Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Kolloquien
52
Herausgegeben von
Christof Dipper
unter M itarbeit von
Elisabeth M üller-Luckner
Christof Dipper
V o rb em erk u n g ...................................................................................................................... VII
1. Das Land
Marco M eriggi
Regionalismus: Relikt der Vormoderne oder Vorbote der
Postmoderne? ................................................................................................................. 29
G ustavo Corni
Der U m gang mit Landschaft und U m welt ...................................................... 39
2. Der Staat
Pierangelo Schiera
Gemeinwohl in Italien und Deutschland von der
konstitutionellen Ara bis zum Totalitarismus. Schlagwort,
politische Praxis oder L e h r e ? .................................................................................... 69
Franz J. B a u e r
Wie .bürgerlich“ war der Nationalstaat in Deutschland und Italien? . . 107
Fab io Rugge
Die Gemeinde zwischen Bürger und S t a a t ......................................................... 121
Lutz Kl ink h a m m e r
Staatliche Repression als politisches Instrument, Deutschland und
Italien zwischen Monarchie, Diktatur und R e p u b l i k ................................... 133
Wo l f g a n g Sch i e d e r
Die Geburt des Faschismus aus der Krise der M o d e r n e .............................. 159
Rolf Wörsdörfer
Die Grenze, der Osten, die M inderheiten und die Modernisierung -
Nationalstaat und ethnische Gruppen in Deutschland und in Italien . . 181
VI Inhalt
3. Die Kultur
B m n ello Mantelli
Rassismus als wissenschaftliche Welterklärung. U ber die tiefen
kulturellen Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus in Italien und
anderswo ........................................................................................................................... 207
Hans-Ulrich Tbamer
Der öffentliche U m gang mit der Vergangenheit im deutschen und
italienischen N a tio n a ls t a a t......................................................................................... 227
Lut z R a p h a e l
Von der liberalen Kulturnation zur nationalistischen K ultur
gemeinschaft: Deutsche und italienische Erfahrungen mit der
N ationalkultur zwischen 1800 und 1960 ........................................................... 243
Der vorliegende Band enthält die Referate eines Kolloquiums des Historischen
Kollegs, das vom 21. bis 24. Jun i 1999 in der Münchener Kaulbach-Villa stattfand.
Da es sein komparatistisches Anliegen ernst nahm, hatten alle Referenten die
Pflicht, den deutsch-italienischen Vergleich in ihrem Beitrag selbst vorzunehmen
anstatt dies der Diskussion oder später der Einleitung des Sammelbandes zu über
lassen. Die dabei vorausgesetzte Zweisprachigkeit der Teilnehmer erwies sich
nicht als Hindernis, denn es gab hinreichend Kollegen, die dieses Erfordernis er
füllten.
Alle Beiträge wurden - auch unter Einbeziehung der Diskussion - lür den
Druck überarbeitet, die der italienischen Kollegen anschließend ins Deutsche
übersetzt. Das brauchte gewiß seine Zeit, und doch trägt der Herausgeber die Ver
antwortung für die ungebührlich lange Frist, bis dieses Buch endlich erscheinen
konnte.
Die D urchführung der Tagung lag w ie immer in den bewährten Händen von
Frau Dr. Elisabeth Müller-Luckner, die mich auch bei der Herausgabe dieses Ban
des in jeder Hinsicht unterstützte. Ihr gilt darum an erster Stelle mein herzlicher
Dank. Zu danken habe ich ferner Frau Dr. Friederike Hausmann, die als unge
wöhnlich engagierte und kundige Übersetzerin zum Gelingen des Werkes beige
tragen hat. Übersetzungen kosten bekanntlich Geld. Die Vereinigung von F reun
den der Technischen Universität zu Darmstadt e.V. hat in hochherziger Weise
dafür gesorgt, daß daraus kein Problem geworden ist.
Es ist an dieser Stelle schließlich die Gelegenheit, dem Historischen Kolleg sel
ber, und das heißt natürlich in erster Linie den Mitgliedern des Kuratoriums, be
sonderen Dank zu sagen. Ich verrate ihnen kein Geheimnis, wenn ich versichere,
daß ich dieses Forschungsjahr in München zu den angenehmsten Erfahrungen
meines Berufslebens zähle, denn das hören sie natürlich von jedem, der sich in
meiner Lage befindet. Ein besonders glücklicher Umstand war es jedoch, daß, ab
gesehen von Frau Dr. Felicitas Schmiedet', der Förderstipendiatin dieses Jah r
gangs, nur ausländische Kollegen mit mir die Kaulbach-Villa teilten: die Professo
ren Tom Brady, H arold James und, dank besonderer Großzügigkeit des Hauses,
auch noch mein Freund Paolo Prodi. Er teilte sich mit Prof. Dr. Karl O tm ar Frei-
her r von Aretin und dem inzwischen leider verstorbenen Prof. Dr. Reinhard Elze
die Leitung des Kolloquiums, wofür ich mich auch an dieser Stelle nochmals be
danken möchte.
Postscnptum
Zwei läge vor Weihnachten 2004 verlangte Ulrich Wengenroth, der auf der Tagung über
N a tion a le T e ch n ik k u ltu r en referiert hatte, unter Androhung von Rechtsmitteln, daß sein be
reits ausgedruckter Aufsatz über das gleichnamige Thema aus dem Kolloqiumsband heraus
V III V o rb e m e r k u n g
Ferne Nachbarn
A spekte der M o d ern e in D eutschland und Italien
I.
Deutschland und Italien gelten gemeinhin als diejenigen unter allen Völkern
Europas, die die meisten Parallelen in ihrer Geschichte aulweisen. Aberhunderte
Schriften erzählen wieder und wieder, w ie beide V ölker seit dem Mittelalter ihren
Weg weithin gemeinsam gegangen sind: erst vereint unter der altehrwürdigen Kai
serherrlichkeit, dann zum Nachteil beider in zahlreiche Einzelstaaten zerfallen
und zur Beute der Nachbarn, der Franzosen (um genau zu sein) geworden, ent
sprechend verspätet deshalb zu nationaler Einheit findend und schließlich z w ei
mal zur alten Waffenbrüderschaft zurückkehrend, die freilich ebenfalls zweim al
durch Verrat (von italienischer Seite wohlgem erkt) beendet wurde. Weniger
glanzvoll also die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber immer noch parallel, bis
hin zur gemeinsamen Erfahrung faschistischer Diktatur, aus deren Klauen w ie
derum beide Nationen von auswärtigen Mächten befreit wurden. Die zweite
Nachkriegszeit hat das Empfinden gemeinsamer Geschichte im Zeichen am erika
nischer Vormacht und jahrzehntelanger christdemokratischer Regierungsverant
wortung noch einmal kräftig befestigt. „Die Epoche des Nachkriegs in Deutsch
land und Italien stellt ein weiteres Beispiel für die Ä hnlichkeit oder Gleichheit im
Verlauf der nationalen Geschichte beider Nationen dar“, versicherte 1973 mit
Theodor Schieder ein H isto rik er1, der dem historischen Vergleich keineswegs un
kritisch gegenüber stand2.
Wenn man einmal versucht, dieser Geschichtserzählung auf den Grund zu ge
hen, so stößt man auf zwei Erkenntnisse: Erstens ist sie (erst) im 19. Jahrhundert
entstanden, und zweitens findet sie sich vor allem nördlich der Alpen. Ersteres ist
nicht weiter verwunderlich, denn die meisten unserer Geschichtsbilder entstam-
] T h e o d o r S ch i e d e r , Vorwort, in: Von der Diktatur zur Demokratie. Deutschland und Italien
m der Epoche nach 1943. Referate der 9. deutsch-italienischen Historikertagung, Salerno,
15.-17, Juni 1971 (Braunschweig 1973) 5.
~ D e n ., Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden in der Geschichtswissen
schaft (1965), jetzt in: ders., Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung (München 21968)
195-219.
? C h r is to f D ip per
men jener Zeit, als man die großen nationalen Synthesen zu schreiben begann -
natürlich alles andere als frei von zeitgenössischen politischen Nebenerwägungen,
wie vielleicht am besten der Streit zwischen Sybel und Ficker um die Italienpohtik
der deutschen Kaiser zeigt. Das ist also bekannt. Letzteres wird von Deutschen
dagegen meist übersehen, und das ist natürlich auch nicht weiter überraschend,
denn das Bild deutsch-italienischer Parallelgeschichte enthält insgeheim einen
deutlichen Schuß Suprematieanspruch, es weist den Italienern die Rolle der Ge
führten, Schwächeren zu, auch wenn sie Verbündete sind3. „Großm ütig“ eilte
Karl der Große Leo III. zu Hilfe, der ihm „zum D an k“ die Kaiserkrone aulsetzte.
Alfred Rethels Kolossalgemälde von 18524, das diesen M oment festhielt, war frü
her bei uns in jedem Schulgeschichtsbuch zu finden. Am Weihnachtstag des Jahres
800 begann die deutsch-italienische Parallelgeschichte gleich mit einer guten Tat.
Der D ank hielt sich in der Folgezeit allerdings in Grenzen, selbst auf seiten der
Päpste, ja gerade sie wurden zu den Anführern des Kampfes gegen die Deutschen.
Canossa mag als Stichwort genügen-1’, später der Lombardische Bund gegen Bar
barossa. Arnos Cassiolis Gemälde der 1176 stattgefundenen Schlacht von Legnano
aus dem Jahre 1870 findet man in deutschen Geschichtsbüchern selten, Verdis
gleichnamige, schon 1849 im revolutionären Rom uraufgeführte Oper wird hier
zulande nicht gespielt. Gabriele De Rosas B egrüßungsworte zur eingangs ange
sprochenen deutsch-italienischen H istorikertagung enthalten nicht den minde
sten Hinweis auf eine Parallelgeschichte, obwohl die Umstände das nahelegten.
Aber offenbar gab es damals auf italienischer Seite dieses Bild von den Parallelen
nicht oder man wollte es verschweigen. O der hat es etwa ein solches me gegeben?
W ir wissen es nicht. Die Historie dieses Geschichtsbildes ist noch nicht geschrie
ben.
Der vorliegende Sammelband will zu diesem Thema nichts beitragen, er stellt
sich ganz bewußt nicht in die Tradition deutsch-italienischer Parallelgeschichten,
liefern sie doch immer schon ein Interpretament, das es erst noch zu überprüfen
gälte. Etwas anders ist der historische Vergleich. Er ist ein Verfahren zur U rteils
bildung, vielen anderen dadurch von vornherein überlegen, daß es die Kriterien
der Fragestellung offenzulegen zwingt und zwangsläufig einen Maßstab liefert,
der der Zeit, um die es geht, entnommen ist. Ob man Cavour mit Bismarck ver
gleicht6, Hitler mit M ussolini7, die R evolution von 1848 nördlich und südlich der
Anders fällt bekanntlich das Bild deutsch-italienischer Kulturkontakte aus, wo die Deut
schen seit jeher eher die Nehmenden sind. Das ist aber hier nicht das Thema.
1 Es handelt sich in Wahrheit um das von seinem Schüler Josef Kehren im Aachener Rathaus
gemalte Fresko, für das Rethel bereits 1840 den Entwurf gezeichnet und damit den Wettbe
werb gewonnen hatte.
5 Zur außerordentlichen Rolle dieses Ereignisses in der kollektiven Erinnerung der Deut
schen zuletzt O t t o G e r h a r d O e x l e , Canossa, in: E t ien n e F rangois, H a g e n S c h u lz e (Hrsg.),
Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I (München 2001) 56-67.
6 S i e g f r i e d A. K a e h l c r , Cavour, Louis Napoleon und Bismarck im Spiegel des Jahres 1848, in:
d e n . , Vorurteile und Tatsachen. Drei geschichtliche Vorträge (Hameln 1949) 36-58.
1 Ein konzeptionell mißlungenes Beispiel ist W alter R a u s ch e r, Hitler und Mussolini. Macht,
Krieg und Terror (Graz, Wien, Köln 2001).
A sp ek te der M o d ern e in D eu tschlan d und Italien 3
Alpen8 oder den „Imperialismus im unfertigen Nationalstaat“9 - stets ist man ge
zwungen, sein Vorhaben zu begründen, seine Erkenntnisabsichten zu benennen,
und stets vermag man dank der Unterschiede das Spezifische des Falles zu erken
nen und dadurch die Defizite unseres Geschichtsbildes noch am ehesten zu behe
ben. Das erwartet man natürlich auch von anderen historiographischen Verfahren,
doch zeigt ein Blick in die Literatur, daß vergleichende Arbeiten in aller Regel
methodisch reflektierter vergehen als andere. Eine Untersuchung von Bismarcks
Entlassung im Jahre 1890 etwa legitimiert sich - scheinbar - schon im H inblick
auf die unstreitige historische Bedeutung des zu untersuchenden Sachverhalts für
die nachfolgende deutsche Geschichte, ein Vergleich der deutschen und italieni
schen Hauptstadtfrage müßte überhaupt erst einmal plausibel machen, daß es d a
bei um mehr geht als um den Sitz der Regierung, daß in ihm sich Wesentliches für
die Geschichte beider Länder wiederfindet. Dazu unten mehr.
Es ist hier nicht der Ort, Grundsätzliches zum historischen Vergleich zu sagen.
Dazu ist in den vergangenen Jahren viel geschrieben w o rd en 10. Die Komparati-
sten, so scheint es, haben sich M ut gemacht. Aber hat es viel genützt? H artm ut
Kaelble hat die komparatistischen sozialgeschichtlichen Titel in Europa und den
Vereinigten Staaten gezählt, die zwischen 1970 und 1995 erschienen sind, und mit
einigem guten Willen kann man seinen Befund als beginnenden A ufschwung in
terpretieren11. In Deutschland sei „der eigentliche Start“ in den 1980er Jahren zu
verzeichnen, schreibt er an anderer Stelle12. Aber wenn es noch eines Beweises für
die Aschenputtelrolle der vergleichenden Forschung in der deutschen Geschichts
wissenschaft bedarf, so sehe man sich die Indexgliederung für das Jahrbuch der
Historischen Forschung an; sie kennt geographisch nur Länder und Territorien
und methodologisch nur ganz wenige Kategorien. Ein Buch wie dieses hier ist
darin nie und nim mer angemessen unterzubringen; gerade daß Europa eine eigene
Kennziffer erhalten hat.
8 C h rist o f D ip per, Revolution und Risorgimento. Italien 1848/49 aus deutscher Perspektive,
in: D i e te r l . a n g e i i ' i e s c b e (Hrsg.), Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte.
Ergebnisse und Nachwirkungen (HZ-Beiheft 29, München 2000) 73-89.
9 W olfg a n g S c h i e d e r , Imperialismus im unfertigen Nationalstaat. Einige vergleichende Ü ber
legungen zu Deutschland und Italien, in: W olfr a m P yta , L u d w i g R i c h t e r (Hrsg.), Gestal
tungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb (Berlin 1998) 21 1-220.
Iu H e i n z - G e r h a r d H a u p t , J ü r g e n K o ck a (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Er
gebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung (Frankfurt a.M., N ew York
1996); im folgenden zit. H a u p t, K o ck a . S te fa n Hrad.il, S t e fa n I m m e r f a l l (Hrsg.), Die west
europäischen Gesellschaften im Vergleich (Opladen 1997). H a r t m u t K a e l b l e , J ü r g e n S c h r i e -
w e r (Hrsg.), Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissen
schaften (Frankfurt a.M. u.a. 1 1999). H a r t m u t K a e l b l e , Der historische Vergleich. Eine Ein
führung zum 19. und 20. Jahrhundert (Frankfurt a.M., New York 1999); im folgenden zit.
K a e lb le, Vergleich,
11 K a e lb le, Vergleich, Schaubild 1.
L)ers., Vergleichende Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: Forschungen euro
päischer Historiker, in: H a u p t, K o ck a , 97, im folgenden K a e lb le , Vergleichende Sozialge
schichte.
4 C h r is t o f D ip per
II.
Das kann der vorliegende Band jedoch nicht erschöpfend beantworten. ET stellt
sich außerdem noch eine andere, komplementäre Aufgabe, nämlich den konkre
ten Vergleich von Them en und Problemen. A ut Vollständigkeit oder system ati
sche Begründung der A uswahl kam es weniger an, was nicht heißen soll, daß Will
13 C h r i s t o f D ipp er, Italien und Deutschland seit 1800: zwei Gesellschaften auf dem Weg in
die Moderne, in: d e rs ., L utz K l i n k h a m m e r , A le x a n d e r N ü t z e n a d e l (Hrsg.), Europäische So
zialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder (Berlin 2000) 485-503. Im folgenden zit.
D ipper, K li n k h a m m e r , N ü t z e n a d e l.
A sp e k te der M o d e r n e in D eu tsc h la n d un d Italien 5
17 Hilfreich ist die bei K a e l b l e , Vergleich, im Anhang aufgelistete „Auswahl von vergleichen
den sozialhistorischen Arbeiten“.
IS H a r t m u t K a e lb le , Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen
und deutschen Gesellschaft seit 1880 (München 1991). Schon der Titel enthält den wichtigen
Hinweis, daß es sieh bei dem beobachteten Prozeß nicht um eine lineare Entwicklung gehan
delt hat.
19 D ers., Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuro
pas 1880-1980 (München 1987).
M a r c o M e r i g g i , Italienisches und deutsches Bürgertum im Vergleich, in: J ü r g e n K o c k a
(Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1
(München 1988) 141-158. Ergänzend d e n . , Soziale Klassen, Institutionen und Nationalisie
rung im liberalen Italien, in: GG 26 (2000) 201-218.
21 J ü r g e n K o ck a (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (Göttingen 1987). Es
handelt sich um die Beiträge zu einer Konferenz, die den Vergleich des deutschen Bürger
tums im europäischen Umfeld vorbereiten sollte; an ihm wiederum w a r Meriggi mit seinem
in der vorigen Anm. zitierten Beitrag beteiligt.
21 Vgl. insbes. das Großprojekt des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte: Bildungs
bürgertum im 19. Jahrhundert, 4 Bde. (Stuttgart 1985/92).
-■> Vgl jedoch inzwischen M a r co M e r ig g i, Milano borghese. Circoli cd elites nell’Ottocento
(Venedig 1992).
A sp ek te der M o d ern e in D eu tsc h la n d un d Italien 7
24 Die sehr erfolgreiche Standespolitik in Richtung Freie Advokatur, die mit vielen anderen
und insbesondere politischen Tätigkeiten verbunden werden konnte und nach der Einigung
Mittel- und Norditalien aufgedrängt wurde, schildert H a n n e s S iegrist, Advokat, Bürger und
Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz, 1 8 -
20. Jahrhundert, 2 Bde. (Frankfurt a.M. 1996). Eine ausschnitthafte Zusammenfassung: ders.,
Verrechtlichung und Professionalisierung. Die Rechtsanwaltschaft im 19. und 20. Jah rh un
dert, in: C h r i s to f D i p p e r (Hrsg.), Rechtskultur, Rechtswissenschaft, Rechtsberufe im
19. Jahrhundert, Professionalisierung und Verrechtlichung m Deutschland und Italien (Ber
lin 2000) 101-124.
25 K la u s H e ß , Ju nker und bürgerliche Großgrundbesitzer im Kaiserreich (Stuttgart 1990).
Axel F lü gel, Bürgerliche Rittergüter. Sozialer Wandel und politische Reform in Kursachsen
1680-1844 (Göttingen 2000). Trotz des starken Anteils des Ancicn Regime liefert dieses Buch
Argumente für eine Erweiterung des deutschen Bürgertumsbegriffs. Aus italienischer
Perspektive hat vor Jahren A lb er to M a ria B anti, Terra e denaro. Una borghesia padana
dell’Ottocento (Venedig 1989) versucht, ostelbische Gutsbesitzer und obentalienische
Agrarbourgeoisie miteinander in Beziehung zu setzen.
26 Zu mehr Klarheit verhilft auch nicht M a r c o M e r i g g i , P i e r a n g e l o S ch ier a (Hrsg.), Dalla
cittä alia nazione. Borghesie ottocentesche in Italia e in Germania (Bologna 1993), weil die
Beiträge mit einer rühmlichen Ausnahme nicht vergleichend angelegt sind. Bei der Aus
nahme handelt es sich um S ilvia M a rz a ga lli, deren meisterhafte komparatistische Studie über
das Bürgertum der Seehandelsstädte der Revolutionszeit hier, auch wenn nicht einschlägig,
wenigstens genannt werden soll: Les boulevards de la fraude. Le negoce maritime et le Blocus
Continental 1806-1813: Bordeaux, Hambourg, Livourne (Villeneuve d ’Ascq 1999).
27 Ein äußerst gelungenes Beispiel für den Vorteil regional vergleichender Studien bietet
I h o m a s G ö tz , Bürgertum und Liberalismus in Tirol 1840-1873. Zwischen Stadt und .Re
gion“, Staat und Nation (Köln 2001). Er zeichnet die gewundenen Pfade der unterschiedli
chen politischen Sozialisation des bürgerlichen Liberalismus im habsburgischcn Alt-Tirol
nach und führt dabei die altbekannte teleologische Deutung ad absurdum, derzufolge die
Spaltung entlang der Sprachgrenze v o n Anfang an die einzig mögliche g e w e s e n sei.
8 C h ris to f D ip per
28 C a r lo C a p ra , Nobili, notabili, elites: dal „modello“ francese al caso italiano, in: Quaderni
storici 37 (1978) 12-42.
29 A rp a d v o n K li m ö , Staat und Klientel im 19. Jahrhundert. Administrative Eliten in Italien
und Preußen im Vergleich, 1860-1918 (Vierow 1997) 230.
30 Die schon mittelfristig ungeheuren politischen Kosten, die sich aus dieser am deutschen
Adelsbild ausgerichteten Politik ergaben, sind Gegenstand von M a r co M e r i g g i , Amministra-
zione e classi sociali nel Lom bardo-Veneto 1814-1848 (Bologna 1983).
Das legt schon die im englischen Titel ausgedrückte starke These nahe: A rn o J. M a y e r , The
Persistence of the Old Regime. Europe to the Great War (N ew York 1981). In der italieni
schen Übersetzung lautet der Titel nicht viel anders: II potere dell’Ancien Regime fino alla
prima guerra mondiale (Bari 1982). Deutliche Kritik an Mayers Weigerung, den von der Re
volution verursachten sozialen Wandel anzuerkennen, in den von Passato e Presente 4 (1983)
11-33 abgedruckten Kommentaren; Innocenzo Cervelli bezieht sich dabei übrigens mehr als
auf die italienische auf die preußisch-deutsche Adelsgeschichte.
A sp ek te d er M o d ern e in D eu tschlan d und Italien 9
land, beschaffen war, geht aus Jens Petersens knappem, aber glänzendem Ü b er
blick hervor32.
Auch die Industriebourgeoisie unterschied sich bei allen Ähnlichkeiten in den
politischen Werthaltungen aufgrund des andersartigen Charakters der italieni
schen Industrialisierung deutlich von ihrem deutschen Gegenstück. Ulrich Wen
genroths Beitrag in diesem Bande weist mit Recht darauf hin, daß zahlreiche
große Unternehmerpersönlichkeiten nicht nur vom Lande kamen, sondern dort
auch ihre Fabriken errichteten. Vor allem gilt das für die Textilindustrie, bei der
man den Eindruck hat, daß sich von ihren proto-industriellen Ursprüngen trotz
vollständiger Mechanisierung sehr viel mehr erhalten hat als in anderen Sektoren.
Auch das Finanzkapital weist in Italien eine deutlich andere soziale Physiognom ie
auf. Es ist bzw. war mindestens bis vor kurzem famiiistisch organisiert, was eine
enge Bindung an die halbstaatlichen G roßkonzerne keineswegs ausschloß. Eine
vergleichende Unternehmergeschichte, wie sie H artm ut Berghoff für das deutsch
englische Beispiel vorgelegt hat, existiert jedoch nicht.
„Cum grano salis“ läßt sich dasselbe vom Proletariat und infolgedessen auch
von der A rbeiterbewegung sagen, denn außer einer älteren, freilich vom besten
Kenner - und letzten Zeugen dessen, was er schrieb - verfaßten Übersicht für die
Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gibt es praktisch keine vergleichende L i
teratur33. Daß in beiden Ländern das Fabrikproletariat ländlichen Ursprungs war,
besagt noch nicht allzu viel. Entscheidend w ar vielmehr, daß in Italien der Anteil
der Frauen und Kinder unter den Fabrikarbeitern dauerhaft hoch blieb, vor allem
aber, daß im 19. Jahrhundert ein Landarbeiterproletariat erheblichen Umfangs
entstand34, viel zahlreicher als die Fabrikarbeiter und von Anfang an die A rbeiter
bewegung prägend35. Neben deren sozialistisch-sozialreformerischem Flügel gab
ren Führer als Grundbesitzer die Besitzverhältnisse auf dem Lande nicht in Frage stellen lie
ßen. Dazu C h r i s t o f D ip p e r, Revolutionäre Bewegungen auf dem Lande: Deutschland, Frank
reich, Italien, in: D i e t e r D o w e , H e i n z - G e r h a r d H a u p t, D i e t e r L a n g e w i e s c h e (Hrsg.), Europa
1848. Revolution und Reform (Bonn 1998) 555-585.
36 B e r n d K ö llin g , Familienwirtschaft und Klassenbildung. Landarbeiter im Arbeitskonflikt:
das ostelbische Pommern und die norditalienische Lomellina 1901-1921 (Vierow 1996).
37 Das wird auch sehr gut sichtbar bei dem Vergleich von M a rin a C a tta ru z z a , „Organisier
ter Konflikt“ und „Direkte A k tio n “. Zwei Formen des Arbeiterkampfes am Beispiel des
Werftarbeiterstreiks in H amburg und Triest (1880-1914), in: AfS 20 (1980) 325-355.
A sp ek te der M o d ern e in D eu tschla n d un d Italien 11
kehrt hat der nach Italien ausgewanderte Soziologe Robert Michels bekanntlich
von dort aus 1911 seine Oligarchisierungsthese politischer Großorganisationen
mit Blick auf die SPD entwickelt. Dem polyzentrischcn italienischen Sozialismus
fehlte dazu jegliche Voraussetzung.
Deutsch-italienische sozialgeschichtliche Vergleiche enden mit dem Ersten
Weltkrieg. In der übrigen Literatur ist das nicht viel anders. Erstens hat die m o
derne Sozialgeschichte ihren Ursprungsort im 19. Jahrhundert, und zweitens än
dern sich im 20. als Folge der .Verwissenschaftlichung des Sozialen' (Lutz R a
phael) die Quellen dafür in einem solchen Maße, daß, es für Historiker noch
schwieriger wird, sie auszuwerten. Drittens werden die Zeiten danach für R e
gimevergleiche attraktiver als vorher, wie überhaupt Faschismus und N ational
sozialismus auf die Forschung eine anhaltende, freilich negative Faszination aus
üben. Viele dieser Arbeiten dienen dem Versuch, das Wesen des Faschismus oder,
wie man heutzutage sagt, eine Faschismustheorie auszuarbeiten. Die Ermittlung
des Sozialprofils der Anhänger und Aktivisten spielt dabei eine wichtige, teils so
gar zentrale Rolle. Schon die Zeitgenossen haben deshalb und dann wieder die
Forschung namentlich der 1960er und 1970er Jahre auf der Suche nach der gesell
schaftlichen Grundlage des Faschismus bzw. Nationalsozialismus mit einem wohl
einzigartigen A ufwand an Quellenrecherchen und Analyseverfahren eine nicht
mehr zu überblickende Zahl entsprechender Beiträge hervorgebracht. Gerade die
Fülle empirischer Einzeltorschung hat aber explizit vergleichende Arbeiten ten
denziell eher verhindert. Zu den wenigen Ausnahmen zählt darum die Zwischen
bilanz der von Wolfgang Schieder für den Braunschweiger Historikertag 1974 z u
sammengerufenen Referenten, deren Beiträge freilich wie so oft Italien und
Deutschland getrennt behandeln. Schieder faßte die Ergebnisse mit der Feststel
lung zusammen, die alte Mittelstandsthese habe an Plausibilität verloren; daß PNF
und N SD A P „sukzessive ein breiteres soziales Spektrum ausgefüllt haben, [sei]
weiter erhärtet“ worden38. M it solchen - richtigen - Einsichten hat sich die sozial
historische Faschismusforschung freilich selber relativiert, denn je mehr man er
kannte, daß die Anhänger Hitlers und Mussolinis schon in der sogenannten Be
wegungsphase - bei allerdings starker Fluktuation - aus allen Schichten kamen
und beide Geschlechter erfaßten, desto mehr verlor sie natürlich an Erklärungs
kraft. Sven Reichardt betont darum mit Recht in seiner Arbeit über die Kampf
bünde, eines der ganz wenigen wirklich komparatistischen Bücher zum Faschis
mus, daß es zw ar „immer noch einiges“ erkläre, wenn man „den Nationalsozialis
mus als stärker mittelständisch geprägte Bewegung mit [...] antiproletarischen
Reflexen“ begreife, fährt dann freilich fort: „Aber im Vergleich mit anderen L än
dern, auch und gerade mit dem italienischen Ursprungsland, wird die These von
einem gemeinsamen sozialen Substrat des Faschismus äußerst problematisch, da
sich etwa in Italien auch der aufsteigende Mittelstand in der faschistischen Bcwc-
gung engagierte.“39 Dort fehlte statt dessen, könnte man hinzufügen, um ein w e i
teres aktuelles Forschungsergebnis zu zitieren, der nach Zehntausenden zählende
deklassierte Kleinadel, der in der Weimarer Republik, von Schlagworten wie
„Neuadel“ und „Fiihrertum“ elektrisiert, schließlich großenteils auf die N ational
sozialisten setzte40.
Die Faschismustheorie erhofft sich folglich gegenwärtig mehr Erklärungskraft
vom Blick auf die faschistische Praxis, die tatsächlich ein wichtiges M erkm al war.
Auf dem U m w eg über die Frage, ob sich die eine oder andere (Erlebnis-)Genera-
tion von dieser Praxis besonders angezogen fühlte, kommen freilich sozialge
schichtliche Fragestellungen und Sachverhalte erneut zur Geltung41.
Von den genannten abgesehen, halten sich sozialgeschichtliche Beiträge zur
Faschismusforschung in Grenzen, erst recht vergleichende. U nd was das Ende
faschistischer Herrschaft in beiden Ländern sozial bedeutete, was ihr gesellschaft
liches ,Ergebnis' war, liegt zw ar keineswegs im Dunkeln, ist aber nicht annähernd
so präzise erforscht wie die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Seit R alf Dahrendorfs
äußerst einflußreichem Essay von 1968 wissen w ir nicht nur, wie modern der
Nationalsozialismus war, sondern daß er auch eine um vieles modernere Ge
sellschaft hinterlassen hat. „Zukünftigen autoritären Regierungen nach dem M u
ster der deutschen Tradition [hat er] die soziale Grundlage genom m en.“42 D ah
rendorf sprach darum von der „Revolution der nationalsozialistischen Zeit“ .
Auch die Nationalsozialisten hatten sich als Revolutionäre bezeichnet, aber D ah
rendorf meinte natürlich etwas anderes. Seine These hat er nicht mit Zahlen unter
mauert - das haben andere getan43 - , sie hat sich gleichwohl durchgesetzt. Schließ
lich entsprach sie der allgemeinen Erfahrung, der Anschauung, dem Lebensgefühl.
„So viel Anfang war nie . . . “
Vergleichbares ist für Italien nicht überliefert. Die italienische Revolution von
1945 verstand sich als politische. Doch die euphorische Stim mung der - verm eint
lichen - Selbstbefreiung durch die Resistenza schlug alsbald um. Der Friedensver
trag w urde als zu hart empfunden, das antifaschistische Parteienbündnis zerfiel,
der Staatsapparat wurde sehr zurückhaltend gesäubert, die einflußreiche katholi
sche Kirche konnte beim besten Willen nicht als antifaschistisch gelten. Vor allem
aber waren die Italiener nicht annähernd s o stark von Faschismus und Krieg be
III.
Die Tagung, von der der vorliegende Band Bericht gibt, stand also weder im Zei
chen der Wirtschafts- noch der Sozialgeschichte. Auch um politische Ereignisge
schichte konnte es selbstverständlich nicht gehen, denn das Erkenntnisinteresse
galt, w ie es der Untertitel nahelegt, Strukturproblemen und dem U m gang mit
ihnen. Er orientiert sich mithin an der Frage, wie überhaupt und w ie intensiv die
Moderne beide Gesellschaften erfaßt hat, und greift dabei durchaus pragmatisch
jene Them en auf, die hilfreiche Antworten versprechen. Wenn es um politische
und kulturelle Strukturprobleme geht, mag der U m gang mit den drei Größen In
stitutionen, Lebenslagen, Erinnerung besonders interessant sein. Sie verteilen sich
in diesem Buch ebenfalls auf drei Abschnitte, die menschliche Lebenszusammen
hänge, soweit sie hier von Interesse sind, strukturieren: Das Land, der Staat, die
Kultur.
Warum der gewählte Zeitausschnitt? Er ist in doppelter Weise begründungs
pflichtig. Denn Kaelbles Forschungsbilanz hat ergeben, daß „die lange zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts [...] bisher das Eldorado der vergleichenden Sozialge
schichte“ sei47. Kaelble liefert auch den Grund dazu: Diese Jahrzehnte seien „ohne
Zweifel eine Schlüsselepoche für das Aufkom m en säkularer europäischer Ent
wicklungen, die auch unsere heutige Gesellschaft noch prägen“. Wenn dieser A b
schnitt dennoch nicht gewählt wurde, so vor allem deshalb, weil hier, wie schon
mehrfach betont, Sozialgeschichte nicht im Mittelpunkt steht. Er wäre auch, was
Italien betrifft, ziemlich ungeeignet, denn wichtige wirtschaftliche und soziale
Entwicklungen bzw. U mbrüche würden damit kaum oder gar nicht erfaßt: Indu
44 Der eilige Leser sei auf folgenden nützlichen Überblick verwiesen: P e r c y A llu m , Italian
society transformed, in: P atrick M c C a r t h y (Hrsg.), Italy since 1945 (Oxford 2000) 10-41.
45 P a u l Erker, Zeitgeschichte als Sozialgeschichte, in: GG 19 (1993) 203-238.
46 Vgl. die gleichzeitig mit dem Aufsatz von Erker erschienenen Bilanzen: H a n s G ü n t e r
H o ck erts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Hist. Jahrb.
113 (1993) 98-127. A n s elm D ö r i n g - M a n t e u f f e l , Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Ent
wicklung und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: VfZ 41
(1993) 1-29.
47 K a e lb le , Vergleichende Sozialgeschichte, in H a u p t, K o ck a , 100. Ebd. auch das nächste
Zitat.
14 C h r is to f D ip p e r
48 G u st a v S e ih t , Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt (Berlin 2001).
49 Meist wird übersehen, daß es in Italien von 1943 bis 1945 nicht weniger als drei H aup t
städte gab: Brindisi bzw. Salerno als Hauptstadt des „Königreichs des Südens", Salö bzw. Ve
rona oder Mailand als Hauptstadt der „Repubblica Sociale Italiana“ und natürlich das päpst
liche Rom.
^ N icole T i m m e r m a n n , Repräsentative „Staatsbaukunst“ im faschistischen Italien und im
nationalsozialistischen Deutschland. Der Einfluß der Berlin-Planung auf die E UR (Stuttgart
2003).
16 C h r is t o f D ip per
O b der Regionalismus ein Relikt der Vormoderne oder Vorbote der Postm o
derne sei, lautete die an Marco Meriggi gerichtete Frage. Seine A ntw ort fiel uner
wartet, ja vielleicht provokativ aus, weil er neuartige regionale Identitäten aufspü
ren wollte, anstatt sich für die W irkungsweise des deutschen Föderalismus oder
der italienischen Regionen zu interessieren. N icht alle Deutschen werden gerne
lesen, daß beide nicht mit den historischen Staaten identisch und daher künstlich
seien. Im Kern geht es ihm um lebendiges Regionalbewußtsein, das er aus kollek
tiven Interessen und Leistungen gespeist und im Wettbewerb stehend sieht. Seit
den 1890ern sei das zu beobachten, und zwar in den entstehenden wirtschaftli
chen Ballungsgebieten, deren Arbeiterklasse mit ihren parteipolitischen Präferen
zen den Trend noch verstärkte. W ährend in Deutschland der konfessionelle und
sogar der innerprotestantische Gegensatz die Differenzierung noch zusätzlich be
günstigt, aber geographisch anders verteilt habe, so daß sich insgesamt eine grö
ßere Vielfalt ergab, seien in Italien wirtschaftliches, intellektuelles und sozialisti
sches Zentrum zusammengefallen und habe der Lombardei zu einem neuen
Selbstbewußtsein verholfen. Den faschistischen Regim en w ar regionales Sonder
bewußtsein ein Dorn im Auge, sie bekämpften es nach Kräften, doch brachten
sich über die Provinzfürsten (schon ihre Bezeichnungen „Gauleiter“ bzw. „fede-
rali" sorgte dafür) die Regionen im m er wieder aufs Neue in Erinnerung. Nach
1945 sollte deshalb der Regionalismus der Stärkung der Demokratie dienen und
w urde von oben verordnet, aber bis zum Ende des hier behandelten Zeitraums
hatte R om den Verfassungsauftrag nicht umgesetzt. Meriggi sieht in den verschie
denen Ausprägungen des Regionalismus kein R elikt der Vergangenheit, sondern
eher so etwas w ie einen gesellschaftlichen Jungbrunnen, dessen Wasser die L o y a
litäten immer w ieder neu sprudeln lassen.
Gustavo Cornis Beitrag bestätigt dagegen unsere landläufigen Vorstellungen
vom deutsch-italienischen Gegensatz. Das Verhältnis zur Natur, der U m gan g mit
der Landschaft ist in beiden Gesellschaften sehr verschieden. N aturschutz sei B e
standteil der deutschen Kultur, in Italien gebe es allenfalls bei den Eliten ein ö ko
logisches Gefährdungsbewußtsein. Bevor die Deutschen sich nun selbstgefällig
zurücklehnen, sollten sie Cornis H inw eis lesen, daß ökologisches Denken in dem
hier zur Diskussion stehenden Zeitausschnitt vor allem von antiliberalen Kräften
getragen wurde. Bauerntümelei diente der A b w eh r von vielem: der A rbeiterbew e
gung, der Industrie, der Großstadt, dem Judentum und eben auch der N atu r
zerstörung - kurz, der Moderne. Bevor die Grünen in den 1980er Jahren die Ö k o
logie endgültig zum Bestandteil der Moderne machten, boten selbst sie manchen
altvertrauten kulturpessimistischen Stimmen eine Heimat. Im Blick auf ungute
deutsche Traditionen darf man also durchaus von einer erfolgreichen Kulturrevo
lution sprechen, aber für die Zeit zwischen 1860 und 1960 tut man sich mit einem
Urteil schwerer. Wenn das „machet Euch die Erde untertan“ (1. Mo. 1, 28) einen
vormodernen U m gang mit Natur bedeutet, der schonende Umgang mit ihr dage
gen für Moderne steht, dann müßte der aus dem deutschen Idealismus hervorge
hende Gedanke des Naturschutzes angesichts der .N ebenw irkungen“, insbeson
dere seines hohen politischen Preises, als ein weiteres Beispiel für ,reactionary
A sp ek te der M o d ern e in D eu tschlan d und Italien 17
m odernism“ (Jeffrey Herf) gewertet werden. Aber was für eine Moderne ist dann
jene, die, wofür das italienische Beispiel steht, im Zeichen liberaler Weitsicht Ein
griffe in den Raubbau an unserer U m welt ablehnt oder jedenfalls verhindert?
Die Dinge verhielten sich vielleicht anders, wenn alle unter Gemeinwohl das
selbe verstünden. Pierangelo Schiera zeichnet ein sich über Jahrhunderte erstrek-
kendes Panorama des Gemeinwohls, in dem er ein anerkanntes und verbindliches
N ormensystem sieht, das unter dem Einfluß des Naturrechts und der klassischen
N ationalökonom ie im 18. Jahrhundert an unmittelbarer Geltungskraft verloren
und in den modernen Verfassungen den Staat nur noch auf eine nicht näher be
stimmte und jedenfalls ethisch neutralisierte „Wohlfahrt“ verpflichtet habe. Der
liberale Staat sei dann aber Ende des 19. Jahrhunderts sehr nachdrücklich an seine
Gemeinwohlverpflichtung erinnert worden, und zw ar einerseits von der katholi
schen Soziallehre, andererseits von Gierkes Idee der Genossenschaft. Praktische,
wenn auch begrenzte W irkung erzielte jedoch der Kathedersozialismus, und auch
das nur nördlich der Alpen; in Italien blieb diese Lehre auf die Universitäten be
schränkt. Der alteuropäischen Tradition des Gemeinwohls komme das Subsidiari
tätsprinzip, wie es etwa O swald von Nell-Breuning entwickelt hat, am nächsten,
das nicht nur den liberalen Staat überwinde, sondern auch den totalitären Staat
hätte verhindern können.
Das w ar nun freilich nicht der Fall, und bei der Frage nach den Gründen kann
Franz Bauer eine A ntw ort beisteuern: Der Staat, namentlich der italienische, w ar
gewissermaßen zu bürgerlich. Der Staat des Bürgertums sei im 19. Jahrhundert
eben der nationale gewesen, ihm habe man die Lösung auch aller anderen P ro
bleme zugetraut, so daß man beispielsweise auf sozialpolitische Zweckbestim
mungen geglaubt habe, verzichten zu können. Dabei sei dieser Nationalstaat w e
der in Italien noch in Deutschland unter namhafter bürgerlicher Beteiligung ent
standen, diese habe sich erst im Laufe der Zeit clurchgesetzt. Offensichtlich waren
aber moderne Staaten nur in der Weise zu organisieren, daß sie von vornherein die
bürgerlich-liberale O rdnung realisierten, die allerdings nur von einer Minderheit
der Bewohner geteilt wurde. Tatsächlich bezeichnete sich das faschistische Italien
als „la grande proletaria“ und auch der Nationalsozialismus stützte sich in seiner
Propaganda stark auf antibürgerliche Affekte. Was bedeutet das für die Frage nach
der Moderne?
Es habe davon zu viel auf einmal gegeben, so die These Wolfgang Schieders. Die
nationale Identitätsfindung, die politische Verfassungsbildung und der wirtschaft
liche Strukturwandel seien überall stets von erheblichen Konflikten begleitet ge
wesen. Alle Regime hätten sie nur einzeln bewältigen können, und wo dazu nicht
die Zeit war, seien sie zusammengebrochen. Der Faschismus italienischer und
deutscher Spielart ist für Schieder deshalb ein „Krisenprodukt der M oderne“ .
Seine Führer gaben sich als Vermittler einer antimodernen Allianz aus, benutzten
aber nicht nur im Falle der Massenmobilisierung erfolgreich modernere Strategien
als ihre bürgerlichen und kommunistischen Konkurrenten, sondern ihnen gelan
gen auch nach der Machtergreifung im Falle der nationalen Identitätsbildung und
des wirtschaftlichen Wandels erhebliche Erfolge. Zum Ausgleich betrieben sie an
18 C h r is to f D ip per
anderen Fronten - das Beispiel der Rolle der Frauen wird von der Wissenschaft
aus guten Gründen immer w ieder hervorgehoben - eine antimodernistische Poli
tik, freilich mit modernen Mitteln. Die vom Faschismus erzeugten Modernisic-
t'ungsschübe waren deshalb teils gewollt, teils waren sie eine unbeabsichtigte
Folge seiner Politik; in jedem Falle aber sorgten sie dafür, daß seither in diesen bei
den Gesellschaften M odernisierungskrisen nicht mehr zum Zusammenbruch des
politischen Systems geführt haben.
Der Leser wird bemerkt haben, daß Bauers und Schieders Beiträge sich, anders
als die übrigen dieses Bandes, an der herkömmlichen Chronologie orientieren. Ihr
Erkenntnisinteresse ist allerdings ebenfalls ein strukturgeschichtliches. M it Lutz
Klinkhammers Ausführungen kehren w ir nun wieder zu diachronen Fragestel
lungen zurück. Für eine vergleichende Geschichte der Gewalt fehlen zu viele Vor
arbeiten, so daß er sich auf einen kursorischen D urchgang der Repression als m o
derner Herrschaftstechnik beschränken muß. N icht jeder wird erfreut sein zu
lesen, daß das ,bürgerlichere“ italienische Königreich wesentlich repressiver war
als das Deutsche Reich. Die politische Gewalt war geradezu strukturell, weil die
italienische Honoratiorenherrschaft sich anders nicht hätte halten können. Das
setzte sich im Ersten Weltkrieg mit Tausenden ausgesprochener und H underten
vollstreckter Todesurteile fort. Im Vorfeld der Machtergreifung des italienischen
Faschismus ging es, erst recht gemessen an der kurzen Zeitspanne, ebenfalls un
gleich g e w a l t s a m e r z u als in der W e i m a r e r Republik. Die spezifisch faschistische
Gewalt konnte sich nahezu ungehindert austoben, weil Polizei, Militär und Justiz
wegsahen. Vergleichbare Gewaltorgien gab es in Deutschland erst nach dem
30. Januar 1933, und gerade das macht die W illfährigkeit der Ordnungskräfte be
sonders erklärungsbedürftig. Hinsichtlich der sichtbaren, demonstrativ zur Schau
gestellten Gewalt blieben sich die beiden Faschismen gegenseitig also nichts schul
dig. Der Nationalsozialismus entwickelte darüber hinaus jedoch ein auffallend
hohes Maß an administrativer Gewalt, deren G ipfelpunkt H eydrichs „kämpfende
V erwaltung“ bildete. Sie setzte den Holocaust in Deutschland, West- und Südeu
ropa nahezu geräuschlos ins Werk. Im ,O sten“ kamen jedoch genuin faschistische
Methoden zur Anwendung, und dies nicht nur beim Holocaust, sondern ebenso
im Alltag der Besatzung - auch wo diese aus Italienern bestand51. Militärs und
Sondertruppen arbeiteten dabei reibungslos mit der Verwaltung zusammen. Wenn
mit Z ygm unt Bauman der Holocaust das M erkm al einer freilich höchst proble
matischen M oderne ist, so bedeutet das natürlich nicht, daß Italien bis 1945 nicht
ebenfalls an der M oderne teilgehabt hätte. Die Frage ist eher, inwieweit die in bei
den Ländern seither praktizierte Repression - Klinkhammer deutet sie als radika
len Bruch mit jeglicher Tradition - als Gradmesser der Modernität taugt. Daß sie
sich vorwiegend gegen die Linke richtete, hilft hier vielleicht weniger weiter als
der Blick auf ihre Methoden. U nd hier fällt auf, w ie sehr nun verfassungsrecht
liche und politische Vorkehrungen an die Stelle von Ausnahmezustand und
Schießbefehl traten. Es fällt allerdings auch auf, daß die italienische Rechte die
52 Es ist nicht nebensächlich, wenn „cittadino“, ein Schlüsselbegriff im „Land der hundert
Städte“ (Cesare Cantü), seine ursprüngliche Bedeutung aufgab, sie an den Staat verlor, w äh
rend im Preußen der Reformzeit eigens der „Staatsbürger“ geschaffen wurde, weil „Bürger“
an die Stadt gebunden blieb.
53 Er verringert sich, wenn man andere deutsche Staaten heranzieht. In Süddeutschland ist
nach 1806 der Trend zur Verstaatlichung der Kommunen weit vorangekommen, die Regie
rungen orientierten sich, wie später das Italienische Königreich, am französischen Vorbild. In
der Rheinprovinz hatte dieses ohnehin Geltung.
20 C h ris t o f D ip per
und Staat - gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte das offenbar keinen markanten
Einfluß.
Rolf W örsdörfer zeigt für die M inderheitenpolitik nach dem Ersten Weltkrieg,
daß die eklatanten deutsch-italienischen Unterschiede zwischen 1919 und 193 954
eine Anomalie waren. In beiden Staaten lebten die ,eigentlichen* Minderheiten im
Osten, waren also Slawen und damit in den Augen Deutscher wie Italiener ku ltu
rell rückständig bis minderwertig und auch gefährlich. Dementsprechend fand in
beiden Staaten eine vergleichbare politische Mobilisierung bis hin zu G renzkäm p
fen statt; die Grenzlandrhetorik war hier wie dort dieselbe. Was Berlin von der
Fortsetzung der preußischen Entnationalisierungspolitik der Vorkriegszeit ab
hielt, w ar seine Sorge um die Grenz- und Ausländsdeutschen - auch in Südtirol
während Rom sich von solchen Rücksichten frei wußte. Es begann darum sofort
eine harte Assimilationspolitik; D ’Annunzios A nhänger und der sogenannte
Grenzlandfaschismus taten ein übriges. Nach dem Marsch auf Rom änderte sich
nichts wesentliches mehr. Das Reich besaß erst nach der Zerschlagung Polens w ie
der eine nennenswerte polnische Minderheit. Teile von ihr sollten eingedeutscht
werden, für die übrigen und vor allem für die Juden ordnete Hitler schon Anfang
O ktober 1939 U m siedlung zugunsten der vor der T ür stehenden Volksdeutschen
an. Damit kam G ewaltanwendung ins Spiel, buchstäblich M ord und Totschlag.
W örsdörfer ordnet bei seiner Bewertung M ussolini in die Tradition des R isorgi
mentos ein, während er in der Umsiedlungspolitik den A usdruck biologischen
Rassism us’ erblickt. Dieser Verdacht ist bei H itler natürlich im mer berechtigt. A m
Rassismus Mussolinis kann aber nach allem, was w ir mittlerweile wissen, eben
falls kein vernünftiger Zweifel mehr bestehen. Er richtete sich allerdings eher ge
gen andere Gruppen. Die einverleibten Slowenen und Kroaten bezeichnete man
dagegen als „alloglotti“, Anderssprachige, die man also ,nur‘ italianisieren müsse.
Im Krieg, 1941, gab es bezüglich der annektierten „Provinz Ljubljana“ dann aber
auch dort einen Vorschlag, die Slowenen um zusiedeln55. Die Unterschiede relati
vieren sich also mit Kriegsbeginn. Genau besehen, endete aber, was den U m gang
mit nationalen Minderheiten betrifft, in Italien die Tradition des 19. Jahrhunderts
schon mit den Grenzverschiebungen nach 1918, denn diese ließen sich mit den
herkömmlichen A rgumenten nicht mehr rechtfertigen, auch wenn das natürlich
mit abenteuerlichen Theorien versucht wurde. Die im Zuge der spätimperialisti
schen Politik annektierten Bevölkerungen sollten gar nicht mehr assimiliert w e r
den. Aus der Sicht der Diktatoren war es deshalb nur logisch, sie umzusiedeln
oder zu vertreiben. Die Alliierten haben sich im Zweiten Weltkrieg diese L ogik zu
54 U nd nicht schon 1933. Da Hitler sich niemals an gegebene Zusagen gebunden fühlte,
konnte er sich, um Zeit zu gewinnen, in den Anfangsjahren eine weit konziliantere Politik
gegenüber Polen erlauben als die Weimarer Republik, die außerdem von den Siegermächten
kontrolliert wurde. Die jüdische Minorität wird, was plausibel ist, von Wörsdörfer ausge
klammert.
55 B r u n e l l o M a n te lli , Die Italiener auf dem Balkan 1941-1943, in: D ip p er, K li n k h a m m e r ,
N ü t z e n a d e l, 65. Dazu ist es dann nicht gekommen, aber auf die in Gang gekommene U m
siedlung der Südtiroler sei hier wenigstens hingewiesen.
A sp ek te der M o d e r n e in D eu tsc h la n d u n d Italien 21
eigen gemacht, so daß Italien und Deutschland am Ende unseres U ntersuchungs
zeitraumes ethnisch homogener waren als zuvor. M it Z ygm unt Bauman muß man
auch das der M oderne zurechnen.
Rassismus ist eine moderne Welterklärung und für seine A nhänger absolut ra
tional, weil wissenschaftlich fundiert56. Vor allem die damals modernen D iszipli
nen Biologie und Anthropologie haben viel zu seinem Aufstieg und zu seiner
G laubwürdigkeit beigetragen. Er w ar für alle jene attraktiv und überzeugend, die
zu den wissenschaftsgläubigen Milieus zählten - vom Professor über den Lehrer
bis zum gebildeten Arbeiter denn er erklärte mehr als nur den längst vor 1880
thematisierten Unterschied der Rassen: Er half die Menschheitsentwicklung bes
ser zu verstehen (nämlich weder christlich noch idealistisch, sondern materiali
stisch) und die kulturellen Unterschiede, lieferte Rezepte für die Lösung der na
tionalen und der sozialen Frage, rechtfertigte den Imperialismus und vieles mehr.
Brunello M antelli beschreibt seine Geschichte in Italien bis 1945, und sofort w e r
den die Parallelen und Unterschiede zu Deutschland klar. Gemeinsam ist die
naturwissenschaftliche Fundierung, die H ierarchisierung der Rassen mit dem
eigenen Volk an der Spitze („razza latina“ bzw. „A rier“) und die Suche nach
Handlungsmöglichkeiten, die die - für bedroht gehaltene - Spitzenstellung si
chert. Die Unterschiede sind jedoch erheblich. A uf der Ebene der Weltanschau
ung findet der religiös-sexuelle Komplex in Italien keine, der antisemitische nur
eine geringe Entsprechung; auf der Ebene des Drängens z ur Praxis geht es in bei
den Rassismen um Prävention und Kontrolle, aber Auslese bzw. Züchtung und
gar A usmerze finden sich nur in Deutschland. Der wichtigste Unterschied besteht
sicherlich im Um stand, daß der deutsche Rassismus eine unlösbare Einheit mit
dem völkischen Denken eingegangen ist, und das ließ ihn geradezu volkskultu-
rclle Züge annehmen; in Italien gibt es hierzu keine Entsprechung. Die Breiten
wirkung w ar in Italien also geringer, auch bei den Gebildeten: wegen der geringe
ren Bedeutung der Naturwissenschaften im Bildungssystem 57 (selbst rassistische
Vorstellungen wurden oft in kulturell-literarischen Bezügen formuliert) und folg
lich auch ihrer Experten im Alltag58, wegen der anhaltenden Bedeutung des k a
56 U lrich H e r b e r t hat das knapp, aber bündig ausgeführt: Rassismus und rationales Kalkül.
Zum Stellenwert utilitaristisch verbrämter Legitimationsstrategien in der nationalsozialisti
schen „Weltanschauung“, in: W o lf g a n g S c h n e i d e r (Hrsg.), „Vernichtungspolitik“. Eine De
batte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen
Deutschland (H am burg 1991) bes. 2 7 ff.
37 Mussolinis Unterrichtsminister Giovanni Gentile hat in seiner berühmten Reform 1923 in
den maßstabsetzenden klassischen Gymnasien die naturwissenschaftlichen Unterrichtsfä
cher nahezu abgeschafft. Näheres bei J ü r g e n C h a rn itz k y, Die Schulpolitik des faschistischen
Regimes in Italien (Tübingen 1994).
^ Italienische Anthropologen begannen zwar, die Bewohner der faschistischen Siedlerstädte
m Karteien zu erfassen, aber im KZ Auschwitz Zwillinge und Liliputaner einzusperren und
an ihnen in Absprache mit Universitätsinstituten und finanziert von der Notgemeinschaft
Deutscher Wissenschaft barbarische genetische Versuche vorzunehmen - diese medizinisch
pervertierte Forscherpraxis ist in italienischen Lagern schlechterdings nicht vorstellbar.
22 C h r is to f D ip per
39 Dazu in deutscher Sprache zuletzt das methodisch freilich nicht unumstrittene Buch von
D a v i d /. Kertzer, Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen
Antisemitismus (Berlin, München 2001). Ungleich zuverlässiger für Deutschland O la f
B la sch k e, Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich (Göttingen 1997).
60 Neben .Argumenten“ und Redefiguren aus dem Neuen Testament spielten im judenfeind
lichen Diskurs der italienischen Katholiken daher Invektiven gegen Freimaurertum und
Risorgimento eine prominente Rolle.
61 Der wichtigste Beitrag in deutscher Sprache stammt von Enzo Collotti, Die Historiker
und die Rassengesetze in Italien, in: C h r i s t o f D ipper, R a i n e r H u d e m a n n , J e n s P e t e r s e n
(Hrsg.), Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag
(Vierow 1998) 59-77. Eine Fallstudie ist G a b r i e l e S c h n e i d e r , Mussolini in Afrika. Die faschi
stische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936-1941 (Köln 2000). Die Kontinuität
der Judenfeindschaft vom 19. Jahrhundert bis in den Faschismus skizziert C a rlo M o o s , Das
Italien der Einigungs- und Nach-Einigungszeit und die Juden, in: O l a f B la sch k e, A ra m M a t-
tioli (Hrsg.), Katholischer Antisemitismus im 19. Jahrhundert. Ursachen und Traditionen im
internationalen Vergleich (Zürich 2000) 229-238.
A sp e k te der M o dern e m D eutschla nd und Italien 23
62 Eine wichtige Voraussetzung dafür war, daß der Vatikan die koptische Kirche nicht als
wirklich christliche akzeptierte.
6-’ Als latenten Bürgerkrieg zweier Kulturen wird man den in Italien besonders lang anhal-
24 C h ris t o f D ip per
tenden Kulturkampf bezeichnen dürfen, dessen Exponenten Jesuiten und Freimaurer waren.
Ernsthafte Versuche zu seiner Beilegung unternahm Giolitti, beendet hat ihn erst Mussolinis
Lateranabkommen von 1929. Verlierer w ar der Laizismus.
64 Eines der in dieser Hinsicht einflußreichsten Bücher war ohne Zweifel H a n s F r e y e r s
Theorie des gegenwärtigen Zeitalters (Stuttgart 1955). Er erklärte dem gebildeten Publikum
die Industriegesellschaft als das unüberwindliche Hauptm erkmal der Gegenwart und trö
stete es über die Verluste mit dem Hinweis auf Zuwachs an Freiheit im Sinne unbegrenzter
Möglichkeiten hinweg.
63 Daß die römische ein Bestandteil der italienischen Geschichte sei, war europaweit bis ins
18. Jahrhundert nahezu selbstverständlich. Erst das Entstehen der modernen Nationen und
der Wissenschaftlichkeit der Historiographie, beides hing miteinander zusammen, machte
diesem Geschichtsbild ein Ende.
A sp ek te der M o d ern e m D eu tsc h la n d un d Italien 25
man schwerlich erwarten. Sie sollten ja gerade die im Kampf gegen die Feinde ent
standenen Nationen repräsentieren. Aus italienischer Sicht hatten die .Deutschen“
die Italiener über Jahrhunderte daran gehindert, sich zu einem Staat zusam m enzu
schließen, die mittelalterlichen Kaiser nicht anders als die Habsburger im Zeitalter
des Risorgimento. So erklären sich die gewissermaßen antagonistischen Bilder der
Historienmalerei des 19. Jahrhunderts66. W ährend sich die Deutschen und Italie
ner aber dieser kontrastiven Identitätsgeschichte, die das tatsächliche Verhalten
der beiden N ationen zueinander übrigens nur marginal beeinflußt hat, nach 1945
entledigten, schuf nunmehr der U m gang mit der totalitären Vergangenheit neue
Unterschiede. In Italien avancierte die Resistenza zum „G ründungsm ythos“ (Jens
Petersen) der Republik, mit dessen Hilfe man sich eine nähere Auseinanderset
zung mit dem Faschismus ersparte - weit über die 1960er Jahre hinaus. Psycholo
gisch entschuldeten sich die Italiener durch den Neologismus des „nazifascismo“,
gegen den die Resistenza gekämpft habe und der alles wahrhaft Schlimme bei den
Deutschen verbuchte. Die italienische Zeitrechnung setzt darum bei 1943 die ent
scheidende Zäsur an, mit dem Koalitionswechsel am 8. September habe etwas
Neues begonnen. So konnte selbst die optische .Entsorgung der Vergangenheit“ in
Italien denkbar knapp ausfallen.
Der Flolocaust hat den Westdeutschen einen ähnlichen A usweg verbaut. Statt
dessen versuchten öffentliche M einung und Geschichtswissenschaft, die Epoche
des Nationalsozialismus aus dem Kontinuum deutscher Geschichte hinauszu
drängen. Diese Strategie scheiterte nicht schon mit Brachers Buch zur Weimarer
Republik67, sondern erst im Verlauf der sogenannten Fischer-Kontroverse, die
1961 einsetzte. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Suche nach positiven
Seiten der deutschen Vergangenheit und angesichts der deutschen Teilung stieß
auch die Selbstanerkennung der Bundesrepublik lange Zeit auf große Schwierig
keiten. Der Widerstand gegen H itler zählte damals nicht dazu, der 17. Juni erwies
sich als ungeeignet, die Freiheitstraditionen des 19. Jahrhunderts blieben trotz der
Gedenkfeiern 1948 reichlich abstrakt. Einen A usw eg versprach am ehesten der
Blick auf die Regional- und Stadtgeschichte, und beide Wege wurden entspre
chend oft betreten. Bücher, Feste, Ausstellungen, neuerdings auch länderspezifi
sche „Fläuser der Geschichte“ zeigten und zeigen eine im Frieden mit sich selbst
lebende Gesellschaft, die sich in diesem entpolitisierten Raum nun auch buchstäb
lich anstandslos der einstmals unter ihr lebenden jüdischen .M itbürger“ erinnern
konnte68. Kurz: Gegen Ende unseres Vergleichszeitraums konnten die Deutschen
neidvoll auf den U m gang der Italiener mit ihrer jüngsten Vergangenheit blicken.
Noch ahnte niemand, daß in den 1990ern ein um so radikalerer, geradezu staats-
IV.
Wir sind nun tatsächlich am Ende unseres Ganges durch die Ausschnitte deut
scher und italienischer W irklichkeiten zwischen I860 und 1960 angelangt. Von
einem Sonderweg fand sich keine Spur. Gleichwohl sind die Unterschiede hoch
bedeutsam im Hinblick auf die eingangs formulierte These, die institutionelle Ver
festigung der Moderne habe im 19. und 20. Jahrhundert nördlich und südlich der
Alpen unterschiedlich Fuß gefaßt. Wenn man, ohne Vollständigkeit anzustreben,
Kirche, Monarchie, direkte Repression, Gemeinde- bzw. Regionalautonomie und
eine auf das Familiensystem gestützte Daseinsvorsorge als Erscheinungsformen
der Vormodernc ansieht, w ird der Unterschied schon auf den ersten Blick offen
sichtlich. Fast alle spielen in Italien eine anhaltende, teilweise bis heute dauernde
Rolle. Ausnahmen sind die Monarchie, die 1946 allerdings nur mit knapper Not
abgeschafft wurde und deren männliche Vertreter sicherheitshalber des Landes
verwiesen werden mußten, und die schon 1865 beseitigte Gemeindeautonomie,
die allerdings der denkbar engen Bindung der Menschen an ihre H eimat nichts hat
anhaben können.
Natürlich gibt es auch Institutionen der Moderne. Bei ihnen fällt allerdings die
begrenzte soziale Reichweite auf, die teilweise erst in der zweiten Nachkriegszeit
überwunden wurde. Dazu zählt das Privatrecht, das nicht von ungefähr gerade die
Familie bis weit ins 20. Jahrhundert vor staatlichen Eingriffen schützte, ferner die
Demokratie, deren politische Reichweite bis 1913 in umgekehrtem Verhältnis zu
ihrer sozialen stand; danach wurde das Land unregierbar - Mussolinis Chance.
Einen Sozialstaat konnte sich das Land vor den 1950er Jahren nicht leisten, die
Selbstorganisation der Bürger in Vereinen beschränkte sich jahrzehntelang auf die
Ober- und obere Mittelschicht. Dasselbe gilt für die modernen Weltbilder. Ob die
im Risorgimento geschaffene nationale H ochkultur sich jemals durchgesetzt hat,
kann man bezweifeln. Sie hatte sich nicht nur äußerst lebenskräftiger Konkurren
ten zu erwehren, sondern ihrer Durchsetzung standen auch Analphabetenrate
und mangelhafte Kenntnis der Hochsprache entgegen. Als R undfunk und Fernse
hen diesen Mangel beseitigt hatten, war die klassische N ationalkultur einschließ
lich ihres Geschichtsbildes schon wieder bis auf Reste verschwunden. So verwun
dert nicht, daß auch der Rassismus, zeitweise international das attraktivste der
modernen Weltbilder, in Italien über die Kreise der in die N ationalkultur Inte
grierten nicht hinausgelangt ist; zum H aß auf Juden genügen bekanntlich schon
weniger moderne Gegebenheiten. Für die 1919 zu Italien geschlagenen nationalen
Minderheiten wirkte sich der dort inzwischen erreichte Grad nationaler Massen
mobilisierung nachteilig aus; fünfzig Jahre früher wären sie wahrscheinlich
glimpflicher davongekommen.
Muß man noch eigens für Deutschland die Gegenrechnung aufmachen? Mehr
Aufschluß verspricht die Suche nach den Gründen. Diese können hier nur ange
deutet werden. Einerseits sind sie natürlich in den weiterreichenden Eingriffen zu
suchen, denen die Deutschen als Untertanen einer reglementierungswütigen und
*n Grenzen benevolenten O brigkeit schon lange vor der Entstehung des N atio
28 C h r is t o f D ip p e r
nalstaats ausgesetzt waren; der moderne Staat ist, jedenfalls hierzulande, um eini
ges älter als der nationale. Sodann erfaßte die Industrialisierung die deutsche Ge
sellschaft ebenfalls früher als die italienische, und auch zu größeren Teilen.
Schließlich lockerte der früh ausgebildete Sozialstaat bei seinen Klienten u n w ei
gerlich die familiären Bande, da auf Versorgungsleistungen nunmehr ein rechtlich
verbriefter Anspruch bestand. Vieles andere wäre in diesem Zusammenhang noch
zu nennen.
Statt dessen ist noch ein anderer Erklärungsansatz zu nennen. Er fragt nach der
gesellschaftlichen Disposition zur Bewältigung von Um brüchen und Krisen. Der
schwedische Sozialpsychologe Erikson72 hat den interessanten Versuch unter
nommen, seine Erkenntnisse über die Entwicklung der menschlichen Identität auf
Nationen zu übertragen. Demzufolge wäre auch bei diesen die Art und Weise, wie
sie frühere Krisen gelöst haben, für deren weiteren Weg ausschlaggebend - nicht
in deterministischem Sinne, sondern als Disposition. Für unser Them a heißt das,
daß die beobachteten deutsch-italienischen Unterschiede zu erheblichen Teilen
auf das Krisenmanagement des 19. Jahrhunderts zurückgeführt werden können
und daß auch die unterschiedliche Reichweite faschistischer bzw. nationalsoziali
stischer Diktatur bis zu einem gewissen Grade eine Folge getroffener oder unter
lassener Entscheidungen in der Zeit der Nationalstaatsgründung war. Die am
offensichtlichsten auf kollektive Erfahrungen der Italiener zurückgehende p o liti
sche Verhaltensform ist deren Mißtrauen, ja Feindschaft gegenüber dem Staat. M it
ihm haben sie überwiegend schlechte Erfahrungen gemacht, und zw ar seit J a h r
hunderten. Schon mancher Sprachgebrauch ist enthüllend, „Piove, governo
ladro“, pflegten früher italienische Landarbeiter zu schimpfen - eine Verwün
schung, die deutschen Ohren unfaßlich scheint: A m Regen soll die Regierung
schuld sein, weil sie ja ohnedies den Arm en alles stiehlt. ,Die Regierung':
Gewöhnlich spricht der Italiener vom „palazzo“; auch das A usdruck tiefsitzen
der, jahrhundertealter (schlechter) Erfahrungen. U m gekehrt bliebe die in
Deutschland anzutreffende Staatsvergottung ohne die entsprechenden (guten) Er
fahrungen - nicht immer, aber jedenfalls hie und da - durchaus unerklärlich. Die
so erzeugten unterschiedlichen Dispositionen haben in beiden Gesellschaften ent
sprechend unterschiedliche Erwartungen der Bürger und H andlungsspielräume
der Politiker zur Folge. Gegenwärtig lassen sich die Italiener lieber von .Brüssel1
etwas vorschreiben als von Rom, und vorsichtshalber haben sie in den römischen
„palazzo“ gleich noch einen Exponenten jener Kreise gewählt, die ihr Ansehen
dem U mstand verdanken, Staat und Gesetze an der Nase herumzuführen. So ge
sehen, sind die Parallelen zwischen Deutschland und Italien derzeit eher gering.
71 Erik EL Erikson, Identität und L ebenszyklus (Frankfurt 1974). Dazu E lans-U lrich W ehler,
Erik Erikson. Der unaufhaltsame Siegeszug der Identität, in: ders., Die Herausforderung der
Kulturgeschichte (München 1998) 130-135.
1. Das Land
Marco Meriggi
Da es bei dem vorliegenden Thema vor allem darauf ankommt, die geistige Bezie
hung zwischen Zentrum und Peripherie in der italienischen und deutschen Ge
schichte in dem Jahrhundert zwischen 1860 und 1960 zu vergleichen, muß der Be
griff Regionalismus meiner Ansicht nach flexibel und ohne strenge Begrenzung
benutzt werden. In diesem Sinne ist Regionalismus zu verstehen als Ausdruck des
Zugehörigkeitsgefühls zu einer lokalen Identität, die einerseits nicht notwendi
gerweise mit den Grenzen der Region übereinstimmen muß, und zum anderen im
Laufe der Zeit sowohl räumlichen als auch inhaltlichen Veränderungen unterw or
fen sein kann. Im folgenden werde ich dies begründen und mich dabei vor allem
auf die Zeit von der nationalen Einigung der beiden Länder bis zum Ersten Welt
krieg und nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Zeit bis 1960 beziehen.
In Deutschland ist meines Erachtens in der ersten Phase, die ich in Betracht zie
hen will, unter Regionalismus das Überleben der alten Staaten - mit ihren herr
schenden Dynastien, lokalen Institutionen und unabhängigen Verwaltungsappa
raten - innerhalb der föderalen Struktur des Reiches zu verstehen. M it anderen
Worten, im Kaiserreich stellen die Regionen nicht periphere Gliederungen zen
traler staatlicher Institutionen dar, sondern sind selbst diese staatlichen Institu
tionen oder, wenn man so will, regionale Staaten. Ohne Zweifel wird das B ewußt
sein der bestehenden und sich weiter ausprägenden Unterschiede der territorialen
Bestandteile des Reiches voneinander nach der Zäsur von 1870 in mehrfacher
Hinsicht sogar noch ausgeprägter als vorher. Jetzt nämlich existiert ein einheit
liches - wenn auch föderal geprägtes - System, und mit ihm entwickelt sich in kur-
zer Zeit das Umfeld zur Herausbildung einer ihm gegenüber kontrastiven Iden
tität1.
Trotz seines föderalen Aufbaus setzt sich im Kaiserreich unzweifelhaft ein
wirkliches Zentrum von Anfang an als dominierendes Element durch, als dessen
Kehrseite die alten Staaten veranlaßt werden, das Profil ihrer lokalen Eigenheit zu
betonen.
Daß im Kaiserreich Regionalismus in erster Linie eine antipreußische Haltung
bedeutete, braucht wohl nicht weiter belegt zu werden. Sie gründete sowohl in der
Art, wie die deutsche Einigung zustande gekommen war, als auch in der föderalen
Struktur, die dem preußischen König die Kaiserwürde und dem preußischen M i
nisterpräsidenten das Amt des Kanzlers des Bundes vorbehielt.
Auch unter dem Aspekt der territorialen A usdehnung stellte sich das Reich im
übrigen - trotz des spürbaren Gegensatzes zwischen ost- und westelbischen Preu
ßen - als Bund unter der offenbaren, erdrückenden preußischen Übermacht dar.
Je mehr im Betrachtungszeitraum die Befugnisse des Reiches gegenüber den ver
schiedenen regionalstaatlichen Realitäten Z u n a h m e n , desto mehr verstärkte sich
auch das preußische Übergewicht über das ganze System. Zugleich wuchs die
Ausstrahlungskraft der klassischen M ythen, auf denen das preußische Staatsmo
dell spätestens seit der napoleonischen Zeit basierte, über die Grenzen seiner Ent
stehung in Ostelbien hinaus: militärische Größe, dynastische Expansion, stark
vom Adel geprägter gesellschaftlicher Traditionalismus und institutioneller A uto-
ritarismus. O bw ohl die Kompetenzen der zentralen Institutionen gegenüber den
Ländern weiter ausgebaut wurden, sollte diese Entwicklung bekanntlich erst in
der Weimarer Republik, d.h. nach der Abschaffung der alten regionalen M o n ar
chien, darunter vor allem der preußischen, zum Stillstand kommen2.
In einem solchen Kontext konnte Regionalismus nur bedeuten, das Gefühl des
Unterschiedes im Vergleich zu den erwähnten Wertvorstellungen und M ythen
zum A usdruck bringen zu wollen. Wenn Berlin deshalb zwar in staatlicher H in
sicht den zentralen Pol des Systems darstellte, so bildete sich doch ein N etz von
alternativen, regionalen Polen heraus, das vor allem in Verbänden und Vereinen
1 Zum Begriff der „kontrastiven Identität“, der vielen Überlegungen des vorliegenden Tex
tes zugrunde liegt, bietet wertvolle Hinweise: U g o F a b ie tti, L’Identitä etntca. Storia e critiea
di un concetto equivoco (Rom 1995).
2 Mit den entsprechenden bibliographischen Hinweisen diskutiert diese Frage: D i e t e r L an-
g e w i e s c h e , Föderalismus und Zentralismus im deutschen Kaiserreich: Staat, Wirtschaft, G e
sellschaft, Kultur - eine Skizze, im folgenden zitiert: L a n g e w i e s c h e , Föderalismus, in: O l i v e r
J a n z , P i e r a n g e l o S ch iern , H a n n e s S ieg ris t (Hrsg.), Zentralismus und Föderalismus im 19. und
20. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich (Berlin 2000) 79-90, im folgenden
zitiert: J a n z , Scbiera, Siegrist, Zentralismus. Ausführlicher als in diesem 'Text geht Langewie-
sche auf dieses Thema ein in: Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichs
nation: der Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: d ers.,
G e o r g S c h m i d t (Hrsg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis
zum Ersten Weltkrieg (München 2000) 215-241. Ferner K u r t D ivw ell, Zwischen Föderalis
mus, Unitarismus und Zentralismus. Retchsreform und Länderneugliederung in der Weima
rer Republik (1918-1933), in: J a n z , S cb ie r a , S iegrist, Zentralismus 215-225.
R egionalisniu s 31
L a n g e w i e s c h e , Föderalismus 83.
1 L a n g e w i e s c h e , Föderalismus.
L a n g e w i e s c h e , Föderalismus 90.
die Institutionen, an tn m u m « w ..... ....... ,
der bürgerlichen Gesellschaft, die sich zu diesem Zweck auf konfessionelle, poli
tische und kulturelle Identitäten bezogen. Sie wandten sich nicht nur gegen das
sozusagen offizielle und dynastische, sondern auch gegen das „zivile“ Preußen,
das den Hohenzollern ablehnend gegenüberstand. Selbst in einem Milieu wie dem
der Sozialdemokratie, das theoretisch für das Verschwinden lokaler Traditionen
als besonders anfällig galt, bildeten sich starke Konfliktpotentiale zwischen den
Parteimitgliedern aus Süd- und preußischen Genossen, Die Süddeutschen, die d a
von überzeugt waren, die entwickeltere politische Kultur zu besitzen, betrachte
ten die preußischen Genossen als Verfechter einer Organisationsform, die - wenn
auch unbewußt —in i h r e r autoritären und hierarchischen Konzeption dem ver
gleichbar war, was man im allgemeinen als Preußentum in seiner monarchisch
staatlichen Form ablehnte7.
Im Kaiserreich existierte also sowohl ein Regionalismus der alten Staaten, dem
die föderale Struktur des Reiches im übrigen einen günstigen Nährboden bot, als
auch ein neuer Regionalismus, der aus der Gesellschaft und ihren Veränderungen
erwuchs. Vor allem aber bestand mit dem Preußen der Hohenzollern ein M ittel
punkt, gegenüber dem sich der staatliche oder, w ie w ir gesehen haben, der w ir t
schaftliche und gesellschaftliche Regionalismus als alternative Identität leicht ab
grenzen konnte. Die Reichsverfassung hatte dafür in institutioneller Flinsicht die
Voraussetzung geschaffen, die dann durch die sich tatsächlich entwickelnden B e
ziehungen zwischen den Ländern verstärkt wurde.
Man könnte leicht der Versuchung verfallen, ähnliche Überlegungen auch für
Italien anzustellen, dessen Entwicklung in den ersten Jahrzehnten nach der Eini
gung von einem Teil der Zeitgenossen als Piemontisierung und Zentralisierung
verstanden und von einem großen Teil der H istoriker auch in dieser Weise darge
stellt worden ist8. Ich bin allerdings der Meinung, daß eine A nalyse des Problems,
die über die rein institutionell-formalen Fakten hinausgeht, ein wesentlich nuan-
cierteres, weniger monolithisches Bild ergibt als die genannten Formeln.
Preußen, die Hohenzollern, Bismarck, der Traditionalismus der grundbesitzen
den Elite und der Militarismus, Berlin: Alle Kettenglieder scheinen im Kaiserreich
reibungslos ineinanderzugreifen und trotz des „Korrektivs“ der föderalen Verfas
sung die nicht-preußischen Teile des Reiches zu regionalistische Reaktionen gera
dezu zu „ zwingen“.
Im Königreich Italien existierte ein solches föderales Korrektiv bekanntlich
nicht. Im Einheitsstaat wurden nämlich die Strukturen der vorher bestehenden
Staaten aufgelöst, und die politischen Pläne eines bedeutenden Teils der politi
schen Elite, denen in den ersten Jahren nach der Einigung ein nicht-zentralisti-
9 Vgl. dazu: R o b e r t o R u ffd li , Governo, Parlamente) e correnti politiche nella gencsi della
legge 20 marzo 1865, in: R o b e r t o Ruffili, Istituzioni, societä, stato. Bd. 1. 11 ruolo delle lstitu-
zioni amministrative nella fonnazione deilo Stato in Italia (Bologna 1989} 275-328, mit der
dort zitierten Literatur.
10 Vgl. dazu: G u id o M elis, Sforia dell’amministrazione italiana 1861-1993 (Bologna 1996);
R a ffaele R o rn a n elli (Hrsg.), Storia dello stato italiano. DaU’Unitä a oggi (Rom 1995); A rp a d
Klimo, Staat und Klientel im 19. Jahrhundert. Administrative Eliten in Italien und Preußen
im Vergleich 1860-1918 (Köln 1997).
11 Im folgenden beziehe ich mich weitgehend auf: l l a r i a P o r ci a n i , Lokale Identität - natio
nale Identität. Die Konstruktion einer doppelten Zugehörigkeit, in: J a n x , S ch ien t , Siegrist,
Zentralismus 103-133, im folgenden zitiert: P o rcia n i, Identität.
34 Marco M ertggi
loren hatte? Der preußische Staat umfaßte dagegen zwei Drittel des Territoriums
des deutschen Kaiserreiches.
Wenn einige Jahrzehnte lang Regierung, Verwaltung und Heer weiterhin eine
Art den Piemontesen vorbehaltenes „Revier“ blieben, so war das Parlament des
neuen Italien von A nlang der wichtigste O rt der M ediation zwischen den lokalen
Interessen der verschiedenen Teile des Königreichs, die von den Vertretern der
schmalen Schicht der Notabein, die das Wahlrecht besaßen, in Rom repräsentiert
und gestützt w u r d e n 12. Zu oft hat die Geschichtsschreibung, die den Zentralismus
und damit auch die Piemontisierung im italienischen Einheitsstaat betonte, meines
Erachtens allerdings übersehen, wie sehr diese Institution, die es außer im König
reich Sardinien zuvor nicht gegeben hatte, in der Lage war, den Interessen der ter
ritorialen Peripherien Ausdruck zu verleihen. Wie viele neuere Untersuchungen
gezeigt haben, wurde das Parlament im politischen Leben Italiens lange Zeit ten
denziell mehr als Instrument zur Beilegung lokaler Konflikte als z u r Gestaltung
einer nationalen Politik verstanden. Als durch die Wahlreformen seit 1882 das
System der Notabeln-Elite überwunden w urde und Abgeordnete der Massenpar
teien im Palazzo Montecitorio in größerer Zahl vertreten waren, ließen sich auch
diese besonders anfangs von dieser H altung anstecken13. Wenig später, als nach
den sogenannten „Vätern des Vaterlands“ die nächste Generation antrat, ver
schwand die ursprüngliche piemontesischc H egemonie in Verwaltung und Heer
von selbst14.
Diese Betrachtungen vermitteln das Bild eines Landes, m dem lokale Polarisie
rungen keineswegs fehlen, die dank institutioneller M öglichkeiten dann aber auch
Mittel und Wege finden, um ihnen Ausdruck zu verleihen, trotz des von Staat und
Verwaltung angeblichen Zentralismus.
Nicht zufällig haben wir an dieser Stelle ganz allgemein von lokalen und nicht
von regionalen Polarisierungen gesprochen, da vor der Einigung Italiens - im G e
gensatz zu Deutschland, würde ich sagen15 - solche Polarisierungen sich vor allem
auf der Ebene der Städte und Gemeinden ausdrückten. Unmittelbar vor der Eini
gung w ar Italien nämlich noch überwiegend ein Land, in dem die Städte innerhalb
der aus unterschiedlichen Regionen gebildeten Staaten auf ihre A utonomie poch
ten. Das Königreich Sardinien, der Kirchenstaat, das Königreich Lombardo-
Venetien und das Königreich beider Sizilien waren aus verschiedenen Regionen
zusammengesetzte Staaten, die H erzogtüm er Parma, Piacenza, Modena und R eg
gio dagegen Stadtstaaten. Als unitarisch verfaßter Staat läßt sich vor der Einigung
nur das Großherzogtum Toskana bezeichnen. Die Regionen, wie w ir sie innerhalb
des augenblicklich geltenden politisch-administrativen Systems kennen, sind da
gegen eine Erfindung der Zeit nach der Einigung; sie entstanden nach 1860 als
Bausteine eines von oben, ursprünglich vor allem aus statistischen Gründen ent
worfenen Plans16.
Das alles verhinderte im übrigen nicht, daß sich innerhalb der politisch-admini
strativen Konstruktion des Einheitsstaates bald neue Tendenzen zeigten mit dem
Ziel, die Besonderheiten einzelner lokaler Zusammenhänge in den Vordergrund
zu rücken. Diese letzteren scheinen aber mehr die Begleiterscheinung eines neuen
Geschichtsabschnitts - der Gegenwart - zu sein als die Konsequenz aus der Ver
gangenheit. Zudem handelt es sich um Spannungen und Forderungen gegenüber
dem Ganzen und nicht so sehr um feindselige Reaktionen gegen einen bestimmten
Teil.
Dies wird deutlich, wenn man den für die spätere Zeit des liberalen Italien cha
rakteristischen Fall der Lombardei mit ihrem anspruchsvollen, nie zufriedenge
stellten R egionalbewußtsein heranzieht. Der lombardische Regionalismus artiku
lierte sich bezeichnenderweise nicht unmittelbar nach der Einigung, sondern um
die Jahrhundertwende, also in der Zeit des Übergangs von dem auf eine Klasse
gestützten N otabelnregim e zu einem auf mehrere Klassen gestützten Staat17, der
seine Politik auf die Industrialisierung auszurichten begann.
