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Charloe Beradt, Journalistin in Berlin, floh 1939 nach England und 1940 weiter nach New York.
Sie sammelte Träume, die zwischen 1933 und 1939 geträumt wurden, und befragte dazu Menschen
ihrer Umgebung. Fünfzig solcher »von der Diktatur diktierter Träume« hat sie in ihren 1966
erstmals erschienenen Klassiker der Traumdokumentation aufgenommen.
 
Charloe Beradt, geboren 1907 in Forst (Lausitz), gestorben 1986 in New York, gab Schrien von
Rosa Luxemburg und Paul Levi heraus. 1969 veröffentlichte sie die Biographie Paul Levi. Ein
demokratischer Sozialist in der Weimarer Republik.
 Barbara Hahn, geboren 1952, Professorin ür Germanistik an der Vanderbilt University
(Nashville/Tennessee), lebt in Nashville und Berlin. Im Suhrkamp Verlag erscheint ihr Essay
Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt.

 
 

Charloe Beradt
Das Drie Reich des Traums
Herausgegeben und mit
einem Nachwort versehen
von Barbara Hahn

Suhrkamp Verlag
 
1966 Erstveröffentlichung in der Nymphenburger Verlagshandlung, München.
1981 und 1994 als suhrkamp taschenbuch mit einem Nachwort von
Reinhart Koselleck erschienen.
Für die vorliegende Ausgabe hat Barbara Hahn den Text kommentiert,
mit einem Nachwort versehen und durch einen Aufsatz Charloe Beradts
aus dem Jahr 1943 ergänzt.
Foto Seite 2: © Deutsches Literaturarchiv Marbach
1966 Erstveröffentlichung in der Nymphenburger Verlagshandlung, München.
1981 und 1994 als suhrkamp taschenbuch mit einem Nachwort von Reinhart Koselleck erschienen.
Für die vorliegende Ausgabe hat Barbara Hahn den Text kommentiert, mit einem Nachwort
versehen und durch einen Aufsatz Charloe Beradts aus dem Jahr 1943 ergänzt.
Foto: © Deutsches Literaturarchiv Marbach
 
 
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
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eISBN 978-3-518-74763-6
www.suhrkamp.de
 Das Drie Reich des Traums
 
Inhalt
1. Kapitel
Das Drie Reich des Traums – Entstehungsgeschichte

2. Kapitel
Der Umbau der Privatperson oder »Das wandlose Leben«

3. Kapitel
Bürokratische Greuelmärchen oder »Ich finde an nichts mehr Freude«

4. Kapitel
Der Alltag in der Nacht oder »Damit ich mich selbst nicht verstehe«

5. Kapitel
Der Nicht-Held oder »Und sage kein Wort«

6. Kapitel
Der Chor oder »Da kann man nichts machen«

7. Kapitel
Doktrinen machen sich selbständig oder
»Die Dunkelhaarigen im Reich der Blonden«

8. Kapitel
Handelnde Personen oder »Man muß nur wollen«

9. Kapitel
Verhüllte Wünsche oder »Endstation Heil«

10. Kapitel
Offene Wünsche oder »Den wollen wir dabeihaben«

11. Kapitel
Träumende Juden oder »Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz«

Nachbemerkung

Charloe Beradt Träume unter der Diktatur

Barbara Hahn
»Ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus« Nachwort

Anmerkungen
1. Kapitel
Das Drie Reich des Traums –
Entstehungsgeschichte
Im Traum, des Gesichts in der Nacht,
wenn der Schlaf auf die Leute ällt, wenn sie schlafen
auf dem Bee, da öffnet er das Ohr der Leute
und schreckt und züchtiget sie.1
Hiob
 
Der einzige Mensch, der in Deutschland
noch ein Privatleben ührt, ist jemand, der schlä.2
Robert Ley, NS-Reichsorganisationsleiter






Herr S., der etwa sechzigjährige Besitzer einer mielgroßen Fabrik,
träumte am drien Tag nach Hitlers Machtergreifung einen Traum, in
dem er gebrochen wurde, obwohl er physisch unangetastet blieb. Was
spätere Untersuchungen von Politologen, Soziologen und Medizinern als
das Wesen und die Wirkung totaler Herrscha auf den Menschen
definieren sollten, schilderte er in einem kurzen Traum so genau und
subtil, wie er es wachend nicht vermocht häe. Er träumte:
 
»Goebbels kommt in meine Fabrik. Er läßt die Belegscha in zwei Reihen,
rechts und links, antreten. Dazwischen muß ich stehen und den Arm zum
Hitlergruß heben. Es kostet mich eine halbe Stunde, den Arm,
millimeterweise, hochzubekommen. Goebbels sieht meinen
Anstrengungen wie einem Schauspiel zu, ohne Beifalls-, ohne
Mißfallensäußerung. Aber als ich den Arm endlich oben habe, sagt er ünf
Worte: ›Ich wünsche Ihren Gruß nicht‹, dreht sich um und geht zur Tür.
So stehe ich in meinem eigenen Betrieb, zwischen meinen eigenen Leuten,
am Pranger, mit gehobenem Arm. Ich bin körperlich dazu nur imstande,
indem ich meine Augen auf seinen Klumpfuß hee, während er
hinaushinkt. Bis ich aufwache, stehe ich so.«
 
Herr S. war ein aufrechter, selbstbewußter, fast despotischer Mann. Seines
langen Lebens Wert und Inhalt war sein Betrieb, in dem er – selbst
Sozialdemokrat – manchen alten Parteigenossen seit zwanzig Jahren
beschäigte. Man kann, was ihm im Traum angetan wird, summarisch
seelische Folter nennen, wie ich es spontan tat, als er mir seinen Traum
1933, einige Wochen, nachdem er ihn gehabt hae, erzählte. Wenn man
aber jetzt, im Rückblick mit geschären Augen, die Begriffe
Selbstentfremdung, Entwurzelung, Isolierung, Identitätsverlust und
Brechung der Lebenskontinuität (die heute bereits ins
Alltagsvokabularium überzugehen drohen und mit denen andererseits so
viel Mythologisierung getrieben wird) in dem Traum des Fabrikbesitzers
sucht, finden sie sich alle in klaren, nachtwandlerisch klaren Bildern. Er
muß sich in seinem Betrieb, mit dem er identisch ist, entwürdigen und
entwerten; er muß es vor seinen Angestellten tun, als deren väterlicher
Herr, aber Herr sich zu ühlen den stärksten Teil seines Lebensgeühls
darstellt, die aber auch seine lebenslängliche politische Gesinnung
vertreten. Das reißt die Wurzeln aus dem selbstgeschaffenen Boden,
beraubt ihn der Identität und sein Dasein der Kontinuität. Es macht ihn
sich selbst fremd, indem es ihn nicht nur von den Fakten seines Lebens
isoliert, sondern vom eigenen Charakter, der seine Authentizität verliert.
Hier träumte also ein Mann direkt aus seiner Existenz heraus – einigen
Tagen Existenz während der »Machtübernahme«, eines aktuellen
politischen Ereignisses – politisch-psychologische Phänomene. Er träumte
sie so exakt, daß er sogar beide Formen der Entfremdung, die von der
Umwelt und die vom eigenen Selbst, die o gleichgesetzt oder verwechselt
werden, in seinem Traum darstellt. Und er kommt zu einem exakten
Schluß: daß sein Gleichschaltungsversuch vor den Augen aller, seine
öffentliche Schande sich nur als Initiationsritus in die totale Welt
herausstellt, als politischer Kunstgriff, als kalt-zynisches
Menschenexperiment durch die Staatsgewalt zum Zwecke der
Willensbrechung. Daß er ohne Anstand zugrunde geht, aber auch ohne
Zweck und Sinn, macht den Traum des Fabrikbesitzers zur vollkommenen
Parabel der Herstellung des totalen Untertans. Wenn er schließlich
dasteht, unähig, den einmal gehobenen Arm wieder
herunterzubekommen, in kleinlicher Rache auf den Klumpfuß des
Gewalthabers blickend, um sich auf den Füßen zu halten, ist sein Selbst
methodisch und mit den modernsten Mieln demoliert worden wie ein
unmodernes Haus, das einem neuer Ordnung Platz machen muß. Doch
was ihm zustößt ist zwar traurig, aber keine Tragödie, entbehrt sogar
nicht des Possenhaen; ist nicht individuelles Geschick, sondern typisches
Geschehen im Zuge des Prozesses der Umwandlung, der an ihm
vorgenommen wird: er ist nicht einmal zum Nicht-Helden, er ist zur
Nicht-Person geworden.
Dieser Traum hat den Fabrikbesitzer nicht losgelassen. Er hat ihn
immer wieder geträumt, jedesmal mit neuen beschämenden Einzelheiten
versehen. »Der Schweiß strömt mir bei der Anstrengung, den Arm zu
heben, übers Gesicht und sieht aus wie Tränen, als ob ich vor Goebbels
weine.« – »Ich suche Trost auf den Gesichtern meiner Leute und finde
nicht einmal Hohn und Verachtung, nur Leere.« Einmal waren die
Ausdrucksmiel seines Traums vernichtend deutlich, nahezu
pamphletistisch: beim halbstündigen Versuch, den Arm zu heben, brach
ihm das Rückgrat.
Daraus soll nicht gefolgert werden, daß der Fabrikbesitzer durch einen
Traum ein gebrochener Mann geworden sei, oder umgekehrt, daß er so
träumte, weil er gebrochen war. Er blieb ein freier, verhältnismäßig
mutiger, wenn auch unter der Situation leidender Mensch, und in seinem
Betrieb hae er auf lange Zeit keine Schwierigkeiten. Aber der Traum –
kein Rückzug in die pathologische Welt der Zwangsvorstellungen, wie o
er ihn auch wiederholte, sondern Ausdruck des sich gerade etablierenden
Zwanges, der ihn umgab, dessen Grundphänomene er nicht kannte, aber
ahnte und im Traum logisch weiterdachte – hae sich ihm tief eingeprägt,
»eingekerbt«, wie er sich ausdrückte. Als er ihn mir in einem politischen
Gespräch berichtete, lief sein Gesicht rot an, seine Stimme zierte.
Ein Zeuge ür Träume dieser Art und ihre Wirkung auf den Träumer ist
Paul Tillich, der sie monatelang, nachdem er Deutschland 1933 verlassen
hae, träumte. »Ich bin aufgewacht mit dem Geühl, daß unser ganzes
Dasein verändert werde. Im bewußten Wachen glaubte ich, daß wir dem
Schlimmsten entgehen könnten, aber mein Unterbewußtes wußte es
besser.«3
Der Traum des Fabrikbesitzers – wie soll man ihn nennen? »Vom
gehobenen Arm« »Vom Umbau des Menschen« –, der direkt aus der
Werksta des totalen Regimes zu kommen schien, wo der Mechanismus
seines Funktionierens erzeugt wird, festigte in mir einen Gedanken, den
ich schon flüchtig gehabt hae: daß Träume wie dieser nicht
verlorengehen sollten. Sie könnten zur Evidenz gehören, wenn dem
Regime als Zeitphänomen einmal der Prozeß gemacht würde, denn sie
schienen voller Aufschlüsse über die Affekte und Motive von Menschen
während ihrer Einschaltung als Rädchen in den totalen Mechanismus. Wer
sich hinsetzt und ein Tagebuch schreibt, tut das willentlich, formt, klärt
und trübt beim Schreiben. Aber Träume dieser Art, Nachtbücher
gleichsam, schienen zwar die Wirkung äußeren politischen Geschehens
im menschlichen Innern minuziös aufzuzeichnen wie ein Seismograph,
doch sie stammten aus einer unwillentlichen psychischen Tätigkeit. So
könnten Traumbilder die Struktur einer Wirklichkeit deuten helfen, die
sich gerade anschickte, zum Alptraum zu werden.
Ich fing also an, von der Diktatur diktierte Träume zu sammeln. Das
war nicht ganz einfach, weil mancher sich ängstigte zu erzählen, was er
sich hae träumen lassen; ich stieß sogar auf den Traum »Es ist verboten
zu träumen, und doch träume ich« in fast gleicher Form ein halb
dutzendmal.
Ich fragte Menschen meiner Umgebung nach ihren Träumen.
Nutznießer des Regimes oder begeisterte Jasager waren mir schwer
zugänglich und ihre inneren Reaktionen in dem beabsichtigten
Zusammenhang ohnehin nicht aufschlußreich. Ich fragte Schneiderin,
Nachbar, Tante, Milchmann, Freund, fast immer ohne Preisgabe des
Zweckes, denn ich wollte möglichst ungeärbte Antworten.
O öffnete mein Modelltraum, der des Fabrikbesitzers, Zögernden den
Mund. Manchen war es ähnlich gegangen wie ihm. Sie haen einen
aktuellen politischen Traum gehabt, der sich ihnen tief eingeprägt hae
und den sie ohne weiteres verstanden haen. Andere waren naiver und
sich über die Bedeutung ihres Traumthemas nicht im vollen Umfange klar.
Verständnis wie Wiedergabe des Traums hingen natürlich auch von der
Intelligenz und dem Bildungsgrad des einzelnen Träumers ab. Aber ob
junges Mädchen oder alter Mann, ob Arbeiter oder Akademiker – bei aller
Verschiedenheit der Ausdrucksähigkeit, des Gedächtnisses tauchten in
ihren Träumen Elemente der Beziehungen zwischen totalem Regime und
Mensch auf, die damals noch nicht formuliert waren, wie im
Fabrikbesitzertraum das Phänomen der Brechung der Person.
Daß die Bilder der Träume, die ich gesammelt habe, zuweilen vom
Träumer retuschiert worden sind, bewußt oder unbewußt, versteht sich.
Bei Traumwiedergaben hängt erfahrungsgemäß viel davon ab, wann der
Traum notiert wird, ob gleich in der Nacht; in diesem Fall – der bei
manchen meiner Beispiele vorliegt – hat er den stärksten
Dokumentcharakter. Wird er erst später notiert oder einfach nach der
Erinnerung berichtet, wirken bereits mehr Vorstellungen des wachen
Bewußtseins bei seiner Formulierung mit. Aber abgesehen davon, daß es
auch interessant ist, wieviel dies wache Bewußtsein »wußte« und aus den
Bildern der realen Umgebung ergänzte: diese aktuell-politischen Träume
waren besonders intensiv, verhältnismäßig unkompliziert, wenig
sprungha, da sie ja eindeutig determiniert waren; ihr Material war meist
zusammenhängend, anekdotisch, ja dramatisch geordnet; daher waren sie
leicht behaltbar. Und sie waren ja auch – entgegen der allgemeinen
Tendenz, Träume, und besonders quälende Träume, zu vergessen –
behalten worden, spontan und ohne Nachhilfe. (So gut behalten, daß
etliche mit den gleichen einleitenden Worten »Ich werde das nie
vergessen« erzählt wurden; und in der Tat wurden mir nach meinen
ersten Veröffentlichungen über dieses ema4 einzelne zehn und zwanzig
Jahre zurückliegende, offenbar unvergeßbare Träume berichtet, die ich im
Text kennzeichnen werde.)
Meine Sammeltätigkeit erstreckte sich bis 1939, dem Jahr, in dem ich
Deutschland verließ. Übrigens unterschieden sich die Träume aus dem
Jahr 1933 nicht sehr von denen aus späteren Jahren. Meine
aufschlußreichsten Beispiele stammen aber aus der ersten Zeit des noch
leisetretenden Regimes, aus seinem Urzustand.
Einige Freunde, die von meinem Plan wußten, halfen mir, fragten und
notierten; mein wichtigster Helfer war ein Arzt, der einen weiten Kreis
von Patienten überblickte und unauällig fragen konnte. Da einschließlich
des aus zweiter und drier Hand kommenden Traummaterials über
dreihundert Personen erfaßt worden sind, darf man nach den Prinzipien
der Meinungsforschung darauf schließen, daß vom Drien Reich eine
große Zahl von Menschen zu ganz ähnlichen Träumen verurteilt worden
sind.
Die Träume, die ich – erzählt oder niedergeschrieben – erhielt,
maskierte ich, wenn ich sie auf- oder abschrieb, so gut ich es verstand. Ich
sagte etwa Familie ür Partei; Onkel Hans, Gustav, Gerhard ür Hitler,
Göring, Goebbels; Grippe ür Verhaung und versteckte diese seltsam
klingenden Familiengeschichten – ohne Hoffnung, daß die kümmerliche
Verkleidung im Ernstfall halten würde, aber was hielt schon im Ernstfall –
am Anfang in einer umfangreichen Bibliothek, im Rücken einzelner
Bücher. Später sandte ich sie als Briefe an verschiedene Adressen in
verschiedene Länder, wo sie auf mich warteten, bis ich selbst ins Ausland
gehen mußte.
Mit dem Titel »Dreams under Dictatorship – Träume unter Diktatur«
veröffentlichte ich eine kleine Auswahl aus meinem Material während des
Krieges in einer Zeitschri;5 das ganze Material auszuwerten war mir
damals, durch äußere Umstände, nicht möglich.
Heute begrüße ich es, daß ich mein Material erst zu einem Zeitpunkt
zusammengestellt und bearbeitet habe, an dem das zeitgeschichtliche
Beobachtungsmaterial – Fakten, Berichte, Dokumente – vorlag, wie die
sich darauf stützenden wissenschalichen Arbeiten und Erkenntnisse, mit
deren Hilfe ich versuchen konnte, auf einem neuen Wege, dem der
Traumdokumentation, psychologische Reaktionen und typische
Verhaltensweisen von Individuen, die unmielbare Wirkung totaler
Herrscha auf den einzelnen Beherrschten, zu zeigen.
Alle Träume von körperlicher Gewalt, von physiologischer Angst, ließ
ich unberücksichtigt, auch die extremsten. Träume, die anfingen: »Ich
erwachte in Schweiß gebadet, wieder einmal war ich, wie in zahllosen
Nächten, beschossen, gemartert, skalpiert worden – war blutüberströmt
wie rasend geflüchtet, mit ausgeschlagenen Zähnen, immer die SA auf den
Fersen« waren sehr zahlreich; selbst unter den Jasagern gibt es wohl nicht
wenige, die sie nicht gelegentlich geträumt haben. Aber neu waren sie
nicht, oder höchstens der Zahl nach. »Macbeth mordet den Schlaf«6 – das
haben Tyrannen und Gewalt stets getan, darum ging es nicht. Grausige
Träume, die nicht allein in den inneren Spannungen hochempfindlicher
Individuen (Dichter wie Hebbel und Lichtenberg haben Höllenträume
geträumt)7 ihren Ursprung haben, oder bei Durchschnismenschen in
einer bedrohlichen persönlichen Lebenssituation, sondern aus einer
bedrohlichen Kollektivsituation stammen, hat es in jeder Zeit gegeben.
Nehmen wir eine sehr häufige Kollektivsituation, den Krieg. Es gibt
erhaltene Angsräume aus vielen Kriegen, aber da Menschen und der
Ausdruck ihrer Ängste ähnlich bleiben, läßt sich o schwer feststellen, aus
welchem sie stammen, außer daß in Träumen aus Kriegen der Neuzeit die
modernen Waffen und ihre Wirkungen in dem Übermaß auauchen, in
dem die Bevölkerung ihnen ausgesetzt war. Und selbst wenn in einem
Traum aus dem Ersten Weltkrieg jemand seine Schrecken symbolisiert,
wenn er träumt, daß erfrorene Gefangene auf einer Stange hängen und
das hungrige Volk mit dem Messer herbeieilt und sich aus ihren Körpern
die besten Stücke ür den Kochtopf herausschneidet, könnte dieser Traum
genausogut, besser vielleicht, aus dem Dreißigjährigen Krieg stammen,
wäre nicht als Ort der Traumhandlung die Berliner Stadtbahn angegeben.8
Aber welche Ereignisse und welche Epoche den sehr
verschiedenartigen Träumen, die ich in den Jahren 1933 bis 1939
sammelte, zugrunde liegen, darüber könnte man nicht im Zweifel sein,
selbst wenn man es nicht im vorhinein wüßte. Zeit und Raum ihrer
Entstehung sind ohne weiteres klar: sie können nur aus der paradoxen
Existenz unter einem totalitären Regime im zwanzigsten Jahrhundert
herrühren, die meisten spezifisch aus der Existenz unter dem Hitlerregime
in Deutschland.
Da es in diesem zwanzigsten Jahrhundert schwer ist, Träume
wiederzugeben, ohne die psychologische Traumforschung zu streifen,9
muß an dieser Stelle folgendes eingeügt werden: Unsere Träumenden
setzen sich nicht mit Konflikten in ihrem privaten Bereich auseinander,
schon gar nicht mit denen der Vergangenheit, die ihre Person etwa krank
gemacht häen, sondern mit Konflikten, in die der öffentliche Raum mit
seiner durch halbe Kenntnisse und halbe Ahnungen, Fakten und Gerüchte
und Vermutungen gestauten Erregung sie getrieben hat. Diese Träume
handeln zwar von gestörten menschlichen Beziehungen, aber durch die
Umwelt gestörten. Dieser »Bund des Traums mit dem Wachen«,10 diese
»durchsichtigen Scheinträume«11 (mit Jean Pauls Worten) haben ihre
Wurzeln direkt im Boden der die Träumer umgebenden politischen
Gegenwart, aus dem sie wachsen und wuchern. Sie sind nahezu
Bewußtseinsträume. Ihr Hintergrund ist nicht nur nicht unsichtbar, er ist
weithin sichtbar. Was auf ihrer Oberfläche liegt, liegt ihnen zugrunde.
Keine Fassade verbirgt Zusammenhänge, und niemand muß die
Herstellung der Beziehungen zwischen Traumeinfall und Existenz ür den
Träumer leisten; er leistet sie selbst im Traum.
Auch die Träumenden dieser Art brauchen Bilder, deren Symbole man
jedoch nicht zu klären, deren Allegorien man nicht zu deuten hat;
höchstens kann man ihre Verschlüsselungen dechiffrieren. Sie wählen
Verkleidungen und Verpuppungen, die so leicht sind wie in der Karikatur,
wie im Kabare, tragen Masken, hinter denen sie kenntlich bleiben wie im
Karneval.
Es ist also durchaus keine Prophetie, was o so aussieht. Ihre
Metaphern werden wahr, weil unsere Träumer, mit durch Angst und
Abscheu geschärer Sensibilität in der Überülle der Tagesereignisse, die
sie nicht mildtätig umträumen oder transzendieren, Symptome
wahrnehmen, die kaum wahrnehmbar sind. Wohl muten ihre Träume an
wie ein Mosaik – o surrealistisch zusammengesetzt –, aber seine
einzelnen Steinchen entstammen der Realität des Drien Reiches. Das gibt
das Recht, sie als Beiträge zur Psychologie der Struktur totaler Herrscha
zu interpretieren, sie anzuwenden auf die konkreten Situationen, die sie
erhellen, und beiseite zu lassen, welche individuell-psychologischen
Aspekte sie enthalten mögen. (Bekanntlich haben Vertreter der
psychologischen Traumschulen – Beelheim12 z. B. – im extremsten
Zustand des totalitären Staates, den Konzentrationslagern, staunend
festgestellt, wie wenig anwendbar ihre eorien dort waren.)
Wir haben also in diesen Träumen – auf dem Hintergrund einer sich
verzerrenden Umwelt und sich auflösender Werte – irreale Realität, eine
Mischung zwischen Denken und Kombinieren, rationale Details in
phantastische Zusammenhänge gebracht und damit nicht
zusammenhangloser, sondern zusammenhängender gemacht,
Doppeldeutiges trotz Deutbarkeit, Untergründiges und Abgründiges in
den Alltag eingeügt. Daß sich das anhört wie Bemerkungen zur
modernen Kunst aller Disziplinen, ist nicht erstaunlich angesichts der
Rolle, die der Traum, selbst der Alptraum, als Kunstmiel in unserem
Jahrhundert spielt. Wie sehr aber die Ausdrucksmiel der damals
Träumenden, wenn sie ihre Gegenwart untersuchen, übereinstimmen mit
den Mieln, die den heute Schreibenden zur Klärung der Vergangenheit
dienen, der sie mit realistischen Mieln nicht beikommen können, ist
erstaunlich.
Von Kaas Parabeln13 ist o gesagt worden, daß sie sich auf den
totalitären Zustand anwenden ließen. Im gleichen Sinne kann man von
diesen Träumen sagen, daß sie sich auf wichtige Erzeugnisse der Literatur
über das Drie Reich anwenden lassen, deren elle man hier zu sehen
meint, auch in der Form. Wollte man eine Auswahl der wohlorganisierten,
dramatisierten unter diesen Träumen veröffentlichen, etwa unter dem
Titel »Fragmente der zehn Träumenden«, sie könnten in ihrer geordneten
Unordnung, mit der sie detaillierte Kenntnisse über äußere Vorgänge und
innere Abläufe charakterisieren, in der Gegenwartsliteratur durchaus
bestehen. Die Träumenden, im Kampf um eine Ausdrucksform ür das
Unausdrückbare, verwischen die Grenzen zwischen Tragik und Komik,
geben ihre leicht verfremdeten Berichte über Zeitphänomene in Parabeln,
Parodien, Paradoxen, reihen Situation an Situation in Momentaufnahmen,
in Skizzen, aus denen das Echo des Tages schaurig laut, schaurig leise,
radikal vereinfacht, radikal übertrieben widerhallt.
Aber in welcher Form die Träumer, »wenn sie schlafen auf dem
Bee«,14 auch den roten Faden weiterspinnen, den sie im Labyrinth der
politischen Gegenwart gesehen haben und der sich ihnen um den Hals zu
schlingen droht – ihre Vorstellungskra geht weit. Der Naziührer, der
sagte, im Drien Reich ühre man nur im Schlaf ein Privatleben,15 hat die
Möglichkeiten des Drien Reichs unterschätzt: der werdende totale
Untertan, der hier mit seiner Traumleistung sprechen soll, hat es klarer
gesehen – »im Traum, des Gesichts in der Nacht«.16
2. Kapitel
Der Umbau der Privatperson oder
»Das wandlose Leben«
I will show you fear in a handful of dust.17
T. S. Eliot
 
