die Inanspruchnahme des Erbes des Bauernkrieges keinen "geo-

465 Diese Festschrift wurde im wesentlichen von einer Arbeitsgruppe der Akademie der Wissen-
schaften der DDR unter Leitung von Prof. Dr. Host Bartel ausgearbeitet.
466 Komitee beim Ministerrat der DDR: Der deutsche Bauemkrieg. Zum 450. Jahrestag. (Materi-
al zur Vorbereitung). Berlin: Staatsverlag 1974: 5.
467 Wir Enkel. .. a.a.O.: 8.
468 Konzeption zur Vorbereitung des 450. Jahrestages des deutschen Bauemkrieges. In: ebenda:
11.

231
graphischen Grund" hätte, sondern durch den "geistigen Anspruch auf die-
ses revolutionäre Erbe" begründet war. 469
Ebenso wie beim Mythos über den Antifaschismus wurde aus der Inan-
spruchnahme der Nachfolge des Bauemkrieges die Formel vom "Sieger der
Geschichte" geprägt, die die Überlegenheit der DDR gegenüber der Bundes-
republik Deutschland und gegenüber allen westlichen Staaten suggerierte.
Der Aufbau des Sozialismus in der DDR sollte "das Vermächtnis der revolu-
tionären Kräfte des Bauemkrieges" erfiillen. 470 Der soziale Bezug implizier-
te die Exklusion aller als nicht revolutionär definierten Bewegungen, Ideo-
logien und Staaten, was durch den Aufruf sichtbar wurde,

" ... den Kampf zu filhren gegen alle Varianten der bürgerlichen Ideologie und jeden Versuch,
die revolutionären Traditionen des deutschen Bauernkrieges zu verfiilschen und seinen
klassenmäßigen Inhalt zu verneinen. ,,471

So hieß es in der Konzeption zur Vorbereitung des 450. Jahrestages:

"In einem großen Teil der Kerngebiete des Bauernkrieges - wie in Franken und in der Pfalz,
in Schwaben und im Allgäu - blieb dagegen - wie in der imperialistischen BRD insgesamt -
das Vermächtnis von 1525 unerfilllt. Solange das Monopolkapital alle Machtpositionen in
seinen Händen hält, kann von Freiheit und echtem demokratischen Fortschritt filr das werk-
tätige Volk keine Rede sein. Dort sind die Nachfahren der Aufständigen von 1525 - werktä-
tige Bauern und Landarbeiter, Handwerker und Kleinhändler - Opfer der Ausbeutung durch
das Monopolkapital. Hunderttausende werktätige Bauern mussten und müssen noch immer
ihre Existenz den Profitinteressen der Grossbourgeoisie opfern." 472

Die Bauern der Bundesrepublik wurden als "Opfer der Grossbourgeoi-


sie" bezeichnet, die ihrer Befreiung durch die Arbeiterklasse noch immer
harrten. In der Konzeption wurde der Bauemkrieg als der

469 Im Text heisst es dazu: "Selbst ohne den geographischen Grund, dass das grösste revolutionäre
Ereignis der deutschen Geschichte, bevor die Arbeiterklasse heranwuchs und als filhrende
Kraft der Revolution ihren Schauplatz betrat, hier seinen fortgeschrittendsten politischen Kul-
minationspunkt gefunden hatte, würden wir den legitimen Anspruch auf dieses Erbe erheben.
Der deutsche Bauemkrieg hat auch im anderen deutschen Staat seine, allerdings von den herr-
schenden Klassen bis heute missachteten - und deshalb von ihnen bewusst im Gedächtnis des
Volkes verschütteten - historischen Gedenkstätten. Es ist der geistige Anspruch auf dieses re-
volutionäre Erbe, das das Leben und Streben des Volkes der Deutschen Demokratischen Re-
publik bewegt. Er gibt der 450-Jahr-Feier des deutschen Bauemkrieges bei uns das Gesicht."
Aus: Wir Enkel. .. a.a.O.: 7/8.
470 ebenda.
471 Komitee beim Ministerrat der DDR: Der deutsche Bauemkrieg. Zum 450. Jahrestag. (Materi-
al zur Vorbereitung). a.a.O.: 6.
472 ebenda: 12.

232
"Höhepunkt der ersten frühen bürgerlichen Revolution, die 1517 mit der Reformationsbe-
wegung begann und 1524/25 im Bauernkrieg gipfelte", betrachtet. 473

Eine große Anzahl von Erinnerungsorten an den Bauernkrieg und die


Wirkungsstätten von Thomas Müntzer wurden restauriert. Im Buch "Wir
Enkel fechten's besser aus" stand geschrieben:

"Wer im Jahre 1975 in die Thomas-Müntzer-Stadt Mühlhausen kommt, wird im Rathaus,


das in seiner ursprünglichen Gestalt wiedererstanden ist, ein Kleinod dieser Tradition fin-
den: die Ratsstube, in der vom 17. März bis zum Mai 1525 der 'Ewigr Rat' tagte. Der
revolutionäre Atem der Geschichte weht in dem Raum, in dem Thomas Müntzer, von Engels
die großartigste Gestalt des Bauernkrieges genannt, zum ersten Mal auf deutschem Boden
eine Obrigkeit von Volkes Gnaden konstituiert hatte. Verweilt man an den anderen Städten
in A1lstedt, Heldrungen, Mühlhausen und Zwickau, wo Müntzer seine Predigten im Namen
Gottes, gemäss der religiösen Denkweise der Bauern, Plebejer und Bürger in alttestamenta-
rischem Stil sprechend, in feurige Aufrufe im Namen des Volkes gegen seine fiirstlichen,
landgrätlichen und klerikalen Peiniger verwandelte, so findet man dort überall diese Ge-
denkstätten durch sorgsame Arbeit restauriert.,,474

7.2 Das Bauernkriegsforum in Bad Frankenhausen von Werner Tübke

7.2.1 Die politische Implementierung des Bauernkriegsmythos in Bad


Frankenhausen

Das große Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen kann in die Linie


der Hervorhebung einer eigenen nationalen Tradition, die aber noch stark
sozial verortet ist, eingeordnet werden. Der Politbürobeschluss des ZK der
SED 1/38923/74 vom 06.03.1974 und eine Vorlage des Kulturministeriums
vom Februar 1974 deklarierten:

"die Errichtung eines Panoramas auf dem Schlachtberg bei Frankenhausen, das dem deut-
schen Bauernkrieg und dem revolutionären Wirken Thomas Müntzers gewidmet ist." 475

Verantwortlich für die Durchführung des Beschlusses zeichneten das


Kulturministerium und die örtlichen SED-Leitungen des Bezirks Halle und
von Bad Frankenhausen. Die Konzeption der SED stellte folgende Prämisse:

473 Konzeption zur Vorbereitung des 450. Jahrestages des deutschen Bauernkrieges. In: ebenda:
11.
474 Wir Enkel. .. a.a.O.: 7.
475 Beschluss des Sekretariats des ZK der SED vom 06.03.1974 und Konzeption. In: Archiv der
Parteien- und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv. VI B 2/3.06 Nr.73.

233
- Die Gedenkstätte "ist einer der größten Klassenschlachten im Zeitalter des Feudalismus
und in der Geschichte des deutschen Volkes sowie dem deutschen Revolutionär Thomas
Müntzer gewidmet und soll
- davon kUnden, wie die Revolutionäre von 1524/25 selbstlos und opfermütig um das große
Ziel der Veränderung der Gesellschaft im Interesse des Volkes kämpften;
- der Entwicklung und Festigung des sozialistischen Bewusstseins der Bürger der DDR
dienen, insbesondere der patriotischen Erziehung der Jugend;
- ethische und moralische Werte vermitteln, die eine sozialistische Persönlichkeit in unserer
Republik auszeichnen." 476

Um die Konzeption der konkreten Ausgestaltung des Panoramas nach


den Vorgaben der SED-Führung gab es zwischen verschiedenen Gruppen in
der Partei- und Staatsführung, Kunstwissenschaftlern und Historikern eine
Diskussion, die in keiner Weise öffentlich gemacht wurde. Unter Leitung
des Kulturministers Hans-Joachim Hoffmann liefen die konzeptionellen
Entwürfe zusammen. Dieser setzte eine Arbeitsgruppe zur Erarbeitung einer
Konzeption unter Leitung des Abteilungsleiters für bildende Kunst des Kul-
turministeriums Fritz Donner ein. 477
Im August 1974 lagen dann zwei mit unterschiedlichen Schwerpunkt-
setzungen durchwobene Konzeptionsentwürfe in einer "Konzeption zur
künstlerischen und musealen Ausgestaltung der Bauernkriegsgedenkstätte -
Panorama auf dem Schlachtberg bei Bad Frankenhausen" vor, die als allge-
meine Grundlage und trotz aller Differenzen den Intentionen Donners dien-
ten. 478
Die erste Variante sollte Müntzers letzte Predigt am 15.04.1525 darstel-
len. Aufbauend auf der Aussage von Karl Marx, "auch die Theorie wird zur
materiellen Gewalt, sobald sie die Masse ergreift", sollte das Panorama
zeigen,

"dass revolutionäre Ideen eine große Kraft im Kampf gegen die herrschenden Ausbeuter-
klassen und filr eine praktische Veränderung der Gesellschaft besitzen können".479

Das Hauptanliegen dieses Entwurfes kam auch in der konzeptionellen


Aussage zum Ausdruck:

476 ebenda
477 Der Arbeitsgruppe gehörten an: die Historiker U\lmann, Steinmetz, Brendler und Donner vom
Kulturministerium, der gleichzeitig Leiter der Arbeitsgruppe war. In: VI B 2/3.06 Nr.73.
478 Konzeption zur künstlerischen und musealen Ausgestaltung der Bauemkriegsgedenkstätte -
Panorama auf dem Schlachteberg bei Bad Frankenhausen vom 22.07.1974. In: Archiv der
Parteien- und Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv. VI B 2/3.06 Nr.73.
479 ebenda: 2.

234
"Es soll gezeigt werden, wie der Kampf der Volksrnassen, trotz der be-
stehenden Niederlage, zu einem Fanal wurde, das in späteren revolutionären
Kämpfen weiterwirkte und dessen Vennächtnis in der sozialistischen Ge-
sellschaft im Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Bauern erfiillt wurde.,,480
Aus der thematischen Vorgabe wird deutlich, dass die Predigt von Tho-
mas Müntzer vor einer Versammlung von Bauern unmittelbar vor dem
Kampf den Mittelpunkt darstellte. Am Rande hingegen sollte der Rezipient
schon die Aufstellung der fürstlichen Truppen und den Beginn der Kampf-
handlungen sehen können. Dieser Konzeptionsentwurf entsprach dem Sujet
eines Geschichtspanoramas, das sich nach folgender Vorgabe richtete:

"Die Einheit von Ort, Zeit und Handlung soll - mit leichten Abweichungen - gewahrt wer-
den, die Darstellung ist sachlich exakt, stützt sich auf die Forschungsergebnisse der Histori-
ker, auf zeitgenössische Zeugnisse und Bildquellen (z.B. Holzschnitte des Petrarca-
meisters). ,,481

Legt man das von Aleida Assmann beschriebene Konzept der "animato-
rischen Fonn" der Erinnerung zugrunde, dann wird klar, dass das Panorama
"dem Erwecken, der magischen Animation und Wiederbelebung" dienen
sollte. Assmann schreibt dazu:

"Der Körper der Vergangenheit ist tot, die unsichtbare Seele aber lebt in den Ruinen (hier
im Bild) fort, sie kann zum Ansatzpunkt der Wiederbelebung der Vergangenheit werden, sie
ist der Garant filr einen Sprung durch die Zeit.,,482

Gleichzeitig eröffnete diese Erinnerungsfonn die Möglichkeit, dass der


Mythenproduzent allein bestimmen konnte, welche Ereignisse und Doku-
mente als wichtig einzuschätzen seien. Individueller Gestaltungs- und Inter-
pretationsfreiheit wäre keinerlei Raum geblieben. Dies entsprach einer wei-
teren bei Assmann angeführten Gedächtnismetapher, der des Tempels.483

480 ebenda.
481 ebenda: 3. 1m Abschnitt zur Gestaltung der ersten Variante heisst es U.a. in der Konzeption:
"Der Standpunkt des Betrachters ist so auszuwählen, dass er sich etwas unterhalb des höchsten
Punktes des Schlachteberges, auf dem die Bauernversammlung stattfand (jetzt Panorama) be-
fmdet. Das Panorama folgt einer grossen Elipse, deren eine Seite von den Bauern um Müntzer
besetzt ist, die andere von der Stadtansicht Frankenhausens. Der Betrachter steht in dem
Brennpunkt, der in der oberen Hälfte liegt. Die Bauern erscheinen damit näher und grösser
(der Betrachter fühlt sich ihnen zugehörig), die fürstlichen Truppen dagegen in grösserer Ent-
fernung kleiner und als gesichtslose Masse. Der erhöhte Standpunkt der Bauern und Müntzers
verleiht diesen Monumentalität."
482 Assmann, A1eida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Assmann, A1eida und Dietrich Harth
(Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. FrankfurtlM.: Fi-
scherI991: 27.
483 ebenda: 14/15.

235
Ein Vergleich des Panoramas mit der KZ-Gedenkstätte Buchenwald ist
insoweit kohärent, als dass die Parteifiihrung ihre Konzeption bei beiden
Monumenten gegenüber dem Künstler durchsetzte. Fritz Cremer wurde
gezwungen, seinen Denkmalsentwurf dreimal umzuarbeiten, um den Wün-
schen der Partei- und Staatsführung gerecht zu werden. Aber selbst dort
schaffte man durch Abstraktion eine kritische Distanz zum Geschehen,
während diese jetzt weggefallen wäre.
Diese Tradition traf bei einem Teil der für die Konzeption zuständigen
Arbeitsgruppe auf Widerspruch, wobei nicht die Erinnerungsform kritisiert
wurde, sondern inhaltliche Kriterien:

"Die völlig in der Geschichte des 16. Jahrhunderts bleibende Darstellung öffitete Raum für
mögliche Missverständnisse und Fehldeutungen. Vor allem bliebe der internationale Cha-
rakter des deutschen Bauernkrieges außerhalb der bildnerischen Gestaltung. Außerdem fehlt
dann auch die mit den Mitteln der Bildkunst zu vertiefende Einsicht, dass der Weg der
Bauern, auch international, über Siege und Niederlagen im Klassenkampf schließlich an der
Seite der Arbeiterklasse gesetzmäßig in den Sozialismus führt. Zumal für längere Zeit dem
Panorama auf dem Schlachteberg kein gleichartiges monumentales Historienbild über die
Kämpfe, Niederlagen und Siege der Arbeiterklasse folgen wird.'.484

Aus dem Grund der zu geringen Handhabbarkeit der in der Zeit verwei-
lenden Konzeption für die Zwecke der Partei, die den Anspruch der DDR,
wichtiger Teil internationaler Klassenkämpfe und gleichzeitig Vorläufer des
Sozialismus zu sein, zu bedienen, wurde eine zweite Konzeption favorisiert.
Diese Variante sollte darstellen, dass der Bauernkrieg

"die größte Massenbewegung in der Geschichte des deutschen Volkes vor der Revolution
1848/49 war, als Höhepunkt der frühbürgerlichen Revolution europäische Bedeutung besaß,
untrennbar verbunden mit dem sich gesetzmäßig vollziehenden internationalen Übergangs-
prozess vom Feudalismus zum Kapitalismus. Das Jahrhunderte währende Freiheitsstreben
der Bauernkriegskämpfer konnte sich erst im Verlaufe der sozialistischen Revolution unter
Führung der Arbeiterklasse erfüllen. Wir sehen im Bauernkrieg einen zentralen Ausgangs-
punkt der revolutionären Traditionslinie in der Geschichte des deutschen Volkes, deren
Höhepunkt die Deutsche Demokratische Republik mit ihrer geschichtlichen endgültigen
Zugehörigkeit zur sozialistischen Staatengemeinschaft verkörpert. ,,485

Die szenische Bilderfolge stellte nun nicht mehr einzelne Ereignisse von
lokaler Bedeutung dar, sondern band diese in die europäische Geschichte
ein. Der Bauernkrieg sollte als Höhepunkt der europäischen frühbÜfgerli-
chen Revolution herausgehoben werden. Anband dieser Konzeption wird

484 Konzeption zur künstlerischen und musealen Ausgestaltung der Bauemkriegsgedenkstätte -


Panorama auf dem Schlachteberg bei Bad Frankenhausen vom 22.07.1974. In: Archiv der
Parteien- und Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv. VI B 2/3.06 Nr.73: 4.
485 ebenda: 5.

236
deutlich, dass die DDR sich von dem Gedanken an einen einheitlichen deut-
schen Staat oder eine gesamtdeutsche Konföderation endgültig verabschie-
det hatte und sich zur "sozialistischen Staatengemeinschaft" zugehörig
fühlte. Allerdings war die Parteielite darum bemüht, innerhalb dieser Ge-
meinschaft eine Führungsposition mythisch zu begründen und diese nicht
allein der So\\jetunion zu überlassen. Gerade der Bauemkrieg als "Höhe-
punkt der frühbürgerlichen Revolution" eignete sich besonders dafür, denn
die sozialistische Revolution war durch die Oktoberrevolution mythisch
schon weitgehend besetzt gewesen. Außerdem bot sich diese Darstellungs-
weise für die Betonung der westeuropäischen Bindung an, die nicht ganz
aufgegeben werden sollte.
In der neuen Konzeption wurden bestimmte historische Szenen beson-
ders hervorgehoben:

"- der englische Bauernaufstand von 1381;


- der Volksaufstand in der böhmischen Hussitenbewegung und die Gründung von Tabor
1420;
- der deutsche Bauernkrieg von 1524/25 und Thomas Müntzer;
- der russische Bauernaufstand unter Pugatschow 1773n5 und die Grosse Sozialistische
Oktoberrevolution in Russland, das Dekret über den Boden;
- die Befreiung des deutschen Volkes durch die Sowjetarmee und die Bodenreform
1945.,,486

Die mythische Reihe - europäische Bauernrevolten - Bauemkrieg - Bau-


embefreiung im Sozialismus - sollte in oktroyistischer Art bildnerisch dar-
gestellt werden und die Theorie von der frühbürgerlichen Revolution an die
Wand projizieren.
Der Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann, dem das Panorama beson-
ders am Herzen lag, kritisierte die vorgelegten Konzeptionen aufgrund der
Überhöhung der Rolle des deutschen Bauemkrieges innerhalb der europäi-
schen Geschichte und der Überforderung sowohl der Künstler als auch der
Betrachter und bat den Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften
um ein Gutachten über die vorgelegten Konzeptionen. 487 Gegenüber dem
Leiter der Abteilung Kultur beim ZK der SED, Peter Held!, äußerte der
Kulturminister noch weitere Bedenken:

"Es steht ferner fest, dass in dieser Schlacht am 14. und 15. Mai 1525 bei Bad Frankenhau-

486 ebenda: 6.
487 Briefvon Hans-Joachim Hoffinann an den Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften,
Werner Kalweit, vom 31.07.1974. In: Archiv der Parteien- und Massenorganisationen der
DDR beim Bundesarchiv. IV B 2/906 Nr.33.

237
sen eigentlich gar keine Schlacht, sondern ein viehisches Abschlachten von 8000 Bauern
stattgefunden hat. Hier standen sich also nicht zwei große Kräftegruppierungen militärisch
gegenüber, wie man das bei den anderen Panoramen sehr gut darstellen kann, sondern
bliebe man bei der bloßen Darstellung der Ereignisse, müsste man in vielfliltigen Variatio-
nen ein Bild der Tötung der Bauern schaffen. Und das geht m.E. überhaupt nicht. Damit
wird freilich auch der Gedanke des Panoramas in Frage gestellt, und es ergibt sich die
Frage, ob es richtiger ist, in Form eines Dioramas eine vielfiiltige bildkünstlerische Darstel-
lung des Bauernkrieges einschließlich internationaler Aspekte der frühen bürgerlichen
Revolutionen in anderen Ländern ins Auge zu fassen.,,488

Aus den Ausführungen des Kultunninisters geht der mythische An-


spruch deutlich hervor, der mit der Darstellung der Schlacht verbunden
wurde: Nicht das, was tatsächlich stattgefunden hatte, sollte abgebildet wer-
den, sondern das, was :fiir die gegenwärtige Gemeinschaft bedeutsam war,
musste das Bild erfassen. Diesen Anspruch sah er am adäquatesten durch
eine künstlerische Darstellung gegeben. Es ist offensichtlich, dass er sich
hier im Gegensatz zu den Verantwortlichen in der Hallenser SED-Leitung
befand, denn diese sollte aus der neuen Diskussion vorerst ausgeschlossen
bleiben.

Bauernkriegsforum in Bad Frankenhausen. Blick auf den Schlachteberg.

488 Brief von Hans-Joachim Hoffinann an Wemer Heldt, Abteilungsleiter der Abteilung Kultur
des ZK der SED, vom 31.07.1974.ln: APMOB, IV B 2/906. Nr. 73.

238
In einem Gutachten der Akademie der Wissenschaften, das Horst Bartel
anfertigte, wurde die Überprüfung der Konzeptionen vorgeschlagen. Es
sollte nicht ein einzelnes Ereignis wie die Schlacht bei Frankenhausen he-
rausgegriffen, sondern "der Bauernkrieg als Ganzes" dargestellt werden.
Gegen die erste Variante der Denkmalskonzeption wurden grundsätzliche
Vorbehalte angebracht: 489

"1. Das vorgeschlagene Panorama auf dem Schlachtberg bei Frankenhausen ist das bisher
einzige Denkmal von dieser Monumentalität, das in der DDR ftlr einen Höhepunkt revoluti-
onärer Klassenkämpfe - wie die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/49 und die
Novemberrevolution 1918 sowie andere Klassenschlachten der deutschen Arbeiterklasse -
geschaffen werden soll (wenn wir von den Gedenkstätten ftlr den Kampf gegen den Fa-
schismus absehen, die einen anderen Charakter tragen).
2. Hinzu kommt, dass u.a. in Allstedt, Mühlhausen, Heldrungen und Bad Frankenhausen
eine Reihe von Bauernkriegsgedenkstätten geschaffen wird. . . Dies bekräftigt u.E. die
Notwendigkeit, den Bauernkrieg insgesamt zu würdigen ...
3. Wir müssen darauf autlnerksarn machen, dass es sich bei der Schlacht bei Frankenhausen
am 15. Mai 1525 tatsächlich um einen wortbrüchigen Überfall der Fürsten auf die Bauern
gehandelt hat, bei dem Tausende Bauern barbarisch niedergemetzelt wurden. Die Vorgänge
auf dem Schlachtberg haben auch gezeigt, dass der dort versammelte Bauernhaufen uneinig
war, und dass sich die revolutionären Kräfte um Müntzer in der Minderheit befanden. Von
einem einheitlich geleiteten Kampf der Bauern (wie in anderen großen Bauernkämpfen)
konnte nicht die Rede sein.,,49o

Sich der mythenkontraproduktiven Bedeutung bewusst, hielt Horst Bar-


tel, ähnlich wie Hans-Joachim Hoffmann, eine originalgetreue Wiedergabe
der Ereignisse der Schlacht von Frankenhausen für nicht relevant. Dies
hätte auf die Bauern als die Träger der "fortschrittlichen Klasse", an die
man anschließen wollte, ein schlechtes Licht geworfen und der Legitimation
für die DDR nicht Genüge getan. Aber auch die zweite Variante der Kon-
zeptionsvorlage, in der es um die internationale Einbindung des Bauern-
krieges ging, entsprach nicht den Vorstellungen von Bartel. Er hielt dies
nicht für machbar und monierte, "dass nolens volens die deutsche Geschich-
te über Jahrhunderte als Mittelpunkt weltrevolutionärer Prozesse er-
schien".491 Deshalb entwickelte er mit seinem Mitarbeiterstab einen neuen
Entwurf:

489 Bartel, Horst: Stellungnahme zum EntwUlf der Konzeption filr die Gedenkstätte "Panorama
auf dem Schlachtberg" bei Bad Frankenhausen. In: SAPMOD VI B 2/9.06 Nr. 73.
490 ebenda: 2/3.
491 ebenda: 2.

239
"Wir schlagen deshalb vor, das geplante Panorama als Gedenkstätte für den deutschen
Bauernkrieg zu gestalten und dabei - Engels folgend - das Wirken Thomas Müntzers in
Thüringen und Sachsen und den Bauernkrieg in Thüringen als Kulminationspunkt hervor-
zuheben.,,492

Es folgte eine weitere wissenschaftliche Konzeption, dieses Mal von den


Historikern Hoyer und Bensing von der Karl-Marx-Universität Leipzig, die
offensichtlich nicht mit der von Bartel übereinstimmte. In einem Brief des
Abteilungsleiters für bildende Kunst im Kulturministerium, Fritz Donner,
an den Kulturminister werden die unterschiedlichen Intentionen unter den
Wissenschaftlern recht deutlich:

"Die Auffassungen unter den Historikern bzw. den Mitgliedern des Arbeitsstabes kommen
noch nicht 'auf einen gemeinsamen Nenner'. Es ging vor allem darum, ob die bildnerische
oder museale Ausgestaltung ausschließlich auf Ereignisse des Bauernkrieges im heutigen
Thüringer Raum Bezug nimmt oder auf den Bauernkrieg im Rahmen des damaligen deut-
schen Reiches.',493

Genau an dieser Stelle wurde das Dilemma des politischen Mythos der
DDR generell und bezüglich des Bauernkrieges und der Reformation im
speziellen deutlich, sich auf gesamtdeutsche Geschichte zu beziehen und nur
ein teildeutsches Selbstverständnis zu erlangen. Unter den Historikern gab
es über diese Zielstellung keine Einigkeit, und es existierten offensichtlich
die Fraktion der "Gesamtdeutschen" und die der "Teil- bzw. DDR-
Deutschen" .
Sobald die Hauptverantwortung der Gestaltung des Panoramas vom ZK
in die Hände des Kulturministeriums übergeben wurde, kam es zu einer
konzeptionellen Umorientierung, woraus unterschiedliche kognitive Entwür-
fe zwischen Partei- und staatlicher Führung sichtbar wurden. Fritz Donner
legte in einem Brief an Hans-Joachim Hoffmann klar, dass sich das Pano-
rama "ausschließlich auf die Zeitereignisse" beziehen muss, und nicht, wie
vom ZK angedacht, den Bogen vom Bauernkrieg über die 48er Revolution,

492 ebenda: 3. Weiter wurde vorgeschlagen, dass das Panorama aus einer Szenenfolge von ilinfbis
sechs Bildern bestehen sollte, auf denen die Ursachen der frühbürgerlichen Revolution und
"der Charakter der sich gegenüberstehenden Klassenkräfte" verdeutlicht werden sollte. Wört-
lich hiess es: "Dabei muss auch unbedingt die Reformation Berücksichtigung finden, um der
marxistischen Konzeption vom Zusammenhang von Reformation und Bauernkrieg als früh-
bürgerlicher Revolution zu entsprechen. Im Mittelpunkt müssten Szenen aus dem Bauernkrieg
selbst bei besonderer Hervorhebung der Kämpfe in Thüringen und das Wirken Müntzers ste-
hen."
493 Aus einem Briefvon Fritz Donner vom Kulturministeriums an den Minister ilir Kultur Hans-
Joachim Hoffinann vom 24.07.1975. In: SAPMOD VI B 2/9.06 Nr. 73.

240
die Novemberrevolution, die Oktoberrevolution und die Befreiung vom Fa-
schismus zur DDR spannen würde. 494 Weiter schrieb Donner, dass

"die bildnerische Umsetzung des noch zu klärenden Stoffes nicht in der Art einer naturalis-
tisch erzählenden und dokumentarischen Verbildlichung erfolgen, sondern in Form und
Inhalt ein Kunstwerk von monumentaler Verallgemeinerung und Gestaltung zum Ziel haben
(soll). Damit ändert sich prinzipiell der Charakter des Wandbildes gegenüber dem Parteibe-
schluss, der ja Festleiungen enthält, die auf die Art der Gestaltung des Panoramas von
Borodino verweisen." S

Letztendlich setzte sich weitgehend die konzeptionelle Fassung des Kul-


turministeriums durch, die mehr oder weniger der Auffassung des Leipziger
Historikers Bensig folgte. Sie wurde vom Sekretariat des ZK in einem Be-
schluss vom 16.05.1979 bestätigt und in einem "Maßnahmeplan für die
weitere Vorbereitung und Realisierung der künstlerischen, ökonomischen
und personellen Bedingungen für die Gestaltung des monumentalen Gemäl-
des in der Bauernkriegsgedenkstätte Bad Frankenhausen" vom 14.12.1981
festgehalten. 496
1974 übertrug man dem Maler Werner Tübke den Auftrag zur Ausfüh-
rung des Gemäldes, das 10 Jahre für die Fertigstellung benötigte. Nach
Aussagen von Mitarbeitern des Kulturministeriums hatte Werner Tübke in
Gesprächen mit Vertretern des Ministeriums sein Interesse an Aufträgen
und den Wunsch geäußert, "großräumig wirken zu können". 497 Schließlich
kam auch die Empfehlung:

"Mir scheint, dass es richtig wäre, Genossen Tübke Aufträge zu erteilen, durch die er seinen
Interessenkreis in einer fIlr uns nutzbringenden Weise ausschöpfen kann. Die Erfahrung mit
dem Bild "Italienischer Großgrundbesitzer" deutet in diese Richtung.,,498

In einer Information an das Ministerium für Kultur wurde schließlich


bekannt gegeben, dass für die künstlerische Gestaltung durch das Ministeri-
um für Kultur der Maler Professor Werner Tübke, Rektor der Hochschule
für Graphik und Buchkunst Leipzig, gewonnen wurde. Es war vorgesehen,

494 Brief von Fritz Donner an Hans-Joachim Hoffinann vom 30.04.1975. In: SAPMOD. DR
17677.
495 ebenda.
496 Information über den Stand der Durchführung des Beschlusses des Sekretariats des ZK vom 5.
Män 1974 (1/389, 23n4) zur "Errichtung eines Panoramas auf dem Schlachtberg bei Bad
Frankenhausen, Bezirlc Halle, das dem deutschen Bauernkrieg und dem revolutionären Wir-
ken Thomas Müntzers gewidmet ist" und über die ErfIlllung der vom Sekretariat des ZK am
16.05.1979 (58n9, 2n27) im Zusammenhang mit einer Information bestätigten Massnahme
zum Beschluss vom 6. Män 1974 vom April 1982. In : SAPMOD DR I 7682.
497 Aktennotiz von Wilfried Maass vom 08.04.1975. In: SAPMOD VI B 2/9.06 Nr. 93.
498 ebenda.

241
dass Tübke "auf der Grundlage der bestätigten wissenschaftlichen Konzepti-
on .. die Ausarbeitung der Ideen und Entwürfe für die künstlerische Umset-
zung" durchzuführen habe. 499
Die Arbeit von Tübke wurde die ganze Zeit hindurch von offiziellen
Vertretern der Partei- und Staatsfiihrung wie dem Ideologieverantwortlichen
der SED Kurt Hager und dem Kulturminister Joachim Hoffmann begleitet.
die der Konzeption des Künstlers eine "klassenmäßige Position für den
Fortschritt" bescheinigten. Sie besuchten Tübke in seinem Atelier oder führ-
ten mit ihm Aussprachen. 500
Werner Tübke stellte im November 1980 den Entwurf für das monu-
mentale Gemälde in der 1:10 Fassung (1,45 x 12,20 m) fertig. Am
20.05.1981 wurde eine Schwarz-Weiss-Fassung vom Sekretariat des ZK der
SED bestätigt. 501 In einer Information des ZK der SED hieß es dazu:

"Es ist ihm eindrucksvoll gelungen, die Ereignisse des Bauemkrieges als Bestandteil und
Höhepunkt der ersten Revolution auf deutschem Boden mit dem konkreten Bezug auf den
Kampfin Bad Frankenhausen und die Rolle Thomas Müntzers darzustellen.,,502

Es ist davon auszugehen, dass das Sekretariat des ZK keinen vollständi-


gen Eindruck von dem Gemälde hatte, da die Farbfassung erst nach der
Bestätigung fertiggestellt wurde und ebenso eine genaue Konturenzeich-
nung, wofür Tübke andere Künstler zur Verfügung gestellt wurden. Wahr-
scheinlich existierte bei der Parteiführung ein mehr oder weniger von der
Endausführung abweichender Eindruck über das Gemälde, womit die Diffe-
renz zwischen der Parteikonzeption und der Grundaussage des Gemäldes
erklärt werden könnte.
Die Fertigstellung der Gedenkstätte wurde ab 1977 von einer intensiven
Öffentlichkeitsarbeit begleitet, um somit eine Identifizierung der Bevölke-
rung mit der Gedenkstätte zu erreichen. Eine ständige Ausstellung infor-
mierte über die Baugeschichte der Gedenkstätte und über die Entwurfsarbei-
ten von Werner Tübke. Neben der ständigen wurden weitere acht
Personalausstellungen und fünf thematische Ausstellungen gezeigt. Bis zum
Jahr 1982 registrierte man 200 000 Besucher, die allerdings nur organisiert
499 Brandt: Information über den Stand der Durcbfiihrung des Beschlusses des Sekretariats des
Zentralkomitees der SED vom 06.03.1974. In: SAPMOD VI B 2/9.06 Nr. 93.
500 Brief von Fritz Donner an Hans-Joachim Hoffinann vom 09.10.1980. In: SAPMOD VI B
2/9.06 Nr. 93.
501 Information über den Stand der Durcbfiihrung des Beschlusses des Sekretariats des ZK vom 5.
März 1974 (11389, 23174) zur "Errichtung eines Panoramas auf dem Schlachtberg ... In :
SAPMOD DR 1 7682 a.a.O.
502 ebenda.

242
1982 registrierte man 200 000 Besucher, die allerdings nur organisiert in
Pionier- und FDJ-Gruppen, Schulklassen, Jugendstundengruppen, "sozialis-
tischen Brigaden", Veteranenclubs und Einheiten der NVA Zugang fan-
den. 503 Entsprechend dem Anliegen der Partei- und Staatsfiihrung, das Pa-
norama als eine Legitimations- und Identitätsbasis der DDR zu nutzen,
wurde schon früh, selbst lange vor der eigentlichen Eröffnung der Gedenk-
stätte, eine extensive Ritualisierung betrieben. Verbunden mit dem Besuch
der Gedenkstätte hieß es in der Information der SED:

"Zugenommen hat die Zahl ehrender und feierlicher Veranstaltungen: Aufnahmefeiern in


die Pionierorganisation bzw. in die FDJ, Jugendweihen, Vereidigung des in Frankenhausen
stationierten Truppenteils der NVA "Robert Uhrig", Brigadeveranstaltungen und Foren mit
Künstlern. ,,504

Die I: 10 Fassung des Gemäldes wurde auf der IX. Kunstausstellung von
Oktober 1982 bis April 1983 in Dresden ausgestellt.
Anfang der 80er Jahre wurde eine in der UdSSR hergestellte Leinwand
von 14 x 123 Metern in dem Rundgebäude aufgehängt und im Spätherbst
von Spezialisten eines Kombinats aus Podolsk grundiert. Von Februar bis
Mai 1983 wurde die 1: 10 Fassung unter Leitung von Prof. Heinz Wagner
von der Hochschule fiir Graphik und Buchkunst Leipzig und des Fotogra-
phen Dr. Gerhard Murza auf die Leinwand übertragen. Am 16.08.1983
begann Werner Tübke mit der Arbeit am Original und beendete diese
1987. 505

7.2.2 Die künstlerische Rezeption des Bauemkrieges durch Werner


Tübke

Das fertige Gemälde von Werner Tübke wurde den konzeptionellen Vorga-
ben der Partei- und Staatsfiihrung auf eine sehr eigene Art und Weise ge-
recht. Ohne oberflächlich zu exkludieren, wird durch die verschlüsselte
Symbolsprache aus dem 16. Jahrhundert und selbst geschaffene Gestal-
tungserfindungen eine Interpretation des Bauemkrieges durch den Künstlers
sichtbar, die fast das Gegenteil dessen aussagt, was die Staats- und Partei-
fiihrung ursprünglich beabsichtigte und Historiker und Politiker in Abgren-
zung zur Parteifiihrung intendierten. Nicht der einseitige Geschichtsopti-

503 ebenda: 4.
504 ebenda: 5.
505 Presseinfonnation über die Bauemkriegsgedenkstätte "Panorama" auf dem Schlachtberg bei
Bad Frankenhausen vom Ministerium für Kultur und dem Rat des Bezirkes Halle vom Febru-
ar 1985. In: SAPMOD. DR 1/7671.

243
mismus der SED-Führung, der sich in Siegermentalität entäußerte, auch
nicht der stärker realistische Glauben des Kulturministers und der Beamten
des Kulturministeriums an den Sozialismus oder der selbstzufriedene Prag-
matismus einer Reihe von Historikern werden von dem Gemälde auf die
Betrachter übertragen, sondern eine tiefe Trauer. Die Vermittlung von
Kreisläufigkeit von Geschichte lässt einen endgültigen Sieg des Sozialismus
als unmöglich erscheinen. Die Szenen der Aufklärung und Hoffnung neh-
men im Bild nur einen relativ kleinen Raum ein und wirken eher vereinzelt.
Dagegen häufen sich die unterschiedlichsten Darstellungen von Verführung,
egoistischem Handeln, Elend und Leiden, das in der Darstellung der
Schlacht bei Frankenhausen kulminiert. Die Hauptfigur des Thomas Münt-
zer ist kein siegesbewusster und triumphierender Held, sondern eine um das
tragische Schicksal des Menschen wissende Figur.
Auf dem 14 m hohen und 123 m langen Gemälde befinden sich über
3000 Figuren, die in verschiedene Szenen aus dem 16. Jahrhundert einge-
bunden sind. Das Gemälde, das im Rund ohne Anfang und Ende im Innen-
raum des kreisförmigen Bauernkriegsforums angebracht ist, ist wie ein The-
aterstück inszeniert, wo verschiedene Szenen einander ablösen und Gruppen
von Menschen in unterschiedlicher Funktion miteinander agieren. Die Sze-
nen haben meist einen dramatischen Ausdruck, und die Bewegungen der
Menschen wirken wie festgefroren, so als wäre Geschichte in den Gegen-
wartsraum geholt und als Momentaufnahme festgehalten worden. In dem
breiten Unendlichband des Bildes fällt der Abschnitt unter der Treppe be-
sonders ins Auge. Doch meist beginnen Bildbetrachtungen in der Art des
europäischen Lesens auf der linken Seite.
Etwas links von der Mitte wird ein großes Schneefeld sichtbar, das eisi-
ge Zeiten assoziiert, was die Begebenheiten auf seiner Oberfläche auch bes-
tätigen: Ein Zug von durch die Pest gezeichneten kranken Menschen bewegt
sich unter dem Banner des toten Christus,506 plündernde Landsknechte,
Ablasshändler, ein leer blickender Trunkenbold, ein Einbeiniger auf Krü-
cken, ein unter der Last der Bibel kriechender Mensch, weitere mit Lasten
Beladene. Im Vordergrund des Schneefeldes befindet sich eine vom Teufel

506 Die Fahne mit dem toten Christus sieht wie ein Leichentuch aus, obwohl entgegen den sonsti-
gen Darstellungen in der bildenden Kunst nicht nur das Gesicht, sondern der ganze Körper ge-
zeigt wurde. Christus soll die Züge des Künstlers tragen. Es könnte eine Assoziation zu Mi-
chelangelos' "Jilngstem Gericht" in der Sixtinischen Kapelle sein, wo er sein Porträt in der
schlaffen Haut eines aus dem Höllengang Heraufgezogenen darstellt. Ebenso wie Michelange-
10 könnte Tübkes Verweis auf den eigenen Tod mit Gewissensqualen und Sinnverlusten in ei-
ner Zeit der Krise und des sich ankündigenden Regimeuntergangs in Verbindung gebracht
werden.

244
bediente Falle, in der schon einige Menschen verschiedener Stände, offen-
sichtlich zufrieden, gefangen sind und auf die weitere Menschen zugeflogen
kommen. Aus der Teufelsfalle wächst an einem Baumstamm ein riesiger
blauer Fisch, Sintflut und Weltuntergang ankündigend. Unter dem Fisch
liegt im Schnee ein weißes Ei, das die neue Zeit beherbergt. Da es auf Eis
gelegt ist, muss erst Tauwetter einsetzen, um es auszubrüten und zum Auf-
brechen zu bringen. Die einen Grossteil des Bildes einnehmende Tunnruine
zu Babel darüber soll die Vermessenheit und Überheblichkeit des Adels und
der Kirchenfiirsten darstellen, die sich Gott gleichstellten.
Plötzlich endet das Schneefeld und gibt die braune Erde frei. Das Tau-
wetter zeigt sich in einer großen Ansammlung vor einem Prediger (Thomas
Müntzer) zuhörender Menschen, die mit Verdruss im Gesicht der Anpran-
gerung des Alten folgen. Nicht mehr die Verfiihrung des Teufels hat jetzt
Gewalt über die Menschen und lockt sie blind in die Falle, sondern aufklä-
rendes Hinschauen bewirkt Veränderung und die Hoffnung auf ein besseres
Leben. Ein Wanderer am unteren Bildrand trägt den Bundschuh an der
Spitze des Stocks und verweist so auf den geheimen Bund der Bauern, die
sich zum Kampf entschlossen haben.
An die Szenen des Aufbruchs, der Aufklärung und Vorbereitung des
Aufruhrs schließt sich die riesige Schlachtenszene an, das eigentliche The-
ma des Bildes. Von allen Seiten rücken Bewaffnete heran und verschmelzen
auf dem Hausberg von Bad Frank:enhausen zu einem Knäuel von miteinan-
der kämpfenden Leibern, ohne dass man verschiedene Formationen unter-
scheiden könnte. Inmitten des Getümmels erblickt man Thomas Müntzer in
einen schwarzen Mantel gehüllt unter einem Regenbogen. Da von Thomas
Müntzer kein Porträt existiert, nach dessen Vorbild er gemalt werden könn-
te, gab Tübke ihm die Gesichtszüge seines eigenen Porträts.
Der Ausgang des Kampfes ist noch nicht vollkommen klar, doch die
hochgehaltene Fahne des Truchsess zeigt den nahen Sieg des Fürstenheeres
an. Im Gegensatz dazu hält Thomas Müntzer die Fahne mit dem Bundschuh
gesenkt in seiner Hand. Seine ganze Erscheinung vermittelt den Eindruck
von Traurigkeit und Verzicht, der zur Seite geneigte Kopf und die gleichzei-
tig auf die Schlacht als auch nach innen schauenden Augen besagen, dass er
um die Dinge weiß, besser weiß, als die, die sich in wilder Aktion schlagen.
Er ist der Vorausschauende, der Allwissende, zur Führung Prädestinierte.
Auffällig ist der Unterschied dieser Erscheinung zu dem Müntzer von Fried-
rich Wolf, der kraftstrotzend und bärbeißig seine Sache verteidigte. Dort war
nur stürmischer Drang, hier nachdenkliche Besonnenheit bis hin zu

245
schwännerischer Verlorenheit. Was Müntzer bei seiner Innenschau erbli-
cken könnte, suggeriert das lichte Blau am Horizont über dem Schlachtenge-
tümmel, in dem sich auch der Regenbogen verliert. Es ist die Zukunft, die
hinter Müntzer steht, als hätte sie ihn vorgeschickt als Vorbote einer kom-
menden Zeit.
Die Müntzergestalt Tübkes steht genau zwischen der von Friedrich Wolf
und detjenigen in dem fünfteiligen LuthertUm des DDR-Fernsehens, der
1983 ausgestrahlt wurde. Der Müntzer Anfang der 80er Jahre war ein ver-
träumter Jüngling mit hehren Ideen und wenig Sinn für Realität, der mehr
Schwäche als Stärke suggerierte. Der Tübke-Müntzer hingegen symbolisiert
Utopie, aber nicht Schwäche, er war kein Rationalist, aber Realist. Er war
nicht der, der sich im Machtkampf durchsetzte, doch er war detjenige, der
letztendlich siegte. Die eschatologische Botschaft in Tübkes Bild könnte
heißen: Jetzt sind wir die letzten, doch später werden wir die ersten sein!
In bedeutungsperspektivischer Absicht erscheint unterhalb von Müntzer
angeordnet eine Gruppe von wirkungsträchtigen Gestalten des 15. und 16.
Jahrhunderts, die, farblich weniger herausgehoben als Müntzer, um einen
Renaissancebrunnen versammelt sind (von links nach rechts: Hans Mut,
Melchior Rinck, Hans Sachs, Peter Vischer, Veit Stoss, Tilman Riemen-
schneider, Jörg Ratgeb, Albrecht Dürer, Martin Luther, Lucas Cranach,
Sebastian Brandt, Philipp Melanchton, Erasmus von Rotterdam, Ulrich van
Hutten, Nikolaus Kopemikus, Paracelsius, Christoph Kolumbus, Johannes
Gutenberg, Bartholomäus WeIser und Jacob Fugger). Sie alle standen für
den Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit. Aus der Mitte des Brunnens, vor
dem sie stehen, wächst ein Granatapfel als Symbol der Erneuerung.
Um ihn herum schwimmen sogenannten Lutherrosen, die Luther an ei-
nem Rosenbusch erblickte, als ihm auf einer Wanderschaft die Bedeutung
des Evangeliums klar wurde. Martin Luther wurde von Tübke unter den
Persönlichkeiten um den Brunnen in keiner Weise hervorgehoben, er schaut
zwischen Albrecht Dürer und Lucas Cranach in leichter SeitensteIlung halb
verdeckt aus der zweiten Reihe auf den Betrachter. Das kontradiktorische
Aufeinanderbezogensein zwischen Müntzer und Luther, das bis dahin üblich
war und auch weiterhin die Rezeption stark beeinflusste, wurde damit ent-
schärft, was gleichzeitig den Effekt hatte, die Rolle Luthers herabzusetzen
und die Müntzers aufzuwerten. In der Bildkomposition standen sich somit
keine gleichwertigen Gegner gegenüber. Der eine dominiert als Einzelfigur
das Zentrum des Hauptgeschehens, der andere wurde in der unteren Position
als Teil einer ziemlich großen Gruppe angeordnet.