Zuvor war der Widerstand gegen die Einheitspolitik am deutlichsten im M ez-
zogiorno zum A usdruck gekommen, denn hier war die Einbindung in das König
reich Italien zumindest teilweise eher als Vereinnahmung empfunden worden
denn als das Erreichen eines selbstgesteckten Ziels. Das Drama des so genannten
Brigantenwesens unmittelbar nach der Einigung läßt sich auch unter diesem
Blickwinkel betrachten. Zugleich aber nutzte der Süden die Einbindung in den
Einheitsstaat zu internen Gewichtsverschiebungen. llaria Porciani hat in ihrem
grundlegenden Aufsatz, auf den sich unsere Ausführungen im wesentlichen stüt
zen, darauf hingewiesen, daß noch 1870 in den Erdkundebüchern der Schulen
Italien gelegentlich nur in Piemont, Lombardei, Emilia, Marken, Umbrien, Tos
kana, Neapel und Sizilien gegliedert war. Diese vereinfachende Darstellung unter
schlug im N orden Ligurien und Venetien, reduzierte aber vor allem den Süden auf
den bloßen Gegensatz zwischen Insel und Festland. Es ist deshalb wenig verwun
derlich, wenn in den ersten drei Jahrzehnten nach der Einigung in verschiedenen
Teilen des Südens immer wieder der Versuch gemacht wurde, eine eigene Identität
durchzusetzen, nicht aber - das gilt es zu betonen - gegen Rom, sondern vielmehr
gegen Neapel; nicht gegenüber der neuen, sondern gegenüber der alten H au p t
stadt18.
Ganz anders liegt, wie gesagt, der Fall der Lombardei. Um die Jahrhundert
wende entspann sich zwischen dem ehemaligen „Staat M ailand“ und der Zentral
regierung eine Auseinandersetzung vor allem um die Militär- und Steuerpolitik
der Regierung Crispi, gegen die sich ein Bündnis verschiedener, scheinbar unver
einbarer gesellschaftlicher Kräfte aus Industriellen, Katholiken und Sozialisten
form ierte19. In dieser Situation erwies sich die alte Vertretung territorialer Interes
sen durch die Notabein als völlig unzureichend angesichts der H erausbildung
komplexer, höchstens als ökonomisch-korporativistisch zu bezeichnender Inter
essenlagen. Dagegen formierte sich hier zum ersten M al ein Regionalismus, wie
wir ihn dann im 20. Jahrhundert bis heute immer wieder antreffen. Er bringt die
Interessen der ökonomisch entwickeltsten Teile des Landes zum Ausdruck, d.h.
die einer Industrieregion, die sich gegen die für den Zentralstaat typische büro kra
tische ra ti o und seine Umverteilungspolitik zur Wehr setzt. Dieser Regionalismus
postuliert teilweise eine „anthropologische“ Überlegenheit der Träger des eigenen
Wirtschaftssystems gegenüber dem nationalen System oder besser gegenüber der
Welt der Politik, die man der Wirtschaft einerseits, der lokalen Verwaltung ande
rerseits entgegenstellt. Bei anderer Gelegenheit nutzt man die Standortvorteile,
um weitere Ressourcen zur U nterstützung des lokalen Wirtschaftswachstums
herauszuschlagen20.
Seit s i c h M ailand gegen Ende des 19. Jahrhunderts selbst zur „moralischen
H auptstadt“ Italiens erklärte, entwickelte sich ein bis zum Ende der 20er Jahre an
dauernder Prozeß, der zur H erausbildung eines Gegenpols führte, der sich nicht
gegenüber Rom als politischer Hauptstadt abgrenzte, sondern in einem viel w e i
teren Sinn gegen die Meridionalisierung der öffentlichen Verwaltung, d.h. der
staatlichen Bürokratie, die che Piemontisierung der ersten 40 Jahre nach der Eini
gung ablöste. Von diesem Zeitpunkt an lernte Italien - metaphorisch gesprochen -
einerseits einen sozusagen gesellschaftlich-ökonomischen Regionalismus kennen,
der sich von der Lombardei, dem Zentrum des Industriedreiecks immer weiter auf
die angrenzenden Gebiete ausbreitete, und andererseits einen staatlich-bürokrati-
schen Regionalismus in der Form der starken Identifizierung des Südens mit dem
Staat, wobei Sizilien teilweise eine A usnahme bildete.
Wie w ir gesehen haben, hat sich in dem hier behandelten Zeitraum die Bedeu
tung des Lokalismus allmählich verändert. Wenn am Ausgangspunkt die alten,
vornationalen Staaten standen, führte das zuletzt Entwickelte zu neuen Formen
regionaler Zusammengehörigkeit, die der Geschichte nach der Einigung angehö
ren. In diesem Zusammenhang, so meine ich, kann der Vergleich zwischen
Deutschland und Italien neue interessante Erkenntnisse bringen, wenn man die
Ein historischer Vergleich, wie U n w eit und Natur und deren Verbindung mit
menschlicher Tätigkeit m Deutschland und Italien in den hundert Jahren nach
1860 wahrgenommen wurden, ist wegen des vollständigen Fehlens vergleichender
Darstellungen außerordentlich schwierig. Die nicht sehr zahlreichen U ntersu
chungen zu diesen Them en beschäftigen sich ohne jeglichen vergleichenden Blick
nur mit jeweils einem der beiden Länder. Thematiken und Vereinigungen im
Bereich des U mwelt- und Naturschutzes und der Ökologie in Deutschland und
Italien hatten bis vor wenigen Jahren nur geringe Berührungspunkte. In dem vor
liegenden Aufsatz kann ich deshalb nur versuchen, Vorschläge für eine verglei
chende Studie zu machen, indem ich einige Aspekte herausgreife, die ich für be
sonders relevant halte. Bei diesen zentralen Punkten, um die sich ein sinnvoller
Vergleich entwickeln kann, geht es mir darum, die Gründe für dieses grundle
gende Fehlen einer gegenseitigen Kommunikation zu erklären und die Ursachen
für den geradezu sprichwörtlichen Unterschied zwischen Deutschen und Italie
nern in Umweltfragen herauszuarbeiten. „Den“ Deutschen wird nachgesagt, daß
sie die N atur heben und respektieren, während „die“ Italiener sie angeblich ver
geuden und ausbeuten.
1. Italia felix
Nach den Worten eines der bedeutendsten italienischen Geographen sind wenige
Landschaften „so vom Menschen geschaffen wie die Italiens“ 1. Tlirri betonte die
lange Tradition einer Landwirtschaft, die in jahrhundertelanger, unablässiger A r
beit von Generationen von Bauern die Landschaft gestaltet haben. Das gleiche gilt
auch für das Eingreifen des Menschen in die nicht unmittelbar für landwirtschaft
liche Zwecke genutzte Natur wie etwa die Gartenkultur, die sich seit der röm i
schen Antike entwickelte. Ein weiteres wichtiges Element für dieses Verhältnis
von Mensch und U m w elt ist meiner Ansicht nach darin zu sehen, daß in Italien
- Zit. n. U. Tucci, Credenze geografiche e cartograha, in: Stona d ’Italia Emaudi, Documenti,
(Torino 1973) Bd. 1,76.
3 Ebd. 77. Interessanterweise wird nicht viel später mit den gleichen Argumenten umgekehrt
behauptet, das „südliche“ Klima habe negative Auswirkungen auf den Charakter der Italie
ner, die deshalb auch auf politischem Gebiet nicht die notwendigen organisatorischen Fähig
keiten entwickeln würden.
4 Die erste Auflage erschien 1875. Mindestens bis zum Ersten Weltkrieg war das Buch ein
großer verlegenscher Erfolg. Vgi. den Nachdruck (Pordenonc 2000).
5 Turri, Semiologia 167.
D er U m g a n g mit Landschaft und U m w elt 41
ersten die Italiener, die gerade erst in einem Nationalstaat vereint waren, mit
„ihrem" Land vom Norden bis zum Süden bekannt zu machen.
Diese im wahrsten Sinn des Wortes geographische Legende w ar in und außer
halb Italiens s o verbreitet, daß im 18. Jahrhundert und auch später Sozialreformer
so weit gingen, die bäuerliche Bevölkerung zu kritisieren, weil sie aus angeborener
Dummheit besonders durch Abholzungen die üppige italische N atur ohne jedes
Verständnis ausbeuteten6. In W irklichkeit zerfällt und verändert sich dieses Bild
einer h a h a Jelix, wenn man es einer genaueren Untersuchung unterzieht, und tiefe
Widersprüche treten ans Licht.
Zwei extreme Beispiele sollen dies erläutern. Das eine Extrem zeigt die Genera
tionen und Generationen von Grundeigentümern und Bauern, die mit ihrer tag-
täglichen Arbeit m den m a r eite, den Feuchtwiesen vor allem in der Poebene, ein
außergewöhnliches Beispiel für ein Gleichgewicht zwischen Mensch, Erde und
Wasser geschaffen haben. Der Wert dieser Feuchtwiesen hing davon ab, daß im
mer ein bestimmter Wasserstand gehalten wurde, der genau kontrolliert und regu
liert werden mußte. Die richtige Behandlung der rn ar c it e erlaubte beträchtliche
Produktionszuwächse beim Anbau von Futterpflanzen. Einer der wichtigsten Er
forscher der Geschichte der italienischen Landwirtschaft schreibt dazu: „Einer
größeren Vergewaltigung der natürlichen O rdnung steht ein größerer Aufwand
an Technik und Überwachung gegenüber, damit die N utzun g dauerhaft die ge
wünschten Ergebnisse bringt.“7 Ein ähnlich aussagekräftiges Beispiel bieten der
Reis- und der Weinanbau8. Das andere Extrem bildet das Verhalten der meisten
Großgrundbesitzer Süditaliens, die mit ihrer ,Plünderermentalität' zur Steigerung
ihrer Einkünfte den Getreideanbau auch auf marginale Böden ausdehnten, damit
stark zur Verschlechterung des hydrogeologisehen Gleichgewichts vieler A pen
ningegenden beitrugen und nachhaltige ökologische Schäden verursachten9. Zu
dieser A usbeutung trug in großem Maße auch die bäuerliche Bevölkerung des Sü-
dens bei, die nahe am Existenzminimum lebte. Gegen diese machtvollen ö kono
mischen Dynamiken konnten die Verfechter landwirtschaftlicher Verbesserungen
unter den Bourbonen des 18. Jahrhunderts trotz der Richtigkeit ihrer Vorschläge
nichts ausrichten. EbensowenigOvermochten das che Reformer,’ die sich für die Er-
haltung des Waldes emsetzten, der im „Dizionario delle at'ti e d e’ mestien“ (W ö r
terbuch der H andw erke und Berufe) als „das wertvollste und notwendigste Gut
für die Bedürfnisse der Menschheit“ bezeichnet w u rd e 10.
Nach der Einigung Italiens breitete sieh diese ,Plünclerermentalität<gegenüber
der natürlichen U m w elt unweigerlich weiter aus, weil sich im Zuge der Einigung
ein gesellschaftliches Bündnis zwischen der Bourgeoisie des Nordens und den
führenden Gesellschaftsschichten des Südens gebildet hatte. Unzweifelhaft teilte
ein Großteil der neuen nationalen Führungsschicht in Anlehnung an humanisti
sche und damit städtische Vorstellungen die Gedanken des „idealen Schönen“ und
des „moralischen Schönen“, die man in einer - offensichtlich idealisierten - bäu
erlichen Welt teilweise verwirklicht sah. Die Liberalen im neuen Nationalstaat
waren stark geprägt von der „Verherrlichung der Landwirtschaft als moralischer
Erzieherin, der Erde als Mutter familiärer und bürgerlicher Tugenden“J!. In dieser
Sicht war der N iedergang von Mensch und N atur eine Folge der industriellen
Entwicklung und der Massengesellschaft. Doch diese Sicht erfaßte kaum die Rea
lität und w ar zumindest unter zwei Gesichtspunkten zutiefst ideologisch: Zum
einen gab es die industrielle Entwicklung, die der Vordenker des aristokratischen
toskanischen „Ruralismus“, Gino Capponi, und andere fürchteten, fast nicht und
war zudem auf ein kleines Gebiet im N orden Italiens beschränkt. Zum anderen
entsprach das idyllische und harmonische Bild der Beziehung zwischen ländlicher
Bevölkerung und Land in k e i n e r W e i s e der Wirklichkeit. Die Untersuchungs
kommission unter Stefano Jacini zur Lage der bäuerlichen Bevölkerung hat
ebenso wie die ersten Untersuchungskommissionen zur „Süditalienfrage“ unter
Leopoldo Franehetti und Sidney Sonnino am Ende des 19. Jahrhunderts die ge
waltigen sozialen Widersprüche, die A rm ut und die harte landwirtschaftliche A r
beit bloßgelegt und d i e Vielfalt der sozialen und menschlichen Landschaft, die
„hundert Gesichter der Landwirtschaft Italiens“, gezeigt12.
Dieses Klischee sollte lange bestehen bleiben. Dazu schreibt M ario Isnenghi:
„Jedesmal wenn die Geschichte Italiens wieder neu beginnt, nach der Einigung,
nach 1918 und nach 1945, entdeckt man die bäuerliche Welt, ihre Distanz, ihre
Fremdheit, aber auch die fundamentalen Wertvorstellungen, die ihr innewohnten,
man sieht in ihr zugleich eine Bremse und eine Antriebskraft für die Revolution
10 B. V ecchio, II bosco negli scrittori italiani del Settecento e dell’etä napoiconica ( Turin
1974) 58.
11 F. C h u b o d , Storia della politica estera italiana da! 1870 al 1896 (Bari 1976)413.
12 S. J a c i n i , Relazione finale (Atti della Giunta per l’Inchicsta agraria e sulle condiziom della
classe agricola, Bd. 15, Fl. 1; Rom 1884). Dieser Text wird bis heute immer wieder nachge
druckt: I risultati dell’inchiesta agraria (Turin 1976). Aut Jacini fußt die noch immer lesens
werte Darstellung von K. Th. E h e b e r g , Agrarische Zustande in Italien (Leipzig 1886).
Der U m g a n g mit Landschaft und U m w eit 43
und eine Gewähr für Erneuerung m der B ew ahrung.“ 13 Diese Tradition fand vor
allem in die f ür das große Publikum geschriebene populäre Literatur Eingang. Ein
besonders eklatantes Beispiel dafür ist der 1873 erschienene Roman G i a n n e t t o
von Luigi A. Parravictm, der bis zum Ersten Weltkrieg nicht weniger als 69 Auf
lagen erlebte. Parravicmi betonte ähnlich anderen Erfolgsautoren wie Cesare
Cantü und Giovanni Prati die „wohltuende Abgeschiedenheit der ländlichen
Wett”, weil sie für aufrührerische oder gar revolutionäre Elemente unempfänglich
sei14. Diese bäuerliche Welt blieb jedoch der städtischen immer untergeordnet.
Der Romantizismus eines Niccolo Tommaseo oder Giuseppe Pitre, des Begrün
ders der italienischen Kulturanthropologie, hat sich dieser abstrakten Ideale um
fassend bedient, auch wenn es Ausnahmen gibt wie beispielsweise im Verismus
Giovanni Vergas, bei dem die inneren Widersprüche und das Elend des Volkes z u
tage treten, Vor allem aber für den Katholizismus, der im kulturellen [.eben des
geeinten Italien lange m die Rolle einer Minderheit und einer „minderen“ Kultur
gedrängt war, bildeten die Ideale des Ruralismus und der Sehnsucht nach dieser
- angeblich - guten verlorenen Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg ein Leitmotiv.
Isnenghi stellt - in einem gewaltigen Zeitsprung - eine Verbindung zwischen die
sem katholischen Rurahsmus und dem M ythos vom „Bauern als Soldat“ her, wie
er besonders im Ersten W eltkrieg gepflegt w u r d e 1-.
L’ M. h n e n g h i , [1 ruralismo nella cultura italiana, in: P. B e-v ilaa ju a (Hrsg.), Storia dell’agri-
coltura italiana, Bd. 2., Mercato e istituziom (Venedig 1991) 877. Isnenghis Aufsatz gehört zu
den sehr wenigen tiefergehenden Analysen über rurahstische Elemente in der literarischen
Kultur Italiens. Vgl auch: /i. A so r R o s a , Scrittori e popolo (Rom 1960).
H Ebd. 880.
13 Ebd. 894: „Es reicht, wenn die Soldaten resignieren und gehorchen, weil sie den Krieg als
eine Naturkatastrophe hinnehmen.“ Reste dieses Mythos finden sich auch im Zweiten Welt
krieg m der Eülle der Literatur und der Erinnerungen der Alpini (Gebirgsjäger) in Grie
chenland und Russland von G. ßeclesc/n, Centomila gavette cli ghiaccio (Mailand ‘' -1994) bis
R i g o m S t e r n , II sergente nella neve (zuletzt Turin 2001). Die A lpini werden darin als M uster
beispiel einer engen Beziehung von Mensch und Natur dargestellt.
16 R. R o m e o , La Germania e la vita intellettuale italiana d a ü ’unitä a 11a prima guerra mon
diale, in: d e n . , Mornenti e problem! dl storia contemporanea (Assisi, Roma 1971) 153..(84.
44 G ustavo C o rn i
politischen Bündnis stehen und aut hunderterlei Weise in der Industrie und im
Austausch von Waren verbunden sind, sind nie über das Oberflächliche hinausge
kommen, und vielleicht ist es nicht einmal übertrieben zu behaupten, daß wir das
stärkste Volk des zeitgenössischen Europa weder besser noch schlechter kennen
als Tacitus die Abköm m linge von Ariovist und A rm im us.“ 17 Einer der Aspekte,
die die italienischen Reisenden am meisten beeindruckte, war eben die „unaus
löschliche Liebe" der Deutschen zu einer Natur, die sie keineswegs großzügig be
dacht hatte: „Vor allem der Wald läßt mit dem Rauschen seiner Blätter ihr H erz
höher schlagen“, schreibt der bereits zitierte Reisende18.
Ebenso dauerhaft, wie sich für Italien das Bild des Gartens verfestigt hatte, in
dem der Mensch mit seiner Arbeit ein inniges Verhältnis mit der N atur eingeht,
hielt sich innerhalb und außerhalb Deutschlands das v o n T a a u i s geprägte Stereo
typ der Deutschen als eines wilden, groben und naiven Volkes, das in enger Ver
bindung zu einer unberührten N atur lebt. Man braucht nur daran zu denken, w el
che Rolle der Wald in den Märchen spielt, die die Gebrüder Grim m in einer
umfassenden kulturanthropologischen Arbeit gesammelt und mit denen sie die
Bildung der Deutschen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts grundlegend beeinflußt
h ab en 19. Als weiteres Beispiel sei daran erinnert, wie Goethe, der das deutsche
Geistesleben seit dem 19. Jahrhundert am nachhaltigsten geprägt hat, den Respekt
des Menschen vor der natürlichen U mwelt als Basis für das Gleichgewicht z w i
schen Mensch und N atur auffaßt. Ich möchte noch eine natürliche Umgebung in
Betracht ziehen, die seit Petrarcas Ersteigung des Mont Ventoux in der euro
päischen Kultur immer große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: die Berge
und ganz besonders die unwirtlichen Alpen. Mit der Ausnahme Hegels, der sie
langweilig und nicht zu tiefen Gedanken anregend fand, hat eine lange Reihe von
d e u t s c h e n Denkern, angefangen bei Goethe über Haller und Hölderlin bis N ietz
sche, die Alpen bereist und nach dem „Erhabenen“ gesucht, das m der zunehm en
den Verstädterung und Industrialisierung immer schwieriger z u finden war20. Zu
dieser das ganze 19. Jahrhundert andauernden Begeisterung für die Alpen läßt sich
zwar in der angelsächsischen Kultur eine Parallele finden, nicht aber in Italien.
Eine Ausnahme bildet das Trentino, wo Cesare Battisti, ohne die zugrundeliegen
den nationalistischen Motive zu verschweigen, zu einem der Vorreiter der Ent
17 C Visentin, Nel paese clelie sclve c eieile idee. Viaggiatori italiam in Germania 1866-1914
(Mailand 1994) 108.
18 Zit. ebd. 81.
19 J a c o b it. W ilh elm G r i m m , Altdeutsche Wälder (Frankfurt a.M. (813). Dazu J a c k Z ip e s ,
The Enchanted Forest of the Brothers Grimm. N ew Modes of Approaching the Grim ms’
Fairy dales, in: Germanic Review 52 (1987) 66-74.
Vgl.: P. G i a c o m o n i , II fascino del sclvaggio. L’invenzionc estetica delle Alpi in epoca
romantics e oltre, in: D. Frigo, P. G i a c o m o n i , H. .M üller-Frank (Hrsg.), Pensare la natura. Dal
Romanticismo all’ecologia (Mailand 1998) 245-260. Ferner P e tra R a y m o n d , Von der Land
schaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache. Die Ronvannsierung der Alpen in den Reiseschil-
derungen und die Literarisierung des Gebirges in der Erzählprosa der Goethezeit (Tübingen
1993) sowie P. G i a c o m o n i , II laboratorio dclla natura. Paesaggio montano e sublime naturale
in eta moderna (Mailand 2001).
Der U m g a n g mit Landschaft und U m w elt 45
deckung der Alpen und des Alpinismus wurde. Sicher nicht zufällig war er ein
Geograph nicht der französischen, sondern der deutschen Schule21.
Obwohl sich in Deutschland sett Beginn des 19, Jahrhunderts beispielsweise
mit der Romantik die gleichen geistigen Strömungen entfalten wie in Italien, ent
wickelt sich das Verhältnis zur natürlichen U m w elt in ganz unterschiedliche Rich
tungen. An Stelle der ästhetisierenden, stark inteliektualisierenden Auffassung der
Natur in Italien am Ende des 19. Jahrhunderts wird die Natur in Deutschland als
Teil der deutschen Kultur gesehen, als Grundelement der nationalen Identität
Deutschlands, die sich zur gleichen Zeit wie die italienische herausbildete. Diese
Identität verdichtete sich um che Kategorie ,Volk‘ , die seit dem Ende des 19. Jah r
hunderts immer mehr rassistische Bedeutung erhielt. In diesem Zusammenhang
wurde der Begriff Kultur dem der Zivilisation entgegengestellt, welch letztere
man als mechanistisch, ihrem Wesen nach ,uncleutsch‘ und Ursache von Zerrüt
tung verstand“ .
Um die tieferhegenden Ursachen für diese Unterschiede zu erfassen, mul!> man
sich einige strukturelle Daten ins Gedächtnis rufen. Seit der Mitte des 19. Ja h r
hunderts erlebte che Gesellschaft in Deutschland einen tiefgreifenden Motlernisie-
rungs- und Iransformationsprozeß. Innerhalb weniger Jahrezehnte wurde das
Kaiserreich zur stärksten Industriemacht des Kontinents, die die Vorherrschaft
Großbritanniens in Frage stellte. Diese Veränderungen waren mit einer massiven
Verstädterung und inneren Migration verbunden. Im Jahre 1870 lebten erst zwei
Millionen Menschen oder 4,8% der Gesamtbevölkerung in Großstädten mit mehr
als 200000 Einwohnern, während 26 Millionen Menschen oder 63,9% in ländli
chen Gemeinden wohnten. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs lebten dagegen
21% der Bevölkerung in Großstädten, während der Anteil der ländlichen Bevöl
kerung drastisch auf 40% gesunken war-3.
Das Stadtgebiet von Berlin mit seinen drei M illionen Einwohnern umfaßte um
1900 147 Quadratkilometer, Diese wenigen Daten dürften genügen, um den sehr
beschleunigten Veränderungsprozeß der Wirtschaft, der Wohnverhältnisse, der
Gesellschaft und Kultur zu verdeutlichen. Die italienische Industrie war zu die
sem Zeitpunkt auf wenige kleine Inseln im Norden beschränkt, der Urbanisa
tionsprozeß hatte sich gegenüber den seit Jahrhunderten entwickelten Verhältnis
sen nicht wesentlich beschleunigt, und eine Mehrzahl von 60-70% der Bevölke
rung lebte weiterhin in kleinen ländlichen Gemeinden, beschäftigt im primären
Sektor oder in eng damit verbundenen Berulszweigen.
V. Cali, Battisti geograto, m: V. Cali, Patriot! senza patria. I democratic' treiitini tra Otto c
Novecento (Treuto 2003) 97 ft.
- ’ Uber das Gegensatzpaar Kultur/Zivilisation erscheinen mit die Betrachtungen von
Adorno und Horkheimer nach wie vor aktuell: T. W' A d o r n o , M. H o r k h e i m e r , Lezioni di
sociologia (Turin 1966; original Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 4).
In diesen Jahrzehnten verließen la u se n d e von Italienern unter dem Druck der schweren
Agrarkrise die Halbinsel in Richtung Nordamerika. Vgl. ,4. l.a z z a rin i, Campagne venete cd
emigrazione di massa 1866-1900 (Vicenza 1981).
46 G ustavo C o n n
Waren also die Furcht vor clem Einbruch der Massengesellschaft in Italien bloße
intellektuelle Gedankenspiele, so stand das Problem in Deutschland real auf der
Tagesordnung. Weite Kreise des deutschen Kultur- und Gesellschaftslebens rea
gierten angesichts dieser Bedrohung und dieser radikalen Veränderungen damit,
daß sic sich an die Natur klammerten und ganz besonders an die Landwirtschaft
als eine traditionelle, eng an die Natur gebundene menschliche 'Tätigkeit. Wir dü r
fen nicht vergessen, daß hinter den Reaktionen, mit denen wir uns zu beschäftigen
haben, sehr starke gesellschaftspolitische Motive standen: Vor allem die ostelbi-
schen Großgrundbesitzer mußten befürchten, ihre traditionelle gesellschaftliche
und politische Hegemonie nicht nur über die bäuerliche Bevölkerung zu verlie
ren, sondern auch ganz allgemein über das ganze politische und gesellschaftliche
System des 1871 gegründeten Reiches24. Im letzten Dritte! des 19, Jahrhunderts
und bis 1914 treffen w ir in Deutschland auf eine Reihe kultureller und gesell
schaftlicher Phänomene, die in Italien kein Äquivalent haben. Das Schlagwort von
der Landflucht, das von Intellektuellen und Politikern wie ein drohendes Ge
spenst an die Wand gemalt wurde, brachte die Beunruhigung über die massive
Wanderungsbewegung aus den ländlich geprägten, relativ rückständigen Gebieten
des Ostens, in denen der Großgrundbesitz, der J u n k e r “ dominierte, nach Westen
zum Ausdruck. Man benutzte dieses Schlagwort zur Rechtfertigung verschie
dener Versuche, die Tendenz um zukehren oder w enigstens ihre negativen A u s
wirkungen abzuschwächen. Dazu gehört die Bodenreform bewegung23, mit der
man den Staat dazu bringen wollte, Druck auf die G roßgrundbesitzer auszuüben,
einen Teil ihres Bodens für die Verwirklichung einer umfangreichen Ansiede
lungspolitik abzugeben. Auf diese Weise hoffte man, viele der jungen Menschen,
die weggehen wollten, an die Scholle zu binden, weil sich bessere Lebens- und A r
beitsperspektiven boten. Zur Bodenreform gesellte sich - teilweise - das Konzept
der Siedlung, d. h. der Schaffung einer Vielzahl kleiner und mittlerer Höfe, um den
Anteil der deutschen Bevölkerung vor allem m den Ostprovinzen zu stärken26.
ln kleinerem Maßstab verbreitete sich m den urbanisierten Gebieten che Schre
bergartenbewegung vor allem am Rande der größeren deutschen Städte, wo man
sie teilweise auch heute noch selten kann. Daß die zum Teil erst vor kurzer Zeit
Zugezogenen mit der Erde verbunden blieben und ein Stück Land hatten, das sie
bestellen konnten, war iiir viele Stadtverwaltungen, aber auch für Vertreter der In
dustrie ein Anliegen. Als einer der zahlreichen in diesem Zeitraum entstandenen
Verbände setzte sich der „Verein zur Beförderung des Gartenbaus in den p reußi
schen Staaten“ m seinem Statut das Ziel, „die Menschen durch neue Bepflanzun
gen in der Landschalt wieder heimisch zu machen“ . Es entstanden deshalb neue
Formen der Stadtplanung, mit denen inan - und an vorderster Front die Industrie
- Grünflächen zu schaffen suchte, um, wie beispielsweise m der Berl iner Siemens
stadt, jeder einzelnen Familie einen eigenen Garten zu erm öglichen. Im G egensatz
dazu bemühten sich damals in Italien, wo die Industrialisierung nur mühsam vor
ankam, einsichtige Unternehmer wie Alessandro Rossi, einer der bedeutendsten
Textihndustriellen Venetiens, die Fabriken auf dem Land anzusiedeln--''. Die Stra
tegie solcher Unternehm er bestand darin, die Fabrik ohne Bruch in die bäuerliche
Welt einzufügen und einen kontinuierlichen Ü bergang zu schaffen, während im
Deutschen Reich der Bruch längst vollzogen war. Deshalb versuchte man in
Deutschland, Werte und Elemente des bäuerlichen Lebens als Surrogate in der
städtischen Umgebung w ie d e r z u b e 1e b e n .
U m die Jahrhundertwende hatte im Kaiserreich das literarische Genre des B au
ernromans großen Erfolg, das die Vergangenheit, in der das Landvolk noch M it
telpunkt des deutschen Lebens gewesen war, nostalgisch verklärte-8. N eben der
Nostalgie hatte diese literarische Richtung ohne Zweifel auch einen pessimisti
schen Grundton, denn sie ließ m naher Zukunft den Triumph des Materialismus
und des ,vcrw estlichten‘ Maschinenwesens befürchten, die als weit entfernt von
den wahren Werten des Volkes angesehen w urden-9. Zu den wichtigsten Vertre
tern dieser Richtung zählen Otto Ammon, Georg Hansen, Julius Langbehn und
in der Zeit nach dem Firsten Weltkrieg Hans Grimm, A utor des erfolgreichen,
1926 erschienen Romans „Volk ohne Raum ", der das Thema der Siedlungspolitik
zur Wiederbevölkerung des flachen Landes vor allem in den von der .slawischen
Flut* bedrohten Ostgebieten auigritf. Eines der einflußreichsten Werke in dieser
Richtung ist ohne Zweifel die vierbändige, 185 1-69 erschienene „Naturgeschichte
des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik“ von Wilhelm
Heinrich Riehl, der mit der A utorität des Wissenschaftlers betont, das deutsche
Volk müsse unbedingt in der N atur und der Landwirtschaft verwurzelt bleiben30.
Zitieren möchte ich in diesem Zusammenhang auch Adolf Bartels’ „Der Bauer in
der deutschen Vergangenheit“ aus dem Jahr 1900, in dem der „ewige Bauer“ als
Sym bol für Menschlichkeit clem „industriellen R adikalism us“, dem Hauptfeind
des deutschen Volkes, entgegengestellt wird-’ 1,
.Eine weitere, ausschließlich „deutsche“ Ausdrucksform dieser scharfen R eak
tion auf die M odernisierung ist seit Ende des 19, Jahrhunderts die Verbreitung
einer Reihe von Bewegungen unter den Jugendlichen, die unter dem Namen „Ju
gendbewegung“ zusam m engefaßt werden. Diese Jugendgruppen hatten zum 'feil
sehr unterschiedliche und in einigen Fällen stark religiös geprägte ideologische
Grundlagen, gemeinsam war ihnen jedoch die Kritik an der Moderne, an der U r
banisierung, an der Industriegeseiischaft, und dem setzten sie die Aufwertung der
tragenden Werte der H eim at entgegen. Eine der dynamischsten und interessante
sten dieser Bewegungen waren die „Wandervögel“ . Den Mittelpunkt ihrer Aktivi
täten bildete die „Fahrt“, die in kleinen Gruppen zu Fuß unternommen wurde,
um sich in einen Winkel der N atur Deutschlands zu versenken und ihn aus näch
ster Nähe kennenzulernen. Diese Ausflüge standen im Zeichen des Protests und
der Rebellion gegen die (Zivilisation“ und dienten der Suche nach dem N atü rli
chen, Unverfälschten32. Quantitativ gesehen waren diese Gruppen ohne Zweifel
von eher bescheidenen Ausm aßen, sie erfaßten aber motivierte und selbstbewußte
Jugendliche, die später zu den Eliten des Landes gehören sollten. Auf dem ersten
Jugendtag im Jahre 1913 auf dem Hohen M eißner bedauerte Ludwig Klages aus
drücklich: „Zerrissen ist der Zusammenhang zwischen Mensch und Erde, ver
nichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft“33, Der
Vollständigkeit halber möchte ich an die Verbreitung von Gruppen erinnern, d e
nen es in unterschiedlicher Weise immer um die Wiederaneignung des eigenen
Körpers und eine harmonische Beziehung zur Natur ging. Das Spektrum reichte
von der Lebensrcform bew egung über die Freikörperkultur bis zu den Naturheil-
kundlern: „Um 1900 entstanden Hunderte solcher Kolonien, Siedlungen, Vereine,
Orden und Bünde.“34
Die vielleicht extremste Erscheinungsform dieser Reaktion auf die stattfinden
den beschleunigten gesellschaftlichen Veränderungen war die Auseinanderset
zung um die gegensätzlichen Begriffe „Agrarstaat/Industriestaat“ um die Jah r
hundertwende. Diese Debatte spielte sich auf höchstem intellektuellen Niveau ab
und bezog die bedeutendsten deutschen Sozialwissenschaftler von Max Weber bis
Lujo Brentano ein. Es ging um die Frage, ob eine Umkehr sinnvoll und/oder reali
sierbar sei, und von verschiedenen Diskussionsteilnehmern wurde vorgeschlagen,
das Rad der Geschichte zurückzudrehen und den drittwichtigsten Industriestaat
" Vgl. die Monographie von K. D. Bark in, The C ontroversy over German Industrialization
1890-1902 (Chicago, London 1970).
Zit. n. B e r g m a n n , Agrarromantik 122.
J/ Vgl. die neu erschienene Monographie. W. A. R o llin s, A. Greener Vision of Home: C u ltu
ral Polities and Environmental Reform in the German Heimatschutz Movement 1904-1918
(Ann Arbor 1997).
38 vg|. d ie grundlegende Monographie: A. L ees, Cities Perceived. Urban Society in Euro
pean and American Thought 1820-1940 (New York 19S5). Auch unter diesem Aspekt gibt es
wohl kaum einen schärferen Gegensatz als den zur städtischen Kultur Italiens auch zu Be
ginn der Industrialisierung. Neuerdings C. Z i m m e r m a n n , Die Zeit der Metropolen. Urbani
sierung und Großstadtcntwieklung (Frankfurt a.M. 1996).
50 G ustavo C o n n
„die Summe aller freundlichen und gegensätzlichen Beziehungen eines Tiers oder
einer Pflanze mit seiner organischen und anorganischen Umgebung, darunter
auch die anderen Lebewesen. (...) Ökologie ist das Studium der Ö konomie und
der Lebensweise der animalischen O rganism en.“-’9 Haeckel machte keinerlei
grundsätzlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier40 und hielt es für wesent
lich, aus der wissenschaftlichen Beobachtung der natürlichen Welt Lehren zu zie
hen, um daraus sozialpolitische M aßnahmen abzu letten41. Nach Haeckels A n
schauung ist die Welt eine untrennbare Ltnheit, und daher muß die Ö kologie eine
radikale normative Philosophie sein, die keinerlei Teillösungen akzeptiert. Später
gründete Haeckel den Mon is Le nb u nc l, der in seiner pantheistischen und antichrist
lichen Lehre selber Züge einer Religionsbewegung annahm, wie sie anfangs in den
Analysen des Biologen nicht vorhanden gewesen waren.
Eine weitere Wurzel der Ökologie, zu der deutsche Intellektuelle einen w ichti
gen Beitrag leisteten, ist die sogenannte energetische Ökonomie. Ausgehend von
der Theorie der ökonomischen Kreisläufe Johann von Thünens, eines W irt
schaftswissenschaftlers des frühen 19. Jahrhunderts, entwarf sie das Bild eines tn
sich geschlossenen Wirtschaftssystems, das sich nicht unendlich ausdehnen kann.
Die Einsparung der nicht unendlich erneuerbaren Ressourcen und die zentrale
Rolle der Landwirtschatt bis zur Selbstversorgung mit Lebensmitteln sind zwei
der theoretischen Implikationen dieses Zweigs der Ökonomie, zu der Wilhelm
Ostwald (1911) und Ernst Fischer bedeutende Beiträge geliefert haben42. Auch
hervorragende deutsche Geographen wie Ritter und Ratzel sahen m dem Verhält
nis des Menschen zu seiner U mwelt eines der Grundprobleme des menschlichen
Lebens. A ngesichts begrenzter Ressourcen müsse demnach der Mensch die eigene
ökonomische und soziale Entwicklung unter Kontrolle halten, um nicht die
Grenzen der Entropie zu sprengen.
Diese stark mit utopischen Elementen befrachteten Theorien, die unter ande
rem in die ökologische Bewegung der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jah r
hunderts eingeflossen sind, enthielten optimistische und pessimistische Ansätze
zugleich. Wiederum ist festzustellen, daß die ökologische B ewegung unserer Tage
keinerlei kulturelle Wurzeln in Italien hat.
Diese weltanschaulichen Entwicklungslinien und Ansätze von Aktionen w u r
den durch den Ersten Weltkrieg nur kurzfristig unterbrochen. In der unmittelba
ren Nachkriegszeit nahmen sie nicht weniger virulente Formen an und bezogen
eine wachsende Zahl von Menschen ein. Im Jahr 1920 entstand, um nur ein
Beispiel zu nennen, unter Beteiligung von Gemeinden, Verbänden lind Indu
strieunternehmen der „Siedlungsverband R uhrkohlebezirk", der im herunter-
3. Elitärer U m w eltsch u tz
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich die Idee des U m w elt
schutzes als A ntw ort aut die mehr oder weniger schnellen Industrialisierungspro
zesse und als Element eines wachsenden Nationalismus in allen wichtigen Indu
strieländern. Diese Zeit bezeichnen die Historiker der U m w eltbew egung als die
Phase des „elitären U m weltschutzes“, da kleine Gruppen der gesellschaftlichen
Elite die Bildung von Verbänden und gesetzliche Maßnahmen m dieser Richtung
vorantrieben. Erste Schritte wurden in den Vereinigten Staaten und in England
unternommen. Angeregt besonders von Präsident Theodor Roosevelt, entstand in
den USA ein immer weitläufigeres N etz von N ationalparks als wichtiger Faktor
der Bestätigung der „Frontier“-Ideologie zur Legitimation der besonderen Rolle
Amerikas44. Seit der G ründung des „National Trust for Places of Historie Interest
or National B eauty“ im Jahre 1894 entwickelte sich auch in Großbritannien eine
lebhafte Bewegung zum Natur- und Denkmalschutz in einer großen Zahl von
Initiativen auf lokaler Ebene. In diesem Zusammenhang spielten die Theorien von
John Ruskin und W illiam Morris über die Verflechtung von Natur, Geschichte
und Nation eine wichtige Rolle4-. Bereits im Jahre 1853 war der Wald von Fon
tainebleau (in der Nähe von Paris) aus ästhetischen und sozialen Gründen aut
Initiative von Intellektuellen, besonders Malern, zum Nationalpark erklärt w o r
den.
Auch Italien bewegte sich unter dem D ruck kleiner Gruppen innerhalb der
liberalen Führungselite in diese Richtung. Garibaldi gehörte 1871 zu denjenigen,
die die Einrichtung des En te N a z i o n a l e p e r la P r o t e z i o n e A n i m a l i vorantrieben,
und der piemontesische Politiker Quintino Sei la, der in den sechziger Jahren eine
führende Rolle in der Regierung spielte, gehörte im Jahre 1863 zu den Gründern
des italienischen Alpenvereins C l u b Al pi no I t a l u m o . Der bekannte Naturforscher
Alessandro Ghigi aus Bologna gründete 1898 den Naturschutzbund P r o M o n t i -
bus e t Sy lv is , der allerdings nur kurze Zeit bestand. Dauerhafter und wichtiger
waren die Initiativen von Spitzenvertretern der Bourgeosie des Nordens, die 1894
den Touring Club Ciclistico Itahano, seit 1904 Touring Club Italiano (TCI), grün
deten. Dieser bisher wenig untersuchte Verein spielte jedoch unzweifelhaft eine
wichtige Rolle für das Entstehen einer nationalen Bourgeoisie, die für die Ideale
der Kultur, des Reisens und der Kenntnis Italiens gewonnen wurde46. Die Statu
ten formulierten als eine der Aufgaben des neuen Vereins: „Bildung eines nationa
len Bewußtseins von der Pflicht, die natürlichen Elemente der italienischen L and
schaft, die natürlichen, historischen und volkstümlichen Elemente jedes D en k
mals zu kennen“47.
Die Initiativen der Natur- und Denkmalsschützer trafen allerdings auf den W i
derstand eines großen Teils der Liberalen, die in Treue zu ihrem Weltbild daran
festhielten, daß der Staat in keiner Weise in den U m gang mit den künstlerischen,
historischen und natürlichen Ressourcen eingreifen dürfe. Diese H altung setzte
sich im Forstgesetz von 1877 durch, das an die freihändlerische Tradition der tos
kanischen Gesetzgebung anknüpfte und deshalb den Waldbesitzern großen
JLindlungsspielraum einräumte. Dem Gesetz lag der Gedanke zugrunde, der
Wald sei ein „notwendiges Ü b el"48.
Daß der Staat stets nur wegschaute, w urde aber allmählich in Frage gestellt, und
unter den führenden Eliten setzte sich das Bewußtsein durch, daß das historische,
künstlerische und natürliche Erbe des Landes schutzbedürftig sei. Man folgte
auch in diesem Fall dem Vorbild Frankreichs, dessen Touring Club und andere
private Organisationen seit langem die N otwendigkeit von Schutzgcsetzen propa
giert hatten. Der 1906 endgültig verabschiedete Gesetzestext umfaßte neben den
historisch-künstlerischen auch Denkmäler „der Natur und der volkstümlichen
Tradition“, die als „künstlerisch und malerisch" von Interesse für die A llgem ein
heit seien. In Italien hatte die Diskussion schon 1860 begonnen, und verschieden
ste Vorschläge waren vorgelegt worden, verloren sich aber in den Mäandern der
parlamentarischen Krisen und der allgemeinen Langsamkeit der parlamentari
schen Arbeit. Die Vorlagen, die von Untersuchungen und Berichten begleitet w a
ren, ließen aber einen allgemeinen Konsens heranreifen, der schließlich zur Verab
schiedung des Gesetzes im Jahre 1902 führte49, das sich jedoch aut den Schutz der
46 V gl. d ie ric h tu n g sw eisen d e S tu d ie: R.J. B. B osw ortb , The T o u rin g C lu b Italian o and the
N a tio n a liz a tio n of the Italian B o u rg e o isie, in: E u rop ean H is to ry Q u a rte rly 27 (1997) 371 —
410.
47 V gl. F. Ventura, A lle o rig in i d ella tu tela d elle b ellezze n atu ra li in Italia, in: Storm u rb a n a 40
(1987) 17; in i fo lgenden z itiert: Ventura, A lle o rig in i. Seit d iesem Z eitp u n k t ve rb re itete der
T C I lö b lic h e rw e ise im B ü rgertu m das B ild eines Italien „ohne P ro b lem e, vo ller to u ristisch er
A ttra k tio n e n un d w u n d e rb a re r Ö rtlic h k e ite n , [ .. . ) ein m alerisch es, d u rch g ro ß a rtig e L a n d
sch alten au sgezeich n etes L an d ", l'urri, S cm io lo g ia 160.
4S V gl. B. V ecchio, U n d o cu m en to in m ateria fo restale n e ll’ Italia d el Secon do O tto cen to :
I d ib a ttiti p arlatn e n tari 1869-18 77, in: S to ria urb an a 69 (1994) 177-204; un d: O . Gaspari,
El b osco com e a n ale n ecessarioh alb eri e uo m irii n ella m o n tagn a ita lia n a , im M e m o ria e
R icerca 1 (1998) 58.
49 E ine au sfü h rlich e N ach zeich n u n g d er p o litisch en D eb atte fin d et sieh b ei: A. Pea.no, L a di-
D e r U m g a n g mi t L a n d s c h a f t u n d U m w e l t 53
ics* del paesaggio italiano. Formazione della coseienza nazionalc, p ro p o ste di legge e conto-
sto internaxionale nel primo dccennio del Novecento, in: Storia urbana 61 (199 2) 137-168.
Ebd. 147.
31 Vgl. z. B. ü b er B rescia: G. P. Treccani, O rg a n iz z a z io n e d ella tu tela e restauro d ei ,p atri m o
n um en t!' aU’in d o m an i dclI’U n itä d ’ Italia. II caso d ella p ro v in e ia di Brescia (1862-1892), in:
Storia urb an a 40 (1987) 4 3 -7 0 .
32 Ventura, A lle o rig in i 13.
53 Ebd. 28.
54 Gustavo Corn!
Zwischen den beiden Weltkriegen scheinen die bisher in den beiden Ländern ver
folgten Entwucklungslinien zusammenzulaufen, als zuerst in Italien und zehn
Jahre später in Deutschland zwei Bewegungen der Rechten an die Macht kamen,
denen eine das Bauerntum stark verherrlichende Ideologie gemeinsam war. Eine
enge Parallele zwischen Mussolinis feste de! grano (Getreidefesten) und seiner
Verherrlichung bäuerlicher lu g e n d e n - nicht zuletzt beim Kinderkriegen - und
dem „Erntedankfest“, das jedes Jahr, manchmal sogar im Beisein Hitlers, auf dem
Bückeberg gefeiert wurde, zwischen den battaglie del grano (Getreideschlachten)
>' Ebd. 26 f.
^ Wey, Umweltpolitik 132ff.
D er U m g a n g m it L an d sch aft u n d U m w e lt 55
und den „Erzeugungsschlachten“, ist kaum von der Hand zu weisen, auch wenn
man sich H itler kaum in Hem dsärm eln oder im Unterhemd beim Dreschen vor
stellen kann. Es gibt aber noch weitere Parallelen. Der italienische Faschismus
entstand in den Jahren 1920/21 in der Poebene. Trotz seines städtischen U r
sprungs erzielte er seine ersten Erfolge auf dem Land bei der U nterdrückung der
Forderungen der Tagelöhner und landlosen Bauern in den Wirren der N ach
kriegszeit. Bald aber gewann der Faschismus auch in den Kreisen des bäuerlichen
Mittelstands Anhänger, die jede allzu radikale soziale Bewegung bis dahin mit
Mißtrauen betrachtet hatten. Auch der Nationalsozialismus in Deutschland
konnte in der Wirtschaftskrise 1929 und in der daraus resultierenden politischen
Systemkrise in allen Bereichen der Bevölkerung A nhänger gewinnen; ohne Z w ei
fel aber erzielte er die größten Erfolge vor allem auf dem Land, und zw ar unter
den protestantischen Bauern.
An dieser Stelle zeigen sich jedoch schon die ersten Unterschiede. Der Kern der
Botschaft, die M ussolini in N ord- und Mittelitalien auf dem Land verkündete,
zielte auf Wiederherstellung der O rdnung und Ausschaltung jeder revolutionären
Bedrohung. Gewiß, man versprach ganz allgemein das Land denjenigen, die es be
arbeiteten und es fruchtbar zu machen verstanden, aber das anfängliche Verspre
chen von Landzuteilungen verschwand, sobald das Bündnis mit den kapitalisti
schen Grundbesitzern der Poebene geschmiedet war. Die G rundzüge des faschi
stischen Ruralism us zielten dagegen erstens auf demographisches Wachstum,
zweitens auf das mögliche Potential für eine Kolonialpolitik, die die Massen der
landhungrigen Bauern zufrieden stellen sollte, und drittens auf das Erreichen der
Autarkie bei der Versorgung mit Lebensmitteln56. Im H inblick auf den ersten
Punkt verfolgte man eine geburtenfreundliche Politik und stoppte die interne M i
gration. Der zweite Punkt w urde besonders nach der Eroberung Äthiopiens
1935/36 aktuell, und für das dritte Ziel setzte das Regim e seinen Propagandaappa
rat im Rahmen der „Getreideschlachten“ in Gang. Die bäuerliche Bevölkerung
wurde genauso w ie in der Tradition des liberalen Italien als Flort familiärer Tugen
den, als Faktor von Stabilität und Konsens für die M achthaber gesehen, die ange
sichts mangelnder Ressourcen Tugenden w ie Genügsamkeit mit großem propa
gandistischen A ufw and verherrlichten57. Emblematisch ist in dieser Hinsicht fol
gender Text einer Tageszeitung: „Der Landw irt ist von N atu r aus diszipliniert, ein
hervorragender Soldat, ein guter Bürger und ein lautloser Steuerzahler.“58 Der
Faschismus fügte dem natürlich neue Elemente w ie die Instrumentalisierung der
traditionellen Fruchtbarkeit der Bauern hinzu, um ein demographisches Wachs
tum zu erzielen, das mit „acht M illionen Bajonetten“ die für Italien beanspruchte
Rolle einer europäischen Großmacht untermauern sollte59.
Die faschistische Ideologie des Bauerntums war deshalb „ein ideologisches
Konstrukt und diente zur Bündelung verschiedener gesellschaftspolitischer W ert
vorstellungen“60. Sie übernahm viele Elemente der Ideologie des Bauerntums aus
dem liberalen Italien, aber diente auch als Brücke zum Katholizismus, dessen U n
terstützung Mussolini von der Spitze bis zur Basis dringend benötigte.
U m demgegenüber die Rolle des Ruralismus in Ideologie und politischer Stra
tegie des Nationalsozialismus zu verstehen, muß man vor allem seine Begrifflich-
keit in Betracht ziehen. H ier läuft alles auf das Schlagwort von „Blut und Boden“
hinaus, das eine ganze andere Bedeutung hat als die zur gleichen Zeit vom Faschis
mus verbreiteten Parolen. Die nationalsozialistische Weltanschauung wurzelte
eben in den völkischen, großstadtfeindlichen Tendenzen, die voller H aß gegen
M etropolen und Modernität, explizit rassistisch und, wie w ir gesehen haben, im
späten 19. Jahrhundert in Deutschland weit verbreitet waren. Der führende Ver
treter der „Blut und Boden“-IdeoIogie und spätere „Reichsbauernführer“ und
Landwirtschaftsminister Richard Walther Darre und seine A nhänger waren fest
davon überzeugt, daß der N iedergang des deutschen Volkes nur aufgehalten w er
den könne durch das Bauerntum als „Blutsquelle des deutschen Volkes“61. Diese
radikale, in vieler Hinsicht vage und dünkelhafte Vorstellung gehörte eigentlich in
den Rahmen einer umfassenderen Botschaft zur W iederaufwertung der bäuerli
chen Bevölkerung. U nd diese Botschaft hängt meiner Ansicht nach eng mit den
traumatischen Erfahrungen aus der beschleunigten Industrialisierung und M o d er
nisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zusammen.
Dieser mit den modernsten Mitteln der Massenkomm unikation verbreiteten
Botschaft gab ein Großteil der Bauern selbst - weniger unter den Katholiken - in
den Jahren 1930 bis 1933 in Form von Wählerstimmen ihre Zustimmung. Auch in
den folgenden Jahren unterstützen sie Flitler trotz wachsender wirtschaftlicher
Schwierigkeiten. Der anhaltende Konsens der bäuerlichen Bevölkerung, die etwa
30 Prozent der Gesamtbevölkerung umfaßte, basierte einerseits auf der Ü b erz eu
gungskraft dieser Botschaft, andererseits auf den agrarpolitischen M aßnahmen
des Nationalsozialismus wie Preisgarantie, Organisation des Binnenmarktes und
Abschottung gegen ausländische Konkurrenz und nicht zuletzt durch das gesetz
liche Verbot der Aufteilung von Bauernhöfen durch das „Reichserbhofgesetz“
vom September 193362. Gleichzeitig w urde die ganze bäuerliche Bevölkerung,
oder besser: w urden alle diejenigen, die mit der „Reichsernährung“ zu tun hatten,
59 C. I p sen , D em o grafia to ta lita ria . II p ro b lem a d ella p o p o laz io n e neU’ Italia fascista (B o lo
gn a 1997),
60 N ü tz en a d el, L an d w irtsc h a ft 49.
61 V g l. die - in ih rer A n a ly s e etw as ein se itig e - M o n o g rap h ie : A. Bramwell, R. W. D arre and
H ik e r ’s G reen P a rty (A b b o tsb ro o k 1985).
62 Ü b e r d ie A g ra rp o litik des N atio n a lso z ia lism u s: G. C o r n i, L a p o litica ag ra ria del n az io n a l-
so cialism o 19 30 -1 9 3 9 (M ila n o 1989). E ngl. Ü b ers.: H itle r and the Peasan ts (N e w Y o rk, O x
ford 1990).
D e r U m g a n g m it L a n d s c h a f t u n d U m w e l t 57
mythische Vergangenheit gewandten Blick aus ihr herauslösen, wie dies Darre
und die Ideologen des „Blut und Boden“ taten.
Innerhalb des Faschismus, der nicht weniger als der Nationalsozialismus aus
verschiedenen Fraktionen zusammengesetzt war, gab es allerdings einige G rup
pen, die eine stärkere ideologische Verherrlichung des Bauerntums vertraten, frei
lich ganz ohne rassistische Wurzeln und ohne kulturpessimistische Färbung. Ich
beziehe mich vor allem auf die Gruppe „Strapaese“, die unter dem Titel „II Selvag-
gio“ eine 1924 von Mino Maccari und anderen toskanischen Faschisten gegrün
dete Zeitschrift herausgab. Der Gegenbegriff zu dem ins Deutsche kaum über
setzbaren „strapaese“ war „stracittä“66. M it ersterem waren diejenigen kulturellen
Werte und Traditionen des ländlichen Italien mit seinen kleinen Ortschaften und
Dörfern angesprochen, das nach M einung der A nhänger dieser Bewegung den
wesentlichen Bezugspunkt für den Faschismus hätten bilden sollen, von diesem
aber verraten w orden seien. Die Vertreter von „Strapaese“, zu denen bedeutende
Intellektuelle w ie C u rzio Malaparte und Leo Longanesi gehörten, standen der
M oderne pessimistisch gegenüber, deren weitere Entwicklung ihrer M einung
nach unweigerlich zur unwiderruflichen Gefahr für die N atur und die Werte von
Ehrlichkeit und Einfachheit werden würden, die traditionell die bäuerliche Welt
charakterisiert hatten. Maccari wünschte sich in diesem Sinne eine „mehr italieni
sche und weniger deutsche oder amerikanische“ M oderne in H arm onie mit dem
„ursprünglichen italienischen Geist“, wobei in den ideologischen Äußerungen der
Gruppe ein gewisser rassistischer Unterton nicht fehlte67. Stadt oder „stracittä“
dagegen bedeutete Fabriken, Arbeiterklasse, Revolutionsgefahr und Demokratie.
Das waren für Maccari keine positiven Werte, und ihnen wollte er sich entgegen
stellen.
O bw ohl die Gruppe „Strapaese“ auf historisch-kulturellem Gebiet eine w ich
tige Rolle spielte, hatte sie keinerlei G ewicht für das Regime, sondern blieb isoliert
und verbrauchte sich in steriler Kritik am Regime. Ihr wirres politisches Konzept
konnte keinen Erfolg haben, weil das Regim e das Bündnis mit den Kräften der
Großindustrie und den Grundbesitzern unbedingt aufrecht erhalten mußte. Eine
nicht geringere Rolle spielte aber, was Zunino folgendermaßen formuliert: „Diese
Einheit zwischen Mensch und Natur, die in einen von heidnischen und u rtüm
lichen M yth en durchdrungenen M ystizism us einging, [...] w ar der geistigen Tra
dition der Italiener vollkommen fremd.“68 Es ist interessant festzuhalten, daß in
diesem Klima weitverbreiteter ideologischer Verherrlichung des Bauerntums die
wesentlichen Initiativen der beiden Regim e auf dem Gebiet von U m w elt und
Ökologie weitgehend divergierende W urzeln hatten. Dies trifft meiner Ansicht
nach weniger auf Deutschland zu, w o in den Jahren vor der Machtergreifung des
Nationalsozialismus Theorien weitverbreitet gewesen waren, die den Schutz der
66 V gl. d azu au sfü h rlic h : L. M an goni, L’in terv e n tism o ciella cu itu ra. In te llettu a li e riv iste del
fascism o (R o m , B ari 1974) 136.
67 V gl, N ütz en adel, L an d w irtsc h aft 3 9 ff.
68 Zunino, L’id c o lo g ia 273.
D er U m g a n g m it Landschaft u n d U m w e lt 59
Natur mit der Eugenik, das heißt mit der „Erbgesundheit“ der Menschheit in Ver
bindung brachten. Von der bereits 1920 gegründeten Zeitschrift „Naturschutz“
kamen nach 1933 bruchlos Vorschläge, die sich Herm ann Göring zu eigen machte,
zu dessen zahllosen Ämtern auch das des Reichsforstmeisters gehörte. Er über
trug dem Gründer der Zeitschrift, Professor Walther Schönichen, die Leitung der
1935 neu eingerichteten „Reichsstelle für N aturschutz“ und erließ im selben Jahr
ein „Reichsnaturschutzgesetz“. Das Gesetz hat insofern eine grundlegende B e
deutung, als es durch allgemeingültige Normen die bisher bestehenden Einschrän
kungen durch den - inzwischen abgeschafften - Föderalismus aufhob69. Schöni
chen bezeichnete den Naturschutz als „notwendig für die Gesunderhaltung der
deutschen Seele“. Das Gesetz definierte eine Reihe unterschiedlich geschützter
Bereiche von N aturdenkm älern über Naturschutzgebiete bis hin zum allgemeinen
Landschaftsschutz und gab dem Staat das Recht, diese Schutzzonen auszuweisen
und mit abgestuften Beschränkungen zu versehen. In den folgenden Jahren ging
man tatsächlich schnell daran, Tausende von Schutzgebieten unterschiedlicher
Größe und unterschiedlicher Art einzurichten. Es gilt festzuhalten, daß das von
Göring stark forcierte Gesetz auf allen Parteiebenen nur auf mäßiges Interesse
stieß70, denn es stand im Gegensatz zu anderen Optionen. Wenn beispielsweise
Ödland, Torf- und Sumpfzonen als solche erhalten werden sollten, widerstrebte
das nicht nur Darre, dessen Ziel es war, Boden für die Lebensmittelversorgung u r
bar zu machen. Der Naturschutz stieß auch auf den Widerstand derjenigen zivilen
und militärischen Einrichtungen, die als Vorbereitung Deutschlands auf den Krieg
neue Autobahnen, Industriegebiete und Infrastrukturen projektierten und ver
wirklichten, so daß man sogar von der „Hilflosigkeit des N aturschutzes“71 ge
sprochen hat. Das Gesetz blieb auch nach dem Fall des „Dritten Reiches" in Kraft,
und das heißt w ohl, daß man es grundsätzlich als gutes gesetzliches Werkzeug be
trachtet hat.
Ein Blick auf die faschistische Gesetzgebung auf diesem Gebiet zeigt nur w e
nige bemerkenswerte, untereinander sehr widersprüchliche Elemente. Die von
Gentile 1923 in die Wege geleitete Reform der höheren Bildung schaffte das Fach
Naturwissenschaften in den humanistischen G ym nasien ab. M it diesem in Europa
einzigartigen Schritt bewies einer der hervorragendsten italienischen Intellektuel
len seine völlige Verständnislosigkeit für die Probleme der N atur und N atu rw is
senschaften. Aktiver war das Regime auf dem Gebiet der Naturschutzgebiete, die
seit 1933 vom Staat betrieben wurden. M it dem Stilfser Nationalpark und dem
Circeo wurden zwei neue Naturschutzgebiete eingerichtet, wobei politische und
propagandistische Motive eine starke Rolle spielten. Das N aturschutzgebiet des
Circeo beispielsweise w urde als Vervollständigung der Trockenlegung der Ponti-
nischen Sümpfe und damit einer der Erfolge verstanden, dessen sich das Regime
69 V gl. G. G rön in g, J. Wolscbke, N atu rsch u tz und Ö k o lo g ie im N atio n a lso z ia lism u s, in: D ie
A lte Stadt 10 (1983) 1-17.
70 Wey, U m w e ltp o litik 150.
/l G röning, Wolscbke, N a tu rsch u tz 11.
60 G u stav o C o r n i
nach innen und außen in seiner Propaganda besonders bediente. Die Forstpolitik
ließ das Prinzip des Schutzes für dieses kostbare Gut fallen72 und den „Bedürfnis
sen der Betreiber von Wasserkraftwerken und der G rundbesitzer"73 völlig freie
Hand.
Auf der anderen Seite w urde im Juni 1939 ein Gesetz zum Schutz der U m w elt
güter erlassen, das die gesetzliche Basis für deren Schutz bis in unsere Tage dar
stellt. Das Umweltschutzgesetz kam im wesentlichen auf D ruck von Wissen
schaftlern wie Gustavo Giovannoni zustande, die die N otwendigkeit betonten,
die U m w eltzerstörung durch den Menschen einzudämmen. Ihre Vorstellung des
N aturschutzes stand in enger Verbindung mit den ästhetisierenden Vorstellungen,
von denen eingangs schon die Rede w ar74. Das Gesetz definierte sowohl einzelne
natürliche oder historisch-künstlerische O bjekte als auch „ganze Landschaften"
von „traditionsgemäß ästhetischem W ert“. D arüber hinaus führte es als richtungs
weisendes Konzept die Erstellung von „Landschaftsplanungen“ ein, die dazu d ie
nen sollten, die Entwicklung von unter historisch-künstlerischen oder U m w eltg e
sichtspunkten besonders interessanten Gegenden langfristig zu planen. Wie w ir
im folgenden Abschnitt sehen werden, w urde dieses Element der Planung bis
heute weitgehend mißachtet.
71 D as h at d azu b eig etragen , d aß der A n te il des W aldes an d er G esam tfläch e des L andes im
Ja h r 1947 n ur 2 0 % b etru g g e g en ü b er den 2 9 ,4 % in d er B u n d e sre p u b lik , 4 0 ,5 % in Ö sterreich
und so g a r 5 3 ,4 % in S pan ien.
73 Gaspari, II b osco 69.
74 V gl. Ventura, A lle o rig in i 36 ff.
D e r U m g a n g m it L a n d s c h a f t u n d U m w e l t 61
73 P. G in sborg, S to ria d ’ Italia dal d o p o g u e rra a o ggi. S o cictä e p o litic » 19 43-19 88 (T urin
1989) 317.
76 Turri, S em io lo g ia 33.
77 Vgl. P. P. Pasolini, S critti co rsari (M a ila n d 1977, d eu tsch e Ü b erse tzu n g : F re ib eu te rsch rif
ten, B erlin 1998).
78 A n d ererseits hat C e d e n ia d arau f h in g ew iesen , d aß d ie ser A rtik e l o hn e D eb atte von d er
62 G ustavo C o rn i
führenden Schichten haben diese U m w älzun g unterstützt, die eine nicht zu be
zweifelnde Verbesserung der Lebensbedingungen vor allem für die Unter- und
Mittelschichten mit sich brachte und den Herrschenden vierzig Jahre lang unge
störtes Regieren ermöglichte. Das Gesetz von 1939 stand eigentlich nur auf dem
Papier, und erste Versuche, den ß aub o o m in den Griff zu bekommen, wie etwa
mit dem Gesetzesentwurf des christdemokratischen Ministers Sullo zu Beginn der
sechziger Jahre, wurden von mächtigen Interessengruppen blockiert. Eine der
zahlreichen, von Menschen verursachten Katastrophen in der neuesten Ge
schichte Italiens hat bewirkt, daß diese Lähm ung durchbrochen wurde. Der Erd
rutsch in A grigent am 19. Juli 1966, der eine der bedeutendsten Ausgrabungsstät
ten der Welt gefährdete, hat das A usmaß des Problems der aggressiven Bauspeku
lation und der weitgehenden Unfähigkeit von Staat und lokalen Behörden, sie in
irgendeiner Weise einzudämmen, vor aller A ugen geführt. Nach Cederna, der die
U m w eltzerstörung aufmerksam analysiert, aber teilweise allzusehr als endgültige
Katastrophe beschrieben hat79, wurden in dem Jahr, für das durch das sogenannte
Überbrückungsgesetz Aufschub gewährt wurde, bevor strengere Regeln für die
Bebauungspläne in Kraft traten, noch einmal auf einen Schlag über acht M illionen
neue H äuser gebaut.
Zur Bauspekulation und zur wilden U rbanisierung gesellte sich seit Anfang der
siebziger Jahre als weiteres Problem, das das Umweltgleichgewicht zutiefst be
trifft, die Kernenergie. 1975 w urde ein umfassender Plan vorgelegt, der den Bau
zahlreicher Kernkraftwerke vorsah, um die A bhängigkeit der italienischen W irt
schaft vom Erdöl - w ir befinden uns in der Zeit unmittelbar nach der Erdölkrise -
zu verringern. Ich bin der Meinung, daß man von diesem Zeitpunkt an eine ent
schiedene Wende in der gerade erst entstehenden italienischen U m w eltbew egung
erkennen kann. In völlig anderem R ahm en und aus anderen Gründen beginnt sich
die italienische Entwicklung wieder der deutschen anzugleichen.
Auch in Westdeutschland haben sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Welt
krieg weitere bedeutsame ökonomische Veränderungen mit A usw irkungen auf
die U m w elt vollzogen. In den Jahren des Wirtschaftswunders scheint jedoch die
Kritik an der Moderne stark in der M inderheit gewesen zu sein gegenüber dem
Glauben an die Wohltaten von Produktivitätssteigerungen und Vollbeschäftigung,
die bald die Wohlstands- und Konsumgesellschaft hervorbringen sollten. Dazu
kam, daß alles, was nach der dramatischen Erfahrung des Nationalsozialismus in
irgendeiner Weise an kulturpessimistische oder das Bauerntum verherrlichende
Thematiken und Strömungen erinnerte, an sich schon durch seine N ähe zu Theo-
rie und Praxis der „Blut und Boden“-Ideologie diskreditiert war. Diese Selbstzen
sur hat, um nur ein Beispiel zu nennen, zum Verschwinden der „Volkskunde“ aus
dem kulturellen und akademischen Leben geführt, weil sie durch ihre B indungen
an das Regim e allzu sehr belastet war.
Das Entstehen und die ungestüme Entw icklung der U m w eltbew egung in der
Bundesrepublik seit den siebziger Jahren hat viele Gründe, die letztlich ihre U rsa
che darin hatten, daß die Politik mit ihrem eisernen Dreiparteiensystem vor allem
bei den Jugendlichen in eine Vertrauenskrise geriet, weil sie zu wenig Raum für
alternative Positionen und Entwürfe zu lassen schien. In dieser Hinsicht bedeu
tete die kurze Periode der Großen Koalition von 1966 bis 1969 eine wichtige
Wende. Die darauf folgende Regierung W illy Brandts hat daran mit ihrer im Inne
ren weit weniger couragierten Politik als nach außen nur wenig geändert. Man
braucht nur daran zu denken, welche gegensätzlichen politischen Kulturen und
Mentalitäten in der, allerdings meist nicht explizit geführten, Auseinandersetzung
zwischen Brandts technokratischem Nachfolger H elm ut Schmidt und dem J u
gendflügel seiner eigenen sozialdemokratischen Partei aufeinanderprallten. Ein
zweites wesentliches Element für die Entstehung der Grünenbewegung war das
Problem des Friedens, das sich mit großer Dringlichkeit stellte. Die jungen Gene
rationen reagierten seit den sechziger Jahren auf die Stellung der Bundesrepublik
an vorderster und am meisten gefährdeter Front der westlichen Allianz mit der
Forderung nach dem Ausscheiden Deutschlands aus den Bündnissystemen, wenn
nicht gar nach Neutralität.
Auch das Problem der Identität spielt eine entscheidende Rolle in einem Land,
das seine nationale Identität definitiv verloren zu haben schien. Die Forderung
nach erweiterter demokratischer Partizipation und die A blehnung der außenpoli
tischen Blockbildung bildeten den politischen Kern der alternativen Bewegungen
meist studentischen Ursprungs, die sich in jenen Jahren entwickelten. In diesen
Bewegungen spielten auch Them en und Vorstellungen w ie der Feminismus, ein
alternativer Marxismus, der Anti-Imperialismus und die Kritische Theorie eine
Rolle, w ie sie, ausgehend von den USA, in allen industrialisierten Ländern ku r
sierten80. Diese kulturellen Fermente waren auch in Frankreich, Italien und ande
ren industrialisierten Ländern wirksam und haben auch dort zu einer Schärfung
des ökologischen Bewußtseins geführt. Aber in Deutschland, und analog dazu,
jedoch aus anderen Gründen, auch in Italien, überlagerten sich diese Them en mit
spezifischen Problemen, so daß daraus die besondere Form der „grünen“ B ew e
gung in Deutschland entstand, die sie zu der wichtigsten und auch am besten er
forschten machten81.
80 V gl. I. G ilch e r-H o ltey (H rsg .), J968. Vom E reign is zu m G egenstand d er G esc h ic h tsw is
senschaft (G ö ttin g e n 1997).
Sl V gl. die um fassen d e S tu d ie ü b er „grü n e P o litik “ : F. Capra, C. Spretnak, D ie G rün en : n ich t
lin k s, nich ts rech ts, so n d ern vo rne (M ü n ch en 1985). D ie A u to re n w id m en m it u n g e fäh r 150
Seiten fast z w e i D ritte l ih res B uch es dem d eu tsch en , un d nich t einm al ein e h alb e Seite dem
italien isch en F all.
64 G u stav o C o rn i
Ein drittes Element in der Bewegung der deutschen Grünen zumindest in ihrer
Anfangsphase bestand aus Gruppen und Persönlichkeiten, die deutlich in der ku l
turpessimistischen und das einfache Leben verherrlichenden geistigen Tradition
standen, die oben analysiert wurde. Bewegungen wie der „Jungdeutsche B und“,
die „Freisoziale U n io n “ und die „Aktionsgemeinschaft U nabhängiger D eut
scher“, Persönlichkeiten w ie Herbert Gruhl und A ugust Haussierter86 spielten
auch auf organisatorischer Ebene eine wichtige Rolle für das Entstehen der ö ko
logischen Bewegung. Z war vage und unklar, vertraten diese Gruppen und Persön
lichkeiten doch in weitem Umfang antistädtische und antidemokratische Vorstel
lungen, die ein einfaches bäuerliches Leben verherrlichten und an kulturpessim i
stische Strömungen anknüpften. Sie waren auf der Suche nach einem „dritten
Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus, der implizit, aber eindeutig auf
faschistische Modelle Bezug nahm.
Seit dem Offenbacher Kongreß vom N ovem ber 1979 wurden diese Gruppen
weitgehend ausgeschaltet, doch der Einfluß dieser geistigen Strömungen in der
Entstehungsphase der deutschen U m weltbewegung ist unleugbar87. H ier ist nicht
der Ort, die Geschichte der grünen Bewegung in Deutschland nachzuzeichnen,
die komplex und reich an ideologischen Auseinandersetzungen, aber auch reich
an politischen Erfolgen ist. Seit Ende der siebziger Jahre w urde man sich nämlich
allmählich klar darüber, daß Initiativen von unten nicht zur Lösung bestimmter
Probleme im politischen Bereich ausreichten. Daraus ging die Entscheidung zur
Teilnahme an der Politik zunächst auf lokaler und dann auch auf Bundesebene im
Bündnis mit der SPD hervor. Diese Entscheidung w urde von den „Alternativen“
oder „Fundis“ entschieden bekämpft, die zu keiner Form des Kompromisses be
reit waren.
Diese Entscheidung w ar jedoch von einschneidender Bedeutung nicht nur für
die Ü berw indung des seit drei Jahrzehnten unverändert bestehenden Dreipar-
teiensystems, sondern auch für Veränderungen innerhalb der herrschenden Kul
tur der größeren Parteien. Bei den Wahlen zum Bundestag im Jahre 1983 konnten
die Grünen erstmals mit ungefähr zwei M illionen Wählerstimmen (5,6% ) die
Fünfprozenthürde überspringen und 27 Abgeordnetenmandate erobern. Seither
verfügen sie über ein stabiles Wählerpotential vor allem unter der Jugend und den
Frauen. U nter diesem D ruck mußten sowohl die seit 1982 regierende CD U /CSU
als auch die Sozialdemokraten, die Gewerkschaften und Unternehmer ihre politi
sche Haltung in U mweltfragen grundlegend ändern. Als Beispiele zu nennen sind
die ökologisch ausgerichteten Positionen führender SPD -Politiker wie Reinhard
Eppler und O skar Lafontaine oder das umweltverträgliche marktwirtschaftliche
Modell, das von Kurt Biedenkopf88, einem der führenden Köpfe der C D U , im
Jah r 1985 vorgestellt wurde, und nicht zuletzt das Aufgreifen von Umweltfragen
und Pazifismus durch die Kirchen89. Weitere Beispiele sind die von den Ländern
und vom Bund seit den achtziger Jahren ergriffenen Gesetzesinitiativen vor allem
für den Emissionsschutz und der Stop für den Ausbau der Kernenergie. Trotz
massiver Kritik aus der eigenen Bewegung90 suchte und sucht die „grüne“ Utopie
nach einer konkreten Realisierung auf politischem Gebiet91.
Für Italien sind meiner Ansicht nach vor allem zwei grundlegende Charakteri
stika hervorzuheben, die einerseits auf die elitäre Tradition des Naturschutzes z u
rückzuführen sind, andererseits auf das im Vergleich zum föderativen Aufbau der
Bundesrepublik andersartige politische System des Landes. Im Hinblick auf den
ersten Punkt scheint mir in den seit den fünfziger Jahren gegründeten U mwelt-
und Naturschutzorganisationen immer noch das Modell von pressure groups vor
geherrscht zu haben, die einen relativ kleinen, dafür aber gesellschaftlich und k u l
turell hochrangigen Mitgliederkreis für Umweltfragen gewinnen konnten. Dies
gilt m. E. vor allem für Italia Nostra?2. Diese Gruppen verstanden sehr wohl, Ver
änderungen des kulturellen Lebens w ahrzunehm en und sich ihnen anzupassen,
indem sie die Zahl ihrer aktiven und passiven M itglieder und ihren W irkungsbe
reich beachtlich erweiterten. Der W W F Italia zählte beispielsweise 1991 über
300000 eingeschriebene M itglieder und darüber hinaus 8 00 0 0 Kinder und j u
gendliche in den Panda Clubs()i. Dennoch blieb das Referenzmodell meiner A n
sicht nach immer das der pressure group, die nicht direkt politisch agiert. Darüber
hinaus haben alle Gruppen und Vereine ihre U nabhängigkeit und ihr besonderes
Profil bewahrt, so daß es nicht zur Bildung einer größeren, koordinierten U m
weltbewegung gekom men ist.
Der zweite Aspekt scheint mir die ausgeprägte Politisierung oder sogar Partei
ausrichtung in der italienischen U m w eltbew egung zu sein. Teilweise aufgrund der
traditionellen Stärke der Kommunistischen Partei Italiens orientierten sich viele
Energien und Entwürfe im U mweltbereich von vorneherein an den traditionellen
Parteien, allen voran am PCI. Eine wichtige Rolle spielte aber auch der Partito Ra-
dicale mit seinen Volksabstimmungskampagnen gegen die Atomenergie und zur
Einschränkung der Jag d 94. Dadurch w urde vermutlich die M öglichkeit einer M o
bilisierung von unten stark eingeschränkt. In Italien war die U m w eltbew egung
aber auch nicht wie die Bürgerinitiativen und die Grünen in Deutschland Auf-
fangbecken für die aus der Protestbewegung der späten sechziger Jahre hervorge
gangenen Jugend- und Alternativbewegungen. In Italien übernahmen diese Rolle
88 K eller, Les V erts 29. V gl. auch : Wey, U m w e ltp o litik 160ff.
89 H e rm a n d , G rün e U to p ie 180 ff.
90 V gl. d ie sch arfe K ritik eines P u risten : A. B ra m w ell, T h e F a d in g of the G reens. T h e D e
clin e o f E n viro m cn tal P o litics in the W est (N e w H aven , L o n d o n 1994).
91 P ogu n tk e, A lte rn ativ e P o litics 114.
92 R. Strassoldo, L e rad ici d e ll’erb a (N eap el 1993) 81.
93 Poqqio, A m b ie n talism o 3 6 f.
94 Ebd. 42.
D er U m g a n g m it L andschaft und U m w e lt 67
Pierangelo Schiera
Das Gemeinwohl kann man meiner festen Ü berzeugung nach nicht einfach als
Schlagwort oder politische Praxis betrachten, w ie es als Anfrage des Herausgebers
formuliert w urde, sondern man darf es mit vollem Recht als eine „D oktrin“ be
handeln1. Als solche w ar nämlich der Begriff in der langen Verfassungsgeschichte
Europas besonders stark mit Bedeutung aufgeladen, da sich in ihm als bis heute
gültiges dialektisches Grundmuster dieser Geschichte die Spannung zwischen
Unitarismus und Zentralismus einerseits, zwischen Pluralismus und Polyzentris
mus andererseits ausdrückte.
Mein Beitrag muß aus diesem Grund notwendigerweise zeitlich die vom Thema
der Tagung gesetzten Grenzen überschreiten und wird sich mit einer Betrachtung
über die Theorie des Gemeinwohls im Rahmen der großen Verfassungsdebatte
beschäftigen, die vom 18. Jahrhundert bis über die M itte des 19. Jahrhunderts hin
ausreicht2.
I.
Auch die Welle der Revolution wollte und konnte die Idole von Gemeinwohl,
Gemeininteresse, Glück und Wohlstand nicht zerschlagen. In der Virginia B ill o f
Rights vom 12. Juni 1776 wird das Volk von Virginia - mit einer bezeichnenden
Veränderung der Zielsetzungen - als „good people“ charakterisiert, und schon in
der Section / der B ill werden die Rechte der Menschen, die in den Gesellschafts
vertrag eintreten, formuliert als „the enjoym ent of life and liberty, with the means
of acquiring and possessing property and pursuing and obtaining happiness and
safety“ . Dieses Konzept w ird in der Section 3 noch einmal nachdrücklich aufge
nommen: „That government is or ought to be instituted for the common benefit,
protection and security of the people, nation or com m unity; of all the various m o
des and forms of government, that is best which is capable of producing the
greatest degree of happiness and safety and is most effectually secured against the
danger of m aladm inistration.. .“4.
In Frankreich ist die Entwicklung komplexer, aber noch interessanter. In der
Declaration des droits de l ’homme et du citoyen der Constitution frangaise vom
3. September 1791 tritt als entscheidende N euerung die zentrale Rolle des homme
hervor. Er wird aber politisches Subjekt nur als citoyen, d.h. als Mitglied einer in
stitution politique, die ihrerseits nicht zu trennen ist von der Zielsetzung der „con
servation des droits naturels e imperscriptibles de l’ homme" (Art. III). Diese Peti-
tio principii wäre sinnlos, sähe nicht der Art. XII „une force publique“ vor, von
der die „garantie des droits de l’homme et du citoyen“ abhängt. Daraus entspringt
die politische Verpflichtung, diese zu garantieren, und deshalb wird im selben Ar-
tikel präzisiert: „cette force est done instituee pour l ’advantage de tous, et non
pour l’utilite particuliere de ceux, auxquels eile est confiee“5. Genau dies scheint
schon das Hauptanliegen der Verfasser des Programms des Buongoverno zu Zei
ten der Republik von Siena gegen Mitte des 14. Jahrhunderts gewesen zu sein.
Die Dinge liegen jedoch wesentlich komplizierter, denn am Ende des 18. Jah r
hunderts vollzog sich in Frankreich durch die Vermischung der Einflüsse von
Revolution, Verfassungsformulierungen und der praktischen U msetzung durch
Napoleon in Organisation und Krieg ein diffiziler Prozeß der Reduzierung des
Begriffs der Politik auf die Verfassung6. Deshalb ist zu beachten, wie die Verfas
sung auf der Ebene der staatlichen O rdnung allmählich mit dem System der
Rechte und Pflichten der Bürger gleichgesetzt w urde, wobei es mehr um die
Rechte als die Pflichten ging, denn der Staat war inzwischen „enthauptet“ und
zum bloßen „O rgan“ der A nw endung der Prinzipien der „revolutionären O rd
nung“ heruntergestuft worden. In der Constitution de la Republique francaise
vom 24. Juni 1793 wiederholt Art. 1 feierlich: „Le but de la societe est le bonheur
commun.“ Erst im zweiten, auch graphisch abgehobenen Teil des Artikels wird
wiederholt: „Le gouvernement est institue, pour garantir ä l’homme la jouissance
de ses droits naturels et imprescriptibles.“7
Abgesehen von der Frage nach der Tragweite dieser bescheidenen und letztlich
unauslotbaren lexikalischen und textlichen Veränderungen, muß man doch fest-
halten, daß jetzt die Gesellschaft mit ihrem bonheur commun die zentrale Rolle in
der Konstruktion des Diskurses spielt. Die Menschen- und Bürgerrechte werden
- zumindest unter dem Gesichtspunkt der Logik - , obwohl sie natürlich und un
wandelbar sind, der Priorität des Gemeinwohls untergeordnet. Das beweist auch
die Tatsache, daß in diesem Text von der force publique keine Spur mehr zu finden
ist, ihre Funktion hat sich generalisiert in die „souverainete nationale“ (Art. 23),
die sich allerdings als „gouvernement“ (Art. 1) konkretisiert und normalisiert8. In
der Verfassung des Jahres Drei, der geglücktesten und berühmtesten der Verfas
sungen der Republik, wird zwischen „hom m e“ und „societe“ mit der Formel
„homme en societe“ auf brillante Weise ein Gleichgewicht hergestellt, dem die
5 Ebd. 28 un d 30.
6 Ebd. 30, A rt. X V I: „Toute so ciete, dans la q u elle la g ara n tie des d ro its n ’est pas assu ree ni la
sep aration des p o u v o irs d eterm in ee, n ’a p o in t de c o n stitu tio n .“ A b geseh en von d er G ew a l
ten teilun g, von d e r h ie r n ich t d ie R ed e zu sein hat, b ed eu tet d ies, daß d ie V erfassun g m it d er
G arantie d er R ech te, d .h . m it d er ö ffen tlich en G ew alt, zu sam m e n fällt u n d daß also eine G e
sellsch aft erst w a h rh aft p o litisch ist, w en n sie diese C h a ra k te ristik a au fw eist.
7 Ebd. 32.
s D ie V o lk sso u v erän ität ist tatsäch lich a b stra k t u n d so zu sag en u n b ew eg lic h . Sie kann
sch w erlich als „ garan tie s o c ia le “ w irk e n , d .h . au f B e w eg u n g e n d er G esellsch aft reagieren .
D ie S o u v e rän ität w ird n äm lich auch w ie d ie M en sch en rech te m it dem B egriff d er U n v e rjä h r
b arkeit ch a ra k te risie rt u n d d a rü b er h in au s m it den B egriffen E in h eit, U n te ilb a rk e it un d U n
veräu ß erlich k eit (d ie säm tlich die sich tb aren Ü b erre ste des aus dem A lte rtu m ü b erk o m m e
nen K onzepts sin d ).
72 P ieran gelo Sch iera
üblichen Rechte von liberte, egalite, sürete und propnete zugewiesen werden9.