Totale Herrscha wird wahrha total in dem Augenblick –
und sie pflegt sich dieser Leistung auch immer gebührend zu rühmen –,
wenn sie das privatgesellschaliche Leben der ihr Unterworfenen
in das eiserne Band des Terrors spannt.18
Hannah Arendt






Verordnungen, Bestimmungen, Gesetze – Vorgeschriebenes und
Vorgedachtes – die augenälligsten Realitäten des totalen Regimes dringen
als erste in die Träume der Regierten; der bürokratische Behörden- und
Beamtenapparat ist ein grotesk makabrer Traumheld par excellence.
Ein Arzt, 45jährig, träumte 1934, nach einem im Drien Reich
verbrachten Jahr:
 
»Während ich mich nach der Sprechstunde, etwa gegen neun Uhr abends,
mit einem Buch über Mahias Grünewald friedlich auf dem Sofa
ausstrecken will, wird mein Zimmer, meine Wohnung plötzlich wandlos.
Ich sehe mich entsetzt um, alle Wohnungen, soweit das Auge reicht, haben
keine Wände mehr. Ich höre einen Lautsprecher brüllen: ›Laut Erlaß zur
Abschaffung von Wänden vom 17. des Monats.‹«
 
Dieser Arzt hae, tief beeindruckt von seinem Traum, ihn am Morgen von
sich aus aufgeschrieben (und darauin übrigens geträumt, er werde
beschuldigt, Träume aufzuschreiben); er hae darüber nachgedacht und
den Anlaß seines Traums gefunden, der sehr aufschlußreich war. Der
zugrundeliegende kleine Tagesvorgang, das persönliche Bezugsmoment,
macht in diesem Fall – wie in anderen Fällen – das deutliche Muster des
zeitgeschichtlichen Bezugs, das sich im Traum selbst abzeichnet, noch
deutlicher:
 
»Der Blockwart war gekommen mit der Frage, warum ich nicht geflaggt
habe. Ich hae ihn beruhigt und ihm einen Schnaps eingegossen, aber
gedacht: in meinen vier Wänden … in meinen vier Wänden. – Ich habe
keineswegs ein Buch über Grünewald gelesen, besitze gar kein Buch über
Grünewald, habe aber offenbar den Isenheimer Altar,19 wie es o
geschieht, als Symbol ür das reinste Deutschtum benutzt. Alle meine
Traumzutaten und Extempores sind politisch, obwohl ich kein politischer
Mensch bin.«
 
»Das wandlose Leben« kann nicht nur als Überschri ür dieses Kapitel
dienen – die Traumformulierung des Arztes weitet die Zwangslage des
einzelnen, der sich nicht kollektivieren lassen will, so vorbildlich ins
Allgemeine aus, daß sie ebenso einer wissenschalichen Arbeit wie einem
Roman über die menschliche Existenz unter dem Totalitarismus als Titel
dienen könnte.
Und der Arzt sah nicht nur die condition humaine in der totalen Welt
ganz richtig, er hat auch im Traum die einzige Rückzugsmöglichkeit aus
dem »wandlosen Leben«, die einzige wahre Möglichkeit der »inneren
Emigration« genauso klar gesehen, wenn er träumte:
 
»Ich lebe auf dem Meeresgrund, um unsichtbar zu bleiben, nachdem die
Wohnungen öffentlich geworden sind.«
 
Eine Frau, gegen dreißig, ohne Beruf, verwöhnt, liberal, kultiviert, hae
schon 1933 einen Traum, in dem sie, wie der Arzt, eine existentielle
Aussage über die totalitäre Welt machte. Sie träumte:
 
»Eine Tafel ist als Ersatz ür die verbotenen Straßenschilder an jeder Ecke
aufgestellt und verkündet in weißen Buchstaben auf schwarzem Grunde
zwanzig Worte, die auszusprechen dem Volk verboten ist. Als erstes das
Wort ›Lord‹ – das habe ich wohl aus Vorsicht auf englisch, nicht auf
deutsch geträumt. Die nachfolgenden habe ich vergessen oder
wahrscheinlich überhaupt nicht geträumt, außer dem letzten: das war
›Ich‹.«
»Das häe man«, setzte sie der Erzählung des Traums spontan hinzu,
»in alter Zeit wohl eine Vision genannt.«
 
In der Tat: Vision bedeutet Sehen, und der leere Raum zwischen
Golosigkeit und Ichlosigkeit, den die totalen Regierungen des
zwanzigsten Jahrhunderts als ihr Krafeld benutzen, ist unheimlich scharf
gesehen in dieser radikalen Sprachregelung, deren erstes Gebot lautet: Du
sollst den Namen des Herrn nicht aussprechen, und deren letztes »Ich« zu
sagen verbietet. Parabolisch verhüllt werden Grundfragen der Dialektik
zwischen Individuum und Zwangsstaat enthüllt. Dazu kommen die
Details, die den Traum ausstaen: die Tafel, die die Träumerin aufstellt
wie Geßlers Hut20 anstelle der verbotenen Straßenschilder, mit deren
Entfernung sie die Direktionslosigkeit des Menschen auf dem Wege von
der Person zur Funktion charakterisiert. Und durch die einfache Methode,
sta »Go« das ihr ganz ungeläufige Wort »Lord« auf ihre Verbotstafel
hinzuträumen, erreicht sie, daß gleichzeitig alles Ausgezeichnete,
Hochstehende, Edle mitverboten ist.
Diese Frau, bei der, wie sie selbst lachend kommentierte, »Ich« groß
geschrieben wurde, hat in den Monaten April bis September 1933 einen
Zyklus von Träumen dieser Art produziert, keine Variationen desselben
Traums wie der Fabrikbesitzer, sondern ganz verschiedene Bearbeitungen
desselben Grundthemas. Sie, eine typische Privatperson, bewährte sich im
Traum wie Heraklits Sibylle,21 die »mit ihrer Stimme durch tausend
Jahre«22 reicht – sie reichte in ihren Träumen weniger Monate weit durch
das tausendjährige Reich: sie spürte Strömungen, erkannte
Zusammenhänge, verdeutlichte Undeutliches und pendelte so träumend
zwischen dem einfach entlarvten Alltag und den Geheimnissen, die unter
der sichtbaren Schicht lagen. Kurz, sie destillierte im Traum die Essenz
einer Entwicklung, die zu öffentlichen Katastrophen und zum Verlust ihrer
persönlichen Welt ühren mußte, und drückte das alles miels eines Hin
und Her zwischen Tragödie und Farce, Realismus und Surrealismus höchst
artikuliert aus. Die objektive Richtigkeit ihrer Traumcharaktere und
Handlungen, ihrer Details und Nuancen hat sich erwiesen.
Ihr zweiter Traum, gleich nach dem von Go und Ich, handelte vom
Teufel und Menschen. Er lautete:
 
»Ich sitze, sehr schön angezogen und frisiert, in einem neuen Kleid in
einer Loge im Opernhaus, das riesig ist, viele viele Ränge, genieße viele
bewundernde Blicke. Man gibt meine Lieblingsoper, ›Die Zauberflöte‹.
Nach der Stelle ›Das ist der Teufel sicherlich‹23 kommt ein Trupp Polizei
hereinmarschiert, laut knallende Schrie, direkt auf mich zu. Sie haben
durch eine Maschine festgestellt, daß ich bei ›Teufel‹ an Hitler gedacht
habe. Ich sehe mich hilfeflehend unter all den festlich gekleideten Leuten
um. Stumm und ausdruckslos sehen sie vor sich hin, kein Gesicht zeigt
auch nur Mitleid. Doch, der alte Herr in der Nebenloge sieht fein und
gütig aus, aber als ich ihm in die Augen sehen will, spuckt er mich an.«
 
Auch diese Träumerin weiß, wie der Fabrikbesitzer, von der öffentlichen
Demütigung als Miel der Politik. Ein anderes leitendes Motiv ihres
Traums mit den vielen Motiven ist die »Umwelt«. Sie stellt diesen
abstrakten Begriff sehr kunstvoll dar durch die konkrete Szenerie der
runden Riesenränge eines Opernhauses, geüllt mit Mitmenschen, die
»stumm und ausdruckslos« vor sich hinsehen, wenn dem anderen etwas
zustößt, und akzentuiert durch jemanden, von dem man es seinem
Äußeren nach am wenigsten vermuten kann und der die junge, eitle,
geschmückte Frau anspuckt. Was sie »Stummheit und
Ausdruckslosigkeit« der Gesichter nennt, hae der Fabrikbesitzer »Leere«
genannt. (In einem Traum eodor Haeckers aus dem Jahre 1940 kommen
die »unbeweglichen Gesichter«, mit denen seine Freunde herumstehen,
gleich zweimal vor.)24 Ganz verschiedene Menschen gebrauchen also zur
Darstellung eines verborgenen Umweltphänomens, die durch Druck
erzeugte, den öffentlichen Raum erstickende Atmosphäre der totalen
Gleichgültigkeit, denselben Kode.
Auf die Frage, ob sie eine Vorstellung von der
Gedankenkontrollmaschine habe, antwortete die Träumerin: »Ja, sie war
elektrisch, ein Gewirr von Drähten …« Sie hat diese Maschine als Symbol
der körperlichen und geistigen Beherrschung, der überall lauernden
Möglichkeiten, des Automatismus der Vorgänge erfunden zu einer Zeit,
wo sie weder Kenntnis von fernwirkenden elektronischen Geräten, von
Folterungen durch Elektrizität haben konnte noch von der Orwellschen
Überwachungsapparatur, denn es war ja noch ünfzehn Jahre vor
Erscheinen von »1984«.25
Ihren drien Traum träumte sie, nachdem die Berichte über die
Bücherverbrennungen sie erschüert haen (besonders die
Radioreportage darüber, in der die Worte »Wagenladung« und
»Scheiterhaufen« sich o wiederholten):
 
»Ich weiß, alle Bücher werden abgeholt und verbrannt. Aber von meinem
›Don Carlos‹,26 dem alten zerlesenen Band aus der Schule, mit den
Bleististrichen, will ich mich nicht trennen, ich verstecke ihn unter dem
Be unseres Dienstmädchens. Aber als die SA-Leute zur Abholung
kommen, gehen sie mit ihren knallenden Schrien direkt auf das
Mädchenzimmer zu [die knallenden Schrie und das direkte
Draufzukommen sind Requisiten aus dem vorigen Traum – wir werden
ihnen in manchen anderen Träumen begegnen],27 holen ihn unter dem
Be hervor und werfen ihn auf den Leiterwagen, der zum Scheiterhaufen
ährt.
Da entdecke ich, daß es gar nicht mein alter ›Don Carlos‹ war, den ich
versteckt hae, sondern irgendein Atlas. Trotzdem stehe ich
schuldbeladen da und lasse ihn aufladen.«
 
»Ich hae«, setzte sie der Erzählung wieder spontan hinzu, »in einer
ausländischen Zeitung gelesen, daß es bei einer Don-Carlos-Auührung
nach der ›Gedankenfreiheit‹ zu Applaus gekommen war – oder habe ich
auch das nur geträumt?«
In diesem Don-Carlos-Traum ährt die Träumerin fort mit der
Charakterisierung des neuen Menschen, den das totalitäre Regime
erzeugt, die sie im Opern-Traum begonnen, schließt sich aber in die Kritik
an der Umwelt ein, kennt das Typische in ihrem individuellen Verhalten:
sie will gar kein verbotenes Buch, sondern Schiller unterm Be verstecken
wie einen Einbrecher, versteckt noch nicht einmal das, sondern aus Angst
und Vorsicht einen Atlas, ein Buch also, das gar kein Wort enthält, und
steht doch, trotz Unschuld, schuldbeladen da.
Wenn sie hier leise andeutet, daß die Gleichung Stillehalten = intaktes
Gewissen innerhalb des neuen Rechensystems nicht aufgehen konnte,
ging ihr nächster Traum in dieser Richtung einen Schri weiter. Er ist
kompliziert und nicht so anekdotisch abgerundet, schwerer verständlich,
aber sie verstand ihn:
 