246
Über Thomas Müntzer im oberen Teil des Regenbogens befindet sich
der herabstürzende Ikarus innerhalb eines Feuerrings. Dies ist ein weiteres
Indiz für den nahen Untergang des Bauernheeres und ihres Führers. Sie
hatten sich der Sonne zu nahe gewagt und mussten nun stürzen. Welche
Vorstellung Tübke mit der Sonne verband, bleibt ein Rätsel. Es wäre mög-
lich, dass Tübke, entsprechend der These von der zu ftühen Revolution,
unter der Sonne den Sozialismus verstanden hatte, der von den Bauern zu
zeitig ersehnt wurde. Die gesellschaftlichen Verhältnisse wären der Marx-
schen Formationstheorie zufolge im 16. Jahrhundert nicht reif dafür gewe-
sen, denn erst die an der Macht befindliche Arbeiterklasse könnte den Bau-
ern die wahre Freiheit bringen.
Im Rahmen des Möglichen läge auch, dass die Figur des Ikarus vom
Künstler mit Illusion bis hin zu vermessener Überschwenglichkeit identifi-
ziert wurde und eine geschichtsrealistische Auffassung verkörperte, die sich
der positivistischen Geschichtsauffassung der Parteiführung entgegenstellte.
Eventuell bewegte sich 'Tübke aber auch in dem Ideenkreis von Hermann
Hesse, der meinte, dass die "wahren Eliten" niemals an die Macht kämen
und oftmals zum Untergang verurteilt seien. So könnte die Sonne, die bei zu
geringer Distanz vernichtet, für den Künstler die zu große Nähe zur Wahr-
heit und größten Güte, die bis zur Selbstaufgabe führt, darstellen. Viele
Intellektuelle in der DDR waren von derartigen romantisch-depressiven
Implikationen beeinflusst.
Rechts endet der Regenbogen in einer düsteren fast monochromen das
Jüngste Gericht darstellenden Welt. Am unteren Abschluss sitzt eine Justitia
auf der Weltkugel. Ihre Waage neigt sich in Richtung eines auf dem Boden
knienden Bauern. Von da an schließen sich Darstellungen des dörflichen
Lebens an, die das schwere Los der Bauern, besonders die Pein der Bestra-
fungen, vorführen. Die im Hintergrund auf offenem Meer fahrenden Schiffe
und die exotischen Zelte stellen die neuzeitlichen Entdeckungsreisen und
koloniale Expansion in dieser Zeit dar. Im Bereich des rechten Regenboge-
nendes entsteht durch die Anordnung der Figurengruppen in Kreuzform ein
Kreuzungspunkt, in dessen Mitte Pilatus auftaucht. Er wäscht seine Hände
in Unschuld. Er hatte im Namen des Gesetzes gehandelt und sich doch
schuldig gemacht.
Die Marterszenen unterhalb von Pilatus weisen wieder auf das grausame
Los der Bauern hin, die gleich neben diesen Szenen den Feudalherren ihre
Abgaben entrichten. Darüber fällt der Blick in einen Innenhof, in dem die
Reichen ein brausendes Fest abhalten. Auffallend sind die edlen Stoffe,

247
reichen Speisen und steifen Gesten. Von beiden Seiten wird die Szene von
Bauernansammlungen begrenzt. Auf der linken Seite begehren sie Einlass,
werden aber hochnäsig abgewiesen. Rechts davon bewegt sich ein Zug fei-
ernder Bauern, tanzend und lärmend in einem starken Gegensatz zum "vor-
nehmen Gebaren der Feudalen" ,507 in die Bildmitte hinein. Darüber wird
dem Betrachter der Blick in einen Werkstattraum geöffnet, der Geräte und
Werkzeuge des 15. und 16. Jahrhunderts, wie Druckmaschinen und kompli-
zierte Räderwerke der Bergbautechnik, ansichtig werden lässt.
Eine weitere Bildhälfte zeigt wiederum in allegorischen Figuren und
Bildern das Hin und Her der Menschen zwischen Hoffnung und Enttäu-
schung, zwischen Aufklärung und Verfiihrung, zwischen Fortschritt und
Rückschritt, bis schließlich wieder die Eiszeit auftaucht, in der blinder
Glaube, Verfiihrung, Elend und Hochmut zur Blüte gelangen. Wieder kom-
men das Sehen und Verstehen, der Aufbruch zum Widerstand, der Kampf,
die Niederlage zum Ausdruck. Das Unendlichband des Gemäldes, das In-
einanderlaufen der Ereignisse ohne Ende und Anfang impliziert Kreisläu-
figkeit von Geschichte. Es gibt ein Auf und Ab, aber kein Aufwärtsstreben,
kein Niederes und Höheres. Das Gemälde lädt geradezu dazu ein, eine be-
liebige Zeit, und wenn es die heutige wäre, über die Schablone des Bildes zu
legen und dessen Muster hindurchwirken zu lassen wie durch einen durch-
sichtigen feinen Stoff. Diese Implikation widerspricht dem marxistischen
Geschichtsverständnis in dem Masse, als dass sich hier Geschichte nicht
vom Niederen zum Höheren bewegt.
Außerdem stellt Tübke soziale Elemente, den Kampf der Klassen und
ökonomische Verhältnisse nicht, wie in den mythenpolitischen Darstellun-
gen der DDR in den 70er Jahren üblich, über die geschichtsbildende Wirk-
samkeit des ideellen Aspekts. Im Gegenteil: Tübke misst den ideellen Hal-
tungen, Einstellungen und Überzeugungen, wie es die vom Teufel bediente
Menschenfalle, die Aufklärung durch Thomas Müntzer oder die Versamm-
lung der Gelehrten um den Brunnen der Erkenntnis als zentrale Motive
beweisen, eine konstitutive Bedeutung für den Fortgang der Geschichte bei.
In dieser Hinsicht weicht er extrem von den ursprünglichen Motivationen
und der vorgegebenen Konzeption der Partei- und Staatsführung ab.
Die Rezeptionsweise von Tübkes "frühbürgerlicher Revolution" wird
dem konzeptionellen Entwurf nur bedingt gerecht, nach dem das Panorama
davon künden soll, "wie die Revolutionäre von 1524/25 selbstlos und opfer-

507 Kober, Karl Max: Werner Tübke. Das Monumentalbild Frankenhausen. Dresden 1989: 14.

248
mütig um das große Ziel der Veränderung der Gesellschaft im Interesse des
Volkes kämpften."S08 Das Monumentalbild sollte die mythische Narration
über die frühbürgerliche Revolution mit der Schwerpunktsetzung auf die
soziale und revolutionäre Linie fortsetzen. Auf der anderen Seite wurde der
Bauernkrieg als Teil der mit großer historischer Kenntnis dargestellten
Ereignisse des 15. und 16. Jahrhunderts begriffen. Er sollte allerdings nicht
in der Siegespose der Denk- und Mahnmale des antifaschistischen Wider-
standes der 50er Jahre dargestellt werden. Der bewaffnete Kampf der Bau-
ern endete in einer katastrophalen Niederlage. Diese Niederlage sollte durch
Tübke in einer derartigen Weise gestaltet werden, dass sie, vermittelt über
die Gestalt Thomas Müntzers, der als weiser Vorausschauender das Bevor-
stehende zu kennen schien, einen Opfergang assoziierte.
Es war beabsichtigt, dass die Opfersemantik von Bad Frankenhausen
sowohl Fortschreibung als auch Modifizierung derjenigen von Buchenwald,
Sachsenhausen und Ravensbrück sein sollte. Entsprechend dem narrativen
Kern des Mythos von Bauernkrieg und Reformation blieb die Botschaft die
gleiche. Die Vorväter mussten große Niederlagen und Schmach erleiden,
bezahlten den Kampf für eine "gerechte Zukunft" mit ihrem Leben. Doch
dieses Opfer war nicht umsonst gewesen, denn es ebnete denen, die folgten,
den Weg in eine Zukunft, die sich schließlich und letztlich im Sozialismus
erfiillt hatte. In diesem Sinne wurde etwas gegeben, um etwas zu erhalten.
Die kämpfenden Bauern hatten ihr Leben gegeben, und die Heutigen emp-
fingen die späten Früchte dieser Tat. Auf diese Weise sollte ein ideeller
Bund mit den Opfern, der heilig war und nach Verehrung, Nachfolge und
Gefolgschaft verlangte, entstehen. Die Partei- und Staatsfiihrung übernahm
die Rolle des Sachwalters und Mittlers in diesem Bund, was die Assoziation
implizierte, wer sich gegen die Mittler wandte, wendet sich auch gegen den
Ursprung und gegen die Opfer. Zumindest war in den Opferduktus diese
Seite einer inneren Unterwerfungsethik gegenüber der Partei- und Staatsfiih-
rung immer mit eingebunden.
Die Opfer-Sprache schwang bei Tübke im Gemälde tatsächlich immer
mit. Jedoch kristallisierte sich ein ganz anderer Opfertypus heraus, als ihn
sich die Partei- und Staatsfiihrung vorgestellt und intendiert hatte. Opfer
sind bei Tübke immer die Armen und diejenigen, die eine Vision von einer
lichten und gerechten Zukunft hatten, aber dort niemals anlangten. Eigent-

508 Infonnation über den Stand der Durchfiihrung des Beschlusses des Sekretariats des ZK vom 5.
März 1974 (11389, 23/74) zur "Errichtung eines Panoramas auf dem Schlachtberg ... In :
SAPMOD DR 1 7682 a.a.O.

249
lich forderte solch ein Schicksal nicht zur Nachfolge, sondern eher zu einem
abwägenden Nachdenken heraus. Dieses Nachdenken war auf innere Läute-
rung, auf das Gewissen des Individuums gerichtet, sich nicht schuldig zu
machen. Das Gemälde implizierte eher eine generell herrschaftsfeindliche
Einstellung, unabhängig von der Gesellschaftsordnung. Eine ideale Ord-
nung existiert nur in der Vorstellung, wie dies am linken Ende des Regen-
bogens in der himmlischen Landschaft zu sehen ist, auch wenn deren Reali-
sierung nicht ganz aufgegeben wurde, da diese Landschaft nicht im Himmel,
sondern nur in der Feme auf der Erde liegt und nicht ganz unerreichbar
erscheint. Da der einzige stabile Punkt im Bild der Brunnen der Weisheit,
umgeben von den Gelehrten der Zeit, ist, so weist dies auch auf die ideelle
Botschaft des Bildes hin, in der Aufklärung und im Wissen den einzigen
Ausweg aus dem menschlichen Leiden zu finden.
Das Panoramabild ist im Stile des Historismus gemalt, d.h. Tübke pro-
duzierte nach der Methode der mittelalterlichen Lasurenmalerei. Seine Mal-
weise erinnert an ein Gemisch zwischen EI Greco und Albrecht Dürer, zwi-
schen der Malerei des deutschen Mittelalters und des Manierismus. 509 Das
Sujet selbst, das ja die Schlacht in Frankenhausen darstellt, unterscheidet
sich von den großen Schlachtengemälden des 18. und 19. Jahrhunderts, die
dazu dienten, martialische nationale Gefühle zu erwecken und die Be-
reitschaft zum Sterben fiir das Vaterland zu erzeugen. Auch wenn in der
ursprünglichen Konzeption genau dieser sensuelle Effekt erwartet wurde, so
hat Tübkes Schlachtenbild einen anderen Charakter. Ohne dass ein Tropfen
Blut fließt und ohne Heldenposen lässt es keine Faszination des Kampfes um
des Kampfes willen aufkommen, noch wirkt es grausam, abschreckend. Das
dominierende Gefühl könnte man mit dem Wort "Sinnlosigkeit" bezeich-
nen. Der historisierende Stil des Bildes entspricht dem Prinzip des "Gegen-
wärtigmachens" des damals Geschehenen, in einer Weise, die Aleida Ass-
mann als "Erweckensmetaphorik" der Erinnerung bezeichnen würde.
Dementsprechend interpretierte die DDR-Autorin Irma Emmrich die
Arbeit als "perspektivische Verlängerung des Vergangenen in das Heutige
und Zukünftige".5\O Es sollte nicht nur thematisch in die Vergangenheit
zurückgeführt werden, sondern auch über die Form. Tübke empfand sich

509 Wemer Tübke äusserte gegenüber Inna Emmrich: "Mir ist die Kunst Tintorettos, EI Grecos,
Veroneses so gegenwärtig, als seien diese Künstler meine Zeitgenossen. Ich male in meiner
Weise, weil ich so malen muss. Ich habe keine andere Möglichkeit" In: Emmrich, Inna: Wer-
ner Tübke. Schöpfertum und Erbe. Eine Studie zur Rezeption christlicher Bildvorstellungen
im Werk des Künstlers. Berlin 1976: 9.
510 ebenda.

250
mit anderen Künstlern des Mittelalters, wie Albrecht Dürer, in einer Schick-
salsgemeinschaft und verwendete somit auch deren Stil. Nicht nur Kreisläu-
figkeit in der Geschichte wurde inhaltlich im Panoramagemälde vorgeführt,
sondern auch im Durchleben einer künstlerischen Expression. Mit seinem
historisierenden Stil setzte sich Tübke gleichzeitig von anderen Formen der
Wandmalerei, die hauptsächlich im Stile des sozialistischen Realismus ge-
malt waren, ab. Schließlich ermöglichte es die verwendete mittelalterliche
Symbolik und christliche Ikonographie, die von einer Reihe orthodoxer
Parteifunktionäre nicht verstanden wurde, dass Tübke seine Intentionen
unerkannt unterbringen und weitergeben konnte. Durch die Methode der
Verwendung allegorischer Bilder und Metaphern des 16. Jahrhunderts be-
stand nun die Schwierigkeit des Werkes darin, dass die Menschen des 20.
Jahrhunderts das Bild nicht mehr verstanden. Erklärungen und Unterwei-
sungen wurden notwendig, die die Mythenwirksamkeit stark beeinträchtigte,
denn Rezeption und mythische Erzählung trafen so kaum noch zusammen.

7.2.3 Rezeption des Bauernkriegspanoramas

Die literarische Rezeption des Gemäldes in den 70er Jahren in der DDR
implementierte vorzugsweise den Opferduktus des Werkes oder las diesen
zumindest heraus. Irma Emmrich hob in ihrem Buch über Werner Tübke
von 1976 hervor,

die Figuren auf dem Bild "bekennen sich im Angesicht des Todes zu ihrer humanistischen
Überzeugung, der sie ihr Leben zum Opfer bringen.,,511

Diese Rezeptionsweise zielt auf die Verehrung der als Opfer des überle-
genen Heeres der Fürsten gefallenen Bauern ab, die sich zu einer "humanis-
tischen Überzeugung" bekennen. Das "Bekenntnis zum Humanismus" hatte
in der DDR einen hohen mythenbildenden Stellenwert, worunter aber all-
gemein nicht nur die Sympathie zur humanistischen Bewegung des 16.
Jahrhunderts verstanden wurde, sondern ganz allgemeine menschliche und
politische Werte, die wegen ihrer Beliebigkeit sehr instrumentell und prag-
matisch eingesetzt werden konnten, doch wenn sie verwendet wurden, den
absoluten Anspruch auf das Richtige erhoben. Beeindruckend war für die
intellektuelle Rezeption die methodische Orientierung an der Renaissance,
die von einer Reihe von Kunstwissenschaftlern nun in einen inhaltlichen

511 ebenda: 5.

251
Zusammenhang mit der sozialistischen Kunst gebracht wurde. 512 Irma
Emmrich schrieb dazu:

"Wenn wir das immer wieder zutage tretende starke Verhältnis sozialistischer Kunst und
ihres Kunstpublikums zur Renaissance und ihrem Ausstrahlungsbereich überprüfen, so
können wir die Art der Verpflichtung im Grundsätzlichen bestimmen." Weiter konstatierte
sie: "Traditionsbindungen im künstlerischen Schaffen sind demnach gesellschaftlich deter-
miniert.,,513

Der Stil des Künstlers wurde von Emmrich als gesellschaftliches Be-
kenntnis und als mit der sozialistischen Ordnung in Übereinstimmung be-
trachtet, auf deren Grundlage Renaissanceideale in den Sozialismus trans-
portiert und der Sozialismus als etwas Vergleichbares zum Umbruch der
Renaissance aufgefasst wurde. Allerdings stand hierbei vor allem die kultur-
historische Wende zur Neuzeit im Vordergrund, das Bekenntnis fiir die
soziale Revolution spielte dabei keine Rolle.
Eine Reihe bildender Künstler in der DDR standen dem historisierenden
Panoramagemälde, ausgehend von der Stilkritik und diese ins Inhaltliche
verlängernd, ablehnend gegenüber. Nicht dass das Panoramagemälde ein
Auftragswerk war, war der Punkt des Anstoßes, denn in der DDR war dies
die fast ausschließliche Ermöglichungsbedingung für künstlerisches Schaf-
fen überhaupt. Doch die herausgehobene Dimension des Auftrages und die
enge Verzahnung zwischen Kunstwerk und Parteiführung erschien vielen
von vornherein suspekt. Sie sahen in diesem Werk eine willige Vollstre-
ckung der Intentionen der politischen Elite, ihre Macht symbolisch zu festi-
gen und eine Instrumentalisierung mythischer Narration zum Selbstzweck
zu betreiben.
In diesem Sinne wurde auch die Wahl des Künstlers Werner Tübke be-
trachtet, der thematisch und methodisch für die Realisierung einer SED-
eigenen Geschichtspolitik besonders prädestiniert erschien. Denn dem Bau-
emkriegspanorama ging ein umfangreiches Werkschaffen voraus, das im-
mer wieder soziale Themen tangierte und so wie das Monumentalgemälde
" Arbeiterklasse und Intelligenz" auf der VII. Kunstausstellung stilistisch der
Repräsentationskunst vergangener Jahrhunderte nahe kam. In dieser Art

512 Inna Emmrich schrieb dazu: "Sein Verhältnis zur Kunst der Renaissance und des Manierismus
ist direkter und unmittelbar problembezogen. Die starke Affinität liegt in der charakteristi-
schen Struktur des Künstlers begründet." Und weiter: "Seine Orientierung an der Kunst ver-
gangener Epochen erscheint zugleich als souveränes Spiel mit vorgeformten gestalterischen
Möglichkeiten, Sujets und Motiven, die in einen neuen Bedeutungszusammenhang gestellt
werden und im Schaffensprozess eine neue Qualität erhalten." ebenda: 12.
513 ebenda: 11.

252
ließen sich Herrscher porträtieren und ihren Ruhm in großen Schlachtenbil-
dern festhalten, so schmückten Könige und Fürsten ihre Schlossgalerien und
bestückten ihre Schatzkammern.
Das vorsichtige Herantasten an eventuelle Kritik an der Fonnensprache
Tübkes durch den Kunsthistoriker Karl Max Kober in seinem 1989 über
Tübke veröffentlichtes Buch lässt den Widerstand in der KÜßstlerwelt der
DDR erahnen:

"leder, der um die Entwicklung der modernen Kunst auch nur ein wenig Bescheid weiß,
kennt die manchmal erbitterten Auseinandersetzungen um diese oder jene Ausdrucksform.
Sicher wird es auch über das Bild von Werner Tübke unterschiedliche Auffassungen ebenso
geben, wie es sie bereits von anderen Arbeiten des Künstlers gab. Wer genau hinsieht,
erkennt natürlich, wie sehr es sich bei dieser Malerei um eine Formensprache unserer Zeit
handelt. Dennoch können Vorbehalte bei dem einen oder anderen den Zugang zu ihr ver-
wehren, vielleicht weil ihn eine impressionistische, konstruktivistische oder abstrakte Aus-
drucksweise mehr überzeugt."S14

Auch wenn Kober Tübke "positive Gegenwärtigkeit" bescheinigte, so


bricht sich der kritische Druck der KÜßstlerschaft gegen diese Art der Male-
rei in seinen Worten Bahn und lässt die Schwere der nicht öffentlich gewor-
denen Auseinandersetzungen darum erahnen. An anderer Stelle warf selbst
Kober, der sich im großen ganzen als Anhänger von Tübke positionierte, die
Frage auf: "

Hat es in unseren Zeiten noch Sinn, ein kriegerisches Ereignis zu feiern und zudem noch
eines, bei dem diejenigen, denen unsere Sympathie gehört, eine grausam-blutige Niederlage
erlitten? Ist die sogenannten Schlachtenmalerei nicht längst a~etan und bedeutet ein sol-
cher Plan nicht von vornherein, die Geschichte zu verfliIschen?" S

Neben dem Infragestellen des Sujets und des Stils kommt in diesem Zi-
tat ein weiteres Rezeptionsproblem hinzu: Es ist die Frage nach der Mythi-
sierung von Niederlagen, nach dem Negativmythos. Die Semantik des Nega-
tivmythos, der in der DDR schon im Rahmen des Antifaschismus eine kon-
stitutive Rolle spielte, tauchte im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg nun
wieder auf und implizierte den Imperativ der Gefolgschaft, der der Opfer-
rethorik folgen musste.
Offensichtlich unterlag der Kunstkritiker Kober nicht diesem Opfer-
Gefolgschafts-Verständnis, sondern sah in der Verherrlichung einer Nieder-
lage eher etwas Abstoßendes. Es kann unterstellt werden, dass die Art der

514 Kober, Karl Max: WernerTübke. Aa.O.: 9.


515 ebenda: 5.

253
Mythisierung mit Hilfe eines Opferrekurses für modeme und dynamische
Gesellschaften, wie sie die DDR im zunehmenden Masse auch darstellte,
nicht mehr annehmbar war. Das, was einige Intellektuelle wie Kober gegen
Ende der DDR aussprachen, hatte unter der Bevölkerung schon längere Zeit
Verbreitung gefunden, sie waren für Opfer, die aus den Niederlagen geboren
wurden, nicht mehr bereit. Hieran wird deutlich, welches Verharrungspoten-
tial die Partei- und Staatsführung in einer Gesellschaft darstellte, die sich
trotz ihrer Herrschaft, und von dieser unbemerkt, dynamisiert und moderni-
siert hatte. Allerdings verwehrte die tief sitzende Aversion gegen die in der
DDR abgeforderte Opfersemantik den Zugang zum Gemälde und konnte
den Unterschied zwischen der Opferintention des Künstlers und der offiziell
praktizierten und abgeforderten nicht erkennen.
Wesentlich für die Rezeption erschien weiterhin ein latenter Pazifismus,
der dem Kober-Zitat zugrunde lag und der für die Einstellung zu Bauern-
krieg und Reformation von Seiten großer Teile der Bevölkerung, besonders
aber unter den Künstlern und der geistigen Elite überhaupt Bedeutung hatte.
Dieser Pazifismus, der besonders im Zusammenhang mit dem Lutherjahr
1983 an die Oberfläche kam, war zur Zeit der Entstehung des Tübke-Bildes,
der beginnenden Entspannungsphase in den Beziehungen der Großmächte
und einem weit verbreiteten Überdruss am Kalten Krieg geschuldet. Doch
. standen für die Bevölkerung der DDR und viele Intellektuelle nicht nur die
Friedensinitiativen der sozialistischen Regierungen zur Debatte, sondern vor
allem die inneren Menschenrechtsfragen und die zunehmende Militarisie-
rung der Gesellschaft (Einführung des Wehrkundeunterrichts). Gegenüber
allen Traditionen, die mit militärischen und gewaltsamen Ereignissen der
Geschichte in Verbindung standen und den politischen Mythos revolutions-
theoretisch begründeten, entwickelte sich eine tiefe Aversion.
Abgesehen von der distanzierten Haltung großer Teile der Intellektuel-
len zum Panorama, insbesondere der bildenden Künstler der DDR, war die
Einstellung der Bevölkerung von Bedeutung. Es kann konstatiert werden,
dass es unter den Menschen, die im Umland des Panoramas lebten, eine
relativ große Abneigung gegen das Megaprojekt gegeben hat, die besonders
in der Anprangerung der Privilegien, die die Partei- und Staatsführung Tüb-
ke zukommen ließ, zum Ausdruck kam. Im Grunde waren diese Unmutsbe-
kundungen aber in erster Linie Unmutsbekundungen gegen die Politik der
Regierung und die Verweigerung, sich auf ihre Sinn- und Rechtfertigungs-
geschichten einzulassen, die sich nun anband eines konkreten Gegenstandes
entladen und entäußern konnten. Die Namen, die die Bevölkerung der Ge-

254
denkstätte verlieh, wie "Elefantenklo" oder "Tübkeum" legten Zeugnis von
dieser Haltung ab.
Selbst unter den Vertretern der Staats- und Parteiführung entwickelten
sich gegenüber dem Megaprojekt Abneigungen, die sich besonders auf die
Bevorzugung von Werner Tübke als "Hofmaler" richteten und so gar nicht
mit einer von vielen SED-Mitgliedern noch vertretenen proletarischen, ega-
litären Moral übereinstimmten. Ihnen erschien die Bevorzugung des Künst-
lers als unangemessen und selbst die in der DDR übliche pragmatische Be-
gründung, dass die besten Künstler in der DDR gehalten werden müssten
und nicht dem "Klassenfeind" überlassen werden dürften, erschien vielen
nicht schlüssig. Das, was Horst Müller in seinem Brief an den Kulturminis-
ter Hans-Jochen Hoffmann schrieb, wiederholte sich in anderen Schreiben
an den Minister und kann als relativ weit verbreitete Meinung unter vielen
Funktionären in den 70er Jahren in der DDR betrachtet werden. 516
Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist ein Brief eines Arbeiters
aus Görlitz an Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann. Er stellte auf einfa-
che Weise den Widerspruch zwischen dem Größenwahn der rituellen und
symbolischen Feierung der DDR und der tatsächlichen Größe und Bedeu-
tung des Landes dar, indem er schreibt:

"Ich bin nur ein einfacher Arbeiter, aber vielleicht einer der die Augen zum sehen und die
Ohren zum hören hat. Und einen munt der sagt was er denkt ...Weil wir die Größten sein
sollen wird so ein Wahnsinnsobjekt gemacht und keiner wird gefragt, ob er auch der größte
sein will und vielleicht noch auf dem Bild erscheinen ... Wir sind ein Sozialistisches Land
und brauchen keine Pilgerstätte wie in Jerusalem. Das ist was fllr Gläubige und die sollen es
nur bauen wenn sie es brauchen, aber nicht auf unsere Kosten. Aber bis jetzt ist so etwas
immer zu Lasten des kleinen Mannes gegangen, der davon nie etwas gehabt hat. ,,517

In seiner Distanznahme grenzt sich der Briefschreiber vom Glauben ab,


doch im Grunde geht es bei ihm nicht um den Glauben an und für sich,
sondern um einen bestimmten Glauben. Die eigentliche Basis dieser Hal-
tung, die hier atheistisch begründet wird, ist die Distanzierung von den
Herrschenden, die noch an die einmal proklamierten Geschichten glauben,
ohne zu fragen, ob diese noch vom Volk geglaubt würden. Nicht der Stolz
auf die Nachfolge des Bauernkrieges in der DDR und auf die Heiligungsleis-

516 Horst Müller ist ein Beispiel filr diesen Unmut. Er schrieb mehrere Briefe gegen das Gemälde
und die Bevorzugung des Künstlers durch die Partei- und Staatsfilhrung der DDR. Horst Mül-
ler war von 1974 bis 1986 Direktor der Gedenkstätte in Frankenhausen gewesen und inner-
halb dieser Zeit auch Sonderbeauftragter des Ministeriums filr Kultur der DDR.
517 Brief von Martin Noack an Kulturminister Hans-Joachim Hoffinann vom 22.11.1989. In:
Bundesarchiv, Abteilung Potsdam DRl/7671.

255
tung der Bauern prägen die Gefühle der Bevölkerung gegenüber dem Pano-
rama, sondern eher der Schrecken vor der Größe des Projekts, das als
Machtexposition der Regierenden und für das eigene Leben als fremd und
sogar bedrohlich erfahren wird. Es sind die Geschichten der Herrschenden,
die Bilder der Herrschenden und die Gebäude der Herrschenden, die nichts
mit der persönlichen Identität zu tun haben. Der "kleine Mann" fühlte sich
betrogen: Ursprünglich wurde proklamiert, alles zu seinen Gunsten zu tun,
mehr noch, dass er herrschen solle in dem sozialistischen Staat. Nun wird er
nicht gefragt und die Selbstfeierung der Elite geht auf seine Kosten. Wenn
man die Blumenbergsche Auffassung vom Mythos zugrunde legt, nach der
nur das Mythos ist, was Narration und Rezeption in Eins laufen lässt, dann
hat die Haltung des Briefschreibers nichts mehr mit Mythos zu tun.
Werner Tübke erhielt drei Nationalpreise und 1989 den Karl-Marx-
Orden. Das Denkmal wurde 1987 fertiggestellt und im September 1989 der
Öffentlichkeit zum Müntzerjahr gegen Ende der DDR übergeben. Durch
seine lange Fertigstellungszeit überdauerte das Panorama entscheidende
Einschnitte im Mythensystem der DDR überhaupt und im Mythos von Bau-
emkrieg und Reformation im speziellen. Als die Partei- und Staatsführung
die Konzeption zum Panorama beschloss, war der sozial determinierte My-
thos von Bauemkrieg und Reformation mit gänzlich anderen Implikationen
verbunden, als zur Zeit der Eröffnung der Gedenkstätte, als sich tiefgreifen-
de politische Veränderungen mitsamt einer intensiven Arbeit am politischen
Mythos in der DDR vollzogen hatten, die nun das Bauemkriegspanorama
als ein Denkmal eines Denkmals erscheinen ließen, denn Denkmal und
Mythos konnten nicht mehr zueinander finden. Das Gemälde wurde von der
Geschichte eingeholt, obwohl es zuvor die Absichten der Partei- und Staats-
führung überholt erscheinen ließ und sich in eine kritische Distanz dazu
begeben hatte.

256
8. Den Mythos zu Ende bringen

8.1 Der kurze Aufstieg Luthers zur mythischen Hauptjigur der DDR

Die Einschnitte im Mythensystem der DDR bezogen sich hauptsächlich auf


die Lutherehrung, in der Martin Luther zur Hauptfigur mythischer Identität
avancierte und Thomas Müntzer zur Nebenfigur degradiert wurde, indem
der Bauernkrieg im Sinne des späten Engels zu einer Episode und die Re-
formation wirkungsgeschichtlich zum Progressivum und Kontinuum erklärt
wurden, deren Erbe die DDR-Nation angetreten hatte. Nachdem das Hone-
cker-System immer mehr erstarrte, dynamische Ansätze zurückgegangen
waren und die mit dem Regierungswechsel verbundenen Hoffnungen in arge
Enttäuschung umschlugen, griff die DDR-Führung zu einem Trick, mit dem
sie glaubte, den Vertrauens- und Identitätsschwund überwinden zu können.
Sie wandelte den auf überwiegend soziale und revolutionäre Ziele rekurrie-
renden politischen Mythos in einen vorrangig nationalen um, der aber nicht
wie in den 50er und 60er Jahren auf ganz Deutschland abzielte, sondern
einzig und allein auf die DDR.
Mit dieser mythenpolitischen Umorientierung trug die SED-Führung
der schwindenden Integrationskraft des wichtigsten Gründungsmythos der
DDR, dem Antifaschismus, und aller mit diesem verbundenen Additionsmy-
then Rechnung. Die bisherige Betonung obrigkeitsfeindlicher klassenkämp-
ferischer Positionen barg die Gefahr in sich, dass sich diese nicht nur nach
außen gegen den sogenannten Imperialismus und die Bundesrepublik, son-
dern auch nach innen gegen die eigene Herrschaft hätten richten können.
Ökonomische Verfallserscheinungen und schwindender Glaube an das eige-
ne System sollten nun durch eine neue Aufgabe - die Schaffung einer eige-
nen Nation - aufgefangen werden. Diese eigene Nation wurde als "das Er-
gebnis des jahrelangen Ringens aller progressiven Kräfte des deutschen
Volkes für den gesellschaftlichen Fortschritt" verstanden. Und all die An-
sammlung von Progressivem im historischen Schlepptau der DDR gehörte
zu "ihren unverzichtbaren, die nationale Identität prägenden Traditionen",
wie es in den "Thesen über Martin Luther zum 500. Geburtstag" dargelegt
wurde. 518

518 Einleitung zu den 'Thesen über Martin Luther. Zum 500. Geburtstag." In: Einheit 198119:
890.

257
Die Inanspruchnahme aller progressiven Traditionenfür die DDR stellte
nichts Neues dar, da sie von Beginn an zum festen mythenpolitischen Reper-
toire gehörte. Doch die Einbeziehung Luthers in den Reigen der besonders
Ausgezeichneten war neu. Karl Marx konnte nun nicht mehr die alles über-
ragende Hauptperson der progressiven Traditionen der DDR sein. Er war
zusammen mit dem Bedeutungsverlust des Gründungsmythos vom Antifa-
schismus und der Nachfolge der deutschen Arbeiterbewegung verschlissen.
Die Allgegenwart des Marxismus als Maßstab :für staatliche Loyalität ließ
eine gefühlsmäßige Anteilnahme erstarren und machte destruktiven Ermü-
dungserscheinungen Platz. Das Dogma hatte den Mythos verschlungen und
eine breite Glorifizierung von Karl Marx hätte eher zur Desintegration als
zur Integration der Gesellschaft beigetragen. Die mythenpolitische Wende
war auch den Intentionen der Aussöhnung mit der evangelischen Kirche
und der symbolischen Konkurrenz über das historische Erbe mit der Bun-
desrepublik geschuldet. Die SED-Führung gab unmissverständlich zu ver-
stehen, dass solche Leute wie Luther ihr gehörten.
Müntzer war gut :für den Anfang gewesen, :für die Phase der radikalen
Veränderungen, die Begründungfür die Verstaatlichung der Wirtschaft,
besonders der Kollektivierung des Bodens, und natürlich die Rechtfertigung
der Aufrüstung. Auch bei der Abgrenzung Honeckers gegen Ulbricht war
die Rückkehr zu den revolutionären Wurzeln ein wichtiges Argument gewe-
sen. Aber nun ließ sich Luther besser als Garant :für Herrschaftsstabilität
verwenden. In diesem Zusammenhang sind die Ansichten von Klaus Gysi,
dem damaligen Staatssekretär :für Kirchenfragen, nach einem Bericht von
Erich Selbmann aufschlussreich. Er soll gesagt haben:

"Wenn wir auch nichts von den großen Idealen Müntzers preisgeben, kommt es uns doch
darauf an, der Figur Luthers die richtige geschichtliche Bewertung zu geben und sie in die
Vorgeschichte der DDR einzuordnen, weil wir nur so erreichen, dass sich alle Klassen und
Schichten unseres Volkes unter Führung der Arbeiterklasse, mit unserem Staat als der
konsequentesten Fortsetzung alles Progressiven unserer Geschichte identifizieren."SI9

519 Selbmann, Erich, ehern. Leiter des Bereiches dramatische Kunst des DDR-Fernsehens, Inter-
view vom 18.03.1996. In: Dähn, Horst und Joachim Heise: Luther und die DDR. Berlin: edi-
tion ost 1996: 251.

258
Luther-Denkmal auf dem Marktplatz in Wittenberg

Auch sollte nach dem Gutachten des Staatssekretärs für Kirchenfragen


durch die Lutherehrung ein "Staats- und Heimatbewusstsein" erzeugt wer-
den. 520 So wurden für das LutheIjubiläum Thesen herausgebracht, zahlrei-
che Veranstaltungen durchgefiihrt, große wissenschaftliche Konferenzen
abgehalten und eine erhebliche Anzahl von Filmen gedreht, wovon der
Femsehfünfteiler über Luther der bedeutendste war.

520 Gutachten des Staatssekretärs rur Kirchenfragen, Klaus Gysi, zum Drehbuch "Martin Luther"
(Teil I-IV) vom 17.12.1981 In: Bundesarchiv P DO 4, Bd. 453.

259
Es gab noch einen weiteren wesentlichen Punkt der symbolpolitischen
Intentionen, die die SED mit dem Lutherjahr verfolgte. Es ging um außen-
politische Zielsetzungen, die unter der Honeckerregierung eine gehörige
Bedeutungsaufwertung erfahren hatten. Das, was innenpolitisch immer
mehr aus den Händen glitt, sollte außenpolitisch kompensiert werden. Wenn
sich die Legitimisierung der Partei- und Staatsführung mit erheblichen Loy-
alitätsproblemen herumzuschlagen hatte, so konnten diese Schwierigkeiten
durch internationale Reputation vermindert werden. 1996 äußerte der dama-
lige Leiter des OrganisationsbÜfos des Luther-Komitees Siegfried Rakotz
nach den Absichten des Lutherjubiläums befragt:

"Nach meiner Erinnerung ging es vor allem um die internationale Bedeutung dieser Würdi-
gung Luthers. Beim Empfang nach dem Festakt auf der Wartburg äußerten viele ökumeni-
sche Gäste die Meinung, dass das Experiment einer vertrauensvollen Zusammenarbeit
zwischen Staat und Kirche, wie es im Zusammenhang mit der Lutherehrung erfolgreich
praktiziert wurde, auch ein tragmhiges Modell in anderen sozialistischen Ländern sein
könnte.,,521 Und weiter heißt es: "Das Ziel war, möglichst hochrangige Vertreter aus der
ganzen Welt einzuladen, vor allem aus protestantisch geprägten Ländern, also aus Skandi-
navien, Schweiz, aber auch aus den USA und Kanada, wo es eine verhältnismäßig große
Zahl von Lutheranern gibt. Auch Gäste aus Afrika und Asien standen auf der Gästeliste.,,522

In Fortführung von noch aus der Ulbricht-Ära stammenden außenpoliti-


schen Minderwertigkeitsgefühlen und der beständigen Begierde nach inter-
nationaler völkerrechtlicher Anerkennung sollte das Lutherjahr neben dem
Legitimitätszuwachs im Inneren vor allem als Katalysator für eine internati-
onale Aufwertung dienen. Hauptaufgabe war die Verbesserung der Bezie-
hungen zu den westlichen Industrieländern, doch auch als Vorbild für da-
malige sozialistische Staaten war es gedacht, so dass die DDR als eine Art
geistiger Vorreiter der "sozialistischen Staatengemeinschaft" auftreten
konnte.
Das Lutherjahr sollte auch zu einer Verbesserung der deutsch-deutschen
Beziehungen beitragen, zumindest eine Art Vorbereitung der westdeutschen
Öffentlichkeit auf den schon lange erwünschten Besuch Erich Honeckers
sein. Der Partei- und Staatsführer wollte sich als eine moderate und toleran-
te Persönlichkeit offerieren und bei der Bevölkerung und den Politikern
sympathisch erscheinen. Gleichzeitig spielten die alten moralischen Überle-
genheitsgefühle gegenüber der Bundesrepublik eine Rolle. Das DDR-
Lutherjahr war eben besser als das bundesdeutsche. Dazu äußerte Rakotz:

521 Rakotz, Siegfried: Interview vom 22.07.1996. In: Dähn, Horst und Joachim Heise: Luther und
die DDR. .. a.a.O.: 227.
522 ebenda: 229.

260
"Hinter vorgehaltener Hand sagten uns viele, - das flillt mir dabei auch ein - dass die Lu-
therehrung in der BRD mit ihrem Höhepunkt in Worms einem Vergleich mit der Ehrung in
der DDR nicht standhalten würde, da er nur einen gezielten Personenkreis erfasse und etwas
elitär sei. ,,523

An den Feierlichkeiten des Jubiläums nahmen eine Reihe offizieller


Vertreter der Bundesrepublik teil, so der damalige regierende Bürgenneister
von Westberlin Richard von Weizsäcker oder der designierte Ministerpräsi-
dent Johannes Rau. Auch wenn diese Gäste nicht als Staatsvertreter, son-
dern in der Eigenschaft als Mitglieder kirchlicher Gremien kamen, so konn-
te sich die DDR in erster Linie als Staat mit seinem Luther-Mythos und
seiner moderaten Kirchenpolitik präsentieren und erhoffte sich auf diesem
Wege als Staat Anerkennung und Belohnung durch außenpolitische Annä-
herung. Entsprechend Rakotz war

"die Martin-Luther-Ehrung ... sicher in diesem Kontext auch ein Schritt, die bundesdeut-
sche Öffentlichkeit auf einen Besuch Honeckers vorzubereiten.,,524

8.2 Das Martin-Luther-Komitee der DDR

1980 wurde das staatliche "Martin-Luther-Komitee der DDR" zur Vorberei-


tung des Jubiläums konstituiert, dessen Vorsitzender Erich Honecker wurde.
Durch die Kombination verschiedener staatlicher und Parteiinstitutionen im
Rahmen der Leitung des Komitees wie des Generalsekretärs der SED mit
dem Vorsitzenden der eDU und Vertretern des Staatsrates und mit dem
Vertreter des Kulturministeriums war eine Personalunion zwischen den
Kommandozentralen der zentralistisch organisierten Elite der DDR gege-
ben, auch wenn das Komitee die adjektivischen Bezeichnungen "unabhän-
gig" und "staatlich" erhielt. 525 Außerdem musste der Kulturminister der
DDR Hans-Joachim Hoffmann, dem Sekretariat des ZK der SED die Liste
der Mitglieder des Lutherkomitees zur Genehmigung vorlegen. 526 So wurde
das Lutherkomitee ein Instrument des mythenpolitischen Monopols der
politischen Elite der DDR und erlangte symbolische Definitionsmacht.

523 ebenda: 227.


524 ebenda: 228.
525 Weitere Funktionen des Komitees neben den Vorsitzenden: Stellvertretender Vorsitzender war
Gerald Götting, Vorsitzender der CDU und Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden. Die
Funktion des Sekretärs des Komitees übte Kurt Löffler, Staatssekretär im Ministerium rur Kul-
tur, aus.
526 Rakotz, Siegfried, Leiter des Organisationsbüros des Lutherkomitees.

261
Das Komitee richtete eine Anzahl von Arbeitsgruppen ein, die entweder
vom Komitee geleitet wurden, oder in denen ein Mitglied des Komitees
mitarbeitete. Die Zentrale Arbeitsgruppe des Komitees koordinierte die
vielfaItigen Aktivitäten. Leiter war der Staatssekretär Kurt Löfiler und Sek-
retär war Siegfried Rakotz. In einem Interview stellte Rakotz die spezielle
Rolle dieser Arbeitsgruppe heraus:

"Hier war die Arbeitsebene aller Bereiche vertreten, also die Macher, die auch Entschei-
dungsbefugnis hatten.,,527

Diese Entscheidungsbefugnis konnte sich allerdings nur im Rahmen der


bereits genannten Machtkonstellationen bewegen, die durch die staatliche
und parteiliche Funktionsträgerschaft in Führungsgremien beider Institutio-
nen von vornherein begrenzt blieb. Die Zentrale Arbeitsgruppe bildete wei-
tere Arbeitsgruppen wie diejenige für den Festakt des Martin-Luther-
Komitees der DDR, eine für Einladungspolitik, eine für Auslandspropagan-
da und Information, eine für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, eine für "Vi-
suelle Gestaltung und Sichtagitation" und sogar eine eigene Arbeitsgruppe
für Souvenirs. 528
Vertreter der Zentralen Arbeitsgruppe arbeiteten in folgenden Arbeits-
gruppen anderer Institutionen mit: "Protokoll" des Staatsrates, "Medienpoli-
tik" beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, "Kirchentage"
beim Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, "Tourismus" beim Mi-
nisterium für Verkehrswesen, "Zentrale Ausstellungen" und "Wissenschaft-
liche Konferenzen". Die Zentrale Arbeitsgruppe war in den örtlichen
Arbeitsgruppen der Lutherstiftungen in Wittenberg, Eisleben und Eisenach
vertreten. Auch wenn Rakotz die Aufgaben der Zentralen Arbeitsgruppe
hauptsächlich darin sah, "zu initiieren, zu koordinieren, zu kontrollieren
und zu helfen", 529 so war die zentrale Leitung des Jubiläums Ausdruck einer
Einbahnstrasse der mythischen Erzählung über Martin Luther, der die bis-
herigen Auffassungen zu Luther und daraus erwachsende oppositionelle
Haltungen verschluckte.
Im Mittelpunkt der ersten Phase der Vorbereitung des Lutherjahres
durch das Komitee stand eine Koordinierung der Ehrung mit der Kirche. Es
fanden Vorgespräche mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi
statt, der die Umsetzung einer der Hauptzielstellungen des Jubiläums, näm-

527 Rakotz, Siegfried: Interview vom 22.07.1996. In: Dähn, Horst und Joachim Heise: Luther und
die DDR. .. a.a.O.: 225.
528 ebenda.
529 ebenda: 226.

262
lich die Verbesserung des Verhältnisses zur Kirche, leiten sollte. 530 Die
Vorgespräche über die Lutherehrung begannen am 06.03.1978. Themen
waren die Thesen zu Martin Luther, der Entwurf eines Maßnahmeplanes zu
den Lutherehrungen und die Vorbereitung der konstituierenden Sitzung des
Martin-Luther-Komitees. 531
In der Arbeitsphase nach der Gründung des Komitees, der sogenannten
tätigen Phase, war das Komitee der Hauptkoordinator für alle Veranstaltun-
gen zum Jubiläum. Als ideologische Richtlinien galten die Thesen zu Mar-
tin Luther und die Rede Erlch Honeckers zur Gründung des Komitees.

8.3 Die programmatische mythenpolitische Wende in


der Honeckerrede zur Konstituierenden Sitzung
des Lutherkomitees 1980

In der Eröffnungsrede sprach Erlch Honecker von Luther als "einem der
größten Söhne des deutschen Volkes,,532 und "einem der bedeutendsten
Humanisten, deren Streben einer besseren Welt galt".533 Er erhob die
Lutherehrung im Rahmen der Pflege der Werte der National- und
Weltkultur zum "Verfassungsauftrag".534 Luther wurde als "Wegbereiter
jener Umwälzungen (betrachtet), mit denen die deutschen Staaten und
Europa in die Epoche des Verfalls des Feudalismus und der bürgerlichen
Revolutionen eintraten". 535 Und weiter hieß es:

530 An dem Gespräch nahmen teil: Staatssekretär Kurt Löffler, der Staatssekretär filr Kirchenfra-
gen Hans Steigewasser bzw. Klaus Gysi, sein Mitarbeiter Horst Dohle und die Historiker Ger-
hard Brendler, Adolf Laube, Günter Vogler. Aus: Dähn, Horst und Joachirn Heise: Luther und
die DDR. .. a.a.O.: 220.
531 ebenda: 221.
532 Honecker, Erich: Unsere Zeit verlangt Parteinahme filr Fortschritt, Vernunft und Menschlich-
keit. In: Martin Luther und seine Zeit. Konstituierung des Martin-Luther-Komitees der DDR
am 13. Juni 1980 in Berlin. Berlin: Aufbauverlag 1980: 10-18. Zitat von Seite 11. Weiter
heisst es: ''Unsere Deutsche Demokratische Republik und ihre Bürger würdigen seine Persön-
lichkeit. Sie würdigen die historische Leistung, die er durch die Einleitung der Refonnation,
welche eine bürgerliche Revolution darstellte, filr den gesellschaftlichen Fortschritt und die
Weltkultur vollbracht hat.".
533 ebenda.
534 Im ganzen Satz heisst es dazu: "In Übereinstimmung mit unserem Verfassungsauftrag, die
Werke unserer Nationalkultur und Weltkultur zu pflegen, erfolgt heute die Gründung des
Martin-Luther-Komitees der Deutschen Demokratischen Republik." ebenda.
535 ebenda: 12.