Der Diskurs bleibt unverändert, er strukturiert sich aber weiter, wie man aus den
anderen Artikeln entnehmen kann, die die Beziehungen des „einen“ mit „allen“
im Rahm en der Gesellschaft regeln. Es zählen nämlich nur die konkreten und
administrativen Inhalte in Funktion der „utilite generale“ und des „maintien de la
societe“. Darauf hat sich die alte Idee des Gemeinwohls anscheinend inzwischen
reduziert. Offensichtlich ist der ursprüngliche Zweck des „Friedens“, der in dem
berühmten Fresko in Siena so melancholisch in den Mittelpunkt gerückt ist, von
der Geburt des modernen Staates und des mit ihm sich herausbildenden „euro
päischen Staatensystem s“ neutralisiert worden. Deshalb soll er durch andere
„Zwecke“ ersetzt werden, die immer weiter ins Innere gerückt und immer enger
auf das individuelle Glück bezogen sind, vielleicht als Pendant zur Melancholie
des kollektiven Friedens im Mittelalter.
II.
N icht nur die Vielfalt der Bezüge, sondern auch die Tatsache, daß sie nicht auf eine
einheitliche politische Linie zu reduzieren sind, macht es schwierig, die Fülle der
vor allem ökonomischen und juristischen Produktion zu untersuchen, die der
Verwissenschaftlichung des Gesellschaftlichen vorausging, ein Phänomen, das
gleichzeitig zum Konstitutionalismus verlief und ihn mit bedingte10. Als Ergebnis
w urde jedenfalls der mittelalterliche Gedanke einer symbiotischen Genossen
schaft, der noch zu Beginn der N euzeit bei Althusius besonders wichtig w ar und
fiir die alte Ständegesellschaft insgesamt eine fundamentale Rolle spielte, in eine
zugleich aufgeklärtere und materiellere Form der Gesellschaftlichkeit überführt,
die in der „bürgerlichen Gesellschaft“ eine neue Form finden konnte1L Daraus er
9 Ebd. 38, A rt. 1 d er C o n stitu tio n de la R ep u b liq u e F ran ^aise, A n III F ru ctid o r 5 = 1795
A o ü t 22.
10 P. S ch iera , K o n stitu tio n a lism u s, V erfassun g u n d G esch ich te des eu ro p äisch en p o litisch en
D en ken s. Ü b erleg u n g e n am R an d e ein er T agu n g, in: M. K irsch , P. Schiera (H rsg .), D en k en
un d U m se tz u n g des K o n stitu tio n alism u s in D eu tsch lan d u n d an d eren eu ro p äisch en L än d ern
in d er ersten H ä lfte des 19. Ja h rh u n d e rts (B erlin 1999) 2 3 -3 2 . D as T h em a h atte ich sch on b e
h an d elt in: R. G herardi, P. Schiera, Von d er V erfassun g zu r V erw altu n g: b ü rgerlich e S ta ats
w irtsch a ft in D eu tsch lan d u n d Italien nach d er n atio n alen E in ig u n g ; im fo lgen d en z itiert:
G herardi, Von d er V erfassun g z u r V erw altu n g, in : Erk V. H e y e n (H rsg .), W issen sch aft und
R echt d e r V erw a ltu n g seit dem A n cien R egim e (F ra n k fu rt a.M . 1984) 131. D o rt ist d er fo l
gen de P assus z itie rt: L u d w ig G litm pow icz , S am m e lrez en sio n , in : Z eitsch rift fiir das P riv a t-
und Ö ffen tlic h e R ec h t d er G eg e n w art X IV (1887) 478: „In d en vier D ecen n ien (1 8 3 0 -1 8 7 0 ),
in d en en d ie eu ro p äisch en C o n tin en ta l-S ta a te n sich in b estän d igen V erfassun gskrisen b efan
den, u n d die G eister sich v o rw ie g en d m it d er F ra g e d er b esten K o n s titu ie ru n g ' d er S taaten ,
d e r besten ,V erfassu n gsfo rm ‘ b esch äftigten : da stan d auch au f d er T ageso rd n u n g d er T h eo rie
v o rw iegen d d as ,V erfassu n gsrech t'. D iese B e w e g u n g n ah m ih r Ende zu A n fan g d er 70er
Jah re, da d ie V ö lk e r d e r C o n tin en ta lstaa te n , v o r allem Ö sterre ich s u n d D eu tsch lan d s, m it
neuen V erfassun gen b e g lü c k t w u rd e n . N u n b egan n ein e an d ere B e w eg u n g .“
11 V gl. d a z u : M a n fr e d R iedel, G esellsch aft, b ü rg e rlic h e , in: G esch ich tlich e G ru n d b egriffe,
G e m e i n w o h l in I ta lie n u n d D e u t s c h l a n d 73
gab sich auch für das Gemeinwohl vor allem die Konsequenz, daß seine primären
syntaktischen Elemente w ie beispielsweise Glück, Interesse, Sicherheit und Poli-
cey in immer stärker philosophisch-praktische Schemata gegossen wurden. Aber
nicht alles sollte sich auf „Soziologie“ reduzieren. Daneben und zuvor existierte
nämlich, wie w ir gesehen haben, das Phänomen der Verfassung, in die genau die
grundlegende Wertvorstellung unserer Lehre einging, die sich nicht direkt in die
Formalisierung einer als natürlich verstandenen Gesellschaft übertragen ließ. An
dieser Stelle ist vielleicht die berühmte Bemerkung Kants12 zu zitieren: „[...] Der
Satz Salus publica suprema civitatis lex est bleibt in seinem unverminderten Wert
und Ansehen; aber das öffentliche Heil, welches zuerst in Betracht zu ziehen
steht, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch
Gesetze sichert; wobei es ihm unbenommen bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem
Wege, welcher ihm der beste dünkt, zu suchen, wenn er nur nicht jener allgemei
nen gesetzlichen Freiheit, mithin dem Recht anderer Mituntertanen, Abbruch
tut.“ 13
Der aus Genf stammende Sismondi war zw ar w eder Deutscher noch Italiener,
aber doch ein w enig halber Italiener, und vor allem so sehr mit dem Thema des
„Kleinstaats“ befaßt, daß er als den zeitgenössischen politisch-konstitutionellen
Problemen sowohl in Deutschland als auch in Italien nahestehend zu betrachten
ist. Für ihn sollten die „Sozialwissenschaften“ der Teil der Humanwissenschaften
Bd. 2 (S tu ttg a rt 1975) 7 1 9 -8 0 0 . A u ch : P ie ra n g elo Schiera, D alla so c ia lita alla so ciev o lezza:
una via alia m o d e rn iz z a z z io n e neU’E u rop a del X V II e X V III seco lo , in: A ugust Buck (H rsg .),
D er E u ro p a-G e d an k e (T ü b in g en 1992). E ine w issen sc h a ftlic h e B e trac h tu n g d er G esellsch aft
en tw ic k e lt sich in A n a lo g ie z u r w ach sen d en w issen sch aftlich en B e rü c k sic h tig u n g d er N atu r:
von d er socialitas P u fen d o rfs z u r socialite/sociabilite d e r A u fk lä ru n g bis z u r G esellschaft
bei K n igge: V gl. F. Palladini, S am u el P u fe n d o rf d isc ep o lo d i H o b b es. P er u n a re in te rp re ta-
zio n e del g iu sn a tu ra lism o m o d ern o ? (B o lo g n a 1990); a u ch : C. Müller, D er h eu tig e K am pf
um die U n iv e rs a litä t vo n M en sch en rech ten : R ü c k fra g en b ei S am u el P u fen d o rf, in: B. G eyer,
H. G oerlich (H rs g .), Sam u el P u fe n d o rf un d seine W irk u n g e n b is au f die h eu tig e Z eit (B aden -
B aden 1996), der ein en A b sch n itt (2.1) fo lge n d e rm aß en ü b ersc h re ib t: „Vom N a tu rre c h t der
A n tik e üb er das k irc h lic h e N a tu rre c h t zu m sä k u laren N a tu rre c h t“, 123-127; E tienne Fran
cois (H rsg .), S o c ia b ilite et so ciete b o u rgeo ise en F ran ce, en A lle m ag n e et en S uisse 17 50-18 50
(P aris 1987); A dolph F reih err v o n K n igg e , U m g an g m it M en sch en , in: W erk au sw ah l in
10 B än den , B d. 6 (H a n n o v er 1993).
/. Kant, U b e r d en G em ein sp ru ch : D as m ag in d er T h eo rie ric h tig sein , tau gt ab er nichts
für die P rax is, 1793, in: W erk e, h rsg. v. Rosenkranz, S ch u bert, V II, 1 (1838). D arin fin d et sich
auch die D efin itio n des D esp o tism u s als „V erfassung, die alle F re ih eite n d er U n tertan e n , die
alsdann gar k e in e R ec h te h ab en , a u fh e b t“, ebd. 199.
13 Ebd. 209. A u fz u g re ife n un d w e ite rz u e n tw ic k e ln ist auch die Ü b e rle g u n g von: W. Merk,
D er G ed an ke des gem ein en B esten in d er deu tschen S taats- u n d R e c h tse n tw ic k lu n g , im fo l
genden z itie rt: Merk, D er G ed an k e des gem ein en B esten , in : F e stsch rift fü r G eh eim rat Dr.
A lfred S ch u lze (W eim ar 1934) 69: „Es ist das V erdienst des p reu ß isch en A llg e m ein en L a n d
rechts von 1794, d aß es im S in n e d ie ser B e w eg u n g d ie sta atlich en H o h e itsre ch te u n d die
U n tertan en p flich ten g e se tzlic h gen au um sch rieb en u n d den B egriff u n d d ie Z w an g sg ew alt
der P o lizei g ru n d sä tz lic h a u f die F älle der O rd n u n g sb e w ah ru n g un d S tö ru n g sa b w e h r
b esch ränkt h at zu e in e r Z eit, als in F ran k re ic h d er .W o h lfah rtsau ssch u ß* (C o m ite du salu t
p ub lic) in fratz e n h after V erze rru n g des W o h lfah rtsged an k en s das G em ein w o h l d ad u rch zu
fördern su ch te, d aß er m ö g lic h st v ielen .W o h lfah rtsfein d e n ' den K opf a b sc h lu g .“
1
sein, der sich auf die „Bildung und Bewahrung der Gesellschaften, auf alle Speku
lationen der Theorie und auf den ganzen Grundbestand der Erfahrung bezieht,
die die Menschen aufklären und sie freier das Ziel erkennen lassen, dessentwegen
sie sich vereinigen und sich zusammenschließen, das heißt ihren gemeinen N u t
zen“. Daraus ergeben sich für Sismondi zwei hauptsächliche „Gegenstände“: Der
erste ist „die Theorie des Gemeinwesens selbst oder der Verfassungen der freien
Völker“, der zweite die „Theorie der Verteilung der Reichtümer unter den M it
gliedern des Gemeinwesens; eine Theorie, die als politische Ö konomie bezeichnet
w ird “ 14. O bwohl dieser Abschnitt aus einem 1839 erschienenen Werk stammt,
hatte Sismondi diese Ü berlegungen schon in seinen Rechercbes sur les constitu
tions des peuples libres angestellt, die 1796 begonnen aber zu seinen Lebzeiten nie
veröffentlicht w orden w aren 15.
Der Zusammenhang zwischen den „Sozialwissenschaften“ und dem „gemeinen
N u tz en “ der Menschen könnte nicht klarer ausgedrückt werden, und nicht m in
der kohärent ist der Forschungseifer des Autors, der sich unmittelbar nach Voll
endung der Untersuchung über die Verfassung der freien Völker, die er selbst, w ie
w ir gerade gesehen haben, mit der „Theorie des Gemeinwesens“ gleichsetzt, sei
nem Werk über die „politische Ö ko n o m ie“ widmete, für das er bis heute berühmt
ist16. Es darf auch nicht vergessen werden, daß diese beiden Grundlegungen der
Sozialwissenschaften ideell durch das leidenschaftliche Interesse Sismondis für die
Geschichte der italienischen Städte im Mittelalter verbunden waren, die für ihn
die Wiege nicht nur des Gemeinwohls bildeten, mit dem w ir uns beschäftigen,
sondern auch der - von der Revolution wiedererweckten - Freiheit, die zu vertei
digen die großen modernen Nationen w ie insbesondere Großbritannien und
Frankreich die Pflicht hatten. Aus der Lektüre der Histoire Sismondis ergeben
sich viele H inweise dafür, diese Freiheit als Frucht des Gemeinwohls zu betrach
ten. Als Beleg genügt ein Zitat aus der von ihm selbst 1832 erstellten Zusammen
fassung17, die neben der methodologischen Naivität Sismondis auf dem Gebiet
der Geschichtsschreibung zeigt, wie sehr er auch bei der Vermischung seiner w is
senschaftlichen Interessen auf den Fragen des Gemeinwohls beharrt: „The
knowledge of times past is good only as it instructs us to avoid mistakes, to imitate
virtues, to improve b y experience: but the preeminent object of this study, - the
science of governing men for their advantage, of developing their individual facul
ties, intellectual and moral, for their greater happiness - that political philosophy,
began in modern Europe only with the Italian republics of the middle ages, and
from them diffused itself over other nations.“ 18 D arüber hinaus hatte Sismondi
schon in der ersten Ausgabe seiner N ouveaux principes bei der verwunderten
Feststellung, w ie wenige Regierenden in der Lage seien, den Zusammenhang der
beiden Faktoren Bevölkerung und Reichtum zu begreifen, eine Lanze für die Ver
bindung von Wissenschaft und Politik gebrochen, wobei er die erstere in politi
sche Wissenschaft - zur Sicherung der Freiheit und aller damit zusammenhängen
den Vorteile für die Bürger - und ökonomische Wissenschaft - im Interesse des
„bien-etre physique de l’hom m e“ - unterteilt19. Letzteres ist unerläßlicher Be
standteil „du bonheur de l’ homme“, mit dem sich die „Sozialwissenschalt“ be
schäftigt, die gerade deshalb „la plus importante entre les sciences“ auch jenseits
der Naturwissenschaften ist20. A u f der Fähigkeit, „bonheur“ zu erreichen und zu
verteidigen, beruht die Unterscheidung zwischen Freiheit und Tyrannis, die -
letztlich - das eigentliche Interesse Sismondis an seiner eigenen Zeit, d.h. seiner
Bewunderung für die Französische Revolution und seiner Verachtung für N ap o
leon, ausmacht: „The sym p ath y existing among fellow-citizens, from the habit of
living for each other and b y each other, - of connecting every thing with the good
of all, - produced in republics virtues which despotic states cannot even imagine
[ .. .] “21. Diese Verherrlichung der Freiheit ist geschichtswissenschaftlich gesehen
sicherlich übertrieben, erhält ihre Rechtfertigung aber aus dem politischen A n
liegen Sismondis, das er in der Definition der Freiheit - und m. E. auch des Ge
meinwohls - am Schluß seines kleinen Buches formuliert: „It is the participation
of numbers in the government, and not the name of republic as opposed to mon
archy, that constitutes liberty: it is, above all, the reign of the laws; publicity in the
d ella sto ria d ’ lta lia d ei seco li di m ezzo (L u g an o 1836). E ine n eu ere Ü b e rse tz u n g von A . S a l
sano ist m it ein er E in leitu n g von P. S ch iera ersch ien en u n ter dem T itel: S to ria d e llc re p u b b li-
che italian e (T urin 1996).
18 H isto ry , In tro d u c tio n 1,
19 Im „A ve rtisse m e n t“ z ur zw e iten A u sg a b e d e r „ P rin c ip e s“ steh t d agegen a u f S eite IV:
.. l’accro issem en t des rich esses n ’est pas le b ut de P eco no m ie p o litiq u e , m ais le m oven do nt
eile d isp o se p o u r p ro c u re r le b o n h eu r de to u s“ .
20 G. D u p u igren et-D esroussilles, S ism o n d i et le g o ü t du b o n h eu r (esq u isse de p sy c h o a n a
lyse), in: H isto ire , so c ialism e et c r itiq u e de l’eco n o m ie p o litiq u e , E con o m ies et societcs X
(P aris 1976), zit. n ach: F. Sofia, U n a b ib lio teca gin ev rin a del settecen to : i lib ri del gio van e S is
m ondi (R o m 1983). A u f den Seiten 95 ff. w id m et die A u to rin d e r L eid en sch aft S ism o n d is fü r
die B o ta n ik einen u m fan greich en E xkurs u n d leitet d arau s ein en Z u sam m en h an g zw isch en
dieser un d S ism o n d is In teresse fü r V erfassun gsfragen ab.
Sismondi, H is to r y 146.
76 P ieran gelo Sch iera
III.
Sismondi, dessen W erk noch zu wenig erforscht ist, besticht durch die Internatio
nalität seiner Biographie und seiner die Disziplinen überschreitenden w issen
schaftlichen Interessen und Werke. Aus diesem Grund bringt er m. E. ein für das
ganze Europa seiner Zeit typisches Phänomen zum Ausdruck, das ich als „Kon-
stitutionalisierung des Zusammenlebens" bezeichnen möchte. Sie sollte nicht nur
der gegenseitigen Hilfe und „Zuwendung“ zwischen den M itgliedern der Gesell
schaft dienen, wie dies bereits im Mittelalter, in H um anism us und M oderne vom
13. bis 18. Jahrhundert als einer ersten Phase der E ntwicklung der Lehre des G e
22 E bd. 269.
23 /. C. L. Sism ondi, A vertissem en t, a.a.O ., V I, sp ric h t au sd rü c k lic h von „science du bien
p u b liq u e “ u n d in den N o u v eau x p rin cip es 5, d efin ie rt er d ie „science de la le g is la tio n “ als
„th eo rie !a p lu s su b lim e d e la b ien faisan ce“: „E lle so ig n e les h om m es et co m m e n atio n , et
com m e in d iv id u s ..
24 Sism ondi, N o u v e a u x p rin c ip es 3 f.; „M ais rien n ’est p lu s co m m u n dans to u tes les scien ces
p o litiq u e s q u e d e p erd re d e vue l ’une ou l ’au tre face d e ce d o u b le b u t.“
25 Sism ondi, N o u v eau x p rin c ip es 336.
G e m e i n w o h l in I ta lie n u n d D e u t s c h l a n d 77
meinwohls der Fall gewesen w ar26. Für Sismondi gellt es darüber hinaus um die
Menschenrechte, die soziale Frage und die Leistungsfähigkeit des Staates. Was die
diesbezüglichen französischen Verfassungstexte über die Menschenrechte sagen,
haben w ir kurz behandelt und ist so bekannt, daß selbst ein Hinweis auf die wich
tigste Literatur zum Them a überflüssig erscheint. Für Deutschland liegen die
Dinge wesentlich komplizierter, aber auch hier wird allmählich geforscht, wie dies
bereits für Italien der Fall ist27.
Der Konstitutionalismus verdient also wohl, in seiner Entwicklung gegenüber
der Durchsetzung der „Sozialwissenschaften“ im Sinne des 19. Jahrhunderts und
des damit verbundenen Sozial- und Verwaltungsstaates untersucht zu werden, um
die Frage zu beantworten, ob diese Entwicklung wenigstens teilweise auf die
Theorie des Gemeinwohls zurückgeführt werden kann. N icht um Ergebnisse vor
wegzunehmen, sondern um Mißverständnisse zu vermeiden, ist zu betonen, daß
die wesentliche Variable der Veränderung des Gemeinwohls in der nachrevolutio
nären Zeit m. E. in der Entwicklung der Verwaltung liegt, wie sie - sowohl mit der
Revolution als auch mit der Verfassungsfrage eng verbunden - in ganz Europa zu
beobachten ist. Das gilt auch für das mögliche Weiterbestehen als Referenzbegriff
im langen Prozeß der demokratischen Verwissenschaftlichung der Politik28.
A m Ende des revolutionären Prozesses proklamierte Napoleon 1799: „[...] la
Constitution est fondee [...] sur les droits serves de la propriete, de Tegalite, de la
liberte [...]. Citoyens, la Revolution est fixce aux principes qui l ’ont commencee.
Elle est finie.“ Dieser rätselhafte und doppelbödige Satz kann meiner Ansicht
nach auch einfach so interpretiert werden, daß es sich erübrigte, sobald die Revo
lution in der Konstitution fixiert war, von „konstituierender“ Gewalt zu spre
chen, da man es direkt mit einer „konstituierten“ G ewalt zu tun hatte. Diese letz
tere hatte sowohl das eher traditionelle M erkm al des gemeinen Wohls als auch das
revolutionäre des allgemeinen Willens in sich aufgenommen, um beiden das
Werkzeug für ihre Erhaltung und praktische U m setzung zu garantieren. Dieses
W erkzeug w ar die Verwaltung, die durch die Revolution grundlegende Verände
rungen dahingehend erfahren hatte, daß sie stärker verrechtlicht und straffer orga
nisiert wurde. Für Deutschland und Italien genügt die Erwähnung von Namen
wie M ohl und Stein, Romagnosi, Brunialti und Spaventa, um das Gewicht und die
Richtung dieser Entwicklung zu charakterisieren29.
(A alen 1962); G. D. R o m a gn osi, D e ll’in d o le e dei fatto ri d e ll’in civ ijm e n to con esem p io del
suo riso rg im en to in Italia (M aila n d 1839). F ü r den „ a u fg e k lä rte n “ A sp ek t d er V erw altu n g in
Italien b ereits im 18. Ja h rh u n d e rt vgl.: B. Sordi, L’ am m in istra z io n e illu m in a ta. R ifo rm a d elle
C o m u n itä e p ro g e tti di co stitu zio n e n ella T o scana le o p o ld in a (M aila n d 1991), u n d fü r die
deu tsch en L än d er: H. Maier, D ie ältere d eu tsch e S taats- u n d V erw altu n g sle h re (P o liz e iw is
sen schaft) (M ü n ch en 1980); auch D. W illoweit (H rs g .), S taatssch u tz, T h em en h eft von: A u f
k lä ru n g 7,2 (H a m b u rg 1992).
30 V gl. n eu erd in gs: G Gozzi, D em o crazia e d iritti. G erm an ia: d a llo Stato di d iritto alla d e-
m o crazia c o stitu z io n ale (B ari 1999), bes. Kap. 2: Lo S tato di d iritto e i d iritti p u b b lici so gg et-
tivi 3 5 -5 8 .
31 E.-W. B ö ck e n fö rd e , G esetz u n d gesetzgeb en d e G ew a lt: von den A n fän gen d er deu tsch en
S taatsrec h tsle h re b is zu r F lö h e des staatsrec h tlich en P o sitiv isn iu s (B erlin 1981).
3- Merk, D er G ed an k e des gem ein en B esten 70 -7 1 .
33 E rw äh n e n sw e rt ist an d ieser S telle, d aß R . G n eist u n m itte lb a r ins Italien isch e ü b erse tz t
w u rd e : R. Gneist, Lo S tato secon do il d iritto , o ssia la g iu s tiz ia n e ll’a m m in istra zio n e p o litica
(1872, B o lo gn a 1884). In d iesem Z u sam m en h an g m ö ch te ich ein Z itat von S ilvio S paven ta
(B erg am o 1880) a u fgreifen , zit. n.: R a ffaela G berardi, Von d er V erfassun g z u r V erw altu n g
140: „In d er V e rw altu n g ist F reih eit w ese n tlich R e s p e k tie ru n g d es R ech ts u n d der G ere ch tig
keit, u n d dies k o n s titu ie rt das, w as d ie D eu tsch en „R ec h tssta a t“ n en nen, d .h . den C h a ra k te r
d er m o d ern en M o n arc h ie , fü r d ie n ich t n u r die R ec h te b e z ü g lic h d er p riv aten G üter, so n d ern
jedes R ech t u n d In teresse, das je d e r e in ze ln e B ü rg e r in d er V erw altu n g d er G em ein g ü te r h at,
seien sie m o ralisch o d er ö k o n o m isch , jed em e in ze ln en sic h e r g aran tiert i st . . Si l vi o S paven ta
ist u .a . V erfasser von: G iu stiz ia n e ll’a m m in istra z io n e (R o m 1880), d arin w ird die N o tw e n
d ig k e it b eto n t, „ .. .d ie G ren zen d er ge w ö h n lich en V erw a ltu n g im m er m eh r zu e r w e ite r n ..
D ie „ Ju stiz fö rm ig k e it d er V erw a ltu n g “ b ild e t auch fü r O tto M a y e r d ie Q u in tessen z des V er
w altu n gsrec h ts.
G e m e i n w o h l in I ta lie n u n d D e u t s c h l a n d 79
dein der M itglieder der Gesellschaft einwirken. A uf diesem Gebiet besitzt der
Staat auch aufgrund der fortschreitenden Verrechtlichung und Organisation der
Bürokratie ein ausschlaggebendes Gewicht. Die Bürokratie als eigentliches Sub
jekt der Verwaltung ist in erster Linie ein staatliches W erkzeug, sie spielt aber auch
eine wichtige Rolle für die Emanzipation der Gesellschaft, denn sie eröffnet ihr
nicht unwesentliche Spielräume34.
Zusammenfassend lautet meine These, daß die Verfassungen nicht nur im gan
zen politischen System der neuen „nachrevolutionären“ Staaten große Verände
rungen mit sieh gebracht haben, sondern auch direkt in der Verwaltung, denn sie
erhielt Aufgaben, Zwecke, inhaltliche und ideelle Handlungsbereiche zugewiesen,
vergleichbar mit denjenigen, die vor und in der frühen N euzeit, jedenfalls aber im
Absolutismus unter dem „sicheren“ Mantel des Gemeinwohls vereint waren. B e
sonders deutlich bringt dies die berühmte Definition von Lorenz von Stein zum
Ausdruck, nach der Verwaltung „lebendige Verfassung“ sei35. Nicht minder prä
gnant ist in diesem Sinne die Formulierung von Otto Mayer, dem Juristen und
„Begründer“ des deutschen Verwaltungsrechts, der gerade die geringe Wissen
schaftlichkeit der Verwaltungslehre Steins heftig kritisierte. Er bezeiehnete die
Verwaltung als „Tätigkeit des Staates zur Verwirklichung seiner Z w ecke“36. Klar
tritt dies auch aus der deutschen Literatur zu Fragen der Verfassung und Verwal
tung bis zum Jahre 1848 hervor, aber auch in der politischen Praxis, die daraus
hervorging, angefangen von der „Verfassung des Deutschen Reiches“, verkündet
von der „Verfassunggebenden N ationalversam mlung“ am 28. M ärz 1849, und der
„Preußischen Verfassungsurkunde“ vom 31. Januar 1850 über die Verfassung des
Norddeutschen Bundes von 1867 bis hin zu der unter der Ägide Bismarcks am
16. April 1871 verkündeten „Verfassung des Deutschen Reichs“37. Eine ähnliche
Orientierung findet sich auch in Italien, basierend aut einer eigenständigen Tradi
tion, die auf die A ufklärer des 18. Jahrhunderts von Filangieri bis Verri zurück
geht38. An erster Stelle zu nennen wäre vielleicht neben Melchiorre Gioia mit sei
nem 1815 erschienenen „Nuovo prospetto delle scienze economiche . . . “39 auch
Giandomenico Rom agnosi mit seiner U ntersuchung über „die Charakterzüge ei
nes zur höchsten M acht gelangten Staates“, die mit den „Funktionen des sozialen
Staates“ gleichzusetzen sind. Daraus erwächst für ihn die N otw endigkeit dessen,
was er die „Vergesittung“ (incivilimento) nennt, die in der ökonomischen, m ora
lischen und politischen Vervollkommnung der „sozialen A nsam m lung“ besteht,
um „durch M äßigung der Machtbefugnisse der Regierung eine gute Gesetzge
bung und eine treue Verwaltung zu erhalten“40.
Auch an dieser Stelle scheint mir nicht der Fortschrittsgedanke im Vordergrund
zu stehen, der so stark von Elementen der A ufklärung geprägt ist und daher den
vielfältigen Interessen Romagnosis nicht gerecht w ird, sondern vielmehr der
wichtigere Begriff der „Verfassung“, die das ein wenig abstrakte Konzept der Ver
gesittung politisch lebendig macht. „Lebensweise eines Staates“ ist eine Form ulie
rung, die ich auch heute noch keineswegs unpassend fände, um sich begrifflich
dem Verfassungsproblem anzunähern. Diese „Weise“ ist für Romagnosi niemals
allgemein, sondern besitzt normative Wertigkeiten auf halbem Weg zwischen N a
turrecht und positivem Recht, die auf dem dynamischen Grund der „Verfassung“
ruhen, der er seine „Scienza“ gewidm et hat41. Es geht nämlich nicht nur um Recht,
sondern um materiellere und konkretere Zielsetzungen der Menschen, die auch
politisch dank der „sozialen Kraft“ zu erreichen sind, die in der ganzen europäi
schen Geschichte dynam isch gewirkt hat und für Romagnosi nichts anderes ist als
das Streben nach kollektivem Glück, nach dem bonum commune42. In die gleiche
Richtung wäre weiterhin ein berühmter Anhänger von Romagnosi zu zitieren,
Carlo Cattaneo, der unter anderem die bereits erwähnte sehr schöne Feststellung
Sismondis über den Zusammenhang von Verfassung und Wissenschaft aufgreift:
„Solange w ir nicht den M ut haben, in unsere Verfassungen unsere wahre Religion,
nämlich die Wissenschaft, hineinzuschreiben, werden unsere Feinde sich mit den
Waffen, die ihnen unsere Feigheit zur Verfügung stellt, auf unser Feld drängen
können.“43
IV.
45 P. S ch iera , II la b o ra to rio b o rgh ese. S cien za c p o litic a n ella G erm an ia d c ll’O tto cen to (B o
lo gn a 1987), dt.: L a b o rato riu m der b ü rg e rlic h e n W elt. D eu tsch e W issen sch aft im 19. J a h r
h u n d ert (F ra n k fu rt a.M . 1992). D as b etrifft auch d en Ü b e rg a n g vom R ech tsstaat zu m S o z ia l
staat [vgl. d azu d ie h isto risch -v e rg le ich cn d e A n a ly se : G e rh a r d A. R itter , D er S o zialstaat:
E n tsteh u n g un d E n tw ic k lu n g im in tern a tio n a le n V ergleich (M ü n ch en 1991)] un d die d am it
zu sam m en h än gen d e F rage d er w issen sc h aftlic h e n B e h a n d lu n g des P h än o m en s, d ie von ein er
fo rtsch reiten d en ju ristisc h e n F o rm a lisie ru n g un d d am it auch V eren gu n g ge k en n zeic h n et ist.
V gl. d a zu : Erk V. H e y e n (H rsg .), W issen sch aft u n d R ech t d e r V erw altu n g seit dem A n cien
R egim e, a.a.O .
46 Zum K rite riu m d e r „ L e istu n g sfä h ig k e it“ ist zu v erw eisen au f d ie b eid en gro ß en deu tsch en
V erw a ltu n g sw issen sc h a ftler O tto M a y e r u n d E rnst F o rsth o ff, die dieses P rin zip als G ru n d
lage d er staatlich en V e rw a ltu n g stä tig k e it ein g efü h rt bzw . erw e ite rt haben. Ü b er den S taat als
P e rsö n lic h k eit vgl. von italie n isc h e r Seite: M aurizio Eioravanti, G iu risti e c o stitu zio n e p o li
tica neH’O tto c en to tedesco (M aila n d 1979); P. Costa, S tato im m a g in ario . M etafo re e p ara-
d ig m i n ella c u ltu ra g iu rid ic a fra O tto cen to e N o v ecen to (M a ila n d 1986).
47 L. O r n a g h i (H rs g .), 11 co n cetto di „ in teresse“ (M a ila n d 1994), un d: S tato e co rp o razio n e.
S to ria di un a d o ttrin a n ella c risi d el sistem a p o litico co n tem p o ran eo (M a ilan d 1984); u n ter
einem an d eren A sp e k t auch : F ulvio Tessitore, C ris i e tra sfo rm a zio n e d ello Stato . R ich erch e
sul p en siero g iu sp u b b lic istic o italia n o fra O tto e N o v ece n to (N e ap e l 1963).
4S F ü r Italie n g ilt das k la ssisc h e W erk: M arco M inghetti, I p ar titi p o litic i e la in g e ren za Joro
n ella g iu stiz ia e n e ll’a m m in istra z io n e (B o lo g n a 1881). D arü b er: R affaela G herardi, L’arte del
co m p ro m esso . L a p o litica d ella m ed iaz io n e n e ll’ Italia lib e ra le (B o lo g n a 1993).
49 Zu v ersteh en n äm lich als „leb en d ige V erfassu n g“ n ach d er b ek an n ten F o rm u lie ru n g
Stein s. A b e r auch d e r B e g rü n d er des G ed an ken s d er L e istu n g sfä h ig k e it des Staates, O tto
M a y e r - d e r als B e g rü n d e r eines V erw altu n gsrech ts, das erfo lg reich d a ra u f ab z ielte , effe k tiv e r
u n d b in d e n d e r zu w e rd e n als d ie V erw altu n g sw issen sc h aft S tein s, dessen G egn er er w a r - ,
dach te an ein e z ie m lic h w e ite A u sb re itu n g der V erw altu n g : vgl. d azu auch zu den p h ilo so
p h isch en un d id e o lo g isc h e n V o rau ssetzu n gen d er B e g rü n d u n g des p o sitiv en V erw a ltu n g s
rech ts in D eu tsch lan d : Erk V F iey en , O tto M a ye r. S tu d ien zu den ge istigen G ru n d lagen
G e m e i n w o h l in I ta lie n u n d D e u t s c h l a n d 83
Die Organisation der Beziehungen zwischen der staatlichen Autorität und den
einzelnen politischen Subjekten war vielleicht der Bereich des gesellschaftlichen
Lebens, in dem wegen der gleichzeitig verlaufenden Prozesse der Demokratisie
rung und Industrialisierung die politische Auseinandersetzung am intensivsten
geführt wurde. Die Entwicklungen in diesem Bereich haben weder in Italien noch
in Deutschland - allerdings mit unterschiedlich schwerwiegenden Folgen - bis
zum Totalitarismus unseres Jahrhunderts eine dauerhafte Lösung gefunden. Wenn
es auch zu weit gehen würde, zwischen Revolution und Verfassung einerseits und
Reform und Verwaltung andererseits einfach Parallelen zu ziehen, kann es doch
nicht als Zufall betrachtet werden, wenn in der Zeit, mit der wir uns beschäftigen,
die letztere gegenüber der ersteren einen neuen Aufschwung erlebte50. Eine solche
umfassende Sicht scheint mir nicht unangemessen, und in diesem Zusammenhang
ist auch zu erwähnen, daß der mittelalterliche Gedanke der securitas geeignet ist,
die Hauptleistung der öffentlichen Verwaltung im Bereich der Sozialgesetzgebung
zu beschreiben.
M einer Ansicht nach kann man somit durchaus behaupten, daß der politisch
konstitutionelle Prozeß in Italien und Deutschland wie in ganz Europa zwischen
dem 19. und 20. Jahrhundert in seiner Gesamtheit von den Grundcharakteristiken
der „Lehre“ des Gemeinwohls keineswegs abweicht. In Italien spielte das Be
wußtsein der neuen Aufgaben, die der Einheitsstaat vor sich hatte, eine hervorra
gende Rolle, denn es ging um die H erausbildung des „modernen Staates“, verstan
den als „Vervielfältiger einer Transformation der Gesellschaft, die noch weitge
hend unvollendet“ w a r51. Für einen wichtigen A utor w ie Pasquale Villari bedeu
tete dies auch den bewußten Ü bergang von der romantischen Vorstellung aus der
Zeit vor der Einigung von der Kommune als hortus conclusus der Freiheit52 zu der
neuen Vorstellung vom Staat als „Laboratorium, in der materielles Handeln und
Werte Gestalt annehmen, die eine moderne Gesellschaft auszeichnen f...] “53. An
seiner V erw altu n g sw issen sc h aft (B erlin 1981); A. H u eber, O tto M aye r, D ie „ ju ristisch e M e
th o d e“ im V erw altu n g srec h t (B erlin 1982); vgl. auch d ie R ezen sio n von P. Schiera zu den b ei
den W erken in: Ju s . R iv ista d i scien ze g iu rid ic h e 30 (1983) 273.
50 C hristof D ipper, R ifo rm a sociale. S to ria d i un co n cetto co n tro v e rso , in: R a ffaela G h er-
ardi, G u stavo G ozzi (H rs g .), C o n c e tti p o litic i d e ll’O tto cen to in G erm an ia e in Ita lia (B o lo
gna 1992).
31 Luisa M angoni, L o S tato u n ita rio lib erale, in: La le tte ra tu ra italian a, Bd. 1: II le tte rato e le
istitu z io n i (T urin 1982) 475; au ch : Silvio L anaro, 11 P lu tarco ita lia n o : l ’istru z io n e d el p o p o lo
dopo l ’U n ita , in: S to ria d ’Italia. A n n ali 4: In te llettu a li e p o tere (T urin 1981) 554: „ ... d er ja
ko b in isch e W un sch , nach d er E in ig u n g eine G esellsch aft m ittels des S taates en tstehen zu las
sen, ist dem gesam ten geb ild ete ren u n d m odernen B ü rg ertu m Italien s gem ein sam . C risp is
K onzept des S taates, das sich von den P rin z ip ien d er E th ik B e rn ard o S p aven tas n ur u n w e
sen tlich u n tersch eid et, stim m t b eisp ielsw e ise m it den V o rstellu n gen ein es gro ß en T eils d er
H isto risch en R ech ten ü b erein . . . “.
32 L iier kö n n te sich ein o ffen er W id e rsp ru c h zu den T h esen S ism o n d is v e rb ergen , die im Ita
lien des R iso rg im en to so w eite V erb reitu n g fanden.
53 M. M oretti, „L’ Ita lia , la civ iltä la tin a e la c iv iltä g e rm an ic a“ (1861). S ü lle o rig in i d eg li stu d i
m cd ievistici di P asq u ale V illa ri, in: R ein h a r d Elze, P ie ra n g elo Schiera (H rsg .), Ita lia e G erm a
nia. Im m agin i, m o d e lli, m iti fra d u e p o p o li n e ll’O tto ccn to : il M ed io v ev o . D as M ittelalter.
84 P i e r a n g e l o S c h ie r a
ciie Stelle der poetischen Verherrlichung der städtischen Freiheiten, wie sie die Fö
deralisten vor der Einigung verfaßt hatten, trat nach der Einigung die prosaische
Darstellung von Verwaltungsakten des neuen Staates: „Die Reformmethode des
Staates, die sich auf U ntersuchung gründet, sollte sich bei ihrer Verwirklichung in
die Verbindung von .Macht' und ,'Wissen“ um setzen“54. Von einer vagen Form der
Gesellschaftswissenschaft, die vom Gedanken der Vergesittung getragen war, galt
es, zu der konkreteren politischen Wissenschaft überzugehen, die sich auf die fak
tische Analyse von Institutionen, Ö konomie und Verwaltung stützte55.
V.
„In den ersten O ktobertagen 1872 traten in Eisenach eine Anzahl M änner aller
politischen Parteien zu einer Beratung über die wichtigsten sozialen Fragen der
Zeit, Fabrikgesetzgebung, Gewerkvereine und Wohnungsfrage, zusam men.“ M it
diesen Worten eröffnete Gustav Schmoller die Versammlung des „Vereins für So
cialpolitik“ am 23. O ktober 1897 in Köln, und schon in diesen ersten Worten wird
deutlich, wie sehr der Gedanke des „Gem einwohls“ auch 25 Jahre später die Tref
fen dieser „Männer aller politischen Parteien“ beseelte56. Eindrucksvoller noch
ist, wie Schmoller die Zeit von 1862-1875 beschreibt, die er als den wichtigsten
Untersuchung der sozialen Fragen nur „nach dem Maßstab der allgemeinen
Wohlfahrt“ zu messen64.
Wenn man diese wichtige Rede Schmollers an und über den Verein näher be
trachtet, ist zu unterstreichen, w ie er die N ähe zu den katholischen und protestan
tischen Bewegungen betont, die seit den 80er Jahren in Gesellschaft und Politik
Deutschlands sich mit wachsendem Interesse für die sozialen Probleme einsetz
ten: „Es ist dieselbe geistig-ethische und soziale Gedankenwelt, welche in der
deutschen Staatswissenschaft, im besten Teil unseres Beamtentums und unserer
Geistlichen, welche in dem wiederbelebten christlichen und staatlichen Sinne wie
in einem Teil des politischen Fortschrittes sich von 1880 bis zur Gegenwart immer
mehr Terrain eroberte, welche in der Arbeiterschutzgesetzgebung von 1891 einen
gewissen Triumph feierte.“65 Später wiederholte Schmoller in einem Artikel aus
dem Jahre 1901 seine Ansicht, daß weder der liberale Individualismus mit seinen
alten Theorien des Manchestertums noch die feudal-konservativen Lehren in der
Lage seien, der großen politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung seit
der Reichsgründung gerecht zu werden. Der Verein f ü r Socialpolitik sei dem ge
genüber entstanden aus der Vereinigung von Verfechtern sozialer Reformen und
eines maßvollen sozialen Fortschritts gegen den Sozialismus auf der einen und das
Manchestertum auf der anderen Seite.
Schon Brentano habe „die sittlichen Zwecke des Menschen, das größtmögliche
leibliche und sittliche Wohlbefinden der M enschen“ w ieder in den Mittelpunkt
des ökonomischen Denkens gerückt, und das Wirtschaftsleben habe so wieder
eine Funktion der Gesellschaft und des Staates werden können66. Bismarck habe
dann aus „sozialethischem Pflichtgefühl“ zwischen 1878 und 1890 die erste Phase
der Reformen der Arbeiter-Versicherungsgesetze eingeleitet, die sich ihrerseits an
der sächsischen und preußischen Bergwerksverfassung vom 16. bis 18. Jah rh un
dert orientierte67. I n d e r zweiten Phase von 1890 bis 1895 sei der junge Wilhelm II.
bestimmend gewesen, der die Gesetzgebung zugunsten der Arbeiter vor allem auf
dem Gebiet des Vereinsrechts mit N achdruck vorangetrieben habe. Dann aber
64 S chm oller, Z w a n z ig J a h r e 33. In W ir k lic h k e it ist Schm oller, w ie auch aus einer R ed e in
Breslau im J a h r 1899 h ervo rgeht, sehr ü b e r die W e n d u n g der R e g ie r u n g s p o lit ik nach dem
A b g a n g Bism arck s b e u n r u h ig t u n d d r ü c k t laut den W u n s ch aus, „daß u n sere soziale P o litik
in den Bah nen bleibt, die das D eu tsche R eich von 1881-1891 beschritten hat“ , E rö ffnu ng s
w o rte z u r G e n er a lv ers a m m lu n g des Vereins für S o c ia lp o litik in B reslau am 25. Septem ber, in:
Schmoller, Z w a n z ig J a h re 42.
65 Schmoller, Z w a n z ig J a h re 30. W eiter un ten w ir d zu zeigen sein, w ie die se E instellu n g
- 50 J a h r e später, nach den Exzessen des T o talitarism us - vor allem von ka th o lisc h e r Seite
aufgegriffen w u rd e . Sie n ahm dann B e z u g a uf die christliche S oziallehr e von Papst L eo XIII.
aus der Zeit Sch m ollers un d g rü n d e te sich w ie bei die sem auf die A ngst vo r der R ev o lu tio n
der Sozialisten auf d e r einen un d v o r d em in div id ualis tisch en K o n serv a tivism us des M an ch e-
sterliberahsm us a uf d er a nderen Seite. H ie r ist vielleicht le dig lic h Sch m ollers z u sa m m e n fa s
sende B e m e rk u n g ü b e r die R o lle des Vereins zu erw ä h n e n : „Das Ü b e r g e w ic h t d e r G esam t-
mteressen üb er die egoistischen K lassenin teressen gilt es zu e r h a lte n .“
66 D er Verein für S o c ia lp o litik un d die soziale R eform , I, Schmoller-, Z w a n z ig J a h r e 43 f.
67 D er Verein fü r S o c ia lp o litik un d die soziale R eform , II, Schm oller, Z w a n z ig Ja h re 4 6 f.
Zum eth isch -so zialen A sp ek t vgl.: H. Rosin, G r u n d z ü g e einer all gem ein e n Staatsle hre, a.a.O.
88 P i e r a n g e l o S c h ie r a
habe sich unter dem D ruck der gewandelten Einstellung der Parteien, allen voran
der konservativen und der nationalliberalen, der Wind gedreht. Weder das Zen
trum noch die Sozialdemokratie seien demgegenüber zahlenmäßig und in p o li
tisch-kultureller Elinsicht in der Lage gewesen, eine politische Aufgabe in dem
Umfang, dessen Deutschland nun bedurfte, zu realisieren. Deshalb habe sich nicht
nur das Tempo der Sozialreform verlangsamt, sondern es seien w ieder „Genuß
sucht und H absucht der Individuen“ und „Haß und Kampforganisation der Klas
sen“ zum Vorschein gekommen. Für Schmoller stellte sich an diesem Punkt vor
allem die Frage, ob die führenden Länder Europas noch des notwendigen „geisti
gen und sittlichen A ufschw ungs“ fähig seien68. All dies zeigt meiner Ansicht nach,
wie sehr er „wissenschaftlich“ jenen „Zeitgeist“ zu schaffen vermochte, der im
Zeichen der sozialen Frage vielleicht zum letzten M al der Lehre vom Gemeinwohl
eine mögliche Form zu geben wußte.
VI.
„Das 15., 16. und der Anfang des 17. Jahrhunderts sind auch für Brandenburg
und Preußen die Zeit des ständischen Territorialstaats“, schreibt Schmoller in ei
nem berühmten Aufsatz über die Epochen der preußischen Finanzpolitik , von dem
seine Ü berlegungen 'zur M odernität ausgehen („das kräftige politische Leben“),
die ihn besonders interessiert. In dieser Hinsicht w ird durch die Einbeziehung der
gesellschaftlichen Kräfte unter Führung des Adels, des Fleeres und der sehr leben
digen Bürokratie nach Schmollers Ansicht unter Friedrich II. ein Flöhepunkt er
reicht: „Gesellschaft und Volkswirtschaft hatten sich der führenden Macht des
aufgeklärten Absolutismus untergeordnet, hatten die veränderten Formen ange
nommen, die den Ü bergang zur Rechts- und Steuergleichheit, zur heutigen bür
gerlichen Gesellschaft bildeten.“70
Schmoller ist stolz darauf, daß Preußen und Deutschland trotz ihres anfängli
chen Rückstandes gegenüber Frankreich und England aufholen und bis zum Ende
des 19. Jahrhunderts eine überlegene Stellung erreichen konnten. Dafür führt er
ökonomische und technische Gründe an, letztendlich aber geht es um ideelle M o
tive: „Die letzte Ursache jedes vollendeten leistungsfähigen Finanzwesens ist die
Flingabe des einzelnen an das Ganze, die Fähigkeit von M illionen, sich für ein
heitliche große Zwecke zu organisieren und Opfer zu bringen.“ Das Problem sind
zu allen Zeiten die Zielsetzungen des Staates, und die modernen „Kulturstaaten“
erfordern mehr M ittel als der mittelalterliche Staat, denn sie müssen viel umfas
sendere Zielsetzungen verwirklichen. A uch die H altung der Menschen zu den
Pflichten des Staates spielt jedoch eine Rolle und kom m t in den unterschiedlichen
politischen Verfassungen und Steuersystemen zum Ausdruck. Unter diesem
Aspekt beschreibt Schmoller die „Steuerpflicht“ als einen enormen moralischen
und geistigen Fortschritt: „Welche Abstraktion, einem unpersönlichen Wesen
ohne jede genaue Abrechnung im Einzelnen einen freiwilligen Antheil an allem
Einkommen der Staatsbürger zu gönnen! Welch sittliches Vertrauen, welche k o m
plizierte Organisation setzt das voraus.“
O bwohl Schmoller hier nicht ausdrücklich auf die Lehre vom Gemeinwohl Be
zug nimmt, behandelt er vornehmlich Them en aus diesem Bereich, w ie z.B. die
Gerechtigkeit als formales und materielles Problem, die von ihm als Grundprinzip
des ganzen politischen und gesellschaftlichen Lebens gesehen w ird 71. Diese Zu
rückhaltung läßt sich vielleicht so erklären, daß auch Schmoller sich der N o tw en
digkeit nicht entziehen kann, eine positive und wissenschaftliche Sprache zu be
nutzen und eine stark moralisch aufgeladene Ausdrucksweise zu vermeiden, in
der jahrhundertelang die Lehre vom Gemeinwohl verbreitet worden war. Dabei
VII.
76 Diese B e m e r k u n g sta m m t von Isacco Artom, dem G en era lse kretä r im A u ß e n m in is te riu m ,
an M in gh etti im J a h r 1884, zit. n.: F ed erico C h a b od , Storia della politic a estera italiana del
1870 al 1896 (Bari 1990), 598; im to lgen dcn zitiert: C h a b od , Storia.
77 Luigi Salvatorelli, Storia del N o v ece n to ( M a ila n d 1981). D a z u auch, w as C r is p i in d er Tu-
t'iner Rede vom 25. O k to b e r 1877 nach seinem Treffen m it B ism arck in Fried rich sru h über
diesen sagte: „Die G eschic hte der Zeit, in der w ir leben, w ir d von ein e m M a n n beherrscht:
[ . . . ] sein R e g ie r u n g s p r o g r a m m zeich n e t sich d urch eine w u n d e rb a r e A u s r ic h t u n g d er u n t e r
schie dlichen Teile auf ein einziges Ziel aus: die ses scheinbar do pp elte Ziel ist in W ir k lic h k e it
nur ein einziges, n äm lich der Friede und die G röße seines L a n d e s “, zit. n.: C h a b od , Storia
184 f.
92 P i e r a n g e l o S c h ie r a
quenz folgte“. Weil dies in Italien nicht geschehen w ar78, verfestigte sich in Italien
ein M inderwertigkeitsgefühl gegenüber den Deutschen, das sich an der Vorstel
lung der M odernität und genauer gesagt der „Modernität des Staates“ fest-
machte79. „Mit Deutschland gemeinsam am Triumph der harmonischen D em o
kratie und des unaufhaltsamen Fortschritts arbeiten“, forderte Marselli 1870 in
seinem Programm für ein neues Europa, das unter deutscher Führung „in kluger
Weise lernen, arbeiten, sich eine O rdnung geben und voranschreiten“ wolle80. Die
„soziale Revolution“ w urde auch von der „extremen L in ken “ thematisiert, wie sie
Giovanni Bovio definierte, der 1886 die politisch-ökonomischen Positionen so
wohl der Rechten als auch der Linken kritisierte81. Dafür gibt es in der Wissen
schaft, vor allem auf juristischem und ökonomischem Gebiet, viele Beweise. Diese
Aspekte müssen betont werden, da die Wissenschaft auch im politischen System
Italiens eine tragende Rolle spielte und in Wirklichkeit gerade zur Leistungsstei
gerung und M odernisierung beitrug, die man, wie gesehen, an den Deutschen so
bew underte82. 1887 erschien in der seit vier Jahren bestehenden „Rassegna di
scienze sociali e politiche“ ein Aufsatz von Boglietti mit dem Titel II socialismo di
Stato in Germ ania. Darin w urde die von Schmoller vertretene Richtung unter
zwei Aspekten dargestellt: zum einen im H inblick auf die Politik Bismarcks, zum
anderen im Verhältnis zu dem immer revolutionäreren Sozialismus marxistischer
87 R. Dalla Volta, Dieci anni di soe ialism o di Stato in G erm ania, a.a.O ., der seinerseits zit..:
W. H. D aw son , B ism a r c k and State S ocia lism (L o n d o n 1890).
88 Francesco Saverio N itti, der seit 1898 den L eh rstu hl für Fina n zw issen sc h a ft an der U n i
versität N ea p el in nehatte, grü n de te 1894 die Zeitschrift „ R ifo rm a s o c ia le “, hatte aber bereits
z u v o r an d er „ R a sse gn a “ m itgearb eitet, w o er ü b er die R ü c k s tä n d ig k e it d er italienischen P o
litik im eu ro päischen Vergleic h und b esonders g e g en ü b er D eu tsc h la n d auf dem G ebiet der
S ozialve rsich er un gen ein sehr hartes U r te il fällte. Das deutsche S o zia lve rsich eru n gsw e sen
nannte er „ein gigantisches W erk , das mit dem H a m m e r eines S o z ia l-Z y k lo p e n geschaffen
w o r d e n ist“.
89 G u stavo Gozzi, M o d e lli p olitici e qu estio n e sociale in Italia e G e rm a n ia fra O tto e N o v e
cento (B o lo g n a 1988) 93 ff. un d 181 ff.; A. Cardini, G ustav S ch m o ller e l’ Italia. La cu ltura c
l’o pera degli econ o m isti fu nzion ari, in: Schiera, G ustav S ch m o ller e il suo tem po 127-152.
Als Ü b e r b lic k vgl. R. Faucci, La scien za econ o m ica in Italia (185 0-194 3): da Francesco F e r
rara a L uigi E inau d i (o.O . 1981)
90 R aflaela Gherardi, L’Italia dei co m pro m essi. Politica e scienza n ell’ etä della Sinistra, in:
Schiera, G ustav S ch m oller e il suo tem po 21 7-252.
G e m e i n w o h l in Ita lie n u n d D e u t s c h l a n d 95
und Marxismus verknüpft w ar91. Von Luigi Cossa bis Giuseppe Ricca Salerno und
Antonio De Viti De Marco, von Paolo Emiliani-Giudici bis Giuseppe Toniolo se
hen alle italienischen Ö konomen ihr Ideal in der mittelalterlichen „Dem okratie“
der Stadtstaaten, besonders in Florenz, und zugleich in der politisch-sozialen
N otwendigkeit, den neuen Staat mit ausreichenden Mitteln auszustatten, damit ei
sernen Aufgaben gerecht werden kann92. Auch Fedele Lampertico sieht bei sei
nem Versuch, die Abhängigkeit der italienischen Ö konomen von der deutschen
Wissenschaft zu rechtfertigen, das entscheidende Kriterium der deutschen Lehre
in der ökonomischen Funktion des Staates, der „mit allen seinen konstitutiven
Elementen und in der Fülle seiner Funktionen“ betrachtet wird, zu dessen „Auf
gaben“ in erster Linie Einheit, Souveränität und Wohlstand seiner Bürger gehö
ren. Deshalb führe die moderne Ö konom ik, die sich auf das Prinzip der Gesell
schaftlichkeit stütze und unter historischen und ethischen Gesichtspunkten z u
gleich behandelt wurde, notwendig zum Staat als „einem der mächtigsten und
wichtigsten Produktionsfaktoren“93. Ähnliche Vorstellungen sind bei Cusum ano
in einem Lampertico gewidmeten Werk zu finden, dessen Methode darauf zielt,
„den wahren Fortschritten der Wissenschaft zu folgen, und sich nicht vom Ruhme
des Vaterlands, von der maßvollen Art und dem Maßstab italienischer Eigenart zu
entfernen“. Die soziale Frage wird von ihm als der Motor für die neue wissen
schaftliche Orientierung des „Kathedersozialismus“ angesehen, der wie die „mo
dernen organischen Staatstheorien“ aus dem Fortschritt der Sozialwissenschaften
und der Vervollkommnung der Methode statistischer Betrachtung hervorgegan
gen ist94. Im weiteren zeigt er als höchsten Wert der deutschen Wissenschaft auf,
91 Schiern, S vilup p o delle scien ze sociali 101, w o ich in einem k u r z e n E x k urs die histo rischen
G run d la ge n d er n euen ö ko n o m is c h e n W issenschaft in Italien skiz zie re.
92 Im J a h r 1888 er schienen die b eiden g ru n d leg e n d e n W erk e d er italienischen F in a n z w is s e n
schaft: G iuseppe R icca Salerno, S cien za delle finanze (F lo ren z 1888); A ntonio D e Viti D e
Marco, II caratterc teorico d e ll’ec o n o m ia h n a n zia ria ( R o m 1888). D u rc h diese W e rk e erhielt
das F in a n zp ro b lem im m e r m eh r im m a n e n te un d technische, d .h . w issen schaftliche, Züge
und löste sich vom P ro blem der „Z ie le“ staatlichen H a n d eln s , die De Viti D e M a rco b e i
spielsweise als b lo ße „ P ostulate“ betrachtet, die anderen D iszip lin en en tn o m m e n sind. So
wird auch in Italien die F rag e nach W erten un d Inhalten - entsprechend d er L e h r e des G e
m ein w o hls - im N a m e n w issen schaftlicher D a rste llu n g neutralisiert. A u c h für R ic ca Sale rno
sind die öffentlichen F in a n zen „nic ht S taatsw irtsch aft im eigentlichen Sin n, die als ihr b es o n
deres Ziel auf Pro sperität gerichtet ist, s on d ern V erw a ltu n g der A u s g a b e n un d Einn ahm en ,
G esamtheit der G eldm ittel, die alle Ziele betreffen“.
93 i e d e l e L am pertico, E c on o m ia dei p opoli e degli Stati (M a ila n d 1874). U n t e r „cconom ia
dei p o p o li“ versteht L am p e rtico , w as im D eutschen „V olksw irtschaft“ g enan nt w ird , w ä h
rend die „econom ia degli S ta ti“ der d eu tsc he n „S taatsw irtsch aft“ en tspric ht. Im selben J a h re
erschien in d er „ N u o v a A n t o lo g ia “ die A n t w o r t L u ig i L u z z attis auf den A u fs a tz von Ferrara
unter dem Titel „L’ec o n o m ia p olitics e le scuole ge r m a n ic h e “. Bereits im ersten Kapitel, das
der „legge economica“ g e w id m e t ist, b egegnen A u s d rü c k e w ie „econom ia e t ec n o lo gia “, „so
ciality ec o n o m ic a “, „eco no m ia p rivata, ec on o m ia p o litica “, „legge un iv ersale di s o lid a rie tä “,
„sohdarietä e c o n o m ic a “. Das 10. K apitel trägt den Titel: „Soggetto della legge economica:
l’u o m o “, w ä h re n d im 14. Kapitel ausfüh rlich das T h e m a „fun zio ne ec on o m ica d ello Sta to “
behandelt ist.
,4 V! C usu m an o, Le scuole ec on o m ich e della G erm a n ia in rap po rto alla q u estio ne sociale
96 P i e r a n g e l o S c h ie r a
(N eapel 1875) 8 i ff. Z u r üb erau s w ic h tig en R olle d e r Statistik fü r d ie T h eo rie und fü r die
p ra ktisch en B e z ie h u n g e n z w is c h e n Ö k o n o m ie u n d V erw a ltu n gsw issen sc h a ft vgl. z u m
D eu tschlan d d er d a m a lige n Zeit: G. Mayr, D ie O r g a n is a tio n d e r am tlich e n Statistik und die
A rb e itstä tig k eit der statistischen B u reau s (M ü n c h e n 1875): A d o lf Wagner, Z u r Statistik und
z u r Frage d e r E in rich tu n g des n atio n a lö k o n o m isc h e n un d statistischen U n terric h ts an d en
deutschen U n ive rsitäte n, in: Zeitschrift des K ö n ig lic h -P reu ß is ch en statistischen B ureaus
(1877); W. Stieda, D eu tschlan ds sozialstatistische E rh eb un ge n im Ja h r e 1876, in: Ja h rb u ch für
G esetzge bu ng, V erw a ltu n g u n d V olk sw irtschaft 11 (1887) 205 ff.; z u r h eutigen L iteratur:
U. G. Schäfer, H is to risc h e N a t i o n a lö k o n o m ie u n d S ozialstatistik als G esellsch aftsw issen
schaften (1971); Irm ela G orges, S o zia lfo rsch u n g in D eu tsc h la n d 1872-1914. G esellsch aftli
che Einflüsse auf T h e m e n - un d M e th o d e n w a h l des Vereins fü r S o z ia lp o litik , a.a.O.
95 V C u su m a n o, Le scuole eco n o m ich e della G erm a n ia in ra p po rto alla q u cstio ne sociale,
a.a.O. 126 un d 127. C u s u m a n o b eze ich ne t sich als S c h ü ler von C o ssa, W a g n e r u n d Engel, a n
erken nt aber die in no vatoris ch e R o lle S ism on dis als Ö k o n o m , der „das soge n a n n te ethische
M o m e n t in die p olitisch e Ö k o n o m ie einführen, d e r W issenschaft ein k o m p le x ere s un d
w e n ig e r m aterialistisches Ziel als S m ith geben u n d ih r einen m en schlichen u n d p h ila n t h r o p i
schen C h a r a k t e r verle ih en w o llt e “ , zit. n.: Kautz, T h eo rie und G esch ic hte d er N a t i o n a lö k o
nom ie , Bd. 2 (W ien 1858).
96 Vgl. P. Wagner, S ozialw issen sch aften und Staat. Fra n kre ic h , Italien, D eu tschla n d 1870—
1980 (Fran kfu rt/ M ain 1990); R a ffaela Gherardi, L’arte del co m p ro m e sso . La politic a della
m ediazion e n ell’ Italia liberale ( B o lo g n a 1993).
97 Luigi Cossa, G u id a alio stu d io d e l l’econ o m ia politica, Bd. 2 (M a ila n d 1878) 129.
G e m e i n w o h l m I ta lie n u n d D e u t s c h l a n d 97
Gossas Schüler Giuseppe Ricca Salerno unterstreicht, wie sein Lehrer darauf
bedacht war, sich gegen die Strömung abzugrenzen, die „der Finanzwissenschaft
ein ökonomisches Fundament gab“ und dagegen das vorwiegend politische und
ethisch-juristische Fundament der „finanziellen Erscheinungsformen“ betonte98.
Auch hier darf der Verweis auf die Stadtstaaten nicht fehlen, die „ein zw ar flüch
tiges aber dennoch lebendiges Bild davon geben können, was ein moderner Staat
sein soll". Dieser in der Literatur des Risorgimentos häufig vorhandene Verweis
w ird an dieser Stelle mit der neuen brennenden sozialen Frage in Verbindung ge
bracht. Dieses Klischee ist schon 1856 bei Paolo Emiliani-Giudici zu finden, für
den das Studium der Stadtstaaten gerade dazu beitragen sollte, „die schlimmsten
Übel zu beseitigen, die unter dem nicht genau definierten Namen des Sozialismus
sich zu einer gleichförmigen Klage und Plage der zivilisierten V ölker entwickelt
haben“. Vor allem der Verweis auf Florenz sei nützlich, „den vielleicht dem okra
tischsten Staat, der je auf dieser Welt existiert hat“, das w ahre Modell „für die Lö
sung des Knotens, von dem w ir sehen, wie er immer kom plizierter w ird und deut
lich weitreichende und traurige U m w älzungen vorausahnen läßt“99. Bei Ricca Sa
lerno ist zu erwähnen, daß er die politischen Systeme in zwei Kategorien einteilt:
diejenigen, die auf der Lehre des Gemeinwohls, w ie sie vor allem von den D eut
schen Wolff, Justi und Sonnenfels vertreten wurde, basieren, und diejenigen auf
der Grundlage der Rechtslehre in der Nachfolge von Grotius, Kant, den Physio-
kraten und Smith. Selbstverständlich ist für ihn allein die erstere der N atur und
der Praxis der Kulturvölker angemessen, da nur durch sie auch die Durchsetzung
des Rechts garantiert werden kann 100.
Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in dem wichtigsten und sehr frühen
historischen W erk von Giuseppe Toniolo, in dem die Größe von Florenz vor al
lem aufgrund der „ethisch-ökonomischen Faktoren“, von denen der Stadtstaat
sich leiten ließ, im Vergleich zur Gegenwart leuchtend zur Geltung k o m m t101:
„Diese Vorbereitungsphasen sind von höchster Bedeutung für die Geschichte
eines Volkes und für die Einsicht in die Gesetze der Soziologie.“ Das gilt für die
seiner Ansicht nach in seiner Gegenw'art besonders w enig verstandene Frage der
Ethik in der Ö konomie, denn „es kom m t vor, daß die Sorge um die A nhäufung
von Reichtum die Ideale der Kultur erstickt und die Existenz materialistisch
macht. Dies war mitten in der wunderbaren wirtschaftlichen Blüte unserer mittel
alterlichen Republiken nicht der Fall, und vor allem nicht m Florenz.“ 102
Dies war m. E. das Bild der historisch ausgerichteten „Sozialwissenschaften“
Italiens im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Im Rahmen einer starken Berück
sichtigung der deutschen E ntwicklung sind die soziale Frage, die O rdnungsfunk
tion des Staates und das ethische M oment die wichtigsten Elemente dieser Strö
mung, die außerdem nach wie vor an der aus dem Risorgim ento übernommenen
romantischen Verherrlichung der mittelalterlichen Stadtstaaten festhält. Dieser le
bendige wissenschaftliche und intellektuelle Austausch zwischen Deutschland
und Italien stand mit den starken Ähnlichkeiten in Zusammenhang, die in der
Formation der Nationalstaaten und dem Aufbau ihrer wirtschaftlichen und ge
sellschaftlichen „M odernität“ gegeben waren. Allerdings ist die führende Rolle zu
berücksichtigen, die Deutschland inzwischen im internationalen Maßstab ein
nahm, und außerdem die Besonderheit seiner inneren politischen Struktur. Das
Problem der Wohlfahrt und des Wohlfahrtsstaates w urde im übrigen nicht nur in
Deutschland und Italien diskutiert, wobei man nur an die komplexe und kom pli
zierte Geschichte der großen liberalen und sozialistischen Ideologien und noch
mehr an deren A nwendung und Konsequenzen in der angelsächsischen Welt im
20. Jahrhundert zu denken braucht103.
VIII.
M an kann meiner Ansicht nach das bisherige Ergebnis in Bezug auf das G em ein
wohl folgendermaßen zusammenfassen: Wie ich einleitend zu zeigen versucht
habe, w ar die alte Lehre vom Gemeinwohl im 17. und 18. Jahrhundert in die große
europäische Bewegung des Konstitutionalismus eingegangen, w o Them en wie
Glück und Wohlstand der Bürger in die modernen „Verfassungsurkunden“ A u f
nahme fanden, so daß die Lehre des Gemeinwohls als Lehre erstmals grundlegend
neutralisiert wurde. Erst später jedoch, im Rahmen der Wirtschaftstheorien und
der Behandlung der sozialen Frage, werden einem autonomen Weiterbestehen
dieser Lehre Grenzen gesetzt, da sich die verschiedenen Zweige der Wirtschafts
wissenschaften, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Bezie
hungen zwischen Staat und Wirtschaft befaßten, immer mehr in eine deskriptive,
objektivierende, technische und neutrale Richtung entwickelten. Damit w urde
das „ethische M o m ent“ immer mehr in den H intergrund gedrängt, das in der B lü
tezeit der Lehre vom Gemeinwohl immer eine hervorragende Rolle gespielt hatte.
Trotzdem befaßte man sich weiterhin mit dieser alten Lehre, und sie stand nach
wie vor hinter den zwischen Wirtschaftswissenschaft und Sozialpolitik angesie
delten Grundüberlegungen, während die Sprache sich wissenschaftlicher, „de
skriptiver“ O bjektivität befleißigte. Diese Entwicklung hängt zweifelsohne mit
der mehrfach erwähnten, jedoch kaum zu überschätzenden Tatsache zusammen,
daß sich die Sozial- und Staatswissenschaften um die Wende des 19. zum 20. Jah r
hundert in Spezialdisziplinen auffächerten104. Eine Rolle spielt aber vielleicht
auch die gleichzeitige Verbreitung von „sozialen“ Bedürfnissen, Erwartungen und
Ideologien in immer breiteren Bevölkerungskreisen und daher die N o tw en d ig
keit, auf einer Ebene, die von der wissenschaftlichen verschieden war und niedri
ger lag, diese Bedürfnisse „populär“ zu erklären105.
Das Konzept des Gemeinwohls, das formal der Wissenschaftlichkeit zum O p
fer gefallen ist, findet andere Kanäle, um seine erklärende, beruhigende und diszi
plinierende Funktion weiterhin erfüllen zu können. Zwei verschiedene Wege
scheinen mir deutlich zu werden, die beide das Gemeinwohl wieder „populari
sieren“, nachdem es so stark verwissenschaftlicht worden war. Diese Populari
sierung entspricht m. E. der neuen „Massendim ension“, die die Politik und die
auch der Staat nach der positiven, d.h. erfolgreichen Lösung der sozialen Frage
entwickelte. Das betrifft beispielsweise auch die neuen Politik- und O rganisati
onsformen der Parteien, wie sie die Volksbewegungen des Zentrums und der So
zialdemokratie schufen106.
In dieselbe Richtung geht auch die zweite Entwicklungslinie der Lehre des Ge
meinwohls, die ein seit dem Mittelalter konstitutives Element betrifft, nämlich die
dem „Gemeinen“ innewohnende Pluralität aus Körpern und Körperschaften, auf
deren Eintracht ein geordnetes Zusammenleben basiert. A n dieser Stelle müßten
die „Verbände“ auch in praktisch-organisatorischer Hinsicht in der Sozialgesetz
gebung Bismarcks und der Italiens untersucht w erd e n 107. Ganz allgemein wäre
auch die Rolle des „Pluralismus zwischen Liberalismus und Sozialism us“ näher
zu untersuchen108. Erwähnenswert wäre auch, daß um die Wende des 19. zum
20. Jahrhundert auf diesem Wege alte und neue korporative Formen des Staates
wieder Verwirklichung fanden. Sie zeigten sich in einer eher soziologisch-realpo
litischen Version einerseits, die direkt auf die Vertretung „organisierter Interes
sen“ gerichtet w a r 109, in einer eher rechtlich-institutionellen Version andererseits,
wom it die Bedeutung des Rückgriffs auf die mittelalterliche Tradition und die
daraus entspringende Theorie und Praxis des Gemeinwohls nicht aufgehoben
w a r 110.
Das alles würde uns zu weit führen und verhindern, diese ohnehin schon langen
Ausführungen zu einem Ende zu bringen. Deshalb will ich zum Schluß als einen
letzten Aspekt der Geschichte des Geschicks oder Mißgeschicks der Lehre des
Gemeinwohls die beiden Varianten beleuchten, durch die, wie angedeutet, der Be
griff des Gemeinwohls seit der Jahrhundertwende in einem gewissen Sinne „Po
pularität“ erlangte. A uf der einen Seite haben w ir die christliche Soziallehre mit
ihrem Prinzip der Subsidiarität, auf der anderen die gewerkschaftlich-genossen
schaftliche Lehre mit ihrem Prinzip des Korporatismus.
Beide Varianten entstanden um die Jahrhundertw ende in Italien, vor allem aber
in Deutschland in Reaktion auf den liberalen Rechtsstaat in der letzten Phase der
theoretischen und praktischen Auseinandersetzung um die Lösung der sozialen
Frage. Die erwähnten organisatorischen Veränderungen, die die Entstehung des
neuen „Sozialstaates“ in organisatorisch-interventionistischem Sinne notwendig
begleiteten, fanden einen günstigeren N ährboden in den großen populären Leh
ren christlicher oder sozialistischer Prägung als in den immer komplizierteren,
immer spezialisierteren Verzweigungen der Sozial- und Staatswissenschaften. Ge
gen den fortschreitenden Positivismus und die Säkularisierung der Politik ent
wickelte sich von beiden Seiten der Opposition eine heftige Gegenbewegung ge
gen den Liberalismus, die auf der einen Seite direkt oder indirekt revolutionär, auf
der anderen solidaristisch-korporativ geprägt war. Ich möchte mich jetzt mit die
ser zweiten Seite beschäftigen, vor allem in ihrer katholischen A usprägung als
„christliche Soziallehre“. In den 40 Jahren von der E’n zyklika Rerum N ovarum
von Papst Leo XIII. im Jahre 1891 bis zu Q uadragesimo Anno von Pius XI. im
Jahre 1931 entwickelte die katholische Kirche auf diesem Gebiet Konzepte und
107 Vgl, Luigi D al Pane, II tram o n to delle co rp o ra zio n i in Italia, secoli X V III e X IX ( M a i
land 1940).
108 So lautet der schöne Titel des Buches von: R. Eisfeld, P lu ra lism u s zw isc h e n L ib era lism u s
un d S ozia lism us (Stuttgart 1972).
109 V gl. auch fü r w eitere L iteratur: L. O r n a g h i (H rs g .), Il co ncetto di „interesse“, a.a.O.,
und: Stato e co rp ora zion e. Storia di un a do ttrin a nella crisi del sistem a politico co n te m p o ra-
neo, a.a.O.
110 K o n k re t ist dabei gedach t an die F ran zo se n H a u r io u u n d D u g u it, aber auch an die D e u t
schen seit G ierke un d an d ie E n glä n der M a itla n d u n d Barker, d ie im ü b rig en G ier k e ins E n g
lische üb ersetzten, aber auch an L a s k i, vgl.: P. Scbiera (H rsg.), S ocie tä e co rp i (N e a p e l 1986).
G e m e i n w o h l in I ta lie n u n d D e u t s c h l a n d 101
Prinzipien, die - angefangen vom Prinzip der Subsidiarität - eng mit der alten
Lehre des Gemeinwohls verknüpft sind.
Ohne auch hier weiter ins Detail zu gehen, kann man meiner Ansicht nach fest
stellen, daß auch im neuen Jahrhundert mit seinen neuen gesellschaftlichen Be
dürfnissen und seinen neuen Technologien in Produktion und Politik der Bezug
auf das Gemeinwohl A usdruck und U nterstützung der Forderung nach Lei
stungsfähigkeit war, die in anderer Form schon im alten liberalen Staat bestanden
hatte und auch erfüllt worden war, jetzt aber weniger als Pflicht des Staates, denn
als eine von der Wissenschaft getragene Technik verstanden wurde. Die eigentli
che Neuheit würde demnach, wie gesagt, in der gegen den Liberalismus gerichte
ten „Massen“-Perspektive bestehen, die der Bezug auf das Gemeinwohl und auf
die Leistungstechniken annahm: im N am en eines gesellschaftlichen, kooperati
ven, subsidiären und korporativen Pluralismus, begleitet von einer A rt autoritä
rem Technizismus. Es braucht kaum betont zu werden, daß es vom antiliberalen
sozialen O rganizismus zum faschistischen Korporatismus nur ein kleiner Schritt
war. Es wäre jedoch vielleicht wichtig zu zeigen, daß die beiden Tendenzen im
Totalitarismus des 20. Jahrhunderts - mit einer Erweiterung der staatlichen A uf
gaben, aber auch mit einem falschen korporativen Pluralism us111 - aufeinander
treffen.
In dieser Hinsicht ist die Geradlinigkeit beeindruckend, mit der der bereits z i
tierte Walther M erk in seinem überaus fundierten Aufsatz über das Gemeinwohl
in der germanischen Tradition auf kaum mehr als einer Seite die Fäden einer weit
ausgreifenden Argumentation zusammenführt und auch das 19. und 20. Jah rh u n
dert mit einbezieht112. Seine Darstellung war bis zu diesem Punkt nur dadurch
entwertet, dieses Urteil sei mir gestattet, daß er ausschließlich darauf bedacht ist,
von Anfang an einen im übrigen unbestrittenen „germanischen Weg“ zum Ge
m einwohl zu beweisen. Man könnte sagen, der Kohärenz sind keine Grenzen ge
setzt. Nach Merks Urteil degenerierte die insgesamt positive Entwicklung w äh
rend des alten Reiches in der Weimarer Republik: „Das Gemeinwohl w urde hier
im Grunde kaum weniger vereinzelungssüchtig als bloße Summe der Einzelwohle
aufgefaßt, als dies der manchesterliberale Glaubenssatz von der bloßen Sicher-
heitswächteraufgabe des Staates getan hatte.“ Demgegenüber habe das nationalso
zialistische Reich mit seinem Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ die
Konzeption der deutschen Rom antik und der historischen Schule wieder aufge
griffen und sie dem C harakter und den besonderen Bedürfnissen des „Volkstums“
111 Carl S ch m itt, Ü b e r die drei A rte n des rech tsw is sen schaftlichen D en ken s ( H a m b u r g
1934), bietet - in d e r ga n zen Vielfalt u n d In te llige nz d er w issen schaftlichen A r g u m e n t a tio n -
ein a u ß e r o rd e n tlich gutes Beispiel fü r die ideologische A u fla d u n g , die die D eb atte u m diese
T h em en zu B egin n der n ation alsozialistisch en H errschaft hatte. Zu einer k u rz e n , aber ge
nauen C h a r a k t e r is ie r u n g von Schm itts P lu ra lism u sv erstä n d n is vgl. B. L ange-E nzm ann,
h ra n z B o rke n a u als p olitisch er D e n k e r (B erlin 1996) 81 f.
112 Merk, D er G ed a n k e des g em ein en Besten, § 5 : D e r G ed a n k e des gem ein en Besten im
Ve rfassungs- u n d R ec htsstaate des 19. Ja h r h u n d e r ts un d im D ritte n Reich 70 -72, die zugle ich
die letzten Seiten des Buches sind.
102 P i e r a n g e l o S c h ie r a
113 Merk, D er G ed a n k e des g em ein en Besten 72. M e r k zitiert: II. Schreuer, G erm anisc he
un d slaw ische S ta atsb ild u n g (1929) 15. Dem T h e m a des G e m e in w o h ls im N a tio n a ls o z ia lis
mus hat M ich a el Stolleis eine w ertv o lle U n t e r s u c h u n g g e w id m et, die m ic h von je der w eiteren
V ertie fung befreit: G e m e in w o h lfo r m e ln im nation alsozialistisch en R ec ht (B erlin 1974). Z u m
Faschism us dagegen u n d d em „W erte geh a lt“ seiner „ R e v o lu tio n “ insbesondere im B e z u g auf
das k o rp o ra tiv e S y s t e m verw eise ich auf: P ie ra n g elo Schiera, K o rpo ra tivism us im it a lien i
schen Faschism us - n ur E lem ent d er S y s te m s te u e r u n g o der n o tw en d ig e p luralistisch e K o m
ponente des italienischen To talitarism us?, in: G erd B ender, R a in er Maria K iesow , D ieter
Sim on (H rs g .), Das E u ro p a d er D iktatur. S teu eru n g - W ir tsch a ft - R ec h t ( B a d en -B a d en
20 02) 53 -7 6 . Z u m Vergleic h z w is c h e n italien is ch em F aschism us u n d deu tsc h e m N a tio n a ls o
zialism u s vgl. W olfgang S ch ied e r (H rs g .), Faschism us als soziale B e w eg u n g . D eu tschla n d
un d Italien im Vergleic h (G ö ttinge n 2 1983); ders., Das italienische Experim ent. D er F aschis
mus als V orbild in d er Krise der W e im a r e r R e p u b lik , in: H Z 262 (1996) 73 -125.
114 A u s d em V o rw o rt des Verlags z u m 2. Fleft „Z ur ch ristlich en S taatslehre“, hrsg. v. O s w a ld
v o n N ell-B reu n in g, S. J, un d PI e r m a n n S a ch er (F r e ib u rg 1948), im fo lg end en zitiert: Zur
christlichen Staatsle hre. D er Titel des ersten H eftes lautete „Zur soziale n F ra g e “ (die offen
sic htlich nicht a u s d rü ck lic h etw as m it „christlich “ zu tun hat). In d em zitierten V orw o rt
heißt es sehr sin nre ich: „Das W e r k soll zu gle ich der E rn eu er u n g un d d er W eite rb ild u n g der
gro ß en T radition der christlichen G es ells ch a h s - u n d Staatsle hre die n e n .“
115 Z u r ch ristlich en Staatsle hre; die b ib lio gra p h isch e N o t iz am Ende des H eftes zählt die
„Säulen“ der christlichen S taatsle hre fo lge n d e rm a ß en auf: A u g u stin u s , T h o m a s von A q u in ,
Leo X III., Pius X L , Pius XII.; als einfache „Tra gsteine“ ge lten Fra ncisco V itoria un d F r a n
cisco Suarez. Sehr interessant ist die vo rgeschlagen e S ek un d ärliteratu r, die einer eigenen U n
ters u c h u n g w ert w ä re. Es ist auch zu betonen, daß die von N e ll- B r e u n in g im Text geäußerte
H o ffn u n g nicht w eit entfernt ist von d em W un sch , Verfassung und S o zialw issen sch aften zu
verbind en, w ie ihn schon S ism on di fo rm uliert hatte.
G e m e i n w o h l in I ta lie n u n d D e u t s c h l a n d 103
und auf Gott gerichteten Staat gibt, erscheint als die beste Lösung also eine sich
selbst nach den Prinzipien des or do christianus regulierende Gesellschaft119. A uf
dieser Grundlage läßt sich auch das Problem der Legitimität lösen, denn es unter
stellt wieder jeden Machtanspruch - sei es der einer Dynastie, Klasse oder von an
derer Seite - ausschließlich dem wahrhaft vielgestaltigen Prinzip des Gemein
wohls, das, w ie w ir gesehen haben, sowohl als gesellschaftliche Grundlage als
auch als deren Begrenzung verstanden w ir d 120.
Die Erörterung N ell-Breunings läuft anscheinend darauf hinaus, das Gemein
w ohl nachdrücklich als Schlüssel zum „Verständnis“ des Staates zu benutzen,
nicht in philosophischer oder anthropologischer Sicht, denn in diesem Sinne
bleibt er auf scholastische Weise „göttlich“, sondern in der historischen und w elt
lichen Gegebenheit staatlicher Macht, die man als „säkular“ bezeichnen
könnte121. H ier hat die necessitas boni communis Vorrang. N u r diese kann die Ge
sellschaftsordnung begründen, aus der dann die gesellschaftliche Autorität her
vorwächst. Nach dieser Logik lassen sich auch die schwierigen Fragen der D em o
kratie und der Volkssouveränität lösen. A uf dieser Diskursebene ist historisch und
konkret alles möglich. Vorausgesetzt ist eine korporative Gesellschaftsordnung,
wie sie traditionell in der christlichen Lehre von Augustinus über Thomas von
A quin, die spanischen Spätscholastiker bis hin zur zeitgenössischen kirchlichen
Soziallehre entwickelt w u rd e122.
Es muß natürlich erwähnt werden, daß im Jahre 1948 dieses Bedürfnis nach A r
tikulation und Subsidiarität der „natürlichen“ politischen Gesellschaft in katholi
schen Kreisen ausdrücklich als gegen den Totalitarismus gerichtet empfunden und
vertreten w u rd e 123. Das gleiche hat weiterhin für den nichtkirchlichen Bereich zu
gelten, da man wohl mit Recht behaupten kann, daß die „Entdeckung“ des Tota
litarismus die größte Leistung der Politikwissenschaft im 20. Jahrhundert gew e
sen ist. U nter diesem Gesichtspunkt ist auch von Bedeutung, daß das Prinzip der
Subsidiarität neuerdings von Verwaltungsexperten, Ö konomen und Juristen, die
am Aufbau des neuen Europa beteiligt sind, wieder aufgewertet worden ist124.
Um einer solchen A ufw ertung aber tatsächlich Gewicht zu geben, wäre es unbe
dingt notwendig, daß die erwähnten Experten auch jenes „ethische M o m ent“
wirklich wieder aufnähmen, von dem w ir gesehen haben, wie es in der w issen
schaftlichen Entwicklung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorstellun
gen am Endes des 19. Jahrhunderts gänzlich aufgegeben worden ist125. Sonst be
steht die Gefahr, daß die gute alte Lehre vom Gemeinwohl wieder zu pathetischer
R hetorik mißbraucht wird, wie sie noch bis vor wenigen Jahren die Aufmärsche
oder Zeitungen der Unterstützer des Honeckerregimes schm ückte126.
108 Franz J. B au er
nach dem M uster der bekannten Frage, ob sie gemäß dem großen Kursbuch der
Weltgeschichte fahrplanmäßig oder ,verspätet“ im Zielbahnhof nationaler Heils
erwartungen einliefen, werden w ir verzichten, denn w ir wollen unsere Ü berle
gungen von geschichtsphilosophischen Finalperspektiven frei halten.