»Ich träume: Der Milchmann, der Gasmann, der Zeitungsmann, der
Bäcker, der Klempner stehen im Kreis um mich und halten mir
Rechnungen entgegen. Ich bin ganz ruhig, bis ich zu meinem Schreck
unter ihnen den Schornsteinfeger entdecke. (Schornsteinfeger wurde in
der Geheimsprache unserer Familie als Deckwort ür SS benutzt, wegen
der beiden ›S‹ in seinem Namen und seines schwarzen Kostüms.) Sie
halten mir, die ich in ihrer Mie stehe, wie beim Kreisspiel ›Schwarze
Köchin‹28 ihre Rechnungszeel mit dem bekannten erhobenen Arm
entgegen und rufen im Sprechchor: ›Die Schuld kann nicht bezweifelt
werden.‹«
 
Was die psychische Voraussetzung dieses Traums bildete, wußte sie
genau. Am Tage zuvor war der Sohn ihres Schneiders in voller Uniform
erschienen, um eine gerade entstandene Rechnung einzukassieren,
während vor dem Auruch der Nation natürlich Rechnungen in
angemessener Zeit mit der Post geschickt worden waren. Von ihr zur Rede
gestellt, was das zu bedeuten habe, hae er verlegen geantwortet, das
habe gar nichts zu bedeuten, er sei nur zuällig vorbeigekommen, und die
Uniform habe er nur zuällig angehabt, und sie hae geantwortet: »Das ist
lächerlich«, aber doch bezahlt. Ein kleines Alltagserlebnis – aber in
diesem Zusammenhang waren banale Anlässe nicht nur banal –, das die
Träumerin verwertet, um detaillierte Vorgänge aus dem in Bildung
begriffenen »System der Blockwarte« zu veranschaulichen und zu werten:
die Übergriffe, die in jenen Tagen unter dem Schutz der Parteiuniform
ausgeübt wurden; die vielen privaten Rechnungen, die mitbeglichen
wurden; die beginnende Einkreisung des einzelnen durch den kleinen
Mann, Gevaer Schneider und Handschuhmacher, spuken durch ihren
Schwarze-Köchin-Traum.
Der Spruch des Chores aber: »Die Schuld kann nicht bezweifelt
werden«, der die Träumerin zum Angeklagten macht, der im vorhinein in
den Zustand der Schuld versetzt wird, zum typischen Angeklagten eines
totalitären Regimes also, steht mit seiner offenbaren Anlehnung an:
»Denn alle Schuld rächt sich auf Erden«29 auch ür ihre eigene Schuld,
nachgegeben zu haben – einem leisen Druck, den sie als lächerlich und
der Uniformträger als zuällig bezeichnete.
Dieser Schwarze-Köchin-Traum beschreibt, wie der DonCarlos-Traum
vorher, auf sehr subtile Weise den ersten kleinen Kompromiß, die erste
kleine Unterlassungssünde, aus denen allmählich der Prozeß der
Willensschrumpfung und am Ende die totale Atrophie werden sollte.
Normales Verhalten im Alltagsleben, kaum wahrnehmbares Unrecht steht
zur Debae. Es wird Licht geworfen auf eine Bewußtseinslage, die heute,
trotz aller Bemühungen, so schwer zu erhellen ist und aus der die Schuld
der Unschuldigen erwachsen sollte.
Hinzuzuügen wäre, daß die Zeile von der Schuld, die nicht bezweifelt
werden kann, fast wörtlich in Kaas »Straolonie« steht, vom Offizier
gesagt: »Die Schuld ist immer zweifellos.«30
Übrigens träumte diese Frau, die im Traum Orwellsche Objekte und
Kaasche Erkenntnisse schuf, wiederholt von den neuen
Umweltbedingungen einfach als Situation: die Nachbarn mit den
»ausdruckslosen Gesichtern« saßen um sie »im weiten Umkreis«, und sie
hae das Geühl, »gefangen« oder »verloren« zu sein. Einmal, und zwar
in der Silvesternacht von 1933 zu 1934, nach dem Bleigießen, träumte sie
sta Situationen reine Impressionen, Worte ohne Bilder, die sie sofort in
der Nacht notierte:
 
»Ich werde mich im Blei verstecken. Zunge ist schon Blei, Blei
festgeschlossen. Angst wird vergehen, wenn ich ganz aus Blei bin. Werde
regungslos liegen, Blei erschossen. Werde, wenn sie kommen, sagen:
Bleierne können nicht aufstehen. Ach, sie wollen mich ins Wasser werfen
wegen Verbleiung …«
 
Hier brach der Traum ab, von dem man sagen kann, er sei ein normaler
Angsraum, wenn auch ein ungewöhnlich poetischer, dessen Schrecken
man ühlt, ohne den Zusammenhang zu kennen. (Er ist im übrigen vor
ünfzehn Jahren in eine Kurzgeschichte übernommen worden.31) Aber die
Träumerin selbst wies auf die in den Traum verwobene Realität, die
Reimfetzen aus dem Horst-Wessel-Lied32 hin: festgeschlossen –
erschossen – und ügte hinzu, daß sie sich so, bleiern mit Angst vermischt,
seit Monaten ühle. Wenn man interpretieren will und bedenkt, daß
Aufstand von aufstehen kommt, kann man in das »Bleierne können nicht
aufstehen« eine tiefe Bedeutung legen, die sie, obwohl scharfsichtig, nicht
gesehen hat.
Aber auf alle Fälle entspricht das Sich-im-Blei-Verstecken, als Ausdruck
ür den Rückzug ins Innere, dem Sich-auf-dem-Meeresgrund-Verstecken
des träumenden Arztes.
Eine Frau ganz anderen Alters und anderer Art, eine etwa
ünfzigjährige Mathematiklehrerin, trieb die Vielfalt der Verbote im
Frühherbst 1933 zu folgendem Traum:
 
»Es ist bei Todesstrafe verboten, irgend etwas niederzuschreiben, was mit
Mathematik zu tun hat. Ich flüchte mich in eine Bar (ich habe nie in
meinem Leben ein solches Lokal betreten). Betrunkene schwanken, die
Barmädchen sind halbnackt, die Kapelle grölt. Ich ziehe ganz dünnes
Papier aus der Tasche und schreibe mit unsichtbarer Tinte ein paar
Gleichungen nieder, in tödlicher Angst.«
 
Auf die Frage, was sie sich dazu denke, erwiderte die Lehrerin nur: »Hier
ist etwas verboten, was zu verbieten unmöglich ist.« Ganz richtig, und
dies jenseits der Grenze des Möglichen liegende Verbot, 2 × 2 = 4
aufzuschreiben, entlarvt in seiner Simplizität alle an der Grenze des
Möglichen liegenden Verbote. Und welche Einzelheiten kramt das nicht
phantasiebegabte, konservative Fräulein Lehrerin aus den
Geheimkammern ihres Gedächtnisses: sie sucht einen obskuren Platz auf,
an dem niemand sie vermuten kann, arbeitet wie ein gelernter Spion mit
chemischer Tinte, mit Papier, das man verschlucken kann, um das Recht,
Gleichungen aufzuschreiben, ihren Beruf also, vor der Zerstörung zu
schützen oder, wenn man etikeieren will, der Politik nicht zu gestaen,
ihre Existenz zu verfremden, denn ür die drohende Entfremdung
zwischen Person und Umwelt ist dieser Traum ja ein neues Gleichnis aus
einer anderen Sicht. (Übrigens enthält dieser Traum der
Mathematiklehrerin einen der ganz wenigen zagen Widerstandsversuche,
die sich ein Vertreter des Mielstands in unseren Träumen einfallen ließ.)
Aus dieser Handvoll Fabeln, die ein Arzt, eine hübsche junge Frau, eine
alternde Lehrerin im Schlaf vom »wandlosen Leben« erzählen, lassen sich
nicht nur die realen Bedingungen, die sie motiviert haben, leicht
rekonstruieren. Jede einzelne steht auch ür eine Abstraktion (die
»Umwelräume« der Frau zum Beispiel ür »die Zerstörung der
Pluralität« und die »Verlassenheit« im öffentlichen Raum, die Hannah
Arendt als das grundlegende Phänomen des totalitär regierten Menschen
formulieren sollte33) und beweist, daß es sich bei diesen Träumen nicht
um Schockwirkungen, sondern um Abbilder geistiger und moralischer
Wirkungen im Innern der Träumer handelt.
3. Kapitel
Bürokratische Greuelmärchen oder
»Ich finde an nichts mehr Freude«
Bis jetzt war noch Händearbeit nötig,
von jetzt aber arbeitet der Apparat ganz allein.34
Franz Kaa
 
Was sind das ür Zeiten,
Wo ein Gespräch über Bäume
Fast ein Verbrechen ist.35
Bertolt Brecht






Ein Verbrechen, das in der Äußerung besteht: »Ich finde an nichts mehr
Freude«, begeht ein Mann im Deutschland des Jahres 1934 im Traum.
Der Mann, ein in der städtischen Verwaltung beschäigter Beamter,
Jurist, gegen vierzig, träumte:
 
»Ich telefoniere abends um acht mit meinem Bruder, meinem einzigen
Vertrauten und Freund, wie jeden Abend. [Das entsprach den Tatsachen.]
Nachdem ich als Vorsichtsmaßnahme gerühmt habe, wie richtig Hitler es
macht und wie gut man es hat in der Volksgemeinscha, sage ich: ›Ich
finde an nichts mehr Freude.‹ [Das entsprach wieder den Tatsachen, das
hae er abends am Telefon gesagt.]
Mien in der Nacht ru es an. Eine ausdruckslose Stimme [die
ausdruckslose Stimme entspricht den ausdruckslosen Gesichtern, denen
wir in anderen Träumen begegneten] sagt: ›Hier Dienststelle zur
Überwachung von Telefongesprächen‹ – sonst nichts. Ich weiß sofort, das
mit der Freude war mein Verbrechen, ich höre mich Argumente
gebrauchen, bien und flehen, man soll mir das eine Mal verzeihen, nur
dies eine Mal nichts melden, nichts weitergeben, nichts ankreiden. Ich
höre mich reden wie im Plädoyer. Die Stimme bleibt absolut stumm und
hängt stumm ab, läßt mich in der quälenden Ungewißheit.«
 
Der Beamte wird also, obwohl er sich gedemütigt hat wie der
Fabrikbesitzer, in demselben Schwebezustand zurückgelassen, der
zweifellos eines der Miel des systematischen Terrors ist, in den
Kaaschen Zustand des vagen Angeklagtseins versetzt, das
Damoklesschwert überm Haupte. Nur daß die Macht, die es auängt, in
diesem Falle noch nicht einmal eine bestimmte Person ist, kein Goebbels,
sondern ein Amt, vertreten durch eine unpersönliche Stimme. Wenn
Freude-haben die zwecklose Lust des Menschen am Dasein ist, dann ist
An-nichts-mehr Freude-haben als Verbrechen eine Chiffre ür die
Dehumanisierung in einer durch Ideologien eingezäunten, durch
zweckvolles Diktat gelenkten Welt. In diesem Bilde – wieder eine jener
Übertreibungen, die die absurde Realität klarer machen – werden die
herrschenden Zustände verdichtet, wie die Verwandtscha mit der Zeile,
die Brecht zur selben Zeit irgendwo auf der Welt gedichtet hat,36 erweist.
Der träumende Beamte sah nicht so weit, er sah nur, daß sein Traum
sich konsequent im Rahmen seines Berufes abspielte. »Ich träume
bürokratische Greuelmärchen«, sagte er, indem er die offizielle
Bezeichnung ür durchsickernde Gerüchte gebrauchte. Er hae im Traum
Dutzende ähnlicher Ämter wie die Telefonüberwachungsstelle erfunden,
die er vergessen hae, bis auf das einprägsame »Schulungsamt ür den
Einbau von Lauschern an der Wand« – man sieht, seine Erfindungen
waren echt surrealistisch, gaben der Realität über die Realität die
»absolute Wirklichkeit« (André Breton).37 Er hae Verordnungen,
Verügungen, Vereine erfunden, die vom Sprachlichen her Zustände
analysierten. Bis auf eine »Verügung gegen den Umgang mit
Ausländern« und die glänzend formulierte »Verordnung gegen
bürgerliche Rückstände bei städtischen Beamten« hae er sie auch
vergessen.
Dagegen wußte er, daß sie auf Spruchbändern oder Plakaten, in
Zeitungsbalkenüberschrien vor seinen Augen erschienen waren.
Manchmal hae er sie auch nur gehört, in nicht-visuellen Träumen,
»gebrüllt von einer durchdringenden Stimme wie im Kasernenhof«. Er
erwähnte das nur nebenbei.
Aber in dem gegebenen Zusammenhang schien das Auauchen der
Massenkommunikationsmiel als solche im Traum bedeutsam.
Propaganda bildet einen selbständigen Teil der totalitären Welt; und das
Hitlerregime war das erste totalitäre System, das diese technischen
Helfershelfer bei der Meinungsbeeinflussung einsetzen konnte wie seine
Funktionäre, in vollem Umfange. Sie haen sich also, wie diese, in den
Träumen des Beamten selbständig gemacht, als neumodische
Nachtgespenster, die sich ganz nach Gespensterart benahmen: einmal
materialisierten sie sich als Erscheinung, das andere Mal als Zurufe, als
Stimme von oben.
Im Laufe der Zeit ergab sich, daß die Wirkung der Propagandamiel per
se so tief ging, wie sie gehen sollte: daß Träume von Lautsprechern,
Spruchbändern, Plakaten, Schlagzeilen, dem ganzen Arsenal des
Nachrichtenmonopols (in Nebenrollen werden wir ihnen in den
verschiedenartigsten Träumen begegnen) in Hauptrollen häufig waren, zu
häufig und zu gleichörmig, um sie einzeln aufzuühren. Zwei Beispiele:
Ein Mann, der übrigens sehr lärmempfindlich war, hörte, besonders nach
Tagen, wo Führerreden durch Lautsprecher in Häusern, Büros,
Restaurants, an jeder Straßenecke schallten, es nachts aus seinem Radio
brüllen: »Im Namen des Führers … im Namen des Führers … im Namen
des Führers.« – Einem Mädchen erschien in ihren Träumen das
Schlagwort »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« in endlosen
Wiederholungen auf einem flaernden Spruchband – hier zeigt sich die
Tiefenwirkung bloßer Wiederholungen von Fangworten auf höchst
einfache Art.
Anderen erschienen Slogans und Schlagworte im Traum korrigiert,
verzerrt wie vom Mund des Polemikers, der Feder des Satirikers. Jemand
erträumte sich während der Kampagne gegen »Meckerer und
Miesmacher« einen Sprechchor gegen »Muckerer und Duckerer«, ein
andermal träumte er von einer quer über die erste Seite des »Völkischen
Beobachters«38 gehenden Schlagzeile »Gegen Kritikaster und Päderaster«.
(Gegen beide Spielarten wurden Kampagnen geührt.) »Ist das Ironie, ist
es bescheidene Gegenpropaganda?« fragte der Träumer selbst. Das von
einer Hausfrau geträumte Plakat »Wasserleitung trop – Winterhilfe
eintop« scheint die Methoden der Winterhilfe (die sta des
Sonntagsbratens ein Eintopfgericht dekretierte und die Ersparnisse im
Haushaltsbudget zwangseinkassierte) zu kritisieren, im Stil der Nonsense-
Verse der Moderne, wie die anderen Wortspielereien mit ihrem
Gleichklang verschiedenen Inhalts, Zweideutigkeit im Wort selbst, Sinn im
Unsinn ergaben.
Aber auf diese Einzelheiten kommt es hier weniger an als auf die
Tatsache, daß alle Propagandamedien, denen die Träumer am Tage
ausgesetzt waren, zu Traumhelden per se wurden – nicht zu entfernt
verwandt mit Huxleys Sleepteaching,39 dem Sender mit den
vorgeschriebenen Gedanken unterm Kopissen.
4. Kapitel
Der Alltag in der Nacht oder
»Damit ich mich selbst nicht verstehe«
Es ist aber nichts verborgen, das nicht offenbar werde,
noch heimlich, das man nicht wissen werde.
Darum, was ihr in der Finsternis saget, das wird man im
Licht hören; was ihr redet ins Ohr in den Kammern,
das wird man auf den Dächern predigen.40
Lukas
 
Ob man in einem bestimmten Moment überwacht
wurde, konnte man nicht wissen – es war sogar möglich,
daß jedermann immer überwacht wurde …
Man mußte unter der Voraussetzung leben,
lebte so aus Gewöhnung, die zum Instinkt wurde,
daß jeder Laut, den man von sich gab, überwacht, jede
Bewegung überprü wurde.41
George Orwell






Propagandamiel vom Radio zur Schlagzeile, die ausührenden Organe bei
der Manipulation der Gehirne, verfolgen also den werdenden totalen
Untertan in seinen Träumen, wie die SA als ausührendes Organ des
physischen Terrors ihn in zahllosen Träumen verfolgte (die als
selbstverständlich uns hier nicht beschäigen, obwohl viele sie immer
noch träumen). Wenn aber im Traum einer Hausfrau milerer Jahre der
Kachelofen in ihrem Wohnzimmer zum Medium des Terrors wird, liegt
offenbar ein Terror anderer Art vor. Die Hausfrau träumte:
 
»Ein SA-Mann steht vor dem großen altmodischen blauen Kachelofen in
der Ecke unseres Wohnzimmers, vor dem wir abends immer im Gespräch
sitzen, macht die Ofentür auf, und der Ofen ängt mit schnarrender,
durchdringender Stimme zu reden an [hier ist wieder die durchdringende
Stimme, die Reminiszenz an die Lautsprecherstimme des Tages]: jeden
Satz, den wir gegen die Regierung gesagt, jeden Witz, den wir erzählt
haben. Go, was wird da noch kommen, denke ich, all meine Sätzchen
gegen Goebbels, aber im selben Moment wird mir klar, daß es auf einen
Satz mehr oder weniger nicht ankommt, daß einfach alles, was wir je im
vertrauten Kreise gedacht und gesagt haben, bekannt ist. Gleichzeitig ällt
mir ein, daß ich die Möglichkeit von eingebauten Mikrophonen immer
verlacht habe, und eigentlich glaube ich immer noch nicht daran. Selbst
als der SA-Mann mir einen Riemen ums Handgelenk bindet – er benutzt
unsere Hundeleine –, um mich mitzunehmen, glaube ich, er macht Spaß,
frage sogar laut: ›Das ist doch nicht ernst, das kann doch nicht sein.‹«
[Dieselbe Ungläubigkeit gegenüber der unglaublichen Realität wird aus
allen Konzentrationslagern berichtet, diese fast schizophrene Spaltung
zwischen einem, der erlebt, und einem, der beobachtet.]
 