263
"Luther prägte die Leitideen des 16. Jahrhunderts in entscheidendem Masse. Ja, man darf
sagen, dass sein Einfluss auf die Entwicklung noch heute, an der Schwelle zum 21. Jahr-
hundert, unverkennbar ist." 536

Mit diesen Worten gestand der höchste Repräsentant eines Staates einer
einzelnen Person prägenden Einfluss für die eigene Gesellschaft zu, die zu
Beginn der DDR als für die deutsche Geschichte verhängnisvoll betrachtet,
wenn nicht gar als Verräter und Verderbnis charakterisiert wurde.
Die bisherige Verknüpfung des Lutherbildes mit der verachtungswürdi-
gen Eigenschaft der Feigheit und des Verrats wurde nun in ihr Gegenteil
verkehrt, indem betont wurde, dass Luther mit seinem Kampf, der unter den
Bedingungen der Kaiserlichen Feindschaft geführt werden musste, sogar
sein Leben aufs Spiel setzte. Das neue Mutzugeständnis an die Person Lu-
thers kulminierte in dem Satz Honeckers:

"Die Standhaftigkeit, die er nun bewies, blieb in den deutschen Landen Jahrhunderte unver-
gessen.,,537

Auch wurde in der Rede, nicht wie bis dahin, lediglich auf die Verdiens-
te Luthers bei der Schaffung einer einheitlichen deutschen Sprache hinge-
wiesen, sondern diese Verdienste in Umkehrung bisheriger Diktionen in ein
Verdienst fiir die deutsche Einheit übersetzt. Der vormalige Helfer der deut-
schen Zerrissenheit wurde jetzt zu einem Protagonisten der deutschen Ein-
heit. 538

Den Deutschen Bauernkrieg stellte Honecker als eine nichtintendierte


Folge der Lutherschen Reformation dar. Luthers Tragik bestünde darin, die
"gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit" nicht erkannt zu haben, doch nach der
"grausamen Niederschlagung" des Bauernkrieges setzte er sich fiir die Fort-
fiihrung der Reformation ein. 539 Bauernkrieg und Thomas Müntzer erschie-
nen seltsam verschwommen und wurden nur am Rande gestreift. Honecker
räumte ihnen zwar eine Spurenhinterlassenschaft ein, doch berief er sich
nicht auf sie als Vorgänger und Erbeträger der DDR.
Entgegen der bisherigen Verräterformel für die Person Martin Luthers,
die in die Richtung des Volksverrats und der Volksfeindlichkeit interpretiert
wurde, hob Honecker dessen "tiefe Volksverbundenheit" explizit hervor.
Auch der bisherige Vorwurf, Luther habe sich nicht sozial, sondern nur

536 ebenda.
537 ebenda: 13.
538 ebenda: 14.
539 ebenda.

264
theologisch engagiert, tauchte nicht mehr auf. Im Gegenteil, Luthers sozial-
politisches Engagement und Initiativen, wie Schulgründungen, Universitäts-
reformen und die Neuordnung des Kirchen-, Schul- und Armenwesens er-
fuhren eine breite Würdigung. Sogar die Einrichtung von Armenkassen
wurde genannt, obwohl solche Maßnahmen der christlichen Nächstenliebe
in der DDR eher suspekt waren und den pejorativen Ruf der Stabilisierung
eines Ausbeuterregimes besaßen. Doch im Rahmen der Lutherehrung reihte
Honecker die Lutherischen Aktivitäten anders ein:

"Insgesamt verdienen Luthers sozialethische Auffassungen, die von tiefer Volksverbunden-


heit zeugen, noch heute unsere Wertschätzung.,,54o

Im Zusammenhang mit der gewendeten mythischen Schwerpunktset-


zung ist das Neuziehen der Traditionslinie zur Bewertung der Ereignisse des
16. Jahrhunderts von Interesse. In Honeckers Rede ist nichts über die
Aktivitäten der KPD zur Ehrung des Bauernkrieges und Thomas Müntzers
oder der negativen Haltung gegenüber Luther zu hören. Auch wenn das
angesichts der beabsichtigten Habilitierung von Luther plausibel erscheint,
so ist es doch aufschlussreich, dass bezüglich der KPD-
GeschichtsaufIassung gar nichts gefunden wurde, was Luther in einem
negativen Licht hätte erscheinen lassen können. Es wurde offensichtlich,
dass sich die DDR-Führung von dem klassenkämpferisch orientierten und
radikalen Traditionsbild der KPD im Lutherjahr verabschiedet hatte. Anstatt
auf die KPD, berief sich Honecker auf die deutschen Sozialdemokraten und
die progressiven Christen und ihre positive Einschätzung Luthers. 541
Das erste Mal tauchte in einem offiziellen Papier der Partei- und Staats-
führung eine Rezeption der Untersuchungen des alten Engels über die Er-
eignisse des 16. Jahrhunderts auf. Honecker bezog sich nicht mehr auf den
"Deutschen Bauernkrieg" von Engels von 1850, sondern benutzte den von
Engels in seinem Alterswerk entwickelten Begriff der "Revolution Nr.1".
Außerdem verwendete er das Engelszitat über die Helden der Renaissance,
das nun in Zusammenhang mit Luther gebracht wurde. Ein anderes Zitat
von Engels über die Revolutionsfähigkeit des deutschen Volkes aus dem

540 ebenda: 15. Weiter heisst es: ''Um Mittel zur Linderung der Armut zu beschaffen, empfahl er
die Gründung von Kassen, die in allen Städten errichtet und durch Teilenteignung von
Klosterbesitz und Kirchengut sowie durch Einlagen der Bürger gefilllt werden sollten." ... "Der
sozialistische Staat unterstützt diese innere Verpflichtung zur Nächstenliebe."
541 ebenda: 16.

265
Bauernkriegsbuch von 1850, das schon zum festen Kanon des Geschichtsbe-
zugs der DDR geworden war, blieb diesmal aus. 542
Die Umbewertung der Ereignisse des 16. Jahrhunderts, die im Grunde
das Erzählen einer ganz neuen Geschichte war, wurde in keiner Weise be-
gründet. Weder zog Honecker in seiner Rede eine Bilanz bisheriger Ge-
schichtsforschung oder des Entwicklungsweges in der DDR und die daraus
abgeleitete Neubewertung Luthers, noch stellte er überhaupt einen Unter-
schied zur vormaligen Erzählung fest. Der Unterschied wurde also nicht
thematisiert und schon gar nicht plausibel gemacht. Das heißt, die
Geschichte wurde nicht weitererzählt, es wurde eine neue erfunden.
Außerdem erschien die neue Identitätserzählung als sicheres Ergebnis der
Integration verschiedener Schichten der DDR-Bevölkerung:

"Die gemeinsame Würdigung der Persönlichkeit und des Werks Martin Luthers in unserem
Staat widerspiegelt das Zusammenwirken der Bürger unseres Landes, ungeachtet ihrer
Weltanschauung und Religion.,,543

Mit der Suggestion des schon immer Dagewesenen, des selbstverständ-


lichen Zusammenwirkens verschiedener Weltanschauungen und Religionen
in der DDR sollte über die verminderte Akzeptanzzuweisung gegenüber
religiös gebundenen Bürgern oder Nichtparteimitgliedern hinweggetäuscht
werden. Die intendierte Realitätsferne war typisches Merkmal der Ge-
schichtspolitik der politischen Elite der DDR, nur dass dabei die "winzige
Erfindung der Akzeptanz" und Objektivität außer acht gelassen wurde. 544
Ganz am Schluss kam Honecker schließlich auf die außenpolitischen In-
tentionen zu sprechen, auch wenn er das Hauptanliegen der SED, die Ver-
besserung der deutsch-deutschen Beziehungen und die weitere internationa-
le Anerkennung der DDR, nicht nannte, sondern allein auf die mit einem
hohen internationalem Prestige besetzte Friedensfrage einging. Das Luther-
jahr sollte der "Bewahrung des Friedens" und dem "friedlichen Zusammen-
leben der Völker und Staaten zugute kommen. ,,545 Das Zusammenschließen

542 Gemeint ist folgendes Zitat: "Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition. Es
gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revo-
lutionen anderer Länder an die Seite stellen können, wo das deutsche Volk eine Ausdauer und
Energie entwickelte, die bei einer zentralisierten Nation die grossartigsten Resultate erzeugt
hätte, wo deutsche Bauern und Plebeijer mit Ideen und Plänen schwanger gingen, vor denen
ihre Nachkommenschaft genug zurückschauderten." In: Engels, Friedrich: Der deutsche Bau-
emkrieg. In: BML Bd. 16; 4. Auflage 1949:33 oder MELS, Bd. I: 189.
543 ebenda: 17
544 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. FrankfurtJM.: Suhrkamp 1990: 187.
545 LutherundseineZeit. a.a.O.:18.

266
Luthers mit der Friedenspolitik zog sich als eine wesentliche mythische
Linie durch die gesamten Lutherehrungen. Bei dieser Konstruktion war
allerdings nicht klar, auf welches Material der Lutherischen Lehre oder
politischen Haltung sich die SED-Führung bezog. Nahe gelegen hätte die
Assoziation mit der Lutherischen Friedensbotschaft und der damit verbun-
denen Verdammung der gewaltsamen Erhebungen der Bauern und Plebejer.
Doch diesen Bezug traute sich die SED-Führung nicht, offen auszusprechen.
Denn dies hätte eine scharfe Konfrontation mit dem gesamten Revolutions-
mythos, der ja eben Gewalt forderte oder zumindest akzeptierte, bedeutet
und die mythischen Grundlagen der DDR, samt der klassenmäßigen Be-
gründung der Eingliederung in das sozialistische Blocksystem, in Frage
gestellt. Worauf sich aber dann das Andocken Luthers an die Friedenspolitik
der DDR begründete, konnte nur einer unbefriedigenden Spekulation über-
lassen werden. Wenn auch antisemitische Angriffe Luthers und die Unter-
stützung der gewaltsamen Niederschlagung der Bauern total ausgeblendet
und aus dem Lutherbild einfach entfernt wurden, so blieb seine Rolle als
Friedensbringer völlig offen. Die Geschichte von Luther als Friedensbringer
war unter diesem Vorzeichen als Geschichte nicht kongruent und logisch.
Unglaubwürdig erschien dieses Konstrukt erst recht im Zusammenhang mit
der Militarisierung der DDR-Gesellschaft.

8.4 Die theoretische Grundlegung der mythenpolitischen Wende

Obwohl die wissenschaftlich-theoretische Diskussion um die Bewertung der


Ereignisse des 16. Jahrhunderts bei weitem nicht parallel zu der Geschichts-
politik der SED-Führung lag, diese in verdeckter Form, soweit das eben in
einem autoritären und totalitären Staat möglich war, zeitweise sogar konter-
karierte, waren die Gesellschaftswissenschaftler und Historiker der DDR mit
der politischen Elite jedoch soweit liiert, dass sie für mythenpolitische Wen-
den immer die theoretischen Begründungen schufen, um auch den Schein
der Objektivität zu wahren und letztendlich ihre eigene Existenz zu sichern.
Neben der von Brendler dargestellten Lutherrezeption der in der DDR-
Geschichtswissenschaft aufgezeigten Zick-Zack-Linie der Lutherbewertung,
ist doch eine eindeutige Tendenz der Aufwertung des Reformators in seiner
progressiven Wirkung auf die deutsche Geschichte zu beobachten. Wenn es
auch sicher falsch wäre, die DDR-Historiker als willfahrige Vollzieher der
Intentionen der SED-Führung zu betrachten, was in bezug auf den Bereich
des Mittelalters und der Frühen Neuzeit auch viel weniger zutrifft, als auf

267
die Späte Neuzeit bzw. die Neueste Zeit, so war doch der Einfluss von Histo-
rikern wie Brendler und Bartel auf die Vennittlung des Luther-Mythos nicht
nur groß, sondern geradezu grundlegend.
Wiederum kann nicht behauptet werden, dass bestimmte DDR-
Historiker den Luther-Mythos der frühen 80er Jahre selbst inszeniert hatten
und sich die Parteifiihrung dem nur angeschlossen hätte. Denn bei der myt-
hischen Erzählung über Luther, z.B. als Unterstützer der DDR-
Friedenspolitik, blieben so viele Aktivitäten der gegenteiligen Art unberück-
sichtigt, dass Historiker dies aufgrund ihrer Faktenkenntnisse unmöglich
selbst haben initiieren können. Es kann also geschlussfolgert werden, dass
eine Reihe maßgeblicher Historiker dabei behilflich war, die Parteiinteressen
theoretisch zu begründen, aber gleichzeitig eine gewisse Selbständigkeit
beibehielten, und Abweichungen vom offiziellen Bild durchaus vorhanden
waren. Brendler war bei der Inszenierung des gewendeten offiziellen Lu-
therbildes im besonderen Masse beteiligt, da er die Thesen zum Lutherjahr
verfasste und beratend bei einer Reihe von Maßnahmen der Festlichkeiten
tätig war.
Die Reformation galt nun als eine "komplexe historische Erschei-
nung.,,546 Die Unterscheidung in die "Volks-" und "Fürstenreformation",
wie bis in die 70er Jahre hinein, die dem Buch Srnirins über den deutschen
Bauemkrieg folgte, fiel damit weg. Eindeutig war die revolutionäre Deutung
der Reformation als Umgestalterin der Kirche, die nun als "das entscheiden-
de Kettenglied fiir eine mehr oder weniger weitreichende Veränderung der
Gesellschaft,,547 die ausschlaggebende Rolle in der Gesellschaft beigemessen
bekam. Luther behandelte man in der Geschichtswissenschaft nicht mehr
wie bisher als Reformer, sondern als Revolutionär, d.h. er war nicht mehr
einer, der dabei geholfen hatte, eine Revolution zu verhindern, sondern er
stieg jetzt zu deren Protagonisten auf.

8.4.1 Die paradigmatische Rede von Horst Bartel auf der


Konstituierenden Sitzung des Luther-Kornitees 1980

Horst Bartel verwendete in seinem Referat auf der Konstituierenden Sitzung


des Luther-Kornitees 1980 das Zitat von Karl Marx von 1843:

"Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation.

546 Bartel, Horst. In: Luther und seine Zeit. a.a.O.:36.


547 ebenda.

268
So wie damals der Mönch, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution be-
ginnt.,,548

Horst Bartel bescheinigt Marx mit diesem Zitat "die eindeutigste und
präziseste" Darlegung der "historischen Bedeutung Martin Luthers, um
dann in Umkehrung der Wortbedeutung von Reformation zu konstatieren:

"Martin Luther war der Mann (des 16. Jahrhunderts), in dessen Gehirn die Revolution
beginnt. ,,549

Außerdem bezog sich Bartel in seiner Bewertung Luthers nicht mehr


auf die Engelsschrift zum Bauernkrieg von 1850, sondern auf dessen Al-
terswerk, in dem er die Reformation im europäischen Maßstab als die "Re-
volution Nr.l" der Bourgeoisie und den Bauernkrieg als deren "kritische
Periode" bezeichnete.
Was das Wesentliche für die Umdeutung Luthers vom "Reformator"
zum Revolutionär ausmachte, ist ein neues Verständnis darüber, was Revo-
lution bedeutete. Wurden Revolutionen in der DDR in der ersten Hälfte vor
allem am hohen Grad der Negation der vorangegangenen Verhältnisse und
am Umfang der Gewalt und der Anzahl der Volksmassen, die an Gewaltak-
tionen beteiligt waren, gemessen, so wurde ab Anfang bis Mitte der 70er
Jahre eine wesentliche Veränderung sichtbar. Einerseits trugen Ereignisse
wie der Wahlsieg der Unidad Popular in Chile und die Wahlerfolge der
Sozialisten und Kommunisten in Frankreich und Italien zu einer Modifizie-
rung der Revolutionsforschung bei, doch andrerseits war es eben die von der
Partei- und Staatsführung vorgegebene Affinität zum inneren Frieden und
die Angst vor Veränderungen des politischen Systems im Inneren, die die
neue Richtung der Revolutionsforschung inspirierte und über disziplinari-
sche Mittel der Kaderpolitik, der Plangenehmigungsverfahren und Instituti-
onen wie das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und
das Institut für Marxismus/Leninismus kanalisierte.
Horst Bartel war zwar in der Festansprache zur Konstituierung des Lu-
therkomitees darum bemüht, ein kontinuierliches Bild der DDR-
Geschichtswissenschaft und der Geschichtsauffassungen linker Theoretiker
zu zeichnen, die er in eine Linie der Arbeiten von Karl Marx und Friedrich
Engels über August Bebei, Karl Kautzky, Franz Mehring, Edwin Hoernle,
Hermann Duncker, Heinrich Rau und schließlich der sowjetischen Ge-
schichtswissenschaft bis zur DDR-Historiographie stellte, doch waren für

548 ebenda: 32.


549 ebenda: 33.

269
jeden Eingeweihten die Modifizierungen eindeutig, die eben mit der Rezep-
tion des Engelschen Alterswerkes begannen. Das Bezeichnende war, dass
die Umdeutung Luthers vom Reformator zum Revolutionär nicht begründet
und erklärt wurde. Allerdings ging die Geschichtswissenschaft weitaus dif-
ferenzierter in ihrer Bewertung der Ereignisse des 16. Jahrhunderts vor, als
dies in der offiziellen Symbolpolitik getan wurde.
Die Grenzen Luthers wurden nach wie vor hervorgehoben und die grö-
ßere Nähe Müntzers zur deutschen Arbeiterbewegung betont. 550 Doch Bartel
machte zwischen den wissenschaftlichen Untersuchungen der DDR-
Historiker im Zusammenhang mit dem 450. Jahrestag der Reformation
1967, dem 450. Jubiläum des Bauernkrieges 1975 und den Aussagen An-
fang der 80er Jahre keinerlei Differenzierung. Diese wurden unterschiedslos
in den Rahmen der frühbÜfgerlichen Revolution gestellt. Dass um die beiden
letztgenannten Jubiläen zur frühbÜfgerlichen Revolution nicht die ganze
Reformation Luthers gezählt und der Bauernkrieg als entscheidendes und
keineswegs episodenhaftes Ereignis dargestellt wurde, blendete Bartel in
seinem Resümee einfach aus. 551
Martin Luther wurde nun durch die DDR-Geschichtswissenschaft

"ein wesentlicher Platz in den progressiven Traditionen der deutschen Geschichte, die von
der Arbeiterklasse und vom ganzen Volk aufgenommen, unter neuen Bedingungen fortge-
führt wurden und im Sieg des Sozialismus in der DDR gipfelten",552 zugeschrieben.

Diese volle Zuschreibung der progressiven Tradition und das Gipfeln


derselben im Sozialismus stellten die praktischen Schlussfolgerungen der
DDR-Geschichtswissenschaftler für die politische Traditionspflege und die
Verbindung zwischen Theorie und symbolischer Politik der Staats- und

550 Im Text von Host Bartel heisst es dazu: "Im dialektischen Zusammenhang ihrer Geschichtsbe-
trachtung konnten Marx und Engels freilich nicht bei der Feststellung stehenbleiben, dass Mar-
tin Luther geistig die Revolution begonnen hat. Sie haben vielmehr auch konsequenterweise
sehr eindringlich auf die zeit- und klassenbedingten Grenzen der Wirksamkeit Luthers auf-
merksam gemacht und insbesondere die Erkenntnis herausgearbeitet, dass die von Luther ent-
fachte gesellschaftliche Bewegung bald so weit über die Ziele und Vorstellungen Luthers hi-
nausging, dass er ihnen nicht zu folgen vermochte. In diesem Zusammenhang verwiesen Marx
und Engels darauf, dass unter diesen zugespitzten Klassenkampfbedingungen Thomas Müntzer
in der Auseinandersetzung mit Martin Luther Ideen hervorbrachte, die in einem engeren Zu-
sammenhang mit den Traditionen der Arbeiterbewegung stehen, als dies fiir die Lehren Lu-
thers gelten kann. In: Bartel, Horst: Die Rolle Martin Luthers in der deutschen Geschichte. In:
Martin Luther und unsere Zeit. Konstituierung des Martin-Luther-Komitees der DDR am 13.
Juni 1980 in Berlin. Berlin: Aufbau-Verlag 1980: 34.
551 ebenda: 35.
552 ebenda: 36.

270
Parteiführung dar. Das abschließende Bekenntnis der Bartelrede, dass die
Historiker der DDR

"alles in ihren Kräften Stehende tun werden, um das im Referat des Vorsitzenden des
Staatsrates, Genossen Erich Honecker, vorgetragene Anliegen der Luther-Ehrung der DDR
erfolgreich verwirklichen zu helfen,,,m

machte die Rolle der Historiker als Vollstrecker der Wünsche der Partei
deutlich, auch wenn die in einem totalitären Rahmen vorausgesetzten takti-
schen Avancen an die Herrschenden berücksichtigt werden müssen. Denn
tatsächlich war der bisherige Zick-Zack-Kurs in der Lutherbewertung, der
die DDR-Historiographie bis dahin kennzeichnete, für die 80er Jahre nicht
mehr zu verzeichnen.

8.4.2 Die "Thesen über Martin Luther"

Die "Thesen über Martin Luther" von 1981,554 die das Lutherjahr geistig
einleiten und sowohl die theoretische Begründung als auch die politische
Linie dafür vorgeben sollten, wurden im Entwurf hauptsächlich von Gerhard
Brendler erstellt und nach einigen Veränderungen und Konsultationen mit
anderen DDR-Historikern von der SED-Führung 1981 zum Druck über die
Akademie der Wissenschaften und das SED-Zentralorgan die "Einheit"
freigegeben. 555 Das Thesenpapier sollte nach Brendler "die wesentlichen
Grundaussagen" enthalten und "Adressat" an "die Öffentlichkeit der DDR."
sein. 556 Was die wesentlichen Grundaussagen waren, wurde aus dem Bezug
zum neuen Lutherbild sichtbar, das sich vom bisherigen deutlich unter-
schied.

553 ebenda: 37.


554 Thesen über Martin Luther. In: Einheit 198119: 890-903. Und: Martin-Luther-Ehrung der
Deutschen Demokratischen Republik. Thesen über Martin Luther .Zum 500. Geburtstag. Ber-
lin 1981.
555 Brendler dazu 1996: "Einem in der parteilich gebundenen Geschichtswissenschaft der DDR
eingefilhrten Muster folgend, wurden 'Thesen über Martin Luther' erstellt, die die wesentli-
chen Grundaussagen enthielten. Eine von mir vorgelegte Erstfassung wurde unter Hinzuzie-
hung der einschlägigen Fachkollegen in Kommissionsarbeit durchgeknetet und schliesslich zur
Veröffentlichung freigegeben. Dieses westlicher Gelehrtenwelt vermutlich suspekte, wahr-
scheinlich aber nicht ganz unbekannte Verfahren, hatte zumindest den Vorteil, dass ein in sich
stinuniger Grundkonsens zustandekam, demgegenüber jeder Fachmann selbstverständlich in
allen Punkten sein Sonderprofil geltend machte. Adressat war die Öffentlichkeit der DDR." In:
Dähn, Horst und Joachirn Heise: Luther und die DDR. Berlin: edition ost 1996: 49.
556 ebenda.

271
Das Papier bezeichnete Martin Luther als "Wegbereiter" bei der Her-
ausbildung des Kapitalismus und der bürgerlichen Revolutionen. Mit der
Aussage,

"er gehört zu den großen Persönlichkeiten der deutschen Geschichte von Weltgeltung,,557

bekannte sich die SED-Führung zu einer hohen Wertschätzung des Re-


formators und stellte Martin Luther in eine Linie mit Personen, die zum
"historischen Fortschritt" beigetragen hatten und somit in das "progressive
Erbe" der DDR eingebaut wurden. Die besondere Hervorhebung der bürger-
lichen und frühkapitalistischen Herkunft Luthers tat dieser Einordnung,
ganz im Gegensatz zu früheren Zeiten, keinerlei Abbruch. 558
Das Papier ging davon aus, dass Martin Luther "in einer Zeit tiefer ge-
sellschaftlicher Widersprüche" lebte, was als Reinwaschung gegenüber dem
immer untergründig mitschwingenden Vorwurf derjenigen aufgefasst wer-
den kann, die kritisch über Luther gedacht hatten und immer noch dachten.
Wenn die gesellschaftlichen Widersprüche tief sind, so können die Perso-
nen, die in ihnen agieren auf der Grundlage der verkürzten Marx-
Interpretation, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, eben auch wider-
sprüchlich sein. Nach der Beschreibung der Symptome des sich entwickeln-
den Kapitalismus und der Krise des Großgrundbesitzes, der Aufstände der
Bauern und städtischen Unruhen wurde die Kirche als der Mittelpunkt aller
Widersprüche im ausgehenden 15. Jahrhundert dargestellt. Der "entschei-
dende Anstoß" auf die Infragestellung der dogmatischen Grundlagen der
Kirche wurde Martin Luther zugeschrieben, der die Beziehungen zwischen
Mensch und Gott neu definierte. Die verschiedenen aufrührerischen Bewe-
gungen vereinten sich unter Martin Luther und konzentrierten ihren Kampf
gegen Rom. Sie "nahmen bald revolutionäre Züge an.,,559
Mit dem Begriff "revolutionär" war wieder die Sakralisierung des Vor-
gangs gegeben, nur dass sich jetzt der Bezugspunkt gegenüber den 50er bis
70er Jahren geändert hatte. Die Verbindung zwischen der Person "Luther"
und dem Adjektiv "revolutionär" stellte die neue Konstellation dar, so wie

557 Thesen über Martin Luther. Zum 500. Geburtstag. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaf-
ten, Zentralinstitut rur Geschichte. Berlin 1981: 5.
558 In den Thesen steht dazu: "Martin Luther war durch seine Herkunft mit der bäuerlichen
Sphäre und mit dem frühkapitalistischen Unternehmertum verbunden... Er wurde zu einem
Vertreter einer zumeist dem Bürgertum nahestehenden, zum Teil frühkapitalistische Interessen
ausdrückenden, vom Territorialfiirstentum und der Kirche materiell abhängigen Intelligenz."
In: Thesen... a.a.O.: 9.
559 ebenda: 7.

272
sich auch das Zusammenführen von Theologie und Revolution in die neue
Linie einreihte. Was mit eindeutiger Klarheit bis zum Beginn der 80er Jahre
noch nie öffentlich ausgesprochen wurde, war die Feststellung,

"die Refonnation wurde wesentlicher Bestandteil der beginnenden Revolution".560

Wie auch schon in der langen Tradition der Lutherinterpretation im Ge-


folge von Friedrich Engels "Bauernkrieg" , begann das Thesenpapier mit der
Würdigung des Kampfes Martin Luthers gegen den Ablasshandel. Den
Widerstand gegen die "traditionelle Standesexklusivität" der Geistlichkeit
und die Neuordnung der kirchlichen Liturgie durch Luther hervorhebend,
wurde den theologischen Fragestellungen ein neuer Stellenwert beigemes-
sen. Dass Luther "einen neuen Ethos der Arbeit" entwickelte, das dem bür-
gerlichen Erwerbsstreben entsprach, war bis dahin eine unmögliche Impli-
kation gewesen. denn sie assoziierte eine positive Einstellung zum Kapita-
lismus und Bürgertum, die beide im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg
bis dahin immer als reaktionär, verhängnisvoll und verräterisch gegolten
hatte. 56)

Eine zentrale Bedeutung maßen die Thesen der Luther-Schrift von 1520
"An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes
Besserung" zu, wohingegen früher hauptsächlich die "Gravamina der deut-
schen Nation wider den heiligen Stuhl in Rom", eine der radikalsten Schrif-
ten Luthers, in der DDR publik gemacht wurde. Denn in "An den christli-
chen Adel..." entwickelte Luther das Programm einer von den Reichsstän-
den getragenen Reform zugunsten der weltlichen Feudalherren und des
Bürgertums. Bisher wurden alle Lutherschriften. die sich mit derartigen
Reformen beschäftigten, in der Wissenschaft als inkonsequent interpretiert
und mythisch allgemein unter dem Slogan des Verrats am Volk abgetan,
was die Unkenntnis solcher Schriften zur Folge hatte.
Eine besondere Würdigung erfuhr die unbeugsame Haltung Luthers auf
dem Reichstag in Worms, da er seine Lehren nicht widerrief und die Reich-
sacht in Kauf nahm. In den Thesen heißt es:

560 ebenda: 8.
561 Wörtlich heißt es: " Im Zusammenhang damit entwickelte Luther ein neues Ethos der Arbeit,
das dem bürgerlichen Erwerbsstreben entsprach, aber auch Lebensinteressen der arbeitenden
Menschen in Stadt und Land ausdrückte und feudalen MOssiggang sowie klerikalen Parasitis-
mus als unmoralisch verurteilte. Die Verbindung theologischer Lehren mit konkreten sozial-
ökonomischen Interessen und Forderungen bürgerlicher und adliger Kreise, die auch den
Hoffilungen bäuerlicher und plebejischer Kräfte zeitweilig entgegenkam, verlieh der reformis-
tischen Ideologie Luthers eine mobilisierende und revolutionierende Wirkung." In: ebenda: 10.

273
" Es war die ruhmvollste Tat seines Lebens, Symbol unbeugsamer Charakterstärke und
Überzeugungstreue. ,,562

Die Übersetzung der Bibel und die Vereinheitlichung der deutschen


Schriftsprache waren die üblicherweise identitätsbezogenen Seiten Lutheri-
schen Schaffens, die von Beginn der DDR Teil des Mythos' von Bauern-
krieg und Refonnation waren und aufgrund ihres Bekanntheitsgrades keine
Rezeptionsprobleme hatten. Dass diese Lobpreisung aber mit der Würdigung
der Bibel als dem "meistgelesenen deutschen Buch" einherging, zeigte den
neuen Geist der 80er Jahre, denn dies wäre in den Anfangszeiten der DDR
als nicht akzeptables subversives Konkurrenzunternehmen gegenüber der
Literatur der "Klassiker" (gemeint waren damit immer Marx und Engels)
und der Kultromane des proletarischen und sozialistischen Realismus ver-
standen worden. 563
Die Verabschiedung vom sogenannten "Klassenstandpunkt" als Maß-
stab aller Dinge, in dessen Gefolge nur proletarische oder andere Vertreter
der Unterschichten als progressiv eingestuft worden waren, und der Sympa-
thiezuwachs gegenüber dem Bürgertum zeigten sich an der breiten Würdi-
gung der Verdienste der "antipäpstlichen Ständeopposition", die die Durch-
setzung des Wormser Edikts verhinderte und durch die Forderung nach
einem deutschen Nationalkonzil Druck auf die römische Kirche ausübte. Die
''bürgerlichen Kräfte" wiederum wurden in den Thesen wegen der Verteidi-
gung der Refonnation auf den Reichstagen, des Schutzes evangelischer
Prediger in den Städten, der Sanktionierung reformistischer Maßnahmen
durch Ratsbeschlüsse, wegen der Unterwerfung der Geistlichkeit unter die
städtische Gerichtsbarkeit und der Enteignung von Kirchen- und Klostergut
zu Gemeindezwecken gepriesen. 564
Dass Luther sich nach 1523 von der Volksbewegung abwandte, lag nach
den "Thesen" nicht mehr im "Klassencharakter" oder Verrätertum Luthers
begründet, sondern transformierte vor allem zu einer Frage der Taktik in der
Auseinandersetzung zwischen kirchlicher Oberschicht und der aufbegehren-
den Masse, zu einer Entscheidungsfrage zwischen friedlichem Weg, wie ihn
Luther vertrat, und bewaffnetem Kampf im Sinne von Thomas Müntzer und
Karlstadt, den Luther als ein "Werk des Teufels" bezeichnete. 565

562 ebenda: 13.


563 ebenda.
564 ebenda: 15.
565 ebenda: 17. Dort heisst es dazu: " So entwickelte Luther bis 1524 sein Programm der Refor-
mation, das mit friedlichen Mitteln im Bündnis mit der weltlichen Obrigkeit durchgesetzt wer-
den sollte."

274
Der Bauernkrieg war nach den "Thesen" nicht mehr die friihbürgerliche
Revolution selbst, sondern wurde zu ihrem "Höhepunkt" deklariert, der
"weit über die von Luther vertretenen Ziele hinausging" und in dem "sich
die Volksreformation" des Thomas Müntzer manifestierte. Nahm die Schrift
"Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" in der bishe-
rigen Beurteilung Luthers einen zentralen Platz ein, so blieb sie in den The-
sen mehr am Rande, wobei ihr durch das Ungehörtbleiben seines Appells an
die Bauern, nicht zu den Waffen zu greifen, eine gewisse Folgerichtigkeit
eingeräumt wurde. 566 In den "Thesen" blieb man zwar dabei, dass die Flug-
schrift der "bäuerlichen Sache" sehr schadete und "Luthers Popularität
schweren Abbruch" tat, doch dies rechnete man der Tragik des Widerspru-
ches

"zwischen seiner Rolle als Initiator einer breiten, alle oppositionellen Klassen und Schichten
einbeziehenden revolutionären Bewegung und seiner eigenen begrenzten Zielstellung" zu. 56?

Entgegen den sehr knapp gehaltenen Passagen über die dunklen Seiten
des Lutherischen Schaffens, kam den bleibenden Verdiensten und langfristi-
gen Auswirkungen der Reformation breiter Raum zu. Aus den "Thesen" war
viel über Luthers Aktivitäten nach dem Bauernkrieg zu erfahren, die bis
dahin für die DDR-Bevölkerung völlig unbekannt blieben. Dabei handelte es
sich um seine Visitationen, obrigkeitlichen Verwaltungsmaßnahmen, Säku-
larisation von Kirchen- und Klostergut, Schul- und UniversitätsgTündungen
und die Durchsetzung neuer Ordnungen für Kirchen-, Schul- und Armen-
wesen. 568 An mehreren Stellen in den "Thesen" wurde das sozialpolitische
Engagement Luthers rur die Versorgung von Lehrern, Pfarrern, Kirchendie-
nern und Universitäten und die Regelung des Bettler- und Armenwesens
hervorgehoben. 569
Auch die Passagen über die politische Etablierung der Lutherischen Re-
formation in Auseinandersetzung mit Zwingli und der Ausbreitung der
Reformation bis nach Norddeutschland und Skandinavien waren für das
Luther-Bild der DDR ein Novum, denn sie waren fast unbekannt, und wenn
nicht das, dann als unbedeutend apostrophiert. Im Hinblick auf den mehr
und mehr um sich greifenden Pragmatismus der DDR-Führung angesichts
innerer Krisenerscheinungen und auf den Druck der Legitimierung des
Regimes von außen, bietet folgender Satz Aufschluss:

566 ebenda: 19.


567 ebenda.
568 ebenda: 20.
569 ebenda: 21.

275
"In seinen Gutachten und Stellungnahmen zu politischen Fragen musste Luther das jeweili-
ge politische Kräfteverhältnis berücksichtigen, hielt aber dessen ungeachtet an seinen refor-
matorischen Grundpositionen fest. ,,570

Diese Passage erscheint wie das Bekenntnis zur Analogie des Lavierens
zwischen der Situation Luthers in den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts und
dem der DDR-Führung in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Die auf den ersten Blick als widersprüchlich zur nationalen Zielsetzung
der Luther-Ehrung anmutende Hervorhebung der europäischen Dimension
der Reformation diente neben der Absicht der Festigung der DDR-
Gemeinschaft vor allem außenpolitischen Zielsetzungen und sollte den An-
spruch der DDR auf einen geachteten Platz im Konzert der europäischen
Nationen festigen. Hier wird eine allgemeine Dimension der DDR-
Identitätsprobleme der 70er und 80er Jahre deutlich, die darauf hinausliefen,
Identität von außen zu etablieren. Über den Umweg einer hohen Wertschät-
zung durch äußere Beobachter sollte das Identitätsmanko im Inneren kom-
pensiert werden.

Die Reformation wurde "zu einer europäischen Erscheinung, die den Übergang vom Feuda-
lismus zum Kapitalismus beschleunigte.,,571

Dazu wurde ausgeführt, "Europa trat damit in die Epoche der bürgerli-
chen Revolutionen ein.,,572
Die "Thesen" machten deutlich, was Europa der Reformation, die in der
DDR nun neu belebt wurde, zu verdanken hatte. So hieß es darin:

"Die Reformation fasste in der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden Fuß, setzte sich
in Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Schottland und England durch, wobei sie
jeweils von den gesellschaftlichen Bedingungen der einzelnen Länder geprägt wurde.,,573

Die Reformation verwandelte sich in einen verlängerten Arm der Inten-


tionen der DDR in Europa Fuß zu fassen und eine Wende in den Beziehun-
gen zu Westeuropa zu erreichen. Als Untertext läuft bei dieser Passage die
Planung des Besuches Erlch Honeckers in der Bundesrepublik Deutschland
und in anderen westeuropäischen Staaten mit. Die Einladung an west- und

570 ebenda.
571 In den Thesen heisst es wörtlich: "Martin Luthers Reformation übte eine nachhaltige Wirkung
auf die europäischen Länder aus. Sie trieb die Lösung grundlegender Widersprüche der Feu-
dalgesellschaft voran und wurde deshalb sehr rasch zu einer europäischen Erscheinung, die den
Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus beschleunigte." ebenda: 23.
572 ebenda.
573 ebenda.

276
nordeuropäische Staatsoberhäupter zur Teilnahme an den Festlichkeiten
zum Lutherjubiläum war mit dem sehnlichen Wunsch auf Gegeneinladung
verbunden.
In den von Selbstüberschätzung charakterisierten politischen Eliten der
Partei- und Staatsführung reifte der Traum von einer DDR, die Führer oder
zumindest bedeutsamer Teil der evangelisch-protestantischen Welt sein
könnte. Alle die in den Thesen genannten Länder erhielten von der Regie-
rung der DDR Einladungen zur Teilnahme am Jubiläum. 574 Die Reformati-
on des Martin Luther wurde somit als Initialmoment einer Kette von Revo-
lutionen betrachtet, in der die niederländische, englische, die amerikanische
und französische Revolution folgten, woraus geschlussfolgert wurde:

"Dieser bürgerliche Revolutionszyklus konnte auf den Ergebnissen der Reformation aufbau-
,,575
en.

Die Thesen beschäftigen sich, mit den Klassikern (gemeint sind Marx
und Engels) beginnend, über das 19. Jahrhundert und mit der DDR endend,
mit der Rezeptionsgeschichte Luthers. Hierbei stellt sich die DDR als rein-
kamierende Bündelung aller progressiven Rezipienten dar, die Luther zu
seiner eigentlichen Bedeutung verhalf, ihn von allen demagogischen Fehlin-
terpretationen befreite und Missdeutungen endgültig reinigte.
Eine Auseinandersetzung mit der bisherigen Rezeption der sogen.
Klassiker-Schriften zu Martin Luther und den Ereignissen des 16.
Jahrhunderts fand nicht statt, denn an keiner Stelle wurde sichtbar gemacht,
dass in der öffentlichen Bewertung von Martin Luther bisher einzig und
allein das Engelssche Werk zum Bauernkrieg von 1850 zugrunde gelegt
wurde und die Rezeption der späten Schriften zu Luther und anerkennende

574 ebenda: 23. Die Ausbreitung des Luthertums in Europa wurde anband von Beispielen erläu-
tert: "Das Luthertum formte insbesondere das kirchliche Leben in den skandinavischen Län-
dern. Eine hervorragende Rolle spielten dabei die Reformatoren Michael Agricola in Finnland
und Olavis Petri in Schweden, die in Wittenberg studiert hatten. Dänemark nahm 1537 eine
von Luthers Freund Johannes Bugenhaen verfasste Kirchenordnung an. In Norwegen wirkte
Geble Pedersön seit 1536 als erster lutherischer Bischof in Bergen. Nach dem Vorbild Luthers
wurde die Bibel in weitere Volkssprachen übersetzt. So übertrug Robert Olivetan ihren Text
1530 ins Französische, Thomas Crarnmer 1538 ins Englische, Johann Silvester 1541 ins Un-
garische, Michael Agricola 1548 ins Finnische. Bei Dänen, Schweden, Isländern, Finnen, Es-
ten, Letten und Litauern, bei Kaschuben, Sorben, Slowenen und Slowaken sind mit der Refor-
mation die Anfänge eines eigenen Buchdrucks verbunden. Bedeutungsvoll rur Siebenbürgen
wurde das Wirken Johann Honters und Mathias Ramsers." Weiter verwiesen die Thesen auf
den Einfluss Luthers auf reformatorische Bewegungen in Italien, Spanien und Polen. Auch U1-
rich Zwingli und Johannes Calvin wurden in den Umkreis des lutherischen Einflusses mit ein-
bezogen.
575 ebenda: 24.

277
Rezeption der späten Schriften zu Luther und anerkennende Beurteilungen
von Karl Marx vollkonunen ausgeblendet wurden. Als wäre nie etwas ande-
res proklamiert worden, hieß es in These XII:

"Karl Marx und Friedrich Engels hatten eine hohe Meinung von den ökonomischen Auffas-
sungen Luthers. Martin Luther ist jener ökonomische Denker Deutschlands, der in den
Schriften von Karl Marx häufig zustimmend zitiert wurde."S76

In der politischen Sprache der DDR bedeutete der Passus "zustinunend


zitiert werden" eine hohe Wertschätzung und war fester Bestandteil des
sozialistischen Stilkatechismus.
Während früher die verhängnisvolle Wirkung Luthers auf die deutsche
Kleinstaaterei und das Bündnis zwischen Thron und Altar explizit hervor-
gehoben wurden, lautete die neuere Interpretation, dass Luther bisher miss-
verstanden worden wäre. Luther sei besonders im Zusanunenhang mit der
"kleindeutsch-reaktionäre Reichsgründung" , dem "preußisch-deutschen
Kaiserreich", der "imperialistischen Durchhaltepolitik im ersten Weltkrieg"
und dem "Faschismus" Unrecht getan worden. Indem ein Bogen nun von
Luther zum antifaschistischen Widerstand geschlagen wurde, verwiesen die
Thesen auf den Schutz des Lutherischen Erbes gegen den Nationalsozialis-
mus durch die von Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth
getragene "Bekennende Kirche". Diese Kreise nutzten das Lutherische Erbe
für den antifaschistischen Kampf, wofür "das Martyrium des evangelischen
Pfarrers Paul Schneider in Buchenwald" ein "leuchtendes Beispiel" war. 577
Das Zusammenschließen von Lutherehrung, Antifaschismus und Lobprei-
sung der evangelischen Kirche zeigt deutlich die Absicht, einen neuen poli-
tischen Kompromiss zu schließen und somit die Identitätsbezüge innerhalb
der Bevölkerung zu verlagern.

8.4.3 Die internationale wissenschaftliche Konferenz "Martin Luther"


in Halle

Die im Oktober 1983 auf einer von der Akademie der Wissenschaften und
dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR in Halle organi-
sierten wissenschaftlichen Konferenz vorgestellten Beiträge von Wissen-
schaftlern aus der DDR und einigen osteuropäischen Ländern zeigten eine
widersprüchliche Verschränkung zwischen der öffentlichen Begründungen
des Luthermythos und der unter den Wissenschaftlern ausgetragenen Dis-

576 ebenda: 30.


577 ebenda: 33.

278
kussion über Martin Luther selbst. Die wissenschaftliche Analyse folgte
einerseits den ideologischen Vorgaben der Partei- und Staatsführung, aber
andrerseits löste sie sich zunehmend von der sowjetischen Historiographie
und einer konservativen Klassikerrezeption. Durch die größere Beachtung
der Alterswerke von Engels kam es zu einer Aufwertung der Person Luthers
in der deutschen Geschichte. So trugen zwei, aus ganz unterschiedlichen
Motiven entstandene politische Stränge zur Positivierung der Rolle Luthers
bei. Beide Linien überschnitten sich immer dann, wenn die weltanschauli-
che Bindung Implikationen setzten oder wenn die eine die andere für ihre
Zwecke zu nutzen versuchte.
So war es durchaus möglich, dass Historiker ihre professionellen Inten-
tionen mit den politischen der Parteifiihrung identifizierten und umgekehrt.
Im Vorwort des 1986 erschienenen Buches über die Konferenz zu Martin
Luther, zu einer Zeit, als der Luther-Mythos schon längst gescheitert war,
schrieb Brendler im Vorwort: "Martin Luther hat die Geschichte vorange-
bracht. ,,578 Brendler strich besonders das "Kontinuum des Menschseins in
der Geschichte" hervor, aus dem heraus uns Martin Luther heute noch an-
spricht. 579 Diese einleitenden Worte waren noch immer dem Duktus der
anfänglichen 80er Jahre geschuldet, als Luther seiner negativen Zuschrei-
bungen entkleidet wurde und zum "positiven Helden" der deutschen und
schließlich der DDR-Geschichte avancierte, nach 1983 hingegen keinerlei
Bedeutung mehr hatte. Hier zeigt sich also eine Abweichung von der offi-
ziellen Linie, die aus der nun entstandenen Funktionslosigkeit des Histori-
kers bei der Determinierung der neuen mythischen Fixierung resultierte.
Der Vertreter der offiziellen Seite war auf dieser Konferenz nicht Hone-
cker, sondern Gerald Götting, der Vorsitzende der DDR-CDU, was einer-
seits als eine herabgesetzte Wertschätzung gegenüber den Historikern inter-
pretiert werden kann, da die offizielle wissenschaftliche Begründung schon
längst mit Hilfe der Thesen und dem Bartel-Papier gegeben worden war.
Andrerseits war dies schon der Beginn der zunehmenden Separierung und
Differenzierung der DDR-Gesellschaft in verschiedene Funktionsgruppen.
Gerald Götting bezeichnete Luther, dem Beispiel der Honecker-Rede auf der
Konstituierenden Sitzung des Luther-Komitees folgend, als "einen der größ-
ten Söhne unseres Volkes," denn er hatte den "geschichtlichen Fortschritt in
Deutschland ... gefördert. 580 Mit der obrigkeitspolitischen Begründung der

578 Bartel, Horst; Brendler, Gerhard; Hübner, Hans und Adolf Laube (Hrsg.): Martin Luther.
Leistung und Erbe. Berlin: Akademie-Verlag 1986: VOIwort.
579 ebenda.
580 Götting, Gerald: Die DDR ehrt Martin Luther. In: Bartel, Horst; Brendler, Gerald Hübner,

279
Existenz des Martin-Luther-Komitees und dessen Vorsitz durch Erlch Ho-
necker leitete Götting die Schlussfolgerung ab, dass die Ehrung für Martin
Luther "Sache des ganzen Volkes" gewesen wäre. 581
Nachdem er die verschiedenen politischen Aktionen zur Verankerung
des neuen Lutherbildes im öffentlichen Raum hervorhob, wurde in seiner
Bilanzierung die eigentliche Zielsetzung des Luthermythos sichtbar, wenn er
sagte:

"Zehntausende Touristen aus anderen Ländern besuchen in diesem Jahr auf den Spuren
Martin Luthers unsere Republik und überzeugen sich mit eigenen Augen von dem Fleiß und
den Aufbauleistungen unserer Bürger, von der Friedensliebe unseres sozialistischen Staates,
von den sichtbaren Ergebnissen seiner Kulturpolitik und seiner Erbepflege.,,582

Luther diente somit als Spur, die aus der Vergangenheit in die DDR
führte und in dem "Fleiß und der Autbauleistung" ihrer Bürger endete, die
internationale Anerkennung verdienten. Wiederum wird die Anerkennungs-
sucht der DDR durch die internationale Gemeinschaft in Form der Selbst-
bestätigung mit Hilfe "zehntausender Touristen" deutlich. Luther diente
nicht nur als Spur in die DDR-Gesellschaft, sondern auch in die internatio-
nale Gemeinschaft.