Der Klärung bedürftig ist aber, w ie gesagt, was w ir für unseren Zusammenhang
unter .bürgerlich“ verstehen wollen2. Von der A n tw o rt darauf hängt ab, wie die
vergleichende Untersuchung anzulegen ist, und auf welches Erkenntnisziel hin
w ir sie durchführen wollen. Denn es macht einen prinzipiellen Unterschied, ob
man deskriptiv-assertorisch den Anteil bürgerlicher Gruppen und Schichten an
der Errichtung und Ausgestaltung des Nationalstaates bestimmen will, oder ob
man das .bürgerlich“ in - erklärter oder unerklärter - n orm ativer Absicht als Kri
terium für die Annäherung an einen Sollwert der gesellschaftlichen Vollkommen
heitsskala verwendet. Die Frage, w ie .bürgerlich“? w ürde dann eigentlich bedeu
ten: „Wie .liberal“ . . . ? “ oder gar „Wie .m odern“ w ar der N ationalstaat?“ Sie w ürde
in dieser Form wieder auf eine Diskurstradition verweisen, die in der für die deut
sche und italienische Gesellschaft nach 1945 gleichermaßen kennzeichnenden
Identitätskrise ihren Ursprung hatte. A m Anfang dieses Diskurses stand die alte
Frage, wie es habe geschehen können, daß beide Länder vom N ormalpfad der
M odernisierung abgekommen und faschistischen Diktaturen anheimgefallen
seien. Das Bürgertum, zum .eigentlichen“ Kollektivsubjekt der Nationalstaats
epoche erklärt, w urde in diesem D eutungszusam m enhang zum O bjekt einer De-
fizienzpathologie, bei der der Patient nur verlieren konnte. Die Diagnose lautete
entweder, das Bürgertum sei aufgrund einer fatalen Ichschwäche zu feige, zu
ängstlich, zu kompromißlerisch und opportunistisch gewesen, um den alten, vor
bürgerlichen, vormodernen Eliten das Heft im Nationalstaat aus der Hand zu
nehmen und die Gesellschaft dieses Staates konsequent gemäß seiner eigenen,
nämlich fortschrittlichen Klasseninteressen zu gestalten. Dies war die deutsche
Diagnose3. Die von der italienischen Geschichtsschreibung lange Zeit favorisierte
A n tw o rt lief auf das gerade Gegenteil hinaus: Daß es zur faschistischen Devianz
vom historischen Tugendweg deshalb gekommen sei, weil das Bürgertum zu eng
herzig und zu halbherzig zugleich seinem partikularen Klasseninteresse gefolgt sei
und es unterlassen habe, die unterbürgerlichen Schichten beizeiten und in ange
2 M a n fr e d R iedel, Bürger, Staatsbürger, B ü r g e rtu m , in: G esch ic htlich e G run dbegrif fe. H i
sto risches L e x ik o n zu r p olitisch -so zia le n Sprache in D eu tsc h la n d , hrsg. von Otfo B ru n n er
u .a ., Bd. 1 (S tu ttgart 1972) 67 2 -7 2 5 ; R a ffa ele R om anelli, Borghesia /B ü rgertu m / B o urgeo is ie .
Itin erari europei di un concetto, in: J ü r g e n Kocka (H rs g .), B o rghesie eu ro pee d e ll’ O tto c en to
(V enezia 1989) 6 9 -9 4 .
3 J o h n Breuilly, T h e Elusiv e C lass. S om e R e m a rk s on the H is t o r io g r a p h y of the B o urgeoisie,
in: A r c h iv für Sozialg eschich te 38 (1998) 38 5 -3 9 5 ; Lotha r Gall (H rsg.), B ü rg e r tu m un d b ü r
gerlich-liberale B e w e g u n g in M it te le u ro p a seit d em 18. J a h r h u n d e r t (H isto risc h e Zeitschrift,
S on derh eft 17, M ü n c h e n 1997 )\J ü r g e n Kocka, O b rig k eits s ta a t u n d B ü rgerlic h ke it. Zur G e
schic hte des deu tschen B ü r g e r tu m s im 19. J a h r h u n d e r t, in: W olfgang H a rd tw ig , H a rm -H in -
rich B ran d t (H rs g .), D eu tsc h la n d s W eg in die M o d e r n e ( M ü n c h e n 1993) 107-121; J o n a th a n
Sperber, Bürger, B ü rg e r t u m , b ürge rlic he Gesellschaft. Studie s of G erm a n ( U p p e r ) M id d le
C la ss and its Social C u lt u r a l W o rld , in: J o u r n a l of M o d e r n H is t o r y 69 (1997) 2 7 1 -2 9 7 .
W i e . b ü r g e r l i c h ' w a r d e r N a t i o n a l s t a a t in D e u t s c h l a n d u n d I t a l i e n ? 109
4 G ru n d le gen d : A lberto M. Banti, S toria d ella b orgh esia italiana. L’etä libera le ( R o m a 1996);
Giustino F ortim ato, La crisi d ello stato liberale e il regim e fascista ( R o m a 1996); R a ffa ele R o-
m anelli, Po litical D ebate, Social H is t o r y and the Italian Borghesia: C h a n g in g P erspectiv es in
H is torical R esearch, in: J o u r n a l of M o d e rn H is t o r y 63 (1991) 71 7-739 ; P aolo Pezzino, La
borghesia italiana: profili sociali e a u to ra p p res en ta zio n i, in: Passato e Presente 15 (1997) 151—
16 L
3 M arco M e r ig g i , B o rghesie , in: D iz io n ario sto ric o d e l l’Italia unita, a cura di B ru n o B o n g i o
v a n n i e N icola Tranfaglia (R o m a , B ari 1996) 67 -79.
6 M arco M eriggi, Italienisches u n d deutsches B ü r g e r t u m im V ergleich, in: J ü r g e n K ocka
(H rsg.), B ü r g e r t u m im 19. J a h r h u n d e r t. D eu tsc h la n d im eu ro päischen Vergleic h, Bd. 1
(M ün ch en 1988) 141-159.
no F ran z J. B au er
Ich denke, man kann, ohne ernsthaften Widerspruch gewärtigen zu müssen, fest
stellen, daß der aktive und verantw ortliche Beitrag von bürgerlichen Elementen
zur Herstellung der nationalstaatlichen Einheit in Italien per saldo größer w ar als
in Deutschland. Dabei w ird keinesfalls übersehen, daß die bürgerliche National-
bewegung vor allem in Preußen ab 1860 durchaus ein politisches Potential dar
stellte, eine politische Kraft, von der ein zunehmender Erwartungsdruck auf das
politisch-militärische ITandlungszentrum des monarchischen Staates zur H erbei
führung einer w ie auch immer gearteten Lösung der nationalen Frage ausging. In
der heute gängigen Terminologie könnte man sagen, die bürgerliche N ationalbe
w egung generierte und dominierte einen nationalpolitischen Diskurs , dessen Le
gitimationszwängen sich auch ein Bismarck nicht entziehen konnte. Dies galt um
so mehr für die Zeit nach 1866, als der größere Teil des bürgerlichen Liberalismus
in Preußen und in den süddeutschen Staaten auf die Bismarcksche Linie einge
schwenkt w a r8.
In Deutschland wie in Italien läßt sich die N ationalbewegung grob in zwei
Strömungen einteilen: eine gemäßigte, liberal-konstitutionelle und eine d em o kra
tisch-republikanische Richtung, wobei allerdings in Italien das republikanische
Element mit seiner den nationalpolitischen Diskurs ideologisch stark prägenden
Galionsfigur M azzini schon vor 1848 deutlich konsistenter und schärfer profiliert
ist als in Deutschland. Eine spezifische Differenz von grundlegender Bedeutung
besteht indes darin, daß die demokratische Strömung in Deutschland nach dem
Scheitern der Revolution von 1848/49 auf den nationalstaatlichen Einigungspro
7 Franz J, Bauer, N a tio n und M o d e r n e im geein ten Italien (186 1-191 5), in: G eschic hte in
W is sen schaft u n d U n ter r ic h t, Jg. 46, H e ft 1 (Ja n u a r 1995) 16—31; vgl. auch D o m e n ic o S e ttem -
brini, Storia d e l l’idea a ntibo rghese in Italia 1860-1989. Socie tä del benessere - L ib e r a lis m o -
T o talitarism o (R o m a , Bari 1991); kritisch d a zu C osta ntino Marco, L o spirito a ntibo rghese in
Italia, in: C o s c ie n z a storica 3, N . 7 (1993/1) 34 -5 9 .
s G r u n d le g en d D ieter L a n g ew ie sc h e , L ib era lism u s in D eu tschlan d ( F ra n k fu rt a .M . 1988);
H e llm u t Seier, L ib era lism u s un d B ü r g e r tu m in M itte le u r o p a 1850-1880. F o r s c h u n g u n d
L itera tu r seit 1970, in: L othar Gail (H rsg.), B ü r g e r tu m u n d b ü rge rlic h -lib era le B e w e g u n g in
M itte le u ro p a seit dem 18. fahrhundert (H is to ris c h e Zeitschrift, Sonderheft 17, M ü n c h e n
1997) 131-229.
W i e . b ü r g e r l i c h “ w a r d e r N a t i o n a l s t a a t in D e u t s c h l a n d u n d I ta lie n ?
zeß sehr viel weniger Einfluß hatte als in Italien9. Dort blieb sie nicht nur als poli
tische Kraft präsent, sondern es gelang ihr sogar, eine höchst aktive Rolle in die
sem Prozeß zu spielen und sich mit der Eroberung des bourbonischen Südens
ihren indisputablen Ehrenplatz im identitätsstiftenden G roßmythos des R isorgi
mento zu sichern10. Zugespitzt ließe sich behaupten, Garibaldis ,Zug der Tausend“
habe die legitimatorische Basis geschaffen für die parlamentarische Regierungs-
Übernahme durch die systemtragend gewordene Linke im ja h r 1876.
Wenn sich also unter verschiedenen Gesichtspunkten zeigen läßt, daß im italie
nischen Einigungswerk, anders als im deutschen, das Bürgertum nicht nur als
Faktor, sondern als A kteur unmittelbar beteiligt war, so darf daraus andererseits
nicht gefolgert werden, das Risorgimento sei so gut wie ausschließlich das Werk
des B ürgertums gewesen. Das Bürgertum im vor-unitarischen Italien war, w ie w ir
wissen, numerisch und ökonomisch recht schwach, viel schwächer jedenfalls als
im Deutschland der gleichen Zeit. Dies gilt auch dann, wenn man unter ,Bürger
tum “ nicht nur im Sinne eines eng gefaßten ökonomischen Klassenbegriffs das
kapitalistisch-industrielle Wirtschaftsbürgertum, also die .Bourgeoisie“ verstehen
will. Die risorgimentale Führungsschicht w ar keineswegs eine rein bürgerliche
Elite, sondern ein aristokratisch-bürgerliches Amalgam. Im Lager der M oderati
spielten liberale Angehörige des Adels eine maßgebliche Rolle, und entsprechend
gewichtig w ar ihr Anteil am Einigungswerk. Nicht nur, daß die bürgerlichen
Kräfte in Italien sehr viel aktiver und unmittelbarer für die N ationalstaatsgrün
dung w irken konnten, ist mithin ein entscheidender Differenzpunkt gegenüber
dem deutschen Fall, sondern auch und vielleicht mehr noch die Tatsache, daß der
italienische Adel so viel aufgeschlossener w ar für die liberalen und nationalen
Ideen als sein deutsches Pendant. Warum der italienische Adel so .bürgerlich“ war,
glauben w ir zu w issen 11:
2. Bürgertum/Borghesie: Binnendifferenzierung,
Vergesellschaftung und Handlungsräum e
Ich habe nun doch immer wieder, entgegen den eingangs geäußerten Vorbehalten,
von ,d em “ Bürgertum im Kollektivsingular gesprochen. Es ist daher an der Zeit,
daß w ir uns die Binnendifferenzierung dieser groben Kategorie etwas genauer an-
sehen, ehe w ir dann versuchen, das relative Gewicht und die Gestaltungskraft der
bürgerlichen Gruppen im deutschen und italienischen Nationalstaat vergleichend
zu bestimmen. Dabei gehen w ir ganz allgemein davon aus, daß das Bürgertum die
middle classes zwischen dem Adel und den ländlichen und städtischen U nter
schichten umfaßt, mit mehr oder m inder breiten Zonen des Übergangs nach oben
w ie nach unten. Konsensfähig dürfte für beide Vergleichsgesellschaften sein, daß
die Angehörigen dieser gedachten Gesamtkonfiguration - alternativ oder k u m u
lativ - durch die M erkm ale von .Besitz und B ildung“ zu charakterisieren sind;
oder w ie Ruggiero Bonghi - vielzitiert - sagte, es handelt sich um quelli che hanno
e sanno.
Nach der A rt der materiellen Güter, deren Besitz den Bürger machen, bestehen
im 19. Jahrhundert erhebliche Unterschiede zwischen Deutschland und Italien.
Eines der wichtigsten Ergebnisse der italienischen Bürgertumsforschung der letz
ten Jahre w ar es, die enge Bindung des italienischen Bürgertums an Landbesitz
aufgewiesen zu haben. Für ein Land, dessen industrieller take o ff erst für das Ende
des 19. Jahrhunderts angesetzt wird und dessen gewerblicher Sektor bis dahin nur
in insulär-punktuellen Kernen existierte, ist das an sich nicht verwunderlich. Aber
es bedurfte des differenzierten empirischen Aufweises dieses elementaren Sach
verhalts durch sozialgeschichtliche Untersuchungen, um die ideologisch begrün
dete Persistenz des Dogmas zu brechen, daß ,B ürgertum “ wesentlich und eigent
lich nur die Kapitalistenklasse des Industriezeitalters sein könne. Eine industrie
kapitalistische Bourgeoisie aber w ar in Italien auch am Ende des 19. Jahrhunderts
erst im Entstehen begriffen, wohingegen sie in Preußen - nicht zuletzt die Ergeb
nisse des plutokratischen Dreiklassenwahlrechts weisen es aus - schon seit den
1860er Jahren durchaus mit eigener Klassenphysiognomie identifizierbar war.
Demnach versteht es sich von selbst, daß sie nicht der historische Protagonist des
Risorgim ento gewesen sein kann, dessen Interpretation als bürgerliche Revolu
tion zur Fierstellung eines nationalen Marktes damit ebenfalls relativiert worden
ist. Daß noch für die längste Zeit des 19. Jahrhunderts das ökonomisch-soziale
Fundament der italienischen Geseilschaftselite im Besitz von Grund und Boden
bestand, könnte im übrigen auch die vergleichsweise größere Nähe und Permea
bilität zwischen Adel und .B ürgertum “ in Italien m iterklären12.
Wie sieht es auf der anderen Seite aus, bei denen, die kraft ihres F unktionsw is
sens und ihrer Bildung als Bürger gelten können? H ier scheint ein kennzeichnen
der Unterschied zwischen der deutschen und der italienischen Gesellschaft darin
zu liegen, daß für Deutschland die Kategorie eines .Bildungsbürgertum s“ ange
nommen werden kann, das seine Alimentation schon im Dienst der vor-unitari-
schen Staaten fand. Als Bürokratie des monarchischen Staates entfaltete es dort
bereits eine beachtliche M odernisierungsleistung und genoß - wenn auch nicht
gerade beim traditionellen städtischen Flandelsbürgertum - ein hohes gesell
schaftliches Prestige. In Italien hingegen hat die Beamtenschaft, wenn ich recht
sehe, w eder ihrem Status noch ihrem Selbstverständnis nach jene innere Geschlos
senheit und A utonom ie erlangt, die in Deutschland ihren Anspruch legitimierte,
im Hegelschen Sinne der unabhängige Stand zu sein, dem es zukam, das allge
meine mit dem besonderen, das staatliche mit dem bürgerlichen Interesse zu ver
mitteln. Die Bürokratie des liberalen Italien bildete, w ie Meriggi festgestellt hat,
„eine extrem flexible, aber unbeständige Organisation, in der sich wechselnde par
lamentarische Mehrheitsverhältnisse spiegelten“ - eine für das Deutsche Kaiser
12 A u s fü h rlich h ierzu Banti, Storia (w ie A n m . 4) Kap. IV, 6 5 - 9 7 („Po ssedere la t e r ra “); ders.,
Terra e d en aro . U n a b orgh esia p adan a d e ll’O t to c en to (Venezia 1989). F ü r ein lo kale s Beispiel
vgl. R o b e r t o Balzani, P e te r H e rtn e r (a cura di), U n a b orgh esia di Pro vincia. Possidenti, im -
p ren ditori e a m m in is tra to ri a Forh' fra O t to c en to e N o v ecento ( B o lo g n a 1998).
114 F ran z J. B au er
13 Marco Meriggi , D eu tsch es un d italien isch es B ü rg ertu m im V ergleich, in: Jürgen Kocka
(H rsg .), B ü rg ertu m im 19. Ja h rh u n d e rt. D eu tsch lan d im eu ro p äisch en V ergleich , B d. 1
(M ü n ch en 1988) 14 1 -1 5 9 , h ier 148; z u le tz t A rp ad v. Klimö, S taat un d K lien tel im 19. J a h r
h u n d ert. A d m in istra tiv e E liten in Italien u n d P reu ß en im V ergleich (K ö ln 1997).
1-1 M aria Malates ta (H rs g .), S o c ie ty and P ro fessio n s in Ita ly 18 50-19 14 (C a m b rid g e 1995).
13 Hans Mommsen, D ie A u flö su n g des B ü rgertu m s seit dem späten 19. Ja h rh u n d e rt, in: J ü r
gen Kocka (H rsg .), B ü rg e r un d B ü rg e rlic h k e it im 19. Ja h rh u n d e rt (G ö ttin gen 1987) 2 8 8 -3 1 5 ;
K a rl Heinrich Pohl, L ib era lism u s un d B ü rg ertu m 18 80-19 18, in : Lothar G ail (H rs g .), B ü r
gertu m un d b ü rg e rlic h -lib e ra le B e w eg u n g in M itte le u ro p a seit dem 18. Ja h rh u n d e rt (H is to
risch e Z e itsch rift, S o n d erh eft 17, M ün ch en 1997) 2 3 1 -2 9 1 , B eisp iele auch bei Franz J. Bauer,
W ie ,b ü rg e rlic h “ w a r d er N a tio n a ls ta a t in D eu tsc h la n d u n d Italien? 115
Im dritten Abschnitt unserer Skizze wenden w ir uns nun der Kernfrage nach der
Rolle von Bürgertum und Liberalismus beim Auf- und Ausbau des Nationalstaa
tes zu. Die gängigen Geschichtsbilder lassen hier eine deutliche A sym m etrie des
Befundes zugunsten Italiens erwarten. Nicht umsonst charakterisiert die allge
mein akzeptierte Epochenbezeichnung das geeinte Italien bis 1922 geradezu als
Italia liberale , während eine vergleichbare Zuschreibung für das Deutsche Kaiser
reich wohl keinem H istoriker in den Sinn kommen würde. Bei genauerer Analyse
zeigt sich freilich auch hier, daß die Dinge ganz so einfach und eindeutig nicht
liegen.
M an könnte che Liste der Faktoren, die einer unverfälscht bürgerlich-liberalen
Prägung des politischen Systems des Kaiserreichs entgegenstanden, mit der Figur
des ersten Reichskanzlers beginnen, ohne sich einer unangemessen personalisti-
schen Geschichtsauffassung schuldig zu machen. M an kann sich dabei sogar auf
Max Weber berufen, der noch im Jahre 1918 in einer bitteren Bilanz über die
„Erbschaft Bismarcks“ feststellte, dieser habe mit dem charismatischen, ja nachge
rade mythischen Prestige des genialen Reichsgründers und der Skrupellosigkeit
seiner Herrschaftstechnik die Entwicklung des Kaiserreichs zu einem reprä
sentativ-parlamentarischen, bürgerlich-liberalen Verfassungsstaat monolithisch
blockiert16.
Die ältere Geschichtsschreibung - beginnend mit Treitschke17 - hat immer w ie
der Gefallen daran gefunden, die Parallelität der historischen Rollen der Gründer
figuren Bismarck und Cavour zu betonen. Die vergleichende A nalyse fördert hier
allerdings viel mehr grundlegende Differenzen zutage. Cavour war kein B ürgerli
cher, aber ein überzeugter Verfechter des klassischen liberalen Programms. Bis
marck w ar weder das eine noch das andere, weder bürgerlich noch liberal - im Ge
genteil. Immerhin hat er die unentrinnbare Geschichtsmächtigkeit der liberalen
und nationalen Ideen für seine Epoche erkannt und ihr in seinem politischen H an
deln Rechnung getragen; er hat sie für seine Zwecke benützt, aber zu keiner Zeit
adoptiert. Eine der Position Bismarcks vergleichbare M onopolstellung der Macht
hat Cavour nie besessen, weder realpolitisch noch im kollektiven Konsenshaus
halt der Nation. A uch das Kontingenzfaktum des frühen Todes Cavours spielt
hier eine Rolle, wenn auch nicht ausschlaggebend, während Bismarcks Schatten
fast drei Jahrzehnte lang über der Reichspolitik lag.
Die Frage nach der .Bürgerlichkeit“ eines Staatswesens oder einer politisch-gesell
schaftlichen O rdnung hat, auf das 19. Jahrhundert bezogen, ihren Fluchtpunkt
immer in den Problemen der Repräsentation, Partizipation und Integration. Die
sen Aspekten will ich mich nun zum Abschluß noch zuwenden. Fulvio Cam m a-
rano hat hervorgehoben, daß die herrschenden Eliten des liberalen Italien sich in
ein Spannungsfeld zwischen zwei alternativen Strategien gestellt sahen: die .N a
tionalisierung der Po litik“, womit die nationale Integration der Gesamtgesell
schaft im neuen Einheitsstaat gemeint ist, und die .Politisierung der N ation “, also
die Eröffnung politischer PartizipationsmögJichkeiten fü r prinzipiell alle A n ge
hörigen der N ation; denn es macht geradezu die Essenz der nationalen Idee aus,
daß es vor ihr keine Unterschiede ständischer Berechtigung mehr geben kann.
Weil diese beiden Alternativen in den A ugen der liberalen Politikerklasse der
Italia unita einander auszuschließen schienen, spricht Fulvio Cam m arano von
einem D ilemma, einer Zwangslage25.
N un w ird man in der Tat davon auszugehen haben, daß sich das Integrations
problem für den italienischen Nationalstaat sehr viel schärfer stellte als für den
deutschen. Die Gründer des Deutschen Reiches hatten nach dem großen Natio-
nalisierungs- und Politisierungsschub durch das Nationalparlament und sein Ver
fassungsprojekt von 1848/49 spätestens seit Beginn der 1860er Jahre eine mental
bereits weitgehend vorgebildete Nation vor sich, und die schon annähernd totale
Alphabetisierung der deutschen Bevölkerung gab prinzipiell allen Deutschen die
M öglichkeit zu einer zumindest passiven Teilnahme am nationalen Diskurs26. In
27 Umberto L e w a , F are gli ita lia n i. M e m o ria e celeb razio n e del R iso rg im en to (T orino 1992);
Simonetta Soldani, G abriele Turi (a cu ra d i), F are gli ita lia n i. S cu o la e cu ltu ra n c ll’ Italia con-
tem p o ran ea, 2 Bde. (B o lo g n a 1993); lla ria Porciani, La festa d e lla n azio n e. R ap p resen tazio n e
d ello stato e sp azi so c iali n e ll’ Italia u n ita (B o lo g n a 1997); Christopher Duggan, F rancesco
C risp i, .p o litical e d u ca tio n ' and the p ro b lem o f Italian n atio n al co n scio u sn ess, in: Jo u rn a l of
M o dern Italian S tu d ie s 2, n. 2 (1997) 141-166.
28 Ullrich, D er ita lien isch e L ib e ra lism u s (w ie A nm . 23) 378 f.; den., T h e Statuto Albertm o,
in: Iio rst Dippel (H rsg .), E x ecu tiv e and L eg islativ e P o w ers in th e C o n stitu tio n s o f 1848-49
(B erlin 1999) 12 9-161 ; Um berto Baldocehi, Berto Corbellini A ndreotti (a cu ra d i), S u d d iti e
cittad in i. P er un o stu d io d ella sto ria co stitu z io n ale ita lian a (M a n d u ria 1997).
29 Z u sam m en fassen d je tz t Guido Formigoni, L’Italia dei ca tto lic i: fede e n az io n e d a l R is o rg i
m en to alla R ep u b b lica (B o lo g n a 1998).
120 F ran z J. B au er
30 H a rtm u t Ullrich, S istem i ele tto ra li e sistem a p o litico d a lla rifo rm a d el 1882 alia crisi d i fine
secolo, in : P ier Luigi Ballani (a cu ra d i), Idee di ra p p re se n ta n z a e sistem i ele tto rali tra O tto e
N o v ecen to (V en ezia 1997) 6 1 -1 3 8 ; fern er d er Ü b e rb lic k b ei E mma Maria, L a „D em o crazia
d en tro e fu o ri il p arla m e n to “ a fine o tto cen to , in: S tu d i sto ric i 37 (1996) 1083-1153.
31 C a m m a ra n o, N a z io n a liz z a z io n e (w ie A nm . 25) 143 f., 150, 155; um fassen d je tz t S andro
R ogari, A lle o rig in i del trasfo rm ism o : p a rtiti e sistem a p o litico d e ll’ Ita lia lib e rale 1861-1914
(R o m a 1998).
Fabio Rugge
I.
Ich möchte zunächst einige der üblichen - und z w ar in diesem Fall vier ganz kurze
- Bemerkungen vorausschicken. Erstens umfaßt mein Beitrag nicht den ganzen
Zeitraum, dem diese Tagung gewidmet ist, sondern er reicht nur bis zum A us
bruch des Zweiten Weltkriegs, wobei ich allerdings einige Ausblicke auf die Zeit
nach dem Ende der autoritären Regim e in den beiden zu betrachtenden Ländern
geben werde. Zweitens werde ich nicht Italien und Deutschland, sondern Italien
und Preußen einander gegenüberstellen, jedenfalls solange man Preußen von
Deutschland getrennt betrachten kann. Schon unter diesen Prämissen erscheint
ein Vergleich ziemlich kompliziert, aber für mich jedenfalls wäre die Aufgabe
unüberschaubar geworden, wenn ich auch andere Gebiete Deutschlands und da
mit eine noch größere Zahl von Variablen hätte mit einbeziehen müssen. Drittens
wird mein Vergleich nur städtische und nicht ländliche Gemeinden berücksichti
gen, eine Unterscheidung, die ihrerseits Gegenstand der Betrachtung sein wird.
Viertens werde ich keine A nalyse von Charakter und Entwicklung der Gemeinde
ordnung in Preußen und Italien anstellen. Da ich davon ausgehen kann, daß sie in
ihren G rundzügen, soweit sie hier in Betracht kommen, bekannt sind, werde ich
direkt auf einige Kennzeichen zu sprechen kommen, die für den Vergleich, um
den es geht, besonders interessant sind.
II.
Als erste Frage möchte ich untersuchen, inwiefern und inwieweit die geltenden
Normen für die Gemeinden in Italien und Preußen übereinstimmen oder sich
unterscheiden. D er Unterschied ist beeindruckend groß. M it dem Gesetz von
1865 w urde in Italien das Gemeindewesen vereinheitlicht, wobei noch einige R e
ste der Regelungen aus der Zeit vor der Einigung bestehen blieben, die aber im
Rahmen der herrschenden Uniformität bedeutungslos waren. In Preußen dagegen
122 Fab io R u gg e
der Wille, die großen - gewöhnlich stärkeren - Gemeinden den gleichen Bedin
gungen zu unterwerfen. Da die letzteren Aufgaben zu bewältigen hatten, wie sie
aus dem Charakter einer Großstadt erwachsen, sahen sie sich gezwungen, vom
Zentrum die Entscheidungs-, Regulierungs- und Finanzressourcen zu fordern,
über die sie aufgrund der Einheitsordnung nicht verfügten.
Dieser Blick auf G rößenordnung und somit Typus der Gemeinde, läßt einen
weiteren Aspekt des Vergleichs erkennen. Man sollte nämlich nicht vergessen, daß
in Preußen nicht nur nach Provinzen, sondern auch nach der Art der Gemeinde
unterschieden wurde, d.h. in Preußen gab es eine eigene, fest in der preußischen
Tradition verwurzelte Gemeindeordnung für die Städte. Die wichtigste dieser
Städteordnungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde im Jah r 1853
ausdrücklich als Folge eines drei Jahre zuvor erlassenen Gesetzes eingeführt -
oder in gewisser Weise als Reaktion darauf - , mit dem man versucht hatte, eine
einheitliche O rdnung für Städte und Landgemeinden einzuführen. Die unter
schiedliche Behandlung von Städten und Gemeinden blieb bis in die Weimarer
Zeit erhalten.
In Italien w urde durch die Einheitlichkeit, wie sie die Gesetzgebung nach der
Einigung zum Dogma erhoben hatte, auch dieser A spekt der Differenzierung der
Gemeinden ausgelöscht. Anders als in einigen Staaten vor der Einigung, gab es im
neuen Königreich Italien keine gesonderte Regelung für die Städte. Durch die Pie-
montisierung wurden alle auf die einheitliche und durchgängige Stufe der Ge
meinde gestellt, und man kann sich vorstellen, wie demütigend dies auf einige ehe
malige Hauptstädte gew irkt hat. Die Bezeichnung „Stadt“ behielt einen nur noch
symbolischen Wert. In einem „Lexikon der Gem eindeverwaltung“ von 1860 heißt
es dazu: „Nachdem der Codice C ivile [Zivilgesetzbuch] und die Legge municipale
[Gemeindegesetzgebung] auch die Köpfe der Städte rücksichtslos eingeebnet hat,
besitzt das Prädikat [Stadt - Anm. R.] keinerlei Wert mehr. Wer es hat, kann es be
halten, aber es ist ganz und gar un w irksam .“
Das Dogma der Einheitlichkeit der Gemeinden behielt bis vor nicht allzu lan
ger Zeit in Italien Gültigkeit. Als A usdruck einer weitverbreiteten und einflußrei
chen institutionellen Kultur zitiere ich dazu die Entscheidung eines Verwaltungs
gerichts aus dem Jahre 1975, die zudem noch das Verdienst hat, eine A rt histori
sche Bilanz dieser Frage zu ziehen: „Der italienische Gesetzgeber glaubte, im
neuen Einheitsstaat den nationalen Zusammenhalt dadurch besser garantieren zu
können, daß die Tätigkeit der Kommunen und Provinzen einheitlich und im w e
sentlichen durch Einebnung geordnet wurde, um auf diese Weise strukturelle U n
terschiede zwischen der O rdnung der großen und der kleineren Gemeinden zu
vermeiden.“ Bemerkenswerterweise wird hier nach über einem Jahrhundert wie
in der oben zitierten Ä ußerung die Metapher der „Einebnung“ benutzt, die als
Garantie für den „nationalen Zusammenhalt“ erscheint.
Das Wort „Stadt“ war seit 1859 tatsächlich aus dem Gemeinde- und Provinzge
setz verschwunden und tauchte erst im 6. Kapitel der Legge sulle autonomie locali
[Gesetz über die Gemeindeautonomie] des Jahres 1990 wieder auf, das den „cittä
metropolitane“ gewidm et ist. Das Prinzip der Gleichrangigkeit der Kommunen
1
124 Fabio R u gg e
wird erst 1997, und auch dann in bloß theoretischer Form, von den Grundsätzen
angetastet, die in dem Gesetz über den sogenannten „federalismo amministrativo“
die Grundlage für die Übertragung von Funktionen an die Gemeinden bilden sol
len. Zu diesen Grundsätzen zählt ausdrücklich „das Prinzip der Differenzierung
der Zuweisung der Funktionen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen
Charakteristiken der Gemeinden auch hinsichtlich der Verbände, der Einwohner
zahl, des Gebietsumfangs und der bestehenden Strukturen“ .
Da das Thema des vorliegenden Beitrags „Die Gemeinde zwischen Bürger und
Staat“ lautet, scheint es angebracht, die Konsequenzen der hier angestellten Beob
achtungen für den Bürger zu beleuchten. O hne Zweifel bewirkte die italienische
Ordnung, die jede regionale, typologische und individuelle Eigenart beseitigt
hatte, eine Schwächung der Bindung des Bürgers an seine Kommune. Die Ge
meinde, die jede eigene institutioneile Identität verloren hat, stellt nur noch eine
Ausdrucksform des Staatlichen, ein organisatorisches Phänomen dar, das dem
Bürger zw ar nahe, im wesentlichen aber bloß Vertreter der höheren und höchsten
Autorität des Staates ist. Der Bürger wird in eine Gemeinde geboren und hat dort
seinen Wohnsitz, aber er ist im wesentlichen Bürger des Staates, und es hat keinen
Sinn, unter diesen Voraussetzungen von einer Gemeindebürgerschaft zu spre
chen.
Ganz anders lagen die Dinge in Preußen, wie schon der scharfsinnige Beobach
ter Santi R om ano zu Beginn des 20. Jahrhunderts festgestelJt hat. Er hob hervor,
daß bei den „germanischen Völkern [...] die persönliche Bindung derer, die einer
Gemeinde angehören“, fortbestehe, und brachte damit zum Ausdruck, daß in
Preußen die Identität des Stadtbürgers sehr viel stärker als in Italien ausgeprägt sei
und sich forterhalte. Auch die historisch-konstitutionellen Implikationen dieses
Umstands hat Santi Rom ano aufgezeigt. Im Fortbestehen unterschiedlicher Städ
teordnungen leben, auch wenn eine Tendenz zur Angleichung besteht, alte Parti
kularismen fort. Die Einheitlichkeit der G emeindeordnung dagegen, die als C h a
rakteristikum der M oderne angesehen wird, entspricht der Forderung nach
Gleichheit politischer Partizipationsrechte und erfüllt damit eines der grundle
genden Prinzipien zeitgenössischer Verfassungen.
Vor etwa 100 Jahren konnte es passieren, daß ein Preuße das Recht hatte, einen
städtischen M agistrat zu wählen oder auch nicht, je nachdem ob er in Hannover
oder in D anzig lebte. Je nachdem in welcher der beiden Städte er lebte, konnte
seine Stimme sehr viel weniger - oder aber sehr viel mehr - Gewicht haben als die
eines Wählers in Frankfurt am Main. In Italien w ar w eder das eine noch das an
dere möglich, denn ein bestimmtes Einkommen und die Kenntnis des Lesens und
Schreibens berechtigten überall zur Wahl, die überall dem Prinzip „ein Mann eine
Stim me“ folgte.
Dieser Unterschied hatte im ganzen 19. Jahrhundert natürlich auch A usw ir
kungen auf den Einfluß des preußischen Bürgertums auf das städtische Leben.
Das Bürgertum hatte seine Wurzeln in der eigenen Stadt und machte sie zu seiner
Hochburg, fast als sollte damit der geringe Einfluß auf das staatliche Leben k o m
pensiert werden. Dagegen konnten Impulse und institutioneile Pläne zur Verein
D ie G em ein d e zw isc h e n B ü rger un d Staat 125
heitlichung von Stadt und Land und zur Einführung einheitlicher Städteordnun
gen in ganz Preußen nur vom Staat kommen; der aber verzichtete darauf. Als
wollte Berlin das städtische Bürgertum für dessen schwache Position auf staatli
cher Ebene entschädigen, bot es eine flexible und vielfältige O rdnung und dele
gierte auf gewisse Weise die Entscheidung über Form und Umfang der Kom m u
nalverwaltung.
Trotz dieser Unterschiede bewegten sich die Entwicklungen in Italien und
Preußen aufeinander zu. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das kommunale
Wahlrecht in der Weimarer Republik sogar durch eine Verfassungsnorm (Art. 17)
vereinheitlicht. Diese Tatsache verdeutlicht, daß auch im Rahmen der deutschen
Verfassung das G emeindebürgerrecht als Ausformung des Staatsbürgerrechts ver
standen wurde. A uch in Deutschland setzte sich demnach die „Verstaatlichung“
des Gemeindebürgerrechts durch, die in Italien seit der Schaffung des Königreichs
im wesentlichen gegolten hatte und im Jahr 1889 durch die Vereinheitlichung der
Wahllisten für Parlament und Gemeinde auch faktisch zum Abschluß gekommen
war.
Dieser Konvergenz zwischen den beiden Ländern liegt ein epochaler und uni
verseller Demokratisierungsprozeß zugrunde, der zur unterschiedslosen Verallge
meinerung des Rechts auf politische Partizipation führt. Die Verallgemeinerung
des Wahlrechts führt dazu, daß dort, w o für ein Gebiet Vertreter gewählt werden,
diese Wahlen allen betroffenen Individuen offenstehen müssen, wobei natürlich
bestimmte Beschränkungen bestehen bleiben. Als notwendigerweise überörtliche,
fest im staatlichen Zentrum verankerte Organisationen tragen die Parteien zur In
tegration der Gemeinden in den Staaten bei und geben durch ihre Beteiligung an
der Gemeindepolitik dieser einen größeren geistigen H orizont. Sie wenden sich
an die Bürger vor allem als Staatsbürger und ihre das Ganze betreffenden Forde
rungen gehen über die Unterschiede zwischen den Provinzen und den Gegensatz
zwischen Stadt und Land hinaus. Die trotzdem bestehende Verwurzelung der
Parteien im Lokalen, die ihre Existenz und ihr Flandeln bestimmt, wird somit
ständig sublimiert und verdrängt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht ver
wunderlich, daß in Deutschland zwei so unterschiedliche Parteien wie die Sozial
demokratie und die N SD A P gleichförmige Kommunalordnungen vorschlugen,
die sowohl die Unterschiede zwischen den Provinzen als auch die zwischen Stadt
und Land überwinden sollten. Erst das nationalsozialistische Gemeindeverfas-
sungsgesetz von 1935 hat dieses Ziel eines „gleichförmigen“ Systems der K om m u
nalverwaltung tatsächlich erreicht.
III.
Die Rolle der Parteien als Befürworter der Vereinheitlichung der Gemeindeord
nungen und deshalb der Verstaatlichung des Gemeindebürgerrechts führt zu der
zweiten Frage, mit der ich mich hier beschäftigen will, nämlich der D ialektik des
Verhältnisses von bürokratischem und „partitokratischem“ Modell der Stadtver
126 Fab io Ruesie
waltung. Dabei braucht wohl kaum betont zu werden, daß ich beide Adjektive
nicht in dem pejorativen Sinn benutze, der ihnen gewöhnlich anhaftet. Auch er
übrigt sich eine vorhergehende Definition der beiden M odelle, da diese Charakte
risierung aus der kurzen diachronen Rekonstruktion der Kräfte von selbst deut
lich wird, die in den beiden Ländern die Lokalverwaltungen beherrscht haben.
A uch hier werden natürlich Unterschiede und Ü bereinstim mungen zum Vor
schein kommen.
In der ersten Phase, die von den 60er Jahren bis in die 80er Jahre des 19. Jah r
hunderts reichte, lag sowohl in Preußen als auch in Italien die Stadtregierung in der
Lland der Notabein. Die Zusammensetzung dieser Notabienschicht war aber
ziemlich unterschiedlich. In Preußen handelte es sich in erster Linie um Notabein
aus den Städten selbst, in Italien dagegen von außerhalb der Städte. U nter den ita
lienischen Notabein waren nämlich zahlreiche Grundbesitzer zu finden, und häu
fig spielten alte oder neue Adelstitel, die in jedem Fall einen nicht-städtischen B e
zug herstellten, eine nicht unwesentliche Rolle für das Selbstbewußtsein dieser
Schicht. Sowohl in Preußen als auch in Italien organisierten sich diese Eliten für
den Kampf um die Stadtverwaltung nicht in regelrechten Parteien, sondern in p ar
teiähnlichen Gruppierungen, die sich auf ein ausgedehntes Klientel wesen stützten.
Der grundlegende Unterschied zwischen dem italienischen und dem preußi
schen Beispiel liegt in der Reichweite ihrer Herrschaft. Während die italienischen
Notabein entweder direkt oder durch Männer ihres Umfelds die Stadt verwalte
ten, teilten die preußischen H onoratioren die Stadtherrschaft mit einem B eamten
tum, das zw ar von ihnen ausgewählt wurde, aber in ethischer und normativer
Hinsicht Eigenständigkeit genoß. Die Leitung der Verwaltung hat ein Bürgerm ei
ster inne, der ebenso wie der Magistrat bezahlt wird, um die Kom m unalverwal
tung professionell führen zu können. In Italien dagegen liegt die Verwaltung in
der Fland des sindaco [Gemeindevorstand] und der giunta [Stadtverordnetenaus
schuß]. Ersterer w ird von der italienischen Regierung ernannt, wobei Verwal
tungserfahrung nicht das entscheidende Kriterium ist, sondern vielmehr, inw ie
weit der Ernannte die Notabeinschicht zu repräsentieren vermag, loyal gegenüber
der Regierung und zur Vermittlung fähig ist.
In dieser ersten Phase kann weder von einem ausgesprochen bürokratischen
noch von einem „partitokratischen“ Modell gesprochen werden, sondern frühe
stens in der zweiten Phase um die Jahrhundertwende. Seit den 80er Jahren wurden
die Kommunen in Preußen zu Trägern von Versorgungsunternehmen, denn frü
her als in Italien übernahmen sie eine wachsende Zahl sozialer Funktionen und
Aufgaben. Die städtische Notabeinschicht fühlte sich anscheinend weder dazu
„berufen“ noch technisch in der Lage, diese E ntwicklung zu steuern und selbst in
die Hand zu nehmen. An ihre Stelle trat eine immer größere und professionell
ausgestattete Bürokratie, die selbst zur Erweiterung der städtischen Dienstlei
stungen beitrug und damit die Voraussetzung auch ihres eigenen Wachstums
schuf.
Anders vollzog sich die Entwicklung in Italien. Dort übernahmen die Stadtver
waltungen nur zögernd soziale Versorgungs- und Dienstleistungsfunktionen. So
D ie G em ein d e zw ischen B ü rg er und Staat 127
ihre Karriere erst 1933. In jenem Jah r wurden Bürgermeister wie Eichhoff in
D ortmund abgesetzt, der seit 1911 im Amt war, Jarres in Duisburg, Bürgermeister
seit 1914, Adenauer in Köln und Luken in Kiel, beide seit 1917 im Amt.
Dennoch ist ein Zusammenhang zwischen dem bürokratischen Modell der
Kom m unalverwaltung und dem Zensuswahlrecht nicht zu bestreiten, und die
Entstehung der Parteien hat dieses Modell unzweifelhaft in Schwierigkeiten ge
bracht. Diese Entwicklung möchte ich durch die Darstellung verdeutlichen, die
sich in einer der kanonischen Schriften der deutschen kommunalen Wissenschaf
ten findet, nämlich dem „Flandbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis“
in der Ausgabe von 1953. Redakteur dieser Ausgabe war Erich Becker, der sich
unter anderem allzu zurückhaltend zur Reform der Gemeindeordnung unter dem
Nationalsozialismus äußerte. Er hob den Unterschied zwischen dem ursprüngli
chen bürokratischen M odell, das er keineswegs ablehnt, und dem „partitokrati-
schen“, w ie es sich unter der Weimarer Republik herausgebildet hat, deutlich her
vor und machte letzteres für die Katastrophe der Selbstverwaltung verantwort
lich, auf die der Nationalsozialismus dann reagiert habe. Becker schreibt: „Die
D emokratisierung der Gemeinden durch die Politisierung der Gemeindewahlen,
die Repräsentation der Gemeinde durch Vertreter der politischen Parteien, die
Verwirklichung der allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlen
... und die A nw endung der Grundsätze der Verhältniswahl haben eine Revolution
traditional gebundener Verhältnisse zur Folge g e h a b t .... Die zur Parteienzersplit
terung mißbrauchte demokratische Freiheit ... hat sich jedoch destruktiv ausge
w irk t.“ Entscheidend ist dann, daß „der Pluralismus der politischen Kräfte ein
heitsstiftende Entscheidungen gefährdete ... und eine widerstrebende wirtschaft
liche Interessenpolitik den Gemeinsinn zerstörte“ .
U nzweifelhaft hatte das vor der Weimarer R epublik bestehende bürokratische
System „einheitsstiftende Entscheidungen“ ermöglicht und den „Gemeinsinn“
gegen „widerstrebende wirtschaftliche Interessen“ geschützt. Der Nationalsozia
lismus hat jedoch das vorherige System nicht wiederhergestellt. Deutschland hat
nämlich im Gegenteil als dritte Phase nach dem N otabelnsystem und dem begin
nenden Uberhandnehmen der Parteien eine autoritäre Radikalisierung des „parti-
tokratischen“ Systems erfahren. Die neuen Bürgermeister unter dem N ationalso
zialismus waren der Partei verpflichtet. Sie bezogen ihre Legitimation mehr aus
der Parteizugehörigkeit als aus der professionellen Eignung, und ihre Funktion
bestand darin, auf lokaler Ebene im Zentrum formulierte Willensentscheidungen
durchzusetzen. Das Wesen des bürokratischen M odells der wilhelminischen Zeit
ging dadurch verloren und ebenso das Element der Wahl, das ein integrierender
Bestandteils dieses Modells gewesen war.
Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich unter den autoritären Regim en der bei
den Länder bezeichnenderweise konvergente Entwicklungen beobachten. Auch
in Italien war die Zeit vor dem Faschismus durch heftige Konflikte auf lokaler
Ebene charakterisiert, die der Reform von 1926-1927 zur Rechtfertigung dienten,
um die W ählbarkeit der Ämter auf lokaler Ebene aufzuheben und einen podestä
einzuführen. Die kommunalen Wahlkämpfe und die Anwesenheit von Parteien in
D ie G em ein d e zw isc h e n B ü rger und Staat 129
VI.
Bisher w urde das Them a unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der kom
munalen O rdnungen und der M odelle der Gemeindeordnung betrachtet. N un
möchte ich einige weitere Überlegungen anfügen, die den Vergleich verständli
cher, aber auch problematischer machen. Deutlich w urde bereits das Fortbestehen
eines Partikularismus in den Gemeindeordnungen Preußens, der erst durch die
M odernisierung unter dem Nationalsozialismus aufgehoben wurde. Der Begriff
„M odernisierung“ ebenso wie das Adjektiv „modern“ werden hier selbstver
ständlich nicht im wertenden Sinne verwendet und nur, um eine abgeschlossene
Vergangenheit zu bezeichnen. Der Fortbestand dieses Partikularismus hängt
sicher mit der Fähigkeit des preußischen Bürgertums zusammen, im lokalen R ah
men sozusagen die Herrschaft im eigenen Flaus zu beanspruchen und zu bewah
ren. Die Durchsetzung einer einheitlichen Gesetzgebung in Italien von Anfang an
müßte dann im Gegenteil eine stärkere zentripetale A usrichtung der italienischen
Bourgeoisie bedeuten oder aber die Existenz einer entsprechend stärker eingrei
fenden Zentralmacht.
Das sichtbare Ergebnis des Zusammenspiels von politisch Handelnden und
normativen Beschränkungen ist denn auch eine im Vergleich zu Italien größere
Autonomie der preußischen Städte. Diese waren hinsichtlich der Stadtverfassung
und ihres Kompetenzbereichs keinerlei Beschränkungen unterworfen. Die italie
nischen Städte dagegen besaßen nicht das Recht, eine Gemeindeverfassung zu be
stimmen, und ihre Zuständigkeiten waren nur virtuell unbeschränkt, da in diesem
Bereich die Prioritäten gesetzlich geregelt waren. Die Kontrollbefugnisse sind
vielleicht vergleichbar, aber die in Preußen bestehende Bewegungsfreiheit und der
H andlungsspielraum der Städte waren in Italien undenkbar. In Preußen übernah
men die Kommunen wesentlich früher als in Italien und ohne jegliche spezielle
Gesetzgebung Aufgaben der öffentlichen Hand besonders im Bereich der Sozial
130 Fab io R u g g e
132 Fab io R u g g e
Ein hervorragendes Beispiel für dieses Zusammenspiel der Funktionen ist das
erwähnte Gesetz von 1903 über die öffentlichen Versorgungsbetriebe der Ge
meinden. O bw ohl es von den Regierungseliten ausgearbeitet war, um die Indu
striepolitik der Gemeinden zu bremsen, die sozialistischen Umverteilungszielen
dienen sollte, wurde es doch von den Sozialisten durch ihren Einfluß auf Giolitti,
den Urheber des Gesetzes, mitgestaltet und stellte unzweifelhaft eine Konzession
an die Forderungen der Sozialisten dar.
In diesem Fall handelte es sich jedoch um eine besonders günstige D yn am ik
und einen besonders geglückten Fall. Meiner Ansicht kann man aus dem Vergleich
der beiden Fälle die Lehre ziehen, daß das Verhältnis zwischen Demokratie und
Autonomie auf Gemeindeebene in der ganzen ersten Phase der zeitgenössischen
staatlichen Entwicklung nicht einfach war. Wo die A utonom ie - wie in Preußen -
sehr w eit reichte, war sie in ein System eingebettet, das die Bürgerbeteiligung ein
schränkte und die Einflußmöglichkeiten der Parteien beschnitt; wo dagegen - wie
in Italien - das Prinzip der gleichberechtigten Teilnahme der Bürger an der Selbst
verwaltung gesichert w ar und die Parteien diese Aufgabe erfüllen wollten, wurde
die Autonomie streng kontrolliert. Das Verhältnis zwischen A utonom ie und D e
mokratie w urde in beiden Ländern unter den autoritären Regim en neu geordnet,
jedoch um den Preis der U nterdrückung beider, so daß von der .Gemeinde“ in
Italien nur ein .neuer Partikularism us“ in der Gestalt des ras und der Bildung
neuer Provinzen und in Deutschland der Gauleiteregoismus übrigblieb.
i
L u tz K linkham m er
1. Zur Fragestellung
nativer Eliten, die den grundsätzlichen Rahmen des bestehenden Systems nicht in
Frage stellen.
W ährend die U nterdrückung oppositionellen Verhaltens über militärische und
polizeiliche Apparate abläuft, so stellt die Entlegitimierung von nicht erwünsch
tem Verhalten auf die Definition von Andersartigkeit ab, auf einen juristisch wie
publizistisch zu fixierenden Verhaltenskodex3. Eines der wichtigsten Mittel dieser
Repression ist die Formulierung von parlamentarisch verabschiedeten A usnah
megesetzen oder von Staatsschutzparagraphen in den Strafgesetzbüchern. Die
Skala der Instrumente der Repression reicht vom Berufsverbot (für bestimmte
Gruppen) und vom Parteiverbot über Polizeihaft, Schutzhaft, „confmo di poli-
zia“, Verbannung bis hin zum Spezialgericht, Kriegsgericht, Standgericht bzw.
zum Belagerungszustand und zur militärischen Intervention.
Emigration aus allgemeingesellschaftlichen, d.h. überwiegend ökonomischen
Motiven - deren Persistenz aber durchaus als Mittel angesehen werden kann, um
die Lohnhöhe unter Kontrolle zu halten4 - fällt nicht unter die Kategorie der R e
pression. Zum Katalog repressiver Zwangsmaßnahmen gehört auch die forcierte
Emigration, die faktisch in Formen der Vertreibung übergehen kann. Idealtypisch
sind „außerordentliche“ Repressionssituationen, die einen massiven Rückgriff auf
M ilitär und polizeiliche Gewalt erfordern, von Situationen der „normalen“ R e
pression zu unterscheiden, in denen mit Hilfe der staatlich dafür konzipierten A p
parate, v. a. Polizei und Justiz, eine präventive wie repressive Gegnerbekämpfung
stattfindet.
Repression als Herrschaftsinstrument machte in Kontinentaleuropa nicht an
den Ländergrenzen halt, sondern gehörte zu den politischen A ntworten auf fun
damentale Herausforderungen des Transformationsprozesses seit 1789, deren
Einsatz im deutschen wie italienischen Nationalstaat in parallelisierender Analyse
betrachtet werden kann5. In der ersten Hälfte des hier zu betrachtenden Säkulums
zwischen 1860 und 1960 kam cs in Italien zu zwei einschneidenden Wellen der R e
pression. Die erste kann mit dem Stichwort „brigantaggio“ Umrissen werden, die
zweite mit dem „Staatsstreich des B ürgertum s“ (U. Levra) in den 1890er Jahren.
Die andere Hälfte des Untersuchungszeitraums war hingegen gekennzeichnet
durch den militärischen Ausnahmezustand im Ersten Weltkrieg mit seinem exor
bitant hohen Einsatz der M ilitärjustiz zur Bestrafung von Formen der Verweige
rung und durch die systemim manente Repression durch die faschistischen Re
gime. Waren die ersten beiden Phasen noch gekennzeichnet durch gezielte politi
sche Maßnahmen, d. h. die A usrufung des Ausnahmezustands und die Einschal
tung einer meist militärischen Spezialjustiz, so kann für die Zeit des Faschismus
von Wellen der Repression kaum gesprochen werden: H ier muß vielmehr von ei
nem Kontinuum ausgegangen werden, das freilich beschleunigende wie verhar
rende Momente kannte.
Am 21. O ktober 1860 fand das Plebiszit statt, mit dem das Königreich beider Si
zilien mit dem Norden unter der Herrschaft Vittorio Emanueles II. vereint wurde.
Dank einer umfangreichen literarischen Produktion von Stereotypen über den
Zusammenprall zwischen ,zivilisiertem“ Nord-Italien und der .Barbarei“ der
neuen Länder im Süden war den Eliten des Nordens klar (und im Turiner Parla
ment w urde dies entsprechend diskutiert), daß ihnen die undankbare, aber patrio
tische Pflicht zukom m en würde, mit einer strikten A nw endung der Gesetze die
süditalienische Bevölkerung, die seit Jahrhunderten unter Korruption und M iß
wirtschaft daniederlag, aus der Barbarei und dem Elend, aus dieser Vorhölle des
neuen Italien herauszuholen6. Das Allheilmittel sollte neben der Schaffung eines
straffen Zentralismus in einem massiven Einsatz des Militärapparats in den neuen
Provinzen bestehen. Gleichzeitig wurden die Übergangsregim e in Toskana, Sizi
lien und Süditalien abgeschafft.
Anfang April 1861 schlug Innenminister Minghetti im Turiner Parlament vor,
zum Schutz der öffentlichen O rdnung die Truppenstärke und die Carabinieriprä-
senz zu erhöhen. Er verteidigte die Legitimität des Einsatzes der bewaffneten
Macht mit dem Argument, „die aufrührerischen Orte niederzuhalten“. Minghetti
selbst meinte, daß dem „politischen brigantaggio“ ein „räuberisches Briganten
tum“ auf dem Fuß folgen und daß die Reste der zerschlagenen Banden schließlich
z e n a d e l (H rsg .), E u ro p äisch e S o zialg e sc h ich te. F estsch rift fü r W o lfgan g S ch ie d er (B erlin
2000) 4 8 5 -5 0 3 , in sb eso n d ere 4 9 7 f.
6 So D aniela Adorni, II b rig a n ta g g io , in: S to ria d ’Ita lia. A n n a li 12: La crim in a litä , a cu ra di
L ucian o V io lan te (T orino 1997) 283 f. Z um „ K u ltu rg e g en sa tz “ zw isch en N o rd un d Süd aus
der F lu t an „ m erid io n alistisc h e r“ L ite ra tu r h erau sgegriffen : Claudia P e t r a c c o n e , Le d ue
civiltä. S etten trio n ali e m erid io n a li n ella S to ria d ’ Italia (R o m a, B ari 2000).
136 L u t z K lin k h a m m e r
von Straßen- und Raubüberfällen leben w ürd en 7. Die Botschaft lautete also, daß
selbst der politisch geschlagene Feind noch gefährlich war, denn er war „krim i
nell“. Woran aber konnten der politische Feind und der Kriminelle erkannt w er
den? Für die nationalstaatlich gesinnten Politiker fiel die A ntw ort leicht: an ihrer
Sympathie für die Bourbonenherrschaft.
Bourbonische Reaktion, garibaldinisch-demokratische Opposition und B ri
gantentum - dies waren die drei Bedrohungen, gegenüber denen sich der neue
Staat mit einer Strategie der Entlegitimierung durch Kriminalisierung zur Wehr
setzte: eine Begründung, die es erlaubte, die militärischen Strafexpeditionen zu
rechtfertigen. Äußerer Feind (Bourbonen) und innerer Feind (Demokraten und
Briganten) konnten nur beseitigt werden, indem man den Süden unter M ilitärgo u
vernement stellte, was im Sommer 1862 auch geschah, obwohl Cavour selbst noch
kurz vor seinem Tod vor dem Mittel des Belagerungszustandes gewarnt haben
soll8. In Neapel und Sizilien waren per Dekret schon im Februar 1861 das nord
italienische Strafgesetzbuch samt zugehöriger Strafprozessordnung sowie das Ge
setz über die Gerichtsverfassung eingeführt worden - also noch bevor es zur Er
öffnung des Parlaments kam, was entsprechende Proteste in Sizilien hervorrief9.
In Süditalien sollten mit dieser M aßnahm e die parlamentarischen Verwicklungen
vermieden werden, die die Einführung der neuen Justizverfassung in der Lom bar
dei und der Emilia bew irkt hatten. Auch Minghetti w ar der M einung, daß „ein
bißchen soldatisches Vorgehen heilsame Medizin für dieses Volk sei“ 10. Der M in i
sterrat verabschiedete schon im Mai 1861 besondere M aßnahm en zur Kontrolle
des Südens: Es wurden Proskriptionslisten von „Briganten und Wegelagerern“ er
stellt, ferner konnten Justiz- und Verwaltungsbeamte abgesetzt werden, die die
Regierung nicht unterstützten oder die „Hindernisse in der Am tsführung hervor
riefen, sei es wegen parteiischer oder oppositioneller Gesinnung, sei es aus Schwä
che oder aus anderen G ründen“ . Destra wie Sinistra waren sich weitgehend einig,
und Rattazzi schrieb kurz vor dem berüchtigten Massaker in Pontelandolfo: „Das
Blut, das jetzt fatalerweise vergossen werden muß, ist ein großes U nglück, das
7 Adorni, B rig an tag g io 284. M it w e lc h e r H a ltu n g d ie n o rd ita lien isch en S o ld aten nach S ü d
italien k am en , z e ig t d ie zeitgen ö ssisch e D arste llu n g vo n Antonio Q uaglia, II p o p o lo , la
m ag io r p arte sono c am u risti. D ia rio m ilita rc e di co stu m e, 1860-18 70, di A n to n io Q u a g lia,
b ersag liere p iem o n tese (T o rin o 1997), so w ie aus eigen em E rleb en als G efan gen er d er B rig a n
ten: Johann Jak ob Lichtensteiger, Q u a ttro m esi fra i b rig an ti, 18 65-18 66, h rsg. von Ugo di
Pace (C a v a d ei T irren i 1984; u rsp rü n g lich 1894 ersch ien en u n te r dem T itel: V ier M o n ate u n
ter den B rigan ten in den A b ru z z e n ); Jose Borjes, La m ia v ita tra i b rig a n ti, hrsg. von Tommaso
Pedio (M a n d u ria 1998).
s A n d e rerseits soll er, w ie R o sa rio R o m eo au fg ez eig t h at, g e d u ld e t h ab en , daß „im K am pf
gegen das B rig an ten tu m .k e in e Z eit d am it v ersch w en d et w ird , G efan gen e zu m ach en 1“ . B rief
D elia R occa an C av o u r, 15. 1. 1861, z itie rt nach Rosario Romeo, C a v o u r e il suo tem po
(1 8 5 4 -1 8 6 1 ), B d. III (R o m a, B ari 1984) 871.
9 Romeo, C a v o u r III 871.
10 M in g h etti an F a rin i, 15. 12. 1960 (Romeo, C a v o u r III 871).
Staatliche R ep ressio n als politisches Instrum ent 137
15 W arum d e r sü d ita lie n isc h e b rig a n ta g g io so v erb reitet sei, erk lä rte ein G en eral m it den
V o rteilen , die er einem gro ß en P erso n en k reis lieferte: D en B au ern un d P äch tern sei er n ü tz
lich , w eil d ie E igen tü m er aus A n gst vo r d en B rigan ten ih re L än d e reien n ich t k o n tro llierten
un d die b äu erlich en P äch ter d ie B e sitz e r u n g e stra ft ü b erv o rte ile n ko n n ten . D en L an d a rb e i
tern , d ie zu den B rigan ten sto ß en ko n n ten , u m einen T eil d er B eute zu erh alten , so b ald sie
ein e W affe erh ielten ; den S p io n en un d H e lfe rsh e lfe rn , w e il sie d aran ve rd ie n ten ; den G ro ß
g ru n d b esitz e rn , w e il sie m ittels d er B rig an ten ih re p riv aten F ehden au stra g en u n d eine A rt
von fe u d aler O b erh errsch aft w e ite rh in ausü b en ko n n ten , d ie ihnen m it dem Fall d e r B o u r
b o n en h errsch aft gen o m m en w o rd en w a r; d e r B o u rb o n en p arte i, w eil das L an d in A u fru h r
b lieb un d ih rer A g ita tio n N a h ru n g lieferte; v ielen A n g e ste llte n d er n euen R eg ieru n g , da sie
gegen B elo h n u n gen , d ie ih r G eh alt bei w eitem ü b erstie g en , A m tsg eh eim n isse verraten un d
B rigan ten sch ü tzen ko n n ten . U n d w as B ü rg erm eiste r u n d N a tio n a lg a rd e an g eh e, so sp ie g e l
ten d iese A m tsträg er ih re W ä h lersch aft en tsp rech en d w id e r (z itie rt nach Adorni, B rig a n ta g
gio 296).
16 Adorni, B rig an ta g g io 304 f.
17 D ie L egge Pica (n. 1409 vom 15. 8. 1863) w a r in K raft vom 22. 12. 1863 bis F e b ru ar 1864,
d an ach w u rd e sie a u fgeh o b en , ab er in h a ltlic h ab g elö st von d er legge P e ru z z i n. 1661 vom
7. 2. 1864, d ie bis zu m 30. 4. 1864 in K raft w a r; sie w u rd e ab g elö st vo n d er legge n. 1742 vom
30. 4. 1864 bis D ezem b er 1864; d iese w ie d eru m von d er legge n. 2061, d ie vom 24. 12, 1864
bis zu m 31. 12. 1865 reich te.
S taatliche R epressio n als politisches In stru m ent 139
Kampf um die Einigung erwies sich als folgenschwere Belastung für den jungen
Einheitsstaat. Gleichzeitig war mit dem Instrument des Belagerungszustands das
M uster geliefert worden, wie innenpolitische Repression im „liberalen“ Staat
wirksam ausgeübt werden konnte. Wie einschneidend diese war, ist schwer z u sa
gen. Trotz einer Flut von Literatur zum „brigantaggio“ ist die archivalische Ü ber
lieferung noch nicht entsprechend ausgewertet worden, so daß es bislang keine
zuverlässigen Zahlenangaben gibt - im übrigen ein generelles Problem der italie
nischen Geschichtswissenschaft, auch zum Ersten und Zweiten Weltkrieg. Weder
die Zahl der waflentragenden Briganten noch die der Sympathisanten oder als
Helfershelfer Etikettierten läßt sich bislang ausreichend beziffern18, auch nicht die
der im Kampf eingesetzten Soldaten. Die Zahl der Verhafteten war jedenfalls be
eindruckend hoch: Allein in der Provinz Catanzaro wurden Anfang des Jahres
1864 jede Woche etwa 300 Personen als „briganti, vagabondi, oziosi, sospetti ca-
morristi e sospetti m anutengoli“ arrestiert19. Zwischen 1861 und 1862 sollen in
Kalabrien etwa 1560 Briganten „ausgeschaltet“ worden sein, davon 1023 in der
Provinz Catanzaro, 306 in Cosenza und 234 in Reggio Calabria20.
In Süditalien kamen somit drei zentrale Instrumentarien der Repression zum
Einsatz: die Verhängung des Ausnahmezustands, flankierende Ausnahmegesetze,
die scheinbar zeitlich begrenzt sein sollten, bald aber auf Dauer gestellt wurden,
und die Einrichtung von M ilitärtribunalen. Jede dieser Maßnahmen konnte auch
isoliert auftreten, ihr Zusammentreffen verweist jedoch auf eine entsprechend hö
here repressive Intensität.
Vor dem Hintergrund der G ründung der Sozialistischen Partei und der Bildung
von „Camere del Lavoro“ ist die Repressionswelle der 1890er Jahre zu sehen:
Schon am 1. Mai 1891 waren über 200 Angehörige der sozialistischen oder anar
18 V gl. d azu d ie n ach d en k lich en B e m e rk u n g e n des L eiters des H isto risc h e n A m ts des ita lie
nisch en H eeres, R iccardo Treppiccione, II B rig an ta g g io nei d o cu m e n ti d e ll’U fh c io S to rico
(1 8 6 0 -1 8 7 0 ), in: S tu d i sto ric o -m ih tari 1995 (R o m a 1998) 10 3 -1 3 7 , h ier 112.
19 D iese Z ah l habe ich aus den e in sc h lä g ig e n A k ten des F o ndo B rig a n ta g g io ( G - l 1) im „U f-
ficio S to ric o d ello Stato M ag g io re d e ll’E se rcito “ in R o m z u sam m e n g estellt (b u sta 71). Vor
k u rzem sin d u m fan greich e A rch iv fü h rer v o rg e leg t w o rd en zu den B rig an ta g g io -B e stän d en ,
die d er in ten siven A u sw e rtu n g im m er noch h arren : F o nti p er la sto ria del b rig an ta g g io
p o stu n itario co n servate n elP A rc h iv io C e n tra le d ello Stato . T rib u n ali m ilita ri s tra o rd in a ri.
In ven tario a cu ra di Loretta D e Felice, P u b b lica z io n i d egli A rch iv i di S tato . S tru m en ti 131
(R o m a 1998); G u id a alle fo n ti p er la sto ria d el b rig a n ta g g io p o stu n itario co n serv ate n egli
A rch ivi d i S tato , P u b b licaz io n i d eg li A rch iv i d i S tato . S tru m en ti 139 (R o m a 1999).
20 So d ie A n gab e von Vanni C lo d o m iro , P ro b lem i d ella C a la b ria p o stu n ita ria , in : S tud i P ia-
centini 29 (2001) 13 -37, h ier 19 (o h n e Q u e lle n an g a b e ). C lo d o m iro selb st sch ein t bei d ieser
Z ah len an gab e au f d ie zeitgen ö ssisch e P u b liz istik z u rü c k g eg riffen zu haben.
140 L u t z K lin k h a m m e r
chistischen Bewegung verhaftet worden. Während des Zeitraums von 1894 bis
1898 kam es zu einer höheren Zahl von politisch motivierten Exekutionen, von
verhängten Gefängnisstrafen und von politischen Verhaftungen als in den fünf
undzw anzig Jahren vorher. W ährend der blutigen Maitage 1898 - einer Brotre
volte mit politischem Hintergrund, hervorgerufen durch die Schutzzollforderun
gen der etwa 150000 italienischen Getreideproduzenten, die eine Brotteuerung
nach sich zogen21 - verursachten die Kanonen des piemontesischen Generals Bava
Beccaris allein in den Straßen von Mailand 80 tote und 450 verletzte Demonstran
ten, hinzu kamen 56 in anderen Teilen Italiens22. 1898 wurden zudem zahlreiche
Zeitungen beschlagnahmt, Abgeordnete verhaftet, Diskussionszirkel und Vereini
gungen aufgelöst. 700 Mailänder, darunter 200 Frauen und Kinder, wurden ver
haftet und zum Castello Sforzesco gebracht, wo eine Serie von Prozessen vor den
Spezialgerichten einsetzte.
Die staatliche Repression fiel auf dem Boden des Deutschen Reiches weit un
blutiger, wenn auch nicht weniger erbittert aus als in Italien. Opfer waren neben
den Katholiken, die von den Kulturkampfgesetzen getroffen wurden23, vor allem
die Sozialdemokraten in der Phase der Geltung der Sozialistengesetze 1878-1890.
Im Vergleich zu den drakonischen Gefängnisstrafen, die die militärischen Spezial
gerichte in Italien fällten, fielen die Haftstrafen, zu denen A ugust Bebel 1872 im
sogenannten Leipziger Hochverratsprozeß sowde im selben Jahr wegen Majestäts
beleidigung und 1877 wegen Beleidigung Bismarcks verurteilt wurde, erheblich
niedriger aus. Zudem konnte Bebel die Gerichtsverhandlungen entsprechend für
die Verbreitung seiner politischen Anliegen nutzen - was schon W ilhelm Lieb
knecht 1894 hervorhob24.
Im Jahr 1898 führte allein das M ailänder Tribunale d igu erra 129 Prozesse gegen
828 A ngeklagte durch. Von diesen wurden 688 verurteilt, mithin eine Verurtei
lungsquote von 83 Prozent. Bei einem Drittel dieser Verurteilten handelte es sich
23 U m b erto Levra, II co lp o di stato d e lla b o rgh esia. L a crisi p o litica di fine seco lo in Italia
1896/1900 (M a ila n d 1975) 157f.
26 So w u rd e d er A n a rc h ist M o lin a ri 1894 zu 23 Jah ren G efän gn is v e ru rte ilt w eg en „associa-
zio n e a d e lin q u e re “ un d „eccitam en to alia g u erra c iv ile “, o b w o h l er bei den U n ru h e n in der
L u n ig ian a g a r n ich t an w esen d gew esen w ar. Er w u rd e v e ru rte ilt w egen ö ffe n tlich er R eden,
d ie er ze itlic h w eit frü h e r geh alten h atte un d w egen sein er T ä tig k e it als R e d a k te u r des A lm a -
nacco an arch ico . D ie E in rich tu n g d e r M ilitä rg e ric h te un d d ie D u rc h b rec h u n g des R ü c k
w irk u n g sv erb o ts w u rd e n vom K assatio n sg e ric h tsh o f g e b illig t, und es w u rd e le d ig lic h eine
B esch w erd e gegen das e rstin sta n z lich e U rte il ein g eräu m t (C o rd ov a , D em o c razia e R ep res-
sio ne 29).
27 C o r d o v a , D em o crazia e R ep ressio n e 13.
28 Levra, C o lp o 158.
142 L u t z K lin k h a m m e r
29 C o r d o v a , Democrazia e Repressione 42 f.
30 D azu fü r den to sk an isch en A d el Thomas K roll, D ie R ev o lte des P a triz ia ts. D er to s k a n i
sche A d elslib e ra lism u s im R iso rg im en to (T ü b in g en 1999).
31 Schon M ax W eb er hat den P ro zeß d e r A u flö su n g d er H o n o ra tio re n h errsc h aft d u rch d ie
m o d ern en M assen p arteien im K aiserreich w ie fo lgt b esch rieb en : „D ie H o n o ra tio re n h e rr
schaft ab er in den P arte ien ist au ß e rh a lb v e rk e h rsen tleg en er a g rarisc h e r G eb iete m it p a tria r
chalem G ro ß g ru n d b esitz ü b erall d esh alb u n h altb ar, w eil d ie m o dern e M asse n p ro p ag an d a die
R a tio n a lisie ru n g des P arte ib e trieb s: den P arteib eam ten , die P a rte id is z ip lin , d ie P arteik asse,
d ie P a rteip resse un d d ie P a rte irek la m e z u r G ru n d lag e d er W ah lerfo lg e m ach t. D ie P arteien
o rg an isiere n sich zu n eh m en d straffer.“ Max Weher, P arlam en t u n d R eg ieru n g , in: ders., W irt
sch aft u n d G esellsch aft (T ü b in g en 51985) 858.
S taatliche R ep ressio n als politisches Instrum ent 143
la t e n begangen, die darauf abzielen, gewaltsam die Verfassung des Staates und die
Regierungsform umzustürzen; die Einwohner des Königreichs zu einer bewaffne
ten Erhebung gegen die Kräfte des Staates veranlassen w ollen"32. Der Staats-
schutzparagraph mußte die bürgerliche Sozialordnung retten - auch wenn dies
letztlich ein unzureichendes Mittel war. Die politische Agitation der A rbeiter
klasse w ar nicht mehr aufzuhalten, w ie sich an der Entwicklung der Streikbewe
gung um 1900 ablesen läßt: Von 410 Streiks mit etwa 94000 Streikenden im Jahr
1900 stieg ciie Bewegung 1901 auf 1671 Streiks mit 420000 Beteiligten an. Die R e
pression von 1898 hatte, dies war auch vielen Industriellen klargeworden, vor al
lem eines bewirkt: die Sozialistische Partei und die Arbeiterligen erheblich zu
stärken33. U nd ehemalige Garibaldiner wie der republikanische Parlamentsabge
ordnete und Medizinprofessor in Messina, Napoleone Colajanni, verglichen be
reits 1898 die Savoyerherrschaft mit dem Königreich beider Sizilien: Was die R e
pression angehe, so sei es in 40 Jahren Bourbonenherrschaft in Süditalien zu 2067
politischen Verurteilungen gekommen, doch im neuen Königreich Italien hätten
die M ilitärtribunale - ohne die ordentliche Gerichtsbarkeit! - allein in wenigen
Monaten des Jahres 1898 schon 2500 Bürger verurteilt34. Gleichzeitig führten die
zahlreichen Verurteilungen von Anarchisten, Sozialisten und Republikanern zum
Zwangsaufenthalt auf süditalienischen Inseln w ie Lipari zu einer ersten Welle an
autobiographischer Verbannungsliteratur35,
Innenpolitisch kam es seit 1894 immerhin zu einer massiven juristischen Dis
kussion um die Rechtswidrigkeit des Ausnahmezustands. Der Belagerungszu
stand im Innern war nämlich im Statuto Albertino nicht vorgesehen, ja viele J u r i
sten gingen sogar davon aus, daß das Gewaltenteilungsprinzip des Artikels 6 - der
zw ar vorsah, daß die Exekutive D ekrete zur Gesetzesausführung erlassen könne,
darunter aber nicht solche Dekrete meinte, in denen die Geltung von Gesetzen
aufgehoben werde - einen Belagerungszustand völlig ausschlösse. Juristische A u
toritäten kamen daher zu dem Schluß, daß der A usdruck Belagerungszustand
ohne jede rechtliche Bedeutung sei. Andere wiederum waren der M einung, daß
die Verfassung der Exekutive sogar ausdrücklich verbiete , Teile ihrer Garantien
außer Kraft zu setzen. Doch die normative Kraft des Faktischen w ar stärker. Di
Rudini verhängte den Belagerungszustand und öffnete damit die Möglichkeit,
Kriegsgerichte einzuführen - wie dies im übrigen schon Crispi 1894 in Sizilien
und der Lunigiana getan hatte36. Die Verfassung konnte ausgehebelt werden mit
dem Instrument des gewöhnlichen Strafrechts, nämlich mit dem Codice Zanar-
delli, der erst seit kurzem in Kraft war. Auch wenn dieser einige Strafrechtsmiide-
rungen gebracht hatte, zählte das Faktum weit stärker, daß darin neue Delikte ein
geführt worden waren, die auf eine Kriminalisierung der politischen Opposition
hinausliefen. Es w ar kein Zufall, daß diese Repression zu einem Zeitpunkt statt
fand, als die Wahlberechtigung zum Parlament eine Erweiterung erfuhr. Hatten
1880 nur 2,2 Prozent der Bevölkerung das Wahlrecht besessen, so w ar 1882 der
straffe Zensus von 1860 deutlich herabgesetzt und durch persönliche Qualitäten
des Bürgers ergänzt worden: Neben einer Mindeststeuersumme waren nun Schul
bildung sowie Schreib- und Lesefähigkeit erforderlich. Statt 620000 Bürgern
wählten 1882 schon 2 Millionen, 1886 2,4 M illionen37. In der Wahlrechtsfrage
hatte das Deutsche Reich einen weniger konservativen Weg beschritten, wenn
auch das Spannungsverhältnis von einzelstaatlichem Dreiklassenwahlrecht, vor
allem in Preußen, und allgemeinem M ännerwahlrecht im Reich die politische Kul
tur des Kaiserreichs38 bestimmte.
Schaut man vergleichend auf das Deutsche Reich, so w ar das Sozialistengesetz
ebenfalls als Ausnahmegesetz konzipiert worden. Es hielt sich nicht weniger als
12 Jahre lang, obwohl zwischen 1878 und 1887 nur schwer eine parlamentarische
Mehrheit für das Gesetz zu finden gewesen war. U nd auch das Ende des Gesetzes
1890 war nicht Ergebnis der Ü berzeugung, daß die M aßnahm e überflüssig gew or
den sei. Schließlich hatte der Bundesrat im O ktober 1889 einen Entwurf für ein
unbefristetes Gesetz vorgelegt. Nach Bismarcks „starrsinniger Ü berzeugun g“
mußte der Staat nämlich mit der Sozialdemokratie, die für den Kanzler außerhalb
jedes politischen Kommunikationszusammenhangs stand, „in einem bürger
kriegsähnlichen Zustand bleiben“39. M it dem konservativ-nationalliberalen Kar
tellreichstag schien einer Verlängerung des Sozialistengesetzes nichts mehr im
Weg zu stehen. Doch die Nationalliberalen, die an sich einem Dauergesetz z u
neigten, aber ihrerseits nicht dessen Opfer werden wollten, forderten im Reichs
tag entsprechende M odifikationen an § 22 des Sozialistengesetzes, der die A us
weisung sozialistischer Agitatoren aus ihren bisherigen Heim atwohnorten gestat
tete. Das Kartell spaltete sich in der Frage des Ausweisungsparagraphen40.
W ährend man in Italien die Opposition mit der Wurzel auszuschalten gedachte,
erhofften sich viele Befürworter des Sozialistengesetzes eine entsprechende Ein
w irkun g auf die „vaterlandslosen Gesellen“41. Untersucht man die strafrechtliche
37 Z ah len bei Francesco Bartolotta, P arlam cn ti e go vcrn i d ’ Italia dal 1848 al 1970, 2 B de., V ito
B ian co E d ito re (R o m a 1971).
3S Thomas K ühne, D re ik lasse n w ah lre c h t un d W a h lk u ltu r in P reu ssen 18 67-19 14. L an d ta g s
w ah len zw isc h e n k o rp o ra tiv e r T rad itio n u n d p o litisch em M a sse n m a rk t (D ü sse id o rt 1994).
39 So das U rte il von Wolfgang Schieder, B ism arck un d d e r S o z ia lism u s, in: Johannes Klinisch
(H rsg .), B ism arck un d seine Z eit (B erlin 1992) 1 7 3-189 , h ier 18 8-189 .
40 Huber, D eu tsch e V erfassu n gsgesch ich te IV 2 0 2 -2 0 8 .
41 „Selbst das S o zia liste n g e se tz z ie lte sc h lie ß lich n ich t a u f das - a llerd in g s auch im R eich stag
n ich t d u rc h se tz b a re - v o llstä n d ig e V erb ot d er S o z ia ld e m o k ratie ab, so n d ern so llte neb en ih
rer ö ffen tlich en p o litisch en V ersam m lu n g stätig k e it vo r allem ih re P resse zu m E rliegen b rin
g e n .“ (Schieder, B ism a rck 186).
Staatliche R ep ressio n als politisches Instrum ent 145
Praxis im Deutschen Reich in den Jahren nach 1880, so scheint sie durchweg m il
der gewesen zu sein als im Italien der späten 1890er Jahre. Vor allem erlaubten die
regulären Strafprozesse eine ganze andere publizistische und agitatorische Ver
arbeitung42 als die kurzen Prozesse vor den italienischen Kriegsgerichten. A u ß er
dem gewährte selbst das Sozialistengesetz den aufgrund § 22 strafrechtlich Ver
urteilten den Rechtsschutz der Strafprozeßordnung43.
Ähnlich w ie im italienischen Fall benötigte auch die deutsche Justiz nicht unbe
dingt den Rückgriff auf das Sozialistengesetz44. So standen Bebel, Auer und Ge
nossen 1886 vor dem Landgericht Freiberg wegen Geheimbündelei nach § 128 des
Strafgesetzbuchs vor Gericht, wurden von diesem Anklagepunkt sogar freige
sprochen, allerdings nach § 129 StGB wegen Teilnahme an einer „gesetzwidrigen
Verbindung“ verurteilt. Das Sozialistengesetz hatte insofern eine rechtskodifika-
torische Bedeutung, da dort die „gesetzwidrige Verbindung“ inhaltlich definiert
worden war. Schon damals hatte Ignaz A uer die in den ersten zehn Jahren des
Sozialistengesetzes verhängten Freiheitsstrafen aufaddiert und in der Summe ein
Strafmaß von 831 Jahren Gefängnis (U-FIaft inklusive) ermittelt, was er zu 1000
Jahren aufrundete. Die italienische Repression war im Vergleich deutlich härter:
Allein das M ailänder M ilitärgericht verhängte in einem einzigen Jahr, 1898, 1400
Gefängnisjahre, während gleichzeitig in Neapel - laut Colajanni - 812 Angeklagte
zu 700 Jahren verurteilt wurden.
Ob dieser deutsch-italienische Vergleich ein treffendes Abbild der gesamtge
sellschaftlichen justizförmigen Repression liefert, bleibt insofern fraglich, als über
den repressiven Einsatz der norm alen Strafjustiz kaum Informationen vorliegen.
Diese Einschränkung gilt für Italien wie Deutschland jedoch gleichermaßen. Der
Rückgriff auf die Ausnahmegesetze w ar jedenfalls in beiden Staaten nur die Spitze
eines Eisbergs von rechtsförmiger Repression gegen politische Opposition, die
der moderne Verfassungsstaat mit schmaler politischer Spitze und hohem Kon-
trollbediirfnis lawinenartig losgetreten hatte45.
Eine besonders massive Waffe des Staates im Deutschen Reich w ar die Verhän
gung des sogenannten „kleinen Belagerungszustands“ . H inter diesem § 28 des So
zialistengesetzes verbarg sich vor allem eine Einschränkung der Versammlungs
und der Pressefreiheit, verbunden mit einer Kontrolle des Waffenbesitzes und der
Einschränkung der Freizügigkeit. Personen, von denen eine Gefährdung der öf
fentlichen Sicherheit und O rdnung zu befurchten war, konnte der Aufenthalt in
den betreffenden Ortschaften und Bezirken verboten werden. Allerdings setzte
dies voraus, daß die Landeszentralbehörden mit Genehmigung des Bundesrats
Ortschaften und Bezirke als durch sozialistische U msturzbestrebungen für ge
fährdet erklärt hatten. Die A usweisungsm öglichkeit mittels dieses Paragraphen
war im übrigen weit umfassender als die des § 22, der vorsah, daß strafrechtlich
Verurteilte als Ne^ewmaßnahme ausgewiesen werden konnten. Der kleine Belage
rungszustand des Sozialistengesetzes w urde vor allem über einige große Städte
verhängt: Berlin, H am burg, Leipzig, Frankfurt und Stettin. Da dem Reichstag
darüber Rechenschaft abzulegen war, bot dies eine öffentliche Gelegenheit zur
Kritik an den Regierungsmaßnahm en46.