Bei dieser Träumerei am hitlerischen Kamin muß man sich zuerst
klarmachen, daß der Traum aus dem Jahre 1933 stammt. Was heute
politische Fakten sind, sogar Alltagsfakten, waren damals noch nicht
einmal Romanfakten. Heute wissen wir nicht nur von Orwells Symbol des
allgegenwärtigen Big Brother,42 wir wissen von Abhör- und
Überwachungsapparaten, die hinter dem Rücken der Belauschten und
Überwachten ohne politische Zwecke in der »wehrlosen Gesellscha« der
zweiten Häle des Jahrhunderts auauchten. (Als letzte Verfeinerung
kann man sie in Liliputausgaben in die Olive im Cocktailglas einbauen.)
Und wir wissen auch, daß der unter Diktatur stehende Mensch der
Urmensch dieser »wehrlosen Gesellscha« ist. Aber die Hausfrau, auch
der Beamte, als er im Traum sein »Schulungsamt ür den Einbau von
Lauschern an der Wand« schuf, wußten nichts von alledem und »wußten«
es eben doch, sollten es auch nach dem Willen der Regierung wissen, und
stellten im Dunkel der Nacht in Verzerrung dar, was die dunkle Tageswelt
ihnen zutrug.
Die Hausfrau kannte den – diesmal besonders aufschlußreichen –
Anlaß ihres Traumes und ügte ihn ohne Befragung ihrer Traumerzählung
hinzu. »Allerdings«, sagte sie, »hae ich am Vortag bei meinem Zahnarzt,
als wir von Gerüchten sprachen, mich meiner Ungläubigkeit zum Trotz
dabei entdeckt, daß ich auf seine Maschine starrte, ob da nicht etwa etwas
zum Abhören angeschlossen sein könnte.«
 
Hier sieht man ein Opfer einer schwer faßbaren – und auch noch nicht
voll erfaßten – Form des Terrors direkt beim Präpariertwerden: des
Terrors, der nicht in ständiger Überwachung von Millionen bestehen
konnte, sondern in der Ungewißheit, wie weit die Möglichkeiten dieser
Überwachung gingen. Unsere Hausfrau glaubt zwar nicht an eingebaute
Mikrophone, ertappt sich aber am Tage dabei, daß sie sie doch nicht ür
ganz unmöglich hält, und träumt prompt in derselben Nacht, daß »einfach
alles, was wir je im vertrautesten Kreise gesagt und gedacht haben«, bekannt
ist. Kann es einen zweckdienlicheren Traum geben ür ein totalitäres
Regime? Im Innern der Wohnung von jedermann konnte das Drie Reich
keinen Sicherheitsapparat einbauen, aber es konnte profitieren von der
Furcht davor, die es im Innern von jedermann eingebaut hae, der anfing,
sich sozusagen selbst zu terrorisieren, sich hinter seinem eigenen Rücken
zum freiwilligen Mitarbeiter des systematischen Terrors zu machen,
indem er ihn sich noch systematischer ausdachte, als er war. Der »Traum
vom redenden Kachelofen« ist in seiner Art ein Beispiel ür die
Verwischung der Grenzen zwischen Opfern und Tätern – jedenfalls macht
er die grenzenlosen Möglichkeiten der Manipulierbarkeit des Menschen
klar.
Zum Verräter wird nach dem wärmenden Ofen, dem Idyll aus dem
Lesebuch, die Nachischlampe am Be einer anderen Hausfrau, die, sta
Licht zu bringen, mit Lautsprecherstärke ans Licht bringt, was sie im Be
gesagt hat:
 
»Sie redet mit schnarrender Stimme wie ein Offizier. Mein erster Gedanke:
einfach die Lampe ausmachen und im reenden Dunkel bleiben. Aber
dann sage ich mir: das kann nichts helfen, stürme zu meiner Freundin, die
ein Traumbuch besitzt, schlage unter Lampe nach – Lampe bedeutet nur
›schwere Krankheit‹ –, ich bin einen Augenblick sehr erleichtert, dann
ällt mir ein, daß die Leute heutzutage vorsichtshalber Krankheit als
Deckwort ür Verhaung gebrauchen, und ich bin wieder sehr verzweifelt,
der unauörlich schnarrenden Stimme ausgeliefert, obwohl niemand da
ist, mich zu verhaen.«
 
Ein Gemüsehändler träumt genau das gleiche von dem Kissen, mit dem
er vorsichtshalber das Telefon zudeckt, wenn die Familie abends
gemütlich beieinandersitzt und miteinander redet. Die Gemütlichkeit
wendet sich ins Grauenhae: das von seiner Muer im Kreuzstich
gestickte Kissen, ein sentimentales Andenken, das auf seinem Lehnstuhl,
seinem häuslichen ron, liegt, bekommt Zungen und zeugt gegen ihn,
unauörlich die Familiengespräche wiedergebend, von den
Gemüsepreisen über das Miagsmahl bis zu dem Ausspruch: »Der Dicke
[Göring] wird immer dicker« – ohne daß der kleine Mann, wie die
Hausfrau am Ofen, zu glauben vermag, was ihm geschieht.
Ich hörte Entsprechendes über unheimliche Gegenstände im Heim: über
den Spiegel, den Schreibtisch, die Schreibtischuhr, ein Osterei. In jedem
dieser Fälle wurde nur die Tatsache, daß der Gegenstand denunzierte,
nicht der ganze Traum erinnert. Die Zahl von Träumen dieser Art mag mit
der steigenden Kenntnis von den Methoden des Regimes gestiegen sein.
Aber schon meine Beispiele von der Hausfrau, vom Gemüsehändler, die
nicht von Big Brother's Faust, die zuschlug, träumten, sondern von Big
Brother's Ohr, das zuhörte, und die sich gewiß auch am Tage selbst
zensurierten, tyrannisierten und terrorisierten – sonst häen sie diese
neuen Haustyrannen schwerlich in der Nacht erfunden –, illustrieren
nicht nur unsichtbare Methoden, wie Millionen Hausfrauen und
Gemüsehändlern der Mund geschlossen wurde. Sie illustrieren auch
dunkle Formen ihrer »Einwilligung«. Sie zeigen, wie sie, in blinder Furcht
vor dem Jäger, ihn zu spielen anfangen und sich selbst jagen, wie sie
hinter ihrem eigenen Rücken die Fallen, in die sie gehen sollten, aufstellen
helfen und zuschlagen lassen.
Ein junges Mädchen träumte in dieser Traumkategorie eine Groteske
eigener Art:
 
»Ich träume, daß ich mien in der Nacht aufwache und sehe, wie die
beiden Engelchen, die über meinem Be hängen, nicht mehr nach oben
sehen, sondern nach unten und mich scharf beobachten. Ich erschrecke so,
daß ich mich unter meinem Be verkrieche.«
 
Der erst jetzt in meine Hände gekommene Traum des Mädchens, über
dessen Be offenbar eine der weitverbreiteten Reproduktionen der Puen
der Sixtinischen Madonna43 hing, hört sich unscheinbar an, aber nur im
ersten Augenblick: Sie kommt gar nicht auf den Gedanken, daß die
offenbar als Wächter ihres Schlafs aufgehängten Engel über sie wachen –
sie überwachen sie, und sie kriecht unters Be, als ob sie bei Orwell
gelesen häe, daß man unmöglich wissen könne, ob man nicht in jedem
gegebenen Moment beobachtet werde.
Noch eine Umdrehung des Rades, und die am Tage geübten
Vorsichtsmaßnahmen, die Verkleidungen und Maskierungen des
Tarnungsprinzips (die ja auch Kunstmiel der Moderne sind), die
grotesken Privatgesetze, nach denen jedermann lebte, um die öffentlichen
Gesetze, bestehende und imaginäre, zu überspielen, machen sich im
Traum selbständig.
Ein Mädchen, eine ausgezeichnete Bibliographin von Beruf, etwa
ünfundzwanzig, träumte:
 
»Ich will eine Bekannte aufsuchen, die, sagen wir, ›Klein‹ heißt, entdecke
aber auf der Straße, daß ich ihre genaue Adresse vergessen habe. Ich gehe
in eine Telefonzelle, um sie nachzuschlagen, schlage aber aus Vorsicht
unter einem ganz anderen Namen, sagen wir, ›Groß‹ nach, was ja«, setzte
sie, deren Beruf Nachschlagen war, von allein hinzu, »sinnlos war.«
 
Das ist ver-rückt im Sinne des Wortes, da ja der Zweck der Handlung
durch die Handlung aufgehoben wird; aber wie sinnällig innerhalb des
Verrückten, wie wenig l'Absurde pour l'Absurde.44 Ein anderes Beispiel
daür in einem Satz:
 
»Ich erzähle einen verbotenen Witz, aber aus Vorsicht falsch, so daß er
keinen Sinn mehr hat.«
 
Derselbe Mann, der das träumte, träumte von Blinden und Tauben, die er
ausschickte, Verbotenes zu sehen und zu hören, damit er jederzeit
beweisen könnte, sie häen nichts gesehen und nichts gehört, wußte aber
keine Einzelheiten der offenbaren Groteske.
Der präziseste Traum dieser Art wurde von einer Putzmacherin
geträumt, im Sommer 1933:
 
»Ich träume, daß ich im Traum vorsichtshalber Russisch spreche (das ich
gar nicht kann, außerdem spreche ich nicht im Schla), damit ich mich
selbst nicht verstehe und damit mich niemand versteht, falls ich etwas vom
Staat sage, denn das ist doch verboten und muß gemeldet werden.«
 
»Und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des anderen Sprache
vernehme«, sagt die Bibel,45 und die Inquisition beschäigte sich mit
jemandem, der »im Traum Ketzereien aussprach«,46 beides der
träumenden Putzmacherin gewiß nicht gegenwärtig. Aber abgesehen
davon ist, was sie geträumt hae, jetzt aus der Wirklichkeit von
Auschwitz, wo das Unmögliche möglich gemacht wurde, bekannt
geworden: Ein als Sekretärin beschäigter weiblicher Häling fragte eine
Schlafgenossin voller Angst, ob sie etwa im Traum von dem spreche, was
sie am Tage erlebe. »Wir waren doch bedroht worden, mit keinem Wort,
nicht einmal durch Mienenspiel, etwas von dem zu verraten, was wir in
der politischen Abteilung erfuhren.« (Zitiert nach der »Welt«)47
Der Traum eines jungen Mannes (zur selben Zeit) lautet:
 
»Ich träume, daß ich nur noch von Rechtecken, Dreiecken, Achtecken
träume, die alle irgendwie wie Weihnachtsgebäck aussehen, weil es doch
verboten ist zu träumen.«
 
Hier hat sich also jemand entschlossen, aus Vorsicht gegenstandslos zu
träumen.
5. Kapitel
Der Nicht-Held oder
»Und sage kein Wort«
Ich bin nicht ungerecht, doch auch nicht mutig.
Sie zeigten mir da heute ihre Welt,
Da sah ich nur den Finger, der war blutig …48
Bertolt Brecht
 
Wer auf der Straße deprimiert,
Wird unverzüglich dezimiert.
Das Deprimieren durch Gebärden
Soll gleichfalls hart bestrafet werden.
 
(Im Traum geschaffene Umdichtung
von Heines »Krähwinkel«, ansta:
 
Wer auf der Straße räsoniert,
Wird unverzüglich üsiliert;
Das Räsonieren durch Gebärden
Soll gleichfalls hart bestrafet werden.)49






In Grillparzers »Der Traum ein Leben«50 läßt der Held sich durch einen
Traum davor warnen, Schuld auf sich zu laden. Auch aus der Zeit, aus der
diese Träume stammen, gibt es ein liebenswürdiges Beispiel, daß jemand
einen Traum zum Lehrmeister seines realen Daseins werden ließ: dem
Maler George Grosz erschien im Traum ein Freund, der ihm dringend riet,
sich nach Amerika zu reen. Grosz nahm den Rat an und sagte später, daß
eine höhere Macht ihn vor der Vernichtung habe reen wollen.51
Aber wenn in die absurde Traumwelt mit ihren gespenstischen
Abläufen, Kulissen, Requisiten, deren Errichtung wir bisher gefolgt sind,
die Person nicht leidend, sondern handelnd eintri, ist sie nicht belehrbar
und nicht liebenswürdig.
Wir sind ihr in Nebenrollen schon begegnet. Aber da wir, um einen
Überblick zu schaffen, kategorisieren müssen, gehört der Traumheld in
eine neue Kategorie, jener Held, der nicht nur die Umwelt, mit der das
Regime ihn nolens volens umgibt, nicht nur das, was mit ihm getan wird,
sondern seine eigene Rolle in dem Spiel bearbeitet, bis er sich selbst ad
absurdum geührt, sich selbst entpersönlicht hat. Er verachtet, er verflucht
sich; er streut Salz in seine eigenen Wunden. Vor allem aber verlacht er
sich, läßt mit scharfem Schni so viel aus seinem eigenen Porträt fort,
daß, was von ihm übrig bleibt, ein Witz ist. Er versucht auch, Alibis, eine
paradoxe Unschuld herzustellen, wenn er träumend seine Gegenwart
enträtselt, die er ja nicht in schwer deutbaren Symbolen vor sich versteckt,
sondern nur im nächtlichen Dunkel in jenes schiefe Licht rückt, in dem
Lächerlichkeit wie Grauen überdeutlich werden. Wen die moderne
Literatur noch nicht gelehrt hat, was ein negativer, ein absurder, ein
komisch-makabrer Held ist, ein Nicht-Held, der weder Taten noch
Untaten, nur Nicht-Taten begeht, kann es hier an einer der ellen
lernen. In unserem Zusammenhang wesentlicher ist, daß sich hier sehr
komplizierte Reaktionen und Motivationen von menschlichen Gewissen,
die mehr wissen, als sie sich am Tage zugeben, unkompliziert dargestellt
finden. (Eine solche Auseinandersetzung des Menschen mit seinem
Gewissen ist übrigens eine Grundsituation, die auch die psychologischen
Traumschulen ür gegeben ansehen.)
In den nun folgenden Träumen spricht die Welt des Drien Reiches nur
im Hintergrund, im Vordergrund der Mensch, »nicht ungerecht, doch
auch nicht mutig«, dem sie »da heute«, mit ihrem totalen Anspruch auch
auf sein Gewissen, gezeigt worden war.
Ein Bauarbeiter, 38 Jahre alt, träumte 1935:
 
»Ich bin auf der Post, stehe vorn am Schalter, hinter mir eine lange
Schlange Menschen. Man verkau mir keine Marken, weil niemand
Marken kaufen darf, der gegen das System ist. Da kommt ein Engländer
hinzu – er schließt sich nicht hinten an, sondern geht direkt nach vorn,
stellt sich vor mich – und sagt dem Mann hinter dem Schalter, was ich
ihm sagen müßte, mich aber nicht traue: ›Es ist toll, wie die Leute
hierzulande behandelt werden, ich werde in England darüber berichten.‹«
 
Nach seiner Meinung über den Traum befragt, sagte er: »Ich mache aus
mir einen lächerlichen Menschen.« (Er sagte das natürlich zuällig, ohne
Bezug auf den »Traum eines lächerlichen Menschen« von Dostojewski.52)
Er hae diesen Traum fast jede Nacht – jedenfalls glaubte er das – in
Variationen, fand immer neue Einzelheiten zu der absurden Situation, um
sie noch absurder zu machen. Einmal darf man Marken nur kaufen, wenn
man in einer Parteiorganisation ist, ein andermal dürfen überhaupt nur
Anhänger des Regimes Briefe schreiben. Jedenfalls läu es immer darauf
hinaus, daß irgendein anderer, meistens ein Ausländer, einem Beamten, ob
bei der Steuer oder Krankenkasse, der die Hitler-Uniform trägt, die
Meinung sagt. Manchmal ist der Gegenspieler auch einfach »der Mann
hinter der Kasse«, im Kino, beim Fußballspiel, kurz überall, wo einem
ohne richtigen Ausweis der Eintri verwehrt ist. Immer aber steht der
Träumer – hinter sich die »lange Schlange Menschen« – als erster vor
dem Gegenspieler, so daß es an ihm wäre, den Mund aufzumachen. Ihn
kränkte besonders, daß unter den stellvertretenden Meinungssagern auch
Frauen waren; die Karikatur seiner selbst war ja auch noch karikierter,
wenn das schwache Geschlecht sich als stärker als er, der breitschultrige
Rohrleger, erwies.
Diese Traumszene auf der Post, die der Mann mit sich auührt, könnte,
wie sie ist, als politische Karikatur gezeichnet werden: die lange Schlange
Menschen, alle ohne Mund, vorm Schalter, hinterm Schalter die Mütze
und der Uniformkragen mit dem großen Mund. Sie könnte genauso gut
auf der Bühne eines politischen Kabares landen, mit so scharfem Blick
hat der träumende Rohrleger dem neuen Alltag die Rolle, die der Mensch
in ihm spielt, abgeguckt und satirisch dargestellt. Er schneidet aber
darüber hinaus in seinen Verhüllungen, die brutale Enthüllungen
sind, prinzipielle Fragen an, zeigt im Bilde seiner stummen Schlange vor
jedem Schalter des öffentlichen Lebens, daß hier die Voraussetzungen ür
Gewissensentscheidungen gar nicht existieren. Im übrigen enthalten seine
Träume wieder eine prägnante Allegorie der Zerstörung der Pluralität im
totalitären Staat: das Verbot, Briefmarken zu kaufen, ja Briefe zu
schreiben, also mit anderen zu kommunizieren.
Ein Büroangestellter, ehemaliger Angehöriger des Reichsbanners (einer
republikanischen Schutzorganisation), 36jährig, träumte zahlreiche
Parodien auf sich selbst, die den so aufschlußreichen
Volksmundaussprüchen und Witzen jener Tage fast analog sind:
 
»Ich träume, ich setze mich feierlich an meinen Schreibtisch, weil ich
mich endlich entschlossen habe, eine Beschwerde wegen der
herrschenden Zustände einzureichen. Ich stecke einen leeren Bogen, ohne
ein Wort darauf, in ein Couvert und bin stolz, mich beschwert zu haben,
was mich zugleich tief beschämt.
Ein andermal rufe ich beim Polizeipräsidium an, um mich zu
beschweren, und sage kein Wort –«
 
Wem fiele da nicht Karl Valentins »I sag gar nix – des werd man doch
sagen derfen« ein!53 Aber wieder darüber hinaus, welch prägnantes Bild
ür das allgemeine Schweigen und den durch dauernde Kompromisse
atrophierten Willen: wenn man sich endlich und feierlich entschließt, geht
es nicht mehr.
Der Büroangestellte träumte ein andermal:
 
»Göring selbst inspiziert mein Büro und nickt mir zufrieden zu, was mich
leider hoch erfreut, obwohl ich bei mir denke, das fee Schwein.«
 
Indem er, mit Scham Görings Lob genießend, an dessen komische Figur
denkt (übrigens dasselbe Miel anwendet wie der Fabrikbesitzer, der nur
stehenbleiben konnte, indem er sich an Goebbels' Klumpfuß hielt), setzt
sich unser Held noch tiefer herunter.
Auch dieser Held, der sich seiner Taten schämt und freut, der Held mit
den zwei Seelen in der Brust, deren eine nein, die andere ja zur Umwelt
sagt, war nicht vereinzelt. Der nächste Traum schildert die komplizierten
und komplexen Geühle dieses zwischen Nein und Ja hin- und
hergerissenen Typs, den die Umstände unweigerlich erzeugten, sehr
präzis.
Ein Augenarzt, 45 Jahre alt, träumte 1934:
 