8.5 Der Versuch der mythenpolitischen Annäherung des Staates an


die Kirche über die Person Luthers

Der Absicht, das Verhältnis des Staates und der SED zur Kirche zu verbes-
sern, wurden die mit dem Lutherjubiläum verbundenen neuen Freiheiten für
die Kirche, insbesondere für die Evangelische Kirche, gerecht. So war es
auch möglich, dass neben dem staatlichen Lutherkomitee ein kirchliches
bestand, dessen Vorsitz Landesbischof Leich innehatte. Obwohl die SED
ursprünglich nur ein Lutherkomitee geplant hatte, in dem auch Vertreter der
Kirche Funktionen innehaben sollten, so ging sie letztendlich auf das Behar-
ren der Kirche auf einem eigenen Komitee ein, um die mythenpolitische
Absicht der stärkeren Integration der Gesellschaft nicht zu gefährden. Zum
Zeitpunkt der Konstituierenden Sitzung des Staatlichen Lutherkomitees
bestand das kirchliche schon und war auch als eigenständige Institution zur
EröfInungssitzung zugegen. In der Folgezeit fand ein reger Austausch zwi-

Hans und AdolfLaube: Martin Luther ... a.a.O.: 12.


581 ebenda.
582 ebenda: 13.

280
sehen beiden Komitees, zwischen Kirche und Staat statt, ohne dass die Ei-
gen- und Selbständigkeit beider in Frage gestellt wurde. 583
Im Zusammenhang mit den Lutherfeierlichkeiten machte die Staatsfiih-
rung der Kirche eine Reihe von Zugeständnissen, wie die Durchfiihrung von
Kirchentagen mit Teilnehmerzahlen von 10.000 bis 100.000, der Restaurie-
rung kirchlicher Lutherstätten, der Organisierung von wissenschaftlichen
und ökumenischen Konferenzen, Veröffentlichungen, kirchlichen Radio-
und Fernsehsendungen und der Zusicherung von Publikationen. Es wurde
die Initiative der Kirche unterstützt, im Augustinerkloster in Erfurt eine
Ausstellung über das Leben und Werk Luthers zu veranstalten, die später als
Wanderausstellung durch die DDR und andere Länder zog. Auch kam man
dem Wunsch der Kirche nach, 1983 in Eisleben eine große Abschlussveran-
staltung zum Lutherjahr durchzufiihren, der der Vorsitzende des Staatlichen
Lutherkomitees, Erich Honecker, durch eine Rede seine Reverenz erweisen
sollte.
Doch nicht erst die Lutherfeierlichkeiten waren Ausdruck der Hinwen-
dung der SED-Führung zur Kirche in der DDR, sondern dieser Prozess
hatte, abgesehen von der langen wechselvollen Geschichte des problemati-
schen Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, seinen offiziellen Aus-
gangspunkt 1978 genommen, wo am 06.03. gemeinsame Verhandlungen
stattfanden. An diesem Termin wurde das erste Mal vereinbart, Luther ge-
meinsam zu ehren, in welcher Form auch immer.
Aus dem policy-Effekt des Zusammengehens wurde auch ein mythi-
scher. Bei den Beteiligten entstand der Eindruck einer neuen kulturell und
politisch verorteten Gemeinsamkeit, die aus dem einheitlichen Streben nach
Frieden, nach sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit erwuchs, die im sich
Nächstenliebebekenntnis inkarnierte. Für viele Vertreter der politischen und
kirchlichen Elite waren die gemeinsamen Lutherfeierlichkeiten Kennzei-
chen für den Anbruch eines neuen Zusammengehens zwischen Kirche und
Staat und das Ende der Konfrontation.

583 Der Kulturminister, Hans-Joachim Hoffinann sagte zur Eröffuung des Lutherkomitees: "An
unserer konstituierenden Beratung nelunen Vertreter des kirchlichen Lutherkomitees unter
Leitung von Landesbischof Leich teil, die in Fortfilhrung bewährter Zusammenarbeit ihre Be-
reitschaft erklärt haben, an den Beratungen des Komitees teilzunelunen." In: Hoffinann, Hans-
Joachim: Konstituierung des Martin-Luther-Komitees. In: Martin Luther und unsere Zeit.
Konstituierung... a.a.O.: 7.

281
8.6 Die symbolpolitische Besetzung des öffentlichen Raumes durch
den Luthermythos 1983

Das Lutherjahr bestand aus einer ungeheuren Ansammlung von verschiede-


nen Veranstaltungen und Ehrungen, die den öffentlichen kommunikativen
Raum in einer Weise ausfiillten, dass es kaum möglich schien, sich der myt-
hischen Botschaft zu entziehen. Obwohl das gesamte Territorium der DDR
besonders durch das Fernsehen, Radio und Kino, aber auch durch
schöngeistige und populärwissenschaftliche Literatur, erfasst wurde,
konzentrierten sich die Veranstaltungen auf Berlin und die Orte, an denen
Luther gearbeitet und gelebt hatte, was durchaus zu einer lokalen
Polarisierung beitrug. An der Akademie der Wissenschaften und den
Universitäten wurden Kolloquia und Konferenzen zu Luther durchgefiihrt.
Alle Institutionen, die zur Vermittlung politischer Mythen prädestiniert
sind, wie Verlage, Theater, Orchester, Film, Presse, Rundfunk, Museen,
Galerien und Kunstsammlungen, wurden auf umfassende Weise in die
Lutherehrung einbezogen. Dazu gehörte auch die Restaurierung der
urspIiinglichen Wirkungsstätten Luthers wie die Lutherhalle in Wittenberg
und das Mosaik der Wittenberger Schlosskirche, das Geburts- und
Sterbehaus Luthers in Eisleben, Erfurter Kirchen und die Wartburg.
Besonders massenwirksam waren die großen Ausstellungen zu und über
Luther im Museum fiir deutsche Geschichte und im Alten Museum.

282
Die 1983 neu eingerichtete "Lutherhalle" in Wittenberg

8.6.1 Die Dokumentarfilmtrilogie über Luther im Fernsehen der DDR

Vom 3 l.08. 1983 an liefen im Fernsehen der DDR wöchentlich Dokumentar-


filme zu Martin Luthers Leben und Werk. Es handelte sich um drei Teile,
die aus mit Kommentaren versehenen Montagen von Bilddokumenten be-
standen. Der erste Film mit dem Titel "Ein Schüler aus Mansfeld" beschäf-
tigte sich mit den Jugendjahren Martin Luthers und stellte für die folgenden
Sendungen eine Art Einführung dar. Mit dem Dokumentarfilm "Der die
Zeit beim Wort nahm" wurden die Reaktionen Luthers auf die Wittenberger
Unruhen behandelt. Während die beiden ersten Teile mehr oder weniger

283
rein infonnativer Art und weniger für eine mythisch determinierte Identi-
tätsfindung geeignet waren, nahm der dritte Film " Bürger Luther, Witten-
berg 1508-1546" einen wichtigen Platz bei der Etablierung des gewendeten
Lutherbildes ein. Dieser Film wurde von der DEFA-Gruppe "forum" unter
Regie von Lew Hohmann, der auch die literarische Vorlage schrieb, herge-
stellt. 584

Die Dokumentarfilme zu Luther wurden vom Fernsehen finanziert, aber


von dem DEFA-Studio für Dokumentarfilme produziert. Sowohl die Szena-
rien als auch die fertigen Filme nahm der Chefredakteur Kulturpolitik des
Fernsehens ab, was zu verschiedenen Kontroversen führte. Es wird ge-
schätzt, dass die Planung der Dokumentarfilme zu Luther schon im Herbst
1979 im DEFA-Studio erfolgten, da die Konzeptionen für die Filme 1980
vorlagen. 585 Gerhard Brendler wurde, wie auch schon für den großen Lu-
ther-Spielfilm, als Fachberater engagiert. Während der Erarbeitung der
Konzeption und der Exposes konsultierten die Filmemacher den Historiker
mehrfach. Im Mai 1982 fand in der Chefredaktion Kulturpolitik eine Vor-
führung der drei Dokumentarfilme vor dem Historiker Adolf Laube statt, der
damals Professor am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wis-
senschaften der DDR und Mitglied des Luther-Komitees war. 586 AdolfLau-
be billigte alle drei Filme nachdrücklich. Auch wenn er einige sachliche
Fehler bei "Bürger Luther" und die unzureichende Berücksichtigung der
Tragik Luthers, wie sie in der Honecker-Rede betont wurde, monierte, so
stimmte er mit der Hauptaussage voll überein, so dass keine größeren Ver-
änderungen vorgenommen werden mussten. Die Programmdirektion der
Abteilung Kulturpolitik des Fernsehens der DDR nahm die drei Filme auch
im August 1983 ohne größere Änderung der politischen Grundaussage ab
und gab sie fiir die Sendung frei. 587

584 Hohmann, Lew: Regisseur, Redakteur und Produzent von Dokumentarfilmen. Geboren 1944,
studierte Maschinenbau, Arbeit als Dreher, Beleuchter, dann Regievolontär beim Deutschen
Fernsehfunk, Regiestudium an der Hochschule filr Film und Fernsehen der DDR in Pots-
damlBabelsberg. Seit 1973 Filmregisseur im DEFA-Studio filr Dokumantarfilme. Seit 1991
Geschäftsfilhrer der Filmproduktion Tele Potsdam. Regisseur, Redakteur und Produzent von
Dokumentarfilmen. Den Film "Bürger Luther" stellte er 1982 fertig.
585 Vgl. Simons, Rotraut: Das DDR-Fernsehen und die Luther-Ehrung. In: Dähn, Horst und
Joachim Heise: Luther und die DDR. Berlin: Edition Ost 1996: 136/137.
586 Aktennotitz vom 06.05.1982 über eine Vorfllhrung der drei Luther-Dokumentarfilme am
04.05.1982. In: DRA, Sign. HA Kultur Luther Wittenberg.
587 Bericht der Chefredaktion Kulturpolitik zum "Rapport" an die Programmdirektion . In: DRA,
Sign. HA Kultur Luther Eisenach. Dasselbe zu "Bürger Luther" vom 05.09.1983. In: DRA,
Sign. HA Kultur Luther Wittenberg.

284
Anders verlief eine Auswertung durch den Leiter des Bereiches Pro-
grammaustausch und Film des Fernsehens, Hans Seidowsky, der dem Film
"Bürger Luther" ein "bürgerlich-liberales Luther-Bild" zuschrieb, das
durchaus im Sinne der Nazis missbraucht werden könnte. 588 Doch der Chef-
redakteur der Abteilung Kulturpolitik des Fernsehens der DDR, Klaus Hil-
big, verteidigte "Bürger Luther" und setzte sich infolge seiner größeren
Nähe zur Macht und somit zur offiziellen mythenpolitischen Linie durch.
Diese internen Streitigkeiten unter den Kulturfunktionären zeigen, dass das
gewendete Luther-Bild durchaus nicht bei allen Anklang fand, dass es aber
auf dem Wege der Partei- und staatlichen Hierarchie durchgesetzt wurde.
Allerdings geschah dies nicht mehr, wie unter Ulbricht, durch strikte An-
weisung von oben, die allen Mitgliedern der politischen Klasse mitgeteilt
wurden, sondern viel subtiler auf der Ebene der persönlichen Verbindungen
und mit aktiver Hilfe von Wissenschaftlern, was für den Leitungsstil von
Honecker generell charakteristisch war.
Der Film "Bürger Luther" von Lew Hohmann kann als typisch für das
gewendete Lutherbild angesehen werden. Sehr kompetent gemacht, in be-
schaulicher Weise, mit vielen Landschaftsaufnahmen und Originalbildern
der Lutherstätten versehen und mit einer Reihe von historischen Dokumen-
ten bestückt, war der Film publikumswirksam und angenehm zu betrachten.
Luther wurde als großer Deutscher herausgearbeitet, der die deutsche Ge-
schichte entscheidend bereichert hatte. Seinen Widerstand gegen die Obrig-
keit hob Hohmann besonders hervor und charakterisierte ihn als mutig und
folgenreich für die deutsche Unabhängigkeit von der römisch-katholischen
Kirche. Was die Sendeminuten anbetraf, so ging der Bauemkrieg fast unter.
Er erschien nur als extremes, für das 16. Jahrhundert untypisches Ereignis,
das beim Zuschauer eher Unverständnis als Empathie auslöste. Folgerichtig
erschien daraufhin Luthers Verurteilung der Bauern. Motive und historische
Grundlagen für den Bauemkrieg wurden nicht einmal im Ansatz sichtbar.
Damit war dieser Film eine der auffälligsten Abwendungen von den bisheri-
gen Beurteilungen Luthers und des Bauemkrieges.

8.6.2 Der Luthertilm von 1983

Das erste Mal tauchte das Vorhaben für einen großen Spielfilm über Martin
Luther in der "Ergänzung zum Plan" des Bereichs Dramatische Kunst des

588 Stellungnahme des Chefredakteurs der Hauptabteilung Kulturpolitik des Fernsehens der
DDR, Klaus Hilbig, zum Film "Bürger Luther" nach dem 04.05.1982. In: DRA, Sign. HA
Kultur Luther Wittenberg.

285
Fernsehens der DDR Mitte März 1978 auf. 589 In dieser Zeit bestand bereits
die mythische Fokussierung auf eine eigene, jedoch vorwiegend klassenmä-
ßig und revolutionär definierte Nationalgeschichte, was durch die Feierlich-
keiten zum Bauernkriegsjubiläum 1975 und dem Bauernkriegspanorama in
Bad Frankenhausen von Werner Tübke mit einer breiten politischen Symbo-
lik unterlegt wurde. Die "kulturpolitischen Zielstellungen" der "Ergänzung"
waren deshalb noch in diesem Sinne formuliert. Es sollte sich um eine sie-
benteilige "dramatische Serie" mit dem Titel "Luther in Wittenberg" han-
deln, die für die DDR-Zuschauer attraktiv und für die ausländischen Fern-
sehanstalten interessant sein müsste. 590
Am 4. Mai 1978 schloss das Fernsehen der DDR mit Hans Kohlus einen
"Materialsammel-Vertrag" für eine siebenteilige Luther-Serie ab. 59l Ent-
sprechend der konzeptionellen Orientierung der 70er Jahre sollte das Vor-
bild für den Lutherfilm die bis dahin einzige Lutherbiographie von Hans
Lorbeer592, die Trilogie "Die Rebellen von Wittenberg", sein, in der Luther
zwar als Wegbereiter der frühbÜTgerlichen Revolution, aber letztendlich als
deren Verhinderer dargestellt und so zum Verhängnis der deutschen Ge-
schichte wurde. 593 Die für den Film vorgesehene Dramaturgin beim Fernse-
hen der DDR, Heide Hess,594 bekam den Auftrag, von der Lorbeervorlage
auszugehen, was allerdings deren Widerspruch hervorrief. Nötig sei für
einen neuen Lutherfilm eine

"sehr viel komplexere Sicht der Persönlichkeit Luthers, ... wie sie sich in Lorbeers Werk
noch nicht finden konnte".595

589 Ergänzung zum Plan (Entwurf), 1978. In: Deutsches Rundfunkarchiv, Berlin 1978. Sign.:
Drama Martin Luther.
590 Vgl. Simons, Rotraut: Das DDR-Fernsehen und die Luther-Ehrung. In: Dähn, Horst und
Joachim Heise: Luther und die DDR. Berlin: edition ost 1996: 104.
591 Am 11. September folgte ein Vertrag über sieben Exposes über den Handlungsverlauf. ebenda:
107.
592 Hans Lorbeer wurde 1901 in Klein-Wittenberg geboren, er starb 1973. Fabrikarbeiter, seit
1921 Mitglied der KPD. Schrieb ab 1925 Gedichte und Erzählungen. Ab 1928 Mitglied des
Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Während der NS-Zeit mehrmals verhaftet.
1945-1951 Bürgermeister von Piesterwitz bei Wittenberg. Ab1951 freischaffender Schriftstel-
ler. 1961 Nationalpreis der DDR.
593 Lorbeer, Hans: Die Rebellen von Wittenberg. (Trilogie). 1. Das Fegefeuer. Halle, 1. Auflage
1956.2. Der Widerruf. Halle, 1. Auflage 1959. 3. Die Obrigkeit. Halle, 1. Auflage 1963.
594 Heide Hess studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Germanistik. Später arbeitete sie
an der Akademie der Künste und war ab 1972 Dramaturgin im Bereich Dramaturgische
Kunst/Serien-Produktion des Fernsehens der DDR.
595 Simons, Rotraut: Das DDR-Fernsehen und die Lutherehrung. a.a.O.: 106.

286
Außerdem bemängelte die Dramaturgin die schwache Stellung Luthers
im Lorbeerroman, wo er passiv auftritt und hauptsächlich aus der Sicht
anderer beurteilt würde.

"In der dramatischen Serie müsste Luther als handelnde Figur viel stärker von Anfang an
ins Zentrum des Geschehens gerückt werden.,,596

Mit dieser Haltung kam Heide Hess den auf eine stärker pragmatische
und an nationalen Zielen orientierten Gruppe der Führungselite beruhenden
Ambitionen entgegen.
Die konzeptionelle Wende von der Lorbeer-Bewertung Luthers zu einer
positiven, "dem historischen Fortschritt dienenden" Figur wurde schließlich
durch die Gutachtertätigkeit von dem Historiker Gerhard Brendler, dem
Verfasser der "Thesen über Martin Luther" von 1981, festgeschrieben. Die
"Thesen" waren nach Horst Barteis Ausführungen zur Gründung des Lu-
therkomitees der DDR die entscheidende theoretische Grundlegung des
neuen Luther-Mythos' in der DDR. Brendler hatte den nötigen Rückhalt im
Zentralkomitee, um alle Widerstände der Verantwortlichen im DDR-
Fernsehen, die dem bis dahin implementierten Lutherbild nach Lorbeer
anhingen, zu paralysieren. So bezeichnete der Chefdramaturg des Bereiches
Dramatische Kunst des DDR-Fernsehens, Manfred Seidowsky, den Histori-
ker nicht nur als "wissenschaftlichen Berater", sondern auch als "Verbünde-
ten".597 Brendler als Verkörperung des gewendeten offiziellen DDR-
Lutherbildes prägte von da an entscheidend die Grundaussagen des Films
und durch dessen hohen Stellenwert in der symbolischen und Mythenpolitik
den Luthermythos der frühen 80er Jahre in der DDR überhaupt.
So hatte ein Historiker Anteil an der Inszenierung einer letzten Erzäh-
lung, eines letzten Mythos oder Totalmythos, wie ihn Hans Blumenberg
nennt, der den narrativen Kern eines Grundmythos bis zur Unkenntlichkeit

596 Wörtlich sagte sie: "Lorbeer fUhrt seine Lutherfigur weitgehend passiv und baut sie während
des ganzen ersten Romans aus der Sicht anderer Figuren auf. In der dramatischen Serie müsste
Luther als handelnde Figur viel stärker von Anfang an ins Zentrum des Geschehens gerückt
werden. Deshalb ist das Ziel einer gründlichen Konzeptionsarbeit zu prüfen, wo, wie weitge-
hend und mit welchen Konsequenzen Lorbeers Konzeption der Lutherfigur und die poetische
Handlungsstruktur der Trilogie beibehalten oder gesprengt werden müssen." In: Simons,
Rotraut: Das DDR-Fernsehen und die Lutherehrung. a.a.O.: 106.
597 Seidowsky schrieb an Brendler, dass es "ausserordentlich wertvoll (wäre), wenn wir Sie auch
darüber hinaus als wissenschaftlichen Berater und Verbündeten fUr unser gewiss nicht einfa-
ches Unternehmen gewinnen könnten." In: Deutsches Rundfunkarehiv. Sign. Drama Martin
Luther Produktion.

287
abwandelte, was immer das Ende eines Mythos bedeutet. 598 Blumenbergs
Aussage beschreibt treffend die Situation um den Luthermythos in dieser
Zeit:

"Grenzbegriff der Arbeit am Mythos wäre, diesen ans Ende zu bringen, die äußerste Ver-
formung zu wagen, die die genuine Figur gerade noch oder fast nicht mehr erkennen lässt."
Dies bedeutete "die Fiktion eines letzten Mythos, eines solchen also, der die Form aus-
schöpft und erschöpft. ,,599

Das Fernsehen der DDR schloss Anfang 1979 mit Brendler einen Fach-
gutachtervertrag ab, woraufhin regelmäßig Beratungen zwischen Brendler
und den Künstlern und Machern des Filmes stattfanden. 60o Das erste Mal
traf sich Brendler schon Ende 1978 mit Hans Kohlus und Heide Hess. 601
Von da an begleiteten die Fachgutachten des Historikers die gesamte Ent-
wicklung des Lutherfilmes, und die von ihm verfassten "Thesen" wurden
zum Maßstab für die Filmkonzeption und -produktion. 602 1980 wurde eine
Adaption an die Lorbeer-Trilogie endgültig abgelehnt, und es kam eine
Entscheidung für fünf Teile des Films zustande, die jeweils von Brendler
begutachtet und in die Überarbeitung gegeben wurden. Mitte Oktober 1980
lag die überarbeitete Fassung der ersten vier Teile vor, der fünfte wurde erst
im Juni 1982 fertiggestellt. 603
In seinem Abschlussgutachten schätzte Brendler ein, dass der Film der
Aufgabe gerecht werde, "den Luther zu zeigen, den die DDR 1983 ehren
wolle.,,604 Es kamen noch einmal sehr deutlich die Bemühungen zum Aus-
druck, den bisherigen Mythos von Bauemkrieg und Reformation zugunsten
der Reformation und Martin Luthers umzugewichten und die Vergangenheit
:für die DDR neu zu erzählen:

"Das Novum, dem sich dieser Film stellt, besteht darin, auch das bürgerlich-gemässigte
Lager in seiner Qualität als Bestandteil der Revolution anzuerkennen. Theoretisch ist dies in
den Darstellungen der marxistischen Historiker schon längst geschehen, insofern ist das gar
nicht so neu. Doch muss dies auch im durchschnittlichen Geschichts- und Traditionsbe-

598 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. FrankfurtlM.: Suhrkamp. a.a.O.: 295.


599 ebenda.
600 Deutsches Rundfunkarchiv. Sign. Martin Luther Produktion.
601 ebenda.
602 Dern Treffen zwischen Brendler und den Filmemachern folgten zwei weitere Gespräche 1979
in Wittenberg und in Berlin. Heide Hess übersandte Brendler in diesem Rahmen "siebzehn
Fragen zu Martin Luther", in denen vor allern die Frage der Bewertung des Bauernk:rieges und
von Thomas Müntzer behandelt wurde. In: ebenda.
603 Simons, Rotraut: Das DDR-Fernsehen und die Lutherehrung. a.a.O.:llO.
604 Gutachten von Gerhard Brendler vom 14.01.1982 zum Szenarium Martin Luther. In: Deut-
sches Rundfunk- und Fernseharchiv. Sign. Drama Martin Luther Produktion.

288
wusstsein verankert werden. Wir identifizieren uns nicht mit der theologischen und histori-
schen Position Luthers, aber auch nicht mit der Müntzers oder Karlstadts. Wohl aber neh-
men wir diese unterschiedlichen und gegensätzlichen Positionen zur Kenntnis und würdigen
sie in ihrer je eigenen situationsbezogenen Räson. Früher haben wir das vornehmlich für
jene Kräfte getan, die sozusagen 'links' von Luther standen .... Heute tun wir dies auch für
die Position Luthers.,,605

Brendler griff die These von der Einbindung der lutheranischen Akteu-
re, die seit den 50er Jahren als "bürgerlich-gemäßigtes Lager" bezeichnet
wurden, in die fiiihbürgerliche Revolution nicht nur wieder auf, denn diese
wurde wirklich schon von Alfred Meuse11950, zumindest für die erste Pha-
se der Reformation, vertreten, sondern wollte sie auch zu einer allgemeinen
Überzeugung machen, die den Rückbezug auf Geschichte als konstituierend
für eine neue DDR-Identität konstruierte. Deshalb nahm er auch auf das
"durchschnittliche Traditions- und Geschichtsbewusstsein" Bezug, das sich
dem der weitblickenden marxistischen Historiker, die die Wahrheit schon
längst erkannt hatten, annähern sollte. Er verschwieg dabei den Zick-Zack-
Kurs der DDR-Historiographie und die Zeiten, in denen die beschriebene
Sichtweise als subversiv kriminalisiert wurde. Dass eine realistische und
rein analytisch orientierte Betrachtung bezüglich der Nichtidentifizierung
mit den theologischen und historischen Positionen, weder in bezug auf Lu-
ther noch auf Müntzer, von Brendler favorisiert wurde, war mehr Indiz für
die Verdrängung der Distanznahme von eigenen Theorien, die mit der Linie
der 80er Jahre nicht mehr übereinstimmten, als das Beharren auf einer
schon immer vertretenen von politischen Parteiinteressen und Karriereambi-
tionen unabhängigen Haltung.
Unabhängig von der Beratertätigkeit von Brendler, schaltete sich die
SED über den Staatssekretär für Kirchenfragen in die Gestaltung der Lu-
thergeschichte im Film ein. Klaus Gysi gab ohne Wissen der Autoren ein
eigenes Gutachten zu den Drehbüchern ab, das er am 17. Dezember 1981
fertig stellte. 606 Die meisten Kritikpunkte betrafen Verfahrensfragen wie
Drehorte oder Sendedauer, doch an der inhaltlichen Ausgestaltung wurde
grundsätzlich nichts beanstandet. Jedoch reichte das Gutachten Gysis für
eine garantierte Linientreue des Films der SED-Führung nicht aus. Die
Abteilung Agitation des ZK der SED beauftragte Wolfgang Schnedelbach,
Mitarbeiter der Joachim Herrmann unterstehenden Abteilung Propaganda,

605 ebenda.
606 Erich Selbmann in einem Brief an Klaus Gysi vom 21.09.1981: "Ich wäre Euch dankbar,
wenn dieses Gutachten relativ schnell gegeben werden könnte und wenn ihr darüber zunächst
Vertraulicbkeit wahrt, da die Autoren darüber zunächst nicht unterrichtet sind. In: Bundesar-
chiv. BA P Do 4 Bd. 453.

289
mit der Betreuung des Filmes, wofür ihm alle Drehbücher zur Begutachtung
übersendet wurden. Das im wesentlichen positive Gutachten beanstandete
allerdings das im Film vermittelten Müntzerbild. Bei der Betrachtung von
Müntzer stelle sich der Film zu stark auf den Lutherischen Standpunkt, so
dass Müntzer wie ein "religiös-politischer Sektierer" wirke.
Die Absicht der offiziellen Vertreter der Partei- und Staatsführung und
einer Reihe von Historikern, mit Hilfe des Lutherfilms einer positiveren
Sicht auf Luther zum Durchbruch zu verhelfen, fiel mit den Intentionen der
am Film beteiligten Künstler zusammen, wobei beide Gruppen ganz unter-
schiedliche politische Ziele verfolgten. Das Interesse von Kohlus an einer
Lutherbiographie war auf das mentale Umfeld seiner Kinder- und Jugend-
jahre in einem evangelischen Elternhaus und die geographische Nähe zu
den Lutherstätten seiner Heimatstadt Eisenach zurückzuführen. Für ihn
verband sich mit der Person Luthers das Goethesche Bild vom "produktiven
Genie", das sicher mit der pejorativen mythischen Darstellung der vorange-
gangenen Jahre nicht übereinstimmte.
Eines seiner Interviews mit dem DDR-Fernsehen begann Kohlus mit
dem Goethezitat:

"Luther war ein Genie sehr bedeutender Art; er wirkte nun schon manchen guten Tag, und
die Zahl der Tage, wo er in femen Jahrhunderten aufhören wird, produktiv zu sein, ist nicht
abzusehen.,,607

Das Entscheidende für Kohlus und Helga Hess war, dass Martin Luther
festgefahrene Machtstrukturen durch den Einsatz seiner ganzen Kraft und
mit dem Risiko der eigenen Vernichtung zerbrach. Der stark mythische
Impetus im Luther-Bild von Kohlus wird durch den von Blumenberg als
konstitutiv für Bedeutsamkeit beschriebenen Aspekt der "latenten Identität"
deutlich, die mit Bewunderung und literarischer Distanznahme einher-
geht. 608 Kohlus äußerte 1983 vor dem Fernsehen der DDR:

607 Goethe, Johann Wolfgang: Zitat von 1828. Aus Hans Kohlus. In: Institut ftIr vergleichende
Staat-Kirche-Forschung (Hrsg.):Martin Luther. Fünfteiliger Fernsehfilm der DDR. In: Erinne-
rung an das 5. Werkstattgespräch "Luther und die DDR. Gespräche über ein ungewöhnliches
Jubiläum 1983" am 14. November. Berlin 1996: 2.
608 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Erster Teil. Kap. III. "Bedeutsarnkeit". Frank-
furtJM: Suhrkamp 1990. Fünfte Auflage: 68-126.

290
"Hier zerbricht er die geistige Diktatur der alten papistischen Kirche, hier agiert er charak-
terstark und überzeugungstreu filr die Freiheit des Denkens und der Wissenschaft, hier wird
er zum Dichter und Sänger - hier entfaltet sich, was sein Fortleben im Gedächtnis der
Menschheit als Mitschöpfer einer neuen Gesittung begründet.,,609

Das "Zerbrechen der geistigen Diktatur" des Alten ist dem Künstler das
Wichtigste, es ist die Botschaft, die er mit seinem Film unter die Leute zu
bringen beabsichtigte.
Der Film umfasste zehn Jahre des Lebens von Martin Luther, angefan-
gen vom Thesenanschlag 1517 bis zum Jahre 1527, da nach Meinung des
Autors in diesem Jahr "die erste Woge der frühbürgerlichen Revolutionen in
Europa abebbte" und da es "die Entscheidungsjahre des Martin Luther und
seiner Reformation sind". 610 Die Dramatik des Films wurde weniger durch
handelnde Personen und bewegte Szenarien bestimmt als vielmehr durch
Diskussionen zwischen den verschiedenen Parteien, die sich sehr lange
hinzogen, viel Fachkenntnisse erforderten und dem Film den Ruf eines
"Diskussionsstückes" einbrachten. 611 Die anfangs agierenden fiktiven Per-
sonen, die den Film für die Zuschauer interessant machten, verschwanden in
den letzten Teilen und wichen den diskutierenden Hauptakteuren.
Entsprechend der programmatischen Honeckerrede, gestaltete sich auch
der Luthertilm zu einer breiten und aufwendigen Würdigung Luthers als
einem "Helden der Neuzeit", als einem "Riesen der Renaissance", der sich,
gespielt von Ulrich Thein, wortgewaltig und bärbeißig mit seinen Gegnern
herumschlug, Mut und Durchsetzungskraft und vor allem Weitblick besaß.
Müntzer, der von einem jungen Schauspieler mit asthenischer Gestalt und
sensiblem Gemüt gespielt wurde, erschien als der schwärmerische Utopist
und Idealist, der den überirdischen Welten näher schien als den irdischen.
Müntzer war der politische Idealist, Luther der kämpferische und schlaue
Realist. Welche mythische Verkehrung hatte stattgefunden? In Wolfs Stück
war Müntzer der volks- und erdverbundene wahrhaftige Typ, Luther der
verruchte Verräter. Ebenso verhielt es sich in der Lutherbiographie von

609 Kohlus, Hans: Interview mit dem Fernsehen der DDR 1983. In: Institut rur vergleichende
Staat-Kirche-Forschung (Hrsg.):Martin Luther. Fünfteiliger Fernsehfilm der DDR. In Erinne-
rung an das 5. Werkstattgespräch "Luther und die DDR. Gespräche über ein ungewöhnliches
Jubiläum 1983" am 14. November. Berlin 1996: 2.
610 Kohlus, Hans: Interview mit dem Fernsehen der DDR 1983. In: Institut rur vergleichende
Staat-Kirche-Forschung (Hrsg.):Martin Luther. Fünfteiliger Fernsehfilm der DDR. In Erinne-
rung an das 5. Werksta1tgespräch "Luther und die DDR. Gespräche über ein ungewölmliches
Jubiläum 1983" am 14. November. Berlin 1996: 2.
611 Protokoll vom 23.11.1981 über eine Beratung im Bereich Dramatische Kunst über Kürzung
des Luther-Films am 18.09.1981. In: Deutsches Rundfunk- und Fernseharchiv. Sign. Drama
Martin Luther Produktion.

291
Lorbeer, in der Müntzer als der Tatendurstige, Aktive und Mutige und Lu-
ther als der Feige und Passive erschien.
So sehr die Partei- und Staatsführung und eine Anzahl von Historikern
im Umfeld von Gerhard Brendler den Lutherfilm auch favorisierten, so gab
es doch eine Kritik von links, die nicht ganz und gar übersehen werden
konnte. Einer der prominentesten Vertreter dieser Kritik war Hanfried Mül-
ler, Theologe und Herausgeber der sozialpolitischen Zeitschrift "Weissen-
seer Blätter".612 In einem Brief, den er am 22.01.1996 an das Institut für
vergleichende Staat-Kirche-Forschung schrieb, beschwor er noch einmal die
Situation Anfang der 80er Jahre herauf und stellte retrospektiv fest:

"Als ich von der Absicht hörte, einen, unvermeidlich als ökumenische Visitenkarte der
DDR-Geschichtswissenschaft wirkenden, mehrteiligen Luther-Srielfilm zum Luthetjahr filr
das DDR-Fernsehen herzustellen, schwante mir nichts Gutes.,,61

Abgesehen von einer großen Anzahl von theologischen und künstleri-


schen Einwänden, hatte der Theologe damals gegenüber dem Film harte
politische Einwände. Der Hauptvorwurf bestand darin, dass ein Lutherbild
vermittelt würde,

dass "erhebliche Ähnlichkeit mit dem Luther des konservativsten, gegenrevolutionärsten


Luthertums des 19. Jahrhunderts" habe.

So seien die Autoren und Berater "von einer naiven und schablonenhaf-
ten, vulgären Vorstellung eines vermeintlich 'marxistischen' Lutherbildes"
beeinflusst gewesen, von dem sie nur im Kopf gehabt hätten, "Luther sei ein
Fürstenknecht" und "Bauernschlächter" , und der Bauemkrieg sei "die be-
deutendste revolutionäre Tradition Deutschlands" gewesen. Für den Film

612 Hanfried Müller: geb. am 04.11.1925 in Celle. Evangelischer Theologe. 1945-52 Studium der
Theologie in Bonn und Göttingen. 1949 Delegierter zum Deutschen Volkskongress. 1950
Gründungsrnitglied der FDJ in Göttingen. 1952 Disziplinarverfahren und Ablehnung des PTii-
fungsantrages an der Universität Göttingen. Übersiedlung in die DDR und erstes theologisches
Examen bei der evangelischen Kirche in BerlinlBrandenburg. 1956 Aspirantur und Promotion
an der Humboldt-Universität Berlin. Ab 1958 Mitarbeiter und zeitw. Leiter des Weissenseer
Arbeitskreises. 1963 Mitautor der sieben Sätze "Von der Freiheit der Kirche zum Dienen".
Mitarbeit in der christlichen Friedenskonferenz, 1961-68 leitende Position. 1959 Dozent und
ab 1964 Professor rur Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-
Universität Berlin. Mitglied der Synoden der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und
der Evangelischen Kirche der Union. Mitglied des Friedensrates der DDR. 1982 Mitbegrunder
und Herausgeber der Weissenseer Blätter. 1990 emeritiert.
613 Simons, Rotraut: Das DDR-Fernsehen und die Luther-Ehrung. In: Dähn, Horst und Joachim
Heise ... a.a.O.: 114.

292
fehle "ein präziseres wissenschaftliches marxistisches Lutherbild".614 Müller
schrieb damals:

"Es lässt sich denken, dass eine stärkere Akzentuierung des Realismus in Luthers politi-
scher Haltung und eine stärkere Akzentuierung des utopischen Charakters in plebejischen
und Bauembewegungen in der neueren marxistischen Forschung von solchen Vorausset-
zungen her nicht als historische Präzision des Geschichtsbildes auch der Klassiker, sondern
dass diese 'Präzision' im Sinne einer 'Revision' missverstanden sein könnte.,,615
Weiter steUte er fest,

"dass Luther im stAndigen Kampf gegen Linksabweichungen darauf drängte, das 'Machba-
re' zu 'machen' und im revolutionären Elan überhaupt die Hauptgefahr tllr die Revolution
zu sehen.,,616
Seine Ausführungen beendete Müller mit der Frage, was von diesem
Film beim Zuschauer ankomme. Er beantwortete die Frage folgendermaßen:

"Ich tllrchte dies: Nachdem die DDR revolutionär entstanden ist und in der revolutionären
Phase Müntzer feierte, hat sie nun ihre saturierte Phltr erreicht, ist am 'Bestehen' interes-
siert und 'konservativ'. Darum ehrt sie nun Luther." 61
Müllers Kritik lässt deutlich werden, dass für eine Reihe linker Protago-
nisten der DDR, zu denen linke Intellektuelle, besonders die für die Zeit der
80er Jahre älteren Jahrgänge, Vertreter der Aufbaugeneration, aber auch
aktive alte Antifaschisten gerechnet werden können, die spezielle Form der
Lutherehrung eine konservativen Wende der DDR insgesamt bedeutete. Sie
sahen den einstmals versprochenen revolutionären Weg verloren, fühlten
sich um ihre Hoffnungen betrogen und auch von der Macht verdrängt. Bei
der Lutherehrung waren sie nicht nach ihrer Meinung und ihrem Rat gefragt
worden. Obwohl Hanfried Müller ein ausgesprochener Luther-Kenner war,
ist er niemals zu Rat gezogen worden. Er verdankte sein Wissen über das
Drehbuch des Lutherfilmes einer geheimen Quelle, die er nicht nannte. Als
er seine Kritik am Drehbuch des Lutherfilmes vor dessen Freigabe an den
Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, weitergab, wurde diese größ-
tenteils ignoriert. Die Künstler selbst erfuhren nichts davon.

614 ebenda.
615 ebenda.
616 ebenda.
617 Müller, Hanfried: Eilige Kurzinformationen über die schwerwiegendsten Bedenken zum
Drehbuch filr die Lutherserie filr das Fernsehen der DDR. Brief an Klaus Gysi, mit hand-
schriftlichen Randbemerkungen des EmpBngers, olme Datum (Oktober 1981) In: BA P DO 4,
Bd.453. In. Simons, Rotraut: Das Fernsehen. ..a.a.0.: 118/119. Das in dem Briefentha1tene
Papier besteht aus 16 Seiten.

293
Diejenigen, die ähnlich wie Hanfried Müller dachten, sahen in dem
gesamten Erbediskurs eine Gefahr rur einen alternativen gesellschaftlichen
Weg zum Kapitalismus. Indem sie Erbe und Tradition einander gegenüber-
stellten, stellten sie die bisherige revolutionäre Tradition der DDR und zu-
sammen mit dieser den eingeschlagenen gesellschaftlichen Entwicklungs-
weg überhaupt in Frage. Allerdings nahmen jüngere Intellektuelle diese
Kritik nicht auf und schlossen sich den Ansichten von Hanfried Müller nicht
an. Derartige Auffassungen blieben relativ isoliert, bzw. drangen nur wenige
davon an die Öffentlichkeit.

8.7 Die Rezeptionsprobleme des neuen Lutherbildes

Der Lutherkult in der DDR dauerte allerdings nicht lange und reichte nicht
einmal mehr über das Jahr 1983 hinaus. Er kann als Prototyp rur missglück-
te Arbeit am Mythos betrachtet werden. Die Staats- und Parteifiihrung, die
damit eine Stabilisierung ihrer Herrschaft und die Festigung von politischer
Legitimität erreichen wollte, verband mit der Lutherehrung vor allem die
Intention, sich selbst zu feiern und das Ansehen nach außen zu stärken.
Honecker wollte mit den Grossen der deutschen Geschichte in einer Reihe
stehen, und er wollte ein anerkannter Staatsmann der protestantisch-
reformatorischen Welt werden. Zum Jubiläum wurden auch die Staatsober-
häupter von Schweden, der Schweiz, den USA, Kanada und einigen anderen
Staaten eingeladen, die allerdings alle absagten. Der SED lag gleichfalls
eine Verbesserung des Verhältnisses zur Kirche und über diese zur Opposi-
tion am Herzen.
Ein großer Teil der Partei- und Staatsfunktionäre der mittleren und un-
teren Ebene, besonders jene die mit der Durchfiihrung des Jubiläums zu tun
hatten, aber auch viele Kirchenvertreter, verbanden mit der Lutherehrung
die Hoffnung auf einen relativen Neuanfang von Gemeinsamkeit, von mehr
Toleranz und politischem Frieden. Sie waren diejenigen, auf die die Arbeit
am Mythos eine verinnerlichende, wirklich integrierende und identifizieren-
de Wirkung hatte, allerdings mehr bezogen auf die Gesellschaft und den
Staat, und weniger auf die Parteifiihrung, die selbst bei diesen Leuten kein
positives Ansehen mehr genoss.
Am interessantesten waren die Intentionen einer breiten Schicht von
Künstlern und Historikern, hier auch wieder vor allem jener, die in das
Jubiläum einbezogen waren. Personen wie Gerhard Brendler, Adolf Laube
und Günter Vogler als Historiker und Hans Kohlus, der Autor, Kurt Veth,

294
der Regisseur, Ulrich Thein der Hauptdarsteller des Lutherfilmes nahmen
eine sehr wichtige Rolle ein. Diese Intellektuellen sahen in Luther den
Widerständler gegen eine autoritäre unbarmherzige Willkürherrschaft, was
bedeute, dass Luther mit der Opposition in der DDR und die römisch-
katholische Kirche mit der SED identifiziert wurden. Für alle Filmzuschau-
er, die mit dem politischen System in der DDR Probleme hatten, drängte
sich diese Assoziation auf. Das hieß, dass sich der Mythos in sein intendier-
tes Gegenteil verwandelte und gegen die Mythenmacher selbst richtete.
Fast alle Künstler betonten immer wieder ihr Anliegen, Luther so dar-
zustellen, wie er wirklich war, ganz ohne Zusatz, völlig originalgetreu. Der
Regisseur des Dokumentarfilmes "Bürger Luther", Lew Hohmann, hob
hervor, dass er Luther "vermenschlichen wollte".618 Dass sich hinter dieser
Haltung die Absicht verbarg, sich einerseits vom traditionellen negativen
Lutherbild zu distanzieren und andrerseits einen Gegenmythos zum gewen-
deten offiziellen Mythos aufzubauen, wurde aus den weiteren Assoziationen
zu Luther deutlich. Bezeichnend für die Distanznahme zum alten Lutherbild
war, dass sich Hans Kohlus, der Autor des Lutherfilmes, nicht auf Engels
oder Smirin berief, sondern auf Goethe und seine Einschätzung zu Luther
als "Genie bedeutender Art", das noch bis in feme Zeiten produktiv sein
würde. 619

Das Anliegen des Künstlers geht deutlich aus einem Interview mit dem
DDR-Fernsehen von 1983 hervor, als er den Schwerpunkt auf das Zerbre-
chen der "geistigen Diktatur der alten päpstischen Kirche" und das Streben
Luthers nach der "Freiheit des Denkens und der Wissenschaft" legte und in
der Art des "Ersten Systemprogramms des deutschen Idealismus" sagte,
dass Luther jetzt "zum Dichter und Sänger" wurde, d.h. zu einem Weissager
und Helden. 620 Noch deutlicher kamen die Intentionen dieser Gruppe von
Künstlern in einem Interview mit Lew Hohmann zum Ausdruck:

"Im Falle Luthers bot sich manches direkt an. Ich denke nur an seine Anklageschrift gegen
die katholische Kirche. Die las sich damals wie eine Kritik an der SED mit ihrem Wahr-
heitsanspruch, Machtmonopol und ihrer Arroganz der Macht.,,621

618 Vgl. Lew Hohmann, Regisseur des Dokumentarfilms "Bürger Luther", Interview vom
11.04.1996. In: Dähn, Horst... a.a.O.: 196-205.
619 Kohlus, Hans: In: Martin Luther. 5. Werkstattgespräch "Luther und die DDR. Gespräche über
ein ungewöhnliches Jubiläum 1983", Berlin: Institut filr vergleichende Staat-Kirche-
Forschung vom 14. November 1996: 2. Kohlus beruft sich aufein Zitat von Goethe von 1828.
620 ebenda.
621 Hohmann, Lew: ... a.a.O.: 198.