Wiederum erscheint das parallele italienische Instrument des „domicilio
coatto“, das nicht einer Ausweisung, sondern einer zielgerichteten Deportation
entsprach, als w eit schärfer, und zw ar sowohl in seinem potentiellen A n w en
dungsrahmen als auch in seiner Praxis47. In zehn Jahren w urden insgesamt knapp
900 Ausweisungen nach § 2 8 Sozialistengesetz verfugt. 1888 wurde als weiteres
Repressionsinstrument die Möglichkeit der A berkennung der Staatsangehörigkeit
für sozialistische Agitatoren, die nach § 22 verurteilt worden waren oder die an
sozialistischen Kongressen im Ausland teilgenommen hatten, diskutiert. Auch
wenn diese „Expatriierungsvorlage“ am Widerstand der Nationalliberalen schei
terte48, w ar damit eines der Repressionsinstrumente des „Dritten Reichs“ vorge
dacht worden.
Der Unterschied zum italienischen Belagerungszustand w ar mithin beträcht
lich: Dort lieferten die militärischen Schnellgerichte eine juristische Waffe größe
rer Schärfe, größerer Schnelligkeit und geringerer Publizität. Genau dieses
schwere juristische Geschütz w urde den deutschen Einzelstaaten 1870 genom
men. Zwar konnte die preußische Regierung unter Rückgriff auf das Belagerungs-
eines „com ando im p o ssib ile “ v e rsu ch t er, d ie lib eralen R egim e vo r dem V o rw u rf eines sc h a r
fen z e n tra listisch en A u to rita rism u s in S ch u tz zu n eh m en un d au f d ie Idee eines lib eralen
P ro jek ts zu verw eisen . E ine Ü b e rp rü fu n g d ie ser T h ese, d .h . ein e A n a ly s e von T iefe und
Sch ärfe d er in n eren R ep ressio n , b leib t aus.
46 D azu H uber, D eu tsch e V erfassu n gsgesch ich te IV 1185 f.
47 D as P o liz e i-G e se tz vo n 1889 (testo u n ico di p .s.) h atte das d o m ic ilio co atto als „n o rm ale s“
R ep ressio n sin stru m e n t vo rgeseh en , d agegen fü h rte C risp i das „ d o m icilio c o a tto “ zu sätzlich
m it den A u sn ah m e n g esetze n vom S o m m er 1894 ein, d ie im D ezem b er 1895 au ß e r K raft tra
ten , um d an n von d er R eg ieru n g di R u d im 1898 fü r ein w eitere s Ja h r w ie d ere in g efü h rt zu
w erd en . C risp is „ d o m icilio c o a tto “ fü h rte zu 387 E in w eisu n gen , das re g u lä re P o lizeig esetz
von 1889 h in g egen zu 4500 „ Z w a n g sz u w e isu n g e n “ (so Petrini, P rev en zio n e in u tile 133).
4S A n gab en nach H uber, D eu tsch e V erfassu n gsgesch ich te IV 1185 f.
Staatliche Rep ressio n als politisches Instrum ent 147
zustandsgesctz von 185149 eine Reihe von Grundrechten örtlich und zeitlich be
grenzt aufheben, sofern eine dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit be
stand (und wie dies in Elsaß-Lothringen auch praktiziert w urde50). Doch die Ent
ziehung des gesetzlichen Richters durch Einsetzung von (z.B. militärischen) A u s
nahmegerichten, also die A ußerkraftsetzung von Art. 7 der Reichsverfassung,
konnte nur über die Ausrufung des Reichsbelagerungszustands erfolgen51, zu der
es in der Ara Bismarck jedoch nicht kam.
Erst am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde der Reichsbelagerungszustand
(= Kriegszustand) nach Art. 68 Reichsverfassung ausgesprochen, wobei der Kaiser
dies für das Reichsgebiet ohne Bayern tat. Für sein Territorium sprach der bayeri
sche König auf Ersuchen des Kaisers am selben Tag eine analoge Erklärung aus52.
Diese institutionelle Rücksichtnahme auf föderale Strukturen dürfte wesentlich
zu einem unblutigeren Zusammenwachsen des neuen Kaiserreichs beigetragen ha
ben. Versucht man, an dieser Stelle ein Resümee zu ziehen, so w ird deutlich, daß
zur H omogenisierung des Nationalstaats und zur U nterdrückung von politischen
Unruheherden nicht nur der Polizei- und M ilitärapparat bemüht wurde, sondern
in erster Linie die Justiz zum Einsatz kam. U m die widerspenstige Bevölkerung
(in Süditalien) gefügig zu machen und um Opposition (Sozialisten, Anarchisten)
mit Hilfe der Justiz auszuschalten, mußten zuerst Widerstandshandlungen krim i
nalisiert und dem gewöhnlichen Strafrecht unterworfen werden.
Der piemontesische Staat hatte seine französische Lektion hervorragend ge
lernt. N och knapp 60 Jahre vorher waren nämlich die Piemontesen die „brigands“
gewesen, die sich von einem fremden Joch befreien wollten und von der französi
schen Republik als Verbrecher und Räuber kriminalisiert und verfolgt wurden.
Die französische Republik hatte auch gezeigt, mit welchen Mitteln Zugehörigkeit
eingefordert und politische U nterwerfung durchgesetzt werden konnte. Die A uf
stellung der Carabinieri w ar ein Beweis für die Lernfähigkeit der piemontesischen
Führung. Dieses militarisierte Polizeikorps, das nur für Aufgaben der Ruhe und
O rdnung im Innern zuständig war, keine lokalen Loyalitäten und Verbrüderun
gen aufwies und nicht aus Rekruten bestand, denen die Nähe z ur eigenen Familie
vielleicht gewisse Rücksichten auferlegt hätte, war eine effiziente Invasionsstreit
macht, die vielleicht nur den einen Nachteil hatte, zu leicht als solche erkennbar
zu sein und die Sprache der Bevölkerung in den neu eingegliederten Gebieten
nicht zu verstehen. A ber auch in diesem Punkt hatte man von den Franzosen ler
nen können. Neben Einheimischen als Dolmetschern w ar die Nationalisierung
der Führungsschichten das beste Instrument, um die Massen unter Kontrolle zu
bringen. Die Italianisierung der Notabein mußte daher das zentrale Anliegen des
neuen Gesamtstaates sein. Die Nationalisierung der Führungsschicht mußte der
Nationalisierung der Massen vorausgehen. Die lokale O brigkeit in Süditalien
durfte keine Separatidentität oder bourbonische Nostalgien mehr aufweisen -
ebensowenig wie die piemontesischen Notabein, die 60 Jahre vorher keine mon-
archisch-savoyischen Tendenzen ausdrücken durften, sondern die politische Kul
tur und Symbolsprache der freiheitsbringenden R epublik zu übernehmen hat
ten53.
Lag eine solche Bereitschaft zur Anpassung nicht vor, dann w ar bewaffne
tes Einschreiten die Folge: Die bourbonischen Soldaten, die ihrem König Fran
cesco II. im Jahr 1861 treu blieben, w urden in Kriegsgefangenenlager verbracht,
die im hohen Norden, in den piemontesischen Alpentälern angelegt wurden. In
Fenestrelle im Val Chisone befand sich die Festung fast auf 2000 Metern Höhe.
Nach langwieriger Beförderung trafen sie dort auf die ihren Souveränen treuge
bliebenen Soldaten des Kirchenstaats und der kleineren italienischen Staaten54.
Das Bismarcksche Einigungsmodell der H omogenisierung im gemeinsamen
Kampf gegen den äußeren Feind hat solche Probleme nicht aufkommen lassen -
sondern (z.B. mit der Entstehung der Weifenpartei oder der Bayerischen Patrio
tenpartei) auf die parlamentarische Ebene verlagert. Stattdessen w urde im D eut
schen Reich durch den militärischen Kampf nach außen ein egalitäres Moment
eingebracht, das in Italien w ohl erst während des Ersten Weltkriegs seine eini
gende W irkung entfalten konnte. Die entfesselte demokratisierende D yn am ik sei
nes Einigungsmodells hatte der Eiserne Kanzler - trotz aller staatsrechtlicher Be
tonung der Fürstenherrschaft - wohl unterschätzt. So verstärkte er diese Strö
mung noch durch die Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen M än
nerwahlrechts auf Reichsebene, um ein Instrument gegen die liberalen Notabeln
an der Hand zu haben und gegebenenfalls die Instrumentalisierung der Massen
betreiben zu können. Doch schon 1878 mußte sich der Zauberlehrling eingeste
hen, die gefährliche Substanz nicht richtig eingeschätzt zu haben. Die Büchse der
Pandora sollte mit Hilfe des Sozialistengesetzes wieder geschlossen werden, aller
dings mit nur mäßigem Erfolg, da die neugeschaffene politische Öffentlichkeit auf
Reichstagsebene - gerade wegen ihrer Negation der M itw irkun g der Parteien am
politischen Leben - nicht mehr eingeschränkt werden konnte. So war zw ar die so
zialistische Presse verboten worden, die Wahl sozialdemokratischer A bgeordne
ter aber war nicht zu verhindern.
Während Bismarck nach seinem Vorstoß mit der Reichsverfassung permanent
die innenpolitische Bremse betätigen mußte, um die A usw irkungen der egalitären
Komponente nach innen abzuschwächen und um Sozialisten und Katholiken von
der M acht fernzuhalten, war die italienische Einigung gegen den Katholizismus
und gegen den Süden vorgenommen worden. Ferner erforderte das unitarisch
zentralstaatliche Modell einen erhöhten Bedarf an Interessenverzicht und innerer
H omogenität. Der italienische Nationalstaat schloß eine doppelte - und damit die
M öglichkeit einer ambivalenten, spannungsreichen - Zugehörigkeit zu zwei
Staatswesen aus: Deutscher u n d bayerischer Untertan, das ließ sich auf italienisch
nur als eine Spaltung konzipieren in eine nationale staatsbürgerliche (oder in ihr
Gegenteil: eine anti-nationale, süditalienische oder katholische Identität) und eine
m unizipale bürgerliche Identität.
Entfernung von der Einheit verurteilt, 6000 Frontsoldaten sind wegen Desertion
verurteilt worden, davon 2000 wegen Uberlaufens zum Feind58. Es kam zu zwei
Gattungen von Todesurteilen: erstens die „standgerichtlichen“ Urteile an der
Front, die oft ohne Gerichtsentscheidung erfolgten und Dezim ierungen von g an
zen Einheiten gleichkamen. Von diesem Typ sind 150 Fälle bekanntgeworden.
Zweitens die gerichtlichen Todesurteile, die nach der offiziellen Statistik des
Kriegsministeriums 4028 ausmachten, davon 2967 als Kontumazialurteil. Von den
verbleibenden 1061 Todesurteilen wurden etwa drei Viertel (750) vollstreckt59.
Ü ber die 62000 Zivilisten, die von den Militärgerichten - vor allem wegen ihrer
Unterstützung für Deserteure - verurteilt wurden, gibt es bis heute fast keine In
formationen. Auch die Tätigkeit der insgesamt 117 Militärgerichte im Ersten
Weltkrieg w urde bis heute nicht systematisch analysiert60 - wenn man von den
statistischen U ntersuchungen absieht, die Guglielm o Tagliacarne 1921 und G ior
gio M ortara 1927 im Auftrag des Kriegsministeriums Vornahmen und die bis
heute die einzigen zuverlässigen Gesamtzahlen darstellen61. Für die faschistische
Geschichtsschreibung blieb der Erste Weltkrieg das große Heldenepos, für die an
tifaschistische Geschichtsschreibung nach 1945 der letzte „gesunde Krieg“. So
konnte es dazu kommen, daß erst Giovanna Procacci 1993 die Aufm erksam keit
auf die enorme Zahl von 100000 italienischen Kriegsgefangenen gelenkt hat, die in
österreichischen und deutschen Lagern Hungers gestorben und von der Nation
völlig vergessen worden waren62.
Im Deutschen Reich hingegen wurden während des Ersten Weltkriegs 141 To
desurteile von Zivilgerichten gefällt, davon 94 vollstreckt. Kriegsgerichte erkann
ten in insgesamt 150 Fällen auf Todesstrafe, davon in 32 Fällen wegen Mordes.
63 D eu tsch e Z ah len nach Eberhard Kolb , D ie M asch in erie des T errors. Zum F u n k tio n ie ren
des U n te rd rü c k u n g s- un d V erfo lg u n gsap p arates im N S -S y ste m , in: K. D. Bracher, M. Funke,
FL-A. Jacobsen (H rsg .), N atio n a lso z ia listisc h e D ik ta tu r 1933-1945. E ine B ilan z (B o n n 1983)
2 7 0 -2 8 4 , d e r e x p liz ite V ergleich zw isch en E rstem un d Z w eitem W eltk rieg h ier 281 (u n te r
V erw eis au f Wagner, V o lk sgerich tsh o f). Ein H in w e is au f d ie T o d esu rteile in ein igen e u ro p ä i
schen A rm een im E rsten W eltk rie g bei Rochat, C o n sen so 15.
64 Z ah len nach Alberto Banti, S to ria d ella b o rgh esia italian a. L’etä lib e ra le (R o m a 1996) 337,
u n ter R ü c k g riff au f Emilio Gentile, S to ria del P artito fascista 1 9 19-19 22 (R o m a, B ari 1989)
493 f. - Z u r G ew a lt in d er W eim arer R ep u b lik : D irk Schumann, D er au fgesch o b en e B ü rg e r
k rie g : s o z ia le r P ro test un d p o litisch e G ew a lt in D eu tsch lan d 1923, in: Z eitsch rift fü r G e
sch ich tsw issen sch aft 44 (1996) 5 2 6 -5 4 4 . D ers ., G ew alt als G ren zü b ersch re itu n g : Ü b e rle g u n
gen zu r S o zia lg e sc h ich te d er G ew alt im 19. un d 20. Ja h rh u n d e rt, in: A rch iv fü r S o z ia lg e
sch ich te 37 (1997) 3 6 6 -3 8 6 , so w ie ders., P o litisc h e G ew alt in d er W eim are r R ep u b lik : K am pf
um die S traß e un d F u rch t vo r dem B ü rg e rk rie g (E ssen 2001).
65 D as in d er R eih e „S to rie d ’ Ita lia “ im V erlag S an so n i ersch ien en e B u ch von Roberto M ar-
tucci, L’in v e n zio n e d e ll’ Italia u n ita 1855-1864 (M ila n o 1999) w a r u rsp rü n g lich u n te r dem T i
tel „L’ Italia illib e ra le “ a n g e k ü n d ig t w o rd en . In d e r je tz ig e n A u sg a b e fin d et sich d ie ser B egriff
n ich t m ehr, von den b eh an d elten T h em en her läß t sich d er Band jed o ch als a n ti-riso rg im e n ta l
b ezeich n en . A u s en tg eg en g esetzter P ersp ek tiv e: Alfonso Scirocco, In d ifesa del R iso rg im en to
(B o lo g n a 1998), d er es fü r falsch h ält, aus d er R etro sp ek tiv e, im W issen um den F asch ism u s,
dem R iso rg im en to den „ P ro z e ß “ zu m ach en : D ie p atrio tisch e Sp rach e, d ie D en k m äler usw .
z cu eten vom E n th u siasm u s d er Z eitgen o ssen u n d ko n n ten n ich t b lo ß e P ro p ag an d a gew esen
sein (eb d. 184).
w> Von 1926 bis 1943 w u rd e n vom S p e z ia lg e ric h t 4596 P ro zesse gegen ca. 5600 A n g e k la g te
gefü h rt. 47 T o d esu rte ile w u rd e n verh än gt. Von 978 P ro zessen nach 1941 b etrafen 131 S lo w e
nen un d K ro aten , gegen die 36 T o d esu rteile verh än gt (u n d 26 davon v o llstre c k t) w u rd e n :
Z ahlen b ei Claudio Schwarzenberg, D iritto e g iu s tiz ia n ellT ta lia fascista (M ila n o 1977) 88 f.
Z ur G esch ich te e in z e ln er H in g e ric h te te r s. Enzo M agrl, I fu cila ti di M u sso lin i (M ila n o 2000).
W eitaus ra d ik a le r w aren jed o ch die S p e z ia lg erich te in d en italien isch b esetzten G eb ieten.
152 L u t z K lin k h a m m e r
wurde im Faschismus der Kreis von Prävention und Repression geschlossen, in
dem die Repression schlicht zur Prävention erklärt und damit der reaktive C h a
rakter der Repression praktisch außer Kraft gesetzt wurde.
Diese Lektion in Sachen Repression mußte in Deutschland, wo man weder das
klassische Instrument des „domicilio coatto“ noch die Rechtsfigur der Verban
nung, des „bagno penale“ oder der Strafkolonie kannte, erst noch gelernt werden
- was mit der N S-M achtergreifung in ungeahnter Geschwindigkeit geschah. Vor
1933 hatten die Behörden des Reiches versucht, die politischen Gegner von dem
angeblichen Gefahrenort a>’egzubringen, ohne sie deswegen an einen bestimmten
Ort /?/»zubringen, also zu deportieren. A usw eisung72, Vertreibung oder A u sb ü r
gerung waren die Ziele gewesen, nicht die Schaffung von Straflagern. Dies änderte
sich mit der Einrichtung der nationalsozialistischen Konzentrationslager, die eine
extrem verschärfte Form der Zuweisung eines Zwangswohnsitzes darstellten.
Auch die Ghettoisierung und die Deportation in ungastliche Gegenden oder auf
unwirtliche Inseln gehörten in die M aßnahm engruppe des „domicilio coatto“. In
diesem Sinne stellte der faschistische „confino di po lizia“ eine Vorwegnahme der
nationalsozialistischen „Schutzhaft“ bzw. der Verbringung in Konzentrationsla
ger dar.
Allerdings radikalisierte sich das N S-R egim e weit schneller als der italienische
Faschismus, der eine dauerhaftere Verbindung mit den traditionellen Machteliten
und der katholischen Kirche eingegangen w a r73. 1934 gab es in Italien 839 „confi-
nati politici“, Ende 1937 waren es 2250, 1941 stieg die Zahl auf 3100, von denen
viele in Pisticci, Ventotene oder Tremiti interniert wurden. Zum Jahresende 1940
hatte das Innenministerium eine Personenkartei mit über 12000 Einträgen von ex-
au fzu n eh m en , erstm als 1893 in dem E n tw u rf fü r ein S ch w eiz er S trafgesetzb u ch au ftau ch te:
dazu aus re c h tsh isto risch er S ich t D a v id e Petrini, L a p rev e n zio n e in u tile. Ille g itim itä d elle
m isure p rae te r d elic tu m (N ap o li 1996) 147.
72 D ie M a sse n a u sw e isu n g e n von P o len m it ru ssisch er o d er ö sterreic h isc h e r S ta atsb ü rg e r
schaft aus den p reu ß isch en O stp ro v in z en 1885 (vgl. H uber, D eu tsch e V erfassu n gsgesch ich te
IV 486) w a r ein e p o liz e ilic h e M aß n ah m e, die sich gegen als u n erw ü n sc h t an geseh en e A u slä n
der ric h te te u n d in so fern m it dem C o n fin o fü r p o litisch e G egn er kau m zu v ergleich en ist.
73 D azu auch Dipper, Italien un d D eu tsch lan d 499. V iele T h em en k o m p le x e w erd e n jed o ch
erst seit k u rz e r Z eit w issen sch aftlich in ten siv er erfo rsch t, w ie z .B . das M assen p h än o m en der
D en u n ziatio n im fasch istisch en Italien . M . F ra n z in e lli hat jü n g st eine S tu d ie zu m D e n u n z i
an ten tum v o rg e leg t, d ie vo r allem au f P o liz eib e rich te u n d B riefe z u rü c k g re ift. D ab ei w erd en
die d en u n zie ren d en B riefe nach P ro ze n tzah len au f ih ren In h alt au sg e w ertet, o hn e daß der
Leser ein e G esam tzah l d er u n tersu c h te n B riefe m itg ete ilt b ekäm e (M im m o Franzinelli, D e-
lato ri. Spie e co n fid en t! an o n im i: l’arm a segreta del regim e fascista (M ila n o 2001) 10 f.) Im
V ergleich von O V R A m it G estapo u n d N K V D k o m m t F ra n z in e lli g a r zu dem E rg eb n is, daß
m an an g esich ts des u n tersch ie d lic h e n G rads an M ita rb e it in d e r B e v ö lk e ru n g (d ie N a z i-
D en u n zian ten h ätten ih re B riefe m eh rh e itlic h u n tersch rie b e n , d ie italien isch en seien w e itg e
hend an o n ym g eb lieb en ) auch b ed en ken m üsse, d aß Italie n sc h lie ß lich „vor dem F asch ism u s
60 Ja h re m ein em lib e rale n S ystem s verb rach t h ab e, w äh re n d d em N a tio n also z ia lism u s J a h r
zehnte von z e n tra lis tis c h -a u to ritä re r (!) T rad itio n vo rau sg e g an g e n seien un d d em S o w je t
ko m m u n ism u s ein e jah rh u n d e rte la n g e z a ristisch e H e rrsc h aft“ (eb d. 16).
154 L u tz K lin k h a m m e r
confinati erstellt, bis Juli 1943 kamen weitere 2000 hinzu. Die Kategorie der
archivmäßig nachweisbaren „confinati“ umfaßte 16786 Personen74.
In Preußen hingegen wurden - nach der Ermächtigung mittels der Reichstags
brand-Verordnung - bereits im M ärz und April 1933 mindestens 25000 Personen
in „Schutzhaft“ genommen. Das Preußische Innenministerium rechnete im Som
mer 1933 mit einer Dauerzahl von 10000 politischen Häftlingen. Die Polizei
konnte selbständig entscheiden, ob die Schutzhaft-Häftlinge in ein Konzentra
tionslager verbracht oder der Justiz überstellt werden sollten. 1939 betrug die Zahl
der Konzentrationslagerhäftlinge etwa 25000, Anfang 1942 waren es knapp
100000 Personen75. Reichstagsbrand-Verordnung, H eimtücke-Verordnung und
Hochverratsjustiz lieferten in NS-Deutschland ein umfangreiches Instrumenta
rium zur Ausschaltung politischer Gegner. Bereits 1933 wurden fast 10000 Perso
nen wegen politischer Vergehen rechtskräftig verurteilt76. Die zivilen Strafge
richte verhängten während des Dritten Reiches über 16000 Todesurteile.
Auch in der Ausgrenzung angeblicher „innerer Feinde“ und „rassisch“ defi
nierter Minderheiten zeigte sich das N S-R egim e sehr schnell weit radikaler als der
Faschismus. Das Reichsbürgergesetz, das Gesetz zum „Schutz des deutschen B lu
tes und der deutschen Ehre“ sowie das Rassenschandegesetz mit ihren späteren
zahllosen Aus- und Durchführungsbestimmungen schufen schon 1935/36 eine
rechtsförmige Grundlage für die A usgrenzung der jüdischen Deutschen, während
die faschistische Forderung nach „Reinheit der italienischen Rasse“ erst 1937/38
eine gesetzliche Ausgestaltung erfuhr.
Die totalitäre Entwicklungslinie des Regimes wies in Italien die gleichen C h a
rakteristika auf wie in Deutschland (Ausschaltung politischer Gegner, A usgren
zung stigmatisierter Mitbürger, Faschismus als politische Religion usw.), jedoch
nicht die gleiche Geschwindigkeit. Der eigentliche qualitative Sprung erfolgte in
Italien wie in Deutschland mit der Entfesselung des Krieges77. Auch das faschisti-
74 A n a ly se d er Z ah len bei Petrini, P re v e n zio n e in u tile 155; d ie erh alten en P e rso n alak ten alle r
„c o n fin ati“ sin d in v ier B än den v e rö ffe n tlich t w o rd en von Adriano D al Pont, Simonetta C a-
rolini (H rsg .), L’ Ita lia al co n fin o. L e o rd in an ze di a ssegn az io n e al co n fin o em esse d a lle C o m -
m issio n i p ro v in c iali d al n ovem bre 1926 al lu g lio 1943, 4 B de. (R o m a 1983). Ein g u te r Ü b e r
b lic k ü b er den F o rsch u n gsstan d zu d iesem T h em a b ietet Costantino D i Sante, L’in tern a-
m en to civ ile n e ll’ A sco lan o e il cam p o di co n cen tram en to di S erv ig lian o 19 40-19 44 (A sc o li
P icen o 1998).
75 Z u r S ch u tzh aft Kolb, M asch in erie des T errors 2 7 7 f. m it V erw eis au f d ie Z ah len an gab en
von M . B ro szat. D ie K atego rien der zu In haftierenden w u rd en allerd in gs b estän dig erw eitert.
76 K olb, M a sch in erie des T errors 279.
77 W äh re n d des K riegs kam es z u r ex trem en A u s w e itu n g d er (le g alen ) M ö g lic h k eite n zu r
V erh än gu n g von T o desstrafen . D ie A u s w e itu n g d e r D elik te, d ie m it T o desstrafe geah n d et
w u rd e n , fu n k tio n ie rte ü b er die h äu figen M o d ifik atio n e n an d e r sog. K rie g sso n d e rstraf
re ch tsv e ro rd n u n g , die im L aufe des K rieges m eh rfach n o v e llie rt w u rd e . § 5a K SSV O erlau b te
ab K riegsb egin n d ie A n w e n d u n g d er T o d esstrafe, w en n es d ie A u fre c h te rh a ltu n g der
M an n eszu ch t o d er die S ich erh eit d er T ru p p e erfo rd erten - S ch lü sselb egriffe e rz w u n g en er
G efo lgsch aft. E n tsp rech en d d er K SSV O fü r den m ilitä risc h e n B ereich w u rd e n auch fü r die
Z iv ilb e v ö lk e ru n g b eso n d ere K riegsstrafgesetze erlassen . D ie A u sw e itu n g to d e sw ü rd ig e r
S traftatb estän d e w a r b eträch tlich .
Staatliche R epressio n als politisches Instrum ent 155
7S E ine B ila n z d er F o rsch u n g zu einem w ic h tig en T eilb ereich ita lien isch er B e satz u n g sh e rr
sch aft b ei Bmnello M antelli, D ie Italie n e r au f dem B a lk a n 19 4 1 -1 9 4 3 , in : Dipper, K linkham
mer, N ützenadel (F Irsg.), E u ro p äisch e S o z ia lg e sc h ich te 5 7 -7 4 . Je tz t auch D avid e Rodogno,
II n uo vo o rd in e m ed iterran eo (T orino 2003).
79 Angelo D el Boca, G li ita lia n i in L ib ia d al fascism o a G h ed d afi (B ari, R om 1988) 183.
80 D azu Simonetta Carolini, „P erico lo si n elle c o n tin g e n ze b e llic h e “ . G li in tern ati dal 1940 al
1943 (R o m a 1987). E ine K arte d er L ag er un d ein e E in fü h ru n g in den K o ntext d er „ e th n i
schen S ä u b eru n g e n in der .P ro v in z' L u b ia n a “ b ei C arlo Spartaco Capogreco, R en ic ci. U n
eam po di co n cen tram en to in riva al T evere (C o se n z a 1998) A b b .! und 13 ff. J e tz t auch den., I
cam p i del D uce (T orino 20 04). Zu dem b erü ch tig tsten d ie ser L ag er s. Tone Ferenc, R ab -
A rb e - A rb issim a . C o n fin am e n ti - rastre llam e n ti - in tern am e n ti n ella p ro v in c ia di L u b ian a
1941-1943. D o cu m en ti (L ju b lja n a 2000).
81 D ie Z ah l von 10000 T oten n ennt Richard J. B. Boswortb, T h e Italian d ic tato rsh ip (N e w
Y ork 1998) 4, auf d er B asis der A n g ab en von Jo h n W alsto n . D ie d etaillierteste D a rste llu n g -
eine re in e Q u e lle n d o k u m e n ta tio n - zu italien isch en T ö tu n g sh a n d lu n g en im italien isch
an n ek tierte n S lo w en ie n w u rd e v o rgeleg t von Torte Ferenc, „Si am m azza tro p p o p o c o “.
C o n d an n ati a m o rte - o staggi - p assati p er le arm i n ella p ro v in c ia di L u b ian a 1941-1943.
D o cu m en ti (L ju b lja n a 1999).
82 Ein V ergleich d e r B e sa tz u n g sp o litik des N S -S taats in v ersch ied en en L än d ern in Lutz
Klinkhammer, G ru n d lin ie n n atio n a lso z ia listisc h e r B e sa tz u n g sp o litik in F ra n k re ic h , J u g o s la
w ien un d Italie n , in: Christof Dipper, R ainer H udem ann, Jens Petersen (H rsg .), Faschism us
und F asch ism en im V ergleich . W o lfgan g S ch ie d er zu m 60. G eb u rtstag (V iero w 1997) 183—
213.
83 M anfred Messerschmidt, Fritz Wüllner, D ie W e h rm ac h tju stiz im D ien ste des N a tio n a lso
zialism u s. Z e rstö ru n g e in e r L egen d e (B ad en -B ad en 1987), seh en die o ffizie lle W eh rm ach ts
sta tistik als lü ck en h aft an, da d arin w o h l n u r die v o llstrec k ten T o d esu rteile erfaß t w u rd e n ,
und gehen von ca. 5 0 0 0 0 T o d esu rteilen aus. A uch Franz W, Seidler, D as Ju s tiz w e s e n d er
W eh rm acht, in: FI. Poeppel u .a . (F Irsg.), D ie S o ld aten d er W eh rm ach t (M ü n ch en 1998) 361 —
404, u rte ilt, d aß d ie K rim in a lsta tistik d er W eh rm ach t u n v o llstän d ig ist un d sch lie ß t m ittels
H o ch rech n u n g auf ein e G esam tzah l von 15000 bis 3 0 0 0 0 (ein e en o rm e S p an n e !) T o d esu rtei-
156 L u t z K lin k h a m m e r
A rmee im Ersten Weltkrieg, denn es ist zu berücksichtigen, daß bis 1945 fast
20 M illionen U niformträger in den deutschen Streitkräften agierten, darunter last
zwei M illionen Ausländer. Ü ber die entsprechende italienische Militärgerichts
barkeit im Zweiten Weltkrieg fehlt es bislang an Studien84 - auch wegen der U n
zugänglichkeit des einschlägigen Archivfonds im Militärarchiv des Heeres.
Trotz der strukturellen Ähnlichkeit der Ausnahmejustiz war im faschistischen
Italien die Zahl der verhängten Todesstrafen bei weitem niedriger als in NS-
Deutschland. W ährend für die Zeit bis 1939 die beiden Regime faschistischen
Typs eine Reihe von systemischen Analogien aufwiesen, die von der internationa
len Geschichtswissenschaft ebenso betont werden w ie sie von weiten Teilen der
italienischen, insbesondere der konservativen und liberaldemokratischen, For
schung beiseite gewischt werden85, stößt für die Zeit des Zweiten Weltkriegs mit
der Realisierung des Mords an den europäischen Juden der Vergleich zwischen
Deutschland und Italien an seine Grenzen. Zu unterschiedlich waren Quantität
und Qualität der mörderischen Repression. Eine Ähnlichkeit läßt sich allenfalls in
einigen Bereichen der Besatzungspolitik und der „Partisanenbekämpfung“ erken
nen, sofern man die N S-P olitik im besetzten West- und Nordeuropa zum M a ß
stab nimmt. Daß Italien „glücklicherweise keine Konzentrationslager gekannt
habe“, w ie Italiens Präsident Cossiga bei seinem Staatsbesuch in Deutschland
1990 verlautbarte, ist Teil eines dauerhaften italienischen M ythos, der die eigene
Repressionspolitik nach innen und außen über dem antifaschistischen Kampf ge
gen NS-Deutschland „vergessen“ hat. Ein Großteil der italienischen Elite hat sich
len. In w eiteren 2 3 0 0 0 k rieg sg e ric h tlic h e n V erfah ren erfo lg te die V e ru rte ilu n g zu ein er
Z u ch th au sstrafe. E tw a 8 4 0 0 0 V erfah ren en deten m it G efän gn isstrafen von 1-15 Ja h re n . In
w eitere n 8 4 0 0 0 V erfah ren w u rd e n G efän gn isstrafen zw isc h e n 6—12 M o n aten v erh än gt, w ä h
rend 2 3 0 0 0 0 M an n G efän gn isstrafen u n ter 6 M o n aten erh ielten . In run d 177000 F ällen
w u rd e ein e A rreststrafe v erh än gt. D as T rib u n al b estan d nach K rie g sstrafv erfah re n so rd n u n g
aus einem M ilitä rju stiz b e a m te n , d er vo rh e r kein R ic h te r gew esen sein m u ß te, aus ein em O f
fiz ie r un d einem M ilitä r im R a n g des A n g e k lag te n . J u r is t u n d O ffiz ie r ko n n ten d ah e r p ra k
tisch das U rte il auch o hn e Z u stim m u n g des D ritte n festlegen . D as G ros d er T o desstrafen
w u rd e w eg en F ah n en flu ch t verh än gt. Von 13.500 V eru rte ilte n w egen F ah n e n flu ch t erh ie lten
6000 d ie T o d esstrafe (Seicller, Ju stiz w e se n 3 7 7 -3 8 0 , 382 f., 385, 364).
84 E ine A u sn ah m e s te llt Ferenc, Si am m azza, dar. Im Ja h r 2000 sin d im A rc h iv io C e n tra le
d ello S tato d u rc h d ie M ilitä rju stiz T au sen de von A k te n fa s z ik e ln d ep o n ie rt w o rd en , d ie P ro
zesse u n d E rm ittlu n ge n vo r den ita lien isch en M ilitä rg e ric h te n gegen d ie E in w o h n er der
italien isch o k k u p ie rte n Z onen in Ju g o s la w ie n un d G riech en lan d b etreffen u n d d ie d e m
n ächst zu r A u s w e rtu n g freigegeb en w erd en .
83 D ieses N ich t-W ah rn e h m e n -W o llen h än gt en g m it d er A u sg e sta ltu n g d er eigen en K riegs-
erin n e ru n g un d p o litisch in stru m e n ta lisie rte r S elb ststilisie ru n g en zu sam m en . V gl. zu d iesem
K o m p lex z .B . Filippo Focardi, „B ravo ita lia n o “ e „cattiv o ted esco “ : rifle ssio n i s u lla gen esi di
d u e im m agin i in cro cia te , in: S to ria e M e m o ria 5 (1996) 5 5 -8 3 . F ü r die an g elsäch sisch e F o r
sch u n g ist d er d e u tsc h -ita lie n isc h e D ik ta tu re n v erg leic h , gegen den sich R en zo D e F elice
(au ch in U n k e n n tn is d er d eu tsch en S p rach e) so v eh em en t g e w an d t hat, zu m S tan d ard th e m a
gew o rd e n : vgl. z .B . Paul Brooker, T h e F aces o f F rate rn alism : N a zi G erm an y, F ascist Ita ly
and Im p e rial Ja p an (O x fo rd 1991); A lexan d er]. D e G rand, F ascist Ita ly and N a z i G erm an y :
T h e ,F asc ist' S ty le of R u le (L o n d o n , N e w Y o rk 1995); Aristotle A. Kallis, F ascist Ideo lo gy.
T e rrito ry and E x p an sio n ism in Ita ly and G erm an y, 1922-1945 (L o n d o n , N ew Y o rk 2000).
Staatliche R ep ressio n als politisches Instrum ent 157
selbst nach 1945 die Absolution für die Katastrophen der eigenen N ationalge
schichte erteilt86. Wie massiv die politische Repression im Faschismus war, davon
legt nicht zuletzt die Abrechnung bei Kriegsende ein blutiges Zeugnis ab. Nach
Hans Wollers überlegter Analyse wurden circa 15 000 Menschen Opfer der wilden
Säuberungen bei Kriegsende87. Die Ausnahmejustiz der außerordentlichen
Schwurgerichte richtete sich nun gegen die ehemaligen Exponenten der Repres
sion selbst.
Die R epublik brach in beiden Staaten radikal mit der faschistischen Repression,
ließ jedoch weiterhin vereinzelte Rückgriffe auf Elemente der „liberalen“ Tradi
tion zu. M it dem Szenarium wechselten auch die politischen Akteure: Seit 1948
richtete sich der innergesellschaftliche D ruck in Deutschland wie Italien, die nun
beide unter christdemokratischer Vorherrschaft standen, gegen die kom m unisti
sche politische Kultur im eigenen Land. U nter geistiger Leitung des Vatikans
w urde ein „Kreuzzug der Heim kehr" (Pius XII.) in den Schoß katholischer Moral
und Gesellschaftskultur ausgerufen, der mit dem Kampf gegen eine als Bedrohung
empfundene kulturelle Am erikanisierung verbunden w urde88. In der Bundesre
publik w urde das kommunistische Milieu der unmittelbaren Nachkriegsjahre er
folgreich marginalisiert und mit dem Bannstrahl des Parteiverbots belegt89. W ä h
rend die Spiegel-Affäre 1962 einen Wendepunkt bedeutete, so wurde in der Ge
schichte der italienischen politischen Repression im Sommer 1960 eine markante
Zäsur erreicht: Die Manifestationen gegen Ministerpräsident Tambroni in Genua
waren ein Beispiel für den nunmehr erfolgreichen D ruck der Demonstranten ge
gen die Regierungspolitik90. Seitdem geht es nicht mehr um offene staatliche R e
pression, sondern um Verantwortung für politischen Terrorismus, um V erschwö
rung und Staatsstreichpläne, um U nterwanderung und kalkulierte „strategia della
tensione“ .
S6 W er an d ie ser K o n stru k tio n rü tte lt, w ird als N estb e sc h m u tze r b earg w ö h n t u n d kan n w e
gen V eru n g lim p fu n g d er In stitu tio n en („ v ilip e n d io “) vo r G erich t g estellt w erd e n . D er
C o d ic e R o cco b esteh t - tro tz z a h lreich er E rg än zu n g sg e se tze - als R u in e des m ateriellen
Strafrech ts w e ite rh in fort, da ein e u m fassen d e S trafrech tsrefo rm gesch eitert ist. D ie A b sch af
fu n g des „ v ilip e n d io " -D e lik ts w ird im m er m al w ie d e r ö ffen tlich d is k u tie rt - den n d ie L ega
N o rd hat ein In teresse d aran , u n ge straft die S ym b o le des N a tio n a lstaa ts in F rag e stellen zu
kö nn en .
87 Hans Wollet', D ie A b re ch n u n g m it dem F aschism us in Italien 1943 bis 1948 (M ü n ch en
1996).
ss D er Vf. b ere itet zu diesem T h em a ein e S tu d ie vor.
89 Z ur N a c h w irk u n g der fasch istisch en E in h eitsp artei au f d ie d eu tsch e P arteien rech tsleh rc
vgl.: Susanne B enöhr, D ie P arte ien staatsleh re von G erh ard L eib h o lz im S p iegel des fa sc h isti
schen V erfassu n gsrech ts, in: Q u e lle n un d F o rsch un gen aus italien isch en A rch iv en un d B i
b lio th ek en 81 (2001) 50 4 -5 2 8 .
90 G le ic h z e itig leiteten sie ein e (k u rz e ) Ph ase d er fried lich en P ro teste ein, um seit 1969 einem
um so m assiveren p o litisch en T erro rism u s P latz zu m achen. W aren zw isch en 1948 und 1962
noch 95 Ita lie n e r bei D em o n stratio n en au fgru n d des E insatzes von F eu erw affen d urch die
P o lizei gesto rb en , so gab es zw isch en 1963 u n d 1967 kein en ein zigen Toten bei M a n ife sta tio
nen.
m
Wolfgang Schieder
I.
Nie waren sich Deutschland und Italien in der neuzeitlichen Geschichte näher als
in der Zeit von 1933-1945. Die faschistischen Gemeinsamkeiten zwischen den
D iktaturregimen Mussolinis und Hitlers w urden gleichwohl in der historischen
Forschung lange Zeit erheblich verkannt. Das hatte verschiedene Gründe, die hier
nicht ausführlich erörtert werden müssen. Jedoch ist festzuhalten, daß es w eniger
wissenschaftsimmanente Ursachen als vielmehr politische Gründe waren, welche
lange Zeit geradezu zu einer Tabuisierung vergleichender Faschismusforschung
führten. Ursprünglich gehörte der Faschismusbegriff bekanntlich zum politischen
Begriffsarsenal der kommunistischen L in ken 1. Indem sie die als faschistisch1 an
gesehenen Regim e in Italien und Deutschland, aber auch anderswo (z.B. in U n
garn oder in Spanien) als repressive Diktaturvarianten bürgerlicher Klassenherr
schaft ansahen, setzten die kommunistischen Dogm atiker die liberaldemokrati
schen Gesellschaften des Westens permanent unter Faschismusverdacht. In der
Zeit der alliierten Kriegsallianz gegen die Achsenmächte wurde diese ideologische
Kampfansage von der sowjetischen Propaganda zwar vorübergehend zurückge
nommen, um dann jedoch in den Zeiten des .Kalten Krieges' erneut vorgetragen
zu werden.
Die westliche Forschung reagierte auf die kommunistischen Unterstellungen
begreiflicherweise von Anfang an ablehnend. Der Faschismus war für sie nicht der
Normalfall gefährdeter bürgerlicher Herrschaft, sondern allenfalls ein A usnahm e
fall. Die Diktaturregim e M ussolinis und vor allem Hitlers w urden in die N ähe der
Sowjetdiktatur Lenins und besonders Stalins gerückt. Anstelle .faschistischer“ Ge
meinsamkeiten zwischen Faschismus und Nationalsozialismus hob man die ,tota
litären“ Affinitäten von Nationalsozialismus und Sowjetkom munism us hervor,
welche diese Regim e von demokratischen Verfassungsstaaten unterschieden.
Auch wenn diese totalitaristische Herrschaftstheorie nicht politisch verbindlich
1 Vgl. W olfgan g S ch ied e r , F asch ism u s, in: S o w je tsy ste m und d em o k ratisch e G esellsch aft.
Eine vergle ic h e n d e E n z y k lo p ä d ie (F re ib u rg 1968) 4 3 8 f.
160 W o lfga n g Schie der
war, hatte sie doch ebenfalls in hohem Maße einen doktrinären Charakter. M etho
disch abweichendes Verhalten w urde in der Regel nicht wissenschaftlich disku
tiert, sondern politisch sanktioniert: Wer versuchte, sich auf eine vergleichende
Faschismusforschung einzulassen, geriet unter Kommunismusverdacht oder er
mußte sich vorwerfen lassen, den Nationalsozialismus zu ,unterschätzen1, was
immer damit gemeint sein mochte. Dem kommunistischen .Antifaschismus' stand
ein westlicher ,Antikom m unism us' gegenüber. Für eine eigenständige, außerhalb
des polarisierten politischen Kontextes stehende Komparatistik blieb da kein
Raum. Sich auf den so naheliegenden Vergleich von Faschismus und N ationalso
zialismus einzulassen, galt vielen Zeithistorikern in Italien und in Deutschland als
politisch bedenklich und deshalb als wissenschaftlich unzulässig.
Die Vermeidungsstrategien waren allerdings in Deutschland und in Italien nicht
identisch, man w ehrte den Vergleich von Faschismus und Nationalsozialismus in
den beiden Nachkriegsdemokratien vielmehr mit unterschiedlichen A rgumenten
ab. Von außen betrachtet schien es sich sogar um zwei ganz verschiedene Diskurse
zu handeln, was auch die eigentlich erstaunliche Tatsache erklärt, weshalb die ge
genseitige Wahrnehmung so gering war.
In der Bundesrepublik Deutschland setzte man bei der A bw ehr des k o m m un i
stischen Faschismusvorwurfs in besonderem M aße auf die D enkfigur des .Totali
tarismus'. A nknüpfend an die von Talmon, Arendt und Friedrich entwickelte
politikwissenschaftliche Herrschaftstheorie wurde die nationalsozialistische D ik
tatur Hitlers als wesensgleich mit der bolschewistischen D iktatur Stalins an
gesehen. Diese .totalitären Regim e' galt es daher wissenschaftlich zu vergleichen
und nicht die faschistische Diktatur Mussolinis mit der nationalsozialistischen
Hitlers. Allenfalls erklärte man sich bereit, eine „Differenzierung von Typen und
Versionen des Totalitarismus“ zuzulassen2, innerhalb derer dann auch, aber erst in
zweiter Linie, dem italienischen Faschismus bis zu einem gewissen Grade ein
totalitärer Charakter zugestanden wurde.
Diese H ierarchisierung real existierender .totalitärer Regim e' hatte in Deutsch
land, auch wenn das von manchen Forschern nicht so intendiert war, geschichts
politisch eine entlastende Funktion. Wenn Hitlers nationalsozialistische H err
schaft nicht als historisch singulär angesehen werden mußte, sondern mit einem
aus herrschaftstheoretischer Sicht ähnlich strukturierten Gewaltregime gleichge
stellt werden konnte, dann befreite dies das postnationalsoziahstische Deutsch
land in der kollektiven Erinnerung aus seiner marginalisierten Position. Der Ver
gleich mit dem offenkundig weniger totalitären faschistischen Regim e in Italien
konnte dagegen nicht zur Entlastung der Deutschen beitragen, weil daraus letzten
Endes nur der Nationalsozialismus mit seiner politischen Verbrechensbilanz als
das in jeder Hinsicht radikalere Regim e hervorgehen konnte. Auch wenn man den
totalitaristischen Ansatz dahingehend modifizierte, daß man den Nationalsozia
2 K arl D ietrich B racher, Z e itg e sc h ich tlic h e K ontroversen um F aschism us, T o talitarism u s,
D em o k ratie (M ü n ch en 1976) 35.
G eb u rt des Faschism us aus der Krise der M o d ern e 161
lismus seinem eigenen Wesen nach als „Hitlerism us“ bezeichnete3, konnte man zu
dem gleichen Ergebnis kommen, obwohl die Ä hnlichkeit der .charismatischen
Führerdiktaturen“ Hitlers und Mussolinis auf der Hand liegt. D er to ta litä re “ C h a
rakter des NS-Regimes wurde einfach auf die Person Hitlers zurückgeführt - so
wie die des Sowjetregimes auf die Stalins. Man brauchte nur Hitlers vorgebliches
.Program m “ zum „Entwurf einer Herrschaft“ zu stilisieren4, um eine strukturelle
Gleichsetzung mit dem stalinistisch geprägten Marxismus-Leninismus zu erm ög
lichen. Als erklärter Antiprogram m atiker fiel dagegen Mussolini auch aus dieser
Vergleichsperspektive heraus. Wenn es an einem .P rogram m “ fehlte, dann konnte
das faschistische Regim e in Italien nach dieser historischen Logik auch nicht
.totalitär“ gewesen sein. So definierte man sich an dem eigentlichen historischen
Problem, wie .totalitäre Herrschaft“ überhaupt entstehen konnte, letzten Endes
vorbei. Wichtig w ar allein, daß das N S-R egim e .totalitär“ war.
Ganz anders, so scheint es zunächst, der Erinnerungsdiskurs in Italien. Die To
talitarismustheorie spielte in der italienischen Faschismusforschung nach 1945 so
gut w ie überhaupt keine Rolle5. Das ist insofern erstaunlich, als diese, w ie Jens Pe
tersen nachgewiesen hat, eigentlich ihren U rsprung gerade in Italien hatte6. Schon
früh w urde Mussolini vorgeworfen, auf ähnliche Weise ein .regime totalitario“ an
zustreben wie die Bolschewisten. Der ehemalige liberale Ministerpräsident Nitti
erregte mit diesem Vorwurf schon 1925 internationale Aufmerksamkeit, als er
clem faschistischen Regim e „die Verleugnung derselben Grundsätze von Freiheit
und O rd n un g “ unterstellte, die für das bolschewistische in der Sowjetunion cha
rakteristisch sei7. Nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes wollte
in Italien jedoch so gut wie niemand mehr etwas von diesen frühen A nalysen w is
sen. Das lag ohne Zweifel zunächst einmal daran, daß die Historiker, die der ko m
munistischen Linken nahestanden, sich nicht selbst politisch delegitimieren w o ll
ten, indem sie die Sowjetunion historisch auf eine Stufe mit dem Faschismus und
dem Nationalsozialismus stellten. A n die Stelle des totalitären setzten sie das anti
faschistische Paradigma, wonach der Faschismus ein System bürgerlicher Klas
senherrschaft gewesen sei. U nd dieses sahen sie durch den Sieg der Resistenza
über den ,N azifascismo“ der RSI als überwunden an, weshalb es für sie keiner w e i
teren Beschäftigung mit dem faschistischen Regim e mehr bedurfte.
Aber auch die italienischen Historiker, die politisch eher in der Mitte oder
rechts einzuordnen waren, sahen keine Veranlassung, einen Diskurs über den to
talitären Charakter des faschistischen Regimes zu eröffnen. Auch wenn jeder Ver
3 Klaus H ildebrand, N a tio n also z ia lism u s o d er F litle rism u s?, in: M. Bosch (H rsg .), P ersö n
lich k e it un d S tru k tu r in d er G esch ich te (D ü sse ld o rf 1977) 5 5 -6 1 .
4 Eberhard Jäckel, H itle rs W eltan sch au u n g. E n tw u rf e in e r H e rrsc h aft (T ü b in g en 1969); im
fo lgen d en z itie rt: Jäckel, W eltan sch au u n g.
5 E ine d e r w en ig en A u sn ah m en : D. Fisichella, A n a lisi del to talitarism o (M essin a, F iren ze
1976).
6 Jens Petersen, D ie E n tsteh u n g des T o talitarism u sb e g riffs in Italien , in: Eckhard Jesse
(H rsg .), T o talitarism u s im 20. Ja h rh u n d ert. E ine B ilan z d er in tern atio n ale n F o rsch u n g (B on n
1996) 95 -1 1 7 .
7 Francesco Nitti, B o lsch ew ism u s, F ascism u s un d D em o k ratie (M ü n ch en 1926) 53,
162 W o lfga n g Schiedet"
gleich mit dem N S-R egim e die weitaus geringere Brutalität der faschistischen
D iktatur hervortreten läßt, bringt er jedoch auch vielerlei gemeinsame Strukturen
zutage, die den Faschismus und den Nationalsozialismus im U rsprung als ähnlich
erscheinen lassen. A uch die nichtkommunistische Geschichtsschreibung bemühte
sich daher in Italien darum, nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die Unterschiede
von Faschismus und Nationalsozialismus zu betonen. Das ganze Lebenswerk von
Renzo De Felice ist davon geprägt, den Faschismus außerhalb des „sengenden Ke
gels des H olocaust“, wie er einmal gesagt hat, zu halten8. Im letzten Band seiner
nicht ganz vollendeten Mussolini-Biographie w urde der faschistische D iktator ge
radezu als M ärtyrer dargestellt, der sich am Ende geopfert habe, um die Italiener
gegenüber der deutschen Besatzung zu schützen9. Sowohl die , linke“ wie die
,rechte' Geschichtsschreibung weigerte sich also in Italien lange Zeit, in irgendei
ner Weise Vergleiche von Faschismus und Nationalsozialismus zuzulassen. Das
enthob sie der N otw endigkeit selbstkritischer Reflexion. Im Ergebnis hatte das,
ähnlich w ie der Rekurs auf das Paradigma des Totalitarismus in Deutschland, für
die kollektive Erinnerung in Italien zweifellos ebenfalls eine entlastende F u n k
tion.
Seit der großen europäischen Wende von 1989 und dem Zusammenbruch des
Sowjetsystems hat sich das alles grundlegend geändert. N icht nur der Faschismus,
sondern auch der Kommunismus ist seitdem Geschichte. Damit erhält nicht mehr
nur der Antifaschismus, sondern auch der A ntikom m unism us eine andere Q u ali
tät: Er hat keine wirkliche Realität mehr. Daß das sogenannte „Schwarzbuch des
K om m unism us“ unter Intellektuellen eine gewisse Aufregung hervorrief, war
letzten Endes ein reines Nachhutsgefecht, eine reale politische Dimension eröff-
nete das Erscheinen dieser Publikation nicht m eh r10. Wer sich auf den Versuch
einer faschistischen Komparatistik einläßt, hat deshalb keine politisch motivierten
Unterstellungen mehr zu befürchten. M an kann geradezu von einer Historisie-
rung des Faschismusproblems sprechen. M it großer Selbstverständlichkeit wird
heute in Deutschland über die kulturellen, die wirtschaftlichen oder die sozialpo
litischen Gem einsamkeiten von Faschismus und Nationalsozialismus geforscht11.
Am faschistischen U rsprung der nationalsozialistischen Rituale wie überhaupt am
fundamentalen, keineswegs nur äußerlichen Vorbildcharakter des Italofaschismus
für den Nationalsozialismus kann daher heute kein Zweifel mehr bestehen12.
Auch in Italien gibt es heute eine Faschismusforschung, die bewußt den Vergleich
mit dem Nationalsozialismus sucht13. Bezeichnenderweise steht dabei das rassisti
sche Gewaltpotential des italienischen Faschismus in den italienischen Kolonien
und in den im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten auf dem Balkan im Mittel
p u n k t14. Auch die faschistische Beihilfe zum nationalsozialistischen Massenmord
in den Jahren 1943-1945 ist in Italien kein Tabuthema m eh r15. Ein Teil der italie
nischen Geschichtsforschung hat damit den Anschluß an internationale For
schungsdiskussionen gefunden, von denen man sich in Italien lange Zeit w eitge
hend ferngehalten hatte.
II.
Stärker als bisher sind heute die Voraussetzungen dafür gegeben, in den Vergleich
von italienischem und deutschem Faschismus modernisierungstheoretische Ü ber
legungen einzubringen. Bisher sind die beiden Regim e unter diesem A spekt er
staunlicherweise allenfalls getrennt untersucht worden. Ein diskussionswürdiger
Ansatz, die historische Verwandtschaft der faschistischen Regim e in Italien und
Deutschland zu erweisen, w urde damit bisher nicht genutzt.
In Italien sah die auf die Resistenza gegen den Faschismus in seiner national
sozialistisch dominierten Endphase konzentrierte historische Forschung keinen
Anlaß, dem in ihren Augen fremdbestimmten Faschismus irgendeinen gesell
schaftlichen Entwicklungsaspekt zuzubilligen. Die revisionistische historische
Schule um Renzo De Felice w ar andererseits davon überzeugt, daß Italien nach
dem Ersten Weltkrieg durch den Faschismus in seiner gesellschaftlichen Entwick
lung vorangebracht worden sei. Auch sie sah sich deshalb nicht genötigt, irgend
welche modernisierungstheoretischen Überlegungen anzustellen, schon gar nicht
das Italien M u sso lin is, in: Christian Jansen, Lutz Niethammer, Bernd Weishrocl (H rs g .), Von
d er A ufgab e d er F reih eit. P o litisch e V era n tw o rtu n g u n d b ü rg e rlic h e G esellsch aft im 19. u n d
20. Ja h rh u n d e rt. F estsch rift fü r H an s M o m m sen zum 5. N o v em b er 1995 (B erlin 1995) 2 6 7 -
283.
13 V gl. Enzo C ollotti (H rs g .), F ascism o , fascism i (F ire n z e 1989); G ustavo Corni, F ascism o e
fascism i (R o m a 1989).
14 Angelo D el Boca, I gas di M u sso lin i: II fascism o e la gu erra d ’E to p ia (R o m a 1996); Roberto
Gentilli, G u erra area s u ll’E to p ia, 1935-1939 (F ire n z e 1992); Brunello M antelli, D ie Italien er
auf dem B alk an 1 9 4 1-19 43, in: Christof Dipper, Lutz Klinkham m er, A lexander N ützenadel
(H rsg .), E u ro p äisch e S o zialg e sc h ich te. F estsch rift fü r W o lfgan g S ch ie d er (B erlin 2000)
57 -7 4 .
15 Nicola Caracciolo, G li eb rei e l’ Italia d u ran te la g u e rra 1940-45 (R o m a 1986); Adolfo Scal-
pelli (H rsg .) San Sabba. Istru tto ria e p ro cesso p er il L ag er d ella R isie ra (T rieste 1995); Cesare
Manganelli, Brunello M antelli, A n tifa sc isti, P a rtig ian i, E brei. I d ep o rtati a le ssan d rin i nei
cam pi di ste rm in io n az isti 19 43-19 45 (M ila n o 1991); Liliana Picciotto Fargion, II lib ro d ella
m em oria gli eb rei d ep o rtati daH’Ita lia (1 9 4 3 -1 9 4 5 ) (M ila n o 2 1991); Centro Furio Jesi (FIrsg.),
La m en zo gn a d ella ra zza . D o cu m en ti e im m agin i del ra z z ism o e d e ll’a n tise m itism o fascists
(B o lo g n a 1994); Enzo Collotti, D ie H is to rik e r un d d ie R assen gesetze in Italien , in: Dipper
u.a., F asch ism u s un d F asch ism en 5 9 -7 8 .
164 W o lfga n g Schie der
solche, die über den italienischen Faschismus hinausgingen. Es waren aber angel
sächsische Forscher, die den italienischen Faschismus modernisierungstheoretisch
in den Blick nahmen. Der Faschismus w urde von ihnen als das Ergebnis des kri
senhaften Übergangs vom Agrar- zum Industriestaat interpretiert16. Das schloß
einen Vergleich mit dem Nationalsozialismus aus. Andere Autoren verstanden
den italienischen Faschismus als eine besondere Form einer Entwicklungsdikta
tur, was w iederum keinen vergleichenden Bezug zum Nationalsozialismus z u
ließ 1?.
Anders als über den Faschismus wird über den Nationalsozialismus schon seit
langem intensiv unter modernisierungstheoretischen Gesichtspunkten diskutiert.
Den Anfang machte 1963 Rail Dahrendorf mit seinem Buch über „Gesellschaft
und Demokratie in Deutschland“. Dahrendorf vertrat bekanntlich die These, daß
der Nationalsozialismus einen Bruch mit der gesellschaftlichen Tradition in
Deutschland bew irkt und dem Land insofern einen „Stoß in die M odernität“ ver
setzt habe18. Nach seiner Auffassung sei der Nationalsozialismus entgegen seinen
vielfach rückwärtsgewandten Absichten in seiner realhistorischen W irkung ,m o
dern* gewesen, weil er durch die .Gleichschaltung' der deutschen Gesellschaft
zahlreiche traditionelle Institutionen zerstört und die gesellschaftliche Macht gan
zer sozialer Klassen (vor allem des ostelbischen Adels) ein für alle Mal beseitigt
habe. David Schoenbaum sprach sogar von einem „Triumph des Egalitären“, der
im .Dritten Reich' zu einer „klassenlosen W irklichkeit“ geführt habe19. Dieser In
terpretation ist entschieden widersprochen worden. Der vorgebliche M odernisie
rungseffekt des Nationalsozialismus w urde als „Pseudomodernisierung“20 oder
als „vorgetäuschte M odernisierung“21 bezeichnet. H en ry A. Turner wies auf die
rückwärtsgewandte Programmatik des Nationalsozialismus hin und bezeichnete
16 V gl. Gino Germ ani, A u to rita rism o , fascism o e classi so c iali (B o lo g n a 1975); A. F. K. O r
ganski, F ascism and M o d e rn iz atio n , in: Stuart J. W oolf (H rsg .), T h e n atu re o f fascism (L o n
do n 1968); Ju a n L. Linz, Sam e n o te to w a rd a co m p arativ e s tu d y of fascism in so c io lo g ical
h isto ric al p ersp ectiv e, in: Walter L aqueur (H rsg .), F ascim : A R ead e r’s G uide. A n a ly se s, In
terp retatio n s, B ib lio g ra p h y (B erk eley , Los A n geles 1976) 3 -1 2 1 ; A lan Cassels, Jan u s: T he
tw o faces of fasc ism , in : T h e C a n a d ia n H isto ric a l A sso cia tio n , H isto ric a l P ap ers (Ottawa
1969) 165-184.
17 Jam es A. Gregor, Italian fascism and d ev elo p m en tal d ic tato rsh ip (P rin ceto n 1979); Paul
Corner, F ascist a g ra ria n p o lic y and the Italian ec o n o m y in the in te r-w a r-y e a rs, in: John A.
D avis (H rsg .), G ram sci and Ita ly s p assiv e re v o lu tio n (L o n d o n 1979) 2 3 9 -2 7 4 ;John S. Cohen,
R ap p o rti a g ric o ltu ra - in d u stria e sv ilu p p o a g ric o lo , in: Pierluigi Ciocca, G ianni Toniolo
(H rsg .), L’eco n o m ia ita lian a nel p erio d o fascista (B o lo g n a 1976) 3 7 9 -4 0 7 ; Bruno Wanrooij,
M o b ilitaz io n e , m o d e rn iz z a z io n e , tra d iz io n e, in: G iovanni Sabbatucci, Vittorio Vidotto
(H rsg .), S to ria d ’ lta lia . 4. G u erre e F ascism o 1914-1943 (R o m 1998) 37 9 -4 4 0 .
18 R alf D ahrendorf, G esellsch aft un d D em o k ra tie in D eu tsch lan d (M ü n ch en 1968).
19 D a v id Schoenbaum, D ie b rau n e R ev o lu tio n . E ine S o zia lg e sc h ich te des D ritten R eich es
(K ö ln , B erlin 1968) 345.
20 Florst M atzerath, Heinrich Volkmann, M o d e rn isieru n g sth eo rie un d N a tio n a lso z ia lism u s,
in: Jürgen Kocka (L Irsg.), T h eo rien in d er P raxis des H isto rik e rs (G ö ttin gen 1977) 99.
21 Hans Mommsen, N a tio n also z ia lism u s als v o rgetäu sch te M o d e rn isie ru n g , in: W alter H.
Pehle (H rsg .), D er h isto risch e O rt d es N atio n a lso z ialism u s. A n n ä h e ru n g en (F ra n k fu rt i 990)
3 1 -4 6 .
G e b u rt des F aschism us aus der Krise der M o d e rn e 165
diesen als einen „A usdruck utopischen A nti-M odernism us“22. Um ihre fort
schrittsfeindlichen Ziele verfolgen zu können, hätten die Nationalsozialisten
zwangsläufig eine industrielle Kriegsmaschinerie aufbauen müssen, jedoch hätten
sie alles andere als eine Modernisierung der deutschen Gesellschaft beabsichtigt.
M ehr oder weniger auf dasselbe läuft auch die These von Jeffrey H erf hinaus, der
Nationalsozialismus habe einen „reactionary m odernism “ vertreten23. H erf hebt
zwar stärker auf die innere Widersprüchlichkeit des nationalsozialistischen A n ti
modernismus ab, aber auch er insistiert darauf, daß der Nationalsozialismus den
Modernisierungsprozeß in Deutschland angehalten habe.
Auch dies war freilich noch nicht das letzte Wort. Von zwei entgegengesetzten,
aber im Ergebnis konvergierenden Positionen aus ist erneut der Versuch gemacht
worden, dem Nationalsozialismus einen modernisierenden Effekt zuzuschreiben.
A uf der einen Seite interpretieren Götz A ly und Susanne Heim „A uschw itz“ als
einen „spezifisch deutschen Beitrag zur Entwicklung der europäischen M o
derne“24. Sie unterstellen, daß es so etwas wie eine „Ökonomie der Endlösung“
gegeben habe, die ihren U rsprung letztendlich im ökonomischen System des ganz
gewöhnlichen Kapitalismus hatte25. Die nationalsozialistische ,Endlösung‘ der
sogenannten Judenfrage wird damit monokausal auf die Planmäßigkeit ökonom i
scher Rationalität reduziert26. Stellten A ly und sein Kreis das „für latent erachtete
D ekonstruktionspotential“ des Nationalsozialismus ins Zentrum ihrer Vorstel
lung von Modernisierung27, so sprachen die H istoriker um R ainer Zitelmann von
einer „tatsächlich durch den Nationalsozialismus vollzogenen revolutionären
M odernisierung“28. Zitelmann glaubt dies aus den verstreuten Äußerungen H it
lers ableiten zu können, die sich in seiner Sicht zu einem kohärenten Modernisie
rungsprogramm zusammenfügen lassen29. Hitler wird auf diese Weise geradezu
zum Protagonisten der gesellschaftlichen Modernisierung Deutschlands erhoben.
Es besteht kein Zweifel, daß beide Interpretationen, so konträr sie in ihren Wer
tungen sein mögen, methodisch konvergieren. In beiden Fällen wird erstens un
reflektiert intentionalistisch argumentiert. Ob nun H itler persönlich oder die so
30 Götz Aly, Susanne H eim , V o rd en ker d er V ern ich tu n g. A u s c h w itz u n d d ie d eu tsch en Pläne
fü r ein e neue eu ro p äisc h e O rd n u n g (H a m b u rg 1991).
31 Frei, N a tio n a lso z ia lism u s 375.
32 V gl. C hristof Dipper, M o d ern isie ru n g des N a tio n a lso z ialism u s, in: N P L 36 (1991) 4 5 0 -
4 5 6 ."
33 R ainer ZJtelrnann, D ie to ta litä re S eite der M o d ern e, in : Prinz, Z itelm ann, N a tio n a lso z ia
lism u s 1-20,
G e b u rt des Faschism us aus der K rise der M o d e r n e 167
formen der M oderne1 hingewiesen hat34, wissen wir, daß diese ein „Doppelge
sicht“ hatte35. Anstatt immer nur die Fortschrittsfrage zu stellen, ist es daher viel
sinnvoller, den Nationalsozialismus als ein Krisenprodukt der M oderne zu verste
hen.
Drittens schließlich liegt auf der Hand, daß Modernisierungsprozesse nur in
historischer Relation zu solchen in anderen Gesellschaften untersucht werden
können. Die sozialwissenschaftliche Theorie ist hier durchweg normativ verfah
ren. Die angelsächsischen Demokratien galten erstens als das Maß aller Dinge.
Zweitens behauptete man, daß sie ein global gültiges Paradigma lieferten, an dem
sich alle anderen, vor allem auch die noch nicht entwickelten Gesellschaften, ori
entieren sollten. Beides ist längst fragwürdig geworden, das heißt aber nicht, daß
damit die ganze Modernisierungstheorie falsifiziert wäre. M an muß nur ihren glo
balen Anspruch aufgeben und ihren historischen Geltungsanspruch auf Europa
beschränken. U nd man darf selbstverständlich nicht normativ verfahren, sondern
man sollte das M odernisierungsparadigma nur als heuristisches Prinzip verwen
den.
III.
38 V gl. d azu a u sfü h rlic h e r W olfgan g Schieder, D as D eu tsch lan d H itle rs u n d das Italien M u s
so lin is. Z um P ro b lem fasc h istisch er R eg im e b ild u n g , in: G e rh a r d Schulz (H rsg .), D ie G roße
K rise der d re iß ig e r Ja h re . Vom N ie d e rg a n g d er W eltw irtsc h af t zu m Z w e iten W eltk rie g (G ö t
tin gen 1985) 4 4 -7 1 .
G eb u rt des F a sc hism us aus der Krise der M o d e r n e 169
blockierte sie bis 1912 durch ein restriktives Wahlrecht den Zugang der ländlichen
und städtischen Unterschichten zum Parlament. In Deutschland führte Bismarck
z w ar schon 1867 das allgemeine Wahlrecht ein, bis zum Ersten Weltkrieg wurde
die organisierte A rbeiterbewegung jedoch von der politischen M acht ferngehal
ten, obwohl die SPD 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag stellte. In Italien
blieben auch die kirchengebundenen Katholiken dem laizistischen Staat fern,
während sie sich in Deutschland mit Hilfe der Zentrumspartei seit der Jah rh un
dertwende immerhin aus der Isolierung, in die sie der preußisch-protestantische
Staat gedrängt hatte, herauskämpfen konnten.
Es liegt auf der Hand, daß sowohl Italien wie Deutschland aufgrund der ver
gleichsweise späten Nationalstaatsgründung, zweitens, auch erst spät zu einer
modernen Verfassungsgebung kommen konnten. Die Verfassungsschöpfung geht
in beiden Ländern auf die Revolution von 1848/49 zurück. Die 1848 für das Kö
nigreich Piemont-Sardinien als Statuto Albertino geschaffene Verfassung wurde
1861 sogar mehr oder weniger unverändert zur Verfassung des neuen Königreichs
Italien erhoben. In Deutschland trat die Reichsverfassung von 1849 zw ar nie in
Kraft, sie w urde jedoch in wesentlichen Elementen in die Verfassung des N o rd
deutschen Bundes von 1867 und schließlich des Deutschen Reiches von 1871
übernommen. Das ist nicht nur eine formale Parallele, der Rückgriff auf das
liberale Verfassungsprogramm von 1848/49 zeigt vielmehr, daß man in beiden Fäl
len den nationalrevolutionären Staatsbildungsprozeß historisch zu legitimieren
trachtete. Auch insofern hatte die Verfassungsgebung in beiden Ländern eine ähn
liche Funktion, als sie den politischen Status quo zementieren sollte. Ein Verfas
sungswandel war eigentlich nicht vorgesehen. O bw ohl ganz unterschiedlich an
gelegt, enthielt die nationalstaatliche Verfassung deshalb in beiden Fällen einen
fundamentalen Widerspruch: Fehlte es im konstitutionell-parlamentarischen R e
gierungssystem Italiens an einer demokratischen Legitimation, so hatte das allge
meine Wahlrecht im monarchisch-autoritären System des Deutschen Kaiserrei
ches einen bloß plebiszitären Effekt, da es keine parlamentarische Verantwortlich
keit der Regierung gab. Die sich daraus jeweils ergebenden Spannungen zwischen
Verfassungsnorm und gesellschaftlicher Realität setzten die jungen N ationalstaa
ten unter einen konstitutionellen Dauerkonflikt. Weder kam es jedoch bis zum
Ersten Weltkrieg in Deutschland zu einer Parlamentarisierung des R egierungssy
stems noch in Italien zu einer vollständigen D emokratisierung des Wahlsystems.
Der latente Verfassungskonflikt in den beiden unfertigen Nationalstaaten
wurde nun auch noch dadurch verschärft, daß in beiden Ländern - in Italien aller
dings nur im Norden - der Ü bergang vom Agrar- zum Industriestaat vollzogen
wurde. Wenn es zu den unvermeidlichen wirtschaftlichen Wachstumskrisen kam,
wirkten sich diese daher dramatisch aus. Geht man von der relativen Gleich
zeitigkeit von N ationsbildung, latentem Verfassungskonflikt und ökonomischer
Wachstumskrise aus, kann man erklären, weshalb sich Italien und Deutschland bis
1914 in einer permanenten Strukturkrise befanden, w ie es sie in anderen euro
päischen Ländern nicht gegeben hat. Klassenkampf im wirtschaftlichen Bereich
vermischte sich mit politischen Partizipationsansprüchen der Arbeiter zu einem
170 W o lfga n g Schie der
systembedrohenden Protest. U nd zur gleichen Zeit spitzte sich das Verhältnis von
säkularem Staat und katholischer Bewegung dramatisch zu. Die staatstragenden
Kräfte - in Deutschland vor allem der Adel, in Italien im starken Maße auch das
Bürgertum - reagierten darauf auf sehr ähnliche Weise: Phasen der vorsichtigen
Öffnung wechselten mit solchen der schieren Repression ab. Man kann geradezu
von einem Pendelschlag repressiver und kooperativer Politik sprechen.
Nach der staatlichen Einigung herrschte in beiden Ländern zunächst eine Auf-
bruchsstimmung, welche verdeckte, wie unfertig die beiden Nationalstaaten w a
ren. Die ersten gesellschaftlichen Konflikte führten jedoch schon jeweils zu einer
politischen Zuspitzung, die eine Phase kom prom ißloser Repressionspolitik einlei
teten. In Deutschland war diese durch den Kulturkampf und das Sozialistengesetz
gekennzeichnet. In Italien reichte sie von Crispis antisozialistischer Politik zu A n
fang der 90er Jahre bis zu den Militärregierungen um 1900, dem Jahr, in dem der
italienische König Um berto I. durch einen anarchistischen Attentäter ermordet
wurde. In beiden Fällen ging es darum, den inneren Nationalisierungsprozeß auf
zuhalten und den Unterschichten die politische Partizipation gewaltsam vorzu
enthalten.
Diese Politik ist in Deutschland und Italien gleichermaßen gescheitert. In bei
den Ländern w urd e daraufhin übereinstimmend der Versuch gemacht, die sich
überlagernden Modernisierungskrisen durch eine Politik begrenzter Reformen zu
lösen. Das w ar der ursprüngliche Ansatz sowohl des von Kaiser Wilhelm II. ein
geleiteten Neuen Kurses seit 1890, dessen Exekutor der Reichskanzler Caprivi
war, als auch des sogenannten Systems Giolitti, das dieser seit seiner ersten M in i
sterpräsidentschaft im Jahre 1901 aufbaute. W ährend Bismarck bis zu seinem
Sturz unverändert die großagrarischen Besitzschichten für die zuverlässigsten
Stützen des politischen Systems im Kaiserreich gehalten hatte, zweifelte Caprivi
daran, daß es sinnvoll sei, den Staat einseitig den Interessen der Agrararistokratie
auszuliefern. Er versuchte deshalb, durch ein System von Handelsverträgen den
Wirtschaftsinteressen des Bürgertums entgegenzukommen. Die Arbeiter ver
suchte er durch Arbeiterschutzgesetze zu erreichen, die ihnen Bismarck verwei
gert hatte. Das Zentrum machte er erstmals de facto zur Regierungspartei. U nd in
Preußen machte er den freilich vergeblichen Versuch, das restriktive Dreiklassen
wahlrecht zu reformieren.
Auch Giolitti dachte schon 1899 in überraschender Übereinstim mung mit C a
privi darüber nach, ob die italienische Monarchie sich weiterhin nur auf die Inter
essen „kleiner privilegierter Klassen“ und nicht vielmehr auf die „Zuneigung der
ungeheuren M ehrheit des Landes“ stützen dürfte39. Auch er erkannte die N o t
wendigkeit einer, wenn auch begrenzten, Einbeziehung von Katholiken und So
zialisten in den liberalen Staat. Deshalb betrieb er eine Wahlreform, die den Anteil
der wahlberechtigten M änner an dem der Gesamtbevölkerung von zuletzt 9,4%
auf 23,4% erhöhte.
39 G io v a n n i Giolitti, D iseo rsi ex trap a rlam e n ta ri. A cu ra d i N in o V aleri (T orino 1952) 220.
G e b u r t des Faschism us aus der Krise der M o d ern e 171
scher Reformen miteinander verband. Die soziale Vollendung des Risorgim ento
w urde damit in Italien ebenso verhindert wie in Deutschland die demokratische
Vollendung des .autoritären Nationalstaats1' (W. j . Mommsen). Selbstverständlich
war es, das gilt vor allem für Italien, nicht unbedingt zwangsläufig, daß dieser anti
modernistische Imperialismus in einen großen Krieg führen mußte. Jedoch be
w irkte die industriewirtschaftliche und gesellschaftspolitische D ynam ik, welche
der Erste Weltkrieg in beiden Ländern auslöste, daß die latente M odernisierungs
krise nach Kriegsende erneut aufbrach.
IV.
Zum ersten w aren sowohl Deutschland w ie Italien nach 1919 weder nach außen
hin saturiert noch im Innern als Nationalstaaten konsolidiert. Deutschland wurde
aufgrund des Versailler Vertrages in seinem territorialen Bestand erheblich be
schädigt. Infolge des Anschlußverbotes gegenüber Österreich konnten diese Ge
bietsverluste auch nicht nachträglich kompensiert werden. Italien vergrößerte
z w ar 1919 sein Staatsgebiet, gleichwohl blieb das Gefühl der .vittoria mutilata'
vorherrschend, weil die durch den Londoner Vertrag von 1915 geweckten G roß
machthoffnungen bei weitem nicht erfüllt wurden. Die notwendige Massenmobi
lisierung von Soldaten hatte andererseits M illionen von M ännern aus den länd
lichen und proletarischen Unterschichten das Gefühl vermittelt, erstmals gleich
berechtigt in die N ation aufgenommen worden zu sein. Ihre Integration in den
nationalen Staat ließ sich daher nach Kriegsende nicht mehr so leicht verhindern
wie vor 1914. U m so bedrohlicher w urde der A nspruch auf nationale Gleichbe
rechtigung von denen empfunden, welche die Integration der Arbeiter, aber auch
der Katholiken in die Nation vor dem Krieg erfolgreich abgewehrt hatten.
Blickt man zweitens auf die Verfassungsentwicklung, so ist festzustellen, daß
sich das Verfassungssystem Deutschlands und Italiens 1919 dem der westeuro
päischen Länder annäherte. In Deutschland w urde das seit 1871 bestehende allge
meine und gleiche Wahlrecht auf die Frauen ausgedehnt und mit der Weimarer
Verfassung durch ein parlamentarisches Regierungssystem ergänzt. In Italien
w urde umgekehrt das bestehende parlamentarische System durch die Einführung
des allgemeinen Wahlrechts (allerdings nach w ie vor nicht für Frauen) vervollstän
digt. Die Einführung des reinen Verhältniswahlrechts versprach in beiden L än
dern eine größere Gerechtigkeit bei der Repräsentation der Interessen herbeizu
führen. Dennoch ist die M odernisierung des Verfassungssystems in beiden Fällen
mißlungen. Ursache dafür w ar die Tatsache, daß die Um stellung des Verfassungs
systems auf moderne Ansprüche gegen den Willen der alten Machteliten erfolgen
mußte. Beamtenschaft, Offizierskorps, Kirchen, Unternehmer, in Italien auch die
Monarchie, verloren zw ar ihren politisch bestimmenden Einfluß, sie blieben aber
politisch präsent. Entscheidend war sowohl in Italien als auch in Deutschland, daß
die gesellschaftliche M acht der Großagrarier nicht gebrochen wurde. Bei der
Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie mußten sich die Parteien der
G eb u rt des Faschism us aus der Krise d er M o d er n e 173
neuen O rdnung auf die der alten stützen. In Deutschland gab es das Bündnis von
SPD und kaiserlichem Heer und das Abkom m en zwischen Gewerkschatten und
Unternehmern. In Italien bediente sich nach vergeblichen Versuchen Nittis, die
Politik dem modernisierten politischen Verfassungssystem anzupassen, der alte
Giolitti der traditionellen klientelistischen Praktiken, um innerhalb und außer
halb des Parlamentes überhaupt noch etwas durchzusetzen. Für die verfassungs
politische Modernisierung erwies es sich vor allem als tödlich, daß die G rundbe
sitzer der Poebene Methoden gewaltsamer Selbstverteidigung entwickelten, durch
welche sie die demokratischen Institutionen systematisch delegitimierten.
1919 waren die Parteien, welche die Modernisierung des Verfassungssystems
durchgesetzt hatten, in beiden Ländern im Parlament zunächst in der Mehrheit.
SPD, Zentrum und DDP hatten in der Weimarer N ationalversammlung sogar eine
Dreiviertelmehrheit. In Italien stellten die Sozialistische Partei (Partito Socialista
Italiano), die neugegründete Volkspartei (Partito Popolare Italiano) und die libe
raldemokratische Linke bei den ersten Nachkriegswahlen vom 16. November
1919 ebenfalls dreiviertel aller Abgeordneten. Eine tragfähige Regierungsmehrheit
ergab sich daraus aber weder in Deutschland noch in Italien. In Italien w ar über
haupt eine stabile Koalitionsbildung unmöglich, da einerseits die antiklerikalen
Vorbehalte auf bürgerlich-laizistischer Seite zu groß waren und andererseits der
antisozialistische Affekt die katholische Volkspartei vor einem Zusammengehen
mit dem PSI zurückschrecken ließ. Das Ergebnis waren M inderheitsregierungen,
die von Mal zu Mal schwächer waren.
In Deutschland kam es bekanntlich 1919 in der Weimarer Nationalversam m
lung zunächst zu einvernehmlichem Handeln zwischen Sozialdemokraten, Zen
trum und Deutscher Demokratischer Partei. Schon bei den ersten Reichstagswah
len von 1920 zeigte sich jedoch, daß die Weimarer Koalition in der Minderheit
war. Das Schlagwort von der „Republik ohne R epublikaner“ kam zu dieser Zeit
erstmals auf43. Der Sache nach entsprach in Italien der Rechtsruck bei den Parla
mentswahlen vom 15. M ai 1921 ziemlich genau dem Ergebnis der deutschen
Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920. In beiden Fallen erwies sich also, daß die m o
dernisierungsfeindlichen Parteien der politischen Rechten stark genug waren, die
Reform des politischen Systems zu blockieren.
Der Faschismus hätte aber w eder in Italien noch in Deutschland eine Chance
gehabt, wenn nach 1919 nicht drittens auch das Wirtschaftssystem der beiden
Länder in eine fundamentale Strukturkrise geraten wäre. Die forcierte Kriegswirt
schaft hatte in allen kriegführenden Ländern zu einer einseitigen Förderung der
waffentechnisch relevanten Schwerindustrie geführt. Daraus ergab sich bei
Kriegsende eine gesamtwirtschaftliche Asym m etrie, die vor allem in Italien, aber
auch in Deutschland zu einer dramatischen Verschlechterung der industriellen
Produktivität führte. Eine enorme Staatsverschuldung in Italien einerseits, der
passive Widerstand gegen die französische Rheinlandbesetzung in Deutschland
andererseits führten beide Länder in eine galoppierende Inflation, die das Ver
trauen vor allem der Beamten und Angestellten in das politische System ruinierte.
In Deutschland konnte die H yperinflation von 1923 zw ar noch einmal beseitigt
werden, aber die wirtschaftliche Dauerkrise der Weimarer Republik brach in dem
M om ent wieder auf, in dem 1929 mit dem N ew Yorker Börsenkrach die W eltwirt
schaft durcheinandergeriet.
Die sich verschärfende, dreifach sich überlagernde Modernisierungskrise schuf
sowohl in Italien w ie in Deutschland eine historische Konstellation, in der sich die
traditionellen Herrschaftseliten nicht mehr in der Lage sahen, sich aus eigener
Kraft zu behaupten. Sie ließen sich daher jeweils auf ein Bündnis mit einer politi
schen M assenbewegung ein, die eigentlich politische H egemonie mit einem totali
tären Machtanspruch bedrohte. Diese Massenbewegung war in Italien der Partito
Nazionale Fascista und in Deutschland die NSDAP. Aufgrund des strukturell
ähnlichen, sich ausdrücklich am italienischen Vorbild orientierenden Charakters
des Nationalsozialismus muß man diesen als eine Variante des Ursprungsfaschis
mus begreifen.
Sowohl der PN F als auch die N SD A P hatten eine erheblich breitere soziale Ba
sis und eine ungleich festere organisatorische Konsistenz als der Nationalismus
der Vorkriegszeit44. Beide stellten jedoch keine soziale Klassenbewegung dar. M it
glieder und W ähler kamen nicht, w ie so oft behauptet worden ist, nur aus dem
Kleinbürgertum bzw. der piccola borghesia. Beide stellten vielmehr politische
Sammlungsbewegungen ohne feste soziale Basis dar. Die soziale Qualität ihrer
M itglieder und Sympathisanten stand außerdem nicht ein für allemal fest. PNF
und N SD A P samt ihren zahlreichen Unter- und N ebengliederungen waren einem
ständigen sozialen Veränderungsprozeß unterworfen. So ziemlich alle gesell
schaftlichen Gruppen und Schichten wurden nacheinander von ihnen erfaßt, z u
nächst Bauern, Studenten und bestimmte Gruppen von Akadem ikern, dann
H andw erker und Kleinhändler, schließlich das mittlere und obere Bürgertum so
wie zu einem beträchtlichen Teil auch die Arbeiterschaft. Beide faschistischen Par
teien stellten insofern eine Ersatzpartei für alle anderen Parteien der N achkriegs
zeit dar. Da sie ihren Mitgliedern jedes innerparteiliche Mitspracherecht verwei
gerten und die Partei streng hierarchisch von oben nach unten organisierten, kann
man die beiden Parteien nicht als Volksparteien bezeichnen. Als charismatisch ge
lenkte Führerparteien waren sie jedoch unzweifelhaft Massenparteien moderner
Art.