»Die SA baut Stacheldraht in die Fenster der Krankenhäuser ein. Ich habe
mir geschworen, es mir nicht gefallen zu lassen, wenn sie in meine Station
kommen mit ihrem Stacheldraht. Lasse es mir doch gefallen, stehe wie die
Karikatur eines Arztes dabei, als sie das Glas rausreißen und ein KZ mit
Stacheldraht aus einem Krankenzimmer machen – und doch werde ich
entlassen. Aber ich werde zurückgerufen, um Hitler zu behandeln, weil
ich der einzige auf der Welt bin, der das kann: schäme mich über meinen
Stolz, so daß ich zu weinen anfange.«
 
Der Arzt wachte auf, so zerschlagen, wie man vom Weinen im Schlaf
häufig ist, dachte mien in der Nacht über den Traum nach, fand den
akuten Anlaß, der wieder sehr aufschlußreich ür das Gesamtbild ist: am
Vortage war einer seiner Assistenten in der Uniform eines SA-Mannes zur
Arbeit in die Klinik gekommen, und er hae, obwohl empört, nicht
protestiert. Er schlief wieder ein und träumte:
 
»Ich bin in einem Konzentrationslager, aber es geht allen Hälingen sehr
gut, Diners werden abgehalten, es gibt eatervorstellungen. Ich denke, es
ist also doch sehr übertrieben, was man so aus Lagern hört, da sehe ich
mich in einem Spiegel: ich habe die Uniform eines Lagerarztes an,
besondere Schastiefel, die glitzern wie Brillanten. Ich lehne mich an den
Stacheldraht und fange wieder zu weinen an.«
 
Dieser Arzt braucht das Wort Karikatur selbst ür sich, und das ist er ja
auch, von einem Sti in seinem Innern scharf und kalt umrissen bei dem
Bemühen, Unvereinbares zu vereinen. Im ersten Traum sieht er die
Gefahr, die im Schweigen liegt, die Verbindung zwischen Nicht-tun und
Untat. Im zweiten Traum ist er unter der Parole: »Alles ist verlogen«, zum
Komplizen der Kräe, die er haßt, geworden: zwar widerspricht sein Bild
im Spiegel dem Bild, das er von sich haben will, aber die Schastiefel
blitzen verührerisch. Er bringt sich in beiden Träumen voll Scham in eine
Kategorie, in der er nicht sein will, und erüllt sich gleichzeitig voll Stolz
den Wunsch des Dazugehörens (von dem später eingehend die Rede sein
wird).
Zu dem »Stacheldraht«, der in beiden Träumen eine so prominente
Rolle spielt, hae der Arzt zu sagen, er habe sich im ersten Traum
krampa mit dem Worte beschäigt; erst sei er auf Krachelstaat
gekommen, dann auf Drachelstaat, aber (trotz allem Joyceschen
Auseinanderbrechen des Wortes54) nicht auf Drachensaat,55 auf das er
seiner Ansicht nach hinauswollte, um damit zu zeigen, welche
geährlichen Folgen Stacheldraht und Scherben ür Sehbehinderte haben
könnten.
Die Geschichte von der SA und den Scherben fand viele Jahre später
1938 in der Kristallnacht sta, das ist bekannt. In einem Fall fand sie sta
mit Details, die fast dem Traum des Augenarztes entnommen zu sein
scheinen: Als die SA alle Schaufenster in jüdischen Geschäen zerschlug,
zerschlug sie im Westen von Berlin auch die Scheiben im kleinen Laden
eines Blinden, den sie aus dem Be holte und im Nachthemd über die
Scherben laufen ließ. – Hier zeigt sich wieder, daß diese Träume sich im
Rahmen des Möglichen hielten, oder vielmehr des Unmöglichen, das
gerade auf dem Wege war, Realität zu werden.
6. Kapitel
Der Chor oder
»Da kann man nichts machen«
Ich sah die Mörder und ich sah die Opfer.
Und nur des Muts und nicht des Mitleids bar …56
Bertolt Brecht
 
Ja, aber das ist doch die nebensächliche Angst,
die eigentliche Angst ist die Angst vor der Ursache der
Erscheinungen, und diese Angst bleibt.57
Franz Kaa






Der Arzt, der im Traum mit dem Drachen Stacheldraht kämp, hae
nichts getan, nur zu seiner al etwas unterlassen. Eine etwa
dreißigjährige Sekretärin hae auch nichts getan, aber ihr war etwas
Faktisches und ganz Bestimmtes angetan worden: sie stammte aus einer
Mischehe, der christliche Vater war tot, sie lebte mit der sehr geliebten
jüdischen Muer zusammen. Als nach Erlaß der Rassengesetze die
Verhältnisse sich immer mehr zuspitzten, im Winter 1936/37, träumte sie
eine Serie kurzer, sehr verschiedenartiger Träume, alle mit dem Gedanken,
sich von der Muer zu distanzieren, die Muer loszuwerden. Das
Gesetzesdiktat hae sie nicht nur offiziell zu einem Mischling gemacht, es
hae ihrem Innern auch, sta Empörung gegen den Gesetzgeber,
gemischte Geühle gegen die einzige Person diktiert, die ihr wirklich
nahestand und die nie zu verlassen sie fest entschlossen war. Das entsetzte
sie, aber sie leugnete es nicht (erzählte es von sich aus ihrem Arzt, als er
sie wegen einer Bronchitis behandelte).
 
Der erste Traum des Mischlings: »Ich fahre mit Muer ins Gebirge. ›Bald
werden wir alle im Gebirge wohnen müssen‹, sagte die Muer. [Damals
lagen Deportationen noch fern.] ›Du ja‹, antworte ich, ›aber ich nicht‹ –
hasse sie und verachte mich.«
 
Der zweite Traum: »Ich sitze mit Muer im Restaurant unter einem Schild
›Schädlinge raus.‹ Ich will ihr eine Freude machen, leide aber maßlos und
hasse sie, während sie da sitzt und ihre Schokolade trinkt.« [Damals gab
es die Schilder »Juden unerwünscht« noch nicht in Restaurants, aber die
Träumerin weiß auf Grund ihrer subjektiven Lage so deutlich um die
Probleme von »objektiven Gegnern« und »Unerwünschtsein« von
Gruppen, daß sie sogar Details der Methoden ihrer Bekämpfung
vorwegnimmt.)
 
Der drie Traum: »Ich muß mit Muer flüchten. Wir rennen wie
Wahnsinnige. Sie kann nicht mehr. Ich lege sie mir über den Rücken und
renne weiter. Ich quäle mich unsagbar mit der Last. Nach langer Zeit
bemerke ich, daß ich mich mit einer Toten quäle. Ein entsetzliches Geühl
der Erleichterung beherrscht mich.«
 
Der vierte Traum: »Ich träume, ich habe ein Kind von einem Arier, das
seine Muer mir wegnehmen will, weil ich nicht rein arisch bin. ›Seit
meine Muer tot ist‹, schreie ich, ›kann mir keiner von euch mehr was
anhaben.‹«
 
Hier (wie es wahrscheinlich versucht werden wird) von verdrängtem
latentem Haß der Tochter gegen die Muer zu reden, von dem ohnehin
bestehenden Wunsch nach ihrem Tode, der sich nur aktuelle Kanäle
gesucht hat, wäre unangemessen gegenüber dem realen Zwiespalt der
Existenz im Zwangsstaat, in die die Politik die Träumerin gezwungen hat:
es wäre (in Karl Jaspers' Worten) »der existentielle Unsinn der
Traumdeutung« wie die »Tendenz zum Herabziehen des Menschen«.58 Ob
man es im politischen oder im rein menschlichen Zusammenhang sehen
will, die vier kurzen Träume des Mischlings zeigen von einer neuen Seite,
was wir von anderer Seite bereits gesehen haben: zu welchen innerlichen
Extremen die Einmischung des Öffentlichen in den privatesten Bereich
ühren kann; wie der Mensch in dunklen Bezirken seines Innern reagieren
kann, wenn es ihm von oben zu schwer gemacht wird, seinen Nächsten,
selbst Allernächsten, zu lieben, ja mit ihm zusammenzuleben.
Der Traum einer 21jährigen Studentin, die wirklich etwas getan hae,
nämlich im Jahre 1935 unter dem Druck der Rassengesetze und dem
Drängen ihrer Familie ihren jüdischen Freund, einen Anwalt, aufgegeben,
ist wie ein Protokoll des Falles: Wissen versus Gewissen. Sie hat den
Traum aus eigenem Antrieb in der Nacht notiert, um ihn in seinen Details
nicht zu vergessen, es sich nicht leicht zu machen. Hier ist er:
 
»Ein Klassenzimmer, sehr, sehr groß, in der Art eines Auditoriums. Auf
der linken Ecke der hintersten Bank ich. Vor uns, auf einem Podium,
erhöht, der Direktor der Schule, halb meines alten Schuldirektors, halb
Hitlers Züge, er heißt auch Diktierer. Es ist Rassenstunde.
Neben Diktierer, aber nicht erhöht, mit dem Gesicht zur Klasse steht
Paul (so hieß mein Freund) als Demonstrationsobjekt. Diktierer ährt mit
dem Stock auf seinem Gesicht umher wie auf einer Landkarte. Auf seine
Frage, was denn besonders minderwertig sei an den Gesichtszügen des
Demonstrationsobjekts, antwortet sta meiner ein alter unscheinbarer
Mann neben mir: ›Aber der Herr Doktor ist doch ein sehr anständiger
Mensch.‹ (Der typische wie o gehörte Trostsatz der Wohlmeinenden
unter den Leuten ür unsereinen.) Leises Jaja-Gemurmel in der Klasse.
Diktierers Miene wird sarkastisch, und er sagt (was ür eine genaue
Imitation der Paukerironie ich da träumte): ›So, so, dieser angeblich
anständige Herr Doktor hat gerade vor einiger Zeit seinem Mißbehagen
über einen etwaigen Anschluß Österreichs an mich Ausdruck gegeben.‹
Ich merke, es heißt handeln, wenn ich Paul, dessen todbleiches,
ergreifendes Gesicht ich dauernd neben dem Diktierers sehe, aber tiefer,
reen will. Ich springe auf, stürme zwischen den Bänken nach vorn, so
daß ich mien unter der Klasse stehe, und rufe: ›Ich sage sonst nichts (die
typische, wie o gehörte Einleitung ür den geringsten Widerspruch,
warum sage ich das in dem Moment?), aber das ist nicht wahr, nicht
wahr.‹
Ich rechne dabei auf noch stärkeres Jaja-Gemurmel als vorhin, aber es
bleibt eisig still zwischen den Bänken, nur stumme, ausdruckslose
Gesichter. Der Diktierer lächelt eisig-sarkastisch. Ich gehe noch einige
Schrie näher an sein Podium und rufe: ›Alle, alle haben es mir einzeln als
ihre Meinung gesagt. Paul ist ungerecht behandelt worden und ein
hochanständiger Mensch. Dies sind auch nicht alle Helden, Ihre Klasse‹,
ügte ich hinzu, gegen meinen Willen, eigentlich wollte ich nichts
Kritisches sagen.
Darauin erscheint ein Anflug von Nachdenken, von Menschlichkeit
auf dem Diktierergesicht oben. Doch das dauert nur Sekunden, dann sieht
er wieder eisig aus. Die Situation ür Paul, aber auch ür mich ist
geährlich, dessen bin ich mir – mit dem höhnischen Gesicht des
Diktierers da oben, Pauls todbleichem Gesicht unter ihm und der
stummen Klasse im Hintergrund – voll bewußt.
Da geht gerade neben diesem todbleichen ergreifenden Gesicht draußen
vor dem Fenster ein blaues Licht auf, es schwebt langsam durchs Fenster
herein, schwebt auf ihn zu, hüllt ihn ein, schwebt über den Diktierer und
seine Klasse hinweg zu mir und verhüllt auch mich. Da bekommt die
verstummte Klasse die Sprache zurück. ›Ein Wunder‹, murmelt sie, ›ein
Wunder‹, murrt sie schon fast. Diktierer sieht sehr unsicher aus.
Ein Wunder, glaube auch ich einen Moment.
Da flüstert meine Freundin Eva mir mit ihrer spitzen Stimme ins Ohr.
›Da kann man nichts machen, das dauert einen Augenblick, das Licht geht
gleich aus. Das ist doch nur die komische Tante, die uns auf diese Weise
immer zum Kaffeetrinken einlädt.‹ (In Wirklichkeit hae die
Hausangestellte hinter der Glastür das Licht angedreht und mich dadurch
geweckt.)«
 
Was liegt hier vor, in dieser schonungslosen Selbstkritik jemandes, dem
die staatliche Ordnung nicht nur seine allgemeine Lebenssphäre, sondern
sein spezielles privates Erleben faktisch zerstört und ihn zu einer
bestimmten Handlung gezwungen hae, und der das wußte? Wenn die
träumende Studentin ihren Traum in eine riesengroße Schulaula verlegt,
so ist das keine Verschleierung – Rassenstunden mit Demonstrationen am
lebenden Objekt gab es wirklich im Schulunterricht –, sie bezieht nur wie
andere Träumer die Öffentlichkeit, die ja tatsächlich dazugehört, ein,
wenn sie sich ihre eigene schmerzliche Geschichte in der Nacht erzählt.
Diese Geschichte mit ihrer Mischung zwischen Schwanken und Handeln,
Scham und inneren Reaktionen, enthält alles, was wir schon beim Nicht-
Helden als Typ gefunden haben, und manches mehr. Die Studentin,
obwohl sie etwas zu tun versucht, scheint geradezu darauf aus,
darzustellen, was sie nicht tut und was sie nicht ist; ihr Widerstand
beginnt mit »Ich sage ja sonst nichts«; ihr Nebenmann, obwohl »alt und
unscheinbar«, ist mutiger als sie, sie wählt ihn als den
Ersatzmeinungssager, den wir aus früheren Träumen kennen, wie wir das
Verhalten der Menge mit den »stummen, ausdruckslosen Gesichtern«
kennen. Sogar das Zurückweichen der Obrigkeit bei Widerstand webt die
Studentin in ihren Traum, wie den »blauen Dunst«, den sich vorzumachen
bequem ist, bis der Chorührer anhebt mit dem Urargument: Da kann man
nichts machen.
Dieselbe Studentin träumte zur gleichen Zeit einen Traum, in dem sie
über das »Ich-sage-sonst-nichts« hinaus instinktiv die Argumente des
Gegners gebraucht:
 
»Mein Freund will seinen Lehrling bien, trotz der Rassengesetze wieder
bei ihm im Büro zu arbeiten. Wir fahren hin, aufs Land, nach Caputh
glaube ich. Ich habe das in Farben geträumt – die Kiefern sind ganz grau.
Ich bleibe im Wagen sitzen – sogar Pauls kleiner DKW,59 der eigentlich
schwarz ist, erscheint schmutzig-grau –, während Paul auf das Haus, wo
der Lehrling wohnt, zugeht. Seine Muer sitzt mit zwei anderen Frau vor
der Tür. Ich erwarte, sie zuvorkommend-unterwürfig lächeln zu sehen
(wie einmal in Wirklichkeit, als wir zuällig bei einem Ausflug an dem
Häuschen vorbeikamen). Sta dessen ängt sie sofort zu keifen an, es sieht
aus, als ob sie und die anderen Frauen Paul schlagen wollen. Ich will aus
dem Wagen springen, um ihn zu schützen, um das Schlimmste zu
verhüten, aber sta dessen höre ich mich schreien, was sie, die Nazis, in
ihren Rassengesetzen als Vergünstigungen konstituiert haben: ›Er ist mit
18 in den Krieg gegangen – sein Vater ist an einer Kriegsverletzung
gestorben – alle seine Brüder waren im Krieg‹, während wir langsam
flüchten. Unendlich beschämende Szene, kaum loszuwerden.«
 
Darauf hae die Studentin, Monate hindurch, immer wieder folgenden
Traum:
 
»Mein Freund wird angegriffen, ich helfe ihm nicht, dann wird er
weggetragen auf einer Bahre, hat dasselbe ›todbleiche ergreifende,
Gesicht‹ wie in der Rassenstunde. Aber sein Körper ist ein Skele, nur wo
der Hals war, hängt noch ein blutiger Fetzen Fleisch.
Einmal sage ich tröstend zu mir selber: ›Aber das ist doch Propaganda,
das ist doch ein Plakat gegen Hitler von früher.‹« (Ein solches Anti-
Hitlerplakat, das ein Skele zeigte, hae es im Jahre 1932 gegeben.)60
 
Die Träume der Studentin bilden ein gutes Beispiel ür den
Inversionsprozeß auf dem Gebiet der Propaganda, den schon der Traum
des Arztes zeigte, der sich vorzumachen sucht, daß im
Konzentrationslager eatervorstellungen und Diners stafinden. Die
Studentin gebraucht als ersten Schri, »um das Schlimmste zu verhüten«,
die Argumente des Gegners, als letzten hält sie Greuel ür
Gegenpropaganda. Daß dieser weder an legale noch moralische Gesetze
gebundenen Propaganda fast nichts unmöglich war, wissen wir: sie
konnte Ereignisse herbeiühren, wenn sie sie brauchte; sie konnte aber
auch, wie wir hier in kleinen Ansätzen sehen, selbst in das Innere von
Menschen eingreifen, gegen die sie sich richtete, bis sich auch hier
Grenzen zwischen Propagandaopfern und Propagandisten unmerklich
verwischten, aus der Suggestion Autosuggestion wurde.
7. Kapitel
Doktrinen machen sich selbständig oder
»Die Dunkelhaarigen im Reich
der Blonden«
Es geht nicht mehr darum, ob blaue Augen, blondes
Haar und 1,70 Meter wirklich die Garantie ür
überlegene Eigenschaen bilden, sondern darum,
daß man mit diesem wie einem andern Miel Menschen
organisieren kann, bis … niemand mehr Gelegenheit hat,
sich zu besinnen, ob diese Unterscheidung sinnvoll ist
oder sinnlos … Diese anscheinend kleine, in Wahrheit
entscheidende Operation des Ernstnehmens
ideologischer Meinungen …61
Hannah Arendt
 
Denn eine nordische Seele, ein nordischer Geist
und nordische Charaktereigenschaen können nur in
einem nordischen Körper wohnen.62
Heinrich Himmler