295
Wenn Hans Kohlus die Friedensbotschaft Luthers besonders betonte, so
war das charakteristisch für das LutheIjahr überhaupt, und auf den ersten
Blick scheint eine Übereinstimmung zu Honeckers programmatischer Rede
von 1980 anlässlich der Gründung des Lutherkomitees deutlich zu werden.
Doch dass Konkreszenz zwischen Luther und dem Frieden konstruiert wur-
de, war bei vielen Künstlern ganz anders gemeint als bei der Staatsführung.
In umgekehrter Weise übten sie, wie dies aus einem Diskussionsbeitrag von
Kurt Veth 1996 hervorging, Kritik an der Konfrontations- und Rüstungspo-
litik der DDR und wollten somit in erster Linie gegen die Partei- und Staats-
führung auftreten und den Zuschauern des Films, mit deren Fähigkeit zur
Entschlüsselung von Gleichnissen sie rechneten, in dieser Weise eine Bot-
schaft übermitteln. 622
Die breite Masse der Bevölkerung allerdings zeigte überhaupt kein Inte-
resse an dem Lutherkult. Die niedrigen Einschaltquoten des Lutherfilmes
(zwischen 7,5 und 9,6 %), der auch noch ausgezeichnete Sendezeiten zuge-
billigt bekam, machte das deutlich. 623 Am geringsten war das Interesse bei
den Jugendlichen. Die Bevölkerung machte sich weder das mit Luther
verbundene mythische Angebot der Staats- und Parteiführung zu eigen,
noch folgte sie den Interpretationen der Künstler und Historiker, die Luther
als mythische Gegenfigur zum herrschenden Regime implementieren
wollten. Die Bemühungen der offiziellen Lutherpromotoren wurden als
mythische Selbstinszenierung der SED interpretiert. Auch konnte die
Umkehrung Luthers in einen Revolutionshelden, wie dies die Historiker zu
begründen versuchten, nicht verstanden werden. Immerhin wurde in der
Schule noch bis 1988 das alte Lutherbild vermittelt. Die absolut unübliche
Diskrepanz zwischen der Honeckerrede und dem in der Schule vermittelten
Stoff schaffte eine Atmosphäre von Unverständnis und Misstrauen.
Ebenso wenig konnte die Masse der Bevölkerung den doppelten Schnitt
im Lutherbild verstehen, den die Künstler vollzogen. Zuerst wendeten sich
diese gegen das alte Lutherbild und integrierten den Reformator in das pro-
gressive Erbe, womit sie Parallelität zur Parteiführung aufwiesen, dann aber
wendeten sie das Lutherbild noch weiter und verwandelten den Reformator
in einen Widerpart der Herrschaft der SED. Luthers Opposition gegen die
katholische Kirche sollte zur Opposition gegen die SED-Führung animieren.
Dies hätte aber eine Identifizierung Luthers als Revolutionär und Herr-

622 Mündlicher Diskussionsbeitrag von Kurt Veth auf dem 5. Werkstattgespräch des Instituts filr
vergleichende Staat-Kirche-Forschung: Luther und die DDR. "Gespräche über ein ungewöhn-
liches Jubiläum 1983" vom 14.11.1996.
623 Vgl. Dähn, Horst und Joachim Heise: Luther und die DDR. a.a.O.: 149-160.

296
schaftsgegner bedeutet. Die Menschen in der DDR identifizierten Luther
aber mit und nicht gegen Herrschaft. Das Bild stimmte nicht, der allgemeine
Erinnerungscode war anders gepolt und konnte den der kleinen Gruppe von
Künstlern nicht wiedererkennen.
Der größte Teil der eigenen SED-Leute stand dem neuen Lutherbild e-
benfalls skeptisch gegenüber. Dass Erich Honecker selbst den Vorsitz des
Lutherkomitees übernahm, kann einerseits als Ausdruck staatlicher Stärke,
andrerseits aber auch als Schwäche der neuen mythischen Richtung sowie
des politischen Systems überhaupt ausgelegt werden. Wenn nicht höchste
staatliche Repräsentanz den Luthermythos legitimiert hätte, wäre es zu dem
Lutherjahr in dieser Form gar nicht gekommen. Denn die meisten Partei-
funktionsträger hätten sich höchstwahrscheinlich verweigert.
Die Mehrheit der Funktionäre in der SED, die die extreme Wende des
Mythos nicht verstehen wollten, hatten bereits so große Selbständigkeit in
der politischen Entscheidungsfindung erreicht, dass sie sich nicht ohne
weiteres den Befehlen der SED-Zentrale in Berlin beugten. Zum Beispiel
weigerte sich der Parteisekretär des Bezirks Rostock, sich der "Lutherei aus
Berlin" anzuschließen. Erst als Honecker als Vorsitzender des Komitees
auftrat, ordnete er sich unter. Aber nicht nur die leitenden Partei sekretäre
standen der mythischen Inszenierung um das Jahr 1983 ablehnend gegen-
über, sondern auch eine große Anzahl der Mitglieder der immerhin drei
Millionen starken SED. Ein Beleg dafür ist die Aussage von Siegfried Ra-
kotz, des damaligen Leiters des Organisationsbüros des Martin-Luther-
Komitees:

"Wir haben damals von Funktionären und auch 'einfachen' Genossen oftmals hören müs-
sen, sie verstünden die Politik der Partei und Regierung überhaupt nicht mehr: einen Kir-
chenmann, einen Bauernverräter, Bauernmörder, Bauernhenker und Fürstenknecht mit
einem solchen gesellschaftlichen Aufwand in der DDR ehren zu wollen.,,624

Insgesamt erwies sich die Akzeptanz des Luthermythos als misslungen.


Die mythische Narration wurde zu keinem Mythos fiir die DDR, denn sie
hatte die Gesellschaft aufgrund ihrer Inkonsistenzen und der zu geringen
Akzeptanz nicht wirklich erreicht. Das Jubiläum wölbte sich wie die Eisflä-
che eines Stausees über die Wassermasse, zu der sie aber auf Grund des
schwankenden Wasserpegels keine Berührung mehr hatte und zwischen die
sich ein riesiger Hohlraum schob.

624 Rakotz, Siegfried, Leiter des Organisationsbüros des Martin-Luther-Komitees, Interview vom
22.06.1996. In: Dähn, Horst... a.a.O.: 222.

297
Als sich das Verhältnis zur Kirche aufgrund von Protesthaltungen von
Jugendlichen zu den Kirchtagen wieder zu verschlechtern begann und es zu
Auseinandersetzungen mit den Künstlern des Lutherfilmes kam, als die
internationale Reputation fehlschlug und sich die Hoffnungen der DDR-
Elite auf Stabilisierung ihrer Herrschaft mit Hilfe dieser neuen Identifikati-
onsgeschichte nicht erfüllten, wurde der Kult um Luther über Nacht zurück-
gezogen, und die SED-Führung verfiel erst einmal in mythenpolitische Abs-
tinenz. Honecker hielt zu der Abschlussfestveranstaltung des Lutherjahres
nicht die geplante Rede, und für die meisten Funktionäre des Jubiläums gab
es keine Auszeichnungen. Berichte und Auswertungen des Jubiläums, wie
sonst immer, wurden vom ZK der SED nicht angefordert. In der DDR kur-
sierte zur damaligen Zeit die lakonische Feststellung, dass es sich "ausge-
luthert" hatte. Die Bemerkung von Siegfried Rakotz charakterisiert die Situ-
ation ziemlich treffend, wenn er behauptete:

"Mir scheint, es war so, dass die Martin-Luther-Ehrung möglichst schnell vergessen werden
sollte.,,625

Doch zurückkehren zu der vorhergehenden mythischen Narration konn-


te man auch nicht mehr. Die Staats- und Parteiführung befand sich in einem
ausgesprochen mythenpolitischen Dilemma. Wenn sie wieder zum narrati-
ven Kern zurückgekehrt wäre und so getan hätte, als wäre nichts passiert,
dann hätte sie sich unglaubwürdig gemacht. Im Zusammenhang mit der
nachhaltigen Wirkung von Prägnanzen führt Blumenberg aus:

"Sind die geprägten Formen einmal da, dann lassen sie sich schwer verändem.,,626

Wenn aber die Elite an der Prägung festgehalten hätte, wären aus der
mythischen Narration Gegenbewegungen entstanden, die eine konträre Wir-
kung dessen ergeben hätten, was die Parteiführung bezwecken wollte - näm-
lich die Integration der Gesellschaft und Identität mit dem Staat auf totalitä-
rer Grundlage. Die unterschiedliche Rezeption des Lutherjahres hatte ge-
zeigt, dass sich die Gesellschaft der DDR polarisiert und dynamisiert hatte
und sehr differenzierte Geschichtsbezüge aufwies, die aber nicht durch de-
mokratische Konfliktbewältigung verhandelt wurden.
Die von Blumenberg angeführte "marginale Variationsfahigkeit" des
Mythos, der sich besonders auf seine Vermittlungsmethode bezieht, war
nicht gegeben. Der Veränderung des narrativen Kerns des Mythos folgte

625 Ebenda.
626 81umenberg, Hans: Arbeit am Mythos. a.a.O.: 79.

298
keinerlei Veränderung der Methode mythischer Vermittlung. Es wurde wie
eh und je an der Praxis festgehaiten, dass die Partei- und Staatsfiihrung
Beschlüsse fasste, in denen die narrative Richtung angewiesen, die
Durchführung kontrolliert und die einseitige und konkurrenzlose Huldigung
der zu mythisierenden Personen durchgesetzt wurde. Extrem ausgedrückt,
entwickelte sich Müntzer im Lutherjahr zum Subversiven. Das war die
Verkehrung des narrativen Kerns bei mangelnder marginaler
Variationsfähigkeit. Wie es die Blassweit des Müntzerjahres 1989 vorfiihrte,
ist der Mythos von Bauernkrieg und Reformation in der DDR an sein Ende
gekommen und letztendlich an dem Widerspruch zwischen sich dynamisch
entwickelnder Gesellschaft und starrem politischen System gescheitert.

299
Kapitel IV:
Der Preußenmythos in der DDR

1. Arbeit am Mythos

Der Bezug auf Preußen ist für die Arbeit am Mythos in der DDR ein weitaus
prägnanteres Beispiel als die Modifizierung des Mythos von Bauernkrieg
und Reformation, bei dem es mehr oder weniger um eine Aufgliederung der
Mythennarration ging und neben der Beibehaltung der ursprünglichen Er-
zählung über die revolutionären Wurzeln der DDR im Bauernkrieg die Re-
formation und Martin Luther in die Identitätsstiftung mit einbezogen wur-
den. Dieses teils Beibehalten - teils Distanzieren der Ursprungserzählung
wich beim Preußenmythos einer scharfen Entgegensetzung zwischen ur-
sprünglicher und neu erzählter Geschichte, was in der Verwandlung eines
Negativrnythos' in einen Positivrnythos zum Ausdruck kam.
Wenn man den mythentheoretischen Ansatz von Ernst Cassirer zur
Struktur und der Funktionsweise von Mythen und hierbei besonders den
Grundunterschied zwischen Heiligem und Profanem zugrundelegt, wie er
ihn in der "Philosophie der symbolischen Formen" entwickelt hat, dann
ergibt sich aus der Analyse der "Arbeit am Mythos" über Preußen in der
DDR die Notwendigkeit der Weiterentwicklung des Grundunterschiedes in
der Anschauungsform zwischen Heiligem und Profanem.
Cassirer behauptet, dass mythisches Bewusstsein nicht nach verschiede-
nen Realitätsstufen, nach dem Zusammenhang zwischen Ursachen und
Folgen, sondern nach dem Heiligen und dem Profanen unterscheidet, wobei
immer das zum Heiligen wird, was aus dem gegenwärtigen Interesse heraus
Sinn und Bedeutsamkeit erhält. Cassirer führt aus, dass der Gegensatz zwi-
schen Heiligem und Profanem "auch alle besonderen Scheidungen und Ver-
knüpfungen im Ganzen des Raumes und im Ganzen der Zeit" beherrscht. 627
Bei der Arbeit am Mythos über Preußen in der DDR kann man nun feststel-
len, dass, angefangen bei den Klassikern Marx und Engels über die Theore-
tiker und Führer der Arbeiterbewegung bis hin zu den Intellektuellen,

627 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Fonnen. Zweiter Teil. Das mythische Denken.
Dannstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994: 48.

301
Künstlern und Politikern in der DDR in den ersten 20 Jahren, alles unter-
nommen wurde, um das Heilige des Preußenmythos zu Entsakralisieren und
auf die Ebene des Profanen zu drücken. Doch würde man bei der Profanisie-
rung stehen bleiben, würde das dem Gegenstand nicht gerecht werden. Preu-
ßen war nicht schlichtweg das erklärt Profane in der Geschichte, das man
wegen seiner konstruierten Unbedeutsamkeit nicht zu beachten brauchte,
sondern es wurde, indem man den Bogen zum Nationalsozialismus spannte,
zum Satanischen erhoben. Das Satanische gehört demnach in Erweiterung
des Ansatzes von Cassirer unbedingt zur Anschauungsform des Mythos und
zu dessen Grundunterschied.
Denn das, was ausgeschlossen werden soll, das von dem man sich ab-
grenzt, ist nicht nur profan, sondern es ist das Gegenstück zum Heiligen, es
ist das Satanische. Inklusion und Exklusion bedingen im Mythos einander
und innerhalb eines Negativrnythos überwiegt die ExIdusionsseite. Auf die
Ebene des kollektiven Gedächtnisses gebracht, könnte man das Satanische
auch mit dem vor allem von Aleida und Jan Assmann entwickelten Para-
digma des kulturellen Gedächtnisses und dessen Abgrenzungsfunktion ver-
gleichen. Nach Jan Assmann hat das kollektive Gedächtnis, das über kultu-
relle und politische Medien vermittelt wird, immer zwei Funktionen. Bei der
einen Funktion soll das Vorausgegangene unter keinen Umständen wieder-
holt, und bei der anderen soll den Vorbildern einer vergangenen Zeit nach-
geeifert werden. 628
Wenn Assmann hier zwar die Dimension des Profanen ausklammert, so
bringt er doch den Ausschlussaspekt ins Spiel, der Cassirer fehlt und der für
die Analyse des Preußenmythos in der DDR zwingend ist. Das Profane ist
für den Mythos konstitutiv und auch für die Arbeit mit ihm und durch ihn.
Ebenfalls für die Umwandlung des Heiligen in das Satanische und umge-
kehrt hat das Profane eine wichtige Funktion. Denn, wenn man transfor-
miert, dann muss das Heilige oder das Satanische erst einmal profanisiert,
d.h. auf das Normale, Nicht-Bedeutsame zurückgeführt werden, ehe man die
hochproblematische Drehung ins Gegenteil vollzieht.
Bei der Verankerung des Preußenmythos in der DDR wurde diese Dre-
hung insbesondere durch die Auseinandersetzung mit der sogenannten
"Preußenlegende" oder "Hohenzollernlegende" vollzogen, die den über
Jahrhunderte gewachsenen Heiligenschein über die preußischen Könige und
die preußischen Tugenden zerstören sollte, indem mit den Methoden sachli-

628 Vgl. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders. und Tonio
Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. FrankfurtlM.: Suhrkamp 1988.

302
cher Analysen nachgewiesen werden sollte, dass an diesen Geschichten
einfach "nichts dran" sei. Erst dann konnte man mit der Satanisierung, d.h.
Exklusionsarbeit beginnen. Und so wurde ein satanisch ausgerichteter narra-
tiver Kern des Preußenmythos, der ein Negativmythos darstellte, produziert.
Der nun gesetzte negative Bezug wurde mit der politischen Gemeinschaft in
der DDR in eins gedacht und unterlegte wesentlich den Gründungsmythos
vom Antifaschismus. Das satanische Preußen stellte den narrativen Kern der
mythisch konstruierten Vergangenheit der DDR dar.
Nun war die Transformationsleistung für den Preußenmythos zur Be-
gründung der Legitimität der DDR und zur Schaffung von Identität seiner
Bürger zu Beginn der eigenstaatlichen Entwicklung nicht die einzige Wen-
dung des Mythos, sondern sie wurde ein zweites Mal vollzogen. Der Preu-
ßenmythos ist Beispiel dafür, dass ein politischer Mythos eine Wendung
innerhalb einer narrativen semiotischen Struktur erfuhr, bei dem das Satani-
sche ins Heilige verwandelt wurde, also sozusagen eine Rückverwandlung
stattgefunden hatte. Dabei wurde natürlich der satanisch ausgerichtete nar-
rative Kern zerstört, und es musste ein neuer heiliger geschaffen werden. Ob
dieser Wandel funktionierte und eine mythisch konstruierte Gemeinschaft in
Form der Gemeinschaft der Staatsbürger der DDR zusammenhalten konnte,
soll die folgende Analyse zeigen.
Hintergrund dieses Wandels war, ebenso wie beim Mythos von Bauern-
krieg und Reformation, die abnehmende Bindekraft des Ursprungsmythos
und der mit ihm assoziierten Additionsmythen für einen Grossteil des Be-
völkerung in den 70er und den 80er Jahren und die sinkende Effizienz für
Identität und Integration der politischen Gemeinschaft. Die Partei- und
Staatsführung reagierte auf diese Erscheinung mit der Erfindung neuer
Identitätsbezüge, die die entkräfteten alten Mythen ersetzen und, wenn mög-
lich, revitalisieren sollten. Die realistische Analyse über das "nachlassende
sozialistische Bewusstsein" in der Bevölkerung und die logische Schlussfol-
gerung über den Handlungsbedarf für ein gesteigertes Zugehörigkeitsgefühl
zur bestehenden Gesellschaftsordnung, zum sozialistischen Staat und dessen
Führung wurden jedoch nicht von der Schlussfolgerung begleitet, die tat-
sächlichen Ursachen für den Mythenverschleiß zu erkunden. Dass sich die
Gesellschaft der DDR von einer stark homogenen und hierarchischen in
eine funktional differenzierte verwandelt hatte, und somit auch keine alle
gleichmäßig betreffenden, homogene Identitätsbezüge mehr funktionieren
konnten, hätte auch die Machtposition der politischen Elite in Frage gestellt
und wurde daher nicht wahrgenommen.

303
Die Fähigkeit der politischen Eliten in der DDR zu Innovation äußerte
sich einzig in der Einsicht, unter veränderten Bedingungen die Sinnstif-
tungsgeschichten zu adaptieren oder durch neue zu ersetzen. Da Arbeit am
Mythos aufgrund der Zumutung der Abweichung und Anpassung von vorn-
herein ein Risiko darstellte, sprach diese Einsicht erst einmal für die Wag-
nisbereitschaft der Elite, jedoch blieb sie gerade auf autonom abgegrenztes
Handeln beschränkt. Das weiterführende Wagnis, sich auf die Geschichten
und Bedürfnisse einzulassen, die im Volk tatsächlich kursierten, blieb aller-
dings aus. Die Geschichten wurden von oben verändert bzw., wie im Falle
Preußens, ins Gegenteil gewendet, ohne dass andere Gruppen der DDR-
Gesellschaft an der Arbeit am Mythos beteiligt wurden, abgesehen von eini-
gen Historikern. Diese restriktive singuläre Art der Mythenverformung
entsprach voll und ganz dem autoritären und totalitären Herrschaftssystem
in der DDR. Der Unterschied zur Mythenschöpfung der Gründerzeit der
DDR bestand zum einen in einer Reduzierung der an diesem Vorgang direkt
Beteiligten. Künstler, besonders Schriftsteller, waren jetzt lediglich auf den
Nachvollzug der neuen Mythen beschränkt und nicht an deren Kreierung,
wie zuvor Thomas Mann oder Anna Seghers, beteiligt. Die Veränderung der
DDR-Gesellschaft in Richtung auf eine zunehmend funktionale Differenzie-
rung hätte auch eine funktional differenzierte und somit demokratischere
Art der Mythenvermittlung und der Arbeit am Mythos erforderte.

2. Die ideellen Wurzeln des Preußenmythos in der DDR

Ausgangspunkt des Preußenbildes in der DDR war die aus eigener Betrof-
fenheitsperspektive entwickelte Sichtweise von Marx und Engels zur preußi-
schen Monarchie, die dem gesamten Werk beider eine wesentliche antipreu-
ßische Prägung verlieh. Da Marx, unter der Regierung von Kaiser Wilhelm
aufgrund seiner antimonarchistischen Einstellung in Deutschland Lehrver-
bot hatte, politischen Restriktionen ausgesetzt war und schließlich in die
Emigration gezwungen wurde, kann festgehalten werden, dass das gesamte
Gebäude seiner wissenschaftlichen Lehre, besonders dessen politischer und
historischer Teil, auf einer ausgeprägt antipreußischen Haltung basierte. Er
wurde in der preußischen Rheinprovinz geboren und war unter der Regie-
rung Preußens durch das Lehrverbot in Bonn 1841, das Verbot der "Rheini-
schen Zeitung" 1843, seine Verhaftungen und seine Ausweisung aus Preußen
1849 starken Repressionen ausgesetzt, die sein Leben und das seiner Farnilie

304
schmerzlich beeinträchtigten und sicher seine Haltung gegenüber der preu-
ßischen Herrschaft stark beeinflussten. 629
Persönliche Erfahrung und konträr zur preußischen Administration ste-
hende politische Überzeugungen verbanden sich bei Marx mit einer tief
sitzenden antipreußischen Einstellung, die am deutlichsten in einem Brief
an Engels aus dem Jahre 1856 zum Ausdruck kommt:

" ... etwas Lausigeres hat die Weltgeschichte nie produziert ... Es hat sich keine einzige
mächtige slawische Nation unteIjocht, brachte nicht einmal fertig, in 500 Jahren Pommern
zu bekommen, bis schließlich durch 'Austausch'. Überhaupt eigentliche Eroberungen hat
die Markgrafschaft Brandenburg - so wie die Hohenzollern sie überkamen - nie gemacht,
mit Ausnahme von Schlesien. Weil dies ihre einzige Eroberung ist, heißt Friedrich II. wohl
der 'Einzige'! Kleinliche Löffeldiebstähle, bribery, direkte Ankäufe, Erbschaftsschleicherei-
en etc. - auf solche Lumperei läuft die preußische Geschichte hinaus. Was sonst in der
feudalen Geschichte interessant ist, Kampf des Landesherren mit den Vasallen, Mogelei mit
den Städten etc., alles das ist hier zwerghaft karikiert, weil die Städte kleinlich langweilig
und die Feudalen rüpelhaft-unbedeutend sind und der Landesherr selbst ein Minimus ist. ..
Was den Staat bei alledem auf den Beinen gehalten hat, ist die Mittelmäßigkeit - aurea
mediocritas - pünktliche Buchfilhrung, Vermeidung der Extreme, Genauigkeit im Exerzier-
reglement, eine gewisse hausbackene Gemeinheit und ,Kirchenverordnung'. C'est degou-
tant!"

Das Herabziehen des preußischen Charakters in die Bedeutungslosigkeit


bis hin zur Lächerlichkeit offenbart eine tiefe gefühlsmäßige Aversion ge-
genüber allem Preußischen, dessen Wurzeln offenbar nicht nur aus der ne-
gativen Einschätzung der Rolle Preußens in der deutschen Geschichte resul-
tierte, sondern auch einer riesigen kulturellen Diskrepanz geschuldet war.
Die rheinische Geschichte und Mentalität war geradezu das Gegenteil von
der der Preußen des Nordostens. Entsprechend ihrer katholischen und le-
bensfrohen Kultur wurde die Herrschaft der kargen phantasielosen preußi-
schen BÜfokratenseelen, sozusagen die Herrschaft der Kulturlosen über die

629 Karl Heinrich Marx wurde am 05.05.1818 in Trier geboren. 1835 machte er in Trier sein
Abitur und studierte ab 1836 in Bonn Rechtswissenschaft und später Philosophie in Berlin.
Seine Absicht, in Bonn eine Dozentur zu erwerben, zerschlug sich aufgrund des Lehrverbotes
der preussischen staatlichen Instanzen. Ab 1842 war Marx Mitarbeiter und dann Chefredak-
teur der linksliberalen Rheinischen Zeitung, die nach ihren revolutionär-demokratischen Rich-
tungswende von den preussischen Behörden verboten wurde. Dies zwang ihn schliesslich
1843, nach Paris ins Exil zu gehen. Nachdem Marx 1848 mit der Absicht der Teilnahme an
den Revolutionskämpfen nach Deutschland zurückgekehrt war, gab er die "Neue Rheinische
Zeitung" heraus, die als Informationsblatt und Karnpfanleitung rur die deutsche Arbeiterbewe-
gung wirkte. Als Hauptaufgabe betrachteten es ihre Herausgeber, den Kampf rur die revoluti-
onäre Demokratie zu befördern und den preussischen Militarismus zu verurteilen. Nach der
Restaurationsphase wurde Marx von der preussischen Regierung 1849 wieder aus Deutsch-
land ausgewiesen. Über Paris ging er nach London ins Exil, wo er bis an sein Lebensende leb-
te.

305
Kulturvollen als Schmach empfunden, der man nur durch ein ideelles Über-
legenheitsgefühl begegnen könne. Besonders ausgeprägt war diese Haltung
in jüdisch-intellektuellen Kreisen des Rheinlandes, denen auch die Familie
Marx entstammte.
Auf dem Boden solcher Überzeugungen schrieb Marx in seinen Schrif-
ten den Hohenzollern eine ausgesprochen negative Rolle in der deutschen
Geschichte zu, wofür die Passage aus dem Artikel "Die Taten des Hauses
Hohenzollern" in der "Neuen Rheinischen Zeitung" als Beispiel dienen soll:

"Wer kennt nicht die Treuebrüche, die Perfidien, die Erbschleichereien, durch die jene
Familie von Korporälen groß geworden ist, die den Namen Hohenzollem trägt? ... Man
kennt die abgeschmackte Figur Friedrichs 1., die brutale Roheit Friedrich Wilhelms 11. Man
weiß, wie Friedrich II., der Erfinder des patriarchalischen Despotismus, der Freund der
Aufklärung vermittels der Stockprügel, sein Land an französische Entrepreneurs meistbie-
tend versteigerte; man weiß, wie er sich mit Russland und Österreich verband, um einen
Raub an Polen zu begehen, der noch jetzt, nach der Revolution von 1848, als ein unabgewa-
schener Schandfleck auf der deutschen Geschichte sitzt.,,630

Marx setzte in dem Artikel die Negativzuschreibungen der Herrschaft


der Hohenzollern über Friedrich Wilhelm 11. bis zur Regierung von Fried-
rich Wilhelm III. fort und spannte von den Kurfürsten bis in seine Gegen-
wart einen mythischen Bogen, der als Exklusionsziel einer schlechten, Ver-
derben bringenden Seite der deutschen Geschichte betrachtet wurde.
Die Existenz des preußischen Staates betrachteten Marx und Engels ge-
radezu als Antipoden zu ihrer proletarisch-revolutionären Vision. Zusam-
men mit Heinrich Heine kritisierten sie im Exil in Paris in der Zeitschrift
"Vorwärts" die feudalen Strukturen Preußens und leiteten daraus dessen
reaktionären Charakter ab. Nachdem die Revolution von 1848 nicht in eine
revolutionär-demokratische Entwicklung mündete und die preußischen
Junker nicht von der Macht entfernt und enteignet wurden, maßen Marx
und Engels nicht mehr der Bourgeoisie, sondern nur noch dem deutschen
Proletariat revolutionäre Kraft zu.
Die von Marx und Engels gegründeten und geförderten Arbeiterorgani-
sationen und bürgerlich-demokratischen Zusammenschlüsse hatten neben
ihrer klassenkämpferischen Grundausrichtung größtenteils auch eine stark
antipreußische Komponente. Dies betraf den 1847 gegründeten "Deutschen
Arbeiterverein" , die "Demokratische Gesellschaft" in Brüssel und erst recht
den "Bund der Gerechten", der sich 1847 in den "Bund der Kommunisten"

630 Marx, Karl: Die Taten des Hauses Hohenzollern. In: Neue Rheinische Zeitung Nr. 294 vom
10. Mai 1849. In: MEW. Bd. 6. Berlin: Dietz 1959: 477.

306
umwandelte. Alle diese Organisationen verstanden ihre vorrangige Aufgabe,
entsprechend der marxistischen Fonnationstheorie, in der Beseitigung des
Feudalismus, als dessen Protektor Preußen verstanden wurde. Die Bourgeoi-
sie könne ihre fortschrittliche Kraft nur entfalten, wenn sie die feudalen
Überreste beseitigen würde. Sobald sie diese historische Mission erfüllt
hätte, stellte sich schon die Aufgabe der proletarischen Revolution, wie es
im "Manifest der Kommunistischen Partei" zum Ausdruck kam. 631 Auf der
Grundlage dieser ideellen Prämisse entwickelten Marx und Engels das Akti-
onsprogramm des deutschen Proletariats für die Errichtung einer "einigen
unteilbaren demokratischen Republik". 632 Als Hauptgegner des deutschen
Proletariats wurde der "Preußische Militarismus" deklariert, gegen den sich
alle antifeudalen Kräfte, einschließlich der Bourgeoisie, vereinen sollten.
Nachdem die Revolution von 1848 nicht die erhofften Resultate brachte,
die Macht der preußischen Junker nicht beseitigt wurde und Preußen zwar
in Deutschland aufging, es jedoch dominierte, modifizierten Marx und En-
gels ihre Rollenzuweisung gegenüber der Bourgeoisie, die sie nun nach
deren "Verrat" in der "feigen Frankfurter Versammlung,,633 und dem Bünd-
nis mit den preußischen Junkern nicht mehr als progressiv, sondern konser-
vativ einschätzten. Am 29.12.1848 schrieb Karl Marx in der Neuen Rheini-
schen Zeitung:

"Die Geschichte des preußischen Bürgertums, wie überhaupt des deutschen Bürgertums von
März bis Dezember, beweist, dass in Deutschland eine rein bürgerliche Revolution und die
Gründung der Bourgeoisieherrschaft unter der Form der konstitutionellen Monarchie un-
möglich, dass nur die feudale absolutistische Konterrevolution möglich ist ..." 634

631 Marx, Karl und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. ln: MEW, Bd. 4.
Berlin: Dietz 1958: 493. Folgende Textstelle ist besonders aussagekräftig: "Auf Deutschland
richten die Kommunisten ihre Hauptaufinerksamk.eit, weil Deutschland am Vorabend einer
bürgerlichen Revolution steht und weil es diese Umwälzung unter fortschrittlicheren Bedin-
gungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelteren Pro-
letariat vollbringt als England im 17. und Frankreich im 18. Jahrhundert, die deutsche bürger-
liche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein
kann."
632 Marx, Karl und Friedrich Engels: Programme der radikal-demokratischen Partei und der
Linken. ln: Neue Rheinische Zeitung Nr. 7 vom 7. Juni 1848. ln: MEW. Bd. 5. Berlin: Dietz
1959: 42.
633 Marx; Karl: Die Taten ... a.a.O.: 480.
634 Marx, Karl: Die Bourgeoisie und die Konterrevolution. ln: Neue Rheinische Zeitung Nr. 183
vom 31. Dezember 1848. ln: MEW Nr. 6. Berlin: Dietz 1959: 124.

307
Und an anderer Stelle hieß es:

"Die ganze deutsche Geschichte zeigt keine schmachvollere Erbärmlichkeit als die deutsche
Bourgeoisie. ,,635

Die deutsche Misere, die mit der Refonnation begonnen hatte, nahm mit
Preußen als Kern ihren Fortgang. So blieb als Orientierungspunkt nur noch
die Arbeiterklasse, der jetzt als einziger Klasse das Attribut "revolutionär"
zugewiesen wurde. Von da an war es nur noch die proletarische Revolution,
die der deutschen Misere ein Ende bereiten und mitsamt der Beseitigung der
Bourgeoisie auch die Reste des Feudalismus zum Verschwinden bringen
konnte. Arbeiterklasse und Fortschritt standen von nun an auf der einen
Seite der deutschen Geschichte, während sich Preußentum und Reaktion auf
der anderen Seite befanden.
Diese Haltung änderten Marx und Engels auch nicht nach der Reichs-
gründung 1871, die sie als eine unzureichende "Revolution von oben" be-
trachteten, die aber für den Kampf der Arbeiterklasse bessere Bedingungen
schuf. Friedrich Engels beurteilte die Rolle von Bismarck als dem "Reichs-
einiger von oben" folgendermaßen:

"Kurz, es war eine vollständige Revolution, mit revolutionären Mitteln durchgefUhrt. Wir
sind natürlich die letzten, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Was wir ihm vorwerfen, ist
im Gegenteil, dass er nicht revolutionär genug, dass er nur preußischer Revolutionär von
oben war, dass er eine ~anze Revolution anfing, in einer Stellung, wo er nur eine halbe
durchfUhren konnte, ... " 36

An anderer Stelle nannte Engels Bismarck einen "königlich preußischen


Revolutionär", der seiner Meinung nach niemals konservativ gewesen
war. 637 Für Marx bedeutete der von Bismarck geschaffene Staat ein

"mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter, schon von
der Bou~eoisie beeinflusster bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Polizeidespo-
tismus." 8

Die Betonung der negativen Prägung deutscher Geschichte durch Preu-


ßen, wie sie von den Klassikern vertreten wurde, setzte sich unter den Theo-
retikern und den politischen Führern der deutschen Arbeiterbewegung, über

635 Marx, Karl: Sieg der Konterrevolution zu Wien. In: Neue Rheinische Zeitung. Nr. l36 vom 7.
November 1848. In: MEW. Bd. 5: 455.
636 Engels, Friedrich: Die Rolle der Gewalt in der Geschichte. In: MEW Bd 21. Berlin: Dietz
1992: 433.
637 ebenda: 431.
638 Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms. MEW Bd. 19. Berlin: Dietz 1960: 29.

308
den antifaschistischen Widerstand bis in die DDR fort, währenddessen die
positive Beurteilung von Bismarck durch Engels weitgehend ausgeblendet
wurde.
August Bebel, der Sohn eines annen preußischen Unteroffiziers, der rur
die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) Abgeordneter des Preußi-
schen Landtages und später des Deutschen Reichstages war, befand sich
schon aufgrund seiner politischen Position im Gegensatz zur preußischen
Regierung und somit auch zu deren Tradition und Geschichte. Im Mittel-
punkt seiner Kritik stand die als verderblich definierte "Verpreußung
Deutschlands", da "Preußen nie ein liberaler Staat gewesen ist und nie ein
liberaler Staat sein wird". 639
Anders als Marx und Engels, die in Bismarck den "Revolutionär wider
Willen" und positive Effekte der Reichsgriindung sahen, beurteilte Bebel
unter dem Eindruck des "Sozialistengesetzes" den Reichskanzler und das
preußische deutsche Reich durchweg negativ, so dass ihm Karl Marx eine
undialektische "Preußenfeindseligkeit" vorwarf. 640 Charakteristisch war die
Bebeische Einschätzung Bismarcks, die er nach dessen Rücktritt gab:

"Der Mann, der nie in seinem Leben eine gute Tat getan, der nie einen freien, hochherzigen
Entschluss zu fassen vermochte, daftlr aber mit unauslöschlicher Rachesucht jeden verfolg-
te, der sich seinen Plänen in den Weg zu stellen wagte, dieser Mann ist kein Heros, den die
Gegenwart beweint und die Nachwelt bedauert. Immer auf die niedrigsten Leidenschaften
und Triebfedern der Menschen spekulierend, jeden als Werkzeug betrachtend, das nur
seinen Zwecken zu dienen hatte, das dann wie eine ausgepresste Zitrone beiseite geworfen
wurde, wenn es seine Aufgabe erftlllt oder nicht biegsam und schmiegsam genug sich ge-
zeigt, hat sein Einfluss nur Servilismus und Charakterlosigkeit gezüchtet.,,641

639 Bebel sah in der deutschen Einigung durch Bismarck keinerlei positiven Aspekt rur die deut-
sche Entwicklung: : " .. oder ist das Preussen des Herrn von Bismarck mit seiner Missach-
tung von Recht und Verfassung der Staat, zu dem das deutsche Volk Vertrauen haben kann?
Sicher nicht! Und dieses Preussen will man jetzt an die Spitze Deutschlands stellen, den Staat,
der nach seiner ganzen Geschichte mit Ausnahme jener Periode von 1807 bis 1810, wo er zer-
schmettert am Boden lag, nie ein liberaler Staat gewesen ist und nie ein solcher sein wird!. Wer
anders darüber urteilt, kennt Preussen nicht." Aus: Bebei, August: Die Katastrophe von 1866.
Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 6: 116.
Bebel stellte zum Ziel: Demokratische Grundlage der Verfassung und Verwaltung der deut-
schen Staaten, Föderative Verbindung derselben auf Grund der Selbstbestimmung., Herstel-
lung einer über den Regierungen der Einzelstaaten stehenden Bundesgewalt und Volksvertre-
tung, keine preußische, keine österreichische Spitze.
Aus: Bebei, August: Bannt die Gefahr des Bruderkrieges und der Verpreussung Deutschlands.
Resolution der Volksversamm1ung in Leipzig. 8. Mai 1866. Ausgewählte Reden und Schrif-
ten. Bd. 1. Berlin 1978: 13.
640 Marx, Karl: Briefan Engels vom 17. Dezember 1867. In: MEW. Bd. 13: 412.
641 Bebei, August: Der Fall Bismarcks. Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. l/2. Berlin 1978:

309
Karl Liebknecht vertrat eine ähnliche antipreußische Haltung wie Bebel
und verband Preußen mit den Begriffen des "wilhelminischen Deutsch-
lands" und des "preußisch-deutschen Polizeistaats". Er war Abgeordneter
der SPD im Preußischen Landtag und später im Deutschen Reichstag. Für
ihn stellte, wie bei Bebei, die Reichseinigung die "Preussifizierung"
Deutschlands dar, woraus er die Aufgabe des Volkes ableitete, die Geschicke
des Landes in die eigenen Hände zu nehmen, um eine "Verdeutschung
Preußens" durchzusetzen,

"auf das endlich ~eutschland Deutschland sein kann und nicht länger bleibt nur ein verlän-
gertes Preußen."

Einen verderblichen Einfluss auf die deutsche Geschichte stellte für ihn
auch der Gegensatz zwischen preußischem Militarismus und Staatsbürger-
turn dar:

"Wir können nicht mit dem Selbstgefühl wie andere Völker sagen: Ich bin ein Preuße.
Wenn andere Völker sich auf ihre Nationalität berufen, so, weil sie sich als Staatsbürger
fühlen. Wenn man aber von Preußen spricht, so denkt man an die preußischen Pickelhau-
ben, an Polizei und Militär.,,643

Wichtigster Vertreter einer vehement antipreußischen Haltung und


gleichzeitig Verfechter der Zwei-Linien-Theorie, nach der Preußen überwie-
gend der negativen, reaktionären Richtung in der deutschen Geschichte
zugeordnet wurde, war der Historiker Franz Mehring. 644 Er beschäftigte sich
ausführlich mit der preußischen Geschichte, der er die meisten seiner
Schriften widmete, wovon besonders Titel wie "Die Lessing-Legende", "Der
brandenburgisch-preußische Staat", "Die französische Revolution und ihre
Folgen", "Deutsche Zustände" und "Die Klassenkämpfe der deutschen Re-
volution" bekannt geworden sind. 645 Das Hauptanliegen der historischen

774.
642 Liebknecht, Karl: Herr von Dallwitz ist überdallwitzt worden. Gesammelte Reden und Schrif-
ten. Bd. 7. Berlin 1974: 345, 346.
643 Liebknecht, Karl: Zum 'Jubelfest' der Hohenzollem. Gesammelte Reden und Schriften. Bd. 7.
Berlin 1974: 392.
644 Franz Mehring war Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands und einer der
bekanntesten marxistischen Historiker Deutschlands. Von 1902-1907 war er Hauptschrift1eiter
des linken SPD-Blattes "Leipziger Volkszeitung". Von 1906-1911 arbeitete er als Dozent an
der zentralen Parteischule der SPD. Er war Schöpfer der Zwei-Linien-Theorie in der kommu-
nistischen Geschichtsschreibung, die eine reaktionäre und eine progressive Entwicklungslinie
in der deutschen Geschichte sah und von der Misereformel abwich.
645 Mehring, Franz: Die Lessing-Legende. In Gesammelte Schriften. Bd. 5. Berlin: 1982: 55. Die
anderen aufgefilhrten Schriften stammen aus einem Sammelband: Mehring, Franz: Historische
Aufsätze zur preussisch-deutschen Geschichte. Berlin: Verlag mw Dietz Nachf. 1946.

310
Darstellung Preußens durch Mehring bestand zum einen darin, den reaktio-
nären und fortschrittshemmenden Charakter des preußischen Staates auf-
grund der Verschwägerung zwischen Junkertum und Bourgeoisie nachzu-
weisen, und zum anderen, seinen Militarismus anzuklagen, der die aggres-
sive Politik Deutschlands nach außen und innen begründete. Hierbei arbeite-
te Mehring eine antinationale und anti soziale Linie des Preußentums her-
aus. 646
Nach der Zwei-Linien-Theorie zog Mehring einen geschichtskonserva-
tiven Bogen von Friedrich 11. über Bismarck zu Wilhelm 11., Friedrich 11.,
den Mehring niemals den Grossen nannte, war für ihn

"einer der groteskesten Despoten, die je auf einem Throne gesessen haben". 647

Dies begründete er hauptsächlich folgendermaßen:

"Die ganze Politik Friedrich 11., speziell auch seine Handels- und Verkehrspolitik, war nur
~:;:~::~:~~e:~:~~her Abklatsch des modernen Absolutismus, wie er in Frankreich

Ebenso wie Engels betrachtete Mehring Bismarck differenziert, indem


er ihm eine progressive Phase zuschrieb, die mit der Reichseinigung im
Zusammenhang stand. Von 1862 bis 1871 habe sich Bismarck um die deut-
sche Geschichte verdient gemacht,

"nicht als schöpferischer Geist .. aber als geschickter Diplomat, der die längst zur histori-
~!e:c:::n~::~ :::;~ac~~,~~nheit soweit zurechtflickte, wie sie den Interessen der

Aber die deutsche Einheit, wenn auch preußisch, diente nicht nur den
herrschenden Klassen, sondern ebenso der Organisation der Arbeiterbewe-
gung. Ja, selbst das Sozialistengesetz wurde von Mehring als förderlich für
den Kampf der Arbeiterklasse betrachtet, da dadurch die "Entrechtung der
deutschen Arbeiterklasse" solch krasse Fonnen annahm, dass ihr "Helden-
zeitalter" bevorstand. 650

646 Vgl. Brinks, Jan Herman: Die DDR-Geschichtswissenschaft auf dem Wege zur deutschen
Einheit. Luther, Friedrich II. und Bismarck als Paradigmen politischen Wandels. Frankfurt,
New York: Campus Verlag 1992: 71.
647 Mehring, Franz: Die Lessing-Legende. a.a.O.: 189.
648 ebenda.
649 Mehring, Franz.: Bismarck und das historische Urteil. In: Gesammelte Schriften. Bd. 7. a.a.O.:
280.
650 Mehring, Franz: Das Sozialistengesetz. In: Gesammelte Schriften. Bd. 2. Berlin 1980: 509.

311
Neben der Anerkennung des schlauen und diplomatischen Talents Bis-
marcks und seiner förderlichen Auswirkungen auf das Anwachsen der Ar-
beiterbewegung, betrachtete Mehring ihn insgesamt als eine der negativsten
Gestalten der deutschen Geschichte. Er schrieb,

"dass alles, was in Deutschland Korruption ist, mit einem frechen Terrorismus den Narren-
tag zu einer allgemeinen Huldigung an die Jahrzehnte der Schande aufdonnern will, in
denen Bismarck die deutsche Nation vergewaltigte.,,651

Unterstützt durch die Geschichtswerke von Leopold Ranke,652 Carl


Friedrich Köppen653 und Heinrich von Treitschke,654 arbeitete Mehring wie
kein anderer daran, den im deutschen Kaiserreich und in der Weimarar
Republik weit verbreiteten Preußenmythos, der Preußen bei der Gestaltung
der politischen Gemeinschaft eine konstitutive Rolle zuschrieb, mit Hilfe der
wissenschaftlichen Analyse zu entlarven und dabei gleichzeitig einen neuen
Mythos, einen Negativrnythos, zu schaffen. Er war durch seine detaillierten
Untersuchungen zu Preußen besonders in diesen Kampf der Mythen und
Symbole involviert, da er sich nicht nur mit den reinen historischen Fakten
und deren Interpretation, sondern auch sehr intensiv mit einer Kritik der
gängigen Preußen-Narration beschäftigte. Er bezeichnete diese Narrationen,
ebenso wie Engels, als "Legenden" oder summarisch als "Preußenlegende" ,
ein Begriff der von der deutschen Arbeiterbewegung und in der DDR aufge-
griffen und zu einem wichtigen Punkt der semiotischen Auseinandersetzung
erhoben wurde.
Beispiel hierfür war seine Schrift "Die Lessing-Legende". Hier nahm
sich Mehring vor, die von der sogenannten borussischen historischen Schu-
le, die die positive Wirkung Preußens auf die deutsche Geschichte hervorhob
und oftmals bis ins Messianische überhöhte, vertretene These, dass Lessing
und Friedrich 11. "Geistes- und Gesinnungsgenossen" gewesen seien, zu
widerlegen. 655 Mehring schrieb,

dass Friedrich H. "mit dem Zeitalter der deutschen Humanität, dem Lessing die erste Bahn

651 Mehring, Franz: Ein Narrentag. In: Gesammelte Schriften. Bd. 7 a.a.O.: 274.
652 Ranke widmete die Hälfte seines Geschichtswerkes der Regierungszeit Friedrichs H. und trug
Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Friedrichrenaissance bei. Rankes Hauptwerk waren die
"Zwölf Bücher Preussischer Geschichte". Für Ranke vereinte Friedrich in seiner Person Geist
und Macht. In: Ranke, Leopold: Zwölf Bücher preussische Geschichte. Bd. 3. München 1930.
653 Köppen, earl Friedrich: Friedrich der Grosse und seine Widersacher. Eine Jubelschrift. Berlin
1840.
654 Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1. Leipzig
1927.
655 Mehring, Franz: Die Lessing-Legende. a.a.O.: 51.

312
brach, schlechterdi~s gar nichts zu tun hätte . . . An einem Dornstrauehe können keine
Feigen wachsen.,,65

Er legte die angeblich aufklärerischen Absichten Friedrichs nur als


Schein dar, um die eigentlichen Interessen zu verschleiern:

"Der glänzende Schein seines aufgeklärten Despotismus verhüllte einzig ein wucherisches
Junkernregiment. ,,657

Mehring belegt durch eine Reihe von Zitaten und schriftlichen Hinter-
lassenschaften von Lessing, dass dieser ein Gegner des preußischen Staates
war, da er ihn als ein wesentliches Hindernis für die deutsche Aufklärung
betrachtete. Als wichtigen Beleg für die Entlarvung der Lessing-Legende
betrachtete Mehring die "Minna von Barnhelm" als "nämlich nichts anderes
als eine schneidende Satire auf das Friderizianische Regiment". 658
Ein weiterer Punkt der Legendenzerstörung bestand bei ihm in der Kri-
tik der "schönen Legende des friderizianischen Sozialismus",

wobei "die Apostel dieser Legende stets hinzuzufügen vergessen, dass seine Taten (die von
Friedrich II.) über seine Worte dahinjagen wie ein Regiment schwerer Kavallerie über die
Töpfermärkte".659

Die Erzählung vom "friderizianischen Sozialismus" bezog sich auf die


Aussagen Friedrich 11. über sein Rollenverständnis als dem "ersten Diener
des Staates" und einem "König der Bettler". Mehring definierte diese For-
meln als fälschliche Selbstbeschreibung, die den Ausl?eutungscharakter des
preußischen Staates verschleiern sollten. 66o Die angeblich großzügige Pres-

656 ebenda: 171.