Dies tritt noch deutlicher hervor, wenn man den politischen Stil der beiden Be
wegungen vergleicht. Politik w ar für den PNF w ie für die N SD A P die Fortset
zung des Krieges mit terroristischen Mitteln. N icht zufällig kam ein großer Teil
der Ursprungskader beider Bewegungen jeweils aus den militärischen Veteranen-
45 Jäck el, W eltan sch au u n g; Ernst N olte, D er F asch ism u s in sein er E p oche (M ü n ch en , Z ü rich
51979); Z itelm ann, H itler.
46 J a m e s A. G regor, L’id e o lo g ia del fascism o (M ila n o 1974); Emilio G entile, L e o rig in i
d e ll’id e o lo g ia fascista 1 9 18-19 25 (B ari 1975).
176 W o lfga n g Schie der
W eder M ussolini noch H itler duldeten also, daß ihre B ew egungen als revo lutio
när m ißverstanden w erden konnten. D ie V ergleichbarkeit von italienischem und
deutschem Faschism us ergibt sich deshalb gerade daraus, daß sich die beiden
.F üh rer“ als V erm ittler einer antim odernen A llian z anboten. Von ihren national
konservativen Sym pathisanten unterschieden sich die italienischen und die deut
schen Faschisten nicht dadurch, daß sie zukunftsträchtigere m oderne Program m e
hatten, sondern nur dadurch, daß sie in der Lage w aren, zeitgem äße politische
Form en der M assenm obilisierung zu entw ickeln. Das scheinbar M oderne am Fa
schism us w ar nur sein politischer Stil: die A usnutzung der Technik und der M e
dien, vom A uto und F lugzeug bis zum R undfunk; die C horeographie der M assen
versam m lungen, vom D ialog zw ischen ,F ührer“ und .M asse“ bis zum Aufm arsch
der disziplinierten H orden der M iliz bzw. der SA ; die D yn am ik der Sprache, das
häm m ernde Stakkato der Parolen; die furchtbare V ereinfachung von K om plexität;
die Suggestion gestellter, m it Fahnen, G irlanden und politischen Sym bolen über
ladener B ilder; die E ntdeckung der Fotografie und des Film s zu politischen
Zwecken; schließlich die A usn utzun g des sportlichen W ettkam pfs zur politischen
Identifikation m it dem R egim e. Es w ar die besondere Kunst sow ohl M ussolinis
als auch H itlers, sich aller dieser m odernen M ittel zu antim odernen Z w ecken zu
bedienen. D er scheinbar m oderne H abitus des Faschism us beider G estalt führt
deshalb nicht an dem U rteil vorbei, daß beide in ihren Ländern das .P rojekt der
M oderne“ auf verhängnisvolle Weise gestört haben.
N un w ird allerdings im m er w ied er behauptet, daß der Faschism us ungeachtet
seiner eigenen Intentionen gleichsam w id er W illen doch .m odern“ gewesen sei.
D abei w ird auf alle m öglichen E ntw icklungen verw iesen, w elche sich in Italien
und D eutschland in faschistischer bzw. nationalsozialistischer Zeit trotz allem
vollzogen hätten. Ich kann dem schon deshalb nicht folgen, w eil es nahezu
unm öglich ist, festzustellen, was sich ohne, gegen oder m it dem Faschism us ent
w ickelt hat. Selbst w enn es gew isse T eilm odernisierungen gegeben hat, muß doch
im m er gefragt w erden, ob nicht ein ungleich größerer M odernisierungsschub
möglich gew esen w äre, w enn man nicht den faschistischen Weg gegangen w äre.
Ein B lick auf die faschistisch-nationalsozialistische Frauenpolitik soll das ab
schließend noch etwas verdeutlichen49. Sow ohl der italienische als auch der d eu t
sche Faschism us w aren, darüber besteht in der Forschung Ü bereinstim m ung, in
ihrem U rsprung zutiefst antifem inistisch eingestellt. D ie Frauen sollten vom
A rbeitsm arkt ferngehalten w erden und vor allem eine R olle als Ehefrau und G e
bärerin spielen. In diesem Sinne betrieb der Faschism us sow ohl in Italien w ie in
D eutschland eine d ezid iert natalistische P olitik. D ie gesetzlichen M aßnahm en
49 Vgl. dazu Ute Frevert, Frau en gesc hich te zw isc h e n b ürge rlic h e r V erb esserun g u n d neuer
W eiblic h keit ( F ra n k fu rt 1986); Claudia Koonz, M o th ers in the F ath erlan d ( N e w Y o rk 1987);
Victoria de G razia, Le d o nn e nel regim e fascista (Venezia 1993); M aria Fraddosio, T h e Fallen
Hero: T h e M y t h of M u s s o lin i and Fascist W o m en in the Italian Social R ep u b lic (1 9 4 3 -5 ), in:
J o urn al of C o n t e m p o r a r y H is t o r y 31 (1996) 9 9 -1 2 4 ; Dianella Gagliani, Mariuccia S alvati
(H rsg.), D on ne e spazio nel p rocesso di m o d e r n iz z a z io n e (B o lo g n a 1995); P erry Wilson, T he
C l o c k w o r k Factory. W o m en and W o r k in Fascist Italy (O x fo rd 1993).
178 W o lfga n g Schie der
Im N achlaß des aus Triest stam m enden slow enischen N ation alitäten p olitikers
Josip W ilfan 1 findet sich eine C o llage, auf der die Sym bolfiguren der europäischen
N ationen abgebildet sind. D er G röße nach a n g e o rd n e t-v o m „Iw an“ m it B auern
kittel und K opfbedeckung aus Pelz über den „M ichel“ m it Pfeife und Z ipfelm ütze
bis zum spanischen Stierkäm pfer in voller A rbeitsm ontur - zeigen sie die Ein
w ohnerzahl ihres H erkunftslandes an. D arüber erkennt man die M itglieder eines
A usschusses, der eine A rt D achorganisation der nationalen M inderheiten in
Europa darstellte und der seit 1925 die Europäischen N ationalitätenkongresse
einberief. D ie A ngehörigen der M in o ritäten selbst erscheinen auf dem B ild nur als
Zahl („40 M illio n en “); die D arstellungsform suggeriert, daß sie zusam m engenom -
men die „sechstgrößte europäische N atio n “ bilden könnten, gleich h inter den
R ussen, D eutschen, B riten, Franzosen und Italienern. O hne jeden künstlerischen
A nspruch fab riziert, w eist die C o llage die N ationalitätenkongresse (ähnlich w ie
die K ongresse der Zweiten Internationale vor 1914) als „sechste G roßm acht“ aus
und verdeutlicht das G ew icht der M inoritäten im Europa der Z w ischenkriegszeit:
Zusam m engenom m en lebten in den europäischen Staaten m ehr A ngehörige von
M inderheiten, als m ittelgroße Länder w ie Polen oder Spanien E inw ohner hatten2.
1 D er g rö ß te Teil des N achlasses liegt im Z g o d o v in s k i arh iv (S tadtarchiv ) von Lju b lja n a , ein
klein erer Teil im Institut za n ar o d n o s tn a v p rasan ja (Institut für N atio n a litä ten fra ge n ), e b en
falls in L ju b lja n a . Teile der D o k u m e n ta t io n w u r d e n in den sie bziger J a h r e n verfilm t und dem
B undesarchiv in K o blenz überlassen. Vgl. zu Jo s ip W ilfan die biog raph isch e S k iz z e von jo z e
Pirjevec, D ie p olitis ch e T h eo rie u n d T ä tig k e it Jo se f W ilfans, in: Umberto Corsini, D avide
Zaffi, D ie M in d e rh e ite n zw isc h e n den beiden W eltk rie gen . M it einer E in fü h ru n g von M an
fre d Alexander, Schriften des Ita lienisch -D eutschen H istorisc he n Instituts in Trient 10 ( B e r
lin 1997) 167-174; im folg enden zitiert: Corsini, Zaffi, M in d erh eiten .
2 Xose-M anoel Nünez Seijas, El p r o b le m a de las n ac io nalid ades en la E u ro p a de en tregu er-
ras. El C o n g r e s o de N a cio n a lid a d e s Eu rop eas (192 5-193 8), D issertation, Eu rop äis ch es
H o ch sc h u lin stitu t (F lo ren z 1992), 3 Bde., im fo lg enden zitiert: Nunez Seijas, El p r o b le m a de
182 R o lf W ö r s d ö rfe r
las n acio nalid ades; R u d olf Michaelsen , D er eu ro päisc he N a tio n a litä te n -K o n g r e ß 1925-1928
( F ra n k fu rt a.M ., Bern 1984).
3 O tto Jun gh an n , D ie n ation ale M in d e r h e it (B erlin 1931) 74 f. N unez Seijas, El p ro b lem a de
las nacio nalidades 167, k o m m t für die Zeit nach 1919 zu einer etw as höh eren Zahl für
D eu tsc h la n d (1 0 5 0 0 0 0 ) u n d zu einer d eu tlich n iedrigeren fü r Italien (700 000 ). Solche
A b w e ic h u n g e n finden sich, einm al abgesehen vom z u g r u n d e gele gten Jahr, in der ganzen
M in d erh eiten literatu r. D ie offizie llen B e v ö lk e ru n gs sta tis tik e n ten dieren d ahin, die Zahl der
M in d e r h eiten an g e h ö rig e n n ied riger a nz usetzen, die P u b lik a tio n e n d er einzeln en M in o r i t ä
ten dahin, sie zu übertreib en.
4 Bastiaan Schot, N a tio n o d er Staat? D eu tschlan d un d d er M in d erh eiten sc h u tz . Z u r V ö lk e r
b u n d sp o litik d er Ä ra S tresem ann ( M a r b u r g 1988); Erwin Viefhaus, D ie M in d erh eiten fra ge
un d die En tstehu ng d e r M in d e rh e ite n sc h u tz v e r tr ä g e auf d er Pariser F ried e n s k o n fere n z von
1919. Eine Studie zu r G eschic hte des N a tio n a litä ten p ro b lem s im 19. u n d 20. J a h rh u n d e rt
( W ü r z b u r g 1960).
5 Vgl. d en A b sch n itt „G esch ic h tsregio n en “, in: H arald Roth (H rsg.), S t u d ie n h a n d b u c h Ö s t
liches E urop a, Bd. 1, G esch ic hte O s tm itte l- und S üdo ste uro pas (K öln, W eimar, W ie n 1999)
57 -96.
6 Einige ethnische G ru p p e n k ö n n en hier n ur k u r z g enan nt w erd e n . D eu tschlan d: Tschechen,
M äh rer, M a su re n , K asch ub en , Litauer, W allo n en , Friesen. Italien: Friauler, Ladin er, Is troru-
m änen, klein e deutsche S prac hinseln in N o r d ita lie n , Sarden, K atalanen, K ro aten (M olise),
A lb a n e r u n d G riech en in versch iedenen Teilen S üditalie ns un d Siziliens.
N ation alstaat un d ethnische G ru p p e n in D eu tschlan d un d Italien 183
m igen N atio n “, das In- und N ebeneinander regionaler und nationaler Identitäten
erschw erte es dagegen den M inderheiten in Italiens N ordostprovinzen, zu einer
ähnlich klaren E igensicht zu gelangen9.
D am it ist noch nicht gesagt, die polnische M inderheit hätte dem deutschen N a
tionalstaat größere Schw ierigkeiten bereitet als die slow enisch-kroatische dem
italienischen. Entscheidend ist vielm ehr zunächst, daß aus „w estlicher“ (in diesem
Falle deutscher und italienischer) Sicht beide N achbarländer, Polen und Südsla-
w ien, als „Produkte von V ersailles“, als habsburgische N achfolgestaaten, als p ro
visorische und p rekäre N eugründungen galten. Jede R evision des Versailler Ver
tragsw erks, darin w aren sich D eutschland und Italien einig, w ürde zuallererst von
den beiden östlichen N achbarn O pfer verlangen. Polen und Südslaw ien w aren
Länder, die von A nfang an um ihre E xistenzberechtigung käm pften10; dies gilt
auch dann, w enn man in B etracht zieht, daß die P o litiker und G eneräle in W ar
schau und Belgrad die eigene G renze gern w eiter nach W esten verschoben hätten,
was in unterschiedlichem A usm aße und unter radikal gew andelten B edingungen
erst nach dem Z w eiten W eltkrieg gelang. Insgesam t förderte die geostrategische
Lage an der deutschen und italienischen O stgrenze die H erausb ildun g von Irre-
c/e»Jrt-Bewegungen und w irk te auf die B ündniskonstellation der europäischen
M ächte ein 11.
9 Vgl. z u r K o n str u ktio n der dre inam ige n N ation : Hans Lemberg, U n v o lle n d e te Versuche
n ation aler Id e ntitätsb ildun g im 20. J a h r h u n d e r t im östlichen E urop a; die ,Tschechoslowa-
k e n ‘, die J u g o s l a w e n “, das . S o w je t v o lk “, in: H elm ut Berding, N a tio n a le s B e w u ß ts e in und
k o llek tiv e Identität. S tudien z u r E n t w ic k lu n g des k o llektiv en B e w u ß ts ein s in der N e u z e it 2
( F ra n k fu rt a . M . 1994) 58 1 -6 0 7 ; im folg enden zitiert: Lemberg, U n v o lle n d e te Versuche.
10 A ntoni Czubinski, D eu tsc hla n ds M in d e rh e it e n p o h t ik 1918-1945, in: P o ln isch e W eststu
dien (1/1983) 46 -7 1 . In D eu tsc h la n d trat vor allem der F ra n k f u rte r S o z ia ld e m o k ra t H e r
m ann W endel vehem ent fü r das Ü b e rle b e n des SH S -Staats bzw. J u g o s la w ie n s ein. Vgl. R o lf
W örsdorf er, H e rm a n n W en d el u n d A d o lf Köster. Zw'ei d eu tsche S o z ia ld e m o k r a t e n in S ü d
o steu ro p a (190 9-193 0), in: Bert Becker, H orst Ladem acher (FIrsg.), Geist u n d Gestalt im
histo rischen W andel. Facetten d eu tscher u n d euro p ä isc h e r G esch ic hte 1789-1989. Fest
schrif t fü r Siegfried Bah ne (M ü n s t e r 1999).
11 D en A u s d r u c k Irredenta fü r das B estreben der M in d erh eiten im Z w isc h e n k rie g s eu r o p a ,
auf d em W ege einer R ev is io n d er G ren zen zu r „ M u tt e rn a t io n “ z u r ü c k z u k e h r e n , verw en det
der balten deu tsch e ju n g k o n s e r v a t iv e M ax H ildebert Boehm, E u rop a irredenta. Eine E infüh
r u n g in das N a tio n a litä ten p r o b lem d er G e g e n w a r t (Berlin 1923); sie he z u r Irreden tism u s-
P ro b le m a tik vo r d em Ersten W eltk rie g Sergio Romano, D e r Irreden tism u s m d er italie
nischen A u ß e n p o lit ik un d M arina G arbari, D e r Irreden tism u s in der italien isch en H is t o r io
graphie, in: Angelo A ra, E berhard Kolb, G r en zregio n en im Z eitalter d er N a tio n a lism en . El
saß-Lothringen/T rie nt-Trie st 1870-1914, Schriften des Italie n isch -D e utsc h e n H istorischen
Instituts in Trient 12 (B erlin 1998); im fo lge n d e n zitiert: A r a , Kolb, G re n z r e g io n e n 13-24 und
25 -53.
N a tio n a ls ta a t un d ethnische G ru p p e n in D eu tschla n d und Italien 185
So selbstverständlich, w ie sich ein großer Teil der zirka 900000 Polen in O ber
schlesien, O st- und W estpreußen k u ltu rell und politisch an der R ep ub lik P o len 12
o rientierte, so w andten die nahezu kom plett in der G renzregion Julisch Venetien
lebenden Slow enen und Kroaten ihren B lick nach Südosten, w o 1918 zunächst im
vorm als habsburgischen R aum der „Staat der Slow enen, Kroaten und Serben“
und dann durch die Fusion m it Serbien das „K önigreich der Serben, K roaten und
Slow enen“ (SFIS-Staat, seit 1929 Jugo slaw ien ) entstanden w a r13. In den ersten
N achkriegsw ochen des Jahres 1918 w aren in diesen G renzgebieten (und darüber
hinaus in der sorbischen L ausitz) N ation alräte aus dem Boden geschossen, die für
den A nschluß ihrer R egion an Polen, den SH S-Staat oder - im Falle der Sorben -
an die Tschechoslow akei eintraten. Zur jed erzeit aktivierbaren A nhängerschaft
der N ation alräte zählten oft dem obilisierte A ngehörige der Streitkräfte. Sieht man
von den „spontanen In tern atio nalisten “ ab, etw a den vielfach als überzeugte
K om m unisten aus russischer K riegsgefangenschaft zurückgekehrten ehem aligen
Soldaten des österreichischen K aisers14, so hefteten sich nach dem W affenstill
stand in „Z w ischeneuropa“ un zäh lige jun ge M änner eine K okarde in den N atio
nalfarben an die U niform . W ährend die Frontkäm pfer andersw o, zum Beispiel in
Süditalien und Sardinien (com battentism o, L andbesetzungen) oder in K roatien
und Bosnien („grün e“ B ew egung), in der E rfüllung ihrer sozialen Forderungen
(Bodenfrage) die notw endige K om pensation für die im Schützengraben oder in
der K riegsgefangenschaft verbrachten Jah re sahen, signalisierten viele Soldaten in
den G renzregionen ihre oft aus derselben m ateriellen N o t geborene B ereitschaft,
für G renzverschiebungen zugunsten des alten (D eutschland, Italien) oder des
neuen N ationalstaats (Polen, SH S-K önigreich) zu käm pfen15.
12 Vgl. die Q u e lle n e d itio n von R udolf Jaw orski, D ie p oln ische G re n z m in d e r h e it in
D eutschla nd 1920-1939, in: D eu tsche u n d Pole n z w is c h e n den K riegen. M in d erh eiten sta tu s
und „ V o lk s tu m sk am p f“ im G ren zgeb iet. A m tlich e B e ric h tersta ttu n g aus b eiden L ä n d e r n
1920-1939. P o la c y in N ie m c y m ic d y w o jn a m i. Statu s m niejszo sci i w a lk a g ran niczn a. R e-
p o rty w la d z p o lsk ich in n ie m ie ck ich z lat 1920-1939, hrsg. v. R u d o lf Jaw o rski, M arian
Wojdechowski, 2 H a lb b ä n d e ( M ü n ch en , N e w Pro viden ce, L on do n, Paris 1997) 4 9 - 7 0 , hier
51; im fo lg enden zitiert: Jaw orski, P o ln isch e G ren zm in d e rh e it. D er H e r a u s g e b e r b eziffert
die G esa m tza h l der Polen im D eu tsc h la n d der Z w isc h e n k r ie g s z eit auf 8 0 000 0 bis 1,5 M il lio
nen und gibt z ah lreich e H in w eise , w a r u m die V olk szä h lu n g sd a ten als äußerst u n g e n a u a n z u
sehen sind. D as von d er p oln is chen R e g ie r u n g finan zie rte Institut für M in d erh eiten fra g e n in
W arschau nan n te für die P o le n in Sch le sien, O s t- u n d 'Westpreußen zu sa m m e n d ie Zahl von
1,2 M illio n en , eine Zahl, bei der noch d ie B e rlin - un d R u h rgeb ie tsp o len fehlten. V gl. S. J. Pa-
procki ( H rs g .), M in o r i t y A ffairs and Po la n d. A n In fo r m a to r y S u r v e y (W a r s a w 1935) 38; im
folgenden zitiert: Paprocky, M in o r i t y Affairs.
13 D ie Zahl der ju lischen S lo w en en w ir d ge m e in h in a uf 35 000 0, die d er Kroaten a uf 15 000 0
beziffert.
14 M arina Rossi, I prigio n ieri dello Zar. Soldati italiani d e l l’esercito a u s tr o -u n g a rico nei lager
della R u ssia 1914-19 18 ( M ila n o 1997).
13 W o dies n o t w e n d ig schien, ließ der alte N a tio n sta a t „seine“ M in d erh eiten sofort spüren ,
welche K o n s eq u e n ze n die irreden tistische P ro p a g a n d a für sie haben könne: Ein Sorb e, der
186 R o lf W ö rs d ö r fe r
D iese Form einer „institutioneilen und m entalen F o rtw irkun g des W eltkrie
ges“ 16 traf im deutschen und italienischen (N ord-)O sten auf einen fruchtbaren,
gut vorbereiteten Boden: Schon seit dem 19. Jah rh un dert arbeiteten in den ö stli
chen G renz- und M ischgebieten diverse patriotische Schul- und Schutzvereine,
die die national indifferenten oder regionalistisch orientierten G renzlandbew oh
ner in die Schem ata des „D eutschtum s“ und der „Italian itä“ zu pressen suchten17.
Sie führten Konzepte der N ation ins Feld, deren rom antische U rsprünge (Johann
G ottfried Flerder, G iuseppe M azzin i) am Vorabend des Ersten W eltkriegs längst
durch neue, im perialistische und rassistische Theorem e und Ideologien überdeckt
w aren. O rganisationen w ie der O stm arken-V erein, der Verein für das D eutsch
tum im A usland (V D A ), der Schulverein Siidm ark auf deutsch er18 und die Societä
D ante A ligh ieri, die Lega N azionale oder die Trento e Trieste auf italienischer
Seite19 trugen dazu bei, die M en talität einer G renzbevölkerung zu form en, deren
Kam pf- und A bw ehrbereitschaft in einem zw eiten Schritt auf den gesam ten
„V olkskörper“ p ro jiziert w erden sollte. U m gekehrt verfochten auch die K am pf
bünde, Schutz- und Schulvereine der B evölkerungsgruppen, die 1918 zu M in der
heiten w urden, einen integralen N ationalism us, der w enig R aum für territoriale
oder ku lturelle K om prom ißlösungen ließ20.
Das patriotische Vereinswesen erlebte bei K riegsende in Italien einen neuen
A ufschw ung, obw ohl so m anche nationale V ereinigung zunächst am Sinn ihrer
T ätigkeit zw eifelte, w eil die meisten ehem aligen terre irredertte inzw ischen „er
lö st“ w orden w aren. Bei den Schulen und K indergärten kam es zu einer N euver
teilung der K om petenzen zw ischen der Societä D ante A ligh ieri, der Lega N azio -
nale und der O pera N azionale Italia redenta21. N eben dem Proselytism us der B il
dungsvereine machte sich eine tief in den A lltag der G renzbevölkerung ein drin
gende Sym b o lp o litik bem erkbar: P atriotische Schutzbünde, Frontkäm pfer- oder
K riegerw itw enverbände w eihten Fahnen, veranstalteten U m züge, enthüllten
D enkm ale und legten G rundsteine zu vaterländischen E inrichtungen; all dies
sollte helfen, das nationale B ew ußtsein in den neuen Provinzen zu festigen22. A n
dererseits verschw am m en die G renzen zw ischen dem propagandistischen A uftre
ten „friedlicher“ Irredentisten und den Kam pagnen bewaffneter Form ationen, die
w ie die deutschen „Freikorps“ oder die italienischen A rditi und Legionäre in den
östlichen G renzregionen operierten23.
Ein d ritter Faktor, der die N ation alisierun g der G renzregionen vorantrieb und
der M inderheitenproblem atik ihr eigenes G epräge gab, w aren die P lebiszite über
die künftige territoriale Z ugehörigkeit von Teilen Schlesw igs, K ärntens und
O berschlesiens. Politische Präferenzen oder konfessionelle L o yalitäten w aren im
„V olkstum skam pf“ vor O rt eher zw eitran gig; der Sozialdem okrat aus Flensburg
redete über den D änen in derselben „grenz- und auslandsdeutschen“ Sprache, die
auch der D eutschnationale aus O stpreußen benutzte, w enn er auf den Polen zu
sprechen kam 24; der norddeutsche Protestant sah den nordischen oder slaw ischen
N achbarn in dem selben Licht w ie der katholische Kärntner oder T iroler den Slo
wenen und Italiener25.
In der M ehrheitsbevölkerung außerhalb der G renzregionen und vor allem in
der politischen Führungsschicht folgte die E instellung der M inderheit gegenüber
einer anderen M atrix. Am angesehensten w aren jene M inoritäten, deren Sprache
21 Ich ve rw eise hier auf: R olf W örsdorf er, K risenh erd A dria . 1915-1955. K o n s tr u k tio n und
A rtik u la tio n des N a tio n a le n im it a lien is ch -ju g o s la w isc h e n G re n z r a u m ( P a d e rb o rn u.a.
2004) 161-219.
21 Vgl. den p aralle l gelagerten „F all“ E ls aß -L o th rin g e n im A u fsa tz von A nnette Maas, K r ie
ge r d e n k m ä le r einer G r en zreg io n - D ie Sch la chtfeld er um M e tz un d W ciß en b u rg/ W ö rth
1870/71—1918, in: A ra, Kolb, G re n z reg io n en 285-299 .
23 Vgl. z u m P h äno m en des arditism o: Pamela Ballinger, B lutopfer un d Feuertaufe. D er
K rie gerritus der A r d iti, in: Hans Ulrich Gum brecht, Friedrich Kittler, B ernhard Siegert
(H rsg.), D er D ic h ter als K o m m a n d a n t. D ’ A n n u n z io erob ert F ium e ( M ü n c h e n 1996) 175—
202; im folgenden: Gum brecht, Kittler, Siegert, D er D ich ter als K o m m and an t.
24 A u s den Zeiten des V o lk stu m ska m p fes sin d eine R eihe eth no zen trisch cr u n d rassistischer
S ch im p fw o rte überliefert, mit denen d e r je w eils A n d e re ein g edec kt w u r d e , w o im m e r dies
straflos m ö glic h war. „P o la c ke n “ n annten D eutsche die Polen, „W in d isch e“ o d er „S ch la w i
ner“ hieß die B e zeich n u n g für die Slo w en en , „W alsch e“ sagten die T iro le r üb er die Italiener.
Sehr verbreitet w a r d er venezia nische A u s d r u c k für S la w e n „s’cia vi“, d er u rs p r ü n g lic h so viel
wie „ S k la v en “ bedeutete. D ie S lo w en en ah m ten die D eu tsc hö ster reic he r nach u n d bezeich-
neten den Italiener als „L a ll“ ( „ W elsc h e r“). D ie Epitheta w a re n austauschbar, u n d die B e
sch im pfun g galt im m e r vor allem d em je w eilig e n un m itte lb a ren N a ch b a rn un d K o n k u r r e n
ten.
25 G erad e ih re Stellun g zu r M in d e rh e ite n p r o b le m a tik in Südtiro l un d S ü d k ä r n te n w u rd e
z u m I n d ik a to r für die „nationale Z u v e rlä s sig k e it“ d er deutschen K atho lik en , die mit dem
R eich sb un d der kath olischen A u s lä n d sd e u ts ch en ü b e r eine eigene V olk s tu m s v e rein igu n g
und mit d em O s n a b r ü c k e r B ischo f W ilh e lm Bertlin g üb er einen eigenen M in d e r h e i t e n b i
schof verfügten.
188 R o lf W ö r s d ö rfc r
und K ultur derjenigen des Staatsvolks am nächsten stand; das galt von B erlin aus
gesehen für die D änen, von Rom aus für die A ostaner. D er „N arzißm us der k lei
nen D ifferenzen“, der sonst in ethnisch-nationalen K onflikten m anchm al eine
große R olle spielt, w urde hier also nicht w irksam 26. Vor allem im 19. Jah rh un dert
gab es sogar M inderheiten, auf die die H errscher regelrecht stolz w aren. So erklär
ten V ertreter des preußischen K önigshauses, es sei ihnen eine besondere Freude,
im Kreis M alm ecly am äußersten w estlichen Rand des K önigreichs auch fran zö
sischsprachige B ürger zu ihren U ntertanen zählen zu dürfen27. Von den italien i
schen Faschisten und von M usso lin i persönlich ist bekannt, daß sie die „deut
schen“ Prim är- und Sekundärtugenden der Südtiroler durchaus schätzten, ohne
sich deshalb in ihrer Italian isierun gsp o litik beirren zu lassen.
In beiden Ländern entschied darüb er hinaus bei der B ehandlung der M in d er
heiten ein „W est-O st-G efälle“. D ie Slaw en w urden m it dem O sten und m it ö stli
chen Stereotypen iden tifiziert, w ie sie etwa C laudio M agris in seinen „G renzbe
trachtungen“ beschrieben hat:
„Auch ich glaubte als Bub, daß Prag w eiter östlich liege als W ien, und w ar ein i
germ aßen überrascht, als m ir der Schulatlas das G egenteil bewies. D ieses w eitver
breitete U nw issen w ar und ist oft m it absichtlicher oder unbew ußter G ering
schätzung verbunden. Was im O sten liegt, erscheint oft düster, beunruhigend, un
geordnet, u n w ü rd ig .“28
D ie östliche G renz- und M inderheitenproblem atik w ar im öffentlichen B e
w ußtsein Italiens und D eutschlands m it schm erzlichen E rinnerungen verbunden,
die sich in einer B lut- und O pfersprache, einem V erletzungs- oder V erstüm m el-
tendiskurs artikulierten . U m schrieb man in Italien die unerfüllten G ebietsw ün
sche an der A dria seit 1918 p lakativ als vittoria m utilata, so ging in D eutschland
im H in b lick auf die verlorenen O stterritorien das W ort von der „offenen W unde“
oder von der „blutenden G renze“ um 29. Südlich der A lpen argum entierte man mit
den 600000 K riegstoten, die das Land nicht nur für Trient und Triest, sondern
26 Sigm und Freud, D as U n b e h a g e n in der Kultur, in: Freud , K ulturthe ore tisch e Schriften
( F ra n k fu rt a.M . 1986) 191-270, h ier 243.
27 Klaus Pabst, D ie p reu ßisch en W a llo n e n - eine staatstr eue M in d e r h e it im W esten, in:
H ahn, K uhn, N a tio n a le M in d e r h e ite n 71 -79.
28 Claudio Magris, W e r steht auf d e r a nderen Seite? G r e n z b e trac h tu n g e n (S a lzb u rg, W ie n
1993) 8.
29 Klaus Zernack, D eu tsc h la n d s O s tgren ze, in: A lexander D em andt (H rs g .), D eu tschlan ds
G ren zen in der G eschic hte (M ü n c h e n 1993) 140-165, hier 155, betont die von d er W eim arer
R e p u b lik nicht w a h rg e n o m m e n e n „ C h a n c en in der R ü c k v e rle g u n g d er deutsc h -p o ln isc h e n
G ren ze an eine Linie, die nicht allein in h is to ris ch er Sic ht ihre T ragfähigkeit b ew ie sen hatte,
s on dern auch bei der s c h w ie rig e n A b g r e n z u n g in den ethnischen M isc h ge b ieten den z u
k u nftsträch tigen K o m p r o m iß su c h te.“ - In den letzten J a h r e n ist die d eu tsche un d italien i
sche G r c n z la n d r h e to rik vor allem von L itera tu rw isse n sc h a ftlern u n ters u c h t w o rd en . Vgl.
Wolfgang R e if K alter Z w e ifro n te n k rie g . D e r G ren z la n d r o m a n ko n se rva tive r un d (prä-) fa
schistischer A uto re n d er Z w isc h e n k rie g s zeit, in: R ichard Faber, B arbara N aum ann (H rsg.),
L itera tu r der G ren ze - T h eo rie der G ren ze ( W ü r z b u r g 1995) 11 5-135; Gum brecht, Kittler,
Siegen, D er D ich ter als K o m m a n d a n t.
N ation alstaat un d ethnische G rup pen in D eu tschla n d un d Italien 189
auch für Bozen und D alm atien geopfert habe; daraus folgte nahezu zw angsläufig
eine Sakralisierung der realen oder der angestrebten G renzen30.
Breite Teile der Ö ffentlichkeit beider Lander m achten die M inderheiten dafür
m itverantw ortlich, daß im O sten nach 1 9 1 8 T erritorien verlorengegangen oder
nicht im erw arteten A usm aße hinzugew onnen w orden w aren. D ie bewaffneten
G renzkäm pfe in D eutschlands östlichen M inderheitenregionen ließen neue irre-
dentistische Interessengem einschaften entstehen, so das verzw eigte N etzw erk des
D eutschen Schutzbundes. Später begannen M inderheiten- und V olkstum sinsti
tute, A usschüsse, Sem inare, L ehrstühle und Forschungsgem einschaften, die N a
tion und ihre territorialen A nsprüche „w issenschaftlich“ zu er- und begründen.
Viele dieser Institutionen w idm eten sich dem Studium der 1 9 1 8 neu erw orbenen
oder verlorengegangenen T erritorien und lieferten A rgum ente für den „Volks
tum skam pf“31.
In Italien bildeten die D ’A nnunzio-U nternehm ung in Fium e, der K onflikt mit
den Slaw en im besetzten D alm atien und die B randschatzung des slow enischen
Volkshauses in Triest im Som m er 1 9 2 0 den Flintergrund für die neue G renz-
lan drh etorik32. B eteiligt w aren im m er w ied er A r d iti, Legionäre, „D esperado-Sol
daten “33, dann aber auch die reguläre Truppe, bewaffnete N ationalisten und
schließlich die ersten s q u a d re der Faschisten. D ie Besuche M ussolinis und V iktor
FImanuels III. in Triest tauchten die G renzregion in eine Sym bolw elt, die in den
folgenden zw ei Jahrzehnten im m er w eiter ausgebaut (U rb an istik, D enkm ale,
H elden kult u .a .) w urde. M it Ettore Tolomei stand ein Experte in Fragen der N a
tion bereit, der nicht zögerte, die deutschsprachigen Siedlungsgebiete am O ber
lauf der Etsch zu einer „rein italienischen“ Region zu erklären, deren Bew ohner
nur ihre rom anische Sprache verlernt hätten34. Von den irredentistischen V ereini
gungen und bewaffneten Form ationen ausgehend, bestanden vielfältige Q uerver
bindungen zu den A nhängern der „konservativen R evo lutio n “ in D eutschland35
und den N ationalisten in Italien; einige Vertreter des irredentistischen Lagers gin
gen unm ittelbar zum Faschism us über36.
Diese G em einsam keiten können nicht von einem grundlegenden U nterschied ab
lenken, der in der Lage Italiens und D eutschlands 1918 eintrat: W ährend das
D eutsche R eich als V erlierer des Ersten W eltkriegs einen großen Teil seiner slaw i
schen, germ anischen und rom anischen M inderheiten an die N achbarländer Polen,
D änem ark, Frankreich und B elgien abgegeben hatte und in eine Phase verstärkter
nationaler (nicht sozialer) H om ogenisierung eingetreten w ar - vor allem auch auf
grund der desolaten w irtschaftlichen Situation, die den Zustrom ausländischer
oder interpretierte sie - wie das Patois der A ostaner und Seealpenbew ohner - als
R elikte früherer dynastischer K om binationen. D ie frankophonen A ostaner w aren
italienische Patrioten und A nhänger der Savoyer-D ynastie; viele von ihnen hatten
w ährend der R isorgim ento-K riege in den populären ^//»^-R egim entern für Ita
lien gekäm pft43. Eine nationale Problem atik schien sich bei ihnen ebenso w enig zu
stellen w ie bei den süditalienischen M inderheiten. G etrübt w urde das Bild eines
intakten, m ononationalen italienischen Einheitsstaates allenfalls dadurch, daß der
einheim ische katholische K lerus in den M inderheitenregionen durchw eg ein be
harrendes, der A ssim ilation entgegenw irkendes Elem ent darstellte. W irklich rele
vant w urde das Problem eines gegen R om (als H auptstadt Italiens) gerichteten
katholischen M inderheitenklerus erst nach dem Ersten W eltkrieg44.
D er w eiter oben form ulierte U nterschied in der Lage beider L änder läßt sich
also p räziser fassen: Preußen-D eutschland w ar m it dem M inderheitenproblem im
eigenen Land vor allem in der H ochzeit des Irredenta - und Risorgim ento-N atio-
nalism us konfrontiert und hatte deshalb nach 1918 zum indest eine C hance, die bis
dahin gem achten Erfahrungen auszuw erten und „die Lehren aus der G eschichte“
zu ziehen. O b dies bis in die letzte K onsequenz hinein gelang, ist eine ganz andere
Frage. Italien dagegen m ußte sich just zu einem Z eitpunkt ernsthaft G edanken um
M inoritätenangelegenheiten m achen, an dem seine politische Führungsschicht
glaubte, die E inigungsbew egung endlich vollendet und das eigene nationale T erri
torium arrondiert zu haben. D araus folgte für Rom im Z eitraum zw ischen der m i
litärischen B esetzung und der A nnexion der neuen G ebiete zw eierlei: Einerseits
gaben die V erantw ortlichen im Parlam ent und andernorts w o h lklin gen de E rklä
rungen über ihre B ereitschaft ab, die Rechte der M inderheiten zu achten. Es w ar
nicht verw underlich, daß Sprecher der julischen Slawen und Südtiroler später
eben diese D eklarationen m it der rauhen W irklich k eit der A ssim ilatio n sp o litik
verglichen43. A ndererseits sahen die politische Klasse, die B ürokratie und die R e
pressionsorgane im Fortbestehen ethnischer G ruppen in den „neuen Provinzen“
eine A rt Ü berbleibsel der habsburgischen A ra46. Das italienische Vorgehen in
Südtirol und vor allem in Ju lisch Venetien trug deshalb schon vor der faschisti
schen M achtübernahm e p un ktuell die Züge einer ressentim entsgeladenen Recon
47 M a n d en ke etw a an das Vorgehen gegen die slaw isc he n Bischöfe von Triest u n d Veglia
(Krk), Karlin und M ah nic, o der an die einsetzend e Ita lia m sie run g der T o p o n y m e . Hans
Heiss, D e r a m biv ale nte M o dellfall: S ü d tiro l 1918-1998, in: R o lf W örsdorf er, Sozialg eschich te
und soziale B e w e g u n g e n in Italien 1848-1998. F o rsch u n gen u n d F o rsch un gsberich te ( M it
teilu ngsblatt des Instituts z u r E rfo rsc h u n g d er eu ro päischen A r b e it e r b e w e g u n g 21, 1998)
2 2 5-241 , hier 227; im fo lg enden zitiert: Heiss, M o dellfall, konstatiert für das S ü d tiro l d er Zeit
nach 1918 „ein em gew issen K o n fo r m itä ts d ru c k m it d em N a tio n a ls ta a t“ .
48 D avon lebten etw a s über drei M illio n e n in der T sch echo slo w ak ei, gut eine M illio n in P o
len, 7 1 400 0 in R u m ä n ie n , 5 5 1 0 0 0 in U n ga rn , 5 1 4 0 0 0 in Ju g o s la w ie n , 17 7000 in den b alti
schen R e p u b lik e n u n d im M em e lla n d . Vgl. Wilhelm Winkler, Statistisches H a n d b u c h der
europäischen N atio n a litä ten (W ien, L e ip z ig 1931) 5 ff.
49 Baron H eyk ing, D e r in tern ation ale S ch u tz der M in d erh eiten - D ie A chillesferse des V ö l
k e rbundes, in: D er A uslä n dsde utsch e, X. Ja h rg a n g , 1926, 86-90.
yj Schot, N a tio n o der Staat 142 f.
Z u m Verständnis d er N a tio n als „ P e rs ö n lich k eit“ o d er „ K ö rp e r“ vgl. H roch , M in d e r h e i
ten als Pro blem 15.
194 R o lf W ö r s d ö r fe r
Polen zu erhalten, traf sich m it dem selbstbew ußten bis überheblichen A uftreten
des m inderheitenrechtlich ungebundenen K önigreichs Italien.
Jede E ntnationalisierungs- oder A ssim ilatio n sp o litik setzt sich in letzter Instanz
das Ziel, eine kom pakte T itularnation und einen hom ogenen N ationalstaat zu
schaffen. W elche Faktoren in unserem Falle den jew eiligen A ssim ilationsprozeß
beschleunigten oder retardierten, läßt sich am Beispiel der östlichen, slaw ischen
G renzm inderheiten beider Länder zeigen. D ie für die M in derheitenpolitik
D eutschlands und Italiens typische Phasenverschiebung nach 1918 erfordert für
che D arstellung eine R ückblende bis in die Zeit vor der deutschen R eich sgrün
dung58.
Vor dem Ersten W eltkrieg lag der polnische B evölkerungsanteil in D eutschland
noch bei 4 M illio n en; das w aren 6,2% der R eichsbevölkerung und im m erhin 10%
der E inw ohner Preußens. D ie Polen w aren bei w eitem die größte nichtdeutsche
B evölkerungsgruppe im R eich, ihr A bw ehrkam pf gegen die preußische E ntnatio
nalisierun gspo litik w urde bisw eilen als der „längste Krieg in der G eschichte des
m odernen E uropa“ bezeichnet-'’9. Zwei H auptbew eggründe leiteten das Vorgehen
Preußens: Zum einen sollten die polnischen G ebiete und vor allem die als n atio na
les Zentrum der Polen bekannte Provinz Posen (Poznan) im R ahm en des p reußi
schen Staates gehalten w erden. M ißtrauisch beobachtete man von B erlin aus das
Entstehen einer polnischen Parallel- oder A lternativgesellschaft, deren M itglieder
sich unter dem Einfluß der deutschen V erw altung akkulturierten, ohne sich ent-
nationalisieren zu lassen60. Zum anderen erlaubte das auf dem im sanguinis be
ruhende preußische Staatsbürgerschaftsrecht von 1842 die G erm anisierung all
jener frem dsprachigen M inderheiten, die nicht w ie Sinti oder „ostjüdische“ A r
m utsm igranten von vornherein aus der „V olksgem einschaft“ ausgeschlossen, ent
rechtet und außer Landes geschafft w urd en 61.
dS p(j|. Italien bleibt von In teresse der b ah n b re ch en d e Band von Gatterer, Im K a m p f gegen
Rom . Vgl. z u r deu tschen M in d e r h e ite n p o litik v o r 1914 Hahn, K unze, N a tio n a le M in d e r h e i
ten.
39 N o c h 1927 beriefen sich italienische D ip lom aten , die ge gen ü b er deu tschen G es p rä c h s
p artnern nach einer L e g itim a tio n fü r Italiens d r a k o n isc h e A ss im ila tio n s g es etzg e b u n g s u c h
ten, a u f die M in o r it ä t e n - und in sbeso ndere P o le n p o litik P re uße ns vor 191S (D e utsch e B o t
schaft R o m an A u s w ä r tig e s A m t, 30. 8. 1927, in: P A A A , A bt. V ia , M in d e r h e ite n k o n g r e ss e in
Genf, R 60466).
60 Vgl. R u d o lf Jaw orsk i, H a n d el u n d G e w e r b e im N a tio n a litä ten k a m p f. Studie n zu r W i r t
sch aftsgesin nung d er Polen in der P r o v in z Posen (187 1 -1 9 1 4 ) (G ö ttinge n 1986).
61 Vgl. W olfgan g W ipperm ann, Das ,ius sangu in is' un d die M in d erh eiten im D eu tschen K ai
serreich, in: Hahn, Kuhn, N a tio n a le M in d e r h e ite n 133-143 . Von der A u s w e is u n g ko n n ten
auch Pole n betroffen sein, die nicht e in g eb ü rge rt w o r d e n w a ren oder „trotz teilw eise lang-
196 R o lf W ö rs d ö r fe r
Schulen aktiv. D aneben bestand als D achorganisation der polnischen M in derh ei
ten der Bund der Polen in D eutschland, dessen Leitung sich durchw eg aus R u h r
gebiets- und B erlin-Polen zusam m ensetzte. D er Verband, der nie mehr als 50000
M itglied er zählte, tat sich schw er bei der Interessenvertretung der G renzland
polen. Er w ar initiativ am A ufbau eines Verbandes der nationalen M inderheiten in
D eutschland beteiligt, dem auch sorbische, dänische und friesische O rgan isatio
nen angehörten65.
Seit A nfang der 30er Jah re häuften sich die Ü bergriffe von SA -F orm ationen auf
M itglied er und E inrichtungen der polnischen M inderheit. Aus O berschlesien, wo
es eine eigene, auch die Polen betreffende M inderheitenschutzregelung gab, klagte
der Bund der Polen beim V ölkerbund die E inhaltung der G arantien ein66. Der
SA -T error w urde erst 1934 im Z usam m enhang m it der deutsch-polnischen N icht-
angriffserklärung unterbrochen; für die Polen in D eutschland trat zunächst eine
„unleugbare E ntspannung“ (Jaw orski) ein, doch w urden sie endgültig zu einer
A rt „Verhandlungsm asse der deutschen A ußen- und P o len p o litik“ degradiert67.
Zur B ekäm pfung der M inderheit schuf das N S-R egim e den m ilitan t-po len
feindlichen Bund D eutscher O sten, der in der Lausitz auch gegen die Sorben aktiv
w urde68. B erlin erließ darüber hinaus ein „Gesetz über den Schutz der R eichs
grenze und über V ergeltungsm aßnahm en“, das zw ar nicht explizit gegen die M in
derheit gerichtet war, aber fast ausschließlich gegen sie angew endet w urde. Seit
H erbst 1938 w aren dann die M itglieder der polnischen M inderheit nur noch Frei
w ild; es kam zu ständig neuen Ü bergriffen auf E inzelpersonen, E inrichtungen
und V ersam m lungen der Polen. Z ugleich w urden die O stprovinzen von beh ö rdli
cher Seite aus rad ikal germ anisiert; drei Tage nach dem m ilitärischen Ü berfall auf
die R ep ub lik Polen, am 4. Septem ber 1939, erfolgte das Verbot des Bundes der Po
len in D eutschland.
M iroslav H roch schreibt verallgem einernd, daß den liberalen Eliten im Europa
des 19. Jahrhunderts eher an einer A ssim ilierung der M inderheiten gelegen w ar
- sie hätten darin den besten Weg zur bürgerlichen E m anzipation gesehen - , w äh
rend die konservativen Führungsschichten auf die B eibehaltung der sprachlichen
B arrieren gesetzt hätten, selbst um den Preis einiger Z ugeständnisse, etw a in der
Sch ulp o litik69. In diesem stark von der österreichischen E rfahrung beeinflußten
D eutungsversuch verhielten sich politische Term inologie und historische W irk
lich keit beinahe spiegelverkehrt zu unseren heutigen Vorstellungen. Eine liberale
M in derh eitenp o litik setzte sich für die A ufhebung der M inderheit als gesonderter
G ruppe (E ntnationalisierung) und für die A ngleichung ihrer Lebensverhältnisse
an die der T itularnation ein. K onservative w aren dagegen eher bereit, ethnische
B esonderheiten zu tolerieren oder sogar zu fördern, w enn sie sich dafür von deren
Trägern abschotten konnten. Sie w aren an der B ew ahrung ihrer eigenen P rivile
gien stärker interessiert als an einer H om ogenisierung der G esellschaft. D ie A n ge
hörigen der M inderheiten bezahlten den Erhalt ihrer kulturellen E igenständigkeit
m it dem V erzicht auf die M odernisierung und mit dem Verharren im K rähw inkel
oder R eservat70.
D eutet man das H ro ch ’sche M odell nur ein w enig w eiter aus und schem atisiert
es, dann ergeben sich folgende G egensatzpaare:
Politische Ausrichtung M inderheitenpolitik Gesellschaftspolitisches M odell
liberal assim ilatorisch dem okratisch/urban
konservativ tolerant elitär/ländlich
Tatsächlich folgte Italien dem liberalen Vorbild, was insofern nicht verw under
lich ist, als der K onservativism us dort in der Zeit vor 1914 keine auf nationaler
Ebene w ahrnehm bare ku lturelle und politische K raft darstellte71. Von den beiden
H auptström ungen des Risorgimento beschäftigten sich w eder die G em äßigten,
die in der konstitutionell-m onarchischen Tradition des piem ontesischen L ibera
lism us standen, noch die vielfach aus dem Süden stam m enden D em okraten, die
sich überw iegend für eine zentralistisch organisierte R epublik einsetzten, ern st
haft m it dem M inderheitenproblem 72. Im V erständnis der politischen Klasse
Italiens bildeten die ethnisch-nationalen G ruppen bis zum Ersten W eltkrieg einen
w eißen Fleck. Dies hing - sieht man von den bei H roch erw ähnten allgem eineren
G ründen ab - mit der dam aligen V orstellung vom N ationalstaat und von der
Staatsbürgerschaft zusam m en, die unm ittelbar an die N ation alität gebunden war.
Das italienische R isorgim ento exaltierte die R olle der N ation als Subjekt und ließ
keinen R aum für die kulturelle E ntw icklung der kleinen ethnisch-sprachlichen
G ruppen73.
D er reine oder quasi-reine N ationalstaat stellte für viele Italiener den Inbegriff
des F ortschritts dar, w ährend m ultiethnische R eiche w ie das habsburgische in ih
ren A ugen R ückschritt und R eaktion verkörperten74. D ieselbe A uffassung be
herrschte seit 1918 die B eziehungen Italiens zu Südslaw ien und das Verhältnis der
italienischen B evölkerung zur slow enisch-kroatischen M inderheit an der A dria.
D ie Italiener sahen im SFIS-Staat nicht nur einen der vielen juristischen N ach fo l
ger Ö sterreich-U ngarns, sondern auch ein strukturelles A nalogon zur H ab sb ur
germ onarchie75. Piero Parini, Leiter der PN F-A uslandsorganisation, bezeichnete
Jugo slaw ien sogar als „asiatisches“ L and76, eine frühe A ntizipation der N olte-
schen „asiatischen Tat“, unterstellt doch der G ebrauch des W ortes „asiatisch“ in
beiden Fällen, alles G em eine, Rohe und B rutale könne im m er nur aus dem O sten,
in letzter K onsequenz aus A sien stam m en, w ährend der W esten, Europa, grun d
sätzlich der F lort der Z ivilisation sei.
72 C arlo Ghisalberti, D ie Lage der M in d erh eiten im italienischen N ationalstaat, in: Corsini,
Zaffi, M in d e rh e ite n 2 7 - 3 8 , hier 29; im fo lg enden zitiert: Ghisalberti, L age der M in d erh eiten .
73 Ghisalberti, L age d er M in d erh eiten 27. Seit 1866 gehö rten bere its die sogenan nten „Vene
zia nischen S lo w e n e n “ in einigen T älern der P r o v in z U d i n e (Vielem) zu Italien; es handelte
sich u m eh em a lige U n te rta n e n der Serenissima, deren Sie dlun gsge b ie te m it dem lo m b a r d o -
venetischen K ö nig reich an Ö sterreich u n d da n n an Italien fielen. Die zeitgenössische L it e
ratur b ekla gt die d esolate Lage die ser B e v ö lk e r u n g s g r u p p e , der von Staats w eg en jeglich e
M in d erh eiten rech te versagt blieben. D a die S ituatio n d e r Beneski slovenci nie G egenstand
in tern ation aler V erträge w ar, u n t e r n a h m die italien isch e R e g ie r u n g w en ig , sie zu verbessern.
74 D ie triestin er N a tio n a llib e ra le n b auten den R is o r g im e n to T r r e d e n tis m u s zu einem k o m
pletten w eltan sch a ulich en S ys tem aus. A u c h hier ve rqu ic kten sich, ähnlich w ie im Falle der
M m d e r h e ite n lo b b y im D eu tschlan d nach 1918, n ationalistische un d univ ersalistische M o
tive. V gl. A nna M illo, L’elite d el potere a Trieste. U n a b iografia collettiv a 1891-1938 (M ila n o
1989).
7:1 Vgl. syn th etisc h R olf Wörsdörfer, Zw isc he n Karst un d A dria. E n tnatio nalis ie run g, U m
sie dlung u n d V ertreibu ng in D alm atien , Istrien und J u lis c h Venetien (192 7-195 4), in: R obert
Streibel (H rsg.), F lu c h t u n d Vertreibung. Z w isc he n A u fr e c h n u n g un d V erd rä n gu n g (W ien
1994) 92 -1 3 3 . Sie he auch Milica Kacin Wohin?., J o i e Pirjevec, S toria d egli slo veni in Italia
1866-1998 (Venezia 1998); im fo lgend en zitiert: Kacin Wohinz, Pirjevec, Storia d egli slo veni;
Pavel Stranj, La c o m u m t ä som m ersa. Slo veni in Italia dalla A alia 2 ( Trieste 1992).
76 Die F o r m u lie ru n g findet sich in einem A r tik e l Parinis z u r dalm a tin isch en Frage, der 1928
in der Z eitschrif t II Legionario erschien. V gl. D eu ts c h e B otschaft R o m an A u s w ä r tig e s A m t ,
25. 7. 1928, in: P A A A , A bt. II, Politische B e z ie h u n g e n z w is c h e n Italien und J u g o s la w ie n ,
R 72801.
200 R o lf W ö rs d ö rfe r
D ie 20er und 30er Jahre standen an der nordöstlichen A dria zunächst im Zei
chen einer radikalen E ntnationalisierungspolitik, über die die Lageberichte des
N ationalitätenkongresses85 und die Bücher des T riestiner Slow enen Lavo C er-
m elj86 meist zuverlässig A uskunft geben (u .a. Schule, V erw altung, Ju stiz, Kirche,
Presse, Eigennam en, T oponym e). In der zw eiten H älfte der 20er Jah re traten im
Karst und im Isonzotal bew affnete G ruppen auf, die sich m it A nschlägen gegen
das Vorgehen der italienischen Behörden zur W ehr setzten. M ilitärisch stellten die
nach irischem Vorbild operierenden K am pfgruppen der O rjuna, T IG R und Borba
keine große G efahr dar; sie blieben trotzdem ein Stachel im Fleisch des Regim es,
w eil sie dem zivilen W iderstand der Jugen d kulturb ew egu ng, der K atholiken und
K om m unisten zu m ehr P ub lizität verhalfen. A uf die Venezia G iulia regnete eine
R epression herab, die sich in m assenhaften Festnahm en und K onfinierungen, in
Sondergerichtsprozessen m it T odesurteilen äußerte. Von M ussolini selbst ist be
kannt, w ie nervös er in den 30er Jah ren auf die N achrichten aus der nordöstlichen
G renzregion reagierte87.
W enig richtete gegen die slaw ische O pposition eine P o litik der öffentlichen A r
beiten aus, auch w enn sich im m er w ied er H inw eise auf einzelne Slow enen oder
K roaten finden, die die H offnung auf den sozialen A ufstieg veranlaßte, m it dem
R egim e zusam m enzuarbeiten. Das regionale E ntw icklungsm odell der Faschisten,
das man pointiert m it „G renzlandfaschism us = A ssim ilation plus B ew ässerung
plus E lektrifizierun g“ um schreiben könnte, blieb in den ersten A nsätzen stecken.
D ie E ntnationalisierungspolitik w ar nur dort erfolgreich, w o Slow enen und
Kroaten einen sehr geringen A nteil der G esam tbevölkerung darstellten, etw a in
den K üstenstädten Istriens. Ein K ontinuitätsfaden gegenüber der liberalen A ra
blieb gew ahrt: D ie Faschisten traten zugleich als (nicht sehr effiziente) M oderni-
sierer und als A ssim ilatoren auf88.
Im F rühjahr 1941 w urde Italiens östliche G renzregion zum A ufm arschgebiet
für den Krieg der A chsenm ächte gegen Jugo slaw ien . N ach dem Sturz M ussolinis
und der K apitulation Italiens schuf N S-D eutschland im Septem ber 1943 die O pe
rationszone A driatisches K üstenland, deren V erw altung der N SD A P -G auleiter
von Kärnten übernahm 89. A n die Spitze des R epressionsapparats trat ein aus dem
K ärntner „A bw ehrkam pf“ hervorgegangener und zuletzt aus Polen herbeigerufe
ner SS-Funktionär, der zu den größten M assenm ördern des 20. Jahrhunderts
zählt: O dilo G lobocnik90.
85 E w ald Ammende (H rsg.), D ie N a tio n a litä ten in den Staaten Europas. S a m m lu n g von L a
geberichten (W ie n , L e ip z ig 1931).
S6 V gl. vor allem Cerm elj, Slo veni e croati.
87 Vgl. den A b s c h n itt „E ntnatio nalisierun g u n d W id e r s t a n d “ m ein er M o n o g r a p h ie ü b e r die
M in d e r h e it e n p ro b le m a tik im n ordö stlich en A d r ia ra u m .
88 Vgl. S. Bon G h era rdi , L. Lubiana, A. Millo, L’ Istria fra le due guerre. C o n t r ib u t i per una
storia sociale ( R o m a 1985).
89 K arl Stuhlpfarrer, D ie O p er a tio n s z o n e n A lp e n v o r la n d un d A driatisch es K üstenland
(W ien 1969); Enzo C ollotti , II L ito rale adriatico nel nuo vo o rd ine eu ro peo 1 9 43-19 45 ( M i
lano 1974); G alliano Fogar, Trieste in gu erra 1940-1945. S ocie tä e R esis ten za (Trieste 1999).
90 Vgl. S ieg fried J . P ucher, .. in der B e w e g u n g fü hrend tä tig “. O d ilo G lo bo cn ik - K äm pfer
N a tio n a ls ta a t un d ethnische G ru p p e n in D eu tschlan d und Italien 203
Die Behandlung der Polen, Slow enen und Kroaten, darüber hinaus aber auch die
der hier eher beiläufig erw ähnten D änen91, Sorben92, A ostaner93 und Südtiroler
belegt, daß D eutschland und Italien in alternierenden Perioden auf die friedliche
A ssim ilation, die gew altsam e E ntnationalisierung und - w ie noch zu zeigen sein
w ird - die D eportation und die U m siedlung der M inderheiten setzten. D ie N atio
nalitäten p o litik Preußens bis 1918 und die M in derh eitenp o litik Italiens bis 1922
wiesen eine R eihe struktureller G em einsam keiten auf, obw ohl es ersterer m ehr
um die B esitzstandsw ahrung und letzterer m ehr um die A blösung vom m ulti
ethnischen R eichsgedanken und um die V ollendung des Risorgimento ging. D ie
U nterschiede w aren nur graduell, da auch Preußen nach 1871 den M inderheiten
gegenüber repressiver auftrat als in den Jahren vor der R eichseinigung.
Im krisengeschüttelten liberalen Italien der Jah re vor dem „M arsch auf R om “
w urden sehr unterschiedliche m inderheitenpolitische Konzepte diskutiert. Das
faschistische R egim e hatte dagegen von Beginn an w en ig Interesse, sich im euro
päischen M aßstab für die W ahrung von M inderheitenrechten einzusetzen. A llen
falls nutzte es die G elegenheit, den südslaw ischen N achbarstaat durch die Förde
rung separatistischer B ew egungen (U stasa, V M R O ) zu destabilisieren94. D em ge
genüber w ar D eutschland in den 20er Jah ren in ganz Europa als m inderheiten
freundliche M acht angesehen, auch w enn die Bereitschaft, den Polen, D änen und
Sorben im eigenen Lande entgegenzukom m en, begrenzt blieb.
Man kann für die 20er Jah re w eder im deutschen noch im italienischen Falle
von einem einheitlichen W illen der T itularnation und ihrer O rgane zu r A bw ehr
bzw. N iederh altun g der M inderheiten im eigenen Lande ausgehen. Elem ente der
P o lykratie, etw a der G egensatz zw ischen R eichs- und Länderregierungen, zw i-
fiir den A n s c h lu ß , V oll streck er des H o lo c a u s t (K lagenfurt, C e lo vec 1997); Maurice Williams,
Friedrich R a in e r e O d ilo G lo b o cn ik. L’a m icizia in solita e i ruo li sinistri di d ue n azisti tipici,
in: Q ua le sto ria , Nr. 1 (1997) 141 —175.
91 Jorgen K ü h l, D ie dänisch e M in d e r h e it in P re uße n u n d im D eu tsc he n R eich 18 64-1914, in:
Hahn, Kunze, N a tio n a le M in d e r h e it e n 12 1-132; Lorenz R er up, T h e D anes in Sch le sw ig
from the N a tio n a l A w a k e n in g to 1933, in: Andreas Kappeler (H rs g.) in Z u s a m m en a rb e it mit
Fikret A d an ir un d Alain O ’Day, T h e F o rm a tio n of N a tio n a l Elites ( N e w Y o rk U n iv e r s it y
Press C o m p a r a t iv e Studie s on G o v ern m e n ts and N o n - d o m in a n t Ethnie G rou ps in Euro pe,
1850-1940, Bd. 6, D a r tm o u t h 1992) 2 2 5 - 2 5 3 ; Joh an Peter Noack, D et danske m in d reta l i
S yd sle svig 19 20-1945, 2 B än de (A a rh u s 1989).
92 A leksandr A. Gugnin, D ie nationale B e w e g u n g d e r Sorben im sla w isc h -d eu tsc h e n K o n
text, in: Michael G. Müller, O steu ro p ä isch e G esch ic hte in vergle ic hender Sicht (B erlin er
Jah rbu ch fü r O s teu o p ä is ch e G eschic hte, 1996/1) 2 6 7 -2 7 2 , im folgenden zitiert Müller, O s t
euro päische G eschic hte; R oland M arti, D ie Sorb en - Prü fstein un d Exp erim entie rfeld für
N a tio n a litä ten p o litik , in: E u ro p a ethnica 1 (1992), 13—36; Peter Kunze, A u s der G esch ic hte
der L a u s itz e r S orben, in: Dietrich Scholze (H rsg.), D ie Sorb en in D eutschland. S ie ben K a p i
tel K ulturge sc hich te (B a u tze n 1993) 7-5 5.
93 Titllio O m ezzoli, Prefetti e fascism o nella p rovinc ia d ’ A osta 1926-1945 (A o sta 1999).
94 Stefan Troehst, N a tio n a lis m u s un d G ew a lt im O s te u ro p a d e r Z w isc h e n krie gszeit. T erro
ristische Sep aratism en im Vergleich, in: Müller, O s t eu ro p ä is ch e G eschic hte 2 7 3-314 .
204 R o lf W ö rs d ö r fe r
95 M ich a el G arleff, „P aul Sch ie m an ns M in d erh eiten th eo rie als B eitrag z u r L ö s u n g der N a
tio n a litäte n fra ge“, in: Zeitschrift für O s tfo rsc h u n g, 25. Jg., H e ft 4 (1976) 63 2-660.
% V gl. Wörsdörfer, K rise n h erd A d r ia 278.
97 M a n c h e K o n ze p tio n e n der M in d e rh e ite n p o litik , die w eit ü b e r d en Z w eiten W eltk rie g
hin aus in der S ü d tiro le r V olk spartei (SVP) un d in d er Fö d erativ en U n io n E u rop äis ch er
V o lk sgrup p e n (F U E V ) einflu ßreic h blieben, s ta m m en aus d ieser Zeit.
98 Vgl. W olfgan g Schiedet, Das italienische E xperim ent. D er F aschism us als Vorbild in der
Krise d e r W e im a re r R e p u b lik , in: H Z 262 (1996) 73 -1 2 5 , hier v o r allem 110—114.
N a tio n a ls ta a t un d ethnische G ru p p e n in D eu tschla n d und Italien 205
99 Eugen Lem berg, Geschic hte des N a tio n a lis m u s in E u ro p a (Stu ttgart 1950) 235.
100 Max Dom arus, Hitler. R eden u n d P r o k la m a tio n e n . Bd. 1: 1932-1938 ( W ü r z b u r g 1962)
27, hier zitiert nach Jaw orski, Po ln isch e G r e n z m in d e r h e it 67.
101 Valdis O. Lumans, H im m le r ’s A ux ilia rie s. T h e V olk sdeutsche M ittelstelle and the G e r
man M in o r ities of E urop e ( C h a p e l H ill, L o n d o n 1993).
102 D er N a tio n a litä te n k o n g r e ß , nach 1933 o hn eh in n u r noch ein To rso, w eigerte sich zu m
Beispiel auch, die Basken gegen die U n t e r d r ü c k u n g durc h Fran co -S pa n ien zu un terstützen .
206 R o lf W ö rs d ö r fe r
um zusiedeln, sondern sie zu vernichten - aus dem Ethnozid w ar ein G enozid ge
w o rd en 103.
N ach 1945 hat die M in derh eitenp o litik in D eutschland w ie in Italien eine an
dere W ertigkeit bekom m en. D eutschland verlor m it den ostelbischen Polen seine
größte bodenständige M in o rität, Italiens slaw ische border-m inority w urde durch
die A btretung großer Teile Julisch Venetiens an Jugo slaw ien (Slow enien und
Kroatien) dezim iert. An vielen O rten in O steuropa und auf dem Balkan ver
schw anden die deutschen und italienischen Sprachinseln; die B RD , die D D R und
Italien m ußten in den 40er und 50er Jah ren in unterschiedlichem A usm aß V ertrie
bene und Exilanten aufnehm en, hinzu kam en in den folgenden Jahrzehnten soge
nannte Spätaussiedler. Ist die B edeutung der autochthonen M inderheiten z u rü ck
gegangen, so stellen der w eltw eite M arkt für A rbeitskräfte und der F lü chtlin gs
strom aus K riegs- und K risenregionen beide Länder vor neue H erausforderun
gen, die m it denen der traditionellen M inderheitenproblem atik vergleichbar, aber
nicht gleichzusetzen sin d 104.
Abkürzungen:
A bt. A b t e ilu n g
ACS A r c h iv io centrale dello Stato
ASM AE A rch iv io s to ric o -d ip lo m a tico del M in is tero degli affari esteri
O r ju n a O r g a n iz a c ija ju g o slo v a n s k ih n acio nalis to v
HZ H isto risc h e Z eitschrift
PAAA Politisches A rc h iv des A u s w ä r tig e n A m ts
PCM Pre sid en za del C o n s ig lio dei m in istri
T IG R T rst- Istr a - G o r ic a - R ije k a
VDA Verein für das D e u ts c h tu m im A u s la n d
VMRO V n atresn a m a k e d o n s k a r e v o lu c io n a rn a organizacija
Brunello Mantelli
Rassismus als wissenschaftliche W elterklärung
U ber die tiefen kulturellen W urzeln von Rassismus und
Antisemitismus in Italien und anderswo"'
Seit dem 1. Septem ber 1938 w urde die kleine jüdische G em einde in Italien, die
nach der von der faschistischen R egierung am 22. A ugust des Jahres durchgeführ
ten Z ählung nur 48000 einheim ische und 10000 A usländer um faßte1, durch G e
setze, V erw altungsanordnungen und -rundschreiben m it einer Flut von B estim
m ungen überschw em m t. Ihre M itglied er w urden dadurch von vollberechtigten
B ürgern (sow eit man diesen Begriff in einem faschistischen Staat überhaupt ge
brauchen kann) zusehends zu Bew ohnern eines ihnen im m er feindlicher gegen
übertretenden Landes. Im G egensatz zu einer ebenso irrigen w ie w eitverbreiteten
V orstellung2 w aren die vom m onarchisch-faschistischen Italien beschlossenen
antisem itischen M aßnahm en alles andere als gem äßigt, sondern - zum Z eitpunkt
ihres Inkrafttretens - rad ikaler als die im nationalsozialistischen D eutschland geh
tenden B estim m ungen3.
Die E ntstehung der M aßnahm en von 1938 und der später noch folgenden
w urd e bisher im w esentlichen unter politischen G esichtspunkten analysiert.
D em nach habe M ussolini die antisem itischen M aßnahm en ergriffen, w eil er davon
überzeugt war, daß es „zur Festigung des italienisch-deutschen Bündnisses n o t
w endig sei, jeden offenen Kontrast zw ischen der P o litik der beiden R egim e besei
tigen zu m üssen“4. Im Kern bedeutet dies: „Der rassische A ntisem itism us [sei]
keine logische Folge des faschistischen C redos [gewesen, sondern] eine logische
Konsequenz der A chsenpolitik. Es [habe sich] nur insofern um eine dem Faschis
mus innew ohnende Tendenz [gehandelt], als der Stahlpakt den im perialen Plänen
des Faschism us entsprach.“5
D ie Präm isse einer derartigen These ist die A nnahm e, den M aßnahm en hätten
keine antisem itischen M otive zugrunde gelegen, die in Italien „kaum verbreitet
w aren “, und führt dann zu der B ehauptung, der Faschism us habe m it den an ti
jüdischen M aßnahm en von 1938 öffentlich seine Trennung vom „vom italien i
schen Volk, seiner M en talität, seinen Traditionen und seiner G eschichte“6 v o llzo
gen. Denn:
„P sych e u n d K ultur des einfachen Volkes in Italien kennen n icht einm al in ih rer k le in b ü r g e r
lichsten u n d p ro v in ziellste n A u s p rä g u n g rassistische V erh etzu n g u nd R assism us. Beides w a r
nicht n ur u n b e k a n n t, s on dern nicht einm al im K eim v o rhan den . . . D ie italienische K ultur
un d, üb er den rein k u ltu r e lle n A sp e k t hinaus, auch die form a mentis der Italiener ist u n d w a r
e n t w e d e r im w esentlich en katholisch o d er aber laizistisch, beides H a ltu n g e n , die d em R a s s is
m us en tgeg en steh en .“7
D abei hatte der Faschism us bereits vor der E inführung der antisem itischen M aß
nahm en des Jahres 1938 den B eweis m ilitanten R assism us von Staats wegen
3 V gl. Michele Sarfatti, Gli ebrei negli anni del fascismo, in: C orrado Vivanti, Gli eb rei in Ita
lia (Turin 1997 = Storia d ’ Italia E inaudi, A n n a li 11) 1680; im fo lgenden zitiert: Sarfatti, in:
Vivanti, G li ebrei in Italia; ausführlicher: ders., G li ebrei n ell’ Italia fascista (Turin 2000) 143;
im fo lgenden zitiert: Sarfatti, Gli ebrei. D e r U m s ta n d w u r d e s o w o h l von zeitgenössischen
Beo b a ch te rn h ervo rgeho ben (vgl. Guido Ludovico Luzzatto, Scritti politici. E b raism o cd an-
tis em itis m o [M a ila n d 1996] 83), als auch von den italien isch en Tageszeitungen in ihren K o m
m entaren ü b e r die M a ß n a h m e n der R e g ie r u n g h ervo rge h o b e n u n d sogar vom „V ölkischen
B e o b a ch te r“ in seiner A u s g a b e v o m 25. O k to b e r 1938.
4 De Felice, S toria d egli eb rei 286,
5 Michaelis, M u s s o lin i 393.
6 De Felice, Storia degli eb rei 23 f. u n d X X X V I.
7 Ebd. 3 0 f. W ie man sieht, w ir d h ier w ie d e r einm al der klassische Topos des „guten Italie
ners“ v o rgetragen. Vgl. d a zu: D a v id Bidussa, 11 m ito del bravo italiano (M a ila n d 1994),
M e r k w ü r d i g ist nicht z u letz t die B e h a u p tu n g , K a th o lizis m u s u n d L a izism u s seien im m u n
gegen R assism us, allerdin gs m it der E in s c h r ä n k u n g „in d e r hiesigen E rschein ungsform
(S. 31), d . h . in Italien. D ie W u r z e ln des R a ssism u s m ü ß ten d a h e r a n d e r s w o zu suchen sein,
w o aber genau, w ir d nicht gesagt (es läßt sich je d o c h im A u s sc h lu ß v erfah re n ve rm u ten , im
Pro testa n tism u s und d er R efo rm a tio n ...) .
R assism us als w issenschaftliche W elte r k lä r u n g 209
erbracht. 1937 w urde eine R eihe von gesetzlichen B estim m ungen erlassen, die
H eiraten und jede Form von festen sexuellen B eziehungen zw ischen italienischen
B ürgern und U ntertanen in den K olonien L ib yen , Eritrea und dem gerade 1936
eroberten Ä thiopien verbot und dort als eine A rt V orläufer der A p arth eid8 ein R e
gim e strik ter R assentrennung errichtete. A uch in diesem Fall galt allerdings lange
Zeit eine rein politische Lesart des R assism us der faschistischen K olonialpolitik:
„D as R ass e n p r o b le m begann M u s s o lin i von dem A u g e n b lic k an zu interessie ren, als er ein
impero zu schaffen beschlo ssen hatte. . . . W ä h re n d des Ä th io p ien fe ld zu g s w u r d e die N o t
w e n d ig k e it eines .italienischen R a ss e n b e w u ß ts e in s “ für den D uce zu einer regelr echten
O b session. In d er z w e it e n H älf te des Ja h res 1936 . . . n ah m die rassistische P ro p a g a n d a in der
faschistischen Presse a ll m äh lich die A u s m a ß e einer regelr echten K am pagn e an.“9
U nter diesen V oraussetzungen w ird die unzw eifelhafte Tatsache, daß der faschi
stische R assism us10 und A ntisem itism us bei den italienischen 'W issenschaftlern
auf Z ustim m ung stieß, sehr häufig kleingeschrieben und, wenn er nicht zu leug
nen ist, m it K ategorien w ie dem O pportunism us und K arrierism us einzelner
erklärt. D ieselbe L inie w urd e bekannterm aßen lange Zeit im Fall D eutschlands
verfolgt:
„Seit 1945 gibt es in d e r Zeitgeschichte des O s tb lo c k s u n d des Westens w ie auch in der W is
senschaftsgeschichte die Tendenz, R a sse nthe orien u n d R a sse n id e o lo g ien hau ptsäch lich als
die T ä tig k e it vo n am R a n d e stehenden p olitisch en Extrem isten o der .P seu do-W issen sch aft-
le rn ‘ z u b etrachten. Im d em o k ra tis ch en L ager w a r W issen schaft s y n o n y m mit D em o k r a tie
oder w en ig sten s m it A p o litis m u s . . . Im R a h m e n d ieser .apolitical id e o lo g y of scien ce1 - w ie
s Vgl. Angelo D el Boca, Le leggi razziali n elF im pero d i M u s s o lin i, in: Ders., Massimo Leg-
nani, M ario G. Rossi (H rsg.), II regim e fascista. Storia e sto rio grafia (R o m , Bari 1995); vgl.
auch die kritische, in fo rm ative Ü b ersic ht: Nicola Labanca, Il ra z z is m o colo niale italiano, in:
Alberto Burgio ( H rs g .), N el n o m e della razza. II ra z z is m o nella storia d ’ lta lia 1870-1945 (B o
lo gna 1999) 1 4 5-163 ; im folgenden zitiert: Burgio, N el n o m e della razza.
9 Michaelis, M u s s o lin i 124 f. D ie gleiche Positio n n im m t D e Felice, S toria degli ebrei 2 8 0 f.
ein. Im G egensatz d a zu hat Sarfatti, M u sso lin i, a.a.O ., den Z u s a m m en h a n g zw ischen k o l o
niale m R a ssism u s u n d A ntis em itis m u s un terstric hen. In einem spätere n B eitrag k o m m t er zu
der „ Ü b e r z e u g u n g , d a ß in der z w e iten H ä lfte der d re iß ige r J a h re in Italien ein, w e n n auch
ko nfuser u n d un einh eitlic he r P r o z e ß d er E rrich tu n g eines .rassistischen S taates“ in G a n g ge
setzt w u r d e . “ (II ra z z is m o fascista nella sua co n cretezza: la defin iz ion e „ebreo “ e la colloca-
zione di questi nella co s tru en d a g e rarch ia razziale, in: Burgio, N cl nom e della r a zza 327).
10 Im H in b lic k auf den ko m p le x en begrifflic hen Z u s a m m e n h a n g zw isc h e n R assism us un d
A ntis em itis m us teile ich vö ll ig die A n s ic h t M ic h e le Sarfattis: „Es existiert s o w o h l d e r A n t i
sem itism us als auch d e r R a ssism us, ja ge n a u er gesagt: d ie A n tis em itis m en u n d die R assism en ,
m anchm al m ite in a n d e r verm ischt, m anchm al u n a b h ä n g ig vo nein ander. M a n darf deshalb den
A ntisem itism us nicht n u r als Teil des R a ssism us, son dern man m u ß ihn als auto n o m b e tra c h
ten. (Michele Sarfatti, Il ra z z is m o fascista nella sua co n cretezza, a.a.O. 321).
210 Bru nello M an te lli
der a m erik a n isc h e W issen sc haftsh isto rik er M a r k W a lter cs nennt - entstand w eitgeh en d e
Ü b e r e in st im m u n g : .G u te W is s en sc h a ft“ und .schlechte P o litik' schlo ssen einan der aus. Ein
.echter N a z i' k ö nn te som it nie ein gu te r W is sen schaftler s e i n . " 11
lu ng dieses Sachverhalts b esch ränk t un d nicht w e ite r danach gefragt, was vo rher un d nachher
geschehen ist. Es w u r d e nicht danach gefragt, ob dieses M an ifest E n d p u n k t der V orbereitung
einer R a ss e n k a m p a g n e sein kö nn te, in der w is sen schaftliche Kreise eine besondere R o lle g e
spielt hatten. Es w u r d e nicht danach gefragt, w ie stark d er R a ssism u s in die sen Kreisen p r ä
sent w a r u n d w elch e K o n s eq u e n ze n die V erfolg un g h atte.“ 14
D abei deuteten eine R eihe von Indizien in diese R ichtung. Schon am 9. Ju li 1938
w ar im Innenm inisterium eine G eneraldirektion für D em ographie und Rasse (D i-
rezione generale per la dem ografia e la razza, norm alerw eise ab gekürzt als D em o-
razza) eingerichtet w orden, die als erste A m tshandlung in großer Eile eine allge
m eine E rhebung über die in Italien ansässigen Juden durchführte. Die D em orazza
entstand nicht ex novo, sondern w urde aus dem bereits existierenden, dem M in i
sterium beigeordneten zentralen dem ographischen Institut (U fficio dem ografico
centrale) gebildet. Schon allein diese Tatsache erlaubt die H ypothese, daß eine
V erbindung zw ischen R assism us und D em ographie bestand, einer D iszip lin , die
keinesw egs auf den akadem ischen R aum beschränkt blieb, sondern das Innenm i
nisterium als eine Schlüsselinstitution des m odernen Staates b etraf15. D esw egen
gehörte ja Francesco Savorgnan zu den U nterzeichnern des genannten M anifests.
D ie V erbindung zw ischen R assenpolitik und akadem ischer Welt erscheint noch
enger, w enn man in B etracht zieht, daß die M itglied er des am 5. Septem ber im In
nenm inisterium eingerichteten O bersten R ates für D em ographie und Rasse (C o n -
siglio superiore per la dem ografia e razza) fast ausschließlich renom m ierte W is
senschaftler w are n 16.
20 A ls N a tio n a lis t u n d frü her Vertreter des A n tis em itis m u s w u r d e Prezio si schon 1920 zu m
A n h ä n ge r d er Faschisten u n d repräsentierte in nerhalb des P N F un d des R egim e s die anti
jüdische Positio n, die z w a r la n ge Zeit in d e r M in d e r h e it blieb, aber zie m lich a ktiv u n d la u t
stark auftrat.
21 Vgl. Israel, Nastasi, S cien za e r a zza 223.
22 Dies gilt g an z offensic htlich auch für den A n tis em itis m u s des nation alsozialistisch en S ta a
tes, d er häufig fälschlicherw eise für ko h ä r e n t gehalten w ird . V gl. z u r H e r a u s b ild u n g der
kom ple xen D efinition des „ J u d en “ im D ritte n Reich: R aul H ilberg, Die V ern ich tu n g d er e u
ropäischen J u d e n ( F ra n k fu rt a.M . 1993) 69 ff.
23 Hans M o m m se n , D ie R ea lis ieru n g des U to pis chen: die „ E ndlö sun g d e r J u d e n f r a g e “ im
„D ritten R e ic h “ , in: G esch ic hte un d Gesellschaft 9 (1983) 38 1-420 .
214 B r u n e llo M antetli
3.1 Die erste Phase: Von der Einigung Italiens bis zum Libyenkrieg
Im Jah r 1889 veröffentlichte G iuseppe Sergi, der als G ründer der italienischen
A nthropologie gilt und an der U niversität R om lehrte, den Band Le degenerazioni
umane (D ie m enschlichen D egenerationserscheinungen)25. A usgehend von einer
D arw inschen K onzeption, die sich auch stark an die U ntersuchungen von Francis
G alton26 anlehnt, b eklagt der Forscher, daß die n atürliche A uslese in der m ensch
lichen G esellschaft auf viele H indernisse stoße, w eshalb viele „D egenerierte“
überleben und - was von entscheidender B edeutung sei - auf ihre N achkom m en
schaft A nom alien, Schw ächen und A bw eichungen übertragen könnten. Jeder Ka
tegorie von „D egenerierten“ w id m et Sergi ein eigenes K apitel und führt den Leser
durch eine G alerie von T ypisierungen: die V errückten, die Selbstm örder, die K ri
m inellen, die Prostituierten, die Knechte und K nechtischen, die Landstreicher
und B ettler und die Schm arotzer. D am it w urden alle G estalten, die die Stabilität
der G esellschaft der B ürger und R echtdenkenden bedrohten, w ie sie den Eliten
der Zeit so sehr am H erzen lag, unter die allgem eine K ategorie der D egeneration
subsum iert. Bei der E rörterung der Frage, w as m it diesen M enschen zu geschehen
24 Roberto Maiocchi, Scienza italiana e ra zzis m o fascista (F lo ren z 1999) 7 (die ku rsive H e r
v o rh e b u n g von mir); im folg enden zitiert: Maiocchi, S cien za italiana.
25 C laudio Pogliano, E ugenisti, m a con giudizio, in: Burgio, N el n om e della r a z z a 423-442.
26 Zu G alton vgl. G u n n ar Schmid, Francis Galton: M e n s c h e n p r o d u k tio n zw isc h e n Technik
u n d F iktio n, in: Kaupen-H aas, W issen schaftlicher R a ss is m u s 345-367 .
R assis m us als w issenschaftliche W e lte rk läru n g 215
habe, liegt der A kzen t vor allem auf präventiven M aßnahm en in einer Form , die
dann für die italienische E ugenik typisch w ird. M an unterstreicht die N o tw en dig
keit der V erbesserung der Rasse durch Sozial- und U m w elth ygiene, man p ro kla
m iert die Z w eckm äßigkeit, diejenigen, die nicht für sich selbst sorgen können, zu
unterstützen, und verlangt gleich zeitig ein drakonisches Vorgehen gegen die „De
generierten“, die in ihrem krim inellen und asozialen Leben fortfahren und eine
Besserung ablehnen. In diesem Fall, so äußert sich Sergi, m üßten diese M enschen
zur A rbeit gezw ungen und an der Fortpflanzung gehindert werden.
D iese letztere These w urde zw ar von W issenschaftlern, die den laizistischen
Parteien und den Sozialisten bzw. der katholischen Kirche nahestanden, heftig
d iskutiert und kritisiert, sie w urde aber in den folgenden Jah ren von dem K rim i
nologen und P sych iater A ngelo Z uccarelli m ehrm als w ieder aufgegriffen, denn er
vertrat die These, die Sterilisierung von erblich B elasteten und D egenerierten sei
„vorbeugend, w irkun gsvo ll und rad ik al“27.
Den eigentlichen A ufschw ung der E ugenetik in Italien löste ein internationales
Ereignis aus, näm lich der erste internationale K ongreß für E ugenetik, der im Ju li
1912 unter dem Vorsitz von Leonard D arw in stattfand. A n diesem K ongreß nahm
nicht nur eine große und hochkarätige D elegation italienischer W issenschaftler
teil28, w ich tiger noch w ar das nachhaltige Echo der V eranstaltung in Italien. Im
selben Jah r w urde an der U niversität G enua der erste Lehrstuhl für soziale Euge
netik eingerichtet und m it Serafino Patellani besetzt, der später die berühm ten A r
tikel M endels über die Vererbung kö rperlicher M erkm ale übersetzte29. A ußerdem
richtete die von G iuseppe Sergi gegründete R öm ische A nthropologische G esell
schaft ein K om itee für eugenetische Studien (C om itato per gli studi eugenetici)
ein.