Wenn in dem imaginären Reich der Träume nicht mehr die Praktiken des
Drien Reichs Träume erzeugen, sondern die eorien genannten totalen
Fiktionen, auf die es sich gründete; wenn nicht mehr Terror, Verbote,
Paragraphen, also immerhin etwas Faktisches den Traumanlaß bilden,
sondern phantastische Doktrinen, wird der ganze so motivierte Traum zur
Parabel auf die Schizophrenie der totalitären Wirklichkeit. Wenn die
eorie von der Überlegenheit der blonden Rasse sich nachts Opfer unter
den Dunkelhaarigen sucht oder unter denen, die ein anderes äußeres
Merkmal haben, das von dem staatlich anerkannten differiert, ist das nicht
nur, wie im Falle von geträumten Propagandaslogans, ein Beweis, was
bloße Wiederholungen bewirken können, sondern ein Gleichnis ür das
Imaginäre, Fiktive, Synthetische der totalitären Wirklichkeit. (Ein
komisch-makabres Motiv, schwarzer Humor per se, das sich die Literatur,
soweit ich sehen kann, bisher hat entgehen lassen.)
Ein 22jähriges Mädchen mit einer feinen, aber stark gekrümmten Nase,
die in ihrem Gesicht dominiert, glaubt nun offenbar, jeder halte sie ür
eine Jüdin. Nasen und Papiere, Papiere und Nasen fangen an, ihre Träume
zu bevölkern:
 
»Ich lege im Amt ür Arier-Nachweis [das es unter diesem Namen nicht
gegeben hat und mit dem sie, unter welchem Namen immer, nichts zu tun
hae] eine Bescheinigung über meine Großmuer vor, nach der ich
monatelang herumgejagt bin. Der Beamte, der aussieht wie eine
Marmorstatue und hinter einer Mauer sitzt, hebt einen Arm über die
Mauer, nimmt den Schein, reißt ihn in Fetzen, verbrennt die Fetzen in
einem in die Mauer eingelassenen Ofen: ›Bist du jetzt immer noch rein
arisch?‹«
 
Hier ist der Eingang zum Gesetz nicht bewacht von dem »seiner
Naturanlage nach freundlichen« Kaaschen Türhüter,63 sondern von
einem einer Marmorstatue gleichen Beamten hinter einer Mauer mit
eingelassenem Ofen, ür den jeder ohne die richtige Großmuer »Du« ist.
In der Folgezeit, aber vor den Rassengesetzen, die sie wie gesagt gar
nicht zu ürchten hae, bearbeitete dieses Mädchen ihr Nasen- und
Papierthema in langen, epischen Träumen, staete es mit vielseitigen und
kunstvollen Details aus, auch mit realistischen. Nur der Ausgangspunkt
ihrer Traumerzählung war irreal, wie bei vielen modernen Erzählungen.
Ein anderer Traum von Papieren:
 
»Friedlicher Familienausflug. Muer und ich tragen ein Kuchenpaket und
die Mappe mit unseren Sippepapieren. Plötzlich ein Schrei: sie kommen.
Jeder in dem Gartenlokal an der Havel weiß, wer ›sie‹ sind und was unser
Verbrechen ist. Flucht, Flucht, Flucht. Ich suche ein hohes Versteck. Auf
Bäume hinau? Auf einen Schrank im Innern des Lokals? Plötzlich liege
ich tief unter einem Leichenhaufen, von dem ich nicht weiß, wie er
dahingekommen ist – endlich habe ich ein gutes Versteck. Reine Seligkeit
unterm Leichenhaufen, meine Mappe mit den Papieren unterm Arm.«
 
Sie sagte dazu, sie häe kurz vorher, tief beeindruckt, eine Beschreibung
von den Leichenhaufen beim Mahdi-Aufstand vor Khartum gelesen.
Trotzdem drängt sich der Gedanke auf, daß, zehn Jahre später bei den
Massenvernichtungen der »Endlösung«, sich Menschen ohne die richtigen
Papiere wirklich unter Leichenhaufen verstecken sollten.
Ein Traum von großen Nasen, in der Nacht von der Träumerin notiert:
 
»Auf der Ostsee, auf einem Schiff, das mit der Flut schwimmt, aber wohin
die Reise geht, weiß keiner. [Man beachte, sie nimmt hier, kaaesk in der
Form, zwei Redensarten wörtlich.] Wo ich gehe, wo ich stehe, trage ich
eine Riesenmappe mit meinen Papieren mit mir herum; ich muß ja
beweisen, daß ich trotz meiner Nase nicht jüdisch bin. Plötzlich sind die
Papiere weg. Das Wichtigste, schreie ich, das Allerwichtigste, was ich
habe. Beim Schreien komme ich darauf: weggenommen hat man sie mir,
die Schiffsleitung hat sie methodisch an sich gebracht. Ich beginne zu
suchen, aber heimlich, unauällig.
Jemand wispert mir zu: ›Das hat doch keinen Zweck, das kann man
nicht machen.‹ [Wieder das in vielen Träumen wiederkehrende »Hat
keinen Zweck … man kann nicht«.] Plötzlich sehe ich meinen Hund, aber
nicht lebendig, sondern nur als Umriß, gespenstisch. Also auch ihn, das
einzige Überbleibsel von früher, wo ich ruhig war und Freude am Leben
hae [wieder die wegdiktierte Lebensfreude], hat man mir genommen.
Große Tränenszene: vierzehn Jahre hae ich ihn, vierzehn Jahre habe ich
ihn gehegt und gepflegt [eine Analogie zu Hitlerreden: vierzehn Jahre
Schmach]. Wieder beschwichtigt mich jemand wispernd, ich solle den
Mund halten: nur nicht sich rausstellen. Hier wachte ich vor Schreck auf,
schlief wieder ein und träumte weiter: Die Atmosphäre auf dem Schiff
wird immer unheimlicher, man traut sich nirgends zu sitzen, fragt sich bei
jedem Schri: Sind sie gegen mich, sehen sie mich scharf an?
Ich bin allein mit einem schönen Offizier, der blond ist, er gehört also
der richtigen Menschensorte an. Er kommt verlegen auf mich zu. Ich frage
ihn wegen des Verschwindens der Papiere, er wird noch verlegener: es
stellt sich heraus, ich soll erschossen werden. Bie ihn, mich laufen zu
lassen. Er: Ausgeschlossen. Fange an, verzweifelt zu flirten, zu küssen. Er:
Schade, so rote Lippen. Plötzlich weiß ich, daß ich auf einem dänischen
Schiff bin. Wir beschließen, ich soll an die deutsche Küste schwimmen, die
hinter uns liegt. Ich will also zurück, trotz allem.
Springe ins Wasser, verberge mich in einem hölzernen Schuppen, wie
sie überall unter Wasser stehen, sehe vielerlei Wandergruppen von
Hitlerjugend vorbeiziehen, wie gern möchte ich mitwandern.
An Land. Erkenne mit tiefem Glück deutsche Zolluniformen. Gereet.
Aber da sehe ich, wie meine Sippe ausgebootet wird. Meine Muer,
Großmuer auch, Tante auch. Aber Onkel, frage ich, wo ist Onkel. ›Den
haben sie erschossen, sie haben doch alle Nasenverdächtigen erschossen,
nur die Unverdächtigen setzen sie in Booten über.‹ Ich weine und schreie:
›Onkel.‹ Gleichzeitig sehe ich den Vater eines Jugendfreundes einen
Abschiedsbrief seines Sohnes lesen – der Sohn hae eine große Nase.
Inzwischen werden immer mehr Unverdächtige an Land gebracht, auch
ihre Habseligkeiten. Auch meine Wäsche, meine Kleider. Nicht meine
Papiere, nicht mein Hund: richtig, denke ich, ich gehöre ja zu den
Erschossenen. Mir ällt schon im Traum ein, daß ich mir den Traum
merken muß.«
 
»Vom vergeblichen Versuch, mit dem Strom zu schwimmen« könnte man
diesen Traum betiteln, der inmien der üblichen Angst- und Fluchtmotive
im zeitgemäßen Gewande eine Fülle von offenen und verhüllten
Wünschen enthält: das Hin- und Hergerissensein zwischen den Gruppen,
das Dazu-gehören-wollen, das Sich-mit-der-Bewegung-bewegen-wollen –
alles Motive, die wir später bei denen wiederfinden werden, die sich nicht
nur einbildeten, zu den »Ausgebooteten« und »Erschossenen« zu
gehören.
Ich war geneigt, dieses Mädchen mit dem Nasenwahn als greiares
Produkt des Rassismus ür einen Einzelfall – auch dieser wäre
interessant – zu halten, als ich eine ganze Reihe Träume mit dem gleichen
Motiv erhielt. Die Träumerin war ganz anderer Art: 19jährig, sehr hübsch,
aber ihre Haare, Augen, besonders ihre Hautfarbe bildeten einen krassen
Gegensatz zum blonden Typ. Das Mädchen mit den staatlich nicht
approbierten Haaren träumte nicht so schaurig wie das Mädchen mit der
staatlich nicht anerkannten Nase, sondern kurze Skizzen, die man unter
dem Titel »Aus dem Leben einer Dunkelhaarigen im Reich der Blonden«
zusammenfassen könnte und die alle die »Unterlegenheit der dunklen
Rasse« zum Inhalt haben. Übrigens stammen die mir zur Verügung
stehenden Träume in dieser Kategorie alle von Frauen, hauptsächlich
jungen Frauen, die vielleicht gegen Einwände, die ihr Äußeres betrafen,
empfindlicher waren als Männer.
 
Erstes Traumfragment der Dunkelhaarigen:
»Ich betrete einen Laden. Ich sehe die hellblonde, blauäugige
Verkäuferin ängstlich an und bringe kein Wort heraus. Dann bemerke ich
aufatmend, daß sie wenigstens schwarze Augenbrauen hat, und wage zu
sagen: ›Ich möchte ein Paar Strümpfe.‹«
 
Zweites Traumfragment:
»In einer Gesellscha von lauter Blond-Blauäugigen öffnet ein
zweijähriges Kind, das noch gar nicht sprechen kann, den Mund und sagt
zu mir: ›Aber ihr gehört doch gar nicht dazu.‹«
 
Man sieht, die Ideologie des Rassismus, von Terror und Propaganda
hochgetrieben, treibt wirklich wunderbare Blasen im Gehirn unserer
jungen Träumerin, die eine neue Alltagswelt der Blonden auaut und sie
bevölkert mit der durch schwarze Augenbrauen gemilderten blonden
Bestie, mit der blonden Baby-Bestie, als ob sie wüßte, daß man
wahnsinnig komische Ideen, die mörderisch sind, nur mit Überkomik und
Überwahnsinn parieren kann (wie die schwarzen Humoristen heute etwa
den wahnsinnig komischen Effekt der Atombombe zeigen).
In ihrem drien Traum verarbeitet die träumende Dunkelhaarige nicht
nur die Überlegenheit der Blonden, sondern auch die Überlegenheit der
Gruppe über die Person:
 
»Ich bin bei einer Sportvorührung. Unter den Zuschauern bilden sich
zwei Parteien, die eine blaublond, die andere besteht aus Dunklen, das
sind Ausländer. [Wieder taucht der Ausländer als einzige Opposition auf.]
Die Gruppen kommen ins Schimpfen, Puffen, Schlagen. Die Dunklen
marschieren geschlossen ab. Ich marschiere etwas getrennt von ihnen,
aber doch im Marschschri [das Mitmarschieren ist gescha] und denke
dabei: Finde ich doch die Leute so scheußlich, und wenn's drauf ankommt,
stelle ich mich unter ihren Schutz wie unter einen Regenschirm. Ich bin
eben zwischen zwei Stühlen, gehöre nirgends hin.«
 
Sie will aber wo hingehören – nun träumt sie meist von Gruppen. Ihr
vierter Traum:
 
»Auf einem Tisch liegen zwei Pässe, die ich mir glühend wünsche, um
dem Ganzen zu entkommen. Ich nehme sie, lege sie aber nach innerem
Kampf wieder hin, ich sage mir: Ich darf nichts tun, was auf meine Gruppe
zurückfallen kann, da alle Dunklen bestra werden, wenn einer etwas
Verbotenes tut.« (Solche Gruppenbestrafungen gehörten, wie sich
herausgestellt hat, zu den in Konzentrationslagern häufig geübten
Methoden.)
 
Und im letzten, ünen Traum der Dunkelhaarigen mischt sich der
Wunsch, das Schicksal, brüne zu sein, nicht allein, sondern kollektiv zu
tragen, im Ausdruck grotesk mit dem Ausdrucksmiel der kollektiven
Umwelt, dem Sprechchor:
 
»Ich träume, daß ich nicht mehr allein zu sprechen vermag, nur noch im
Chor mit meiner Gruppe.«
 
»Sieht mein Sehnen nur / blond und blaue Farben« – so hae Liliencron
dreißig Jahre früher gesungen, weil er ein blondes Mädchen liebte.64 Nun
sang es offenbar im Innern von Abertausenden so, weil es nur einen
rassischen Typ gab. Dem Leser mag, wenn wir weitergehen, vor lauter
Blond und Blau schwarz vor den Augen werden, aber in diesem Fall
können ihm monotone Wiederholungen nicht erspart bleiben. Die Fülle
der stereotypen Konflikte der »Dunklen« mit den Blonden zeigt, wie die –
nicht gesetzlich verankerte und terroristisch erzwungene, sondern nur
unbedenklich propagierte – Mythologisierung eines Typs dazu ührt, daß
der abweichende Typ – ein Gegner von Natur also – sich anpaßt und
tatsächlich »niederrassisch« ühlt. Die Tyrannei der herrschenden
Weltanschauung produziert Selbsyrannei bei den Opfern, wie wir an
anderer Stelle (bei den denunzierenden Öfen und Kissen) gesehen haben.
Ein anderes Mädchen, das von Kind auf zu hören gewöhnt war, es habe
rabenschwarze Haare, träumte erstens:
 
»Sonntags im Tiergarten. Blonde Spaziergänger auf allen Wegen. Ich höre
jemand zu seinem Begleiter sagen: ›Emma kommt mit ihren Mietern nicht
aus, sie stehlen wie die –‹, hier ühle ich mit tiefster Scham, er wird sagen,
wie die Rabenschwarzen, da sagt er es schon.«
 
Zweitens: »Fritz, schwarze Haare, schwarze Augen, haut sich mit einem
Blonden. Obwohl ich weiß, es ist Blödsinn, er muß verlieren, obwohl ich
weiß, daß er mir leid tut, sehe ich mit Freude und Genuß zu. Er hat es
wenigstens versucht, die Schwarzen zu verteidigen. Zum Schluß ist er tot.
Dies träume ich o mit kleinen Veränderungen.«
 
Driens: »Ein blondes Mädchen, halbes Kind, spricht mich auf der Straße
an, ob ich mit ihr abends ausgehen wolle. Ich blicke den neen Backfisch
wortlos und durchbohrend an: Ist sie vielleicht geärbt? Hat sie denn kein
rassisches Empfinden? Was will sie wirklich, welchen Zweck verfolgt
sie, welchen Hintergedanken hat sie dabei, wenn sie eine Schwarze
anredet?
Die Blonde antwortet, ohne daß ich frage: ›Man wird doch jemanden
einladen dürfen, nur weil er einem geällt.‹«
 
Dieser Traum enthält – außer dem denkwürdigen inneren Monolog – das
überraschende Moment, daß die junge Träumerin »weiß«, daß der
unangepaßte eigene Geschmack Kriterium des sich nicht anpassenden
Individuums ist; sie läßt sich von einer Jüngeren darüber belehren, daß es
ein guter Grund ist, mit jemandem umzugehen, »nur weil er einem
geällt«. Auf die Frage, was sie sich zu dem Traum denke, gab sie die
ebenso überraschende Antwort: »Mein Selbstbewußtsein ist sehr
gesunken.« Sie »wußte« also sogar, daß es hier im Grunde um Fragen des
»Selbst« ging.
Ein anderes sehr brünees Mädchen bildet in einem Schultraum aus
allen Dunkelhaarigen eine »Gruppe der Bescholtenen«, wohl in der
persönlichen Reminiszenz, daß der Grundstein zu ihrem Wahn in der
Schule gelegt worden war, als man ihr beigebracht hae, sie gehöre der
dinarischen Rasse an, und sie die erstklassigen Blonden tief beneidet hae.
Ihr Traum:
 
»Stufenweise wird uns Dinarischen von den Blonden alles verboten. Erst
dürfen wir nicht mehr mit ihnen sitzen. Dann nicht mehr in den Pausen
mit ihnen rausgehen. Das Schlimmste, daß es nicht von oben, von den
Lehrern ausgeht, sondern von den blonden Mitschülern, manche tragen
Abzeichen ›nicht-dinarisch‹. Schließlich, als wir im Geühl des
Verlassenseins in der Pause zusammenhocken und kochen, Reis und
Kompo auf einem Spirituskocher, denn essen gehen darf man auch nicht,
verbreiten die Reinemachefrauen, die sich besser benehmen als unsere
Mitschüler, ein Gerücht: man erwartet das Schlimmste, ohne es direkt
beim Namen zu nennen, offenbar, daß die Blonden uns abmurksen wollen.
Nach dem Gerücht erscheint eine offizielle Liste mit den Namen aller
Angehörigen der ›Gruppe der Bescholtenen‹ aus allen Klassen. Auch der
Anlaß zu der Aktion wird in schrilicher Form mitgeteilt: wir haben
gewagt, einen Brief an die anderen, unbescholtenen Blonden zu richten
wegen eines Buches, das wir ihnen geliehen haen und zurückhaben
wollten. Aber nicht darin besteht unser eigentliches Verbrechen, sondern
darin, daß wir, die Dunklen, an die Blonden geschrieben haben.
Anschließend wilde Flucht, ich werde mit Steinen beworfen.«
 
Dieser Traum »Von der Gruppe der Bescholtenen« versieht das ema mit
neuen Einzelheiten, die Einsichten sind: daß natürliche Gegensätze zu
verschärfen, künstliche zu schaffen, Schädlings- und Elitegruppen zu
bilden und dann eine Gruppe gegen die andere auszuspielen
Grundprinzipien der totalitären Diktatur sind – das ahnt ein junges
Mädchen im Traum, nur weil sie eine andere Haarfarbe und eine andere
Hautfarbe als die zur biologisch wertvollsten ernannte Volksgruppe hat.
Ähnliche Vorstellungen von Gruppen- und Sippenschuld spukten auch in
Köpfen, die andere, nicht so phantastische Gründe daür haen, sich als
Zugehörige zu einer Kategorie, »Exponenten« einer Richtung zu ühlen.
Ein Schulmädchen, dessen Vater ehemaliger Kommunist war, hae
einen Standardtraum:
 
»Ich kriege jede Arbeit, jedes Zeugnis zurück mit der Note: ›Sehr gut, aber
ungenügend, weil staatsfeindlich.‹«
 
Dieser alte Schul- und Examenstraum – hier wirklich von einer Schülerin
aus ihrer Umgebung heraus geträumt – scheint sich in vielen
Abwandlungen bei Erwachsenen gefunden zu haben; mir wurde er
wiederholt berichtet. Etwa: »Ich lasse Sie durchfallen, weil Sie in der
Kirche sind … weil Sie weltanschaulich untragbar sind.« Oder am
schwarzen Bre der Universität steht angeschlagen – dies ist wieder
kabarereif: »Soundso durchgefallen, weil er ein Volksfeind ist.« – Hier
mischten sich erneut die Schlagworte und Plakate, die Anschläge in den
Betrieben, in die Träume.
8. Kapitel
Handelnde Personen oder
»Man muß nur wollen«
Ob die seelische Verarbeitung des Lagers gelang …
hing fast ausschließlich von der Stärke des Charakters
oder vom Vorhandensein oder Fehlen religiöser,
politischer, humanitärer Zielvorstellungen ab.65
Eugen Kogon
 