657 ebenda: 156.
658 ebenda: 346.
659 ebenda: 126.
660 Mehring schrieb zum "ersten Diener des Staates": Diese Behauptung sei "sechsmal aufgestellt,
zuerst in seinem Antimachiavell noch als Kronprinz", denn "er strebte danach, alle Beamten zu
willenlosen Vollstreckern seines despotischen Willens zu machen, und der Satz vom Fürsten
als dem ersten Diener des Staates war der Gedanke zu seiner Tat. Er ist sich darin stets treu
geblieben. Vierzig Jahre nach dem Antimachiavell schreibt er, dass der Herrscher zwar ein
Mensch sei, wie der geringste seiner Untertanen, aber zugleich der erste Richter, der erste Fi-
nanzmann, der erste Minister der Gesellschaft." In: Mehring, Franz: Die Lessing-Legende.
a.a.O.: 39.
Zum "König der Bettler" analysierte Mehring, dass Friedrich II., "entweder wirklich einen
gewissen Weg mit einem guten Vorsatzpflastern oder aber - was wahrscheinlicher ist - der das
Volk ausbeutenden Finanzlust seines Vaters einen Stich versetzen wollte ... Sollte sie übri-
gens so gemeint gewesen sein, so ist sie gleichzeitig ohne allen Belang geblieben, denn Fried-
.rich liess es bei der Finanzmethode Friedrich Wilhelm I. bewenden, nur dass er sie nach dem
Siebenjährigen Krieg noch unendlich viel drückender machte." Aus: ebenda: 40/41.

313
sefreiheit, die Friedrich 11. den Zeitungen gewährt hätte, war nach Mehring
letztendlich nichts anderes als "ein würdiger Vorläufer des Sozialistengeset-
zes".661

Wichtiger Punkt des Preußenmythos war die Syntheseleistung, Friedrich II.


mit der deutschen Nation in ein produktives Verhältnis zu setzen, was in der
Rezeptionsgeschichte über Preußen in verschiedener Ausführung immer
passierte, ja selbst in der DDR in einer eigentümlichen Weise getan wurde.
Auch der Historiker Treitschke, als Anhänger der borussischen Schule, tat
das mit der Absicht, dem sich in der Entstehung befindlichen deutschen
Nationalstaat eine preußische Prägung zu geben und das
Nationalbewusstsein durch die kollektive Erinnerung an den König zu
bestärken. Ähnliches unternahmen später die Nationalsozialisten, die einen
Friedrichkult betrieben. Franz Mehring versuchte mit dem Ziel der
proletarischen Prägung Deutschlands, die nicht preußisch sein sollte, auch
diesen Mythos, oder, wie er es nannte "Legende", zu widerlegen. So schrieb
er über Friedrich 11.:

"Aber da er ohne eine Spur nationaler Gesinnung war, so hat er die Schmach der Fremd-
herrschaft als solche nie empfunden. Die friderizianische Legende, wie sie von Sybel und
Treitschke vertreten wurde, machte es sich bequem, indem sie den König einfach als Helden
der nationalen Wiedergeburt anpinselte; nachdem diese so geschmacklose wie grobe Tünche
verwittert ist, haben es die preußischen Historiker schwieriger, solange sie preußische Histo-
riker sind, das heißt, solange sie das Borussentum als eine historische Erfrischung und
Erneuerung der deutschen Nation betrachten.,,662

Da Mehring einmal durch die logisch-kritische Sachanalyse Preußen


entmythifizierte, aber gleichzeitig durch seine analytische Konfrontation mit
den breit kursierenden kaiserlichen und borussischen Identitätsgeschichten
um Preußen auch eine neue mythische Narration entgegenstellte, kann man
ihn in Anlehnung an den Begriff von Hans Blumenberg "Arbeit am Mythos"
als einen der intensivsten "Mythenarbeiter" , wenn nicht gar als einen Ge-
schichten- oder Mythenmacher für Preußen betrachten. Natürlich hätte er
diese Funktion nie ausüben können, wenn sich seine Untersuchungen und
Betrachtungen auf einen begrenzten Kreis von bestimmten Historikern oder
Politikern aus dem linken Spektrum beschränkt hätten. Seine Lehre bezog
sich einerseits auf eine auf Marx und Engels zurückgehende theoretische
Grundlegung einer antipreußischen Richtung innerhalb der Interpretation
deutscher Geschichte, aber auch auf die praktische Situation zunehmender

661 Mehring. Franz: Ein aufgeklärter Despot? ln: Gesammelte Werke. Bd. 5. a.a.O.: 497.
662 Mehring. Franz: Die Lessing-Legende. Vorwort. ln Gesammelte Werke. Bd. 9. Berlin 1983:
24.

314
Interessengegensätze und politischer Auseinandersetzungen zwischen der
deutschen Regierung und der Arbeiterbewegung, was deren antipreußische
Motivation wesentlich herausforderte. Erst die antipreußischen Motivatio-
nen ennöglichten die Rezeption der antipreußischen Narration Mehrings
und ließen innerhalb des deutschen Proletariats und der Arbeiterbewegung
einen Preußenmythos entstehen, der als Antimythos das Satanische Preu-
ßens im Gegensatz zum bisherigen Heiligen hervorhob.
Aber nicht nur die deutsche Arbeiterbewegung war von dieser antipreu-
ßischen Haltung beeinflusst, sondern auch ein großer Teil deutscher Intel-
lektueller, die sich mit der ironischen Haltung Goethes gegenüber Preußen
oder der scharfen antipreußischen Kritik von Heinrich Heine verbunden
fühlten.
Obwohl Goethe in seiner Jugend von den organisatorischen und militä-
rischen Fähigkeiten Friedrich 11. sehr beeindruckt und "fritzig gesinnt" war,
änderte sich seine Haltung während der Leipziger Studienjahre. So fühlte er
"die unbedingte Verehrung erkalten", die er "diesem merkwürdigen Fürsten
von Jugend auf gewidmet hatte". 663
Im Versepos "Deutschland. Ein Wintermärchen" setzte sich Heinrich
Heine besonders mit Friedrich Wilhelm IV. auseinander und charakterisierte
die Herrschaft der Preußen als verderblich für Deutschland. 664 Heine machte
keinen Hehl aus seiner antipreußischen Einstellung, indem er schrieb:

"Ich betrachte vielmehr mit Besorgnis diesen preußischen Adler, und während andere rühm-
ten, wie kühn er in die Sonne schaue, war ich desto aufinerksamer auf seine Krallen.,,665

Innerhalb der Gruppe linker deutscher Intellektueller gab es also traditi-


onell eine antipreußische Linie, die Preußen mit Kasernenhof, militärischem
Drill, Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten, intellektueller Beschränktheit,

663 Goethe, Johann Wolfgang: Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 23.
Stuttgart, Berlin: 99.
664 Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen. In: Werke und Briefe. Berlin 1961. In dem
Gedicht heisst es am Ende zu Friedrich Wilhelm IV.:
"Kennst du die Hölle des Dante nicht,
Die schrecklichen Terzetten?
Wen da der Dichter hineingesperrt,
Den kann kein Gott mehr retten. -
Kein Gott, kein Heiland erlöst ihn je
Aus diesen singenden Flammen!
Nimm Dich in acht, dass wir Dich nicht
Zu solcher Hölle verdammen."
665 Heine, Heinrich: Französische Zustände. In: Werke und Briefe. Bd. 4. Berlin 1961: 372.

315
Kulturlosigkeit, einem dekadenten, von oben verordneten Nationalbewusst-
sein und letztendlich mit Verderbnis für die deutsche Geschichte und der
Gefahrdung des Charakters der deutschen Nation identifizierte. Dieser Linie
schlossen sich die Schriftsteller in der DDR in den ersten 20 Jahren über-
wiegend an.
Jedoch war die Verwurzelung der antipreußischen Haltung in der deut-
schen Literatur und Kunst nicht eindeutig, sondern eher ambivalent. Eine
überwiegend positive Bewertung Preußens, wie sie bei Goethe in seiner
Jugend infolge seiner Verehrung Friedrichs H. auftrat, war auch bei Thomas
Mann zu beobachten gewesen. In seinem Essay "Friedrich und die große
Koalition" bezeichnete er die preußische Tradition als "eines großen Volkes
Erdensendung" , so wie er auch in den "Betrachtungen eines Unpolitischen"
den Krieg dekadenter Bürgerlichkeit gegenüberstellte. Selbst in seiner Rede
"Deutschland und die Deutschen" wird nicht Preußen für die deutsche Tra-
gödie verantwortlich gemacht, sondern Luther.
Heinrich Mann war viel stärker als sein Bruder von einer antipreußi-
schen Haltung durchdrungen, in der die Abgrenzung vom preußischen Un-
tertanengeist überwog. Sein 1914 beendeter und 1915 das erste Mal veröf-
fentlichte Roman "Der Untertan" war durchzogen von der Verachtung ge-
genüber der von den Hohenzollern geprägten deutschen Kultur und der
Politik des Wilhelminischen Deutschlands, die er in eine satirisch-
parodistische Form fasste. 666 Heinrich Mann hegte die Absicht, mit diesem
Roman die "Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm 11." zu schrei-
ben, und "einen Roman des bürgerlichen Deutschen unter der Regierung
Wilhelm 11." zu schaffen. 667 Folgendes Romanzitat zeigt diese Absicht para-
digmatisch: Nachdem ein Arbeiter durch einen kaiserlichen Soldaten auf der
Strasse erschossen wurde, äußerte der Unternehmer Hessling seine Genug-
tuung darüber:

"'Für mich', sagte er schnaufend vor innerer Bewegung, 'hat der Vorgang etwas direkt
Großartiges, sozusagen Majestätisches. Dass da einer, der frech wird, einfach abgeschossen
werden kann, ohne Urteil, auf offener Strasse! Bedenken Sie: mitten in unserem bür§;erli-
chen Stumpfsinn kommt so was Heroisches vor! Da sieht man doch, was Macht heißt.'" 68

666 Mann, Heinrich: Der Untertan. Berlin: Aufbau-Verlag 1969. Der Roman wurde 1914 beendet,
erschien das erste Mal 1915 in Russland, wurde in Deutschland 1916 in Form eines Privat-
drucks verbreitet und erfuhr erst im Dezember 1915 seine offizielle Erstausgabe.
667 Hahn, Manfred: Nachwort. Zu: Mann, Heinrich: Der Untertan. a.a.O.: 440.
668 Mann, Heinrich: Der Untertan. a.a.O.

316
Die weitverbreitete Rezeption dieses Buches seit seinem Erscheinen
prägte in den verschiedensten Kreisen der Deutschen eine von Ironie ge-
prägte Haltung gegenüber Preußen, die auf eine moderate Distanzierung
hinauslief und Identitätsgefiihle zurückdrängte.
So wie sich die beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann in der histo-
rischen Verortung und Bedeutungszuweisung Preußens in der deutschen
Geschichte unterschieden, teilten sich zu Beginn der DDR die Haltungen
der Intellektuellen gegenüber Preußen. Sogar die Auffassung, dass nicht
Preußen, sondern Bayern der eigentliche Ursprungsort des deutschen Natio-
nalsozialismus sei, war vorhanden. Preußen wäre auf Grund seiner bürokra-
tischen Haltung nicht zur Beugung der bürgerlichen Gesetzlichkeit, wie sie
die Nazis praktiziert hatten, prädestiniert gewesen. Die nationalsozialisti-
sche Führung hätte außerdem hauptsächlich aus Nichtpreußen bestanden.
Auch wäre den Juden in Preußen viel mehr Unterstützung gegen die Verfol-
gung der Nazis durch Teile der Bevölkerung zugekommen als in anderen
deutschen Ländern. 669
Dieser differenzierten und moderaten Preußenbetrachtung wurde das
negative Bild des preußischen Militarismus hart entgegengestellt und in der
DDR durchgesetzt. Es dominierte schließlich die mythische Narration von
Preußen als Verursacher des deutschen Militarismus und Faschismus, das
den Negativmythos Preußen begründete. All die Argumente über preußische
Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mit dem Nationalsozialismus nur
schwer vereinbar waren, wurden in das mythische "Reich des Profanen"
verbannt, sie hatten für die dominierende Geschichte keine Bedeutung
mehr. 670

669 Diese Auffassungen gingen aus einer Reihe von Gesprächen mit Vertretern der Aufbaugenera-
tion der DDR gehörten oder Emigranten sind. Beispiel hierfilr sind die Unterhaltungen 1996
mit der jüdischen Trotzkistin Lore ZimeIs (geb. 1920, wohnhaft in Israel).
670 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994: Zweiter Abschnitt. Kapitel I. Der
Grundgegensatz: 93 ff. Hier macht Cassirer deutlich, dass der Mythos in seiner Sicht auf WeIt
nicht nach Ursachen und Folgen unterscheidet, sondern nach Heiligem und Profanem, das
durch die Motivation bestimmt wird. Was Cassirer allerdings in diesem Grundunterschied
nicht berücksichtigt, ist eine dritte Ebene, das Satanische, als das unbedingt Auszuschliessende,
ohne das Negativrnythen nicht existieren könnten.

317
3. Preußen in den ersten 20 Jahren der DDR

Preußen entwickelte sich nicht erst in den 70er Jahren zu einem Mythos in
der DDR, der Sinn und Zweck der Gesellschaft: begründen sollte, sondern er
war es von Anfang an. Wenn Ende der 70er Jahre Preußen mehr ins Blick-
feld geriet, dann vor allem deshalb, weil es jetzt, positiv besetzt, größere
Publizität und Öffentlichkeit besaß, während es seit den 40er Jahren stets als
negative Begründungsgeschichte an den Antifaschismus angehängt wurde.
Diese nachgestellte, war also auch eine untergeordnete Position in den 50er
und 60er Jahren. Preußen wurde, ähnlich wie Luther und die Reformation,
vorerst als Beginn des deutschen Verhängnisses betrachtet. War Luther der
Anfang :für das spezifisch Deutsche, den spät und unvollständig ausgebilde-
ten Kapitalismus, der Reaktionäres gebar, so war Preußen der Ausgangs-
punkt des besonders aggressiven Imperialismus und Militarismus, der den
Faschismus hervorbrachte.
Preußen stellte einerseits ein Glied in der Verhängniskette der deut-
schen Geschichte dar, nahm aber in dieser andrerseits eine herausgehobene
Negativstellung ein, die zum Dreh- und Angelpunkt der Begründung des
deutschen Verhängnisses wurde. Was seine Bedeutung als besonderen Nega-
tivpunkt determinierte, war nicht allein die Begründung eines als
verhängnisvoll bestimmten Anfangs, sondern das Vermögen, Preußen in die
damals gegenwärtige Abgrenzungspolitik der DDR von der Bundesrepublik
einzubinden. Sowohl Preußen als auch die Bundesrepublik wurden beide als
imperialistisch definiert, was :für die DDR als Exklusionspunkt an vorderster
Stelle betrachtet werden kann.
So wurde die Struktur Preußens als Despotie und Werkzeug des Land-
adels verdammt, seine fortschrittliche geschichtliche Rolle vollkommen
negiert und eine nationale Entwicklung verneint. Träger und Initiator dieses
Bildes in der DDR war von Beginn an die SED, wobei sowohl der kommu-
nistische als auch der sozialdemokratische Teil dieser Partei gleichermaßen
daran beteiligt waren. 671 Der Beschluss des Alliierten Kontrollrates vom
25.02.1947, Preußen als Staat aufzulösen, stellte den politischen Boden für
die offizielle Haltung der meisten politischen Parteien Deutschlands zu
Preußen nach dem Krieg dar. 672

671 Kopp, Fritz: Das vertiefte Preussen der SED. ln: Beiträge zur Konfliktforschung. Köln 1991/2:
85-11l.
672 Kontrollratsgesetz Nr. 46. ln: Münch, lngo von: Dokumente des geteilten Deutschlands.
Quellentexte zur Rechtslage des deutschen Reiches, der Bundesrepublik Deutschland und der

318
Die SED hatte in den ersten Jahren der DDR von Preußen ein ziemlich
abgerundetes in sich geschlossenes negatives Bild geschaffen. Ideelle
Grundlage war das Preußenbild von Marx und Engels, wobei deren differen-
zierte historische Analyse für die Begründung eines Negativmythos nicht
genug symbolische Anschlusspunkte bot. Die einseitig negative Sichtweise
der Führer der deutschen Arbeiterbewegung war dafür besser geeignet. Doch
am anschlussfahigsten erwies sich die Darstellung Preußens durch Franz
Mehring, wobei sein ausgesprochen reichhaltiges Werk und die Beschäfti-
gung mit der sogenannten Hohenzollernlegende ausschlaggebend waren.
Der von ihm gefiihrte Kampf der Symbole um Preußen wurde praktisch
nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus wieder aufgenommen und
im Kampf der Symbole gegen den Faschismus weitergefiihrt.
Die Geschichtsbücher von Franz Mehring gehörten zu den ersten Wer-
ken, die zur preußischen Geschichte kurz nach der Kapitulation herausge-
bracht wurden. Schon 1946 erschienen die "Historischen Aufsätze zur preu-
ßisch-deutschen Geschichte", ein Sammelband mit mehreren Aufsätzen zur
preußischen Geschichte. 1947 kam seine "Deutsche Geschichte vom Aus-
gang des Mittelalters"heraus. 673 In all diesen Büchern wurde Preußen eine
konstitutive Rolle für den reaktionären und aggressiven Charakter des deut-
schen Staates zugeschrieben, eine Sichtweise, die großen Einfluss auf die
ersten Politiker der DDR, die intellektuelle Elite und die Aufbaugeneration
hatte.
Abuschs Buch "Der Irrweg einer Nation" von 1946 über die deutsche
Geschichte spielte für die Rezeption Preußens in den ersten Jahren der DDR,
ebenso wie seine Auffassungen zu Bauemkrieg und Reformation, eine her-
vorragende Rolle. 674 Abusch schloss sich in allen wichtigen Punkten der
Preußendeutung Mehrings an und entwickelte die von ihm geschaffene
negative mythische Linie weiter, die von Luther über Friedrich Wilhelm I.
und Friedrich II. zu Bismarck fiihrte und das deutsche Verhängnis gebar,
indem er diese Negativlinie bei Preußen begann und mit Hitler enden ließ.

Deutschen Demokratischen Republik. Stuttgart 1976:54. Dort heisst es: "The Prussian State
which from early days has bean a bearer of militarism and reaction in Germany has de facto
ceased to exist. Guided by the interests of preservation of peace and security of peoples and
with the desire to assure further reconstruction of the politicallife of Germany on a democratic
basis, the Control Council enacts as folIows: ... The Prussian State together with its central
government and all its agencies is abolished."
673 Mehring, Franz: Deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters.(erste Auflage) 1947.
hier: Berlin: Dietz 1951 (5. Auflage).
674 Abusch, Alexander: Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Ge-
schichte. Berlin 1946. Ausgabe 1951.

319
Friedrich 11. war für Abusch der Ursprung für die deutschen Aggressions-
kriege des Zweiten Weltkrieges:

"Friedrich war in primitiver, seiner Zeit gemäßer Form der Begründer der späteren Aggres-
sionsmethoden und der Strategie des preußisch-deutschen Grossen Generalstabes ... " In der
Taktik des Blitzkrieges war er "unstreitig ein Lehrmeister Wilhelm 11. und Hitlers. Friedrichs
Methode des Zuvorkommens durch einen Angriff und ihre nachträgliche Begründung durch
mehr oder weniger dokumentarische Nachweise, das überfallene Land wäre an den Feind-
bund gebunden gewesen, finden wir wieder bei dem Überfall der wilhelminischen Armee
auf das neutrale Belgien im August 1914, in Hitlers Aggressionen gegen Norwegen, Holland
und Belgien im AprillMai 1940 und gegen die Sowjetunion im Juni 1941.,,675

Auch der antinationale Charakter Preußens gewann bei Abusch eine


wichtige Bedeutung. Ausgestattet mit dem Argument der territorialen Ex-
pansion auf Kosten anderer deutscher Staaten, wurde Preußen als der Haupt-
feind der deutschen Nation betrachtet. Bei Abusch heißt es:

"Preußen entwickelte sich eigensüchtig ~egen Deutschland; es stärkte sich ländergierig auf
Kosten der übrigen deutschen Länder.,,6 6

Abusch behauptete, dass diese auf Länderraub ausgerichtete antinationa-


le Politik auch im Jahrhundert nach Friedrich 11. fortgeführt wurde. Der
Vorwurf, nicht für die nationale Einheit eingetreten zu sein, der durch das
Fehlen nationaler Ziele im ganzen heiligen römischen Reich deutscher Na-
tion schlichtweg falsch war, offenbarte die Indienstnahme Preußens für die
nationalen Ziele in der damaligen SBZ und späteren DDR für die Einheit
Deutschlands.
Gegenüber Bismarck vertrat Abusch eine differenzierte Haltung, auch
wenn er seine Wirkung auf die deutsche Geschichte insgesamt negativ beur-
teilte. Er schrieb, Bismack war

"der einzige wirkliche Staatsmann, den das reaktionär geleitete Deutschland hervorgebracht
hat. Er wollte das auf despotischem Wege geschaffene Reich in seinen Grenzen zu einer
imponierenden militärischen und politischen Einheit zusammenschweißen. Er dachte nicht
an eine neue Aggression, sondern an die imperialistische Sicherung des Eroberten. Er wach-
te misstrauisch darüber, keine neuen Feindschaften zu entfachen oder groß werden zu lassen
- und bewies eine meisterliche Hand, das 'Europäische Gleichgewicht' zu halten.,,677

Die zwischen Verdammung und Bewunderung schwankende Haltung


bei der Beurteilung Bismarcks, die bei Mehring und einigen anderen kom-
munistischen Historikern zu beobachten war, setzte sich bei Abusch fort und

675 ebenda: 110.


676 ebenda: 51.
677 ebenda: 165.

320
nahm in der DDR Einfluss auf das Denken der politischen Führer. Die
Trennungslinie zwischen der unterschiedlichen Einschätzung Bismarcks
verlief also nicht nur innerhalb der deutschen Linken zwischen den Anhän-
gern verschiedener Gruppen, für die August Bebel stellvertretend für die
Ablehner und Mehring für die Differenzierer stehen könnte, sondern die
Trennung verlief auch quer durch das Werk ein und desselben Autors, wie
dies bei Abusch besonders deutlich wird.
Diese Ambivalenz ist für die Entwicklung von Mythen besonders güns-
tig. Gerade die ambivalente Interpretation erzeugt die Kraft des Mythos und
schafft seinen Variationsreichtum. Auf diese Weise ist er in der Lage, je
nach Erfordernis, sich der Realität anzupassen, indem er einmal diese und
ein anderes Mal jene Seite der Geschichte zum Klingen bringt. So steht
diese Ambivalenz der überwiegend negativen Ausrichtung der Preußennar-
ration nach 1945 nicht im Wege und stellt auch keinerlei Widerspruch zu
den positiven Beurteilungen in späteren Zeiten dar.
Worauf sich die Abgrenzung von Preußen besonders konzentrierte, war
der "Klassencharaker" des preußischen Staates, in dem die Junker und Mili-
tärs die Macht innehatten und eine "unselige Allianz" eingingen, die das
Reaktionäre mit dem Aggressiven vereinigte. Kadavergehorsam, Unterta-
nengeist, geistige Engstirnigkeit und Überheblichkeit waren die daraus ent-
standenen Eigenschaften, die die Deutschen charakterisierten und sich über
Jahrhunderte erhielten, um schließlich in Rassenwahn und Chauvinismus
des Faschismus zu enden.
Auch der Vergleich mit der wirtschaftlichen und politischen Entwick-
lung in England und Frankreich, der sowohl die unterbliebene industrielle
kapitalistische Entwicklung als auch die politischen bürgerlichen Revolutio-
nen hervorhob, wurde als Grundlage für den Macht- und Landhunger des
deutschen Monopolkapitals hingestellt, das bei der "Aufteilung der Welt zu
spät gekommen war". Dieser Machthunger galt wiederum als Hauptursache,
wenn nicht g~ einzige Ursache, für den deutschen Nationalsozialismus und
den zweiten Weltkrieg. Somit war der Bogen zwischen Preußen und dem
Nationalsozialismus wieder geschlossen und brachte den apodiktischen
Charakter dieser Konstruktion, Preußen als "Vorläufer des deutschen Fa-
schismus", zum Ausdruck.
Abusch hob den Zusammenhang zwischen Preußen und der Entstehung
des Nationalsozialismus hervor, indem er herausarbeitete, dass die deut-
schen Antifaschisten aus

321
"dem deutschen Volke (kamen), dem auch der despotische Fridericus, der 'eiserne' Bis-
marck, der verstiegene Kaiser Wilhelm 11. und zu unserer Zeit solche Ausgeburten des
Menschengeschlechts wie Hitler, Himmler, Göring, Goebbels und ihre Banden entstamm-
ten. Alle Fragen, die die deutsche Geschichte aufwirft, resultieren aus dem ungelösten
Widerspruch dieser inneren Kräfte des deutschen Volkes.,,678

Hier wird schon die differenzierte Betrachtungsweise der Zwei-Linien-


Theorie sichtbar, die sich von der Miseretheorie abgrenzte. Die Zwei-
Linien-Theorie war auch viel eher in der Lage, historische Ereignisse zu
mythisieren. 679
Allerdings fand die offenere Interpretationsweise der Zwei-Linien-
Theorie in der Politik kein Echo. Das sich zentralistisch ausgerichtete politi-
sche System mit autoritären und totalitären Zügen konzentrierte sich auf
eine Richtung der Interpretation der deutschen Geschichte und schlug Preu-
ßen die negative Rolle des Vor- und Wegbereiters des Faschismus zu. Die
Ambivalenz der Zwei-Linien-Theorie passte nicht zum politischen System,
wodurch die mythische Geschichte um Preußen schon von Beginn der DDR
an dogmatische abwertende Züge annahm.

678 ebenda: 266.


679 In folgenden Worten von Alexander Abusch wird die Zwei-Linien-Theorie besonders deutlich:
" .. durch ein halbes Jahrtausend ... ziehen sich zwei Tendenzen durch Deutschlands Ge-
schichte: Das Bemühen reaktionärer Gewalthaber um die Behauptung ihrer Macht - und das
Ringen fortschrittlicher Volksklassen um eine freie deutsche Nation." ebenda: 252.

322
Denkmal des General Gneisenau vor dem Operncafe in Berlin.

Diese einseitig negative Betrachtungsweise Preußens als Vorgänger und


Wegbereiter des Faschismus, kam besonders in dem Vortrag "Ruf an die
Jugend" des ersten DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl von 1946 zum
Ausdruck, indem er hervorhob,

323
"dass der Kadavergehorsam des Exerzierplatzes das traurige Ergebnis und die fatale Hinter-
lassenschaft des preußisch-militaristischen Despotismus sind, die Deutschland schließlich in
der Entwicklungsperiode des Imperialismus von einem Krieg in den anderen taumeln ließ ...
Der Militarismus, dem Preußen das Bismarckreich und das Hitlerreich ihre Entstehung
verdanken, darf in Deutschland nie mehr die geringste Chance haben.,,680

Grotewohl bezog den verderblichen Einfluss Preußens auf die deutsche


Geschichte, aber nicht nur auf die Zeit von Bismarck, sondern auch auf die
der preußischen Kurfiirsten und Könige, wozu Friedrich 11. ebenfalls gehör-
te:

"Dasselbe ist für den deutschen Absolutismus zu sagen. Er hat die deutsche Volks- und
Leistungskraft zum Verderben des Volkes eingesetzt. Dieses Prinzip hat sein Recht inner-
halb Deutschlands ein für allemal verloren.,,681

Preußen sollte auf diese Weise der Bevölkerung in der DDR als das ab-
grundtief Schlechte in der eigenen Geschichte, als ein Verhängnis und als
etwas höchst Verabscheuenswertes erscheinen. Preußen war volksfeindlich,
charakterverbildend und also eine der wichtigsten kulturellen, militärischen,
politischen und ökonomischen Ursachen fiir den Faschismus gewesen und
wurde so in den Rang des eigentlich Schuldigen am Nationalsozialismus
erhoben, was ebenso wie der Mythos vom Antifaschismus die Mehrheit der
Deutschen persönlich entlastete.
Preußen wurde als das Gegenteil des freien, selbstbestimmten und ver-
antwortungsbewussten Bürgers dargestellt, der erst nach der Zerstörung
dieser Wurzeln und der bewusstseinsmäßigen Distanznahme eine Lebens-
chance hätte. So appellierte Grotewohl an die deutsche Jugend:

"Der kommende deutsche Staat muss von der kleinsten Zelle aus in den Gemeinden und
Provinzen unter den Gesichtspunkten des verantwortlichen freien Staatsbürgers aufgebaut
werden. Aus dem Untertan, der den Befehl von oben erwartet und nur aus Gehorsam zu
handeln vermag, muss endlich. in De~ts~hland der freie, selbstbewusste6k!ich selbst, seinem
Volk und der Welt verantwortlIche friedlIebende Staatsbürger werden."

Mit diesem antipreußischen Bild vom freien und friedlichen Staatsbür-


ger wird die Erwartung auf eine auf demokratischen Grundsätzen basierende
Gesellschaft gesetzt:

680 Otto Grotewohl: Ruf an die Jugend. Rede auf dem 1. Parlament der FDJ am 8. Juni 1946. In:
000 Grotewohl. Über Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Reden und Schriften
1945-1961. Berlin: Dietz 1979: 38. Diese Sammlung wurde herausgegeben vom Institut für
Marxismus-Leninismus beim ZK der SED.
681 ebenda: 38.
682 ebenda: 39.

324
"Ihr sollt die Welt einmal davon überzeugen, dass jener kriegerische, militaristische Sinn im
deutschen Volk erstorben ist und dass an die Stelle dieses Untertanen- und Gamaschen-
knopfgeistes Wille und Fähigkeit getreten sind, ein freier und würdiger Staatsbürger zu sein,
ein Mensch, der ein Anrecht darauf hat, in der Welt wieder gleichgeachtet und anerkannt zu
sein.,,683

Weshalb diese Vision nicht darauf ausgerichtet ist, dass die zukünftigen
Bewohner Deutschlands durch das freie Staatsbürgertum ein besseres Leben
haben würden, sondern auf das Vorzeigen dieses Wandlungsprozesses vor
der ganzen Welt, hängt einerseits mit der internationalistischen Ideologie
der SED zusammen, aber gleichzeitig unterliegt Grotewohl hier unbewusst
dem kulturellen Minderwertigkeitsgefühl der Deutschen, die ihr Tun nicht
nur für sich taten, sondern immer in der Absicht, durch die Anerkennung
und Bewunderung durch die Welt, d.h. von außen, ihren eigenen Wert zu
stärken und die Defizite an mangelndem Selbstbewusstsein zu kompensie-
ren. Weltbezogenheit blieb in der SBZ und späteren DDR ein typisches
Kennzeichen mythischen Bewusstseins.
Bereits innerhalb der SBZ und erst recht nach der Gründung der DDR
wurden alle Ambivalenzen in der Beurteilung Preußens beseitigt. Die diffe-
renzierte Beurteilung Preußens, wie sie bei Marx und Engels und im Rah-
men der Zwei-Linien-Theorie (Mehring, Abusch) vorgenommen wurden,
wich einer einseitig negativen Einschätzung Preußens. Das traf auch auf
Bismarck zu. Herausgenommen aus dieser Abgrenzung wurden die Befrei-
ungskriege gegen Napoleon und die preußischen Reformbestrebungen 1807
bis 1815 nach der Niederlage. Setzt man die positive Wertung der Befrei-
ungskriege und der preußischen Reformer mit der Deklarierung des "Kamp-
fes um die deutsche Einheit" und der "Pflege aller großen Traditionen des
deutschen Volkes" durch Walter Ulbricht auf der 11. Parteikonferenz 1952
ins Verhältnis, so wird sichtbar, dass ein Teil der preußischen Geschichte,
ebenso wie der antifaschistische Widerstandskampf, die bürgerliche Revolu-
tion von 1848 und die Novemberrevolution 1918 zu diesen selbstgewählten
revolutionären Traditionen gezählt wurden,684 denn die wissenschaftliche
Geschichtsschreibung sollte vor allem über

683 ebenda: 36.


684 Auf der H. Parteikonferenz sagte Walter lnbricht: "Jeder versteht, weIche grosse Bedeutung
das wissenschaftliche Studium der deutschen Geschichte rur den Kampf um die nationale Ein-
heit Deutschlands und rur die Pflege aller grossen Traditionen des deutschen Volkes hat." In:
Rede von Walter U1bricht auf der H. Parteikonferenz der SED am 12.07.1952. Berlin: Dietz
1952.

325
Denkmal des Freihenn vom und zum Stein vor dem Außenministerium der DDR.

"die revolutionären Kämpfe und die Freiheitskämpfe berichten. Solche geschichtlichen


Persönlichkeiten, die große Verdienste im Kampf um die Einheit Deutschlands haben, wie
Schamhorst, Fichte, Gneisenau, Jahn, müssen in ihrer historischen Bedeutung dargestellt
werden, wobei die reaktionären Auffassungen, denen sie gehuldigt haben, nicht verschwie-
gen werden dürfen.,,685

Die Einbeziehung der Befreiungskriege und preußischen Refonner in


einen positiven politischen Mythos der DDR diente in erster Linie dem Auf-
bau eigener bewaffneter Organe, zu Anfang der Kasernierten Volkspolizei
(KVP) ab dem 3. Mai 1952 und später, ab 1956, der Gründung der Nationa-

685 ebenda.

326
len Volksarmee (NY A), die neben dem Internationalismus auch auf einen
nationalen Bezug abhob. Einen weiteren wichtigen Bezugspunkt stellte die
angestrebte deutsche Einheit dar. Im Gegensatz zur sonstigen Klassenge-
bundenheit konzentrierte sich die SED nicht auf den sozialreformerischen
Gneisenau, sondern auf die nationaldeutsche Strömung von Stein und
Schamhorst. "Der Kampf um Einheit und Unabhängigkeit Deutschlands"
sei auch der gegenwärtige Auftrag der Deutschen in den 50er Jahren gewe-
sen. 686
DDR-Historiker begründeten die Intentionen der SED mit der Implika-
tion des "Patriotismus", wie es die Arbeit von Joachim Streisand von 1958
zeigte. Der DDR-Historiker stellte fest, dass die von den preußisch-
deutschen Reformern getragene

"patriotische Bewegung dafur kämpfte, dass aus den Befreiungskriegen gegen die napoleo-
nische Fremdherrschaft ein einheitlicher deutscher Nationalstaat hervorginge.,,687

Die neue Wache in Berlin "Unter den Linden".

686 Lange, Fritz: Die Volkserhebung von 1813. Berlin 1952: 8 und 15. In: Kopp, Fritz: Das
vertiefte Preussenbild der SED. In: Beiträge zur Konflilctforschung 198112: 93.
687 Streisand, Joachlln: Lehrbuch der deutschen Geschichte. (Entwurf) 2. durchgearb. Auflage.
Berlin 1961. 216. In: Kopp, Fritz: Das vertiefte Preussenbild der SED. In: Beiträge zur Kon-
fliktforschung 198112: 93.

327
Das vorjenaische absolutistische Preußen wurde unter Ulbricht weiter-
hin als Despotie verurteilt und als Interessenvertreter des Landadels hinge-
stellt. Der DDR-Historiker Gerhard Schilfert vollzog diese Linie nach, in-
dem er den "allseitigen Vorrang des Militärischen" als Folge der "terroristi-
schen Klassenherrschaft der Junker", als das für Preußen Typische hervor-
hob, auch wenn er Eigenschaften wie Tatkraft und große Beharrlichkeit bei
Friedrich Wilhelm I. und Friedrich 11. würdigte. 688 Obwohl man den aufge-
klärten Absolutismus als etwas Positives gegenüber der Zeit davor betrachte-
te, nahm man diese Wertschätzung durch ihre Zweckgebundenheit an die
Adelsklasse sofort wieder zurück. Der Dienst für das Allgemeinwohl wurde
in den sich in Umlauf befindenden und von der SED-Zensur beurteilten
wissenschaftlichen wie auch zur Populärliteratur zählenden Geschichtsbü-
chern in Auseinandersetzung mit Friedrichs Schriften selbst und mit denen
westdeutscher Historiker als betrügerisch gekennzeichnet, da er nur dem
besseren Funktionieren des preußischen Staates und den Interessen der A-
deisklasse gedient hätte. Das Ergebnis war Härte, Brutalität und Zwang des
preußischen Staates gegenüber seinen Untertanen. Preußen wurde die De-
formation des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens beschei-
nigt.689

Beispiel für diese Beurteilung Preußens war die 1970 mit relativ hohem
propagandistischem Aufwand betriebene Herausgabe des Buches von Joa-
chim Streisand "Deutsche Geschichte in einem Band. Ein Überblick" beim
Deutschen Verlag der Wissenschaften. 69o Die Bedeutung des Buches für den
politischen Mythos liegt darin, dass, abgesehen von Lehrbüchern zur deut-
schen Geschichte, das erste Mal nach Mehring ein Buch zur deutschen Ge-
schichte für die Öffentlichkeit der DDR erschienen war, das von einer brei-

688 Schilfert, Gerhard: Lehrbuch der deutschen Geschichte. (Entwurf) 2. erw. Auflage. Berlin
Band 4: 57.
689 Typisch tur diese Sichtweise waren folgende Geschichtsbücher:
- Vogler, Günter und Klaus Vetter: Preussen von den Anflingen bis zur StaatsgrOndung. Berlin
1970.
- Diehl, Ernst (Hrsg.): Klassenkampf - Tradition - Sozialismus. Von den Anflingen des deut-
schen Volkes bis zur Gestaltung der
entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik.
(Grundriss). Berlin 1974.
- Kathe, Heinz: Die Hohenzollernlegende. Berlin 1973.
- ders.: Der Soldatenkönig - Friedrich Wilhelm I. (1688-1740), König von Preussen. Eine
Biographie. Berlin 1976.
- Streisand, Joachim: Deutsche Geschichte in einem Band. Ein Überblick. Berlin: Deutscher
Verlag der Wissenschaften 1970.
690 Streisand, Joachim: Deutsche Geschichte in einem Band. Ein Überblick. Berlin: Deutscher
Verlag der Wissenschaften 1970.

328
teren Gruppe von Menschen rezipiert wurde, nicht nur von den professionel-
len Historikern und Parteiarbeitern. In diesem Buch erfuhr die preußische
Geschichte nicht nur eine Einzeluntersuchung wie in vielen Büchern in den
60er Jahren, sondern wurde in den Gesamtrahmen deutscher Geschichte
eingebaut. Streisand trug also entscheidend zur Verbreitung eines negativ
besetzten Preußenbildes in der DDR-Öffentlichkeit bei. Er schrieb:

"Die Anfange des Absolutismus in Brandenburg-Preußen waren verknüpft mit Behinderun-


gen einer kapitalistischen Entwicklung, und in dem am schnellsten aufstrebenden deutschen
Staat zeigte der Absolutismus zugleich die Merkmale eines Militarismus auf junkerlicher
Grundlage: um das Heer zu sichern, lieferten die Hohenzollern die Bauern den Junkern aus -
bereits im 17. Jahrhundert wurden hier innere Verhältnisse nach den Bedürfnissen des
Heeres und nach den Gesichtspunkten der Kriegsvorbereitung geregelt, gaben Gewicht und
Bedeutung der Armee den Ausschlag bei der Gestaltung der Klassenverhältnisse im Inneren
des Landes.,,691

Streisand sah Friedrich II. überwiegend im Lichte eines Tyrannen, ver-


bunden mit enormen persönlichen Schwächen, denn er hielt sich nicht an
seine eigenen politischen Vorsätze, wie er sie im "Antimachiavell" nieder-
geschrieben hatte. 692 Friedrich, "für den Theorie und Praxis ja stets wenig
miteinander zu tun hatten", vergaß stets seine guten Vorsätze und begann
einen Aggressionskrieg gegen Schlesien. Streisand stellte sich auch gegen
die weit verbreitete Vorstellung, dass das preußische Heer ein außerordent-
lich erfolgreiches Heer gewesen sei, denn letztendlich verlor es mehr Kriege
als es gewonnen hatte und verdankte seine günstige strategische Stellung
mehreren Zufällen, die aus weltpolitischen Konstellationen (Tod der Zarin
Elisabeth) erwuchsen, aber nicht eigenen Leistungen zu verdanken waren.
Positive fortschrittsfördernde Wirkungen auf die deutsche Geschichte
billigte Streisand Friedrich II. nicht zu:

"Gewiss: Friedrich 11. filhrte einige neue Elemente in die preußische Kriegskunst ein, und in
der Zeit seiner Regierung spielten privatkapitalistische Ansätze im wirtschaftlichen Leben
des Junkerstaates eine größere Rolle als unter seinem Vorgänger. Diese Tatsachen verän-
dern aber nicht das Bild Friedrich 11., wie es sich bereits aus dem hier geschilderten ergibt,
sondern bestätigen es gerade.,,693

Hinsichtlich der Figur Bismarcks vertrat Streisand die Meinung, dass er


trotz der "Verbesserung der Bedingungen für die Entfaltung der kapitalisti-
schen Produktionsverhältnisse" und trotz der verbesserten Möglichkeiten

691 ebenda: 94.


692 Streisand schrieb: "Er selbst hatte in seinem Anti-Machiavelli diejenigen kritisiert, die ohne
Rücksicht auf die Gebote der Moral dynastische Eroberungspolitik trieben." In: ebenda: 95.
693 ebenda: 97.

329
der Vereinigung der Arbeiterbewegung die reaktionäre Linie der deutschen
Geschichte etablierte, und dass Bismarck letztendlich die besondere "Ag-
gressivität des deutschen Imperialismus" zu verdanken sei. Streisand fasste
das Wirken Bismarcks in drei Klassenschlachten zusammen: 1. gegen die
Bourgeoisie, 2. gegen den katholischen Klerus und den süddeutschen katho-
lischen Adel und 3. gegen die sozialistische Arbeiterbewegung. Er konsta-
tierte, dass die erste Schlacht gewonnen wurde, die zweite nur teilweise und
die dritte gar nicht. Die Arbeiterbewegung wurde nicht durch Bismarcks
"Sozialistengesetz" gespalten, sondern durch Lassalle, d.h. durch die Re-
formisten in der deutschen Arbeiterbewegung.694 Streisand benutzt auch den
Begriff von Friedrich Engels der "Revolution von oben", ohne auf den Autor
zu verweisen, und gab ihr einen ironisch abwertenden Tatsch. 695

Das Fazit des Bismarckschen Werkes der deutschen Reichseinigung war


die Förderung der kapitalistischen Entwicklung in einem solchen Masse,
dass Deutschland zu einem der stärksten Staaten der Welt wurde, und auch
die Arbeiterbewegung hatte nun die Möglichkeit, auf dem Boden einer ge-
einten Nation zu agieren. Jedoch entscheidend für die deutsche Entwicklung
war:

"Dass aber im neu entstandenen Nationalstaat die preußischen Junker die entscheidenden
Positionen in Heer, Diplomatie und Verwaltung innehatten und den wesentlichen Anteil an
der politischen Macht besaßen, dass im Verlaufe der drei Kriege dem die deutsche Einigung
der preußische Militarismus seinen Einfluss auf ganz Deutschland ausbreiten konnte und
dass die deutsche Grossbourgeoisie der Revolution von oben unterworfen und mit der Zu-
stimmung zur Annexion Elsass-Lothringens den Übergang zur Eroberungspolitik vollzogen
hatte - das alles bildet zugleich eine schwere Belastung rur die weitere Zukunft der deut-
schen Nation.,,696

694 Streisand schrieb: "Versucht man, Bismarcks Wirken in den drei Jahrzehnten zwischen 1862
und seinem Sturz 1890 zusammenzufassen, so kann man sagen, dass er insgesamt drei grosse
Klassenschlachten gefilhrt hat. Die erste, die gegen das liberale Bürgertum in den sechziger
Jahren ruhrte, in der er die Ansprüche der Bourgeoisie, entscheidenden Einfluss auf die politi-
sche Macht in Preussen zu erlangen, zurückwies, hat er gewonnen... In der zweiten Ausei-
nandersetzung, die sich gleich nach der Reichsgrilndung abspielte und die als 'Kulturkampf'
bezeichnet wurde, ging es um die Abwehr des Partikularismus, dessen Träger besonders dieje-
nigen Kreise des katholischen Klerus und des süddeutschen katholischen Adels waren, deren
Stellung sich durch die Reichseinigung von oben unter preussischer Führung verschlechtert
hatte und die noch einmal versuchten, diese Position zurückzugewinnen. Bismarck hat diese
Auseinandersetzung nicht zu Ende gefilhrt, sondern sie abgebrochen, als ein neuer, diesmal
unüberwindlicher Gegner erschien: die sozialistische Arbeiterbewegung. Den Kampf gegen sie,
den er in voller Schärfe 1878 mit dem Erlass des Sozialistengesetzes eröffuete, hat Bismarck
verloren." In: ebenda: 206.
695 ebenda: 207.
696 ebenda: 224.

330
Wenn hier nur von einer "schweren Belastung für die Zukunft der deut-
schen Nation" geschrieben wurde, so führte Streisand in dem Kapitel "Der
deutsche Imperialismus vor und im ersten Weltkrieg" die Ergebnisse des
Wirkens Bismarcks weiter zu den "Ursachen für die besondere Aggressivität
des deutschen Imperialismus". 697 Der Kreis schloss sich, als er die Aggres-
sivität des preußischen "deutschen Imperialismus" zum Faschismus führte.
Indem er die Besonderheit des deutschen Faschismus hervorhob, verurteilte
er gleichzeitig das Preußenturn als dessen Ursache:

"Der Faschismus ist keine spezifisch deutsche Erscheinung. Faschistische Bewegungen


entstanden nach dem ersten Weltkrieg in einer ganzen Reihe von Ländern ... Der deutsche
Faschismus trug durchaus ähnliche Züge. Seine Verbrechen hatten aber nach Charakter und
Umfang kein Gegenstück in anderen Ländern - Verbrechen an anderen Völkern und im
deutschen Volk selbst. In Deutschland - darin liegt der wesentliche Unterschied - war der
Faschismus eng verknüpft mit einem starken, aber geschlagenen aggressiven Imperialismus
und Militarismus, der mit Hilfe dieser Bewegung den zweiten Versuch einer gewaltsamen
Neuaufteilung der Welt erstrebte ... ,,698

Die Negativkonnotierung Preußens spiegelte sich auch in den Schulbü-


chern der DDR wieder und rief, angefangen bei der Aufbaugeneration bis zu
den Jugendlichen der 70er Jahre eine sehr negative Einstellung zu Preußen
hervor. Unterstützt wurden die antipreußischen Gefühle auch ganz entschei-
dend durch ein breites Literaturangebot, das antipreußisch ausgerichtet war.
Dazu zählten besonders die Pflichtlektüre von Lessings "Minna von Bam-
helm", eine Reihe von Gedichten von Heinrich Heine, vor allem "Deutsch-
land. ein Wintermärchen" , und Heinrich Manns "Der Untertan", der eine
sehr breite Rezeption im Literaturunterricht erfuhr.
In den Geschichtslehrbüchern der DDR galt Preußen in den ersten 20
Jahren als ein negativer Fixpunkt deutscher Geschichte, wofür Militarismus
und Aggressivität gegenüber den Nachbarstaaten, unmäßige Unterdrückung
der Untertanen durch die "Zweite Leibeigenschaft", hohe Steuern, unge-
wöhnlich harte Militärdienste und das Abverlangen eines "Kadavergehor-
sams" und "Untertanengeists" charakteristisch waren. Dies alles geschah im
"Interesse der herrschenden Junkerklasse, deren oberster Vertreter der Kö-
nig war.,,699 Im Geschichtslehrbuch der 7. Klasse von 1968 wurde das preu-
ßische Königreich mit der Klasse der Junker in eins gedacht und unter-
schiedslos verurteilt:

697 ebenda: 249.