Zu den M itgliedern der italienischen D elegation in London gehörte auch C o r-
rado G ini, der führende Statistiker Italiens und G ründer des ISTAT, dessen D irek
tor und Präsident er bis zu seiner A blösung durch Savorgnan im Jah re 1932 blieb.
1935 rief er an der U niversität Rom die erste italienische F akultät für Statistik, D e
m ographie und V ersicherungsm athem atik ins Leben. In einem A ufsatz, den Gini
in dem entscheidenden Jah r 1912 veröffentlichte, vertrat er die A nsicht, die D e
m ographie sei der eigentliche M otor der G eschichte. In seiner Sichtw eise w ird die
27 A ngelo Z uccarelli , Profilassi sociale. A se ss u a liz z a z io n e e ste riliz z a z io n e dei deg en erati, in:
L’A n o m a lo 9 (1898) 186-189, zit. nach: P oglia n o, Eugenisti, a.a.O. 427.
28 M itg lie d e r der D ele ga tio n w a r e n R affaele G arofano (S ch üle r L o m b ro so s, K rim in ologe
und D o ze n t für S trafrecht un d S tra fp r o z e ß o r d n u n g an d er U n ive rsitä t N eap el), C o rr a d o
Gini (s.u.), V in cenzo G iu f f r id a -R u g g e n (ein r e n o m m ie rte r A n th ro p o lo g e ), A ch ille L oria
(Professor für Politische Ö k o n o m ie an d er U n iv e r s itä t Padu a), A n to n io M a r r o (Schüle r
L om brosos, P s y ch ia ter un d D ir e k t o r des K önig lichen Irrenh auses von Turin un d C o llegn o ),
der So zio lo ge und Po lito lo ge R o b e r t M ichels (der bereits die italienische Staatsbürgerschaft
besaß), Enric o M o rse lli (P syc h ia te r u n d A n th r o p o lo g e , D ire k t o r des Irrenhauses in Genua),
A lfredo N icefo ro (S ch üle r L o m b ro so s, P ro fesso r für S tatistik an der U n iv e r s itä t R o m ) und
der bereits e r w ä h n te G iuse p p e Sergi.
29 Serafino P atellani , G rego rio M e n de l e l ’opera sua, in: II M o rg a g n i 56 (1914).
216 Bru nello M antelli
hunderts) mit ein, in denen er die rassisch m inderw ertige langschädlige Kopfform
in den süditalienischen G ebieten nachgewiesen hatte34.
M it geringerer w issenschaftlicher E xaktheit, aber größerem narrativen Pathos
erzählte der gebildete piem ontesische O ffizier A lessandro Bianco di Saint Jo rio z
in seinen E rinnerungen, daß man sich im Süden „unter einer B evölkerung befin
det, die zw ar in Italien lebt und in Italien geboren ist und doch zu prim itiven
Stäm m en A frikas zu gehören scheint ..., b lutrünstige und beutegierige Bestien,
nicht nach dem E benbild Gottes erschaffene M enschen“35.
Den gleichen A nsatz verfolgte A lfredo N iceforo, einer der w ichtigsten Schüler
Lom brosos, von dem anläßlich der Londoner Konferenz 1912 die R ede war. In
seinem Buch La delinquenza in Sardegna11’ erklärt der K rim inologe und Statisti
k er den hohen P rozentsatz von V erbrechensfällen im Innern der Insel (die von
ihm einfach „Zone des V erbrechens“ genannt w ird) als eine angeborene E igen
schaft der „Rasse der B evölkerung dieser O rte, einer Rasse, der jene Form barkeit
vollkom m en fehlt, die zu r V eränderung und E ntw icklung des m oralischen B e
w ußtseins füh rt“37. D ie These von den „zw ei Italien “ w urde von N iceforo auch in
seinen späteren A rbeiten L’Italia barbara contemporanea. Studi e appunti^ und
Itahani del Nord e Italiani del Sud 39 w ieder aufgegriffen, auch w enn in d ie
sem letzteren Text neben anthropologisch-biologische R assetheorien anthro-
p o lo gisch -kulturelle Sichtw eisen treten, die sich auf den Begriff der N ation stü t
zen:
„Es gibt also zw e i un tersch ie dlic he Italien u n d italienische Rassen: eine lateinische im Süden
und eine germ an isch e im N o rd e n . . . Es gibt jedoch k ein en Z w eif el daran, daß d e r Geist der
N ation u n a b h ä n g ig von R a sse nu ntersc hie d en existiert. W enn ein Siz ilia n er u n d ein P iem on -
tese auch u n tersch ie dlic he n R assen a ng eh ören, sind sie sich d o ch in ih rem nation ale n B e
w ußtsein ähnlich. Das nationale B e w u ß ts e in , das ü b er au s le bendige G efühl b r ü d e rlic h e r V er
b un den heit desselben Vaterlands en tsp rin gt e in zig un d allein der G em einsch aft der Ideen,
der H o ffn un ge n, der geschichtlic hen u n d sozialen Ereignisse, die u n tersch iedliche Rassen g e
m ein sam d urc h leb t h ab en .“40
■’4 Pier Paolo P o g g io , U n ifica z io n e n azio n a le e dif feren za razzia le, in: B u r g io , N e l n om e della
razza 90f. D as e r w ä h n t e W erk L o m b r o s o s tru g den Titel: In C a la b r ia (186 2-189 /). Studii
(Catania 1898).
35 Alessandro B ianco di Saint J orio z , II b r ig a n ta g g io alia fro n tiera p ontific ia dal 1860 al 1863.
Studio s to r ic o - p o litic o -s ta tis tic o -m o ra le-m ilita re (M a ila n d 1864) 12 u n d 36.
36 Alfredo N iceforo, L a d elin q u e n z a in Sard egn a (P a le rm o 1897).
37 Ebd. 59 (ich zitiere nach d er N e u a u fla g e C a g lia ri 1977).
38 Ders., L’Italia b arbara co n te m p or an ea. Studi e a pp un ti ( M a ila n d , P a lerm o 1898).
39 Ders., Italiani del N o r d e Italiani del Sud (Turin 1901).
Ebd. 23; zit. nach: M aiocchi, Scienza italiana 114.
218 B ru nello M antelli
Elem ent des italienischen Volkes zurück. A uf diesem Wege traf sich N iceforo41,
der die T heorie der zw ei italienischen Rassen vertrat, schließlich mit G iuseppe
Sergi, dem Vertreter der kulturellen E rklärung.
A uch die ku lturelle V ariante w ar jedoch eine T heorie s u i g e n e r i s , die ausschließ
lich für die w eiße „R asse“ G eltung haben sollte (und, w ie w ir sehen w erden, selbst
hier nicht für alle ihre A usprägungen). W enn es um Schw arze geht, tauchen w ie
der eindeutig rassistische, biologisch abgeleitete E rklärungsm uster auf.
„Ich bin der Ansic ht, daß das D o g m a der G leich heit aller M ensch en für unsere Zivilisatio n
schädlich i s t . . . W er von m ein en Lesern fühlt sich nicht d em , L a z z a r o n c ‘ in N ea p el o der dem
Kretin aus dem A o s ta ta l ü b er leg e n ? U n d w e n n schon kein M e n sch d em anderen gleicht,
w a r u m sollte es da n n kein en U n tersch ie d zw isc h e n N a tio n e n o d er R assen geben? W a ru m
sollte es kein en U n te r s c h ie d z w is c h e n einem E u rop äer un d einem N e g e r geben, u n d z w i
schen die sem u n d eine m C h in e s e n u n d H in d u s t a n e r ? “42
M it diesen W orten faßte F ilippo M anetta, ein überzeugter Verfechter der Sache
der K onföderierten im am erikanischen B ürgerkrieg, in seiner Sam m lung den u n
ter den Eliten des neuen Italien verbreiteten R assism us zusam m en. D ie irredenti-
stischen K reise, bei denen sich das Streben nach der V ollendung der nationalen
E inigung in im perialistische A nsprüche auf die O stküste der A d ria verw andelt
hatte, verw endeten auch gegenüber den Slaw en, die man als Flindernis betrach
tete, rassistische A rgum ente. N ach A nsicht R uggero Fauros (besser bekannt unter
seinem Pseudonym Tim eus, m it dem er seine A rtikel gew öhnlich U nterzeichnete)
w aren Italiener und Slaw en „zw ei Rassen, die sich Tag für Tag und M inute für M i
nute auf bedrohliche Weise bekriegen “, der Kam pf zw isch en den beiden N ationa
litäten w ar „ein Schicksal, das sich nur im vollkom m enen Verschwinden einer der
beiden sich bekäm pfenden Rassen erfüllen kann. ... Für uns hat jedenfalls die
E xistenz von zehntausend Italienern einen höheren Wert als die von fünfzig- oder
hunderttausend Slaw en “43.
N eben dem R assism us der N aturw issenschaftler und dem Im perialism us der
N ationalisten, der eine rassische H ierarchie behauptete, sind ferner diejenigen
G eistesw issenschaftler hier zu berücksichtigen, die auch in Italien den „M ythos
des A riertum s“ etablierten. In dieser H insicht spielen vor allem diejenigen D iszi
plinen w ie beispielsw eise die Sprachw issenschaft eine R olle, denen der P ositivis
41 Das U rte il darüber, in w ie w e it eine P ersön lichk eit w ie N ice fo ro zu r V erb reitung rassisti
scher S ter e o typ en un ter den gebild eten S chic hten b eig etragen hat, d a r f nicht von der Tat
sache beeinflu ß t w erd e n , daß er sich in k e in er W eise m it d em R assism us un d A n tisem itism u s
des faschistischen R e g im e s gem ein m achte, d em g e g en ü b er er kritisc he D istan z bewahrte.
Diese H a lt u n g spricht fü r die m oralis ch e und p olitische A u frich tig k e it d er Person, d a rf aber
das h isto rio graph isc he U r te il d a rü b e r nicht beeinflu ssen, daß es eine V erb in d u n g zw ischen
dem R a ssism u s d er liberale n Ä r a und der R a ss e n p o litik des Faschism us gab.
42 Filippo M anetta, L a r a z z a negra nel suo stato selvaggio in A fric a e nella sua dup lice co ndi-
zio n e di em a n cip ata e di schiava in A m e ric a. R accolta d elle o pin io ni dei piü distin ti antro po -
logi d ’E u ro p a e d ’A m e r ic a , n onchc di celebri viaggiator i m esse in sie m c e co rro bo rate da
osserv azio ni p ro p rie (Turin 1864) 44, zit. nach: M aiocchi, S cien za italiana 157.
43 Enzo Collotti, Sul ra z z is m o antislavo, in: B urgio, N e l n om e della r a z z a 3 9 -4 1 . D ie zitier
ten Stellen stam m en aus: R u g g e r o Timeus, Scritti politici (191 1-191 5), (Triest 1929) 63, 496.
R assis m us als w issenschaftliche W e lte rk läru n g 219
mus den Status der „exakten W issenschaften“ verschafft hatte. A ngelo De G uber-
natis, der als erster Italiener ein Studium im neu eingerichteten Fach Philologie
und Philosophie abgeschlossen hatte und als bedeutender Sprachw issenschaftler
galt, hat vielleicht auch „als erster in Italien einen G egensatz zw ischen arischer
und sem itischer R asse“ behauptet44. 1886 schrieb er in einem R eisebericht aus In
dien, auch er sei „Arier, und dazu noch Italiener, das heißt aus einem Volke stam
m end, dem G ott w ie dem indischen und griechischen den arischen G enius tief ein
geprägt h at“45.
G anz ähnlich äußerte sich Paolo M antegazza, neben seinem wissenschaftlichen
und persönlichen R ivalen G iuseppe Sergi einer der B egründer der italienischen
A nthropologie und A utor zahlreicher gew ichtiger w issenschaftlicher M onogra
phien, aber auch einer R eihe populärw issenschaftlicher V eröffentlichungen, die
w eite V erbreitung fanden. In einer der letzteren schreibt er: „Ich glaube fest an ei
nen höheren Typus m enschlicher Schönheit, der jeden niedrigeren Typus m ongo
lischer, am erikanischer oder sonstiger Schönheit übertrifft, und w enn ein M ensch
einer niederen Rasse außerordentlich schön erscheint, dann finde ich immer, daß
er sich unserem arischen Typus annähert.“46
N och rad ikalere E instellungen finden sich in den Texten des jungen Leonida
B issolati, der als R epublikaner begann und eine große K arriere in der entstehen
den sozialistischen B ew egung vor sich hatte. In den ersten beiden Jahrzehnten
nach der G ründung der PSI w ar er als R edakteur der Parteizeitung „A vanti“ einer
der w ichtigsten Exponenten der Partei. Im Jah r 1879 schrieb er in einem A ufsatz:
„Die Sem iten n eh m en in der m en schlichen T y p o lo g ie z w is c h e n den G elb en un d dem A r ie r
eine M ittelste llu n g ein. Sic stehen h ö h er als die G elb en o der Turanier, und sind nicht m it den
A riern zu verw echseln, die m an auch In d o e u ro p ä e r nennt. Ihre äußerlich en M e r k m a le sind:
niedrige Stirn, krauses H aar, sta rk g e k rü m m te N ase, sehr fleischige u n d vo rstehend e L ip pen,
lange G lie d m a ß e n u n d Plattfüße. . . . D ie E n t w ic k lu n g des Sem iten vo llzie h t sich sehr schnell
und ist mit sechzehn Ja h ren schon vo llendet. In die sem A lte r sin d diejenigen Teile des S c h ä
dels, in d em die O rg a n e der In tell ig enz sitzen, schon fest m it ein a n d er ve rza h n t un d häufig
auch m it ein a n d er verbu nd en. D eshalb ist ein w eitere s W ach stu m d er grauen Zellen u n m ö g
lich. Bei d er arischen R asse ist ein derartiges Ph ä n o m en nicht zu beobachten. H ie r b ehalten
die S ch ädelkno ch en gegen ein a n d er im m e r eine ge w isse B e w eg lich k e it un d erlaub en so dem
inneren O r g a n eine w eitere E volutio n bis z u m le tzten L ebenstag. Seh r zah lreich e und e in
deutige V ersuche b ew eisen , d a ß d er Sem it nach d em s iebzehn ten L eb en sja hr seine w is s e n
schaftlichen K enntn isse nicht m ehr zu er w eitern v e r m a g .“47
In wenigen Zeilen zusam m engefaßt finden w ir hier die gängigen Stereotype jeder
angeblich w issenschaftlichen Beschreibung des Juden, w ie sie einige Jahrzehnte
später in den Z eichnungen des „Stürm er“ und der „Difesa della razza“ ihren A u s
44 M auro Raspanti, II mito aria n o nella cu ltura italiana tra O tto e N ovecento , in: Burgio, N el
nome della razza 78.
'b Angelo De Gubernatis, P e r eg rin a z io n i indiane. India centrale ( F lo ren z 1886), zit. nach:
Raspanti, II m ito aria no, a .a.O ., in: Burgio, N el n om e della razza 78.
46 Paolo M antegazza, F isio n o m ia e m im ica (M a ila n d 1881) 97.
4/ Leonida Bissolati, II princip io logic o d e ll’ascetism o, in: Rivista r epu bb licana 2 (1879) 281 f.
220 B ru n e llo M antelli
3.2 Die zweite Phase: Vom Libyenkrieg bis zu den Rassengesetzen 1938
W ie w ir gesehen haben, hatte der R assism us in der italienischen K ultur feste und
w eitreichende W urzeln geschlagen. Es blieben allerdings W idersprüche und A po-
rien, die nicht nur auf K ontrasten zw ischen verschiedenen Schulen beruhten, son
dern vor allem auf dem grundsätzlichen G egensatz zw ischen den Verfechtern
einer Suprem atie des A riertum s und denjenigen, die die Existenz einer autonom en
„italischen R asse“ behaupteten. D ie ersteren betonten, je nach der von dem ein
zelnen Forscher betriebenen W issenschaft, die biologischen, sprachlichen oder
ästhetischen natürlichen A nlagen und nahm en dabei die unangenehm e Schlußfol
gerung in Kauf, daß die italienische H albinsel in zw ei oder drei rassisch getrennte
G ebiete aufzuteilen war. D ie letzteren unterstrichen den C h arak ter der Italiker als
einer „M ischrasse" und knüpften dabei an die Tradition des röm ischen Reiches an,
dessen besondere A ssim ilationsfähigkeit in den V ordergrund gestellt w urde, um
auf diese Weise die E inheitlichkeit des Stam m es - gleichgesetzt m it der N ation -
zu behaupten. B eide Ström ungen stim m ten natürlich darin überein, daß die w ei
ßen E uropäer den A frikanern, A siaten und am erikanischen Indianern überlegen
seien, und daß eine eugenetische P o litik sich die Rassenverbesserung zum Ziel set
zen müsse. A ußerdem zogen sie in Z w eifel, daß die slaw ische W elt sich jem als
dem zivilisierten E uropa angleichen könnte.
D er L ib yen krieg von 191148 und dann der Erste W eltkrieg49 spielten in diesem
Zusam m enhang eine einschneidende R olle und trugen zu einer tiefen Verände
rung bei. D er K riegsverlauf m it seiner hohen Zahl von G efallenen und Versehrten
bereitete den B evölkerungsw issenschaftlern bald Sorgen. „Seit dem A usbruch des
Ersten W eltkriegs nahm die Sorge um das biologische Schicksal der w eißen B evöl
kerungen sehr zu. Da dem Krieg vor allem die jüngsten und stärksten M änner
zum O pfer fielen und w eil U nzäh lige verletzt, erschöpft, unterernährt und krank
zurückkehrten, w ürd e der Krieg nach A nsicht vieler Forscher das biologische
Erbe der kriegführenden V ölker negativ beeinflussen.“50 „[N ach A nsicht Franco
Savorgnans] w erden im gegenw ärtigen K rieg die jüngsten, gesündesten und stärk
sten Individuen der w eißen Rasse getötet, die den auserw ählten Teil der M ensch
heit darstellt“ . Das in tellektuelle N iveau der N eger liege „um zw ei G rad niedriger
als das der W eißen, und das der A ustralier noch um einen G rad niedriger als das
der afrikanischen N eger“51. D eshalb w erde die m enschliche Rasse als G anzes aus
einem derartigen K rieg geschw ächt und verschlechtert hervorgehen.
N icht alle sind so pessim istisch. Der Sanitätsoffizier Placido C onsiglio schlug
beispielsw eise vor, die Front dadurch zur bew ußten Selektion zu nutzen, daß man
A bteilungen von „neuropsychiatrich anom al ..., unvollständig und fehlerhaft
E ntw ickelten“52 an die gefährlichsten Frontabschnitte schickte, um auf diese
Weise die F ortpflanzung der genannten B ehinderten unm öglich zu machen. C or-
rado G ini zeigte keinerlei B eunruhigung über das M assensterben, denn er w ar da
von überzeugt, daß „Kriege einerseits unverm eidliches Ergebnis der dem ographi
schen E ntw icklungsgesetze [seien], w ährend auf der anderen Seite eben diese G e
setze eine rasche B eseitigung der dem ographischen Schäden [sicherstellten] und
sogar eine gew isse V erbesserung der neuen G enerationen nicht völlig ausschlös
sen“53.
Pessim isten und O ptim isten, die Verfechter der G eburtenförderung und die
Vertreter einer gem äßigten G eburtenkontrolle w aren sich jedenfalls darin einig,
daß dem Staat die A ufgabe zukom m e, G esundheit und Kraft des Stam mes zu er
halten. U m die m enschliche Rasse zu verbessern, „muß eine A usw ahl unter allen
R assen oder m enschlichen Varianten getroffen w erden, die sich die H errschaft
über Länder und M eere streitig m achen. W eil aber ohne Zweifel die sogenannten
w eißen oder ,leukoderm ischen‘ Rassen körperlich und geistig am weitesten ent
w ickelt sind, m uß ihnen die V orherrschaft gesichert, ihr O rganism us gesund er
halten und ihre Intelligenz vervollkom m net w erden. D ies alles ist nur zu errei
chen a u f Kosten der farbigen, der gelben und speziell der schwarzen Rassen “54.
Es w ar kein Zufall, daß die R egierungsübernahm e d er Faschisten zu B eginn der
20er Jah re von der ad Ä oc-G riin d u n g verschiedener w ich tiger Institutionen be
gleitet w ar, die der R assenpflege und -V erteidigung dienen sollten. Die „O pera na-
zionale m aternitä ed in fan zia“ (O N M I, Staatliches M utterschafts- und K inder-
hilfsw erk) und das ISTAT w urden 1926 ins Leben gerufen, gleich zeitig m it der
Verabschiedung der Sondergesetze, der sogenannten „leggi fascistissim e“, die die
E tablierung des diktatorischen R egim es sanktionierten. Wie nicht anders zu er
w arten, spielten die W issenschaftler, von denen bisher schon die Rede w ar (und
andere, von denen noch die Rede sein w ird), eine zentrale R olle. Da Italien nun
keine liberale, sondern eine faschistische M onarchie war, w urde natürlich auch die
w issenschaftliche D ebatte vom Staat reglem entiert: M it der w ichtigen „H im m el
fahrts-R ede“ M ussolinis vom 27. M ai 1927 w urde die G eburtenförderung zur
offiziellen R egierun gslin ie erklärt. D am it hatte sich die R ichtung von C orrado
G ini durchgesetzt, die in Slogans zum A usdruck kam w ie: „Die Zahl ist M acht“
und „Wenn w ir w en iger w erden, schaffen w ir kein Reich, sondern w erden eine
K olonie“ . N aturw issenschaft und N aturw issenschaftler, allen voran M edizin und
M ediziner, m achten sich zu instrumenta regni und übernahm en eine Sichtw eise,
die man m.E. ohne jede Ü bertreibung nationalrassistisch nennen kann.
„D ie S o z ia lm ed izin hat nach A nsicht der m eisten einschlä gig en W issen schaftler die A ufgabe,
die w issen schaftlichen u n d praktis ch en E rgebnisse der versch ie denen b iologischen und
soziale n Leh ren z u sa m m e n z u fa s s en , u m die p h y sisc h e G es u n d h e it aller Nationen zu s c h ü t
zen, u m die A n f ällig k e it für K rank heiten u n d die S terb lic hk eitsrate der ganzen Menschheit
zu verm in d e rn , die durc h sc h n ittlic h e L e b e n s e r w a r t u n g der ärm ere n Klassen zu erhö hen un d
um die Spezie s zu v erbessern . . .. D em Faschism us dagegen liegt vor allem daran, die G e s u n d
heit der Italiener zu sch ützen , die A n fällig k eit für K rank heiten u n d die Sterb lichk eitsrate in
Italien zu verm in d e rn , unser Volk zu stärk en un d unsere Rasse z u verbessern.“55
In Ü bereinstim m ung m it den ihm eigenen im perialen Plänen erw eiterte und ver
vielfachte der Faschism us die w issenschaftlichen Institutionen, die sich m it der
K olonialforschung befaßten, und regte die O rganisation von Kongressen und Ta
gungen zu entsprechenden Them en an. Aus diesen Initiativen ging eine F ülle von
Publikationen hervor, deren A nsatz sich im G runde kaum von den bereits z itier
ten Thesen unterschied, die M anetta 60 Jah re zuvor vertreten hatte.
„ A u f g r u n d m o d e rn e r w issen schaftlicher U n t e rs u c h u n g e n geht die M e h rh eit der Forscher
davon aus, daß sich das P r in z ip d er .m enschlic h en V er v o llk o m m n u n g s f ä h ig k e it “ auf die h u n
dert M illio n en N e g e r u n d N e g r o id e nicht a n w e n d e n läßt. Ihrer A n s ic h t nach stehen diese
m en schlic hen Rassen a u fgru n d versch ie dener b iologisch er U r s a c h e n trotz in tensiver ä ußerer
E rz ieh u n g anschein en d auf einem p sych isch un d m oralisch viel niedrigeren N iv e a u als die
w e iß e n R a ss e n .“36
D iese Sätze schrieb 1937 Bruno Francolini, D ozent für K olonialgeographie und
-ethnologic an der U niversität N eapel. Eine herausragende R olle in der K olonial
forschung spielte in jenen Jahren Lidio C ip rian i, der später M itglied des R ed akti
onskom itees der Z eitschrift „Difesa della razza“ w urde. In zw ei 1932 veröffent
lichten Texten57 legte er seinen Lesern eine summa des biologisch begründeten
R assism us vor, dessen L eitm otiv die „Existenz einer grundlegenden bio p sych o lo
gischen V erschiedenheit der N eger und W eißen“ ist38:
„ N ic hts von un serer Zivilisatio n ist in S ch w a r z a frik a w irk lic h v e r w u rz e lt und w ir d sieh auch
nie ve rw u r z e ln ; und zu glau ben, eine p sych isch den höheren R assen u n terlegene m enschlic he
R asse durc h E rz ieh u n g d auerhaft an die se Zivilisatio n h era n zu fü h r en o der auch n ur a n
n ähern zu kö nn en , ist a b su rd . . . D ie Z ielstre big keit von E rgebnissen un d die daue rn d e n
In no vatio nen, w ie sie unsere Zivilisatio n ch arakterisiere n, scheint an eine besondere A r t von
G ehirn g e bu nden zu sein, die zu besitzen bisher nur die w eiß e R asse b ew ie sen h a t . . . W er die
s c h w a r z e Seele kennt, kann nur lächeln angesic hts der von m anchen geäußerten utopischen
Vorstellung, d a ß w ir m o rge n vo n Streitkräften zu L a n d u n d zu W asser ü b errascht w erd e n,
von Ju s tizp a lä s ten , U n iv e rs itä te n un d W erkstätten, die als R esultat der G eh irn tä tigk eit der
N e g e r entstanden sind . . . Bei den N egerrassen gre n zt die m entale U n terle g e n h eit d er Frau
häufig an regelr echte B lödh eit, w esh a lb ge w isse V erhaltensw eisen zu m in d e st in A frik a oft
ka u m m eh r etw as M e nsch lic he s h aben u n d sich sehr denen der T iere a n n ä h e rn .“59
Aus solchen A nsichten ging natürlich die Stigm atisierung jeder Form von M esti-
zentum s hervor, gegen das die Strenge des Gesetzes und das Eingreifen des Staates
gefordert w urde.
D ie A nstrengungen der E ugeniker und A nthropologen, der D em ographen und
Statistiker zur V erbesserung der italischen Rasse fand ein hervorragendes Ter
rain der Erprobung und V erifizierung in den trockengelegten Pontinischen Süm p
fen im südlichen Latium . D ie 1928 begonnene U rbarm achung führte zu r G rün
dung von vier neuen Städten: L itto ria (das heutige L atina), A p rilia, Pontinia und
Sabaudia, in denen vor allem M enschen aus der östlichen Poebene von Venetien
und dem Friaul angesiedelt w urden. In A nw esenheit M ussolinis referierte am
8. M ärz 1934 der (als Erfinder der drahtlosen Telegraphie bekannte) N atu rw issen
schaftler G uglielm o M arconi als Präsident vor der V ollversam m lung des N ation a
len Forschungsrats (C o n siglio N azionale delle R icerche, C N R ):
„W ir bereiten eine U n t e r s u c h u n g ü b e r die E r n ä h r u n g der B e v ö lk e ru n g vor, die in den
trockengele gten Po ntinischen S üm p fen , die sem gro ßen L a b o r a to riu m der H u m a n b io lo g ie ,
zusa m m e n gefa ß t ist. M it die ser U n t e rs u c h u n g ist eine u m fassen de Erfassung der s o m a t i
schen u n d d e m o gra p h is ch en C h a r a k t e ris t ik e n d e r im m igrierten F am ilie n v erbu nden, u m die
A n p a ss u n g an die neue U m g e b u n g zu erforschen. Die C h a r a k t e ris t ik e n jedes einzeln en I n d i
viduu m s w e rd e n auf einer K a rteik arte z u sa m m e n g efa ß t, um daraus ein k o m m u n a le s A rch iv
der Fam ilien zu b ild e n .“60
Eine Fülle von K arteikarten w urde deshalb über die ehem aligen Tagelöhner aus
Venetien und Friaul angelegt, die in den A gro Pontino gezogen w aren, um dort
ein H aus und Land zum Bebauen zu finden. Zu den K arteikarten der O N M I über
die K inder in jed er einzelnen Fam ilie und die des ISTAT m it den personenbezo
genen D aten gesellte sich eine anthropom etrische Erfassung, die G ini angeregt
hatte, und eine von N ico la Pende ausgearbeitete b iotypologische (von beiden
w ird noch die Rede sein), außerdem eine anthropologische Studie, die Sergio
Sergi6! m it N achdruck gefordert hatte, und schließlich die bereits erw ähnte
U ntersuchung über die E rnährung, die von Sabato Visco entw orfen w urde. Wie
Israel und N astasi62 hervorheben, tum m elte sich eine unglaubliche Zahl von F o r
schern im A gro Pontino63, und ein großer Teil von ihnen sollte einige Jah re später
aktiv an den seit 1938 vom Staat ergriffenen antisem itischen und rassistischen
M aßnahm en m itw irken.
Interessant (und buchstäblich haarsträubend) ist die B eschreibung der anthro
pologischen K arteikarte, die dem G ehirn Sergio Sergis entstam m t:
„Das an th ro p o g ra p h isch e B latt fü r jede E inzelp erso n . . . besteht aus einer K a rteik arte . . . in
un tersch ie d lic h e r F arb e fü r die beid en Geschlechter. Sie en thält k u r z e A n m e r k u n g e n zu r
A n a m n e se u n d M o r p h o p h y s io lo g ie d er Person, einige a n th ro p o m e trisc h e u n d a n t h r o p o g ra
p hische D aten, d a r u n ter die B lu tg ru p p e , die Fingerabdrücke u n d ein Ph oto . Ein k lein e r U m
sch lag die nt d a zu, eine H aarprobe a u f z u b e w a h r e n .“64
Das H auptinteresse bei der D atensam m lung galt der V erteidigung und Verbesse
rung der Rasse und sicherlich nicht dem Schicksal des Individuum s, und daraus
w urd e auch gar kein H ehl gem acht: „Die G esundheit des Einzelnen gew innt ...
B edeutung, wenn sie vor allem in Funktion zur R assengesundheit gesehen
w ird .“65 In diesem G eiste schlug C orrado G ini 1931 vor, eine „K arteikarte für
A nthropom etrie und K onstitution“ einzuführen, „um qualitative und quan tita
tive D aten über die som atische K onstitution der Eltern in [kinderreichen] F am i
lien zu erfassen“66. Ziel dieser Erfassung soll es sein, physiologische und som ati
sche M erkm ale herauszufinden, die hohe F ruchtbarkeit begünstigen. A uf diesem
61 A ls Sohn un d Sch üler vo n G iuse p p e Sergi hatte er den a n th ro p o lo gisc h en L eh rstu h l seines
V aters an d er U n iv e rs itä t R o m inne u n d leitete das gleic h n a m ige Institut.
62 Israel, Nastasi, Scienza e razza 151 ff.
63 A u c h A lfre do N ice fo ro fehlte nicht.
64 Sergio Sergi, Le s cienze a n tro p o lo gic h e in Italia du ra n te l’a nn o X III E. F., a.a.O ., zit. nach:
Israel, Nastasi, Scienza e r a zza 541 ( H e r v o r h e b u n g e n von mir).
65 Pietro Petrazzani, R ecen sio n e al p r im o n u m ero della n uo va rivista „A rch iv io fascista di
m ed ic in a p o litica “, in: R ivista s pe rim en tale di freniatria 52 (1927) 3 0 7 f.; zit. nach: Ferruccio
Giacanelli, Tracce e p ercorsi del r a zzis m o nella psich iatria italiana della p rim a m etä de] N o
vecento, in: Burgio, N el n o m e della ra zza 399 f.
66 C orrado Gini, N u o v i risultati delle indagin i sulle fam ig lie n um e ro se italiane, in: Atti
d e ll’ Ina. C o n f e re n z e di C u lt u r a A ssic u ra tiv e d e l l’anno 1931, 4 (R o m 1932) 47; zit. nach:
Israel, Nastasi, Scienza e r a z z a 132. I N A ist die A b k ü r z u n g fü r Istituto n az ion ale delle assi-
cura zio n i (Staatliches Versic herungsin stitut).
R assis m us als w issen schaftliche W e lte rk läru n g 225
Weg trifft die im perialistische D em ographie G inis auf die B iotypologie des M en
schen, die N icola Pende en tw ickelt hat, ohne Zweifel der w ichtigste Vertreter des
w issenschaftlichen Rassism us in seiner italienischen A usprägung. Pende versucht
die U ntersuchung der M enschentypen auf biom etrischer und anthropom etrischer
G rundlage m it den Ergebnissen der E ndokrinologie zu verbinden und kom m t zu
einem K onzept des B io typ us unter vier eng m iteinander verknüpften A spekten:
m orphologisch, hum oral-dynam isch, m oralisch und kognitiv. D araus leitete er
eine präzise operative H andlungsanleitung ab: D urch die E rstellung der zitierten
biotypologischen K arteikarten sollte die B evölkerung bis in kleinste erfaßt w er
den, um daraus eine B io p olitik zu r R assenverbesserung abzuleiten:
„D ie N a tu rw is s en sc h a ft fu ßt a uf der E rforschu ng d er M ensch en , die als Zellen des großen
G esellsch aftsorgan ism u s betrachtet w erd e n , u n d m u ß in einer Epoche, die so realistisch und
natu ralistis ch ist w ie die un srige , die R e g ie re n d e n le iten . . . Kein B ü r g e r darf aus freier W ill
kü r d em L eb en des Staatsgan zen z u m Sch aden gereic hen. W enn dies der Fall w äre, w ü r d e er
zu r b ösartigen Zelle eines Tumors, d e r sich d e r L eb e n s n o tw e n d ig k e it der G esam th eit des
m enschlic hen O rg a n is m u s entzie ht un d seine S tabilität un d V italität b e d r o h t.“67
grundlegend verschieden. Ü berall näm lich bezog man sich auf dieselben Ideen,
L eitprinzipien, Forscher und T heoretiker, zu denen, um nur die w ichtigsten zu
nennen, C harles D arw in, H erbert Spencer, Cesare Lom broso, Francis G alton und
M ax N o rd au69 gehörten.
des 19. und 20. Jahrhunderts darstellten und sich um gekehrt auch einem Bündel
von V ergangenheitskonstruktionen zur R echtfertigung der eigenen H errschaft
bedienten, die sich w iederum mit älteren, vor-faschistischen B ildern von G e
schichte berührten bzw. überschnitten. Ü berdies w aren diese frühen nationalen
G eschichtsbilder, die in die Faschism en hineingewachsen w aren, nach 1945 nicht
etw a verbraucht oder völlig d iskred itiert, sondern sie lebten w eiter und w urden
im Sinne der These, daß es sich bei den Faschism en nur um eine Parenthese oder
einen B etriebsunfall gehandelt habe, zur A nknüpfung an eine scheinbar unbeschä
digte V ergangenheit revitalisiert. D ie nationalen M ythen und V ergangenheitskon
struktionen, um die es vergleichend gehen soll, w aren darum fester Bestandteil des
politisch-gesellschaftlichen Prozesses der beiden Verfassungs- und G esellschafts
system e und ihres jew eils historisch begründeten Selbstverständnisses. D arum
soll die Frage nach den V ergangenheitskonstruktionen als K om bination und
Ü berlagerung der beiden skizzierten A nsätze behandelt werden. Ü berdies w ird
ein V ergleich der beiden politischen K ulturen und ihres U m ganges m it der Ver
gangenheit angestrebt, um gem einsam e G rundm uster in der K onstruktion und
V erm ittlung von G eschichtsbildern, aber auch charakteristische A bw eichungen
oder U ngleichzeitigkeiten herauszuarbeiten, die einen B lick auf die jew eilige po
litische K ultur erlauben.
D ie R epräsentation der V ergangenheit durch die E rzählung von G eschichte ist
konstitutiver Bestandteil im Prozeß der E rfindung der N ation. Z wischen N ation
und G eschichte, aber auch zw ischen N ation und M ythos gibt es eine innere Ver
w andtschaft2. D ie erzählte V ergangenheit soll den N ationen die L egitim ation
durch ihre verm eintlich lange D auer sichern und ihre G ründung in eine w eit zu
rückliegende V ergangenheit rücken bzw. Ereignisse dieser V ergangenheit in ein
K ontinuum m it der jew eiligen N ationsbildung stellen. D ie historische B egrün
dung des Strebens nach Stiftung und V ollendung nationaler E inheiten führt zur
A usw ahl bestim m ter Ereignisse und B egebenheiten, die in besonderer W eise die
Einheit der N ation darstellen und begründen können.
D iese ausgew ählten B ilder von der Vergangenheit, die durch verbale w ie durch
n icht-verbale K om m unikation verm ittelt w erden, verw andeln die historischen
Ereignisse in Z eichen- und D eutungsangebote, lassen aus F iktionen N orm en ent
stehen. Das R eservoir dieser B ilder von V ergangenheit ist nicht unbegrenzt und
w iederh o lt sich offenbar im m er wieder. Das schafft V ertrautheit beim Publikum
und verstärkt bzw. garantiert die Fähigkeit von B ildern, überhaupt ein Publikum
zu erreichen. Was sich angesichts des begrenzten R epertoires an B ildern von Ver
gangenheit ändert, sind nicht die E reignisse, die beschw oren w erden, w ohl aber
die D eutung und die F unktion, die sie in einem jew eiligen K ontext annehmen.
Die E rzählung von G eschichte richtet sich auf Them en und E reignisse von M it
telalter und N euzeit, die ihren E rinnerungsw ert dadurch behalten, daß sie sich auf
ein N orm engefüge einer G em einschaft beziehen lassen. M it der Entstehung von
N ationalbew egungen und N ationalstaaten ist die E rzählung von V ergangenheit in
der R egel auf die N ation bezogen und dam it auf die Schaffung von nationalen Z ei
chen und Sym bolen. M it dem W andel und den Brüchen der politischen K ulturen
können die nationalen B ilder von Vergangenheit sich überlagern, aber sich auch in
einem vielschichtigen Prozeß ablösen. Sie können auch m iteinander konkurrieren,
wenn es innerhalb einer G esellschaft divergente bzw. antagonistische A uffassun
gen über die L egitim ität der politisch-sozialen O rdnung gibt. Die R epräsentation
von V ergangenheit kann dann dazu dienen, einer bestim m ten Sicht der sozialen
und politischen W elt A nerkennung zu verschaffen3. D abei kann es zu Sym b o l
käm pfen kom m en4. B eispiele für sym bolische Kämpfe zw ischen den verschiede
nen politischen T eilkulturen um die ku lturelle D eutungsm acht finden sich im
D eutschen K aiserreich ebenso w ie im Liberalen Italien zw ischen 1870/71 und
1914, noch sehr viel ausgeprägter und unverm ittelt nebeneinander stehend etwa in
der W eim arer R epublik. Daneben kann es zu A blösungen und Ü berlagerungen
von B ildern durch historische U m brüche kom m en. Eine solche Zäsur in beiden
N ationalstaaten bedeutet der U ntergang der beiden national-faschistischen Füh
rerdiktaturen des D ritten Reiches bzw. des Staates M ussolinis, die beide in natio-
nalistisch-im perialer Ü bersteigerung an das überlieferte R eservoir der N atio n al
bilder anknüpften und nach 1945 zu N euorientierungen oder zu U m deutungen in
der historischen B egründung nationaler Identität herausforderten. W elche Ver
gangenheit sollte in den beiden postfaschistischen G esellschaften rekonstruiert
und erzählt w erden? D ie nationale E rzählung w ar durch ihre Instrum entalisie
rung für die E roberungs- und V ernichtungspolitik d iskreditiert und konnte nach
1945 auf der öffentlichen Ebene nur durch eine A rt norm ativer A bgrenzung er
zählt w erden, indem nur bestim m te Teilbereiche der nationalen T radition auf
gegriffen w urden, w ie etw a der A ntifaschism us, oder indem andere scheinbar
unbeschädigte T raditionen w ied er aufgenom m en w urden, die nach verbreiteter
M einung nicht vom N ationalsozialism us bzw. vom Faschism us o kk up iert und
korrum piert w aren.
Eine w ichtige R olle bei der V erm ittlung von Vergangenheit zum Zw ecke der
nationalen M ob ilisierun g und Integration spielen die M edien, die dafür eingesetzt
werden. D azu gehören Schulbücher, historische R om ane und Sachbücher, Feste
und Feiern, M alerei und D enkm äler, M useen und A usstellungen, M usik, T heater
und Film . Sie haben eine je unterschiedliche soziale R eichw eite und schichtenspe
zifische W irkungsm öglichkeit. D ie Intensität ihrer Botschaften nim m t durch Ver
netzung und M ultim ed ialität zu und ist überdies von zeitspezifischen W ahrneh
m ungsform en bestim m t. Es sollen für die erste U ntersuchungsphase, d.h . für das
deutsche K aiserreich und den liberalen Staat Italiens bis zum Ersten W eltkrieg vor
allem Zeugnisse der bildenden Kunst, M alerei und der G raphik herangezogen
w erden, die neben den D enkm älern zu den w ichtigeren zeitgem äßen Form en
nationaler Ikonographie gehörten. Bezogen auf ihre Trägerschichten w aren sie
vor allem zentraler Bestanciteil der p o litisch -kulturellen Selbstverständigung des
B ürgertum s5. Daneben gab es populärere M edien, die auch für ein breiteres P ub li
kum zugänglich w aren und deren A n alyse auch den Weg zu einer so zialgeschicht
lich differenzierten R ezeptionsgeschichte eröffnen kann. D azu gehören Feste und
Feiern, populäre D ruckerzeugnisse w ie B ilderbögen oder Panoram en. Für die
Z w ischenkriegszeit sollen A usstellungen als E rinnerungsorte auf Zeit und als B e
deutungsträger ausgew ählt w erden, die im Z eitalter neuer audiovisueller M edien
dem A nspruch einer D em okratisierung der B ilderw elten und ihrer Verm ittlung
am besten entsprachen und die an die Stelle der m ittlerw eile stark diskreditierten
H istorienm alerei traten6. Für die beiden auf M assenm obilisierung und M assen
konsens zielenden national-faschistischen B ew egungen und D iktaturen kom m en
als charakteristische A usdrucks- und V erm ittlungsform en zusätzlich politische
M assenrituale hinzu, die sich in aufdringlich er Form historischer Versatzstücke
bedienten und Sym bole und Zeichen aus den verschiedensten H erkunftsbereichen
in tegrierten 7. Für die zw eite N ach kriegszeit bietet sich eine noch größere B and
breite von V erm ittlungstechniken und Form en an, von der klassischen Form der
L iteratu r und P ub lizistik bis hin zu den m odernen visuellen und elektronischen
M assenm edien.
Folgt man dem Befund der B erliner A usstellung „M ythen der N ation en “
(1998), so ist es jew eils ein B ündel von Ereignissen, die in den verschiedenen M e
dien als H auptthem en der E rinnerungskultur verm ittelt w erden. Es sind im deut
schen nationalen D iskurs fünf E reignisse, die im m er w iederkehren: die Schlacht
im T eutoburger W ald (9 n. C hr.), der Tod des Stauferkönigs F riedrich B arbarossa
(1190), die V erbrennung der B annandrohungsbulle durch M artin Luther (1520),
die V ölkerschlacht bei L eip zig (1813) und die K aiserproklam ation in Versailles
(1871)8. D ie Botschaft, die von diesen Schlüsselereignissen in der nationalen Ge
schichtserzählung ausging, w ar einfach: A rm inius, der B efreier G erm aniens,
w urd e zur Sym b o lfigur im K am pf gegen das Welsche, W estliche. Er fand sich im
5 Vgl. Frank Becker, Bilder v o n K rie g und N a tio n . D ie E in igu n gskrie ge in d er b ürgerlichen
Ö ffen tlic hk eit D eu tschla n ds 1864-1913 ( M ü n c h e n 2001), im fo lg enden zitiert: Becker, Bilder
v o n Krie g u n d N ation .
6 D a zu jetzt z u sam m e n fasse nd C hristoph K ivelitz, Die P ro p a g a n d a a u s s tellu n g in eu ro
päischen D ik ta tu re n . K o nfro n tatio n un d V ergleich: N a tio n a ls o z ia lis m u s in Deutschland,
F a sc hism us in Italien u n d d ie U d S S R d e r Stalin zeit (B o c h u m 1999).
7 H ans-U lrich Thamer, Po litisc h e R it u a le u n d p olitisch e K u ltu r im E u ro p a des 20. J a h rh u n
derts, in: J a h r b u c h fü r E u rop äisch e G eschic hte 1 (2000) 79-97.
8 Monika Flacke, D ie B e g r ü n d u n g der N a tio n aus der Krise, in: M y th e n der N a tio n 101—
128.
Der öffentliche U m g a n g m it d er V ergangenheit 231
heroischen G estus auf G edenkm ünzen, auf Schm uck und G edenkblättern, auf
Ö lgem älden und auf D enkm alsentw ürfen, bis er schließlich auf einer Berghöhe
bei D etm old eine ikonographisch endgültige Form annahm . An den im K yffhäu-
ser schlafenden K aiser B arbarossa knüpfte sich die E rw artung auf W iederkehr der
R eichsherrlichkeit. Die V erbindung des nationalgesinnten schlafenden Kaisers
m it m onarchischen Sym bolen brachte u .a. ein K upferstich von W ilhelm von
K aulbach9 zum A usdruck, aber auch im K yffhäuser-D enkm al10 in T hüringen ge
hen der erw achende Barbarossa und der sich über ihm befindliche W ilhelm I. zu
Pferde eine national-m onarchische Sym biose ein. W ie w eit der B arbarossam ythos
reichte, zeigte die V erw endung durch A dolf H itler, der den A ngriff auf die So
w jetunion im Som m er 1941 als „U nternehm en B arbarossa“ tarnte. Im L utherbild
des 19. Jahrhunderts schließen sich gleich m ehrere D eutungsstränge zusam m en:
der Freiheitsheld der A ufklärung, der Stifter einer N ation alreligio n , die V erkörpe
rung bürgerlicher Tugenden. N eben zahlreichen G em älden und Stichen w ar es in
diesem Fall das W artburgfest vom 18. O ktober 1817, das als erstes N ationalfest
das Lutherbild w irkun gsvo ll verbreitete und auf diese Weise eine politische Figur
schuf, die Protestantism us und deutsche N ationsw erdung m iteinander ver
knüpfte. So fand sich Luther am Ende des 19. Jahrhunderts in der G esellschaft
von A rm inius bis B ism arck unter der deutschen Eiche und auf den Sam m eltassen.
A uch in den B ildern von dem B efreiungskrieg verbinden sich drei ikonogra-
phische T raditionen: 1. die D arstellung der O pferbereitschaft des gesam ten Vol
kes, 2. das A ufgebot der F reiw illigen und 3. deren Einsegnung. Bei A do lf M enzel
in seiner Lithographie „V iktoria“ von 183611 w erden der Sieg und das O pfer der
Toten bzw. V erw undeten für das V aterland gefeiert. Bei M enzel geschah dies in
einer bürgerlich-egalitären Form ohne die D arstellung von H ierarchien; in einem
Schlachtengem älde von Johann Peter K rafft12 w urden Feldherren zu Pferde deut
lich hervorgehoben und dam it soziale R angunterschiede im m onarchisch-aristo
kratischen Sinne betont. N och einm al w urde 1913 m it dem V ö lkersch lach tden k
mal in L eip zig der B efreiungskrieg zum T hem a, diesm al durch die ästhetische G e
staltung der M onum entalität und B lockhaftigkeit als A ufruf zur nationalen
Sam m lung und G eschlossenheit. Für das vierte Them a des nationalen D iskurses,
die K aiserproklam ation und R eich sgrün dun g in Versailles, gibt es ein alles beh err
schendes Bild, die K aiserproklam ation von A nton von Werner, eine A uftrags
arbeit m it offiziellem Charakter, das bald auch für m useale Zwecke, näm lich für
das Zeughaus in Berlin, nachgeschaffen w u rd e 13. Es ist keine realistische A b sch il
derung der Ereignisse selbst, sondern eine sym bolische D arstellung der p o liti
schen K ultur und W ertm uster des K aiserreichs, das sich als eine festliche Ver
sam m lung von Fürsten und G enerälen, als ein H eerlager und keinesw egs eine
Z ivilgesellschaft darstellte. A nton von W erners Bild w ar der A usgan gspunkt für
eine ganze Flut von B ildern, die alle die V erbindung von B ürgertum und M o n ar
chie im Sinne des N ationalstaates propagierten und m it der N ation alisierun g auch
eine M ilitarisieru n g der bildungsbürgerlichen Schicht zum A usdruck brachten
bzw. verstärkten 14. D ie V erknüpfung der einzelnen nationalen B ilder und S ym
bole zu einer kontinuierlichen, aufeinander aufbauenden N ationalgeschichte,
m eist als einer G enealogie deutscher A hnherren von A rm inius über Luther zu
B ism arck, w urde bald zu einem beliebten Them a vieler Blätter, die in M assenauf
lage rep ro duziert die G eschichte zur Vorgeschichte des K aiserreichs um deuteten.
Sym bolische G egenw elten neben oder gegen die D om inanz der m onarchisch
geprägten N atio n alku ltu r gab es auch im autoritären N ationalstaat Bism arcks und
W ilhelm s. Das w aren einerseits regionale Traditionen und historische B ezüge, wie
sie etw a in B ayern gepflegt w urden, andererseits der B ezug auf Erinnerungsorte
und -ereignisse, die quer zur herrschenden politischen K ultur standen, etw a die
E rinnerung an die R evolution von 1848, an die die dem okratische E m anzipations
bew egung erin n erte15. Eine Flucht in den geschichtslosen O rt der N atur als A n t
w o rt auf die m onum entalisierte nationale E rinnerung an die B efreiungskriege im
Jah r 1913 bei der E inw eihung des V ölkerschlachtdenkm als in L eip zig bedeutete
das gleichzeitig stattfindende Treffen der Jugen d - und Lebensreform bew egung im
H erbst 1913 auf dem H ohen M eißner bei K assel16.
M ittelalter und R isorgim ento w aren auch die E ckpunkte der italienischen
nationalen G eschichtserzählung des 19. Jahrhunderts, angefangen m it der m yth i
schen Ü berhöhung D antes und seiner U m deutung zum Propheten des R iso rg i
m entos17. Zur Essenz des patriotisch gefärbten italienischen G eschichtsepos ver
dichtete sich die sogenannte sizilianische Vesper von 1282, ein Topos, der sich
ebenso vorzüglich zur B ehauptung des U nabhängigkeitsw illens gegen die Frem d
herrschaft eignete w ie die nationale D eutung des „lom bardischen B undes“, des
Sinnbildes für den vereinten K am pfesw illen gegen ausländische B edrohung. Zum
dram atischen Volksaufstand w urd e der A ufstand in G enua 1746 stilisiert; die
B ildsprache des frühen 19. Jahrhunderts erinnerte ganz an dram atische A ppelle
der französischen rom antischen R evolutionsikonographie. Der H eld der H an d
lung w ar ein Knabe namens B alilla. Er sollte nahtlos in die populäre B ildkunst
E ingang finden bis hin zum R isorgim ento und zum italienischen Faschism us. Von
den M useen des R isorgim entos in der R egierun gszeit C rispis bis hin zum F aschis
mus reicht die W irkungsgeschichte dieses M ythos.
Zugleich schuf das R isorgim ento seine ganz eigene B ild- und E rzähltradition,
vor allem in der B eschw örung der Sym biose der dem okratischen und m on
archischen E inheitsbew egung in G estalt des Treffens zw ischen dem K önig und
dem dem okratischen H elden G aribaldi von Teano (1860) - ein italienisches Pen
dant zu dem kaiserlichen und preußisch-deutschen R eichsgründungsm ythos, aber
doch m it einem charakteristischen U nterschied: König und dem okratischer H eld
begegnen sich ebenbürtig jeder auf dem Pferde, w ährend A nton von W erners
H eerlager allein das m onarchisch-m ilitärische Elem ent hervorhebt18.
Im gem einsam en R ückgriff auf die einheitsstiftende Erinnerung an das R iso rg i
m ento kam auch die A m bivalenz der italienischen N atio n alkultur zum A usdruck.
D ie sym bolische Inbesitznahm e von Rom als H auptstadt am 3. Ju li 1871 durch
den K önig kopierte einerseits ein päpstliches R itu al des A m tsantrittes durch eine
Prozession, an die nun ein festlicher F ackelzug zum Q uirin alsp alast als der neuen
Residenz erinnerte, die einst Sym bol der w eltlichen M acht des Papstes war. Eine
eigene national-m onarchische Tradition und L egitim ation w urde durch die
gleichzeitige B erufung auf die G eschichte des R isorgim entos inszeniert: A uf der
Piazza del Popolo w urden auf vierzehn großen H istoriengem älden Schlüsselsze
nen des R isorgim entos von 1849 bis zum röm ischen P lebiszit von 1870 gezeigt,
wobei die G eburt der N ation aus dem K rieg, ähnlich w ie bei A nton von Werner,
im M ittelp un kt stand. V ittorio Em anuele w ar der H eld in der visuellen E rzählung
der m ilitärischen und politischen A ktionen, nur einm al tauchte G aribaldi als sieg
reicher Feldherr und dam it als K onkurrent auf, der sich freilich in dieser B ilderge
schichte dann beim Treffen von Teano dem K om m ando des Königs unterw arf.
R epublikanische E rinnerungsorte und -figuren, w ie etw a M azzin i und die Volks
arm een, blieben in dieser m ilitärisch-m onarchischen B ildw elt völlig ausgeblendet.
In der F igur G aribaldis zeigte sich die vielfache V erw endbarkeit des N atio n alh el
den für eine politisch-soziale Identitätsstiftung, paßte er doch ebenso in das d y n a
stische G eschichtsbild der M onarchie w ie in die republikanische T radition des R i
sorgim ento, w ie sie später vor allem von der dann regierenden Sinistra beschw o
ren w urde. A uch für autoritäre H errschaftsm odelle, etw a von M in isterp räsiden t
C rispi, ließ sich der ehem alige D iktato r von Sizilien in A nspruch nehm en19.
Die nationalen B ilder von der Vergangenheit, w ie sie uns im 19. Jah rh un dert in
großen H istoriengem älden und populären B ilderbögen, auf D enkm älern und in
20 H ans-U lrich Thamer, G esch ic hte un d P ro pag and a. K ulturh is to ris ch e A u s ste llu n g en in
D er öffentliche U m g a n g mit d er Vergangenheit 235
sehen O sten präsentiert, die A usstellun g „Deutsches Volk - Deutsche A rb eit“ von
1934 deutete G eschichte ganz im Sinne überkom m ener nationaler G eschichtsbil
der als eine A ufstiegs- und N iedergangsgeschichte, in der nun m it der „national
sozialistischen E rhebung“ ein neuer A ufbruch und eine W iederanknüpfung an die
historische Größe des M ittelalters und des friederizianischen Preußens gegeben
war.
D er Zw eck dieser G eschichtsausstellungen für die R epräsentation der D iktatur
in D eutschland w ie m it längerem Vorlauf in Italien w ar eindeutig: Es ging unter
A nknüpfung an nationalistische historische A rgum entationsm uster und m oderne
A usstellungstechniken um die V erbreitung des B ildes einer geschlossenen natio
nalen Volks- und Leistungsgem einschaft, die sich in die K ontinuität der jew eiligen
N ationalgeschichte einfügte und den A nspruch erhob, deren H öhepunkt und
V ollendung darzustellen. Das w ar nicht nur ein angeordnetes Bild, sondern ent
sprach den E rw artungen und A npassungsbedürfnissen verschiedener G ruppen
der G esellschaft. V erm ittelt w urde dieses B ild - und auch das kam beim Publikum
an - m it den m odernsten technischen audiovisuellen und ausstellungsästhetischen
M itteln, die ihrerseits Beweis für den verm eintlich fortschrittlichen C h arak ter des
Regim es und seiner technisch-industriellen M odernität waren. Doch dam it konn
ten sie zugleich ausgesprochen regressive, antiem anzipatorische und inhum ane
Inhalte transportieren. A us der unterschiedlichen G ew ichtung der historischen
A rgum ente und der technisch-industriellen Elem ente dieser A usstellung lassen
sich idealtyp isch drei Form en von A usstellungen herausarbeiten: erstens die hi
storische A usstellun g im traditionellen Sinne, die m eist Them en und K onzepte
der nationalen G eschichtstradition aufgriff, zw eitens die industrielle und soziale
Leistungsschau, die sich auch des historischen A rgum entes bediente, freilich meist
zeitgeschichtlich ausgerichtet w ar und sich auf die faschistische Parteigeschichte
als Leitthem a konzentrierte, und drittens die reine Propagandaausstellung, die
einzig und allein die M yth isieru n g der jew eiligen faschistischen Parteigeschichte
betrieb.
Them en und D eutungsm uster der historischen A usstellungen knüpften vor a l
lem an das überkom m ene R eservoir nationalistisch-im perialer G eschichtsbilder
an, denen w ir bereits im K aiserreich begegneten. W ährend die Titel der A usstel
lungen diese scheinbar ungebrochene nationale K ontinuität suggerierten, w urde
die eigentliche politische Botschaft m eist durch Schlußsequenzen oder durch das
Verfahren der G egenüberstellung präsentiert und durch gestalterische M ittel ver
stärkt. A usstellungen dieser A rt trugen bezeichnenderw eise Titel w ie „Ewiges
D eutschland“ (1934), „Das deutsche A n tlitz im Spiegel der Jah rh un derte“ (1937)
oder „D eutsche G röße“ (1940). V ergleichbar dam it ist die italienische A usstellun g
„M ostra A ugustea della R om anitä“ (1937/38)21. Es w urden jew eils D urchgänge
durch die deutsche und italienische G eschichte angeboten, von der germ anischen
V orzeit bis zum N ationalsozialism us oder vom röm ischen Im perium bis zum
neuen faschistischen Im perium M ussolinis. Im Falle der A ugustusausstellung
w urd e die K ontinuität bzw. Identität durch Parallelisierung erreicht22. So erschien
A ugustus als Feldherr und p olitischer Führer, aber auch als Schöpfer von W ohl
stand und als Priester im D ienste einer R eligion. Dies aber w aren jene Q ualitäten,
die in der faschistischen Propaganda auch M ussolini unterstellt w urden. D ie P ar
allelität der charism atischen Führerherrschaft und die K ontinuität nationaler Ein
heitsstiftung w urden in einem eigenen Saal der W iedergeburt des Im perium s
durch die D arstellung des nationalen E inigungsw erkes V iktor Em anuels und
M ussolinis inszeniert, die von antiken und m odernen Trium phbögen eingerahm t
w aren. Eine M ussolinibüste durfte in deutlicher P arallelität zu A ugustusbildnis-
sen nicht fehlen. Inhaltlich orientierten sich die historischen A usstellungen an tra
ditionellen G eschichtsbildern des 19. Jah rh un derts, die nicht als spezifisch faschi
stisch oder nationalsozialistisch zu kennzeichnen sind, sofern darunter eine ras
senideologische und n ational-revolutionäre, gew altverherrlichende U m deutung
der nationalen G eschichtstraditionen zu verstehen ist.
Daß dies aber nicht die ein zig denkbare und m ögliche G eschichtsdeutung in
den beiden D iktaturen war, die geschichts- und kulturp o litisch flexibel oder auch
indifferent bzw. unausgeprägt genug war, um auch andere, nicht grundsätzlich ab
w eichende national-konservative D eutungsm uster zu akzeptieren und propagan
distisch zu nutzen, zeigen die erw ähnten nationalgeschichtlichen A usstellungen
und die w enigen dazu p ublizierten Kataloge. Was dort zu lesen w ar oder in den
A usstellungen durch Inszenierungen und Ensem blebildung insinuiert w urde, w a
ren herköm m liche Interpretationsm uster, die von nationaler G röße, von M ach t
staat und Kampf bzw. E roberung und Expansion handelten und oft von p rom i
nenten H isto rikern verfaßt w aren. Im Falle der A ugustusausstellun g w ich man
hingegen vom zeitgenössischen Forschungsstand ab und orientierte sich an n atio
nal-im perialen G eschichtsbildern, die in eine einfachere K ontinuitätslinie zum
Staat M ussolinis zu bringen w aren. N ich t Fälschung, sondern einseitige A k zen tu
ierung w ar die D evise dieser G eschichtsinterpretation, w ährend sich in das tra
dierte populäre nationalistische G eschichtsbild der N S-A usstellungen im m er
m ehr rassistische Interpretationen einschlichen. D arstellungsleitende M uster w a
ren in der N S-A usstellung m eistens dichotom ische G eschichtsbilder, etw a über
die M achtentfaltung und A usdehnung des R eiches einerseits, über die nationale
Z ersplitterung und den Verfall andererseits. Das Streben zum Reich, das seinen
H öhe- und E ndpunkt in der E ntfaltung des D ritten Reiches fand, zog sich als
roter Faden durch alle A usstellungen. R assenpolitische M otive bildeten nicht das
eigentliche A usstellungsthem a, sondern dienten als Schlußsequenz einm al der
D eutung des M achtverfalls in der bisherigen G eschichte und der Legitim ation der
neuen Politik des D ritten Reiches. In der A usstellung „N ürnberg - die deutsche
Stadt. Von der Stadt der R eichstage zur Stadt der R eichsparteitage“ (1937 im G er
m anischen N ationalm useum ) w urden in den Schlußsequenzen die N ürnberger
R assengesetze von 1935 in eine K ontinuitätslinie zu r Vertreibung der N ürnberger
Juden un ter Karl IV. gestellt und dam it die N S -P o litik als Ü berw indu ng der „zer
setzenden jüdischen E inflüsse“ präsentiert, die für den M achtverfall seit dem spä
ten M ittelalter verantw ortlich gem acht w urden, um dann die N S-Z eit als W ieder
herstellung des Sinnes deutscher G eschichte zu feiern23.
M it der A ugustusausstellung in der A nlage und These durchaus vergleichbar
w ar die A usstellung „Deutsche G röße“ von 1940, die einen H öhepunkt natio nal
sozialistischer A usstellun gspo litik darstellte und aufgrund ihrer politischen A us
richtung und ihrer A usstellun gsd id aktik in der N S-Presse auch entsprechend ge
feiert w urd e, da sie „zum ersten M al ausschließlich unter politischen G esichts
punkten konsequent durchgeführt und nicht m ehr von halbherzigen K om prom is
sen eingeschränkt w u rd e“24. D ie Them en w aren dieselben w ie in früheren A u s
stellungen: deutsche M achtentfaltung im M ittelalter, O stexpansion von H anse
und deutschem O rden, A ufstieg Ö sterreichs und B randenburg-P reußens und
schließlich die R eichsgründung B ism arck, dazw ischen im m er w ieder „innere Z er
setzung“ und „zerstörerische Ideen“ als G efährdung des R eiches. In dieser Linie
des A uf und Ab bedeutete schließlich die E rlösergestalt A dolf H itler die V erhei
ßung auf Stabilität und Dauer. Er habe, w ie der H isto rik er Fritz R örig begeistert
im K atalog form ulierte, durch die „straffe Zusam m enfassung des R eiches dem
deutschen Erbe im O sten ungeahnte M ö glich keiten “25 verliehen. In der Variante
der A usstellung, die im besetzten B elgien gezeigt w urde, baute man die N S-E uro-
paideologie zusätzlich in die A rgum entation ein. O ptisch erfuhr die These von
der G eschlossenheit eine V erstärkung durch eine einheitliche R aum gestaltung, die
die O bjekte als B edeutungsträger auf optische E inheitlichkeit zurechtstutzte oder
vergrößerte, indem man nicht m it dem authentischen O bjekt, sondern m it R ep li
ken arbeitete, die sich entsprechend verändern ließen.
Ich übergehe die Industrie- und Sozialausstellungen w ie die P ropagandaaus
stellungen, die zw ar ausstellungstechnisch und didaktisch noch sehr viel aufw en
diger und m oderner w aren und dam it an die Standards heranreichten, die die
italienische „M ostra della R ivoluzione Fascista“ von 193226 gesetzt hatte, die aber
wie diese sich allein auf die V erherrlichung der f aschistischen Parteigeschichte und
des Führerm ythos konzentrierte und auf die E inordnung in die G eschichtstradi
tion verzichtete. Statt dessen setzte man auf die V erlockungen der Technik und der
M assenzivilisation, die durch A usstellun gsd id aktik und -them atik den M o dern i
tätsbew eis erbringen sollten.
B licken w ir abschließend auf den U m gang m it G eschichte in der zw eiten N ach
kriegszeit, so fällt grundsätzlich eine zunehm ende P luralisierung der M edien, der
T hem en und D eutungs- bzw. A neignungsform en auf, die jede generalisierende
A ussage erschw ert. G leichw ohl gibt es trotz m ancher abw eichender Position
einen M ainstream , der in charakteristischer Phasenverschiebung und Intensität in
der B undesrepublik D eutschland w ie in Italien zu finden ist. Einen hier nicht w ei
ter zu behandelnden Sonderfall stellt die D D R -G eschichtspolitik m it ihren ver-
ordneten G eschichtsbildern dar, die nach anfänglichen Parallelen m it zunehm en
der Stalinisierung und B ehauptung einer E igenstaatlichkeit einen eigenen Weg
nahm en, der 1989 ein abruptes Ende ohne erkennbare N ach w irkun g fand27.
A uf den ersten B lick w ar die A usgangslage für das nationale G eschichtsbe
w ußtsein in D eutschland und Italien nach 1945 offensichtlich durchaus deckungs
gleich. M an w ar m it einem abrupten Bruch in der nationalen G eschichtskontinui
tät und den dort vorherrschenden Paradigm en konfrontiert. D ie G eschichte w ar
zw ar nicht an ihr Ende gekom m en, aber die „G eschichtsm elodie D eutschlands“,
w ie T heodor H euß es fo rm ulierte28, w ar völlig zertrüm m ert. N ationale Ge
schichtsbilder, die durch die nationalsozialistische H yb ris zur R echtfertigung von
E roberung und V ernichtung m ißbraucht w orden w aren und zu der These Hypo
stasien w urden, der N ationalsozialism us sei die Vollendung der deutschen N atio-
nalgeschichte, w aren zunächst vö llig d iskred itiert; A lternativen w aren nur m üh
sam zu erkennen, da es aus der deutschen G esellschaft auch kaum W iderstand ge
gen diese D eutungen und diese H errschaft gegeben hatte. Eine „E ntpreußung“
der deutschen G eschichte als Teil einer politischen E ntnazifizierung w ar seitens
der Besatzungsmächte zunächst angesagt. Der N ationalsozialism us galt in U m
kehrung der positiven D eutung durch die N ationalsozialisten nun als logische
K onsequenz der gesam ten deutschen G eschichte, die von Luther über Friedrich
den G roßen und B ism arck bis H itler führte und eine einzige „M isere“ darstellte.
A llenfalls die B erufung auf die ku lturellen Leistungen als „guten K ern“ der deut
schen G eschichte, als G egengew icht gegen die G eschichte des M acht- und M ili
tärstaates blieb. Friedrich M einecke, A ltm eister der deutschen G eschichtsw issen
schaft, suchte einen A usw eg in der V erbindung von G eist und M acht und plä
dierte für den p o litisch -kulturellen N euaufbau durch G oethe-Bünde.
A uch Italien stand 1945 vor einem Bruch in der nationalen Identitätsgeschichte,
nachdem der Faschism us den N ationalgedanken völlig für sich vereinnahm t und
die eigene H errschaft unter breiter Z ustim m ung der italienischen G esellschaft als
H öhepunkt der italienischen N ationalgeschichte gedeutet hatte. D och anders als
in W est-D eutschland besaß die Tradition der R esistenza, die in der eigenen R he
to rik und politischen Pädagogik der N ach kriegszeit sicherlich eine größere B e
deutung und Brette besaß als in der historischen W irklich keit unter der faschisti
schen D iktatur, eine große B edeutung für die W iedergew innung einer nationalen
Identität, die an die freiheitlich-dem okratische T radition des R isorgim ento an zu
knüpfen beanspruchte und sich als gem einsam er N enner für eine in sich hetero
gene K oalition aus K atholiken, Liberalen und Kom m unisten anbot. „Die R esi
stenza w urde zum G ründungsm ythos des neuen Staates und der neuen G esell
schaft“29, indem sie sich auf das O pfer der antifaschistischen M ärtyrer und auf die
W iederbelebung des A ktes der nationalen Befreiung berief. Das bedeutete auch
eine Befreiung von den Traditionen der nationalen G eschichte des M achtstaates
und eine H inw endung zur G eschichte der G esellschaft, des K atholizism us, der
A rbeiterbew egung, aber auch U nsicherheiten im U m gang mit der G eschichte der
N ation und des Staates. Zugleich schützte der zum M ythos erstarrte A ntifaschis
mus vor der N o tw en d igkeit einer historisch-em pirischen B eschäftigung m it der
faschistischen Vergangenheit. Indem der Faschism us zum O bjekt eines tausend
fach beschw orenen A bscheus und einer rhetorischen D istanzierung w urd e und
blieb, brauchte man nicht über die historischen Zusam m enhänge seines Entste
hens und seiner H errschaftsm echanik einschließlich des breiten Konsenses, den
die Führer-H errschaft M ussolinis gefunden hatte, nachzudenken und sich selbst
unangenehm e Fragen zu stellen. D ie historische A ufarbeitung des Faschism us be
gann erst in den 1970er und 1980er Jah ren , beispielsw eise durch historische Streit
schriften oder durch historische A usstellungen über K ultur und W irtschaft der
1930er Jahre. D am it w aren die „Ferien von der G eschichte“, die 1945 eingesetzt
hatten, zu Ende; es w ar die M ö glich keit eröffnet, „für die M assen ein kollektives
G edächtnis zurückzu gew in n en “30.
N ationale G egenm ythen, die sich durch W iderstand gegen den N atio n also zia
lism us zusätzlich legitim iert hatten, gab es im N achkriegsdeutschland nicht, sieht
man einm al von dem verordneten A ntifaschism us der D D R ab, der bis 1989 P o li
tik und G esellschaft des anderen deutschen Staates erlaubte, sich auf die Seite der
Sieger zu stellen, w o man m ehrheitlich doch zu den kleinen oder auch größeren
T ätern bzw. V erantw ortlichen gehörte31. M it der A nerkennung staatlicher und
sozialer K ontinuitätslinien über 1945 hinaus hat sich die B undesrepublik den u n
gleich schw ierigeren Part im U m gan g m it der N S-V ergangenheit aufgeladen. Das
erforderte eine schw ierige Balance zw ischen einer norm ativen p o litisch -m o rali
schen A bgrenzung vom N ationalsozialism us einerseits und einer Integration der
M illionen von Individuen andererseits, die das D ritte R eich als M ittäter bzw. M it
läufer oder auch in innerer D istanz überlebt und erlebt hatten, in die Staatsbürger
gesellschaft der B undesrepublik. A uch w enn dieser Prozeß im R ückb lick trotz
29 P etersen , W an d lu n g en 711.
30 Ebd. 737.
31 A u s d er um fan greich en L ite ra tu r je tz t P e te r R eich el, V e rg a n g en h e itsb e w ältig u n g in
D eu tschlan d. D ie A u sein an d ersetz u n g m it d er N S -D ik ta tu r von 1945 b is h eute (M ü n ch en
2 0 0 1 ).
240 H a n s - U l r ic h T h a m e r
32 D azu E dgar Wolfrum, G esch ic h tsp o litik in d er B u n d e sre p u b lik D eu tsch lan d . D er W eg
z u r b u n d esrep u b lik a n isc h e n E rin n eru n g 19 48-19 90 (D arm stad t 1999).
D er öffentliche U m g a n g mit der Vergangenheit 241
33 H ans-U lrich T h am er , Vom H eim atm u seu m z u r G esch ich tssch au . M useen u n d L an d e s
au sstellu n gen als O rt d er E rin n eru n g un d d er Id e n titä tsstiftu n g , in: W estfälische F o rsch u n
gen 46 (1996) 4 2 9 -4 4 8 .
34 A ls D o k u m en tatio n d er K o n tro v erse C hristoph Stölzl (H rsg .), D eutsches H isto risc h e s
M useum . Ideen - K o n tro v ersen - P ersp e k tiv e n (B erlin 1988).
242 H a n s- U lric h T h a m e r
I.
G ut 50 Jah re nach K riegsende ist w eder in Italien noch in D eutschland klar, was
eigentlich unter „N atio n alk ultu r“ zu verstehen sei. „K ultur“ w ie „N ation“ sind
aus gegenw ärtiger Perspektive ebenso um strittene w ie vieldeutige Begriffe. Als
Z eithistoriker vergleichend über eine verm eintliche „N atio n alk ultu r“ Italiens und
D eutschlands zu schreiben, erfordert also w enigstens einige kurze E rläuterungen
darüber, unter w elchem B lickw inkel von w elchen theoretischen V oraussetzungen
aus ein solches Them a behandelt w erden soll. B egriff w ie Sache ergeben sich in
beiden Ländern aus der besonders engen V erzahnung von B ildung, Kunst und L i
teratur m it der N ationalbew egung im 19. Jah rh un dert. Bevor sie zu N ation alstaa
ten w urden, galten Italien und D eutschland bereits als sprachlich und k u ltu rell
literarisch geeinte N ationen. Entsprechend großes G ew icht hatten die V orstellun
gen und W erke von Literaten, G elehrten und Künstlern für das N ation albew u ßt
sein der Trägerschichten der N ationalbew egung beider Länder. D ie Leitidee der
K ulturnation bzw. des Volkes, das aufgrund gem einsam er Sprache, Kunst und
G eschichtsbew ußtsein zum Träger des Staates w ird , hat für die N ation albew egun
gen beider Länder bis zur E inigung und N ationalstaatsgründung eine w ichtige
Rolle gespielt. Das m it hohen E rw artungen an ihre kulturschöpferische W irkung
verknüpfte „Intellektuellen-K onstrukt, als das hier N ation au ftritt“ 1, stieß sich
dann nach 1860 bzw. 1871 zunehm end an den harten R ealitäten nationaler P o litik
bzw. nationaler K lassengesellschaften. Es zeigte sich schon bald, daß „N atio n al
ku ltu r“ trotz realisierter politischer E inheit ein höchst prekäres und pro b le
matisches Ziel blieb, das des ständigen Einsatzes nationalbew ußter P o litik er und
geln für die H erstellung und V erbreitung ku ltureller G üter innerhalb einer N a
tio n “5. Es handelt sich bei näherer B etrachtung um ein höchst disparates Ensem
ble vom P raktiken, W erten und Institutionen. D abei lassen sich m indestens fünf
A spekte unterscheiden:
1. „N atio n alk ultu r“ bezeichnet zunächst einm al das Ensemble von V orstellun
gen, die eine V erbindung hersteilen zw ischen Sprache, Literatur, Kunst oder noch
allgem eineren Ideen einerseits und dem politisch-sozialen Ensemble „N ation“
oder „Volk“. W ir befinden uns hier auf d er Ebene der D eutungsm uster und G e
sam tkonzeptionen, w ie sie etw a folgenreich von H erder, Fichte, Leopardi oder
M azzin i en tw ickelt und vertreten w orden sind. Ideelle G rundlage und politische
A n trieb skraft dieser D eutungsm uster ist der „Kampf um eine gem einschaftliche
Lebensform “6 für die eigene N ation.
2. „ N atio n alkultu r“ bezeichnet ein G eflecht von Institutionen (Verlage, A kad e
m ien, Schulen, U niversitäten, Vereine), die für die V erbreitung und die R ep ro d u k
tion all jener W erke und W issensbestände sorgen, die in den nationalen Kanon
von „B ildun gsgütern “ eingegangen sind und den K ernbestand dessen bilden, was
als beglaubigtes hochkulturelles Erbe der eigenen „Lebensform “ G eltung besitzt.
3. „N atio n alk ultu r“ existiert zugleich auch als N orm angeeigneten W issens
über diese W erke und deren leitenden W erte. Sie ist in diesem Sinn eine spezifische
A usp rägun g von „B ildung“, die von einzelnen G ruppen der politischen N ation in
besonderem M aße interpretiert und ak tualisiert w ird , aber zugleich auch auf allge
m eine A nerkennung und m indestens partielle Kenntnis aller M itglieder einer N a
tion A nspruch erhebt. In dieser D im ension lassen sich besonders gut die sp ezifi
schen W irkungsabsichten und der W andel der B eziehungen zw ischen politischer
Ideenw elt und literarisch -künstlerischer K ulturw elt beobachten.
4. „N atio n alk ultu r“ m eint zugleich auch die konkreten Praktiken der A n eig
nung von B ildungsgütern und Traditionen vor dem H intergrund der allgem ein
geteilten Leitvorstellung einer „N atio n alk u ltu r“. N icht was die Schule als N orm
setzt, sondern was der M ark t der U nterhaltungskünste anbietet und von den B ür
gern m it nationalpolitischer B edeutung besetzt w ird , ist unter diesem G esichts
punkt von Interesse.
5. M it der E tablierung des D eutungsm usters, mit der K onsolidierung von Insti
tutionen und R outinen der A neignung w ird die N atio n alkultur selbst zum Ge
genstand historischer R eflexion. Seit dem letzten D rittel des 19. Jahrhunderts
führte die Frage nach der zeitgem äßen A usgestaltung des n ationalkulturellen A uf
trags, die ku lturelle Einheit der N ation sicherzustellen und ihrer politischen, w irt
schaftlichen und sozialen B edeutung in angem essener - d .h . aber im m er auch in
international ko n kurrenzfähiger - W eise zu bew ahren, im m er w ieder zu funda
m entalen K onflikten in P o litik und Kultur.
Dieses lose zusam m engefügte Ensemble von V orstellungen und P raktiken w ird
im Kern zusam m engehalten durch die spannungsvolle Beziehung zw ischen den
unterschiedlichen kulturellen A usdrucksw eisen, die realiter innerhalb der als Ein
heit gedachten oder staatlich realisierten „N ation“ nebeneinander existieren. W ir
dürfen nicht vergessen, daß „N atio n alk ultu r“ D yn am ik und D urchsetzungskraft
durch die rom antische Leitidee gew innt, Elem ente der zeitgenössischen E liten
ku ltur zu verbinden m it A spekten der sogenannten Volkskultur. Dieses bipolare
O rdnungs- und Beziehungsschem a ist einerseits grundlegend für das gesam te
K onstrukt, andererseits w ird es bereits im 19. Jah rh un dert gesprengt durch den
unaufhaltsam en A ufstieg der m arktförm ig organisierten U nterhaltungskünste7.
M it „H och“k u ltu r w ird daher nur noch jene engere Sphäre von W erken und Ein
stellungen bezeichnet, die den Segen der B ildungsinstitutionen, der anerkannten
Instanzen der K ulturpflege oder der sich vom Publikum sgeschm ack und B il
dungskanon em anzipierenden K ulturproduzenten selbst haben. D avon lassen
sich als „B reiten“- oder „M assen“k u ltu r jene P raktiken abgrenzen, die zw ar auf
eine große, auch zahlungsfähige N achfrage stießen, aber von den V ertretern so
w ohl der offiziellen B ildungsinstitutionen als auch der kulturellen A vantgarden
abgelehnt bzw. bestenfalls geduldet w orden sind. Seit der wachsenden K om m er
zialisierun g der U nterhaltungsw ünsche der vielen trat seit dem ausgehenden
19. Jah rh un d ert auch diese sogenannte „M assen kultur“8 in das B eziehungs- und
Spannungsfeld der N ation alkultur ein. Dies veränderte die A usgangslage grun d
legend, w eil die kom m erzielle U n terh altun gskultur den etablierten G egensatz
zw ischen „G ebildeten“ und „U ngebildeten“ aushöhlte und in ein kom plexeres
System „feiner U nterschiede“ transform ierte. Sie w irk te dam it in genau die g lei
che R ichtung w ie der Prozeß der N ationsbildung, d .h . sie führte zu stärkerer k u l
tureller Integration und Partizip atio n der vielen. U m so interessanter ist die B eob
achtung, daß sich dennoch kein stabiler G leichklang zw ischen den politischen
und sozialen Prozessen der N ation alisierun g und dem W erdegang der N atio n al
kulturen beobachten läßt.
D ie deutschen und italienischen Pfade m öchte ich in drei Z eitabschnitten un ter
suchen: 1. die kulturellen Fundam ente der beiden N ationalstaatsgriindungen; da
bei w erde ich m ich im w esentlichen auf Phänom ene der Jahrzehnte zw ischen 1820
und 1860 beziehen. 2. D ie K onstellation der Jah rh un dertw en de, die ich vor allem
unter dem G esichtspunkt der V erbreitung der nationalen H ochkulturen betrach
ten m öchte. 3. die Jah rzeh n te zw ischen K riegseintritt beider Staaten in den Ersten
W eltkrieg und dem Ende des Z w eiten W eltkriegs; hier m öchte ich mich vorrangig
mit der nationalpolitischen Steuerung einer neuartigen M assenkultur beschäfti
7 K aspar Maase, G ren zen lo ses V ergn ügen. D er A u fstie g d er M a sse n k u ltu r 18 50-19 70
(F ran k fu rt a.M . 1997), im fo lgen d en z it.: Maase, V ergn ügen ; D a v id Forgacs, Ita lia n C u ltu re
in the In d u strial E ra 1880-19 80: C u ltu ra l In d u stries, P o litics and the P u b lic (M an c h e ste r
1990), im fo lgen d en z it.: Forgacs, C u ltu re .
8 Zu B e g riff u n d S ach e vgl.: Timm G e n ett , A n g st, H aß u n d F aszin atio n . D ie M asse als in te l
le k tu e lle P ro je k tio n un d d ie B e h a rrlic h k e it des P ro jiz ie rte n , in: N P L 44 (1999) 193-240.
248 L u tz R a p h a el
gen. Den letzten A bschnitt m öchte ich dann in gebotener K ürze einem A usb lick
auf die A uflösung n atio nalkultureller Traditionsbestände in beiden Ländern nach
1945 w idm en.
II.
9 V gl. h ie rz u : Pau l H azard, L a re v o lu tio n fran gaise et les lettres italien n es (P aris 1910);
Friedrich Wolfzettel, Peter Ibring, K a th o lizism u s u n d N a tio n alb e w u ß tse in im italien isch en
R iso rg im en to : M o d elle n atio n a ler Id e n titä tsb ild u n g d u rc h R e lig io n (F ran k fu rt a.M . 1991);
Marco C erruti, D alla fin e d e ll’antico regim e a lia R e sta u ra z io n e , in: L e tte ra tu ra ita lia n a , Vol. 1
Il le tte ra to e le is titu z io n i, h rsg. v. Alberto A sor Rosa (T o rin o 1982) 3 9 1 -4 3 2 ; Roberto Tessari,
II R iso rg im e n to e la c risi di m etä seco lo , in : eb d. 4 3 3 -4 6 8 ; Georg Bollenbeck, B ild u n g .
10 Wiedemann, Ulrich J. Beil, D ie .v e rsp ätete N a tio n “ un d ih re .W e ltlite ra tu r“: D eu tsch e K a
n o n b ild u n g im 19. u n d frü h en 20. Ja h rh u n d e rt, in: Renate von H eydebrand (H rsg .), K anon,
M ach t, K u ltu r (S tu ttg a rt 1998) 3 1 5 -3 2 2 . H inrich C. Seeba, N a tio n a llite ra tu r. Z u r A sth etisie -
ru n g d e r p o litisch en F u n k tio n von G esch ic h tssc h re ib u n g, in: K u ltu rn atio n sta tt p o litisch er
N a tio n ?, h rsg. v. Franz N orbert Mennemeier, C onrad Wiedemann (T ü b in g en 1986) 197-207.