Und diese treibt ein leeres Wort des Herrschers,
nicht ihr Gemüt! Schützt Eure Güter!66
Goethe






Die vage Formulierung der »Gruppe der Bescholtenen« präzisierte ein
Student im Traum als »Gruppe der Verdächtigen«. Seine Traumgruppe
war nicht ganz imaginär, sein Bruder war verhaet worden, und er hae
dadurch selbst mancherlei Schwierigkeiten. Er träumte:
 
»Ball in allen Etagen eines großen Gebäudes, aber in einem kleinen
Zimmer unterm Dach sitzen wir, die ›Gruppe der Verdächtigen‹ –
entartete Künstler, ehemalige Sozialisten, Verwandte von KZlern, nicht
festlich gekleidet, und mokieren uns über die unten in Frack und Uniform
Ankommenden. Ich schleiche mich heimlich nach unten und schnappe
auf: ›Es liegt Hochspannung im ganzen Haus, dadurch ist auf der Treppe,
die nach oben ührt, Feuer ausgebrochen.‹ Ich schreie in das Gewühl:
›Man muß die Verdächtigen reen!‹ Achselzucken:
›Warum sollen die Verdächtigen nicht verbrennen?‹«
 
Daß diese »Gruppe der Verdächtigen« eines der Grundprinzipien
totalitärer Herrscha in leicht verständlicher Form darstellt, das
allgemeine Verdächtigsein nämlich, ganz gleich weswegen, das Künstler
und Verwandte von Verhaeten in eine Kategorie zusammenfaßt, sah der
Student nicht. Aber er kommentierte: »Wir Verdächtigen verstecken uns
nicht im Keller, wir sitzen oben, über der herrschenden Klasse in Uniform
und Frack.«
 
Dieser Student empfand die Verhaung des Bruders nicht nur als
äußerlichen, sondern auch als innerlichen Druck – er träumte zum
Beispiel: »Es ist verboten, nervös auszusehen, und doch sehe ich nervös
aus.« Dennoch gab ihm der Gedanke an den Bruder Stolz und eine
gewisse innere Festigkeit. Er beträgt sich ja auch in seinem Traum nicht
absurd, sondern handelt, unternimmt einen Reungsversuch.
Denselben Stolz zeigt ein anderer Mann, über dessen Alter und soziale
Stellung ich nichts weiß, wenn er träumt:
 
»Ich stehe plötzlich in Rotfrontuniform in einer SA-Kolonne. Eigentlich
mußt du furchtbare Angst haben, sage ich mir, habe aber keine, selbst als
sie mir mein Zeug herunterreißen und mich zu schlagen anfangen.«
 
Der Traum einer bürgerlichen Hausfrau lautet ganz ähnlich:
 
»Ich bemühe mich nachts unauörlich, das Hakenkreuz aus der
Nazifahne zu trennen, und bin stolz und glücklich dabei, aber tags darauf
ist es immer wieder fest angenäht.«
 
Der Traum ging auf eine Szene zurück, die sich am ersten Tag nach der
Machtübernahme im Berliner Polizeipräsidium ereignet hae: jedesmal,
wenn eine Hakenkreuzfahne durch die Korridore getragen wurde, johlte
eine Gruppe von Arbeiterfrauen, die warteten, um etwas über ihre
verhaeten Männer zu erfahren: »Det trennen wir bald raus, denn isse
wieder rot.« – Der Träumerin war das nur berichtet worden von
jemandem, der dabei war. Aber diese Kühnheit und Festigkeit der Frauen
in der Höhle des Löwen hae ihr so tiefen Eindruck gemacht, daß sie
nachts zur modernen Penelope wurde, trennend ür einen
überpersönlichen, ür einen politischen Zweck.
Eine ältere Frau, Schneiderin, die Kontakt zu den Bibelforschern hae
und davon so beeinflußt war, daß sie beim Abstecken unauörlich und
unerschrocken von der Verweigerung der Eidesleistung und der
Ablehnung der Organisation redete, zeigte diese Festigkeit auch im
Traum, der in ihren Worten lautet:
 
»Ich falle an der Ecke vom Kauaus des Westens [eine der belebtesten
Stellen von Berlin] immerzu ohnmächtig hin. Keiner der Menschen, die
vorübergehen, hebt mich auf, keiner sieht sich auch nur nach mir um …
Woher wissen die Leute, überlege ich krampa in meiner Ohnmacht,
daß sie mich liegenlassen müssen, daß sie sich um einen am Boden
Liegenden nicht kümmern dürfen, weil ich gläubig bin? Einen Menschen
lassen sie liegen; einen Brief, den ich in der Hand trug, haben sie
aufgehoben, sehe ich, als ich mal wieder auf die Beine komme, ohne daß
sich irgendwer um mein Hin- und Herschwanken kümmert. Ich bin ganz
erlöst, als ich bemerke, daß der Mensch mir zunächst, eine Zeitungsfrau,
gelähmt in einem Korbwagen sitzt, mir also nicht beispringen konnte.«
 
Der wegen seines Glaubens Verdächtige, den man liegenzulassen
gezwungen ist, während man mit Gegenständen säuberlich Ordnung hält;
das Wissen, daß diese Art Ordnungsliebe verdächtig ist; die Entlastung des
Nächsten, der entschuldigt wird, weil er genauso gelähmt ist wie der
ohnmächtig am Boden Liegende – die Reinheit und Klarheit dieser Bilder,
die aus keinem scharfen Verstand kamen, aber aus einem Gemüt, das mit
sich selbst nicht uneins war, ist überzeugend.
Je größer die moralische und politische Widerstandskra des einzelnen
war, desto weniger absurd, desto positiver wurden seine Träume. Mir
stehen einige Träume von Menschen zur Verügung, die aktiven
Widerstand leisteten; sie wurden auch im Traum zu handelnden Personen.
Ihre Träume stehen im direkten Gegensatz zu den Träumen, in denen der
Held seine Fähigkeit zu handeln sogar im Schlaf verloren hae.
Die Frau eines Mannes, dessen Untergrundarbeit entdeckt worden, der
aber über die Grenze entkommen war, träumte 1934:
 
»Er kommt zurück, als Soldat verkleidet – ich träume natürlich immer
wieder, daß er zurück und in Gefahr ist. ›Du wirst daran scheitern‹, sage
ich ihm, ›daß du nicht Bescheid weißt.‹ Ich renne zu einer Kaserne, um
vielleicht gedruckte Dienstvorschrien ür ihn zu stehlen, ich überlege, ob
ich ihm Unteroffiziersstreifen an den Kragen nähen kann, damit die
Gemeinen ihn zuerst grüßen müssen und er nicht wegen falschen
Grüßens angehalten wird, dann wird man ihn nach seinen Personalien
fragen, und die falschen Papiere werden erkannt werden. Er verlacht
meine Vorhaltungen, macht aber schon den ersten Gruß falsch. Ich bin
dabei, wie er völlig falsch die Hand an die schirmlose Mütze legt; doch der
Gegrüßte bleibt nur stehen und sieht sich verwundert um.
Später höre ich dann, daß das Unvermeidliche geschehen ist, daß er
hochgegangen ist. Ich frage mich durch bis zu dem Ort, wo er sein soll.
Ein großer Kellerraum, schon ganz leer. Alle sind schon fortgescha.
Aber eine Gruppe von Leuten, die jemanden suchen wie ich [welch schöne
neue Gruppe der »Leute, die jemanden suchen«], wohnt in der Nähe des
Kellers im Freien, auf Reihen zweisitziger Pulte, und sie sprechen von
nichts anderem, als wie furchtbar es sein soll, und als ich einmal sage, ›so
schlimm sieht es von außen gar nicht aus‹, ühren sie mich zu einem
Türchen, eigentlich einem in die Wand eingelassenen Verschluß, rund wie
ein Faßdeckel, darauf steht: ›Raum 7,7 ccm, Temperatur 75 Grad.‹ Ich trete
den Deckel mit dem Fuß ein.
Ein andermal träume ich, daß man mich zwingt, alle bestialischen
Strafen, die es gibt, aufzuzählen. Ich erfand sie im Traum. [Damals waren
Einzelheiten der Bestialitäten noch ziemlich unbekannt.] Dann räche ich
mich mit dem Schrei: ›Alle Gegner müssen sterben.‹«
 
Die Frau des Widerstandskämpfers rächt sich, sie tri Türen ein, sie
stiehlt in Kasernen – kurz, sie wehrt sich, ist weder Nicht-Held noch
Nicht-Person. Furcht ist nicht mehr das Prinzip des Nicht-Handelns.
Ein sehr langer, unmielbar in der Nacht notierter Traum – nach
Möglichkeit unkenntlich gemacht – in vollem Bewußtsein dessen, er
könne aufschlußreich sein, stammt von einer Frau gegen dreißig, die mit
einer kleinen Gruppe eine illegale Zeitung herstellen und verbreiten half.
Ihr Traum ist der längste der ganzen Sammlung, vollgepackt von
Handlung. Berechtigte, wohlverdiente Angst zeitigt Früchte, auf jeden
Schlag folgt ein Gegenschlag. Sie träumte im Jahre 1934:
»Ich finde in meinem Korridor, durch den Türschlitz gesteckt, ünf
Häufchen à zehn Stück kleiner Handzeel, nur ünf Worte drauf. Aber in
diesen ünf Worten, an die ich mich nicht erinnere, wird eine ganze
Geschichte sehr geschickt erzählt: Jemand hat etwas verraten, zwei Leute
sind schon an den Folgen gestorben, weitere werden sterben müssen.
Erst bin ich ganz ruhig, halte das Ganze ür eine Reklame, die in jedes
Haus gesteckt wird. Dann überlege ich: Das Zeelchen ist nur drei bis vier
Zentimeter groß und nicht gedruckt. Nein, es ist auch nicht abgezogen
wie unsere Zeitung. [Sie schrieb die Wachsplaen ür diese Zeitung;
einmal kam während dieser Arbeit die Gestapo zuällig ins Haus; dieser
enorme Schreck war der Traumanlaß.] Die Zeelchen sind mit einer
Kinder-Postmaschine hergestellt, also nur ür ganz wenige bestimmt,
wahrscheinlich soll eine kleine Gruppe dadurch gewarnt werden. Plötzlich
sind es auch nicht mehr ünf Häufchen, sondern nur ein einziges.
Blitzartig erkenne ich: Du kannst dich nicht mehr in Sicherheit wiegen, du
bist gemeint.
Mein Traum hae verschiedene Akte, wie ein Stück. Nachdem ich trotz
meines inneren Sträubens anerkannt hae, daß es um mich ging, fing Akt
zwei mit meinen Reungsversuchen an. Ich ging ganz logisch vor. Erst
mal wollte ich an der Tür die Kee vormachen, das ging nicht, die
Schrauben waren alle losgeschraubt. Da sah ich ein, daß es höchste Zeit
zum Fliehen war. Ich spähte aus dem Fenster, unten patrouillierten
Gestalten.
Also muß ich über den Balkon rauskleern, wo ich zur Tarnung unsere
Geranien braun angestrichen habe, das sieht aber nur wie Herbst aus,
nicht wie Nazi, denke ich beim Rauskleern. Mein Vater kommt von
hinten, ru mir nach: ›Du darfst das nicht, das ist leichtsinnig.‹ Kleere,
ohne ihn auch nur einer Antwort wertzuhalten; leichtsinnig, was weiß er.
(Er wußte natürlich nichts von meiner Untergrundtätigkeit.) Ich kleere
mühelos von Balkon zu Balkon und reiße, trotz der Eile, ein paar
Hakenkreuzfahnen um, die zusammengerollt auf den Balkons stehen.
Ich lande in einem Café, das unten vor dem Haus ist, mien zwischen
Tischen. Ich laufe in die inneren Räume, riesige Räume, bedeckt mit
Hitlerbildern, von denen ich beim Laufen eines von der Wand reiße. Was
nun? Bald werden die Patrouillen da sein.
Hier begann Teil drei meines Traums. Ich sehe zwei Männer im
Gespräch die Köpfe zusammenneigen. Mein Gehirn arbeitet schnell und
exakt. Die tuschelnden Männer werden sich etwas Wichtiges zu sagen
haben. Auf sie zu, schnappe ich auf, wie der eine sagt: ›Man muß Wechsel
protestieren.‹ (Wechsel sagt er aus Vorsicht.) Der andere flüstert: ›Man
kann nicht.‹ Ich dränge mich zwischen sie, lege meine beiden Hände
rechts und links auf ihre Schultern und rufe laut: ›Wir sind alte
Parteigegner, wir müssen protestieren.‹ Ich verfolge zwei Zwecke damit:
erstens, meine Spuren zu verwischen, daß ich der Verfolgte bin, den die
Patrouillen suchen; zweitens, rechne ich, müssen die beiden mitlaufen,
wenn ich das rufen und rennen werde. Mitlaufen ür unsere Sache.
Teil vier. Sie laufen, halb provoziert, halb kompromiiert, auch wirklich
mit. Ich bin nicht mehr allein. Durch die weiten Räume (ähnlich den Zoo-
Festsälen), mit Hitlerbildern und wieder Hitlerbildern, laufen wir und
schreiten taktmäßig, mit aller Energie, die ein Mensch haben kann, ohne
das verabredet zu haben: ›Wir sind alte Parteigegner, wir müssen
protestieren.‹ – Später nur: ›Wir müssen protestieren.‹
Leute sehen auf, erst wenige, dann mehr, viele beiällige Blicke.
Mitlaufen tut keiner. Durch Korridore, wieder Säle mit Hitlerbildern,
Hitlerbildern, laufen wir und rufen, rennen wir und schreien: ›Wir müssen
protestieren.‹ Über alle Maßen konzentriert, mit ganzer Kra, denn wir
wissen, einmal unterwegs, müssen wir mehr Mitläufer bekommen, sonst
ist das Spiel aus. So brüllen wir und laufen; rennen im Takt und schreien:
›Wir müssen protestieren.‹ – Dutzende Male, wohl hundertmal.
Dann wache ich auf, total erschöp, muß noch einige Male im Takt
wiederholen: ›Wir müssen protestieren.‹ Mien am Tag muß ich es noch
manchmal wiederholen.«
 
Ein andermal träumt diese Frau, deren Träume trotz ihrer verzweifelten
Situation freudig wirken:
 
»Wir schreiben Wachsplaen. Wir sind entdeckt. Wir müssen fort. Ich
will Geld zu mir stecken, bin aber ohne einen Pfennig. Ich renne los, wie
ich bin, einer hinter mir her, er sieht aus wie ein Hundeänger. Ich halte,
wohl um mich zu beruhigen, alle meine Verfolger ür Hundeänger.
Straßen auf und ab, endlich komme ich an einen kleinen Hafen, ein
Boot nimmt mich auf. Ruhe, rudern, wundervoll. Die Kameraden von den
Wachsplaen sind auch im Boot. Einer sagt: ›Entweder wir halten uns im
Hafen, oder wir müssen übers Meer nach China, und dann kommen wir
als Chinesen getarnt zurück.‹
Alle, außer dem Sprecher sind noch drei andere im Boot, sind ür das
Wagnis. Wir rudern alle. Plötzlich stoppt uns ein anderes Ruderboot.
Wieder die Leute mit der Mütze, die Hundeänger, sie ziehen uns in ihr
Boot. Der Sprecher von vorhin flüstert mir zu: ›Man muß sich Waffen
verschaffen.‹ Streckt die Hand aus und nimmt zwei Messer, eine Gabel
von einem Teller, der in unserem Boot steht, ein Küchenmesser, schartig,
Stücke der Klinge fehlen, und ein silbernes. Ich bekomme bei der
Waffenverteilung das silberne. Er stößt sein Küchenmesser dem einen
Hundeänger in den Rücken. Ich meines nach, schrecklich, durch ein
Sporthemd hindurch. Mein Kamerad sagt: ›Entschuldige.‹ Ich sage: ›Ob
ich zusehe oder mithelfe, das ist egal.‹ Der Mann sackt ab.
Der nächste, diesmal helfe ich wie selbstverständlich. So erledigen wir
alle, einen nach dem andern. Schließlich ist nur noch einer übrig, der am
Steuer. Und der sagt: ›Jetzt, wo alle weg sind, kann ich es sagen, ich war
nur gezwungen dabei. Ich will mit nach drüben übers Wasser, nehmt mich
mit nach China.‹ Er sieht so ehrlich aus, so ängstlich, er, der Bemützte,
daß wir ihm glauben.«
 
Der am Steuer, der auch nur gezwungen dabei war, ist uns Heutigen
wohlbekannt. Sein in diesem Zusammenhang überraschendes Auauchen
bildet einen Beweis, wie klar die Träumerin selbst diesen Aspekt der
Situation überblickte.
Ein drier Traum derselben Frau, wieder bis zum Rande geüllt von
Handeln, ganz von realistischem Nicht-Aufgeben, von kaum veränderten
Schaen, die ihr Tag wir:
 
»Ich bin zu Fuß über die Riesengebirgsgrenze nach der Tschechoslowakei
gegangen, aber nur ür eine halbe Stunde, und weiß plötzlich nicht mehr,
welchen Weg ich gegangen bin, wie ich hinkam, ich weiß nur, daß
Pappeln dastanden, die wie Galgen aussahen.
Plötzlich in Prag, zwei Kameraden sind auch da, Hilde und Walter. Sie
wissen den Weg zurück auch nicht. ›Vor zehn Tagen, mit einem Haufen
Material im Rucksack, bin ich über Krummhübel-Geiergucke gegangen‹,
sage ich leicht prahlend, ›und vor drei Wochen über die Koppe.‹ Jedenfalls
kennen wir alle den Weg nicht und sind ihn doch eben gegangen.
Ein bemützter Mann erscheint und nimmt die beiden mit. ›Sie rufe ich
später‹, sagt er zu mir. Ich beginne, meine Tasche aufzuräumen und mir
zurechtzulegen, was ich sagen werde.
Ich werde hineingerufen, vor mir ist eine Marktfrau dran, eine kokee
Stenotypistin ist auch dabei. Die Marktfrau hat irgend etwas geredet, sie
darf aber gehen, ohne daß sie aufgeschrieben wird. Ich lege los. ›Das
Mädel kenne ich von Kind auf, bin mit ihr zur Schule gegangen …‹ Der
Bemützte grinst … ›Das hat alles keinen Zweck, ein SS-Mann, hinter dem
Balkon versteckt (der Geranienbalkon in meiner Wohnung), hat alles
gehört.‹ Ich, nach überwundenem Schreck, antworte prompt: ›Dann
wissen Sie ja über mich Bescheid, dann kann ich wohl gehen.‹ Und ich
kann gehen.
Ich wache zufrieden auf, schlafe wieder ein und bin wieder in Prag:
In einem Varieté ällt mir ein, wie komme ich wieder zurück? Ich weiß
ja den Weg zu Fuß nicht, muß also mit dem Zug fahren, und dazu brauche
ich einen Paß. Und schon geht jemand durch das Varieté mit ünf, sechs
Pässen in der Hand, die er an Leute, die er aufru, verteilt. Ich entreiße
ihm einen, als er vorbeigeht. Jagd, ich siege. Aber als ich den Paß
aufschlage, ist es ein estnischer ür eine Frau, 29 Jahre, das ginge, aber er
strotzt von Vermerken; sie hat eine belastende politische Vergangenheit.
Während ich noch bläere, stehe ich vor einem Zollbeamten am Zug und
überreiche ihm lächelnd den Paß zum Stempeln. Man muß nur wollen,
sage ich mir, und er zieht zwar die Stirn hoch, aber ich komme durch.«
 