698 ebenda: 350.
699 Lehrbuch rur Geschichte. Klasse 7. Berlin: Verlag Volk und Wissen 1968: 109.

331
"Mit seiner Hilfe (der des Königs) sicherte diese reaktionäre Klasse die Ausbeutung und
Unterdrückung der Werktätigen im eigenen Lande und besaß zugleich ein Mittel, um fremde
Gebiete zu erobern und auszuplündern.,,700

Weiterhin tauchte hier die These von Abusch wieder auf, dass Preußen
der Hauptfeind der deutschen Nation gewesen wäre. Dem friderizianischen
preußischen Staat wurde vorgeworfen, dass er sich "auf Kosten des deut-
schen Volkes und seiner Nachbarvölker vergrößert" und "im Inneren jede
fortschrittliche Entwicklung für lange Zeit" verhindert hätte. 701
Die Negativkonnotation Preußens war auf eine ausgesprochene Distanz-
setzung bedacht gewesen, die immer mit der Abgrenzung zur Bundesrepu-
blik verbunden wurde. Das Bemühen, die These, dass der preußische Staat
nur das Wohl seiner Untertanen im Auge gehabt hätte, zu widerlegen, spiel-
te dabei eine besonders große Rolle. Im Schulunterricht sollte an Hand die-
ses Beispiels herausgestellt werden, dass die westdeutsche Geschichtsschrei-
bung reaktionär und verlogen gewesen wäre. Im Geschichtsbuch der Klasse
7 hieß es:

"Diese Geschichtsschreiber verflilschen absichtlich die Wahrheit. Sie wollen damit den
einfachen Menschen vorspiegeln, der preußische Staat habe nur das Wohl seiner Untertanen
im Auge gehabt und sei allein dazu berufen gewesen, die politische Zersplitterung Deutsch-
lands zu überwinden." 702

Indem die steinernen Reste des preußischen Staates, wie das Berliner
Schloss 1950 und die Garnisonskirche in Potsdam, in der Ritler zum
Reichskanzler ernannt wurde, gesprengt und wegegeräumt wurden, wollten
die Machthaber in der DDR unter Beweis stellen, dass sie den Beschluss des
Alliierten Kontrollrates von 1947 ernst nahmen und mit der preußischen
Geschichte sichtbar gebrochen hatten. Auch die Widmungsinschrift von
Friedrich 11. für Apoll und die Musen über der Staatsoper in Berlin entfernte
man. 703 Als der Magistrat von Berlin 1956 den Wiederaufbau des Branden-
burger Tores beschloss, wurden die Siegeszeichen, die die Wagenlenkerin
vor der Zerstörung trug, der preußische Adler und das eiserne Kreuz, als
"Zeichen imperialistischer Kriege" 704 und "Symbole des preußisch-
deutschen Militarismus,,705 nicht mehr angebracht. Dies sollte symbolisch

700 ebenda.
701 ebenda: 110.
702 ebenda: 109.
703 Interview mit Hans Bentzien. In: Neues Deutschland vom 22./23.11.1997.
704 Unter der Überschrift "Brandenburger Tor - Wahrzeichen des Friedens. Kein Platz fiir Blut-
richterorden" erschien in der Berliner Zeitung am 16.09.1958 ein Artikel von Waldemar
Schmidt.
705 ebenda. Titelblatt.

332
verstärkt den intendierten Zusammenhang zwischen Preußen und dem Nati-
onalsozialismus offen legen.
Die größte symbolische Bedeutung für die Realisierung des Kontroll-
ratsbeschlusses zur Vernichtung des preußischen Staates hatte die Umset-
zung des von Christian Daniei Rauch konzipierten Reiterstandbildes von
Friedrich 11. von den Linden nach Potsdam. 1950 ordnete das ehemals sozi-
aldemokratische Politbüromitglied und Oberbürgermeister von Berlin Fried-
rich Ebert (Sohn des ehemaligen Reichspräsidenten Friedrich Ebert in der
Weimarer Republik) an, das Denkmal zu beseitigen, woraufhin der formale
Beschluss des Magistrats von Berlin zur Verlagerung folgte. Vorerst wurde
das Denkmal demontiert und nach Potsdam in den Park von Sanssouci ge-
bracht und dort aufbewahrt. Nachdem das Reiterstandbild, entgegen der
Anweisung des Politbüromitgliedes und Ersten Sekretärs der SED-
Bezirksleitung Berlin Paul Vemer, es einzuschmelzen,706 gerettet werden
konnte, wurde es 1966 im Hypodrom im Park Sanssouci aufgestellt. 707
Da unter Walter Ulbricht der Wiederaufbau der vom Kriege zerstörten
Städte für die Identität der DDR-Bevölkerung große Bedeutung erlangte,
wurden trotz der Zerstörung preußischer Bauwerke die Rekonstruktion
preußischer Gebäude, besonders im Zentrum von Berlin, vorangetrieben, die
aber stärker mit den Befreiungskriegen als mit dem Preußenkönig Friedrich ll.
verbunden wurden, auch wenn sie tatsächlich, wie die Berliner "Kommode"
aus dieser Zeit stammten. Das unter dem Namen "Berliner Forum" benannte
Bauvorhaben umfasste das Museum für Deutsche Geschichte, die Neue
Wache, das Universitätsgebäude, die "Kommode", das Opernhaus u.a.m. 708
Der von Schinkel erbauten und den Befreiungskriegen gewidmeten Neuen
Wache kam dabei eine besondere Rolle zu. Hier wurde Preußenturn in Anti-
faschismus umgemünzt, indem dieses Gebäude, das von Beginn an dem
Totenkult des jeweiligen politischen Regimes diente, entsprechend den Vor-
schlägen der SED-Führung zu einem Mahnmal für die "Opfer des Faschis-
mus und Militarismus" umdisponiert wurde. 709 Die Prominenz des Ortes im

706 Interview mit Hans Bentzien. In: Neues Deutschland vom 22./23.11.1997.
707 Hagenow von, Elisabeth: Dieter Tucholke. Negativbilder, Preussische Geschichte. In: Flacke,
Monika (Hrsg.): Ausstellungskatalog. Auftrag: Kunst. 1949-1990. Bildende Künstler der
DDR zwischen Ästhetik und Politik. Berlin: Deutsches Historisches Museum 1995: 286- 295.
Vgl. auch Interview mit Hans Bentzien. In: Neues Deutschland vom 22./23.11.1997. Hans
Bentzin als Kultunninister der DDR (1961-1966) verhinderte 1961 die von Paul Verner, Mit-
glied des Polititbüros des ZK der SED und Erster Sekretär der Bezirksleitung Berlin, angeord-
nete Vernichtung des Reiterstandbildes.
708 Verner, Paul: Grossbaustelle Zentrum-Berlin. Neues Deutschland vom 01.01.1960: 5/6.
709 ebenda.

333
Zentrum der Hauptstadt und in der Nähe der Grenze zu Westberlin und die
Möglichkeit der Materialisierung der mythischen Linie von den Befreiungs-
kriegen zum Antifaschismus waren ausschlaggebend und unterstrichen die
Sicht der Ulbricht-Ära auf Preußen, das einzig und allein in den Befrei-
ungskriegen einen positiven Bezug fand und dieses bis in den Antifaschis-
mus hinein verlängerte.
In den ersten 20 Jahren der DDR wurde über alle Medien der Vermitt-
lung politischer Mythen Preußen, mit Ausnahme der Befreiungskriege, mit
der "reaktionären Klassenlinie" der deutschen Geschichte in eins gedacht,
die von Preußen über den deutschen Imperialismus bis zum Faschismus und
darüber hinaus zum Imperialismus in der Bundesrepublik führte. "Aggressi-
vität", "Militarismus", "reaktionär", "konservativ" und "Kadavergehorsam"
waren die Leitbegriffe des Preußenbildes.
Während sich der Mythos vom antifaschistischen Widerstandskampf
zusammen mit seinen Additionsmythen, wie dem Bezug auf die deutsche
Arbeiterbewegung, den Bauernkrieg und die Oktoberrevolution, schon in der
der Aufbaugeneration folgenden Generation zu verlieren anfing und sein
Wirkungspotential immer mehr abebbte, hielt der negative Bezug auf Preu-
ßen in der Bevölkerung der DDR viel länger. Ursache hierfür könnte sein,
dass die Exklusion nie so strikt war wie im Falle des Nationalsozialismus,
dass der Zeithorizont weiter zurücklag als bei der NS-Zeit und deshalb auch
kein Huldigungskult gegenüber noch lebenden Widerständlem abverlangt
wurde. Kulturelle und kommunikative Erinnerung traten in diesem Fall in
ein anderes, stärker entlastetes Verhältnis als beim Antifaschismusmythos.
Persönliche Identität und Gemeinschaftsidentität mussten nicht deckungs-
gleich sein.

4. Die Relativierung eines Negativbildes

In den späten 70er Jahren kam es in der DDR zu einer Reihe von Veröffent-
lichungen zur Geschichte Preußens, die in ihrer Grundaussage zwar von den
bisherigen Einschätzungen über Preußen als einer Quelle des Nationalso-
zialismus nicht direkt abwichen, jedoch hinsichtlich der Fortschrittsträch-
tigkeit und Modernisierungsfähigkeit dieses Staates und einer Aufgliederung
sowohl in negative als auch positive Wirkungen erheblich differenzierte. Um
den Unterschied zur bisherigen Betrachtungsweise deutlich zu machen,

334
betonten die Autoren dieser neuen Preußenliteratur den "dialektischen Cha-
rakter" ihrer Untersuchungen, wofür besonders die DDR-Historikerin Ingrid
Mittenzwei plädierte.
Die neue Lesart, die preußische Geschichte zu bewerten, war Teil einer
insgesamt modifizierten Herangehensweise an Geschichte in der DDR, die
sich unter den Historikern durchsetzte und sich, wenn auch nur gering, von
der orthodoxen Geschichtsbetrachtung der SED abhob. In dem "Grundriss
zur Geschichte des deutschen Volkes", der 1974 herauskam, wurde das

"dialektische Prinzip von Allgemeinem und Besonderem, Internationalem und Nationalem"


betont. 71 0

Damit war der Anfang für das Abweichen von den festgefahrenen, ka-
nonisierten Geschichtsinterpretationen gemacht. Noch wichtiger war der VI.
Historikerkongress 1977 in Berlin, der das Thema des "Fortschritts" in
Verbindung mit den herrschenden Klassen in den Mittelpunkt der Diskussi-
on stellte. 711 Dass nun auch dem vOIjenaischen Preußen Fortschrittsträchtig-
keit zugesprochen wurde, schloss an die Diskussion um Erbe und Tradition
im Kulturbund 1976 an, in der es hieß:

"Friedrich H. von Preußen hat auch in Friedenszeiten Achtbares vollbracht.,,712

Bahnbrechend für diese neue Richtung der Preußenbetrachtung war be-


sonders ein Artikel von Ingrid Mittenzwei in der Zeitschrift der Freien Deut-
schen Jugend "Forum" mit dem Titel: "Die zwei Gesichter Preußens" vom
Oktober 1978. 713 In der wirtschaftsgeschichtlichen Untersuchung Preußens
nach dem siebenjährigen Krieg äußerte sie:

"Unser Blick auf Preußen war lange Zeit durch die Polemik, die die revolutionäre Arbeiter-
bewegun~lIjm 19. und 20. Jahrhundert mit dem reaktionären Preußentum fuhren musste,
verstellt."

710 Grundriss der deutschen Geschichte. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfan-
gen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen
Gesellschaft in der DDR. Berlin 1974.
711 Vgl. Bericht: Die Arbeitskreise auf dem VI. Historikerkongress der DDR. In: zro
19781XXVI: 533-539.
712 Wollgast, S.: Bemerkungen zum Verhältnis von Tradition - Erbe - Philosophie. Sozialistische
Lebensweise und kulturelles Erbe. Auszüge aus einer Tradition. Kulturbund der DDR. Berlin
1976: 91/92.
713 Mittenzwei, Ingrid: Die zwei Gesichter Preussens. In: Forum 1978/19.
714 ebenda: 8.

335
Dass Hitler preußische Traditionen fiir seine Durchhaltestrategie aus-
nutzte, wäre nach Mittenzwei fiir die antipreußische Haltung in der DDR in
der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den ersten Jahren
ausschlaggebend gewesen. Nun aber sei das Volk der DDR reif genug, sich
einem differenzierteren Preußenbild zu stellen. Es wird deutlich, dass diese
Diagnose der Autorin den Antifaschismus in gewissem Masse als erledigt
betrachtete, was wiederum ein Indiz fiir die abnehmende Bindekraft des
Antifaschismus-Mythos ist. Die Autorin äußerte in dem Artikel:

"Preußen ist Teil unserer Geschichte, nicht nur Weimar. Ein Volk kann sich seine Traditio-
nen nicht aussuchen; es muss sich ihnen stellen ... Es gibt ... nicht nur 'Sternstunden' in
der Geschichte eines Volkes, ... sondern auch die herrschende Klasse. Diese automatisch
auf der anderen Seite der Barrikade zu suchen und mit dem Attribut 'reaktionär' zu verse-
hen, ist zumindest rur die Aufstiegsphasen dieser Klasse nicht richtig. Sie haben zum Fort-
schritt der gesellschaftlichen Entwicklung beigetragen, wenn der von ihnen inaugurierte
Fortschritt auch immer einen antagonistischen Charakter trug." 715

Ingrid Mittenzwei vertrat fernerhin eine Theorie, die weitreichende Be-


deutung fiir die Einstellung zur deutschen Geschichte hatte. Es ging um die
Zwei-Phasen-Theorie, die der herrschenden Klasse in ihrer aufsteigenden
Phase Fortschrittlichkeit attestierte und nicht nur als Teil der reaktionären
Klassenlinie betrachtete.
Zwei weitere Veröffentlichungen der Autorin bereiteten auf theoreti-
schem Gebiet den Boden fiir einen neuen Preußenmythos in der DDR. Hier-
bei handelte es sich um die Monographien "Friedrich 11. von Preußen" und
"Preußen nach dem Siebenjährigen Krieg", die beide 1979 herauskamen. 716
Offensichtlich beruhten beide Schriften auf Arbeiten der Autorin, die schon
viel länger ZUlÜcklagen, aber sicher unter dem Verdacht einer Konvergenz
mit westdeutschen Preußendarstellungen nicht zur Veröffentlichung freige-
geben wurden. In ihrer z.T. minuziös recherchierten Darstellung von Fried-
rich 11. trug Ingrid Mittenzwei entschieden dazu bei, den Negativmythos
abzubauen. Der König wurde mit all seinen Schwächen wie Krankheiten,
Depressionen, Vereinsamungen dargestellt. Die Autorin widmete große
Abschnitte dem theoretischen Schaffen Friedrich 11., das im Schulunterricht
und der Literatur bis dahin kaum Beachtung gefunden hatte, und zeigte
politische, kulturelle und theoretische Abhandlungen Friedrichs und deren

715 ebenda.
716 Mittenzwei, Ingrid: Friedrich 11. von Preussen. Berlin: Verlag der Wissenschaften 1979. Diss.:
Preussen nach dem siebenjährigen Krieg - Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und
Staat um die Wirtschaftspolitik. 8erlin: Akademie der Wissenschaften, Schriftenreihe des
Zentralinstituts rur Geschichte 1979.

336
Modifizierungen, entsprechend der politischen Handlungsspielräume und
der Veränderungen seiner eigenen Auffassungen im Verlaufe der Regie-
rungszeit, nachvollziehbar auf. Auch wenn immer wieder auf das Los der
unter Abgaben und Kriegsdienst leidenden eigenen Bevölkerung und die
Unterdrückung der unter der preußischen Fremdherrschaft stehenden Völker
verwiesen wurde, so hob die Autorin auch die Leistungen des Königs in der
Verwaltung, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft hervor,

die "auch den unteren Schichten des Volkes sowie dem Handel und Gewerbe treibenden
Bürgertum zum Vorteil" gereichten.

Ingrid Mittenzwei schrieb in ihrer Friedrich-Biographie zur Justizreform:

"Es ging um eine Vereinheitlichung der Justiz, um einen überschaubaren Aufbau der Ge-
richte, um besser ausgebildete und besoldete Richter und um eine Kodifikation des beste-
henden Rechts. Die Justizreform diente der besseren Durchsetzung zentralistischer Bestre-
bungen des absoluten Staates. Damit soll kein Werturteil über diesen Teil der Justizreform
gefällt werden. Sie gereichte auch den unteren Schichten des Volkes sowie dem Handel und
Gewerbe treibenden Bürgertum zum Vorteil.,,7) 7

Das Neue in den Schriften von Ingrid Mittenzwei bestand darin, dass
Friedrich Wilhelm I. und Friedrich 11. zugebilligt wurde, mit ihrer Politik
eine dynamische Entwicklung Preußens bewirkt und damit die Bedingungen
für die Reformen von Stein, Scharnhorst und Hardenberg geschaffen zu
haben. Preußen konnte somit

"Ausgan~~wunkt und Hauptkraft im antinapoleonischen Befreiungskampf des Jahres 1813


werden."

Diese Aussagen mündeten in der Feststellung,

dass "die herrschende Klasse in solchen Staaten . . . nicht zu allen Zeiten nur reaktionär"
war, sondern auch einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt leistete. 719

Friedrich Wilhelm I. und Friedrich 11. als Vorgänger und Vorausset-


zung für die in der DDR in den politischen Mythos eingeschlossenen preu-
ßischen Reformen und Befreiungskriege zu interpretieren, stellte nun wahr-
lich ein Novum dar, was eine echte Arbeit am Mythos bedeutete, die zwar
den narrativen Kern bestehen ließ, aber von einer peripheren Mobilität der
Narration zeugte.

717 Mittenzwei, Ingrid: Friedrich H. von Preussen. Berlin: Verlag der Wissenschaften. 4. Auflage,
Ausgabe von 1987: 96.
718 Mittenzwei, Ingrid: Die zwei Gesichter Preussens. a.a.O.
719 ebenda.

337
Ein weiterer vom bisherigen Preußenbild abweichender Punkt war das
Zugeständnis, dass Preußen ein Zentrum der industriellen Revolution in
Deutschland war. Der industriellen Revolution wurde in der marxistischen
Geschichtsschreibung eine konstitutive Bedeutung für gesellschaftlichen
Fortschritt zugeschrieben. Man hatte sie bis dahin nie mit Preußen in Zu-
sammenhang gebracht. Preußen, das als Gegenteil zur englischen industriel-
len Revolution behandelt wurde, galt immer nur als Hindernis für den indus-
triellen Aufschwung und somit als Behinderung für die deutsche Entwick-
1ung überhaupt.
Die neue Preußeninterpretation durch Ingrid Mittenzwei zog bald weite
Kreise und wurde auch von anderen Historikern, wie Horst Bartel (Direktor
des Zentralinstituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der
DDR) und Walter Schmidt (Lehrstuhlinhaber am Institut für Gesellschafts-
wissenschaften des ZK der SED), übernommen, die auf Grund ihrer Funkti-
onen stärker als Mittenzwei an SED-Vorgaben gebunden waren. 720 Zwar
betonten sie nach wie vor das reaktionäre Wesen und die unheilvollen Aus-
wirkungen des preußischen Militarismus auf die deutsche Geschichte, doch
billigten sie Preußen bei Betonung eines "dialektischen Herangehens"
gleichzeitig eine fortschrittliche Rolle und "historisch gewachsene positive
geschichtliche Werte" zu. Die Passage dazu lautet:

"Das marxistisch-leninistische Preußenbild hat klare und scharfe Umrisse. Es ruht auf der
Erkenntnis, dass auch die Geschichte Preußens von der Dialektik zweier Klassenlinien
bestimmt wurde. Es vermeidet jede Einseitigkeit und Verabsolutierung und bringt unmiss-
verständlich die von der Entwicklung dieses Staatswesens untrennbaren reaktionären Züge
zur Geltung. Zugleich schließt es aber auch all jene, mit dem Wirken fortschrittlicher Klas-
sen - auch in einem solch reaktionären Staatsgebilde wie Preußen - historisch gewachsenen
positiven geschichtlichen Werte ein, die unser differenziertes Erbeverständnis als Tradition
begreift, bewahrt und pflegt.,,721

Die Autoren bezogen sich auf den Marxismus/Leninismus und seine di-
alektische Methode als Rechtfertigung für ihr differenziertes Herangehen an
Preußen, so dass die Abweichung von der durch Alexander Abusch, Albert
Norden und Otto Grotewohl begründeten Linie der absoluten Verurteilung
Preußens nicht angreifbar und ZUTÜckweisbar war. Neben Friedrich 11. wur-
de hier auch das erste Mal Bismarck eine zwar begrenzte, aber fortschrittli-
che Rolle in der deutschen Geschichte beigemessen, indem man sich auf

720 Diese Auffassungen gehen besonders aus einem Artikel in der theoretischen Zeitschrift der
SED "Einheit" hervor: Bartel, Horst, Mittenzwei, Ingrid und Walter Schmidt: Preussen und
die deutsche Geschichte. In: Einheit 1979/6: 637-646.
721 ebenda: 646.

338
dessen Charakterisierung als "königlich-preußischer Revolutionär" durch
Friedrich Engels berief und ihm eine "durch junkerliche Klasseninteressen
stark begrenzte progressive Wirkung" zubilligte. 722
In die neue "dialektische" Lesart von Preußen fügte sich auch die NYA
in gewisser Weise ein. In einem Artikel von Oberstleutnant Helmut Schnit-
ter "Lessing und die preußische Armee" wurden die Schlagkraft der Armee
von Friedrich 11. und er selbst als Feldherr bewundernd anerkannt, auch
wenn dies nur verschleiert zum Ausdruck kam. 723
Die Unterstützung der Auffassungen von Ingrid Mittenzwei durch SED-
nahe Historiker und Armeekreise wie auch die Tatsache, dass Mittenzwei
ihre Arbeiten überhaupt veröffentlichen konnte, wies Ende der 70er Jahre
auf eine Änderung der bisherigen Preußeninterpretation in der DDR hin, die
sich auf dem Boden einer neuen Einbindung dieses historischen Gegenstan-
des in das Mythengeflecht politischer Legitimitäts- und Identitätsgeschich-
ten vollzog.

5. Der Aufstieg Preußens zu einem Identitätskriterium f"dr


die DDR

Offensichtlich hatte sich das differenzierte Preußenbild der Historiker vor-


erst unabhängig von SED-Richtlinien zur Geschichte entwickelt, was wie-
derum ein Ausdruck dafür ist, dass trotz zentraler Planung und Kontrolle
durchaus verschiedene Richtungen von Geschichtsinterpretationen in der
DDR existierten. Üblicherweise wurden abweichende Auffassungen, sobald
sie bekannt wurden, sofort verdrängt und kriminalisiert oder die Autoren
gezwungen, über den Weg der "Selbstkritik" ihren Thesen abzuschwören.
Doch dieses Mal nutzte die Parteifiihrung die neue Preußeninterpretation
und behandelte sie nicht als politisches Delikt, sondern verhalf ihr sogar
über die Förderung der Veröffentlichung und massenweise Verbreitung zu
Reputation. Beispiel ist Honeckers persönliche Lobpreisung des Buches von

722 ebenda: 644. Wörtlich heisst es in dem Aufsatz: "In der Endphase der bürgerlichen Umwäl-
zung besass das Wirken des zweifellos weitsichtigsten Vertreters der Junkernklasse, 000 von
Bismarck, den Friedrich Engels einen 'königlich preussischen Revolutionär' nannte, eine wenn
auch durch junkerliche Klasseninteressen stark begrenzte progressive Wirkung."
723 Die Volksarmee 1981/6. Entnommen aus: Kopp, Fritz: Das vertiefte Preussenbild der SED. In:
Beiträge zur Konfliktforschung . Köln 1981/2: 104/105.

339
Ingrid Mittenzwei über Friedrich 11. In einem Rundfunkinterview von Ro-
bert Maxwell vom 04.07.1980:

"Die Biographie Friedrichs des Grossen von Ingrid Mittenzwei, eine Arbeit, die ich übrigens
;:~~~~::, =~:c~~~:u~~;j:::!a:~~s:a:~ ~~~:.~ ist aus dieser Sicht 'kein
Die Partei- und Staatselite baute die veränderte wissenschaftliche Preu-
ßenrezeption in ein neues Preußenbild ein, das einen neuen politischen My-
thos begründen soUte.
Galt Preußen zu Beginn der DDR und über zwanzig Jahre ihres Beste-
hens als eine verhängnisvolle Bürde, von der sich die geistige und politische
Elite, die Aufbaugeneration und auch die nachfolgende Generation auf alle
mögliche Weise zu distanzieren versuchten, so geriet es, ähnlich wie Luther,
Ende der 70er und Mitte der 80er Jahre in den Mittelpunkt der offiziell
gesetzten Identitätskriterien der DDR. Politischer Bezugspunkt war die
DDR-Nation, die auf nationale Wurzeln abstellte und dabei den sozialen und
klassenmäßigen Bezug zwar beibehielt, auf diese Weise jedoch ausdünnte.
Zwei Implikationen standen dabei gleichzeitig im Mittelpunkt.
Zum einen ging es um das Rekurrieren auf das eigenen Territorium, auf
dem sich die DDR befand, denn so war fiir die Bewohner eigene Geschichte
und Bindung an den Ort am besten nachvollziehbar. Hatten Mythen, die den
sozialen Aspekt thematisierten und den Klassencharakter historischer Er-
eignisse in den Mittelpunkt stellten, ein rückgängiges Wirkungspotential
aufzuweisen, so sollten diesen Verschleiß nun Mythen aufhalten, die lokal
verankert waren und durch Volksgeschichten, Witze oder Sprüche im kol-
lektiven Gedächtnis der Bevölkerung vorhanden waren. Da sich die DDR,
und noch dazu Berlin, vor allem auf dem Territorium von Preußen befand,
sollte sich die Bindung der Bevölkerung an die DDR über den Bezug auf die
lokale Geschichte verstärken. Die DDR-Eliten erkannten durchaus den
Mangel an Übereinstimmung zwischen dem kommunikativen und kulturel-
len Gedächtnis im Zusammenhang mit dem Antifaschismusmythos und mit
dem Mythos von der Oktoberrevolution oder dem vom "guten Sowjetmen-
schen". Mit Hilfe des Rückgriffs auf die preußische Lokalgeschichte sollte
dieses Manko beseitigt werden.
Die Partei- und Staatsfiihrung unterstellte zur Begründung ihrer Absicht,
mit Hilfe Preußens neue Identität mit der DDR und Legitimität fiir die Re-
gierung zu schaffen, das gesteigerte Bedürfnis der "Öffentlichkeit", sich mit

724 Aus: Deutsches Rundfunkarchiv, J IV 678: 37.

340
Preußen zu beschäftigen. Dieses Bedürfnis beruhte in der Argumentation
und Rechtfertigungsstrategie der SED auf der schärfer werdenden ideologi-
schen Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik um die Geschichte, aber
auch auf der Fonnel der "geistig-kulturellen Reife" der Bevölkerung im
Zuge des Fortschreitens der "entwickelten sozialistischen Gesellschaft". In
den Vorbemerkungen zu dem Buch "Preußen - Legende und Wirklichkeit",
die Horst Bartel verfasste, heißt es dazu:

"So sehen sich heute viel mehr Menschen mit dem Thema Preußen konfrontiert als etwa vor
15 oder 20 Jahren. Darüber hinaus ist in der DDR allgemein das Interesse an Geschichte
festzustellen. Ganz sicher hat das etwas zu tun mit dem Prozess tiefgreifender geistig-
kultureller Wandlungeni der sich mit dem weiteren Aufbau der entwickelten sozialistischen
Gesellschaft vollzieht." 7 5

In den Anfangsjahren der DDR wäre es eine wichtige Aufgabe des jun-
gen Arbeiter- und Bauernstaates gewesen, sich "bei der Überwindung der
faschistischen und militaristischen Ideologie" mit dem "reaktionären Preu-
ßen" geistig auseinander zusetzen. Weiteres Motiv der frontalen Zurückwei-
sung Preußens in der Vergangenheit war die Enteignung der preußischen
Junker, die als "die sozialen Träger des preußischen Militarismus" betrach-
tet wurden. Bartel fiihrte dazu aus:

"Die direkte Auseinandersetzung mit dem reaktionären Preußentum war in den ersten
Nachkriegsjahren eine sehr wichtige Aufgabe bei der Überwindung der faschistischen und
militaristischen Ideologie. Es ging aber nicht nur um eine geistige Neuorientierung. Nach
1945 wurden auf dem Territorium der DDR die Junker und Monopolkapitalisten entmachtet
und damit die sozialen Träger des preußisch-deutschen Militarismus und des Preußentums
vernichtet. Mit der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung, mit der Errichtung der
DDR und mit dem Aufbau des Sozialismus wurde der radikale Bruch mit der Vergangenheit
vollzogen. Das schloss den Bruch mit dem radikalen Preußentum ein. Aus eben diesen
Gründen können wir heute gelassener, von der Warte des Sozialismus, der bei uns in der
DDR feste Wurzeln gefasst hat, über die Geschichte Preußens sprechen und schreiben.,,726

Nun aber sei der preußische Militarismus vernichtet, der Sozialismus


gefestigt und die Voraussetzung gegeben, mit der preußischen Geschichte
"gelassener" umzugehen. Inwieweit diese Begründung Täuschung des Vol-
kes über wahre Absichten darstellte oder Selbsttäuschung einer weit von den
Bedürfnissen der Massen entfernten Elite war, lässt sich schlecht ausma-
chen.

725 Bartel, Horst: Vorbemerkung. In: Preussen. Legende und Wirklichkeit. Berlin: Dietz 1985 (3.
ergänzte Auflage): 5.
726 ebenda: 6.

341
Die andere Implikation war der Zugriff auf die gesamte deutsche Ge-
schichte bei Proklamierung eines gesonderten sozialistischen Weges in der
DDR. Indem Preußen nun, im Gegensatz zu den Ausführungen von Alexan-
der Abusch, mit der gesamten deutschen Nation identifiziert wurde, bedeute-
te die Vereinnahmung Preußens die Inanspruchnahme der gesamten deut-
schen Geschichte in dem Sinne, dass dem, der sich die Geschichte aneignet,
auch die Zukunft gehört. Wenn auch die sicher latent vorhandene Wunsch-
vorstellung von einer deutschen Einheit unter sozialistischem Vorzeichen
den Eliten der DDR kurz- und mittelfristig nicht realistisch erschien, so war
der Parteiführung auf dem Wege der Vereinnahmung Preußens ein Instru-
ment zur politisch-strategischen Vereinnahmung der Bundesrepublik an die
Hand gegeben.
Preußen als Symbol bedeutete nun den Kampf nicht der Symbole, son-
dern um die Symbole. Im Zusammenhang mit der Entspannungs- und An-
erkennungsphase brauchte die DDR auf diese Weise nicht frontal gegen die
Bundesrepublik aufzutreten, indem sie ihre Symbole denen des anderen
Deutschland entgegensetzte, sondern sie besetzte den symbolischen Raum
deutscher Geschichte und versuchte so, den anderen deutschen Staat daraus
zu verdrängen. Das Konkurrenzprinzip hatte sich zugunsten des Prinzips
des frontalen Angriffs und der Konfrontation in der symbolischen Politik
verändert, auch wenn die Schuldzuweisung der "falschen Geschichtsinter-
pretation" Preußens durch die Bundesrepublik zur Stärkung einer reaktionä-
ren Linie weiterhin für die SED eine nicht unwesentliche Rolle spielte.
Aber nicht nur die Konkurrenz der Symbole und der Versuch, einen er-
folgreichen Verdrängungswettbewerb zu führen, war Ziel der DDR-
Führung, sondern das bisherige Verfahren, gegensätzliche Symbole oder
Identitätsgeschichten denen der Bundesrepublik als die besseren gegenüber-
zustellen, war auch im Falle Preußens nicht ganz verschwunden, sondern
wurde in die neue Form der Exkludierung integriert. Handhabbares Instru-
ment war dabei die Erbediskussion, die der DDR das positive und der Bun-
desrepublik das negative Erbe zuschanzte. Ausdruck dessen ist die Aussage
von Horst Bartel in dem 1983 vom Dietz-Verlag herausgegebenen Buch
"Preußen. Legende und Wirklichkeit", in dessen Vorbemerkung er schrieb:

"Diese Frage (Preußen) wurde in jüngster Zeit immer deutlicher Gegenstand scharfer ideo-
logischer Auseinandersetzungen zwischen den beiden deutschen Staaten.,,727

727 ebenda: 5.

342
Die symbolische Konkurrenz um Preußen war aber nicht allein durch
die Entspannungspolitik und die Suche nach neuen Kristallisationspunkten
innerer Identität detenniniert, sondern auch durch eine gewisse Preußenre-
naissance in der Bundesrepublik,728 die mit einer Fülle von Veröffentlichun-
gen, wissenschaftlichen Tagungen und einer Preußenausstellung einherging.
In ihrer mythischen Politik, immer in Blickrichtung auf die Bundesrepublik,
sah die DDR-Elite die Gefahr, dass dieser historische Bezugspunkt, der sich
zudem noch hauptsächlich auf dem Territorium der DDR befunden hatte,
von der anderen Seite angeeignet und identitätsstiftend besetzt wurde.
Wissenschaftlich begründet wurde die überwiegend politisch detenni-
nierte Suche nach neuen Identitätskriterien in der deutschen Geschichte mit
der sogenannten Erbediskussion oder Erbetheorie. Diese basierte nicht auf
der Theorie von Karl Marx, der einen radikalen Bruch mit der Vergangen-
heit verlangte, sondern auf der von Lenin,729 der die Zwei-Linien-Theorie
im kulturellen Erbe, das auf das Vorhandensein einer bürgerlichen und einer
sozialistischen Tradition abstellte,730 begründete. Er räumte auch der Bour-
geoisie einen fortschrittlichen Platz bei der Zerstörung der alten Ordnung
ein, und rechnete sie somit zum progressiven Erbe des Sozialismus. 73\

728 Vgl. Brinks, Jan Hennan: Die DDR-Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur deutschen
Einheit. Luther, Friedrich 11. und Bismarck als Paradigmen politischen Wandels. Frank-
furtlNewYork: Campus 1992: 287.
729 In seiner Schrift "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" schrieb Karl Marx über die
soziale Revolution des neunzehnten Jahrhundert, dass sie "ihre Poesie nicht aus der Vergan-
genheit schöpfen (könne), sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst begin-
nen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die fiüheren Revoluti-
onen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt
zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muss die Toten begraben lassen,
um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phase über den Inhalt, hier geht der
Inhalt über die Phase hinaus." In: MEW, Bd. 8: 117.
730 Lenin unterschied "in der bürgerlichen Nation zwischen bürgerlichen und sozialistischen
Elementen, d.h. Elementen einer demokratischen und sozialistischen Kultur, denn in jeder Na-
tion gibt es eine werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich
eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es auch eine
bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu erzreaktionäre und klerikale) Kultur, und
zwar nicht nur in Form von Elementen, sondern als herrschende Kultur." In: Lenin, W.I.: VIII
Parteitag der KPR (B), 18-23.03.1919. LW, Bd. 29: 42.
731 Beweis hierfilr ist ein Zitat von Lenin: "In den bürgerlichen Revolutionen bestand die Haupt-
aufgabe der werktätigen Massen in der DurchfUhrung der negativen und zerstörenden Arbeit,
den Feudalismus, die Monarchie, die Mittelalterlichkeit zu vernichten. Die positive und schöp-
ferische Arbeit, die neue Gesellschaft zu organisieren, besorgte die besitzende, bürgerliche
Minderheit der Bevölkerung." In: Lenin, W.I.: Die internationale Lage der russischen Sowjet-
republik und die Hauptaufgaben der sozialistischen Revolution. LW, Bd. 27: 230.

343
Politischer Ausgangspunkt für ein neues Anknüpfen an Geschichte war
die Entscheidung der Volkskammer der DDR vom 27. 09. 1974, in Ände-
rung der zweiten DDR-Verfassung den Begriff der deutschen Nation zu
streichen732 und ein Leitartikel im Zentralorgan der SED "Neues Deutsch-
land" Mitte Februar 1975, der besagte,

dass sich die "sozialistische deutsche Nation in der DDR, ihrem Inhalt nach, gleichwohl in
unüberbrückbarem GeJensatz . . . zur gegenwärtig fortbestehenden kapitalistischen Nation
in der BRD" befand. 73

Wie sollte sich eine eigene Nation ohne nationale Geschichte rekrutie-
ren? Die Partei- und Staatselite vollzog nun einen Akt mythischen Synkre-
tismus, indem sie deutsche, preußische und DDR-Geschichte miteinander
verknüpfte und so eine eigene Nationalgeschichte aus der Taufe hob, die den
Bewohnern der DDR auch ein Nationalgefühl und -bewusstsein und nicht
nur ein Klassenbewusstsein ohne Ort vermitteln sollte. Der Umstand, dass
sich die Parteidisziplin in der SED, unabhängig von sowjetischen Einflüs-
sen, mit der preußischen Disziplin vergleichen ließ und in der Funktionseli-
te unterschwellig immer preußische Tugenden und Ordnungsvorstellungen
vorhanden waren, kam der Auswahl dieses mythischen Bezugspunktes si-
cher zugute.
Die Preußenrenaissance unter den DDR-Historikern wurde nun von der
Partei- und Staatsfiihrung genutzt, um daraus Sinn für den Staat und die
DDR-Nation zu ziehen und Preußen zum Mythos zu erheben. Der sozialisti-
sche Staat sollte von nun an nicht mehr nur an die Traditionen der Arbeiter-
bewegung, der sozialen Revolutionen und den antifaschistischen Wider-
standskampf anschließen, sondern an ein viel breiteres Erbe, das auch herr-
schende Klassen mit einschloss. In der Ansprache von Kurt Hager zur Er-
öffnung der ständigen Ausstellungen im Museum für Deutsche Geschichte
mit dem Titel "Der Reichtum unserer Tradition" kam diese Implikation
deutlich zum Ausdruck:

"Nicht weniges ist geschehen, aber noch vieles bleibt zu tun, um jene Traditionen, an die wir
anknüpfen und deren legitimer Erbe unser sozialistischer Staat ist, in ihrer ganzen Breite
und Differenziertheit zu erschließen und zum geistigen Eigentum einer breiten Öffentlich-
keit, vor allem der Jugend, zu machen. In diesem Rahmen kommt jener vertieften, differen-
zierten Sicht auch auf die preußische Geschichte Bedeutung zu, die seit einigen Jahren bei
uns erarbeitet wird. Es ist, das sei nie vergessen, eine Sicht, die allem Progressiven, Fort-

732 Amtsblatt der DDR, 1974, Teil I: 432.


733 Kosing, Manfred und Walter Scbmidt: Nation und Nationalität in der DDR. In: Neues
Deutschland vom 15.11.1975: 1-2.

344
schrittsiördernden gerecht wird und zugleich das reaktionäre Preußentum entschieden
verurteilt.,,734

Die an einer differenzierteren Preußenanalyse beteiligten Historiker


wiederum schlossen sich nun der offiziellen Version einer neuen
Identitätsfindung durch die Partei- und Staatsfiihrung an und beteiligten
sich aktiv an der wissenschaftlichen Begründung eines neuen Mythos, des
Mythos über Preußen. Der Direktor des Zentralinstituts für Geschichte der
Akademie der Wissenschaften Horst Bartel fiihrte 1985 aus, dass Preußen
für "die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung nie ein Nebengleis"
gewesen sei. Doch jetzt sähe er Preußen nicht mehr als alleinige Domäne
der Historiker, sondern als gesamtgesellschaftliche Angelegenheit an:

"Allerdings gewinnt die Beschäftigung mit Preußen heute nicht nur fIlr den Historiker,
sondern auch fIlr eine breite Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der F~e nach unserem
Verhältnis zum historischen Erbe interessante neue und aktuelle Aspekte." 5

Der Anspruch, die Öffentlichkeit einzubinden, wies auf die mythen-


schöpfende Absicht hin.
Die Welle von Veröffentlichungen über preußische Herrscher und Ge-
schichte Ende der 70er und in den 80er Jahren zeigte das Interesse der Re-
gierung an diesem Thema, wobei die Veröffentlichungen von Ingrid Mitten-
zwei nur den Beginn einer Schriftentlut zu Preußen anzeigten. Es folgten
eine Reihe von Veröffentlichungen im Akademie-, Dietz-, Staats-, Reclam-
und Militärverlag, die Biographien von Friedrich Wilhelm 1., Friedrich 11.
und Bismarck herausbrachten. Anfang der 80er Jahre wurde neben Friedrich
11. nun auch Bismarck zu einer bevorzugten Figur des historischen Be-
zugs. 736

734 Hager, Kurt: Der Reichtum unserer Traditionen. Ansprache anlässlich der Eröffitung der
ständigen Ausstellungen im Museum fiIr Deutsche Geschichte am 21. Juli 1981. In: Kurt Ha-
ger: Beiträge zur Kulturpolitik. Reden und Aufsätze 1972 bis 1981. Berlin: Dietz 1981:
2291230.
735 Barte!, Horst: Vorbemerkung. In: Preussen. Legende und Wirklichkeit. Berlin: Dietz 1985 (3.
ergänzte Auflage): 5.
736 Einige Beispiele fiIr die Preussenliteratur in der DDR: Kathe, Heinz: Der "Soldatenkönig".
Friedrich Wilhelm I. 1688-1740. König in Preussen - Eine Biographie. Berlin: Akademie-
Verlag 1978; Mittenzwei, Ingrid: Friedrich 11. von Preussen. Berlin: Verlag der Wissenschaf-
ten 1979; Mittenzwei, Ingrid: Preussen nach dem Siebenjihrigen Krieg. Berlin 1979; Schnit-
ter, Helmut: Volk und Landesdefension. Berlin 1977; Schmitter, Helmut: Die Schlacht bei
Torgau 1760. In: Militllrgeschichte 1979/18: 216-224; Graehler, Olaf: Die Kriege Friedrichs
11. Berlin: Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik 1968 (2. Auflage); Preussen
- Legende und Wirklichkeit. Berlin: Dietz Verlag 1983; Engelberg, Ernst: Bismarck. Urpreus-
se und ReichsgrQnder. Berlin 1985. Wolter, Heinz (Hrsg.): Otto von Bismarck. Dokumente
seines Lebens 1815-1898. Leipzig: Reclam jun. 1986; Schumann, Frank (Hrsg.): A1lergnä-

345
Meier und Schmidt betonten in einer Art neuem marxistischen Ge-
schichtslehrbuch, das massenwirksam in der Schule und in Propagandisten-
schulungen verwendet wurde,

dass "Bismarck eine historische Aufgabe seiner Epoche bewältigt" habe, was "ein histori-
scher Fortschritt" gewesen wäre. 737

Als das von Levi-Strauss bezeichnete Trickster-Verfahren kann das


Bemühen bezeichnet werden, Bismarck, den Initiator der Sozialistengesetze,
als etwas Positives für die Arbeiterbewegung zu bezeichnen, denn durch ihn
gewann sie" den nationalen Kamptboden für ihren Kampf um die
Macht".738 Auch die "gutnachbarlichen Beziehungen zu Russland" wurden
der Fortschrittsseite von Bismarck zugeordnet. Bei all den positiven Bezü-
gen bot sich ein Sich-Berufen auf diese historische Persönlichkeit geradezu
an.
Dass beim Preußenmythos auch eine militärisch-strategische Implikati-
on deutlich wurde und die Außenpolitik der DDR-Regierung zu legitimieren
versuchte, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Kurt Hager
Preußen, vor allem auch Bismarck, in Zusammenhang mit der internationa-
len Situation am Beginn der Entspannungsphase, insbesondere dem Ost-
West-Konflikt, brachte. 739 Er würdigte bei Bismarck den "Realitätssinn", die
"guten Beziehungen zu Russland", "die Ablehnung eines Präventivkrieges"
und seine "Vernunft". All diese Begriffe zielten darauf ab, Beispiele in der
Geschichte zu finden, wo Machtfragen zwischen dem Osten und Westen auf
der Grundlage von Verhandlungen und Einhegung von Konflikten gelöst
wurden. 740 Auch in der Bismarck-Biographie von Ernst Engelberg von 1985

digster Vater. Die Verkrüppelung eines Charakters zu Wusterhausen. Dokumente aus der Ju-
gendzeit Friedrich H. Berlin: Neues Leben 1986.
737 Meier, H. und W. Schmidt: Was du ererbt von deinen Vätern... ABC des Marxismus-
Lininismus. Berlin 1980: 60.
738 Das ausfilhrliche Zitat lautet: Bismarck hatte ''wenn auch auf seine junkerIich reaktionäre
Weise, durch die Beseitigung der feudalstaatlichen Zersplitterung, die Herstellung eines bür-
gerlichen Nationalstaates und die Zuendefilhrung der bürgerlichen Umgestaltung eine histori-
sche Aufgabe seiner Epoche bewältigt .. das war ein historischer Fortschritt... Damit gewann
aber auch die Arbeiterklasse etwas Positives, nämlich den nationalen Kampfboden filr ihren
Kampfum die Macht. .. Auch in seinem Wirken nach der Reichsgründung von 1871 gab es
insofern ein positives Moment, als er aussenpolitisch nach gutnachbarlichen Beziehungen zu
Russland strebte... " ebenda.
739 Hager, Kurt: Gesetzmässigkeiten unserer Epoche - Triebkräfte und Werte des Sozialismus. In
Neues Deutschland vom 16.12.1983.
740 Kurt Hager meinte, dass "die Berufung auf solche Positionen Bismarcks zeitgemäss" wären.
ebenda:3.