Von der liberale n K u ltu rn atio n z u r nation alistisch en K ulturgem ein schaft 249
Neu ist, daß diese nationalbew ußte K ulturpflege der G elehrten, K ünstler und
L iteraten nun als B eitrag für die politische E inigung des eigenen Volkes gedeutet
w urde. D ie R evolutionsepoche m it ihren politischen U m brüchen und K riegs
ereignissen bot A nlässe genug, P o litik und K unst aufs engste m iteinander zu ver
binden. Im Zuge der R eform politik in V erw altung und B ildung entstanden auch
erste Projekte zur institutionellen A bsicherung der neuartigen Verbindungen z w i
schen H ochkultur, Volk und Politik. E rinnert sei an dieser Stelle nur an F riedrich
Im m anuel N ietham m ers Idee eines „N ationalbuches“ als „G rundlage der allg e
m einen B ildung der N ation “ von 1808. A ls b ayerischer Z entral-Schulrat w ar er
der berufene M ann für ein n atio nalkulturelles Program m 11.
N ach dem W iener Kongreß, m it der F ortdauer der politischen Teilung der b ei
den N ationen in zahlreiche E inzelstaaten, bekam das literarische und ku lturelle
Z usam m engehörigkeitsgefühl der G ebildeten beider Länder im m er stärker p o liti
sche Q ualität. A m Vorabend der R evolution von 1848 schrieb ein italienischer In
tellektueller: „U na storia della letteratura italiana sarebbe una storia d T talia"12. In
der trium phierenden R ückschau nach erreichter Staatsgründung konnte der D ich
ter C arducci dann auch selbstbew ußt die R ealität des „In tellektuellen kon strukts“
betonen: „Q uando il principe di M etternich disse l’Italia essere u n ’ espressione
geografica, non aveva capito la cosa; ella era u n ’espressione letteraria, una tradi-
zione p o etica“ 13. U nd ein italienischer B eobachter erklärte seinen Landsleuten die
m ilitärisch-diplom atische E inigung D eutschlands als „Triumph einer langen C u l-
tu rarb eit“ 14.
U ber die literarischen K ontroversen der Zeit hinw eg entstand in beiden L än
dern ein gegenw artsoffener Kanon großer W erke und A utoren, w elche die eigene
N ationalsprache m aßstabbildend geform t oder im Fall der bildenden K ünstler das
ästhetische Potential des eigenen Volkes exem plarisch artiku liert h atten 15. B il
dungserlebnisse en tw ickelten nationalpolitische R elevanz und die B iographien
der N ationalbew egungen beider Ländern zeigen uns im m er w ieder die engen Ver
quickungen ku ltureller und politischer W ahrnehm ungsm uster. E xem plarisch läßt
sich dies an den literarhistorischen K lassikern zeigen. G ervinus und De Sanctis
vollzogen beide auf ihre A rt und Weise die zentralen O perationen, die für die
der Frage, w arum die italienische L iteratur in Italien nicht populär sei19. D er
A utor kam zu dem Ergebnis, daß vor allem das w eibliche Publikum die zeitgenös
sischen R om anautoren Frankreichs oder Englands bevorzuge, eine Beobachtung,
die m it deutlichen E inschränkungen, man denke nur an den Erfolg von G. F re y
tag, auch für die deutsche Leserschaft G ültigkeit hatte.
Bevor w ir uns w eiter m it den Wegen der V erbreitung der entstehenden „N atio
n alk u ltu r“ befassen, ist jedoch grundsätzlich ihre begrenzte Popularität zu beden
ken und zu beachten, w enn w ir nicht den B lick für die Proportionen verlieren
wollen: D ie ku lturelle Institution im deutschen Sprachraum überhaupt, das T hea
ter, ratifizierte zw ar sehr rasch die K anonisierung der W eim arer K lassiker, doch in
der Praxis dieses städtischen U nterhaltungsortes par excellence, dessen Publikum
w eit über A del und B ildungsbürgertum hinausreichte, dom inierte nicht die „N a
tio n alliteratu r“, sondern das bew ährte R epertoire von U nterhaltungsstücken
internationaler H erkun ft20. „N icht der m it norm ativem G eltungsanspruch nach
und nach sich herausbildende Kanon .klassischer' Kom ponisten, A utoren und
W erke bestim m te das R epertoire, sondern die V orstellung des jew eiligen P u b li
kum s davon, was unterhaltsam sei.“21 Bereits zu Lebzeiten hatte G oethe in der
Publikum sgunst den kürzeren gegenüber K otzebue gezogen. N icht seine Stücke,
nur seine bald als klassisch definierten B ildungsbestrebungen und V ersittlichungs-
ansprüche setzten sich durch. Schließlich behauptete das M usiktheater, das in der
P ublikum sgunst eindeutig den V orrang vor dem Sprechtheater genoß, seinen in
ternational-europäischen Charakter. In deutschen O pernhäusern dom inierte nach
w ie vor die italienische Oper, dann ab M itte des Jahrhunderts die italienische und
französische O perette. In dieser H insicht ergibt sich zum indest für die T heater
w elt eine erste D ifferenz zw ischen beiden Ländern, w enn man nach der Stellung
der jew eiligen nationalen K lassiker im m usikalischen R epertoire fragt. In Italien
w urden die international so erfolgreiche O per und ihre gefeierten zeitgen ö ssi
schen Protagonisten w ie Rossini, Verdi oder Puccini zu dem und über lange Zeit
einzigen populären Teil der neuen „N atio n alk u ltu r“. Dem ist im deutschsprachi
gen Raum dam als, d .h . vor Wagner, nichts G leichartiges an die Seite zu stellen.
Statt dessen fand nördlich der A lpen die eigene N ation alliteratur als Teil der
neuen schulischen B ildung w achsende V erbreitung und vor allem kanonische
G ültigkeit. A nders als in Italien fand in den deutschen Staaten der kulturelle und
intellektuelle A ufbruch um 1800 seinen A bschluß und das Fundam ent seiner w ei
teren Prägekraft in den neuhum anistischen Reform en der höheren B ildun gsinsti
tutionen22. N eben Latein und G riechisch etablierten sich dabei allm ählich der
19 R u g g ier o B on g h i, P erch e la le tte ra tu ra ita lia n a non sia p o p o lare in Ita lia (N a p o li 1884).
20 V gl. h ierz u : Ute Daniel, H o fth eater. Z ur G esch ich te des T h eaters u n d der H ö fe im 18.
und 19. Jah rh u n d e rt (S tu ttg a rt 1995).
Ebd. 39.
“ B ollenbeck , B ild u n g ; Karl-Ernst J eis m a n n , D ie E n tsteh u n g des G ym n asiu m s als S ch ule
des Staates un d d er G eb ild eten , 1787-1817 (S tu ttg a rt 1996); ders., H ö h ere B ild u n g zw isch en
R eform und R e a k tio n 1817-1859 (S tu ttg art 1996).
252 L u t z R aph ael
23 Horst Joachim Frank, G esch ichte des D eu tsc h u n terrich ts. Von den A n fän gen b is 1945
(M ü n ch en 1973) 2 1 5 -4 8 4 .
24 H errlitz, L ek tü re-K an o n 123-132.
25 M arino Raicich, Itin erari d elia scu o la classica d e ll’ O tto c en to , in: Soldani, Turi, F are, B d. 1,
1 3 1-170 , im fo lgen d en z it.: Raicich, Itin erari.
26 Bollenbeck, B ild u n g 126.
Von der liberale n K u ltu rn atio n z u r n ationalistischen K ulturgem ein schaft 253
bürgertum , 1875 auf 382000 Exem plare kam , m ußte sich ihr italienisches Pendant
„l’Em porio pittoresco“ m it einer A uflage von 10000 Exem plaren (1873) zufrieden
geben31. Insgesam t w ar die B uchproduktion in D eutschland nach Titeln und A uf
lagenhöhen etw a dreim al so hoch w ie in Italien.
Diese U nterschiede in der A uflagenhöhe und Publikationsdichte verweisen auf
eine jew eils andere kulturelle G esam tkonstellation in den beiden Ländern. Vor
1860 lassen sich in Italien nur in ganz abgeschw ächter Weise die Spuren der „Le
serevolution“ beobachten. Die bescheidenen A nsätze konzentrierten sich vor
allem in M ittel- (Florenz) und N orditalien (Turin, M ailand). Zollschranken, Zen
sur, Fortdauer der älteren Lesepraxis intensiver W iederholungslektüre religiöser
w ie auch hum anistischer Klassiker, vor allem aber das Fehlen einer breiteren L e
serschaft selbst in den Städten ließen die italienische H albinsel nach 1750 deutlich
zurückfallen gegenüber den nördlichen L eseregionen32. Einige D aten können dies
verdeutlichen: 1861 zählte die am tliche Statistik des neuen K önigreichs 78% A n
alphabeten und um 1870 gingen laut Schätzungen noch 62% der schulpflichtigen
K inder nicht oder nur sehr unregelm äßig zu r Schule33. In einer solchen B ildun gs
landschaft w endeten sich V erleger und B uchhändler in Italien zunächst einm al an
eine verschw indend kleine M inderheit.
E rschw erend kam in Italien h inzu, daß die Frage der nationalen H ochsprache
nach w ie vor aktuell, auch von dieser Seite her die grundlegende E inheit eines
literarischen M arktes längst nicht sichergestellt war. Folgt man den Berechnungen
T ullio De M auros, der in diesem Zusam m enhang im m er w ieder herangezogen
w ird , so sprachen gerade einm al 2,5% der B evölkerung des neugegründeten Kö
nigreichs Italienisch als M uttersprache, die übrigen G ebildeten beschränkten sich
darauf, es als Schriftsprache zu benutzen, die sie selbst nicht sprachen34. Sprach
p o litik und Sprachschöpfung gehörten deshalb zu besonders intensiv diskutierten
Them en unter den Intellektuellen des R isorgim ento. T ypischerw eise entw ickelte
sich daraus w iederum eine K ontroverse zw ischen den Puristen, die die kano n i
sierte L iteratursprache der F lorentiner K lassiker verteidigten, und den M o d ern i
sten, die für eine A npassung und A nnäherung der Schriftsprache an die gespro
chene Sprache plädierten, um eine neue G rundlage für eine nationale V erkehrs
sprache zu schaffen35. Zum Z eitpunkt der N ationalstaatsgründung w aren also in
Italien die V oraussetzungen für die m assenhafte V erbreitung irgendeiner „N atio
n alliteratu r“ noch keinesw egs gegeben.
Trotz aller U nterschiede gingen in beiden Ländern die ku lturell tonangebenden
Liberalen davon aus, daß über Schule und V olksbildung die eigene K ultur allm äh
lich zur K ultur des gesam ten Volkes w erden könnte und sollte. Sicherlich üb er
tätig und m eldete 1851 den Vertrieb von 4,5 M illionen B üchern. A uf katholischer
Seite nahm en die entsprechenden A nstrengungen seit 1845 m it der G ründung des
„Borrom äus-V ereins“ einen A ufschw ung. Solcher W irksam keit konnten die N a
tionalbew egten lange Zeit nichts G leichw ertiges zur Seite stellen.
III.
M achen w ir nun einen Sprung gut 30 Jah re w eiter, und beobachten wir, ob sich
diese strukturellen R ahm enbedingungen für die E ntfaltung hom ogener N atio n al
ku lturen in D eutschland und Italien angenähert und w ie ihre Vertreter auf die
neuen H erausforderungen einer in dustriellen M assengesellschaft reagiert haben.
In beiden Ländern haben die staatlichen A lphabetisierungsbem ühungen den
Kreis m öglicher Kunden für die A ngebote der N atio n alku ltu r vergrößert, den
noch ist das Tempo dieser Expansion in D eutschland nach w ie vor größer als in
Italien. „An der Schw elle des Ersten W eltkrieges dürften die V oraussetzungen zur
verständigen R ezeption gedruckter Texte bei etw a zw ei D ritteln der deutschen
E rw achsenenbevölkerung vorhanden gew esen sein (ein P rozentsatz von m inde
stens 20 bis 25% ist bekanntlich heute noch jed er L esekultur un zugän glich).“39 In
Italien um faßt dieser bereits sehr w eit gefaßte Personenkreis deutlich w en iger Per
sonen, bestenfalls die H älfte der erw achsenen B evölkerung (49% 1901) galt als
alphabetisiert. W ährend also im B ereich der V olksschulbildung nach w ie vor gro
ßer N achholbedarf südlich der A lpen und do rt insbesondere in den südlichen
Landesteilen und auf den Inseln herrscht, nähern sich die schulischen Vorausset
zungen für die V erbreitung der inzw ischen als N orm unum strittenen N ation al
ku ltur im engeren Kreis der G ebildeten und B ildungsbeflissenen einander an. Im
neugegründeten K önigreich Italien w ächst näm lich der P rozentsatz der Schüler,
die eine höhere Schule besuchen, ständig schneller als der Kreis der A lp h ab etisier
ten. Vor allem das städtische K leinbürgertum sorgt für diesen anhaltenden N ach
frageboom nach höheren B ildungsabschlüssen, der d irekt der V erbreitung natio
n alkultu rellen B ildungsw issens und entsprechender K ulturw erte zugute kom m t.
D erselbe Trend ließ sich bereits 30 Jah re früher in den deutschen Staaten beobach
ten, und er setzte sich auch im K aiserreich fort. D er A nteil Schüler, die höhere
Schulen besuchten, stieg im K önigreich Italien von 73 pro 100000 Einw ohner im
Jah r 1861 auf 291 im Jah r 1901 und noch w eiter auf 521 im Jah r 1911. In Preußen,
dem deutschen Land, für das entsprechende Zahlen vorliegen, w aren es 1860 be
reits 310 pro 100000 E inw ohner gew esen, aber ih r A nteil stieg in der Folgezeit
deutlich langsam er an als in Italien: 1900 kam en 470 und 1911 580 Schüler höherer
Schulen auf 100000 Einwohner. D ie A nteile der deutlich kleineren G ruppe der
Studierenden hatten sich um die Jah rh un dertw en de nördlich und südlich sogar
um gekehrt: In Italien w urden 1901 83 Studenten pro 100000 gezählt, im D eut-
schaftier. Bis 1900 hatten die italienischen A kad em iker - vor allem in den G eistes
und Sozialw issenschaften - einen festen P latz in den internationalen N etzw erken
erringen können. A uch die neo-idealistische W ende, die nach Jahrzehnten p o siti
vistischer M einungsführerschaft in der in tellektuellen Welt Italiens seit 1890 zu
beobachten ist, rückte das Land noch näher an die deutsche K ulturw elt heran, in
der die idealistische A bw ehrreaktion gegen den unaufhaltsam en A ufstieg der N a
turw issenschaften und deren W issenschaftsm odelle ähnlich heftig ausfiel. W ie
derum sind im Feld der n atio nalkulturell bedeutsam en Intellektuellen zunächst
einm al, wie vor 1870, die G em einsam keiten und P arallelen zu betonen. Schließlich
w aren die Träger der offiziellen N atio n alku ltu r um 1900 m it vier gleichartigen
neuartigen E ntw icklungen konfrontiert, die die K onstellation dessen, was w ir z u
sam m enfassend als „N atio n alk ultu r“ identifiziert haben, tiefgreifend veränderten:
Zum einen entstand eine neuartige K onkurrenz der im perialen G roßm ächte
Europas auch im kulturellen und w issenschaftlichen Sektor. D ie N ation alkultur
w urd e zu einem w ichtigen Elem ent im W ettbew erb der G roßm ächte um M acht
und E influß. D ie politischen Eliten beider Länder suchten im Bündnis m it füh
renden Intellektuellen neue Form en ku lturp o litisch er Propaganda im A usland zu
entw ickeln. D ie E inrichtung von deutschen und italienischen Schulen, die Ver
breitung und Ü bersetzung deutscher L iteratur in der W elt, die E inrichtung von
A uslandsinstituten gehörten als B egleitprogram m in diese Phase im perialistischer
K onkurrenz45. D ahinter stand jedoch für beide N ationalstaaten das handfestere
Problem , daß sie zu den größten A usw andererstaaten Europas gehörten und die
deutsch- und italienischsprachigen A usw an derer in ihren E inw andererregionen in
der R egel nur M inoritäten bildeten, die in die Z w ickm ühle zw ischen ku ltureller
Selbstbehauptung und A npassung an ihre hispano- bzw. lusitano-am erikanischen
oder anglo-am erikanischen U m gebungen gerieten. D ie Pflege der nationalen
H o ch kultur ging in diesen A usw andererm ilieus häufig ein enges Bündnis m it der
gezielten Pflege von B rauchtum und Elem enten der heim atlichen A lltagsk u ltu r
ein, die zu ganz ungew öhnlichen N euarrangem ents und N eudefinitionen der
jew eiligen N atio n alku ltu r führen sollte. Vor allem im ländlichen Italien w irkten
die aus A m erika oder anderen, europäischen Ländern zurückkehrenden A rb eits
m igranten als M ultip likato ren für die N ationalkultur, gründeten Theatervereine
und stifteten D ichterbüsten. So etw a kam ein B ergdorf in der G arfagnana, Pro
vinz Lucca, in den 1890er Jahren in den G enuß eines kleinen Theaters und einer
Büste des patriotischen D ichters C ard ucci46.
Die staatliche K ulturp o litik ihrerseits konzentrierte sich vor allem auf die
Pflege der patriotischen nationalen H ochsprache und die prestigefördernde D ar
stellung von Spitzenprodukten der eigenen K ulturtraditio n. Die gleichzeitig auf
höchster diplom atischer Ebene und im A lltag bedeutsam e K onkurrenz von K ul
45 B eatrice Pisa, N a z io n e e p o litica n ella S o cietä „D ante A lig h ie r i“ (R o m 1995); Patrizia Sal-
ve tti, Im m ag in e n az io n ale ed e m ig ra z io n e n ella S o cietä „D ante A lig h ie ri“ (R o m a 1995).
46 R ola n d Sarti, L o n g live the Stron g. A H is to ry of ru ra l S o c ie ty in the A p e n n in e M o un tain s
(A m h u rst 1985).
Von der liberale n K ulturn ation zu r n ation alistisch en K ultu rge m e in sc h a ft 259
duzenten selbst setzten, sprengte den R ahm en n atio nalkultureller E tikette, die
nicht zu letzt in der Pflege der K lassik und in der Fortsetzung eigener T raditions
linien bestand. D er Bruch m it diesen T raditionen ging einher m it einer w achsen
den Internationalisierung der hochkulturellen Produktion. N aturalism us und
Im pressionism us m arkieren die W asserscheide in diesem Prozeß, der das K onzept
der N atio n alku ltu r im m er stärker historisierte, die A ufnahm e zeitgenössischer
A utoren in den Kanon im m er schw ieriger m achte und schließlich B egriff und
Sache allm ählich auf den festen Kanon schulisch verm ittelter und offiziell gefeier
ter W erke und A utoren reduzierte. D ie R enaissance von K lassikern (etw a der
G oethekult im w ilhelm inischen B ildungsbürgertum ) und die wachsende zeitliche
und stilistische D istanz zw ischen nationalem Kanon und G egenw artsliteratur
oder Kunst gehören in diesen Zusam m enhang. D ieser vielschichtige Prozeß ist in
der L iteratur- und K unstgeschichte beider Länder für die Jahrzehnte 1890-1910
vielfach an alysiert und dargestellt w orden. A n dieser Stelle können w ir uns des
halb darauf beschränken, die Folgen für die W eiterführung n atio nalkultureller
A m bitionen zu um reißen. Zum einen gehörten B ürgerkün stler der nationalen Be
w egungsphase (G. F reytag, G. C arducci) um 1900 im m er m ehr der Vergangenheit
an, die neuen literarischen und künstlerischen A vantgarden entw ickelten ein aus
gesprochen voluntaristisches und selbstreferentielles Verhältnis zur N ation. G a
briele d ’A nnunzio und die italienischen Futuristen liefern zw ei Paradebeispiele
für diese neue K onstellation. Zum ändern gew ann un ter den Trägern der nationa
len K ulturw erte eine kulturpessim istische Ström ung im m er deutlicher an Ge
w icht, sie w urd e in dieser Phase zum eist jedoch noch überspielt durch die B em ü
hungen um historisierende Synthesen bzw. abgem ildert durch historisch reflektie
rende K u ltu rk ritik und K ulturphilosophie. A lle Ström ungen hatten in der w ilh el
m inischen Ä ra K onjunktur und fanden Z uhörer und A nhänger im Kreis der
G ebildeten50. In Italien finden sich vergleichbare P h änom ene, jed o c h in deutlich
abgeschw ächter Form . Dies mag auch dam it Zusam m enhängen, daß südlich der
A lpen der N ationalism us in den K ulturdebatten sich schw ächer und w eniger
deutlich artikulierte.
V iertens etablierte sich in beiden Ländern ein m arkanter ideologischer Bruch in
der V olksbildungsbew egung. N eben der nationalliberalen R ichtung w aren nun
K atholiken und Sozialisten bzw. laizistische D em okraten besonders stark auf die
sem Feld engagiert. Trotz der zahlreichen Ü bereinstim m ungen bei den bildungs
politischen Zielen überw ogen doch die w eltanschaulichen D ifferenzen und die
politische K onkurrenz, so daß diese V olkskulturbew egung zunächst einm al dazu
beitrug, die unterschiedlichen politischen Lager auch ku lturell und w eltanschau
lich voneinander abzugrenzen. In diesem Sinn läßt sich die Feststellung von D ie
ter L angew iesche über die deutsche V olksbildungsbew egung auch auf Italien
übertragen: „Es gehört näm lich zu den B esonderheiten der deutschen (und auch
50 Ekkehard Mai, Stephan Waetzoldt, G e rd Wolandt (H rs g .), Id een gesch ich te un d K un st
w issen sch aft. P h ilo so p h ie u n d b ild e n d e K un st im K aiserre ic h (K u n st, K u ltu r u n d P o litik im
D eu tsch en K aiserreich 3, B erlin 1983).
Von der liberale n K u ltu rn atio n z u r n ationalistischen K ulturgem ein schaft 26 1
54 Fiamma Nicoledi, II teatro liric o e il su o p u b b lico , in: Soldani, Turi, F are, Bd. 1, 25 7 -3 0 4 .
55 G iovan n i M orelli, L’o pera, in : I lu o g h i d ella m em o ria. S tru ttu re ed ev en ti d elP Italia u n ita
(R o m a, B a ri 1997) 4 5 -1 1 3 , h ier 5 9 -6 5 .
56 V gl. R ainer Stephan, L u d w ig G an gh o fers R o m an e. Ü b e r m ö glich e K atego rien ein er
Ä sth e tik d er T riv ia llite ra tu r (D iss. F re ib u rg ., M ü n ste rsch w a rz a ch 1981); Hans Schwerte,
G an gh o fers G esu n d u n g - ein V ersuch ü b er sen d u n g sb e w u ß te T riv ia lliteratu r, in: Heinz Otto
Burger (H rsg .), S tu d ien z u r T riv ia llite ra tu r (S tu d ien zu r P h ilo so p h ie und L ite ra tu r des n eu n
zeh n ten Ja h rh u n d e rts 1, F ran k fu rt 1968) 154-208.
Von d er liberale n K u ltu rn atio n z u r n ationalistischen K ulturge m e in sc h a ft 263
G roßteil der Leserschaft auf ein positives Echo zu stoßen schien. Jedenfalls w urde
die H eim atliteratur zu einer überaus erfolgreichen, nationalpolitisch w irksam en
U nterström ung, in der sich die Vorbehalte von K ulturproduzenten w ie K onsu
menten gegenüber den sich im m er stärker von den M aßstäben der K lassik abw en
denden A vantgarden artikulierten. „H ohelieder auf N ation und N atur bildeten
jahrzehntelang die H aup tlektüre der sozialen A ufsteiger bis hin zum städtischen
M ittelstand in einer sich industrialisierenden M assengesellschaft.“57 So konnte
G anghofers Rom an „Schloß H ub ertus“ mit 677000 verkauften Exem plaren zum
unum strittenen B estseller der V orkriegsjahrzehnte w erden. D ie w eiteren Erschei
nungsform en dieser ebenso gut regionenbezogenen wie auch nationalbew ußten
K ultur reichen von den Bem ühungen um den D enkm alschutz über die aufkom
m ende N aturschutzbew egung bis hin zu den landesgeschichtlichen und m undart
lichen H eim atvereinen. In der R egel verbanden ihre Träger ostentativ den Bezug
auf die K lassiker deutscher Kunst und K ultur m it den eigenen heim atbezogenen
A ktivitäten. N atürlich existierten vergleichbare E rscheinungen auch im zeitge
nössischen Italien, doch scheint m ir - sow eit es der Forschungsstand überhaupt
schon zuläßt, sichere A ussagen zu m achen - der für die deutsche K onstellation so
typische doppelte B rückenschlag eher die A usnahm e zu sein: von dem engeren
bildungselitären Z irkel zu einer sozial breiteren V erankerung und die K om bina
tion n atio n alkultureller m it regio n alkulturellen A m bitionen.
IV.
In der Phase der W eltkriege erlebten dann D eutschland und Italien ganz dram ati
sche N euerungen in den B eziehungen zw ischen ku ltu reller P roduktion und na
tionaler P olitik. In beiden Ländern gipfelte dies in dem Versuch, die N etzw erke
ku ltureller Produktion und K onsum tion einer klaren nationalpolitischen Z ielset
zung zu unterw erfen und dabei auf die letzten M ittel von Verbot und Lenkung
zurückzugreifen. D urch totalitäre Steuerung der K ulturpraktiken versuchten das
N S-R egim e w ie der italienische Faschism us die strukturellen W idersprüche zu
beseitigen, die das Program m einer N atio n alku ltu r in beiden Ländern seit der
M itte des 19. Jahrhunderts allm ählich angesam m elt hatte. D ie nationalpädagogi
schen B em ühungen der liberalen A ra, die w achsende Zahl der Lesekundigen an
das „w ertvolle“ K ulturerbe der N ation heranzuführen und dam it dem rom anti
schen V olksbegriff ein Stück w eit näher zu kom m en, hatten sich als Sisyp h us
arbeit erw iesen, die neuartige M assen kultur entführte die frisch in den Schulen
herangezogenen neuen Kunden ebenso w ie die bedrohlich angewachsene so ziali
stische und katholische K onkurrenz58.
M it R adio und Film traten breitenw irksam M edien auf, die das G ew icht der
Schriftkultur w eiter zurückdrängten und neben der M usik nunm ehr auch dem
gesprochenen W ort und dem bew egten B ild als Träger nationaler A kkulturation
entscheidende B edeutung gaben. B eide M edien veränderten in der Zwischen-
kriegszeit nachhaltig die V ertriebsw ege und A rtikulationsform en der bereits im
19. Jah rh un dert aufgeblühten U nterhaltungskünste m ittleren und niederen „K ul
tu rw ertes“ . D ies ist besonders für Italien von großer B edeutung, w eil sie hier ihre
B reiten w irkun g zeigten, bevor die „L eserevolution“ des 19. Jahrhunderts alle R e
gionen und Schichten des Landes bereits erreicht hatte. D ie A usrüstung m it K ino
sälen m achte rasch große Fortschritte - 1929, am Ende der Stum m film ära, sind
landesw eit 3000 Film theater gezählt w orden, - alle größeren und kleineren urba-
nen Zentren besaßen ih r Kino, und sie w urden gut besucht, in den 30er Jahren
flössen fast zw ei D rittel aller Freizeitausgaben der Italiener ins Kino59. Beide L än
der en tw ickelten schließlich vor und nach dem Ersten W eltkrieg bedeutende
Film industrien, die nicht allein für den nationalen M ark t produzierten.
Eine vergleichende B etrachtung der auffällig parallelen Wege beider Länder tut
gut daran, vom italienischen Fall auszugehen: Zum einen entw ickelten sich hier
früher die spezifischen M erkm ale „natio n alto talitärer“ (T heodor Schieder) K ul
tu rp o litik , zum anderen beeinflußte das italienische Beispiel in vieler H insicht die
K ulturp o litik der N ation also zialisten nach 1933 - häufig in direktem G egensatz
zu deren offiziell im m er betontem Führungs- und O rigin alitätsan sp ruch 60. Die
Bestrebungen des faschistischen Regim es in Sachen K ultur w aren typischerw eise
keinesw egs einheitlich über die gesam te Zeitdauer des R egim es. Im m er w ieder
kam es zu K urskorrekturen, ja geradezu dram atischen W enden, so 1932 m it der
A bkehr von der Förderung der D ialekte oder 1938 m it den Rassengesetzen und
der dann einsetzenden A usschließung jüdisch er Künstler, W issenschaftler und
Intellektueller. D ennoch lassen sich einige G rundkonstanten der faschistischen
P o litik form ulieren.
Erstens richtete das R egim e seine A nstrengungen darauf, die große M ehrheit
der zeitgenössischen K ulturproduzenten für sich zu gew innen61. M achtpolitisch
ging es darum , die Träger der literarisch geprägten F lo ch kultu r stärker als in der
V ergangenheit für die Ziele der nationalen P o litik zu m obilisieren. H ier knüpfte
der Faschism us un m ittelb ar an die Erfahrungen des Ersten W eltkriegs, vor allem
an das letzte K riegsjahr an, als nach der N iederlage von C aporetto sich gerade das
B ürgertum für die M o b ilisierun g der gesam ten N ation engagierte. Das in tellek
tuelle und kulturp o litisch e Engagem ent des Philosophen G iovanni G entile ver
d eutlicht exem plarisch den N exus zw ischen dem älteren nationalliberalen und
dem neuen faschistischen Program m der N ationalkultur. G entile w ar aufgrund
seiner neuhegelianischen Philosophie und seines grundlegenden pädagogischen
59 Sorlin, C in e m a 55 f.
60 A ndrea H o ffe n d , Z w isch en K u ltu r-A c h se un d K u ltu rk am p f. D ie B e zie h u n g e n zw isch en
.D ritte m R e ic h 1 u n d fasch istisch em Italien in den B ereich en M e d ien , K un st, W issen sch aft
un d R assen fragen (F ra n k fu rt a.M . 1998), im fo lgen d en z it,: H o ffe n d , K u ltu r-A ch se.
61 M ario I sn e n g b i, Ita lia del F ascio (F ire n z e 1996); M ich el O stenc, In tellectu els italien s et
fascism e (1 9 1 5 -1 9 2 9 ) (P aris 1983); G a briele Turi, i l fascism o e il co n sen so d eg li in tellettu ali
(B o lo g n a 1984).
Von d er liberale n K u ltu rn atio n zu r n ationalistischen K ultu rge m e in sc h a ft 265
62 G iovanni Gentile, M an ife st d er fasch istisch en In te lle k tu e lle n an d ie In te llek tu ellen a ller
N atio n en . 21. A p ril 1925, in : Ernst N olte (H rsg .), T h eo rien ü b er den F asch ism u s (N e u e W is
sen sch aftlich e B ib lio th e k 21, K önigstein/T s. 1979) 112—117.
63 Andreas Gipper, G io v an n i G en tile: vo n d er P h ilo so p h ie d er Im m an en z zu r fasch istisch en
D o k trin , in: Joachim Born, M arion Steinbach (H rsg .), G eistige B ra n d stifter u n d K o lla b o ra
teu re (D resd en 1998) 8 1 -9 7 ; G abriele Turi, G io van n i G en tile. U n a b io g rafia (F ire n z e 1995);
Sergio Rom ano , G io van n i G en tile, la filo so fia al p o tere (M ila n o 1984).
64 Gianfranco Pedullä, G li ann i del fascism o : im p re n d ito ria p riv a ta e in terv en to statale, in:
Tun, E d ito ria 3 4 1 -3 8 2 , h ier 344, 355.
266 L u t z R aph ael
ohne langes Zögern auf die U nterhaltungsbedürfnisse neuer Schichten von K ul
turkonsum enten ein. D araus en tw ickelte sich seit M itte der 20er Jah re ein recht
eigenw illiges Projekt einer m ittleren nationalen K onsum kultur, von der vor allem
A ngestellte, Beam te, Freiberufler und kleinere K aufleute, also das w eitere soziale
U m feld der M ittelschichten in Italien, sich angesprochen fühlten. Sie w aren die
H auptkunden der K ultur, die das O pera N azio n ale D opolavoro, das parteieigene,
später staatliche F reizeit- und So zialw erk des R egim es, seit 1925 im m er reichhal
tiger anbot69.
Am B eispiel der M u sik k u ltu r lassen sich die Verbindungen m it älteren Tenden
zen sehr gut aufzeigen. W ir haben bereits gesehen, w ie sich O pern, O peretten und
V olksliedpflege bereits im 19. Jah rh un d ert aufs engste m it dem N atio n alkult ver
bunden hatten. Das faschistische R egim e rationalisierte die V erbreitungsw ege die
ser nationalen M usikkultur, gab über subventionierte Tourneen der großen B üh
nen, durch R adioübertragungen und lokale M usik- bzw. Sängerw ettbew erbe der
bereits florierenden M u sik k u ltu r eine nationale A usrichtung. D abei bediente es
sich der bereits bestehenden V erbreitungsw ege und vor allem des „Star“System s
der großen Solistinnen und Solisten, dem ein entsprechendes A ufführungsreper
toire beliebtester A rien und M usikstücke zur V erfügung stand. A uch w enn offi
ziell die „V eredelung“ des populären G eschm acks im m er w ieder hervorgehoben
w urde, so blieb, sieht man von den offiziellen H ym nen und patriotischen Liedern
der faschistischen O rganisationen ab, der lenkende Einfluß auf die G esangskultur
gering70.
In vergleichender Perspektive ist höchst aufschlußreich, daß in der Zwischen-
kriegszeit nicht zuletzt dank der politischen Förderung durch das faschistische
Regim e erstm als die starke lo kalistische und regionalistische U nterström ung in
der italienischen K ultur in das Projekt einer N atio n alkultur integriert w urde. Eine
w ich tige V oraussetzung hierfür w ar die V ersöhnung zw ischen N ationalstaat und
V atikan 1929. Sie w ar durch kultur- und schulpolitische Z ugeständnisse des fa
schistischen Regim es seit 1923 vorbereitet w orden. D am it trat die vor allem auch
kath o lisch -klerikal gebundene D ialek tk u ltu r aus ihrer D istanz zur offiziellen N a
tionalkultur. Es entstand das für deutsche B eobachter vertraute Bild einer V erkop
pelung von N ationalism us und H eim atk u ltu r71. Das R egim e setzte alles daran, lo
kale T raditionen und Folklore w iederzubeleben und sie ganz w ie in der deutschen
H eim atbew egung für eine Stärkung nationaler Identität n utzbar zu machen. Die
N euerfindung „m ittelalterlich er“ W ettkäm pfe nach dem Vorbild des Palio in
Siena w ar das spektakulärste B eispiel. Folkloristische V eranstaltungen als T ouri
stenattraktion, als G elegenheit zur Selbstdarstellung der lokalen W ürdenträger
des Regim es und als M aßnahm en der W irtschaftsförderung w aren das konkrete
Ergebnis, das sich übrigens sow eit absehbar großer Popularität erfreute.
Schauen w ir nun auf den deutschen Fall. M it B lick auf die O rganisationsform en
kann man nicht nachdrücklich genug unterstreichen, w ie viele A nregungen die
N ationalsozialisten nach der M achtübernahm e 1933 von den italienischen F a
schisten aufnahm en72. Das N S-R egim e folgte nach kurzen Experim enten m it
radikalen völkisch-nationalistischen N euerungen w ie den T hingspielen dem fa
schistischen Vorbild, w enn es nationalorientierte kulturelle K onsum m uster zu
etablieren suchte, die die etablierten U nterhaltungsbedürfnisse der Kinogänger,
R adiohörer und T heaterbesucher nicht radikal um zuerziehen suchte, sondern sie
befriedigte, dabei aber die p olitisch-ideologische Indoktrination nicht aus dem
B lick verlor73. A uch der N ationalsozialism us verfolgte das Ziel, den K ulturkon
sum der D eutschen zu „nationalisieren“74.
Zum einen inszenierte sich das R egim e als H üter des klassischen Erbes: Die
zeitgenössische K lassikerverehrung bot zahlreiche A nknüpfungspunkte, um
einen d ezid iert nationalpolitischen H eld en kult (w ie im Fall von Schiller oder
W agner) und einen pseudo-religiösen G eniekult (um G oethe) zu pflegen, der auf
breiten W iderhall un ter den G ebildeten stieß. M it ihnen w urden viele andere
K lassiker oder, w ie es zeitgenössisch gern hieß, „deutsche M eister“ in Kunst, M u
sik und L iteratur im „Braunhem d" dargestellt. A ls „nationale R evo lutio n “ stili
sierte sich die M achtergreifung auch als R ückkeh r zu großen nationalen T raditio
nen, bediente die W unschträum e nationalkonservativer B ildungsbürger. N eben
dem Tag von Potsdam gab es auch den Tag von W eim ar: A m 10. N ovem ber 1934
zelebrierte die R egierung den Staatsakt aus A nlaß des 175. G eburtstages Friedrich
Schillers75. D er inzw ischen einflußreichste G estalter der N S-K u lturp o litik , der
M in ister für V olksaufklärung und Propaganda, G oebbels, führte dabei R egie und
zeigte sich als gelehriger Schüler der Italiener: P restigegew inn durch grandios
inszenierte nationale K lassikerkulte w ar sein ganz zentrales A nliegen: Feier und
Popularisierung der nationalen K lassiker, in diesem Fall der „deutschen M eister“
durch Theatertage, Festw ochen und Sonderveranstaltungen gehörten ganz w ie im
faschistischen Italien zum R epertoire des R egim es. A ls B eispiele seien genannt:
die B eethoven-W ochen 1934, R adioübertragungen von Bach, H ändel und dann
vor allem der W agnerkult. N icht nur die B ayreuth er Festspiele w urden vom
72 W olfgan g Schieder, D as ita lien isch e E x p erim en t. D er F asch ism u s als V orb ild in d er K rise
d e r W eim a re r R e p u b lik , in : H Z 262 (1996) 73—125; H o ffe n d , K u ltu r-A ch se.
73 A d elh eid v. Saldern, „K u nst f iir ’s V o lk “ . Vom K u ltu rk o n se rv atism u s z u r n a tio n a ls o z ia li
stisch en K u ltu rp o litik , in: D as G ed äch tn is d er B ilder. Ä sth e tik u n d N a tio n a lso z ialism u s,
h rsg. v. H a rald Welzer (T ü b in g en 1995) 4 5 -1 0 4 , im fo lgen d en zit.: v o n Saldern, K un st; Hans
D ieter Schäfer, D as gesp alten e B e w u ß tsein . D eu tsch e K u ltu r un d L e b e n s w irk lic h k e it 1933—
1945 (M ü n ch en 1981).
74 Z u r K u ltu rp o litik vgl. M ich a el H. Kater, D ie m iß b rau ch te M use. M u s ik e r im D ritten
R eich (M ü n ch en , W ien 1998); J a n - P ie te r Barhian, L ite ra tu rp o litik im „D ritten R e ic h “ . In sti
tu tio n en , K o m p eten zen , B e tä tig u n g sfeld er (F ra n k fu rt a.M . 1993); H ild e g a r d Brenner, D ie
K u n stp o litik des N a tio n a lso z ia lism u s (R e in b e k 1963); F red K. P r ieb erg, M u sik im N S -S ta a t
(F ra n k fu rt a.M . 1982).
75 G e o r g K uppelt, S ch ille r im n atio n a lso z ia listisch en D eu tsc h lan d . D er V ersuch einer
G leich sch altu n g (S tu ttg a rt 1979).
Von der liberale n K u ltu rn atio n zu r n ationalistischen K ulturge m e in sc haft 269
ter sind knapp die H älfte aller A ufführungen bzw. Film e der Sparte „vorwiegend
heitere F ilm e“ bzw. „heitere ,G ebrauchsdram atik‘“ zugeordnet w orden78. G lei
ches gilt für das R adioprogram m 79. Zugleich konnte der w ichtigste Träger der
älteren, nationalliberalen V orstellung von „ N atio n alkultu r“, das B ildun gsb ürger
tum , ganz ähnlich w ie im faschistischen Italien w eiter seine traditionellen hum ani
stischen B ildungsgüter pflegen, sofern es bereit war, sich von liberalen und dem o
kratischen D eutungen und Spielarten dieses etablierten B ildungskanons still
schw eigend zu trennen. D ieser Bruch ist aber bereits vielfach in der W eim arer Zeit
vollzogen w orden80. Dies bereitete in D eutschland einem noch kleineren Kreis
von B ildungsbürgern Schw ierigkeiten als in Italien, obw ohl es anders als in Italien
auch im B ereich von K ultur und B ildung offiziell zu einer „G leichschaltung“
kam .
D er entscheidende U nterschied zum faschistischen Italien liegt jedoch in der
Stellung des Regim es zur kulturellen M oderne. A nders als in Italien vollzog sich
in D eutschland der nationaltotalitäre Versuch, eine p o litisierte N atio n alkultur
von oben zu erzeugen, als Bruch m it den w ichtigsten Ström ungen der zeitgenös
sischen K ulturproduktion. W ir dürfen nicht vergessen, daß der M achteroberung
der N ation also zialisten ein perm anenter K ulturkam pf zw ischen A nhängern einer
international ausgerichteten, häufig politisch links sich verortenden M oderne und
A vantgarde und einer breiten kulturkonservativen M ehrheitsström ung voraus
gin g81. D iese K onfrontation w ar auch eine Folge des verlorenen W eltkriegs, den
viele G ebildete zum K rieg der K ulturen dram atisiert hatten. D ie nationalistische
A ufladung der eigenen K ulturw erte und B ildungstradition im verm eintlichen A b
w ehrkam pf gegen die universalistischen G eltungsansprüche der w estlichen D e
m okratien w urd e von großen Teilen der G ebildeten, voran den M andarinen der
akadem isch-universitären B ildun gsw elt, auch nach K riegsende w eitergepflegt.
D araus ergab sich eine K onstellation, in der die entschiedene A b w eh r auslän di
scher Einflüsse und Ström ungen sich im m er stärker m it der A blehnung aller G e
genw artstendenzen in K unst und L iteratu r verband. K ulturpessim ism us und
U berfrem dungsängste gingen eine unheilvolle A llian z ein. V ölkisch-nationale
und antiw estliche Ideen gew annen deutlich an Boden. H in zu kam , daß angesichts
der G renzrevisionen der E rhalt deutscher Sprache und K ultur jenseits der R eichs
grenzen zum w ichtigsten kulturpolitischen Ziel von der nationalistischen Rechten
78 G erd Albrecht, N a tio n a lso z ia listisc h e F ilm p o litik (S tu ttg a rt 1969) 110; K on rad Dussel,
Ein n eues, ein h ero isch es T h ea ter? N atio n a lso z ia listisc h e T h e a te rp o litik un d ih re A u s w ir
k u n g e n in d er P ro v in z (B o n n 1988) 337.
79 N anny Drechsler, D ie F u n k tio n d er M u sik im d eu tsch en R u n d fu n k 19 33-19 45 (P faffen
w e ile r 1988).
80 Frank, D eu tsc h u n terrich t 5 7 1 -7 5 2 ; Klaus Behr, G y m n a siale r D eu tsc h u n terrich t in der
W eim arer R e p u b lik un d im D ritte n R eich . E in em p irisch e U n tersu c h u n g u n ter id e o lo g ie k ri
tisch em A sp ek t (W ein h eim , B asel 1980).
81 Adelheid von Saldern, Ü b erfrem d u n g sä n g ste. G egen die A m e rik a n isie ru n g d er d eu tsch en
K u ltu r in den z w a n z ig e r Ja h re n , in: A m e rik a n isie ru n g : T raum un d A lp tra u m im D eu tsch lan d
des 20. Ja h rh u n d e rts, h rsg. v. A lf Lüdtke, Inge M arßolek, Adelheid von Saldern (S tu ttgart
1 9 6 6 )2 1 4 -2 4 4 .
Von d er liberale n K ulturn ation z u r n ationalistischen K ulturge m e in sc haft 271
bis zur Sozialdem okratie w urde. V ölkische Ideen und rom antische T raditionen
ergänzten sich höchst w irkungsvoll in der Verbreitung holistischer K onzepte von
„ N atio n alkultu r“, die in im m er stärkerem M aße als „K ulturgem einschaft“ und als
V oraussetzung nationaler „W iedergeburt“, konkret als G rundlage nationaler G e
schlossenheit, verstanden w urde, ohne die eine R evision des V ersailler Vertrages
und die R ückgew in nung nationaler G röße als unm öglich erschien. D am it w urden
Fragen nationaler K ultur in einem bislang unbekannten M aße politisiert. G riffig
drückte dies der Liberale T heodor H euß aus, w enn er von K ulturp o litik als der
„So zialp o litik der Seele“82 sprach. D abei entw ickelte sich die Frage nach der Inte
grationsfähigkeit m oderner K unsttendenzen, aber auch der internationalen U n
terh altun gskultur in eine „zeitgem äße“ N atio n alkultur zum zentralen K onflikt
p unkt. Einer pragm atischen A npassung stand vor allem die allseits verbreitete
H ierarch isierun g der kulturellen Praktiken entsprechend dem etablierten natio
n alkultu rellen Kanon entgegen.
D ie N ationalsozialisten w aren zunächst einm al nichts anderes als das Sprach
rohr dieser breiten kulturkonservativen Ström ung der W eim arer R ep ub lik, die
vom nationalliberalen und katholischen Lager bis zur nationalistischen Rechten
reichte. Selbst die rassistische A ufladun g w ar keine genuin nationalsozialistische
B esonderheit, sondern hatte über die verschiedensten völkischen Ström ungen
breite A kzep tanz gefunden. D ie Sprache von „Blut und B oden“, von „Rassen
seele“ und „jüdischer Z ersetzung“ hatte sich bereits vor 1933 als H auptidiom
etabliert, w enn es darum ging, den A nspruch zu form ulieren, auch k u ltu rell die
deutsche N ation zu einer hom ogenen G esinnungsgem einschaft zu vereinen. A l
tere rom antische Traditionen trafen sich m it neueren rassistischen D eutungs
m ustern in dem Ziel, durch A bspaltung unerw ünschter G egenw artstendenzen die
Einheit der N atio n alkultur w iederherzustellen. M it dem N ationalsozialism us
hatte also eine Partei in dieser K onfrontation den Sieg errungen: Sie nutzte ihn,
um die deutsche K ultur von „entarteter K unst“, „A sp h altliteratur“ und „K ultur
bolschew ism us“ zu „säubern“ und dem völkischen R einigungsfuror der W eim a
rer Zeit zunächst freien L auf zu lassen. B erufsverbot, Exil, Verfolgung und B ü
cherverbrennung sind bekanntlich w ichtige Z äsuren der ersten H errschaftsm o
nate. De facto kam es zu einer Spaltung der deutschen K ulturnation: Bauhaus und
Z w ölftonm usik, Expressionism us und die H auptvertreter der literarischen M o
derne m ußten das Land verlassen. M it diesen K ulturproduzenten und T raditions
deutern verließ aber auch eine andere D eutung des gesam ten K ulturerbes, des
nationalen K lassikerkanons das Land. T ypischerw eise konzentrierten sich die
kulturpolitischen A nstrengungen des Exils darauf, ein „anderes“ D eutschland zu
bewahren und zu beerben. Z w angsläufig verblieb der breiten M ehrheit der K ul
turproduzenten im D ritten R eich ein engerer A rtikulatio n ssp ielraum als im
faschistischen Italien. W ährend dennoch im nationalsozialistischen D eutschland
eine „R est-V ielfalt“ geduldeter zeitgenössischer K unstrichtungen und L iteratu r
S2 Ebd. 60.
272 L u t z R aph ael
w eiterexistierte, scheiterte das R egim e bei dem Versuch, eine „neue deutsche
K unst“ als politisches A uftragsw erk zu kreieren.
A us der deutsch-italienischen Parallelgeschichte der Z w ischenkriegsjahre las
sen sich aus m einer Sicht m indestens vier G em einsam keiten erkennen, die uns auf
die kom plizierte G eschichte der V erschränkung zw ischen politischer N ation und
nationaler K ultur in dieser Phase im perialer K onfrontation der europäischen N a
tionalstaaten verw eisen.
1. D ie „natio n alto talitären “ K ulturdiktaturen w aren bei den K ulturkonsum en
ten populär, im italienischen Fall reichte die Z ustim m ung bis w eit ins Lager der
kritikb ereiten und skeptischen Intellektuellen. Das verw eist darauf, daß in der er
sten H älfte des 20. Jahrhunderts trotz gegenläufiger Tendenzen in H och- w ie
B reiten kultu r die Idee einer hom ogenen integrierenden N atio n alku ltu r m it strik
ten internen H ierarchien und einem festen Kanon von M eisterw erken und K las
sikern nach w ie vor einem verbreiteten Bedürfnis in gebildeten und b ildun gs
bereiten Schichten entsprach. Z w ei D inge kam en hierbei zusam m en: Zum einen
steigerte der N ationalism us den A nspruch der vielen auf Teilhabe an der hochbe
w erteten und allgem ein anerkannten N atio n alkultur und bot den B ildun gsb erei
ten auch vielfältige sym bolische A nerkennung, wenn sie - auch in intellektuell
red uzierter Form - partizipierten. Das K ulturm onopol des B ildungsbürgertum s
w urde entsprechend p ub likum sw irksam von beiden Regim es gebrochen. G leich
zeitig schufen die national beglaubigten K lassikerkulte auch R echtfertigungen für
die Irritationen und A blehnungen, m it denen gebildete w ie bildungsbeflissene
Konsum enten auf die T raditionsbrüche, Provokationen und A nsprüche der
A vantgarden reagierten. D er M assenerfolg der M ünchener A usstellun g „Entartete
K unst“ 1937 beruhte w ohl nicht zu letzt darauf, diese G efühle und R essentim ents
zu bedienen83.
2. D ie beiden R egim e gehörten zu den w enigen erfolgreichen K onkurrenten
der expandierenden am erikanischen K ulturindustrie im Europa der Z w ischen
kriegszeit. D ieser ökonom isch w ie in tellektuell sehr relative Erfolg ließ sich nur
durch scharfen ökonom ischen P rotektionism us und m assive politische Interven
tion aufrechterhalten. Im A bw ehrkam pf gegen den „A m erikanism us“, w ie es zeit
genössisch hieß, adaptierten die D iktaturen begierig die neuesten Techniken und
gingen zugleich auch auf D istanz zu den kulturkonservativen und xenophoben
H ardlin ern in den eigenen Reihen: N ich t von ungefähr gehören gerade die deut
schen und italienischen Varianten einer m odernen U nterh altun gskultur m ittleren
Schw ierigkeitsgrades zu den zeitgenössisch erfolgreichen und kulturhistorisch in
teressanten H ervorbringungen beider R egim e84. Bei aller ideologischen D istanz
forcierten sie den U m bau der V erm ittlungsform en und den W andel des Ge
schm acks hin zu einer breiten K onsum enten-U nterhaltungskultur, in der die D if
ferenz zw ischen E und U als legitim e, w enn auch hierarchisch bew ertete Variation
einer „K ultur“ akzep tiert w urde. Erst dahinter tat sich das verfem te und u n ter
drückte Feld von „Schund“, „Schm utz“ und „E ntartung“ bzw. „K osm opolitis
m us“, „K ulturbolschew ism us“ bzw. liberal-dem okratischer „D ekadenz“ auf.
3. Beide Regim es entw arfen ein ganz neuartiges M odell der Politisierung natio
n alk ultu reller K onsum praktiken: M it organisierten K ulturfahrten, T heaterbesu
chen, Festspielen und K ulturw ochen kreierten die O rganisatoren der faschisti
schen und nationalsozialistischen K ultur eine A ngebotsstruktur, in der sie zu
gleich Elem ente politischer Z ustim m ung und nationalbew ußter A ffirm ation ein
bauten. In ihrer plum p aufdringlichen Form w urd e dies von den Freunden und
Kennern der H o ch kultur m it Verachtung registriert, im A ugenblick des m ilitäri
schen Fiaskos beider Regim es auch von den bildungsbeflissenen Ü berlebenden als
Frevel und V errat an den eigenen K lassiker gebrandm arkt. Doch w ir sollten uns
nicht täuschen lassen: D ie Zeugnisse der Teilnehmer, großer w ie kleiner B ildungs
bürger, sprechen eine andere Sprache: Sie zeigen uns eine sublim e Form ku ltur-
chauvinistischer Im prägnierung nach außen. Erst als in beiden Ländern der p o li
tische Traum im perialer Größe bzw. W eltgeltung ausgeträum t war, w urde es allen
als das erkennbar, w as es von A nfang an w ar: Selbstüberschätzung in Zeiten einer
international gew ordenen H och- w ie U nterhaltungskultur.
4. Beide R egim es gaben ihren n atio nalkulturellen Initiativen einen betont hero
isch-m ännlichen Zug. In D eutschland forderten die kulturkonservativen Ideolo
gen die Ü berw ind u ng einer angeblich drohenden „K ulturfem inisierung“. K ultur
w urde besonders käm pferisch und m askulin. In der A rch itektur und Skulp tur
beider R egim e kom m t diese geschlechtergeschichtliche D im ension besonders
deutlich zum A usdruck. D ahinter stand natürlich in beiden Regim es das B estre
ben, die tradition ellen G eschlechterdifferenzen durch kulturelle N orm en zu sta
bilisieren und m ilitärisch-käm pferische W erte in der eigenen N ation alkultur auf
zuw erten 85.
V.
Die m ilitärischen K atastrophen der beiden D iktaturen rissen auch ihre natio nal
kulturellen A m bitionen m it in den A bgrund. Z uletzt hatten K ultur und B ildung
als w ohlfeile R echtfertigungen herhalten m üssen, als es darum ging, die nackten
M achtegoism en der R egim e in ihren aggressiven E roberungskriegen zu bem än
teln. A ngesichts der B ereitw illigkeit, m it der zahlreiche Vertreter der K ulturw elt
sich bis zum Ende den beiden R egim es zur V erfügung gestellt hatten, verw undert
es eigentlich, daß unm ittelbar nach K riegsende die B eschw örung der eigenen
K ulturtraditionen zum indest ku rzfristig auf ein breiteres Echo stieß und O rien
tierungsbedürfnisse zu befriedigen schien. D ennoch läßt sich für Italien und die
S5 Von Saldern, K un st 7 9 f.
274 L u t z R aphael
S6 Axel Schildt, Z w isch en A b e n d la n d lin d A m e rik a : S tu d ien zu r w estd eu tsc h e n Id een lan d
sch aft d er 50er Ja h re (M ü n ch en 1999); B o lle n b e ck , B ild u n g 30 5 -3 1 2 .
87 S teph en G u n dle, L’a m e ric a n iz z a z io n e del q u o tid ia n o . T elevisio n e e co n su m ism o n e ll’Ita-
lia d eg li ann i cin q u a n ta , in: Q u a d e rn i S to ric i 62 (1986) 56 1 -5 9 4 .
Von der liberale n K ulturn atio n z u r n ationalistischen K ulturge m e in sc haft 275
Personenregister
K nies, K arl G ustav A d o lf 96 M u sso lin i, B en ito 2, 11, 15, 20, 22, 24, 27,
K ö llm g, B ernd 10 5 4 -5 7 , 159-162, 175-178, 188, 189, 202,
K ohl, H e lm u t 2 4 ! 2 0 4 ,2 0 5 ,2 0 8 ,2 0 9 , 2 1 2 ,2 1 3 , 2 2 2 ,2 2 3 , 225,
K o tzeb u e, A u g u st von 251 229, 236, 239, 265
K rafft, J o h a n n P eter 231
N ap o leo n 7 1 ,7 5 , 77, 112
L a M arm o ra, A lfo n so F errero M arch ese di N astasi, P ietro 224
137 N au m an n , F ried rich 116
L afo n tain e, O sk a r 65 N e ll-B re u n in g , O sw ald von 17, 102, 104
L am p e rtico , F ed cle 95 N ice fo ro , A lfred o 217, 218
L an d ra, G u id o 213 N ieth am m er, F ried rich Im m an uel 249
L an g b eh n , J u liu s 47 N ietzsch e, F riedrich W ilh elm 44
L a n g ew ie sch e, D ieter 31, 260 N itti, F ran cesco 1 6 1,173
L an te ri, G iaco m o 40 N o lte , E rnst 175
L en in , W la d im ir Iljitsch 159 N o rd au , M ax 226
L eo III. 2
L eo X III. 100 O ffe, C la u s 64
L eo p a rd i, G iaco m o 246, 265 O p el, A dam 285
L ev ra, U go 135 O stw a ld , W ilh e lm 50
L ie b k n e ch t, W ilh e lm 140
L o m b ro so , C e sa re 216, 217, 226 P ad re B rescian i 261
L u k en , E m il 128 P ain i, P iero 199
L uth er, M a rtin 24, 2 3 0 -2 3 2 , 238 P a rra v icin i, L u ig i A . 43
P aso lin i, P ier P ao lo 61
M acc ari, M in o 58 P ate lla n i, Scrafin o 215
M a c h ia v e lli, N icc o lö 96 P ende, N ic o la 2 1 3 ,2 2 4 ,2 2 5
M a g ris, C la u d io 188 P e ru z z i, B ald assare 138
M alap arte , C u rz io 58 P etersen , Je n s 9, 1 4 ,2 5 , 161
M an etta, F ilip p o 2 1 8 ,2 2 2 P etrarca, F ran cesco 44, 248
M a n te g a z z a , P ao lo 219 P e u k ert, D etlev 166
M a rco n i, G u g lielm o 223 P ica, G iusep p e 138
M a rse lli, N ic o la 92 P ira n d e llo , L u ig i 102
M a rtin ie re , B ru n eau do la 40 P itre, G iusep p e 43
M arx , K arl 5 P ius X I. 1 0 0,103
M a teo tti, G iaco m o 175, 265 P ius X II. 157
M a ye r, O tto 79 P o m ba, G iusep p e 253
M a z z in i, G iu sep p e 110, 186, 233, 246 P o rcia n i, lla r ia 35
M e in e ck e, F ried rich 238 P ra ti, G io van n i 43
M en d el, G reg o r 215 P re z io si, G io van n i 213
M e n z e l, A d o lf 2 3 1 P ro cacci, G io van n a 150
M e rk , W a lth e r 101 P u ccin i, G iaco m o 251
M e ttern ic h , K lem ens W en zelslau s 249
M ic h e ls, R o b ert 11 R a tta z z i, U rb an o 136, 137
M in g h e tti, M arco 135, 136 R atz el, F ried rich 50
M iq u e l, Jo han nes von 122, 171 R ava, L u ig i 53
M o h l, R o b ert von 77 R eich a rd t, Sven 11
M o m m sen , H an s 213 R eth e l, A lfred 2
M o m m sen , W o lfgan g J. 172 R icca S alern o , G iusep p e 95, 97
M o n d ad o ri, A rn ald o 265 R ie h l, W ilh e lm H e in rich 47, 49
M o n d in o , C o lo n c llo 142 R itter, C a rl 50
M o rris, W illia m 51 R o cca, M assim o 176
M o rtara, G io rg io 150 Ilö h m , E rnst 175
M o sse, G eo rge 168 R ö rig, F ritz 237
280 R egister
G eographisches R egister
A ach en 15 Ison zo 2 0 0 ,2 0 2
A g rig e n t 61 Istrien 2 0 0 ,2 0 2
A lg h ero (S ard in ien ) 191
A lp en 44, 45, 51 K alab rien 1 3 9 ,1 9 1 ,2 1 6
A p rilia 223 K ärn ten 1 8 7 ,1 9 0 ,2 0 2 ,2 0 4
K arst 2 0 0 ,2 0 2
B alk an 23, 57 K assel 232
B a y e rn 1 4 7 ,2 3 2 ,2 5 5 K iel 128
B e lg rad 1 8 4 ,1 9 0 ,2 0 1 K öln 19, 84, 128
B e rlin 1 5 ,2 0 ,3 0 ,3 2 ,3 3 ,4 5 ,4 7 ,1 1 6 ,1 2 5 ,1 4 6 , K ö n ig g rätz 137
188, 190, 19 3-195 , 197, 2 3 2 ,2 4 1 ,2 5 0 , 269
B o lo g n a 51 L a tiu m 223, 224
B o nn 15 L a u sitz 185, 197
B o zen 189 L egn an o 2
B ra n d en b u rg 89 L e ip z ig 1 9 ,1 4 6 , 230, 232
B rü ssel 28 L ig u rie n 35
B u en o s A ires 265 L ip ari 143
L issa 116
C a n o ssa 2 L itto ria (L atin a ) 223
C a p o re tto 264 L ju b lja n a 20
C a ta n z aro 139 L o m b ard ei 8, 16, 35, 36, 136
C o se n z a 39 L o m e llin a 10
C u sto z z a 116 L ucca 258
L u n ig ia n a 143
D alm atien 189
D an zig 124, 234 M ailan d 15, 36, 61, 127, 140, 145, 254
D etm o ld 231 M a lm e d y 188
D o rtm u n d 128 M a rk e n 35
D u isb u rg 19, 128 M essin a 143
M o d en a 34, 38
E lsaß -L o th rin g e n 147 M o n t V en to ux 44
E m ilia -R o m a g n a 35, 38, 136 M o sk au 201
M ü n ch en 3 1 ,2 6 9
F en e stre lle (V al C h iso n e) 148
F e rrara 176 N eap el 7, 3 4 -3 6 , 61, 135, 136, 141-143,
F iu m e 189 1 4 5 ,2 1 8 ,2 2 2
F len sb u rg 187 N ew Y o rk 1 7 4 ,2 6 5
F lo re n z *33, 95, 97, 98, 141, 254 N ü rn b e rg 237, 250, 255
F ran k fu rt/ M ain 15, 124, 146
F re ib e rg 145 O b ersch lesien 187, 190, 197
F ria u l 9 1 ,2 2 3 ,2 2 4 O rv ieto 178
O stelb ie n 3 1 ,4 6
G arfagn an a 258 O stp reu ß en 185, 187
G enf 73
G en ua 1 5 7 ,2 3 3 P alerm o 61
G ö rz 200 Paris 3 1 ,5 1 ,1 9 0
G ran P arad iso 53 P arm a 34, 38
P iacen za 34, 38
H a m b u rg 31, 146 P ian a d eg li A lban esi/dei G rcci 191
H a n n o v er 124 P iem o n t 8, 33, 35
282 Register
Sachregister
D em o k ra tie (als R eg ieru n g sfo rm ) 172, 193 L ib era le, L ib eralism u s 42, 52, 76, 85, 8 7 ,9 0 ,
D en k m a lsch u tz 5 1 -5 4 , 59 98, 108, 109, 11 5-117 , 198
D estra sto rica 1 1 7 ,1 3 6
M en sch en - un d B ü rgerrech te 70, 71
F asch ism u s (auch P N F ) 11, 17, 19, 22, M ig ra tio n 60, 134, 152
2 3 ,3 6 , 42, 55, 58, 101, 108, 128, 129, 131, M ilitä rw e se n , A rm ee 116, 134, 135, 137—
132, 135, 1 5 1-157 , 1 7 4 -1 7 9 ,2 0 0 -2 1 4 , 14 2,146 , 1 4 8 -1 5 2 ,1 5 5 ,1 5 6 ,1 7 2 , 173, 185,
2 2 1 -2 2 6 ,2 2 9 ,2 3 0 ,2 3 3 ,2 3 5 -2 3 7 ,2 6 3 - 2 6 7 , 1 8 7 ,2 1 6 ,2 1 7 ,2 2 1
2 7 2 ,2 7 3 M in d erh eit, n atio n ale 20, 155, 1 8 1-206
F asc h ism u sth e o rie 11, 12, 159-167 M o d erati 1 1 1 ,1 1 7
F iat 26 M o d ern e 4, 5, 13, 14, 16-18, 21, 27, 58, 76,
F ö d eralism u s 30, 32, 33, 54, 66, 124, 147 92, 98, 108, 120, 124, 159, 166, 167, 178,
F rau en 18, 172, 177, 178 270
F re ih eit 7 2 -7 6 , 128, 142 M o d ern isieru n g 17, 18, 48, 57, 109, 112,
F u tu rism u s sieh e A v an tgard e 114, 119, 129, 163-175, 178, 179
M o n arc h ie 2 7 ,1 1 6 ,1 7 2
G ew alt, R ep ressio n 1 0 ,1 8 ,1 9 ,2 7 , 133-157,
170, 174, 175, 189, 2 0 1 ,2 0 2 N atio n , N a tio n sb ild u n g 4, 14, 15, 17, 27,
G ew e rk sch aften 10, 173 28, 42, 45, 10 7 -1 2 0 , 16 7-169 , 1 8 1-206 ,
G lü c k 7 0 ,7 5 ,8 1 2 1 7 -2 1 9 , 2 2 7 -2 4 1 ,2 4 3 -2 7 5
G ru n d b e sitz e r 41, 46, 55, 5 8 ,1 1 1 ,1 1 7 ,1 7 1 , N a tio n a lism u s, ra d ik a le r 171, 172, 186,
172 187, 189, 1 9 6 ,2 1 7 ,2 1 8 ,2 7 0
N atio n a lso z ialism u s (auch N S D A P ) 11,
H o lo c au st 18, 23, 25, 156, 163 12, 17-19, 24, 49, 5 5 -5 9 , 62, 101, 125,
1 2 8 -1 3 0 ,1 3 2 ,1 5 3 -1 5 6 ,1 7 4 -1 7 9 ,1 9 7 ,2 0 4 ,
Im p e rialism u s, K o lo n ien 21, 24, 171, 209, 205, 2 2 9 -2 3 1 , 2 3 5 -2 3 7 , 240, 241, 263,
2 2 0 -2 2 2 , 225, 236 2 6 8 -2 7 3
In d u stria lisie ru n g , In d u strie 4, 5, 9, 13, 14, N o tab e in 8, 1 8 ,3 4 -3 6 , 111, 117, 119, 126,
2 4 ,2 6 , 4 5 ,5 7 , 60, 113, 114, 167, 169 128, 148
In d u strie lle 58, 17 1-173 , 176
O liv e tti 26
Ju d e n 22, 23, 27, 155, 195, 207, 237, 264
P a ra llelg esc h ich te 1, 2, 4, 5, 28, 115, 272
K aiserreich , D eu tsches 7 ,2 9 - 3 4 ,4 5 ,4 7 , 54, P arlam e n tarism u s 33, 34, 53, 82, 87, 110,
79, 85, 93, 1 1 3 -1 2 0 , 137, 140-151, 1 6 7 - 118-120
172, 192, 2 2 9 ,2 3 1 ,2 3 2 , 256 P iem o n tisie ru n g siehe Z en tralism u s
K ath o lik en , K ath o lizism u s 1 2 ,2 2 - 2 4 ,2 7 , P o liz ei 134, 147, 152
3 1 ,3 3 ,3 6 ,4 3 ,1 0 0 ,1 0 2 - 1 0 4 , 149, 16 9,170 ,
172, 173, 215, 239, 260, 261, 263, 267 R assism u s sieh e A n tisem itism u s
K irch en staat sieh e V atikan R ec h tsstaat 78, 100
K o lo n ien sieh e Im p erialism u s R eg io n alism u s 16, 27, 2 9 -3 8 , 241
K o m m u n isten , K o m m u n ism u s 24, 63, 66, R ep ressio n siehe G ew alt
9 2 ,9 5 , 157, 159, 1 6 2 ,2 3 9 ,2 7 4
K ö n ig reich Italie n 3 3 -3 6 , 42, 43, 5 2 -5 4 , R esisten za, A n tifasc h ism u s 1 2 ,2 5 , 161,
9 1 -9 3 , 11 5 -1 3 2 , 13 3-150 , 16 7-172 , 1 8 5 - 163, 239
190, 195, 19 8 -2 0 0 , 229, 233, 256 R ev o lu tio n 4, 8, 42, 70, 71, 74, 7 7 -7 9 , 110,
K o n stitu tio n , K o n stitu tio n alism u s 69, 7 1 - 127, 176
73, 7 6 -8 1 , 83, 93, 96, 10 0-103 , 119, 124, R iso rg im en to 20, 24, 25, 27, 97, 110, 111,
167, 169, 172 113, 114, 198, 199, 203, 232, 233, 239,
2 4 8 -2 5 6
L a n d w irtsc h a ft, A g ra rp o litik 9, 50, 52, 56, R u ralism u s, „B lu t und B o d en “ 42 , 43, 47,
57, 60, 61 54, 5 6 ,5 8 ,6 2 ,6 3 ,6 5 , 1 1 1 ,1 1 2 ,2 0 5
284 R egiste r
S in istra sto ric a 91, 111, 117, 136 V erw a ltu n g 7 7 -7 9 , 82, 84, 103
S o n d erw e g 4, 6, 7, 28, 107 V ö lk isch 5 6 ,1 9 3 ,2 0 5 ,2 7 1
S o z ia lism u s (ita lie n isch er) 36, 132, 139—
145, 151, 1 7 3 ,2 1 5 ,2 1 9 , 239, 260, 263 W ah lrefo rm sieh e Z ensus
S o z ia lstaa t, so ziale F rag e 14, 21, 27, 28, 41, W eim are r R e p u b lik 18, 25, 30, 101, 125,
46, 8 5 -8 9 , 91, 93, 95, 96, 98, 100 127, 17 2 -1 7 4 , 19 0-197 , 229, 234, 240, 271
SP D , S o z ia ld e m o k ra tie 10, 1 1 ,3 1 , 32, 65, W id erstan d , d eu tsch er 25, 239
99, 125, 127, 140, 14 4 -1 4 6 , 149, 171, 173, W issen sch aften , U n iv e rsitä t 48, 50, 59, 73,
193, 2 6 0 -2 6 2 , 271 74, 77, 81, 86, 87, 9 0 -9 2 , 94, 95, 9 8 -1 0 0 ,
S taatsstre ic h 19, 157 1 0 2 ,1 0 4 ,2 0 9 ,2 1 1 ,2 1 3 -2 1 9 ,2 2 2 -2 2 6 ,2 5 7 ,
258
U n iv e rsitä t sieh e W issen schaften
U rb a n isie ru n g 14, 46, 62 Z ensus, W ah lrefo rm 119, 124, 127, 128,
130, 144, 170, 172
V atikan , K irch en staat 22, 24, 33, 3 4 ,3 8 , 157 Z en tralism u s, Z en tralstaat, P iem o n tisie -
V erfassu n g sieh e K o n stitu tio n ru n g 3 2 -3 4 , 36, 69, 122, 130, 135
V ergleich , h isto risch er 2 -4 , 11 Z e n tru m sp arte i 99, 169, 173
Schriften des H istorischen Kollegs: Kolloquien
5 Heinz A n g erm eier (Hrsg.): Säkulare Aspekte der R eform ationszeit, 19 8 3 , XII,
2 7 8 S. ISBN 3 - 4 8 6 -5 1 8 4 1 - 0
14 E rnst Schulin (Hrsg.): Deutsche G eschichtsw issenschaft nach dem Zw eiten W elt
krieg ( 1 9 4 5 - 1 9 6 5 ) , 19 8 9 , XI, 3 0 3 S. ISBN 3 - 4 8 6 - 5 4 8 3 1-X
17 Joh n C. G. R öhl (Hrsg.): Der Ort K aiser W ilhelm s II. in der deutschen Geschichte,
1 9 9 1, XIII, 3 6 6 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 5 8 4 1 -2 vergriffen
Schriften des H istorischen Kollegs: Kolloquien
18 G erh ard A. R itter (Hrsg.): Der A u fstieg der deutschen Arbeiterbew egung. S o zia l
dem okratie und Freie G ew erkschaften im Parteiensystem und Sozialm ilieu des
K aiserreichs, 1990, X X I, 4 6 1 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 5 6 4 l-X
19 R oger Dufrciisse (Hrsg.): R evolution und G egenrevolution 1 7 8 9 - 1 8 3 0 . Zur gei
stigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland, 19 9 1, XVIII, 2 7 4 S.
ISBN 3 -4 8 6 -5 5 8 4 4 -7
2 0 K laus S ch rein er (Hrsg.): Laienfröm m igkeit im späten M ittelalter. Formen, Funk
tionen, politisch-soziale Zusam menhänge, 19 9 2 , XII, 4 1 1 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 5 9 0 2 -8
2 1 Jürgen Miethke (Hrsg.): Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert,
19 9 2 , IX, 3 0 1 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 5 8 9 8 -6
2 2 D ieter Simon (Hrsg.): Eherecht und Fam iliengut in A ntike und M ittelalter, 1992,
IX, 168 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 5 8 8 5 -4
2 3 Volker P ress (Hrsg.): A lternativen zur R eichsverfassung in der Frühen N euzeit?
19 95, XII, 2 5 4 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 6 0 3 5 -2
2 4 K urt R aaflaub (Hrsg.): A nfänge politischen Denkens in der Antike. G riechenland
und die nahöstlichen Kulturen, 19 9 3 , XXIV, 4 5 4 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 5 9 9 3 -1
2 5 Shulam it Volkov (Hrsg.): Deutsche Juden und die M oderne, 19 9 4 , XX IV, 17 0 S.
ISBN 3 -4 8 6 -5 6 0 2 9 -8
2 6 H einrich A. W inkler (Hrsg.): Die deutsche Staatskrise 1 9 3 0 - 1 9 3 3 . Handlungs-
spielräum e und A lternativen, 19 9 2 , XIII, 2 9 6 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 5 9 4 3 -5 vergriffen
2 7 Joh an n es F ried (Hrsg.): D ialektik und R hetorik im früheren und hohen M ittelalter.
R ezeption, Ü berlieferung und gesellschaftliche W irkung antiker G elehrsam keit
vornehm lich im 9. und 12. Jahrhundert, 19 97, X X I, 3 0 4 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 6 0 2 8 -X
2 8 P a o lo Prodi (Hrsg.): Glaube und Eid. Treueform eln, G laubensbekenntnisse und
Sozialdisziplinierung zw ischen M ittelalter und Neuzeit, 1993, X X X , 2 4 6 S.
ISBN 3 -4 8 6 -5 5 9 9 4 -X
2 9 Ludwig Schmugge (Hrsg.): Illegitim ität im Spätm ittelalter, 1994, X , 3 1 4 S.
ISBN 3 -4 8 6 -5 6 0 6 9 -7
3 0 B ern h ard K ö lv e r (Hrsg.): Recht, Staat und Verwaltung im klassischen Indien,
19 9 7 , XVIII, 2 5 7 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 6 1 9 3 -6
31 E lisabeth Fehrenbcich (Hrsg.): A d e l und Bürgertum in Deutschland 1 7 7 0 - 1 8 4 8 ,
19 94, X V I, 25 1 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 6 0 2 7 -1
3 2 R obert E. F ern er (Hrsg.): Neue Richtungen in der hoch- und spätm ittelalterlichen
B ibelexegese, 19 9 6 , XI, 191 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 6 0 8 3 -2
33 K laus H ildebrand (Hrsg.): Das Deutsche Reich im Urteil der G roßen M ächte und
europäischen Nachbarn ( 1 8 7 1 - 1 9 4 5 ) , 19 95, X, 2 3 2 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 6 0 8 4 -0
3 4 Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): K ultur und K rieg. Die R olle der Intellektuellen,
K ünstler und Sch riftsteller im Ersten W eltkrieg, 19 9 5 , X, 2 8 2 S.
ISBN 3 -4 8 6 -5 6 0 8 5 -9 vergriffen
Schriften des H istorischen Kollegs: Kolloquien
5 4 F rank K olb (Hrsg.): C hora und Polis (mit Beiträgen von J. B intliff, M. Brunet,
J. C. Carter, L. Foxhall, H.-J. G ehrke, U. Hailer, Ph. H oward, B. Ipikgioglu,
M. H. Jam eson, F. K olb, H. Lohm ann, Th. M arksteiner, P. 0 rste d , R. O sborne,
A . §anh, S. Saprykin, Ch. Schuler, A . Thom sen, M. W ö rrle) 2 0 0 4 , XVIII,
3 8 2 S., ISBN 3 -4 8 6 -5 6 7 3 0 -6
5 7 Diethelm K lippel (Hrsg.): Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäi
schen Naturrechts ( 1 7 .- 1 9 . Jahrhundert) (in Vorbereitung)
5 9 K lau s H ildebrand (Hrsg.): Zw ischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung,
Existenz und W irkung des Totalitarism us. K olloquium der M itglieder des H istori
schen K ollegs, 23. N ovem ber 2 0 0 1 (mit Beiträgen von G. Besier, U. Freitag,
K . Hildebrand, M. H ildermeier, H. G. Hockerts, L. Klinkham m er, K. Schreiner)
2 0 0 3 , XIV, 155 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 6 7 4 8 -9
Sonderveröffentlichung
H orst Fuhrm ann (Hrsg.): Die K aulbach-V illa als Haus des H istorischen K ollegs.
Reden und w issenschaftliche Beiträge zur Eröffnung, 19 8 9 , XII, 2 3 2 S. ISBN
3 -4 8 6 - 5 5 6 1 1 -8
Oldenbourg
Schriften des H istorischen Kollegs: Vorträge
1 H einrich Lutz: Die deutsche Nation zu Beginn der Neuzeit. Fragen nach dem
G elingen und Scheitern deutscher Einheit im 16. Jahrhundert, 19 82, IV, 31 S.
vergriffen
4 E berhard Weis: B ayern und Frankreich in der Zeit des Konsulats und des ersten
Empire ( 1 7 9 9 - 1 8 1 5 ) , 1 9 8 4 ,4 1 S. vergriffen
1 Erich A ngerm ann: Abraham Lincoln und die Erneuerung der nationalen Identität
der Vereinigten Staaten von A m erika, 19 8 4 , IV, 33 S. vergriffen
11 E berhard K olb : D er schw ierige W eg zum Frieden. Das Problem der K riegs
beendigung 1870/71, 19 85, 33 S. vergriffen
13 W infried Schulze: Vom Gem einnutz zum Eigennutz. Ü ber den N orm enwandel in
der ständischen G esellschaft der Frühen Neuzeit, 19 8 7 , 4 0 S. vergriffen
14 Joh an n e A utenrieth: „Litterae V irg ilian ae“ . Vom Fortleben einer römischen
Schrift, 19 88, 51 S.
19 John C .G . R öhl: K aiser W ilhelm II. Eine Studie Uber Cäsarenwahnsinn, 19 89,
3 6 S. vergriffen
2 0 K laus Sch rein er: Mönchsein in der A d elsgesellsch aft des hohen und späten
M ittelalters. K lösterliche G em einschaftsbildung zw ischen spiritueller Selb st
behauptung und sozialer Anpassung, 19 89, 6 8 S. vergriffen
25 Thomas Vogtherr: Der K önig und der Heilige. H einrich IV., der heilige Rem aklus
und die M önche des D oppelklosters Stablo-M alm edy, 19 90, 2 9 S. vergriffen
2 6 Joh an n es Sch illin g: Gew esene M önche. Lebensgeschichten in der Reform ation,
19 9 0 , 3 6 S. vergriffen
27 K urt R aaflaub: Politisches Denken und K rise der Polis. Athen im Verfassungs
konflikt des späten 5. Jahrhunderts v.C hr., 19 9 2 , 63 S.
28 Volker P ress: A ltes Reich und Deutscher Bund. Kontinuität in der Diskontinuität.
19 9 5 , 31 S.
2 9 Shulam it Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen
Judentum s in Deutschland, 19 92, 3 0 S.
3 0 F ranz B au er: Gehalt und Gestalt in der M onum entalsym bolik. Zur Ikonologie des
Nationalstaats in Deutschland und Italien 1 8 6 0 - 1 9 1 4 , 19 92, 3 9 S.
31 H einrich A. W inkler: M ußte W eim ar scheitern? Das Ende der ersten Republik und
die Kontinuität der deutschen Geschichte, 1 9 9 1 , 3 2 S. vergriffen
3 2 Joh an n es F ried : Kunst und Kom m erz. Ü ber das Zusam m enw irken von W issen
schaft und W irtschaft im M ittelalter vornehm lich am Beispiel der Kaufleute und
Handelsm essen, 19 92, 4 0 S.
37 Ludwig Schm ugge: Schleichw ege zu Pfründe und Altar. Päpstliche Dispense vom
G eburtsm akel 1 4 4 9 - 1 5 3 3 , 19 9 4 , 35 S.
38 H ans-W erner H ahn: Zwischen Fortschritt und K risen. Die vierziger Jahre des
19. Jahrhunderts als D urchbruchsphase der deutschen Industrialisierung, 19 95,
4 7 S.
3 9 R ob en E. L ern er: H im m elsvision oder Sinnendelirium ? Franziskaner und Pro
fessoren als Traum deuter im Paris des 13. Jahrhunderts, 19 95, 35 S.
4 0 A ndreas Schulz: W eltbürger und Geldaristokraten. Hanseatisches Bürgertum im
19. Jahrhundert, 19 9 5 , 38 S.
41 Wolfgang J. M omm sen: Die H erausforderung der bürgerlichen K ultur durch die
künstlerische Avantgarde. Zum Verhältnis von K ultur und Politik im W ilhelm ini
schen Deutschland, 19 94, 3 0 S.
4 2 K laus H ildebrand: R eich - Großm acht - Nation. Betrachtungen zur Geschichte
der deutschen A ußenpolitik 1 8 7 1 - 1 9 4 5 , 19 9 5 , 25 S.
4 3 Hans Eberhard M ayer: H errschaft und Verwaltung im K reuzfahrerkönigreich
Jerusalem , 19 9 6 , 38 S.
4 4 P e te r B lickle: R eform ation und kom m unaler Geist. Die A ntw ort der Theologen
au f den W andel der Verfassung im Spätm ittelalter, 19 9 6 , 4 2 S.
4 5 P eter K rü g er: W ege und W idersprüche der europäischen Integration im 20. Jah r
hundert, 19 9 5 , 3 9 S.
4 6 W erner G reiling : „Intelligenzblätter“ und gesellschaftlicher W andel in Thüringen.
A nzeigenw esen, N achrichtenverm ittlung, Räsonnem ent und Soziald iszip lin ie
rung, 19 9 5 , 38 S.
Schriften des Historischen Kollegs: Dokum entationen
Ja n Assm ann
Ä gypten in der G edächtnisgeschichte des Abendlandes
Thomas A. Bracly
Ranke, Rom und die R eform ation: Leopold von Rankes Entdeckung des
K atholizism us
H arold Jam es
Das Ende der G lobalisierung? Lehren aus der W eltw irtschaftskrise
C h risto f D ipper
Helden überkreuz oder das K reuz mit den Helden. W ie Deutsche und Italiener die
Heroen der nationalen Einigung (der anderen) wahrnahm en.
W infried Schulze
Die W ahrnehm ung von Zeit und Jahrhundertwenden
Frank K olb
Von der Burg zur Polis. Akkulturation in einer kleinasiatischen „P rovinz“
Ulrike Freitag
Scheich oder Sultan - Stam m oder Staat? Staatsbildung im Hadramaut (Jemen)
im 19. und 20. Jahrhundert
Oldenbourg
Schriften des H istorischen Kollegs: Jahrbuch
W erner Busch
Die N aturwissenschaften als Basis des Erhabenen in der Kunst des 18. und frühen
19. Jahrhunderts
Jö rn Leonhard
V ölkercrisis und nothwendiges Moment h öh erer Entwicklung. Der Ort der Nation
im D eutungswandel kriegerischer G ew alt: Europa und die Vereinigten Staaten
18 5 4 -18 7 1
2 0 0 5 , ca. 18 0 S. ISBN 3 -4 8 6 -5 7 7 4 1 -7