346
spielten die Außenpolitik und die guten Beziehungen zu Russland eine gro-
ße Rolle. 741
Was aber das Thema Preußen als mythischem Stoff von anderen unter-
schied, wie den Antifaschismus oder den Bauernkrieg, war die äußerst ge-
ringe Reflexion in der schöngeistigen Literatur. Es existieren kaum Ge-
schichten über Preußen in Form von Romanen. Auch die Spielfilme über
Preußen hatten eher einen dokumentarischen Charakter. Die distanziertere
und mehr kognitive Art der Aneignung dieses historischen Stoffes weist
darauf hin, dass er eher der nach Ernst Cassirer benannten symbolischen
Form der "reinen Erkenntnis", der "reinen Vernunft" oder "wissenschaftli-
chen Erkenntnis" als der des Mythos oder der Kunst zuzuordnen ist, die
andere Modalitäten der Verknüpfung besitzen und weniger der sinnlichen
Seite von Aneignung von Welt entsprechen. 742 Zwar war die Art der literari-
schen Verarbeitung Preußens auch mythisch intendiert, da sie auf einen
breiten Leserkreis abzielte und nicht allein der wissenschaftlichen Fachlite-
ratur zuzuordnen ist, doch gab es wenig Möglichkeiten der persönlichen
Identifizierung. Das, was Aleida Assmann als "animatorische Erinnerung"
bezeichnete, die mit dem Erwecken gleichzusetzen ist und einen Kurz-
schluss zwischen Vergangenheit und Gegenwart schafft, konnte die Litera-
tur zu Preußen kaum leisten. 743
Auch in den Schullesebüchern waren keine Geschichten zu Preußen
vorhanden, die nur im geringsten mit solchen Erzählungen wie Anna Seg-
hers "Tochter der Delegierten" gleichzusetzen gewesen wären. In der bil-
denden Kunst existierten sehr wenig Werke zum Thema Preußen, und wenn,
dann wurden sie, wie bei Dieter Tucholke; im Stil der abstrakten Kunst
angefertigt, was wenig Raum für eine eindeutige Interpretation und ge-
fühlsmäßige Bezüge ließ. 744 Erst recht nicht passte der Preußenmythos zur
Erinnerungsform des eschatologischen Erwachens, wo eine großartige Ver-
gangenheit eine ebenso großartige Zukunft begründet und das eigene Han-
deln rechtfertigt. Das emotionslose Verhältnis zur preußischen Geschichte
war eher mit der räumlichen Gedächtnismetapher der Bibliothek gleichzu-

741 Engelberg, Ernst: Bismarck. Urpreusse und Reichsgrunder. Bd. 1. Berlin 1985: 426/427.
742 Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Fonnen. Teil!. Die Sprache. Einftlhrung.
(1923) Dannstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. 10. unveränderte Auflage: 3-52.
743 Assmann, A1eida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Hemken, Kai-Uwe (Hrsg.): Gedächt-
nisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst. Leipzig: Reclam 1996: 33.
744 Hagenow von, Elisabeth: Dieter Tucholke. Negativbilder, Preussische Geschichte. In: Flacke,
Monika (Hrsg.): Ausstellungskatalog. Auftrag: Kunst. 1949-1990. Bildende Künstler der
DDR zwischen Ästhetik und Politik. Berlin: Deutsches Historisches Museum 1995: 286- 295.
Auftraggeber fllr den Bilderzyklus war die Abteilung Kultur des Magistrats von Berlin.

347
setzen, aus deren Bestand an Erinnerungen sich die DDR Preußen zur Wei-
terverwendung herausgezogen hatte.
Im Geschichtsunterricht wurde bei den Schülern trotz der Betonung des
widersprüchlichen Charakters Friedrich 11. durch die Auflistung seiner posi-
tiven Eigenschaften Achtung vor diesem Herrscher hervorgerufen, der zwar
weiterhin als verhängnisvoll, aber gleichzeitig als wichtig für die deutsche
Geschichte betrachtet wurde. Das Kapitel zu Preußen von 1740-1786 im
Geschichtslehrbuch der 7. Klasse von 1988 wurde mit folgenden lobenden
Worten eingeleitet:

"Mit Friedrich H. kam 1740 ein König auf den preußischen Thron, der die meisten Fürsten
seiner Zeit an politischer Klugheit übertraf und ein begabter Feldherr war.,,745
Auch wenn die Beschreibung der Verdienste und Absichten des Königs,
sein "Volk glücklich zu machen" und die Auswüchse des Feudalismus zu
beseitigen, im Lehrbuch immer relativiert und der reaktionäre Charakter
Preußens beschrieben wurde, schufen die Lehrbuchautoren doch ausreichend
Raum für Sympathien rur Friedrich 11. 746
Mit keinem Wort wurde der bisher im Zusammenhang mit Preußen nie-
mals ausgelassene Begriff der Aggressivität erwähnt. Dass statt dessen der
Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht hervorgehoben wurde,
macht deutlich, dass die preußische Eroberungspolitik theoretisch entideolo-
gisiert wurde und gleichzeitig ein gewisser Stolz bei den Rezipienten her-
vorgerufen werden sollte. 747 Wenn in dem Geschichtslehrbuch der 7. Klasse
1967 noch von einem "hinterhältigen Überfall auf Schlesien" und dem "räu-
berischen Wesen des preussisch-junkerlichen Militarismus,,748 die Rede war,
so hieß es in dem Lehrbuch von 1988, dass Friedrich 11. die schwache Lage
Maria Theresias ausnutzte und "in das schwach besetzte Schlesien überra-
schend einfiel.,,749
Was bis Ende der 70er Jahre einem Sakrileg gleichgekommen wäre,
wurde in den 80er Jahren in Schulbüchern möglich. Bezogen auf den "preu-
ßischen Militarismus" wurde Friedrich 11. als "widersprüchlich" betrachtet.
Im Lehrbuch heißt es:

745 Lehrbuch filr Geschichte. Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen 1988: 122.
746 ebenda: 124/125.
747 ebenda: 126.
748 Lehrbuch filr Geschichte. Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen 1967: 105.
749 Lehrbuch rur Geschichte. Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen 1988: 122.

348
"Dieser preußische Militarismus, der im Junkertum verwurzelt war, erreichte unter König
Friedrich Il. einen Höhepunkt. Mit ihm saß ein Herrscher auf dem Thron, der sehr wider-
sprüchlich war. Einerseits gab er sich aufgeklärt und führte einige Reformen durch, andrer-
seits hat er gerade durch den Ausbau des Militarismus die gesellschaftliche Entwicklung
entscheidend behindert." 750

Spittelkolormaden auf der "Leipziger Strasse" in Berlin.

Preußen wurde nicht nur ein bevorzugtes Thema der Wissenschaft und
Schulbildung, sondern es trat besonders in ikonographischer Fonn den Re-
zipienten entgegen und wurde zunehmend Gegenstand kultureller Fonnung
durch die visuelle Besetzung öffentlichen Raumes, was sich in der Stadt-
bildpflege, steinernen Standbildern und Ausstellungen manifestierte. Preu-
ßen erhielt auf der Ausstellung zur deutschen Geschichte 1981 im Museum
für Deutsche Geschichte in Berlin eine hervorragende Position. Dann folg-
ten die Ausstellungen "Friedrich 11. und die Kunst" 1986 im Neuen Palais in
Sanssouci zum 200. Todestag von Friedrich 11., 1987 "Alte Kutschen" aus
der Zeit Preußens in Berlin und 1988 "Der große Kurfürst (1620-1688),
Bauherr, Sammler, Mäzen" aus Anlass des 300. Todestages von Friedrich
Wilhelm von Brandenburg ebenfalls im Neuen Palais von Sanssouci. Die

750 ebenda: 126.

349
rege und aufwendige Ausstellungstätigkeit, die ursprünglich eine Reaktion
der DDR-Führung auf die Preußenausstellung in Westberlin 1983 war, ent-
wickelte sich zu einem Medium symbolischer Kommunikation in der DDR
und einer wichtigen Stütze des neuen Preußenmythos '.
Gleichzeitig mit der wissenschaftlichen und politischen Rehabilitation
und seiner veränderten Rolle in der Bildung und Literatur, machte sich
Preußen der DDR-Bevölkerung auch visuell im Stadtbild bemerkbar. Die
architektonischen und dekorativen Symbole preußischer Herrschaft, die
ursprünglich mit der Absicht der Zerstörung des preußisch-deutschen Mili-
tarismus beseitigt worden waren, wurden nun zum großen Teil wieder auf-
gebaut oder angebracht und besetzten öffentlichen Raum. 1979 stellte man
auf der Leipziger Strasse die Spittelkolonaden sowie eine Nachbildung der
Meilensäule von 1730751 und ein Jahr darauf den Spindlerbrunnen wieder
auf. Ein Akt von großer symbolischer Bedeutung war 1981 die Rückverset-
zung des Denkmals von Friedrich 11. von Christian Daniel Rauch von Pots-
dam an seinen alten Platz nach Berlin, was von Erich Honecker persönlich
angeordnet und mit dem Argument der "Abrundung des Forums Unter den
Linden" mit kulturhistorischen Motiven begründet wurde. Im Interview mit
Robert Maxwell sagte Erich Honecker:

"Das wäre sozusagen die Abrundung des wiederaufgebauten Linden-Forums im Zentrum


Berlins. Das sollte niemanden überraschen. In jedem der deutschen Lande gab es in der
Vergangenheit Fortschrittliches und Reaktionäres, und die Standbilder werden meist von
berühmten Bildhauern geschaffen. Das ist ein Stück Kultur des Volkes.,,752

Die prominente Stelle, an die dieses Reiterstandbild Unter den Linden,


der Hauptstrasse der Hauptstadt der DDR wieder gesetzt wurde, zeigte den
hohen Stellenwert, den die Regierung Preußen in Bezug auf Geschichte nun
zuordnete. Die Rückführung wurde unter dem Titel "Sondervorhaben" unter
Leitung von Erhardt Giesske gemeinsam mit der Baudirektion von "Schlös-
ser und Gärten" Sanssouci organisiert. 753

751 Keiderling, Gerhard: Berlin 1945-1986. Geschichte der Hauptstadt der DDR. Berlin 1987:
802.
752 Vg1. auch Brinks, Jan Herman: Die DDR-Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur deutschen
Einheit. a.a.O.: 275.
753 VgI.: Interview mit Hans Bentzin. In: Neues Deutschland vom 22./23.11.1997.

350
Das Monument von Friedrich II. von Daniel Rauch auf der Straße "Unter den Linden" in Berlin.

Im gleichen Jahr wurde auch das Denkmal des Freiherrn vom und zum
Stein vor dem Außenministerium Unter den Linden aufgestellt. 754 1984
ordnete der Magistrat von Berlin die Wiederherstellung "des ursprünglichen
Zustandes" der Straßenfassaden der "Kommode", des Alten Palais und des
Kommandantenhauses an. Das bedeutete "für die Kommode das Wiederauf-
setzen der Steinkrone auf die Skulpturengruppe des Mittelrisalits und der
Steinadler auf die Seitenrisalite, für das Alte Palais die Vervollständigung
durch zwei Stahlguss-Adler auf den Gebäudeecken.,,755 Mit dem Wiederauf-
bau der Schinkelschen Friedrichwerderschen Kirche war das Stadtzentrum
und Regierungsviertel der Hauptstadt der DDR dann endgültig preußisch
geprägt und ließ den Geschichtsbezug ganz offensichtlich werden.

754 1985 kam zu der Preussifizierung des Zentrums von Berlin noch der Wiederaufbau der Schin-
kelschen Friedrichwerderschen Kirche hinzu.
755 Anordnung des Magistrats von Berlin, Büro rur Städtebau Nr. 2866165 do-jh, vom
13.06.1984. Landesarchiv Berlin.

351
Steinkrone aufMitteIrisalit der "Kommode" in Berlin.

Im Medium des Films kam Preußen in den 70er und 80er Jahren durch
eine große Anzahl von Dokumentar-, Spiel- und Lehrfilmen stärker als
bisher in das Bewusstsein der Bürger der DDR. Von 1970 bis 1990 gab es
40 Erstsendungen mit dem Thema Preußen im DDR-Fernsehen, die nicht
selten 10 Wiederholungen aufweisen konnten. 756 Die größte Dichte der
Sendungen zu Preußen wurde in den Jahren 1985 bis 1987 erlangt, in den
Jahren, in denen die Preußenrenaissance ihren Höhepunkt erreichte. Beson-
ders der vierteilige Fernsehspielfilm "Sachsens Glanz und Preußens Gloria"
in der Autorenschaft von Eberhard Börner und der Regie von Hans-Joachim
Kasprzik war Beleg fiir das verstärkte Rekurrieren der DDR auf lokale und
nationale Geschichte, die außerdem der Herrschaftsgeschichte zuzuordnen
war. Bereits 1979 wurde vom Kulturministerium an das DEFA-
Dokumentarfilmstudio "Gruppe 67" der Auftrag erteilt, unter der Leitung
von Andrew Thorndike einen Film über Friedrich 11. zu drehen. 757

756 Dies ergaben Recherchen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv, Abteilung Fernsehen.
757 Brief von Wemer Schmeichler, Abteilungsleiter im Ministerium für Kultur, an Prof Dr.
Deiters vom 08.10.1979. Landesarchiv Berlin.

352
Doch erst in den 80er Jahren wurde dieses Thema unter dem neuen
Blickwinkel anderer Autoren und dem Titel "Sachsens Glanz und Preußens
Gloria" wieder aufgenommen, die den Intentionen der Parteiführung eher
gerecht wurden. Die Verleihung des Heinrich-Greif-Preises fiir den Fernseh-
film und der große Medienaufwand, der dem Film in der Presse, im Fernse-
hen und Rundfunk gewidmet wurde, ordnete sich in die aufwendigen Bemü-
hungen der Partei- und Staatsführung zur kulturellen Vermittlung des Preu-
ßenmythos ein. Es folgten weitere Spielfilme wie "Die Emser Depesche"758,
"Gold fiir den König", "Interview mit einem König,,759 und "Der Reiter
unter den Linden" /60 die den Mythos von Preußen als wichtigen histori-
schen Bezugspunkt der DDR unterstützen sollten.
Die Behandlung des Preußenthemas im Rundfunk der DDR verlief pa-
rallel zu der im Fernsehen. Zwischen 1970 und 1990 wurden 52 Erstsen-
dungen über Preußen ausgestrahlt, wobei der Schwerpunkt in den Jahren
zwischen 1986 und 1988 lag. 761 Der Titel einer Rundfunksendung aus dem
Jahre 1981 "Preußens Geschichte - unsere Geschichte?" ist fiir das Bemühen
um Identität mit der preußischen Geschichte charakteristisch. 762

758 Sendung des Fernsehens der DDR am 08.07.1976. In: Deutsches Rundfunkarchiv. Abteilung
Fernsehen. IDNR: 12992.
759 Interview mit einem König. 2. Programm des Fernsehens der DDR. Gesendet am 17.08.1986.
In: Rundfunkarchiv. Abteilung Fernsehen. IDNR: 19433.
760 Sendung des DDR-Fernsehens vom 14.08.1986. In: Deutsches Rundfunkarchiv, Abteilung
Fernsehen. IDNR: 18813.
761 Entnommen aus den Recherchen des Deutschen Rundfunkarchivs der Abteilung Schallarchive
Wort.
762 Sendung einer Diskussion zum preussischen Erbe vom 20.02.1981. In: Deutsches Rundfunk-
archiv. Abteilung Schallarchive Wort. Archivnummer: 2021707000.

353
Steinadler auf dem Seitenrisalit der "Kommode" in Berlin.

Entsprechend dem Bedürfnis der Bevölkerung, Geschichte und Politik zu


personifizieren, waren Friedrich 11. und Bismarck die personellen Bezugs-
punkte der Preußen-Sendungen. Vorherrschend war dabei eine überwiegend
positive und fortschrittsfördernde Bewertung von Friedrich 11. und Bis-
marck. Bisweilen erweckten die Sendungen den Eindruck, als hätten sich
beide Herrscher in krassem Gegensatz zu den Junkern und Adligen befun-
den.
Die Geschichte des Müllers Arnold von Sanssouci spielte im Zusam-
menhang mit dem Versuch, positive Gefiihle fiir Friedrich 11. zu erzeugen,
eine Schlüsselrolle. Nicht, dass dem König nur philosophische Fähigkeiten,

354
wirtschaftliche und juristische Reformen nachgesagt wurden, war aus-
schlaggebend, sondern auch und in mythenpolitischer Hinsicht vor allem,
dass er sich um Gerechtigkeit für seine Untertanen bemühte und so einen
Mann aus dem Volke gegen seine Minister und Adlige verteidigte. Anhand
dieser Geschichte wird die Arbeit am Preußenmythos besonders deutlich,
denn in einer Rundfunksendung im Jahr 1958 über den gleichen Müller
Amold wird er durch den "schlechten" König ruiniert. 763
Wenn auch vermindert, so wurde doch selbst die Theater- und Musik-
szene von der Preußeneuphorie der 80er Jahre erfasst. Das Berliner En-
semble brachte 1987 ein Theaterstück zu Prinz Louis Ferdinand heraus,764
und Heiner Müller inszenierte 1988 in der Volksbühne das Stück "Leben
Grundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei." Im Pots-
damer Schlosstheater von Sanssouci wurde sogar die Oper "Montezuma"
des Hofkomponisten von Friedrich 11., earl Heinrich Graun, dessen Libretto
der König selbst geschrieben hatte, wiederaufgefiihrt, verbunden mit einer
breiten Reflexion in den Medien. 765
Von besonderer Bedeutung für das Bemühen der Partei- und Staatsfiih-
rung um einen Preußenmythos war die Forderung von Kurt Hager im Jahre
1983, "die preußischen Tugenden" wieder zu achten, die er mit Umgangs-
formen wie Achtung, Höflichkeit, Takt, Bescheidenheit, Zuverlässigkeit,
Pünktlichkeit, Selbstbeherrschung, Disziplin und Ordnungssinn in Zusam-
menhang brachte. 766

6. Der Beitrag Preußens zum Untergang der DDR

Rezeptionsseitig stiftete der Bezug auf Preußen bei der DDR-Bevölkerung,


insbesondere bei der Aufbaugeneration, Verwirrung, da es noch nicht allzu
lange Zeit zuvor in der narrativen und ikonischen Vermittlung als das Ge-

763 Hörspiel "Der Müller von Sanssouci" von Peter Hacks vom 28.12.1958. Archivnummer:
3000326XOO. Friedrich II. verbot dem Müller das Klappern der Mühle und ruiniert damit den
Müller.
764 Der Kulturspiegel des DDR-Rundfunks berichtet darüber am 08.02.1987. In: Rundfunkar-
ehiv. Abteilung Schallarchive Wort. Archivnummer 2009334104.
765 Ein Beispiel rur die Aufinerksamkeit der Medien rur die Opernauffilhrung ist das Interview
mit dem Oberspielleiters des Schlosstheaters am 15.05. 1982. In: Deutsches Rundfunkarchiv.
Abteilung Schallarchive Wort. Archivnummer: 2005208105.
766 Hager, Kurt: Die Gesellschaftswissenschaften vor neuen Aufgaben. Konferenz der Gesell-
schaftswissenschaftIer der DDR am 18. Dezember 1980 in Berlin.

355
genteil des positiven Erbes, als Vorgänger und Wurzel des Nationalsozia-
lismus und Militarismus betrachtet wurde. Bis in die 70er Jahre hinein in-
terpretierte man Friedrich 11. und Bismarck, durch DDR-Historiker theore-
tisch begründet, überwiegend pejorativ als ein "Verhängnis der deutschen
Geschichte". So stellte der symbolische Bezug auf Preußen gewissermaßen
die Aufhebung des Gründungsmythos dar.
Das verstärkte Rekurrieren auf die deutsche Geschichte sollte der desil-
lusionierten jungen Generation wieder neuen Sinn vermitteln, wobei da-
durch immer unklarer wurde, warum bei dem Rückgriff auf die gemeinsame
deutsche Geschichte die DDR als deutscher Teilstaat eine Berechtigung
hatte.
In der Ansprache von Kurt Hager zur Eröffnung der Ständigen Ausstel-
lung am Museum fiir deutsche Geschichte 1981 wird diese Problematik sehr
deutlich, denn hier versucht er die Mythisierung Preußens zurückzunehmen
und offensichtlich den Kreisen der DDR-Funktionäre und Bevölkerung
gerecht zu werden, die mit der Preussifizierung nicht einverstanden waren:

"Eine besondere Hervorhebung Preußens, wie sie gegenwärtig mit reaktionären Zielsetzun-
gen in der BRD und in Westberlin betrieben wird, ist nicht unsere Sache. Sie ist filr uns
auch deswegen nicht akzeptabel, weil Preußen - chronologisch und territorial - zwar wichti-
ge Teile, aber eben nur Teile deutscher Geschichte umfasst, weil zu dieser ebenso die Ge-
schichte vieler anderer Territorien gehört, und weil wir stets - und das ist das Wichtigste -
den Blick auf die Gesamtheit unserer Traditionen richten.,,767

Das Aufrechterhalten der politischen und ideologischen Abgrenzung zur


Bundesrepublik, die man vordem mit Preußen in einer Kontinuitätslinie
charakterisierte, bei zunehmendem Vereinnahmen der gesamten deutschen
Geschichte als alleinigem Erbe der DDR wurde zu einer fiir die Rezipienten
nicht mehr nachvollziehbaren geschichtspolitischen Strategie. Die Mythisie-
rung nationaler Ereignisse der gemeinsamen deutschen Geschichte, und
besonders der preußischen Geschichte, hatte mit der mythischen Identitäts-
suche wenig zu tun und konnte auch dem ursprünglichen Erbeanspruch, die
DDR sei die wahre Vollenderin allen positiven historischen Gutes des deut-
schen Volkes im Sinne sozialer Gerechtigkeit, nicht mehr gerecht werden.
Wenn der Bezug auf die gemeinsame deutsche Geschichte bei Luther
noch halbwegs funktionieren konnte, so war die Zielsetzung bei Preußen von
vornherein äußerst fragwürdig, da die Einwohner von Berlin und Branden-

767 Hager, Kurt: Der Reichtum unserer Traditionen. Ansprache anlässlich der Eröffilung der
ständigen Ausstellungen am Museum filr Deutsche Geschichte. In: Kurt Hager: Beiträge zur
Kulturpolitik. Reden und Aufsätze 1972 bis 1981. Berlin: Dietz 1981: 230.

356
burg im Gefolge eines Bevölkerungstransfers von Süd nach Nord im Laufe
der DDR stark mit Sachsen und Thüringern durchmiseht waren, die zu
Preußen von vornherein eher ein negatives als ein positives Verhältnis hat-
ten. Der preußisch-sächsische Gegensatz hatte sich, trotz der Auflösung der
Länder, als Gedächtnisspur auch in der DDR erhalten und wurde durch
einen übermäßigen Anteil von Sachsen bei den staatlichen und SED-
Funktionsträgern sogar noch verstärkt. Hinzu kam, dass Preußen in der
geistigen Elite der Deutschen, insbesondere bei den Linken, eher gering- als
hochgeschätzt wurde. Unabhängig von der relativen Nachhaltigkeit der
durch Mehring und Abusch inszenierten Auffassung über die direkte Linie
von Preußen zu Hitler, wurden preußische Disziplin und Ordnung eher
belächelt und als entwürdigend und verächtlich empfunden, denn sie konn-
ten ohne große Schwierigkeiten mit der Parteidisziplin der SED assoziiert
werden.
Dass sich verhältnismäßig wenige Künstler im positiven Sinne mit
Preußen beschäftigten, ist ein untrügbares Kennzeichen dafür, dass die myt-
hische Begründung der Gemeinschaft durch Preußen eine geringere emotio-
nale Tiefenschicht als im Falle des Antifaschismus oder des Bauemkrieges
und der Reformation erreichte und als Mythos bei den potentiellen Mythen-
vermittlern, zu denen die Künstler zählen, und den Rezipienten nicht aner-
kannt wurde. Der Preußenmythos in den 80er Jahren blieb deshalb vor allem
ein Mythos der politischen Elite. Der gesellschaftliche Rahmen, den Mau-
rice Halbwachs als konstitutive Determinante des kollektiven Gedächtnisses
darstellte, bezog sich nur auf die Regierenden, während die Regierten davon
nicht ergriffen und durchdrungen wurden. Der kollektive Rahmen für einen
positiven, die politische Gemeinschaft integrierenden Preußenmythos konnte
nicht erreicht werden.

357
Schlussbemerkung

Bei allen Ambivalenzen und Inkonsistenzen macht das Beispiel der drei
behandelten politischen Mythen deutlich, dass es der DDR am Anfang
durchaus gelungen war, über mythische Narrationen und kulturelle For-
mung kollektiver Erinnerung politische Identität herzustellen. Im Verlaufe
der DDR-Zeit jedoch erlitt die sinnstiftende Funktion der Mythen und ihre
Integrationskraft einen relativ schnellen Verschleiß, bis 1989/90 in der gro-
ßen Krise deutlich wurde, dass sie keinerlei Revitalisierungskraft mehr be-
saßen.
Was sind die Ursachen fiir diese schwindende Kraft der mit so viel
Aufwand und oftmals hohem moralischem Engagement inszenierten politi-
schen Mythen der DDR?
Eine der wichtigsten Ursachen fiir das Scheitern war die Nichterfüllung
der Versprechungen und Erwartungen von Demokratie und breiter Volks-
herrschaft, die sowohl im Zusammenhang mit dem Antifaschismusmythos
als auch mit dem Mythos von Bauernkrieg und Reformation zu Anfang
vorhanden waren. Die Formierung der politischen Elite nach stalinistischem
Vorbild installierte ein politisches System, das das Zusammendenken von
Geschichtsbezug und Demokratie durch totalitäre und autoritäre Ambitionen
überlagerte, das demokratische Element marginalisierte und letztendlich
eliminierte. Antifaschismus und Bauernkrieg reflektierten damit immer
weniger das Bild der gesamten Gesellschaft, sondern immer stärker das der
an der Macht befindlichen Elite, deren Deutungen schließlich im offiziellen
kulturellen Gedächtnis überwogen und den Charakter einer autoritären
Selbstinszenierung annahmen.
Eine zweite wichtige Ursache war die Inkonsistenz der politischen My-
then in der DDR, die ursprünglich überwiegend sozial-idealistischen Bildern
folgten, aber von den 70er Jahren an mit der Proklamierung der DDR-
Nation eine ganz andere Richtung einschlugen. Die Partei- und Staatsfiih-
rung setzte neue Werte, die vorher aus dem Mythos als verhängnisvoll und
verräterisch, wie dies bei den Narrationen über Preußen oder Luther als
Identitätsgeschichten geschah, ausgeschlossen wurden. Die neuen Mythen-
konstruktionen konterkarierten den Ursprungsmythos oftmals geradezu, so
dass sich die Struktur des politischen Mythos der DDR völlig veränderte und
keine ausreichende Glaubensgrundlage mehr bieten konnte.

359
Das Unterfangen, die antifaschistische Identität der DDR durch histo-
risch weiter ZUTÜckreichende Bezüge in der Fonn mythischer Herkunfts-
und Ursprungserzählungen zu stützen, musste zwangsläufig scheitern, stand
es doch im Gegensatz zu den bisherigen Begründungen für den Aufstieg des
Nationalsozialismus. Friedrich 11. und Bismarck waren in die Erzählung
vom antifaschistischen Widerstandskampf nicht einzubinden. Dies lief auf
eine Revision des bisherigen politischen Mythensystems hinaus, insbesonde-
re des Antifaschismus, um den sich weitere Mythen, wie der von der deut-
schen Arbeiterbewegung, von der Oktoberrevolution, vom positiven Erbe der
Klassik, vom "neuen Menschen" und vom Aufbau einer "besseren Gesell-
schaft" rankten.
Hier wurde nicht im Sinne Blumenbergs "Arbeit am Mythos" geleistet,
d.h., ein vorherrschender Gründungs- und Orientierungsmythos wurde nicht
den veränderten Umständen angepasst, sondern die Ursprungsmythen wur-
den dementiert. Selbst das von Levi-Strauss beobachtete Trickster-Verfahren
- die Verbindung gegensätzlicher Vorstellungen zu einem Mythos mit kohä-
rentem Sinnzusammenhang - funktionierte hier nicht. Während zwischen
der deutschen Klassik und dem Antifaschismus noch Kontinuitäten und
Sinnbeziehungen hergestellt werden konnten, war das zwischen Bismarck
und dem Antifaschismus nach der vonnaligen Verdammung des Preußen-
turns kaum möglich. So geriet der Versuch, einen fragil gewordenen Grün-
dungsmythos durch Komplementännythen zu stützen, zu dessen weiterer
Schwächung und verstärkte eher den Verfall politischer Identität und staat-
licher Legitimität der DDR.
Die neuen mythischen Bilder wurden von nun an offen als Macht- und
Herrschaftsinstrument der Partei- und Staatsfiihrung erfahren. Obgleich der
Bezug auf die deutsche Geschichte für mehr Identität und Integration funk-
tionalisiert werden sollte, scheiterte er auf der Rezeptionsseite an der gebro-
chenen Kontinuitätslinie zum bisher proklamierten Selbstverständnis (Anti-
faschismus - Militarismus - Preußenturn). Diese offensichtliche Instrumenta-
lisierung von Geschichte mündete in den 80er Jahren in eine tiefe Vertrau-
enskrise, die diejenige Ende der 60er Jahre weit übertraf. Mythische Bilder
blieben von der Bevölkerung, in zunehmendem Masse aber auch von jünge-
ren Vertretern der Funktionseliten, unbeachtet und wurden nur noch als
kultische Justifikation der Herrschenden zur eigenen Machterhaltung be-
trachtet. Das, was einen Mythos ausmacht - große Massen umfassende Ein-
stellungen und Empfindungen, die Identität schaffen - stellte sich nicht ein.
Im Gegenteil: vorhandene Identität und mythischer Sinn für die "neue"

360
Gesellschaft ging an dem konzeptionellen Bruch und der offensichtlichen
Instrumentalität der mythischen Vermittlung verloren.
Der Mangel an Konsistenz ist u.a. darauf zurückzuführen, dass das kul-
turelle Gedächtnis der DDR nicht Gegenstand öffentlich ausgetragener Kon-
troversen war, die sich hätten um Bedeutung und Stellenwert des Erinnerten
drehen können. Auf Grund der Dominierung des kulturellen Gedächtnisses
durch die Partei- und Staatsfiihrung entfiel somit auch die Kontrolle durch
das kommunikative Gedächtnis, das nonnalerweise ein unabdingbares Kor-
rektiv zum Funktionieren politischer Mythen darstellt. Das Spannungsver-
hältnis zwischen dem auf Kollektivität und Egalität abgestellten Mythos und
der elitären Handhabung und Instrumentalisierung durch die Machthaben-
den wurde weit überdehnt und war für die Rezipienten nicht mehr aushalt-
bar.
Die Versuche der Elite, Arbeit am Mythos zu leisten, konnten keine Re-
vitalisierung von Sinn für die DDR erzeugen, sondern brachten ihn zu Ende,
denn die von Blumenberg genannte Bedingung der "Variationsfähigkeit"
der Geschichten war keine marginale, sondern eine des narrativen Kerns. 768
Dieser kardinale Fehler bei der Arbeit am Mythos basierte auf der anhalten-
den Konvergenz zwischen Mythos und Dogma. Da sich die Gesellschaft in
der DDR trotz des undemokratischen Herrschaftssystems mobilisiert und
funktional immer mehr differenziert hatte, entsprach die dogmatische Ver-
mittlung und Inszenierung von Mythen nicht mehr der gesellschaftlichen
Realität. Die Arbeit am Mythos war somit nicht der Ausdruck von Mobilität
und Anpassungsfähigkeit des politischen Systems an die veränderten gesell-
schaftlichen Bedingungen, sondern Ergebnis des Krisenmanagements der
Regierung.
In der DDR entstand somit eine Art mythenfreier Raum, der alle Mög-
lichkeiten für politische Orientierungen offen ließ, womit u.a. die Empfang-
lichkeit bestimmter Gruppen der Ostdeutschen gegenüber neonazistischen
Ideologieangeboten zu erklären ist. Außerdem gewannen in den 70er und
80er Jahren Gegenmythen wie der vom Goldenen Westen oder der Mythos
von einer Bürgerrechtsdemokratie als Allheilmittel an sinnstiftender Macht,
die die alten Mythen immer mehr verdrängten, bis diese schließlich an ihr
Ende gelangten. Sie konnten für die politische Gemeinschaft in der DDR
keine Sinnbegründung mehr geben.

768 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. a.a.O.: 40.

361
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Deutschlands. Lehrpläne für die Grund- und Oberschulen. Deutsch.
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Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik:
Lehrplan für Oberschulen. Deutsch. 9.bis 12. Klasse. Berlin.: Volk und
Wissen 1951.
Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik:
Geschichtslehrplan. 6. Klasse, Herausgegeben und bestätigt vom Ausge-
arbeitet vom Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut, BerlinlLeipzig:
Volk und Wissen 1953.
Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik:
Geschichtslehrplan. 6. Klasse, Herausgegeben und bestätigt vom Ausge-
arbeitet vom Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut, BerlinlLeipzig:
Volk und Wissen 1956.
Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik:
Geschichtslehrplan. 6. Klasse, Herausgegeben und bestätigt vom Ausge-
arbeitet vom Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut, BerlinlLeipzig:
Volk und Wissen 1967.
Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik:
Geschichtslehrplan. 6. Klasse, Herausgegeben und bestätigt vom Ausge-
arbeitet vom Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut, BerlinlLeipzig:
Volk und Wissen 1976.

379
Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium fiir
Volksbildung. Lehrplan der zehnklassigen allgemeinbildenden poly-
technischen Oberschule. Themen fiir den Sprachunterricht. Berlin 1963.
Ministerium fiir Volksbildung: Lehrplan Geschichte. Klasse 10. Berlin:
Volk und Wissen 1977.
Ministerium fiir Volksbildung: Lehrplan Geschichte. Klassen 5 bis 7. Ber-
lin: Volk und Wissen 1984.
Ministerium für Volksbildung: Lehrplan für den Geschichtsunterricht für
das Jahr 1988. Berlin: Volk und Wissen 1987.
Lehrbuch fiir Geschichte. Klasse 6. Bauern - Bürger - Feudalherren. Berlin:
Volk und Wissen 1959.
Lehrbuch fiir Geschichte. Klasse 6. Berlin: Volk und Wissen 1967.
Lehrbuch fiir Geschichte. Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen 1967.
Lehrbuch für Geschichte. Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen 1968.
Lehrbuch fiir Geschichte. Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen 1988.
Lehrbuch fiir Geschichte. Klasse 9. Berlin: Volk und Wissen 1970.
Lehrbuch fiir Geschichte. Klasse 9. Berlin: Volk und Wissen 1977.
Lehrbuch fiir Geschichte. Klasse 10. Berlin: Volk und Wissen 1976.
Lesebuch. Klasse 6. Berlin: Volk und Wissen. 1975.
Lesebuch. Klasse 6. Berlin: Volk und Wissen. 1985.
Lesebuch. Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen 1985.
Ringsum erwachen Lieder. Chorbuch für Oberschulen. 9. - 12. Klasse. Ber-
lin: Volk und Wissen 1956.

3. Dokumente

Dokument. In: Stiftung Archiv der Parteien- und Massenorganisationen der


DDR im Bundesarchiv Berlin SAPMOD, Akte NY 4090 551.

380
Major Olympiew an das ZK der SED am 23.07.1943. In: Archiv der Ge-
denkstätte Buchenwald (AGB), 062-13.
Brief des Ministerpräsidenten von Thüringen, Eggerath, an den Minister-
präsidenten der DDR Otto Grotewohl. SAPMOD, Akte NY 4090 551.
Brief des Ministerpräsidenten von Thüringen, Eggerath, an den Minister-
präsidenten der DDR Otto Grotewohl. SAPMOD, Akte NY 4090 551.
Brief des Generalsekretärs der VVN, Fritz Beyling, an den Ministerpräsi-
denten der DDR, Otto Grotewohl, vom 14.12. 19951. SAPMOD, Akte
NY 4090551.
VVN-Dokument zur Ausschreibung von Fritz Beyling, Generalsekretär der
VVN, vom 14.12.1951. Quelle: SAPMOD, Akte NY 4090551.
Protokoll der Sitzung des Preisgerichts unter Vorsitz von Otto Grotewohl
über die Entwürfe der Gestaltung der Gedenkstätte Buchenwald vom
31.03.1952. Quelle: SAPMOD, Akte NY 4090551.
Vorlage zu Sachsenhausen. SAPMOD, Akte NY 4030/554: 88.
Erläuterungen zur Ideenskizze, Neufassung auf Grund der Beratungen vom
05.10.1955. In: SAPMOD, Akte NY 4090 /554: 107.
Rede des Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Re-
publik, Walter Ulbricht, anlässlich der Einweihung der Mahn- und Ge-
denkstätte Sachsenhausen am 23.04.1961. Aus: DR, DOK 907/1/2 -
907/2.
Eröffnung des Museums des antifaschistischen Freiheitskampfes der europä-
ischen Völker, Max Opitz. In: Rundfunkarchiv. C DOK 907/ZG 8067.
Niederschrift über die Besprechung des Künstlerisch-Wissenschaftlichen
Beirats für die Gestaltung der Gedenkstätte Ravensbrück am
07.03.1958. In: SAPMOD/4090/554.
Brief des Komitees ehemaliger Ravensbrücker Häftlinge an den Minister-
präsidenten Otto Grotewohl vom 30.11.1957. In:
SAMPODINY/4090/554.
Vermerk über die Besprechung der Genossinnen Jung und Buchmann mit
Genossen Grotewohl am 20. Januar 1958, 13 Uhr." In: SAP-
MODINY/4090/554.

381
Brief des persönlichen Referenten des Ministerpräsidenten, Tzschorn, an das
Ministerium für Kultur vom 22.02.1958. In: SAPMODINY/4090/554.
Besprechungsvermerk von Tzschorn mit Spielmann vom 10.7.1959. In:
SAPMODINY/4090/554.
Protokoll der konstituierenden Sitzung des Komitees für die Einweihung der
Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück vom 19.01.1959. In: SAP-
MODINY/4090/554.
Magistratsbeschluss Nr. 752 vom 21.09.1956. Akte Nr. 1012 des Landesar-
chivs Berlin.
Strauss, Gerhard: Richtlinien der Kunstpolitik. 11.11.1946. In: Stiftung der
Parteien- und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin
SAPMOD, IV 2/9.06/170, BI. 27f.
Aufgaben der bildenden Künstler im Rahmen des Zweijahresplanes. In:
SAPMOD, IV 2/9.067169, BI. 8-11.
Konzeption zur Vorbereitung des 450. Jahrestag des deutschen Bauemkrie-
ges. In: Komitee beim Ministerrat der DDR zur Vorbereitung des 450.
Jahrestages des deutschen Bauemkrieges: Der deutsche Bauemkrieg.
Zum 450. Jahrestag. Berlin: Staatsverlag 1974.
Beschluss des Sekretariats des ZK der SED vom 06.03.1974 und Konzepti-
on. In: SAPMOD. VI B 2/3.06 Nr.73.
Konzeption zur künstlerischen und musealen Ausgestaltung der Bauern-
kriegsgedenkstätte - Panorama auf dem Schlachteberg bei Bad Franken-
hausen vom 22.07.1974. In: SAPMOD, Akte VI B 2/3.06 Nr.73.
Brief von Hans-Joachim Hoffmann an den Vizepräsidenten der Akademie
der Wissenschaften, Werner Kalweit, vom 31.07.1974. In: SAPMOD,
Akte IV B 2/906 Nr.33.
Brief von Hans-Joachim Hoffmann an Werner Heldt, Abteilungsleiter der
Abteilung Kultur des ZK der SED, vom 31.07.1974. In: SAPMOD, Ak-
te IV B 2/906. Nr. 73.
Bartei, Horst: Stellungnahme zum Entwurf der Konzeption für die Gedenk-
stätte "Panorama auf dem Schlachtberg" bei Bad Frankenhausen. In:
SAPMOD, Akte VI B 2/9.06 Nr. 73.

382
Aus einem Brief von Fritz Donner vom Kulturministeriums an den Minister
für Kultur Hans-Joachim HofImann vom 24.07.1975. In: SAPMOD,
Akte VI B 2/9.06 Nr. 73.
Brief von Fritz Donner an Hans-Joachim HofImann vom 30.04.1975. In:
SAPMOD, Akte DR 17677.
Information über den Stand der Durchführung des Beschlusses des Sekreta-
riats des ZK vom 5. März 1974 (1/389, 23/74) zur "Errichtung eines
Panoramas auf dem Schlachtberg bei Bad Frankenhausen, Bezirk Halle,
das dem deutschen Bauernkrieg und dem revolutionären Wirken Tho-
mas Müntzers gewidmet ist" und über die Erfüllung der vom Sekretariat
des ZK am 16.05.1979 (58/79, 2/727) im Zusammenhang mit einer In-
formation bestätigten Massnahme zum Beschluss vom 6. März 1974
vom April 1982. In: SAPMOD, Akte DR 1 7682.
Aktennotiz von Wilfried Maass vom 08.04.1975. In: SAPMOD, Akte VI B
2/9.06 Nr. 93.
Brandt: Information über den Stand der Durchführung des Beschlusses des
Sekretariats des Zentralkomitees der SED vom 06.03.1974. In:
SAPMOD, Akte VI B 2/9.06 Nr. 93.
Brief von Fritz Donner an Hans-Joachim Hoffmann vom 09.10.1980. In:
SAPMOD, Akte VI B 2/9.06 Nr. 93.
Presseinformation über die Bauernkriegsgedenkstätte "Panorama" auf dem
Schlachtberg bei Bad Frankenhausen vom Ministerium für Kultur und
dem Rat des Bezirkes Halle vom Februar 1985. In: SAPMOD, Akte DR
1/7671.
Brief von Martin Noack an Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann vom
22.11.1989. In: Bundesarchiv, Abteilung Postdam DR1/ 7671.
Gutachten des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Klaus Gysi, zum Drehbuch
"Martin Luther" (Teil I-IV) vom 17.12.1981 In: Bundesarchiv P DO 4,
Bd.453.
Thesen über Martin Luther . In: Einheit 1981/9: 890-903.
Martin-Luther-Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik. Thesen
über Martin Luther. Zum 500. Geburtstag. Berlin 1981.
Thesen über Martin Luther. Zum 500. Geburtstag. Hrsg. von der Akademie
der Wissenschaften, Zentralinstitut für Geschichte. Berlin 1981.

383
Aktennotitz vom 06.05.1982 über eine Vorführung der drei Luther-
Dokumentarfilme am 04.05.1982. In: DR, Sign. HA Kultur Luther Wit-
tenberg.
Bericht der Chefredaktion Kulturpolitik zum "Rapport" an die Programmdi-
rektion . In: DR, Sign. HA Kultur Luther Eisenach. Dasselbe zu "Bürger
Luther" vom 05.09.1983. In: DR, Sign. HA Kultur Luther Wittenberg.
Stellungnahme des Chefredakteurs der Hauptabteilung Kulturpolitik des
Fernsehens der DDR, Klaus Hilbig, zum Film "Bürger Luther" nach
dem 04.05.1982. In: DR, Sign. HA Kultur Luther Wittenberg.
Ergänzung zum Plan (Entwurf), 1978. In: Deutsches Rundfunkarehiv, Ber-
lin 1978. Sign.: Drama Martin Luther. DR, Sign. HA Kultur Luther
Wittenberg.
Gutachten von Gerhard Brendler vom 14.0l.1982 zum Szenarium Martin
Luther. In: Deutsches Rundfunk- und Fernseharchiv. Sign. Drama Mar-
tin Luther Produktion.
Erich Selbmann in einen Brief an Klaus Gysi vom 2l.09.1981: "Ich wäre
Euch dankbar, wenn dieses Gutachten relativ schnell gegeben werden
könnte und wenn ihr darüber zunächst Vertraulichkeit wahrt, da die Au-
toren darüber zunächst nicht unterrichtet sind. In: Bundesarchiv. BA P
Do 4 Bd. 453.
Protokoll vom 23.11.1981 über eine Beratung im Bereich Dramatische
Kunst über Kürzung des Luther-Films am 18.09.198l. In: Deutsches
Rundfunk- und Fernseharchiv. Sign. Drama Martin Luther Produktion.
Müller, Hanfried: Eilige Kurzinformationen über die schwerwiegendsten
Bedenken zum Drehbuch für die Lutherserie für das Fernsehen der
DDR. Brief an Klaus Gysi, mit handschriftlichen Randbemerkungen des
Empfängers, ohne Datum (Oktober 1981) In: BA P DO 4, Bd.453. In.
Simons, Rotraut: Das Fernsehen... a.a.O.: 118/119.
Kontrollratsgesetz Nr. 46. In: MÜDCh, Ingo von: Dokumente des geteilten
Deutschlands. Quellentexte zur Rechtslage des deutschen Reiches, der
Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Repu-
blik. Stuttgart 1976:54.
Bericht: Die Arbeitskreise auf dem VI. Historikerkongress der DDR. In: ZfG
19781XXVI: 533-539.
Amtsblatt der DDR, 1974, Teil I: 432.

384
Anordnung des Magistrats von Berlin, Büro für Städtebau Nr. 2866165 do-
jh, vom 13.06.1984. Landesarehiv Berlin.
Brief von Werner Schmeichler, Abteilungsleiter im Ministerium für Kultur,
an Prof. Dr. Deiters vom 08.10.1979. Landesarehiv Berlin.
Sendung des Fernsehens der DDR am 08.07.1976. In: DR, Abteilung Fern-
sehen. IDNR: 12992.
Interview mit einem König. 2.Programm des Fernsehens der DDR. Gesendet
am 17.08.1986. In: DR, Abteilung Fernsehen. IDNR: 19433.
Sendung des DDR-Fernsehens vom 14.08.1986. In: DR, Abteilung Fernse-
hen.IDNR: 18813.
Sendung einer Diskussion zum preussischen Erbe vom 20.02.1981. In: DR
Abteilung Schallarchive Wort. Archivnummer: 2021707000.
Hörspiel "Der Müller von Sanssouci" von Peter Hacks vom 28.12.1958. DR
Archivnummer: 3000326XOO.
Der Kulturspiegel des DDR-Rundfunks berichtet darüber am 08.02.1987. In:
DR, Abteilung Schallarchive Wort. Archivnummer 2009334104.
Interview mit dem Oberspielleiters des Schlosstheaters am 15.05. 1982. In:
DR, Abteilung Schallarchive Wort. Archivnummer: 2005208105.

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