»Wir müssen protestieren« – »Man muß nur wollen« – »Ich komme
durch« – im Gegensatz zu dem »Was kann man machen?«, das wir in so
vielen Tönen und so vielen Texten gehört haben. Daß es sich bei den
Schlüssen aus diesen Träumen nicht um Zufall oder Spekulation handelt,
kann ein Traum zeigen, den Sophie Scholl 1943, in der Nacht vor ihrer
Hinrichtung, geträumt hat. Auf dem Lager sitzend, erzählte sie ihrer
Zellengenossin:
 
»Ich trug an einem sonnigen Tage ein Kind im langen weißen Kleid zur
Taufe. Der Weg zur Kirche ührte auf einen steilen Berg hinauf. Aber fest
und sicher trug ich das Kind in meinen Armen. Da plötzlich war vor mir
eine Gletscherspalte.67 Ich hae gerade noch soviel Zeit, das Kind auf der
anderen Seite niederzulegen – dann stürzte ich in die Tiefe.«
 
Sie versuchte, ihrer Mitgefangenen gleich den Sinn dieses einfachen
Traumes zu erklären: »Das Kind ist unsere Idee, sie wird sich trotz aller
Hindernisse durchsetzen. Wir duren Wegbereiter sein, mußten aber
zuvor ür sie sterben.«68
 
Hier ist ein Traum, transzendent, in leuchtenden Symbolen, wie der Held
im klassischen deutschen Drama der klassischen
Gewissensentscheidungen ihn träumt.
So können wir unseren Träumern der letzten Kategorie, die sich so
stark von denen der anderen Kategorien unterscheiden, die sich nicht
parodieren und degradieren, die ihre diesseitige Welt zwar nicht
transzendieren, aber auch nicht verzerren, zubilligen, daß sie es taten, weil
sie sich im Spiegel ihres Gewissens unverzerrt sahen.
9. Kapitel
Verhüllte Wünsche oder
»Endstation Heil«
Ich sah diese Menschen auf und ab gehen, immer die
gleichen Gesichter, die gleichen Bewegungen,
o schien es mir, als wäre es nur einer. Dieser Mensch
oder diese Menschen gingen also unbehelligt …
 
Und ich lernte, meine Herren. Ach, man lernt, wenn man
muß; man lernt, wenn man einen Ausweg will;
man lernt rücksichtslos. Man beaufsichtigt sich selbst
mit der Peitsche; man zerfleischt sich
beim geringsten Widerstand.69
Franz Kaa






Weil er geträumt hae, den Tyrannen Dionys ermordet zu haben, wurde
Marsyas, wie Plutarch berichtet, zum Tode verurteilt.70
Ich hörte nur von einem einzigen Fall von Tyrannenmord im Traum:
 
»Ich träume o, ich fliege über Nürnberg, fische mit einem Lasso Hitler
mien aus dem Parteitage heraus und versenke ihn zwischen England und
Deutschland im Meer. Manchmal fliege ich weiter nach England und
erzähle der Regierung, zuweilen Churchill selbst, wo Hitler geblieben ist
und daß ich es getan habe.«
 
Diesen sehr modernen Tyrannenmord, mit vorhergehendem Raub des
Tyrannen aus der Mie seiner Mannen und Massen, erträumte sich ein
etwa 35jähriger Journalist. Allerdings war er, nach Prag emigriert, in
Freiheit, hae also Traumfreiheit. Das heißt sicher nicht, daß innerhalb
Deutschlands niemand im Traum den Wunsch gewagt hat, Hitler zu
ermorden. Aber obwohl sich die Motive der Träume meiner Sammlung
sonst so häufig wiederholen, daß man aus dieser Häufigkeit Schlüsse auf
das Typische der geschilderten Vorgänge ziehen darf, spielt sich das
einzige Traumaentat auf Hitler, das mir bekannt geworden ist, im
Ausland ab. Die typischen Wünsche, die jedermann unter totalitärem
Diktat sich im Traum erüllte, sahen anders aus. Sie galten, sehr
verständlicherweise, dem Mitlaufen, Mitmarschieren, Mitmachen.
Wenn schon die Angst- und Abwehrträume, die wir bisher
kennengelernt haben, mit ihrem achselzuckenden »Da kann man nichts
machen, da hil nichts« Schlaglichter auf Vorgänge in Menschen während
ihrer Gleichschaltung werfen, gestaet das Hin und Her bei den
verhüllten Wunschträumen – denn es handelt sich auch hier nicht um
begeisterte Zustimmer, sondern um langsam sich den Bedingungen
Anpassende – Einblicke in einen Prozeß, der sich heute als so schwer
rekonstruierbar erweist: wie die Gleichschaltung sich im einzelnen
Gutwilligen vorbereitet hat, während sie an ihm vorgenommen wurde.
Mir liegen ünf Träume dieses Typs vor, die – innerhalb denkbar
verschiedener Situationen – ein identisches psychologisches Grundmuster
aufweisen und identisch enden.
Der erste, der Traum eines Mannes in den Dreißigern, der ihn in der
Nacht notiert hat, lautet:
 
»Ich muß sonntags am Bahnhof Zoo ür die Nazis sammeln. Denke mir:
Ach was, ich will meine Ruhe haben, nehme Deckbe und Kissen mit,
keine Büchse, und tue nichts.
Aber nach einer Stunde erscheint Hitler. Er trägt hohe, lackiert
glänzende Schastiefel wie ein Dompteur, zerknierte, aber weithin
blinkende lila Satinhosen wie ein Zirkusclown.
Er geht zu einer Kindergruppe, neigt sich zu ihr mit unechten,
übertriebenen Gebärden. Danach wendet er sich in ganz anderer,
strammer Haltung zu einer Gruppe Halbwüchsiger. Dann zu einem Kreis
alter Jungfern, Typ Kränzchenschwester, da ist er neckisch (ich habe wohl
ausdrücken wollen, daß er die verschiedenen Gruppen der
Volksgemeinscha abgrast, immer mit berechneten Gebärden).
Mir wird unbehaglich in meiner Lage unter dem Deckbe, ich habe
Angst, er wird auf mich als Vertreter der Gruppe derer, die sich schlafend
stellen, zukommen und merken, daß ich gar keine Büchse habe. Male mir
aber einstweilen aus, was ür eine heldenhae Antwort ich parat haben
werde, etwa: ich muß hier sein, aber ich weiß von KZ und bin dagegen.
Hitler macht weiter seine Runde. Nanu, die anderen Leute haben gar
keine Angst vor ihm, einer behält die Zigaree im Mund, als er mit ihm
spricht, viele lächeln
Meine vorgeschriebene Sammelzeit ist zu Ende. Ich nehme Be und
Kissen und gehe die große Treppe vom Bahnhof hinunter. Unten
angekommen, sehe ich hinauf. Hitler steht oben und singt zum Abschluß
seines Auris aus einer Oper ›Magika‹ (so viele nannten das, was er
machte, magisch), übertriebenste Gebärden, nur auf Publikumswirkung
angelegt.
Alles klatscht, er verbeugt sich, rast die Treppe hinunter, die lila
Zirkushosen fallen mir nochmals auf (ich hae am Tage gelesen, lila sei
die englische Trauerfarbe, sah ihn also nicht nur als Clown, sondern
brachte ihn mit Tod und Trauer zusammen).
Aber, ich blicke mich um, wo ist seine berühmte Leibwache, er hat ja
nur einen Chauffeur in Zivil bei sich, er geht an die Kleiderablage wie
jeder, er wartet geduldig, bis er an der Reihe ist und die Garderobiere ihm
seinen Mantel gibt … Vielleicht ist er gar nicht so schlimm … Vielleicht
mache ich mir die Mühe, dagegen zu sein, umsonst.
Plötzlich merke ich, daß ich anstelle des Kissens und Deckbees eine
Sammelbüchse in der Hand habe.«
 
Das ist wie aus einem Lehrbuch zur Typologie des Sichanpassens. Der
Träumer stellt die Zustimmung als Prozeß dar, schildert den
Beeinflussungsvorgang wie den jeweiligen psychischen Zustand der zu
beeinflussenden Person, als hielte er, Wagner und Homunculus in einer
Person, die Retorte in der Hand, in die eingeschlossen er zum Mitläufer
entwickelt wird. Er stellt die Stadien dieser Entwicklung in einzelnen
Bildern dar wie im comic strip: er durchschaut nicht nur Hitlers
Methoden, er durchschaut auch seine Person, jede seiner Gebärden, mit
offenen Augen. Er sieht ihn als Clown, sogar als todbringenden – haben
denn unsere Eltern nicht gesehen, daß er wie ein Clown aussah? fragen
die Nachkriegsgenerationen immer wieder. Er sieht seine magische oder
pseudomagische Wirkung. Er sieht ihn auch als Dompteur – trotzdem
gelingt der Dressurakt; nach einer Weile sagt er sich, daß alles halb so
schlimm ist, daß man sich die »Mühe, dagegen zu sein« (haargenau
Brechts »bire Mühn«, die die Kühnheit verursacht71), umsonst gibt. Er
schildert also nicht nur die Hinnahme der gegebenen Bedingungen, er
schildert auch das innere Klima, in dem sie zustandekommt; die
Bereitwilligkeit, sich täuschen zu lassen, die Alibi-Tendenzen, nachdem
man lange genug durch die richtige Mischung von Druck und Propaganda
konditioniert worden ist, in jenen Zustand von Aufnahmeähigkeit und
Beeinflußbarkeit gebracht, an dem die Abwehr zusammenbricht. (Auch die
Abwehr von Pawlows konditionierten Hunden bricht an einem
bestimmten Punkt zusammen; auch bestimmte Dosen von Gien lähmen
die Abwehrkräe; auch ür Orwells Held kommt der Moment, wo er Big
Brothers Bild mit Dankestränen im Auge ansieht.) Das ist die eine, die
physiologische Seite der Medaille, aber der Träumer – ein Held zwischen
Gut und Böse – deutet auch die andere an: die Wirkung einer
gesellschalichen Struktur, die nur noch eine Bewegung, die zur
»Bewegung« hin, übrigläßt.
Eine entsprechende Situation, bei der »Mitmachen« in der Natur der
Sache liegt, scha sich eine Handelsschülerin von vielleicht zwanzig
Jahren geschickt im Traum. Sie träumt 1934, weniger detailliert als der
Mann mit der Büchse, doch mit dem gleichen Effekt:
 
»Der ›Tag der Einheit der Nation‹ [den es in der Realität dem Sinne nach,
wenn auch nicht dem Namen nach gab; es ist sehr bezeichnend, daß sie
ihn ür ihren Traum wählt] wird gefeiert. In einem fahrenden Zug, im
Speisewagen, stehen lange Tische, an denen lange Reihen von Menschen
sitzen. Ich sitze allein an einem kleinen. Ein politisches Lied klingt so
ulkig, daß ich lachen muß. Setze mich an einen anderen Tisch, muß aber
wieder lachen. Es hil nichts, ich stehe auf, will hinausgehen, da überlege
ich: Vielleicht ist es gar nicht so ulkig, wenn man mitsingt, und singe
mit.«
 
Oder, so verblüffend ähnlich, daß es das Automatische des Vorgangs
erhellt, aber geträumt von keinem jungen Mädchen, sondern einem
älteren Mann im selben Jahr:
 
»Im Kino am Nollendorfplatz, das aber wie ein Versammlungssaal
aussieht. Wochenschau. Göring erscheint in einem braunen Lederwams
und schießt mit einer Armbrust, worauf ich laut lache (das war wirklich
am Abend geschehen, und gar nichts war mir passiert).
Plötzlich stehe ich im selben Wams und mit derselben Armbrust neben
ihm – wie ich dahingekommen bin, weiß ich nicht –, und er ernennt mich
zu seinem Leibschützen.«
 
Eine Hausfrau mileren Alters träumt 1936 essentiell genau das gleiche,
jedoch mit Details versehen, die, hart am Rande der Wirklichkeit, den
Traum wie eine Tagebucheintragung wirken lassen:
 
»Ich bin in einem kleinen Ort in der Mark – ich glaube, es war Nauen –
bei guten Freunden zu Besuch. Abends ist Gesellscha mir zu Ehren. Am
nächsten Morgen, während wir am Frühstückstisch beisammensitzen, in
großer Zärtlichkeit, betonter Freundscha, und uns über den gestrigen
Abend unterhalten, kommt eine Nachbarin zur Tür herein und sagt ohne
Vorrede: ›Gestern abend ist zu lange und zu viel Gesellscha bei Ihnen
gewesen (diesen Satz hae mir jemand wörtlich aus der Provinz berichtet,
darum träumte ich wohl das Ganze), na, wenn da noch Leute dabei waren,
die nicht Heil sagen …‹ – ›Das häe nichts ausgemacht‹, rufe ich
dazwischen. Darauf meine Freundin: ›Ganz im Gegenteil, gar nicht
auszudenken wäre das.‹
Nachdem die Nachbarin verschwunden ist, macht sie mir riesige
Vorwürfe, weiß nichts mehr davon, was sie zehn Minuten vorher an
Freundscha und Zuneigung beteuert hat, zwingt mich, sofort abzufahren,
ehe man auf die Wahrheit über mich kommt. Sie setzt mich auf die Straße
im Sinne des Wortes, ohne mich auch nur über Autobusverbindungen
(Bahn gibt es nicht) zu unterrichten. Ich stehe hilflos an der Bushaltestelle
und verstehe das Ganze nicht, begreife nicht den Übergang von einer
Gesinnung zur anderen in ein paar Minuten.
Als der vollbesetzte Bus endlich kommt, sage ich beim Einsteigen zu
allen Insassen, die ihre Gesichter stumm auf mich richten, laut: ›Heil
Hitler.‹«
 
Fassen wir zusammen, was in diesen drei Träumen geschieht. Man
versucht, über die ganze Sache zu lachen, aber dann sieht man nach einer
Weile, daß man auf einem fahrenden Zug sitzt, der ein Ziel hat: man lacht
nicht mehr, man singt mit. – Das braune Wams ist nicht mehr komisch,
wenn man es selber trägt. Oder man wird ausgeschlossen wegen Nicht-
Heil-Sagens, und während es einem noch unbegreiflich ist, wie jemand
von »der einen Gesinnung zur anderen in ein paar Minuten« übergehen
kann, steigt man selbst in den Bus mit der Endstation Heil.
Das alles sind unter anderm Beiträge zu der Frage, wie Menschen, die
das eater von Liedern, braunen Uniformen und gehobenen Armen am
Anfang komisch fanden, denen man das ganze Trauerspiel vom Drien
Reich aber erst bis zu Ende vorspielen mußte, bis sie es heute wieder
ablehnen, durchaus und ehrlich dieselben Menschen sein können.
Einem Mann gelang es im Traum, das Undramatische und Geräuschlose
solchen Übergangs von der Suggestion zur Autosuggestion in einem Satz
zu charakterisieren:
 
»Ich sage im Traum den Satz: ›Ich muß nicht mehr immer Nein sagen.‹«
 
In dieser (inmien all des totalen Müssens nahezu rührenden)
Märchenformel Muß-nicht-mehr liegt wieder, welche »Mühe« es macht,
»dagegen« zu sein: Freiheit als Last, Unfreiheit als Erleichterung.
Der Traum eines anderen Mannes zeigt den Weg des Mitläufers von der
unkomplizierteren Seite, der materiell bedingten:
 
»Ich betrete einen Schusterladen. ›Mein letztes Paar Schuhsohlen ist
zerrissen‹, sage ich. ›Du weißt‹, sagt der Schuster, der ein
funkelnagelneues Paar Schuhe in der Hand hat, ›daß neue Sohlen nur
bekommen kann, wer in der SA marschiert.‹ – ›Ich habe davon gehört‹,
sage ich, ›aber ich kann es nicht glauben‹. – ›Ich kann dich in eine
Kolonne stecken‹, sagt er sehr freundlich, ›wo nur Leute marschieren,
weil sie sonst keine Schuhsohlen haben, und beim Eintri kriegt man
gleich zwei Paar Sohlen. Und dir werde ich jetzt‹, setzt er noch
freundlicher hinzu, ›vielleicht drei Paar geben, denn dich brauchen wir.‹
Ich renne weg, aber beim Rennen fallen mir meine zerrissenen Sohlen
von den Füßen.«
 
Diesen Traum hat ein Schuster erzählt, ich bekam ihn erst später –
wörtlich in dieser Fabelform. Er hae ihn erzählt bekommen von einem
Kunden, als Traum seines Schwagers, mit dem Zusatz: »Es hat kein halbes
Jahr gedauert, bis er SA-Mann war.«
10. Kapitel
Offene Wünsche oder
»Den wollen wir dabeihaben«
Diese Leistung wäre unmöglich gewesen, wenn ich
eigensinnig häe an meinem Ursprung, an den
Erinnerungen der Jugend festhalten wollen.
Gerade Verzicht auf Eigensinn war das oberste Gesetz,
das ich mir auferlegt hae …
 
Ich soll, wie man mir später sagte, ungewöhnlich
wenig Lärm gemacht haben, woraus man schloß, daß ich
entweder bald eingehen müsse oder ich,
falls es mir gelingt, die erste kritische Zeit zu überleben,
sehr dressurähig sein werde.
Ich überlebte diese Zeit.72
Franz Kaa






Die Träume, in denen der Wunsch, dazuzugehören und mitzumachen,
nicht in von Stufe zu Stufe entwickelten Anekdoten sich langsam enthüllt,
sondern kindlich offenherzig und direkt ausgesprochen wird, werden
sicherlich zehntausenden, hunderausenden Tagträumen entsprechen, die
auf dem Wege vom Gegner zum Mitläufer geträumt wurden, wenn der
Weg des Widerstandes zu steinig wurde.
Die Träume in dieser Kategorie bewegen sich in einem immer
wiederkehrenden Schema, das längst nicht so einfallsreich ist wie in jeder
anderen Kategorie. Nicht ein oder zwei, sondern Dutzende
übereinstimmender Träume wurden von Personen verschiedensten Alters
und sozialer Stellung berichtet. Was uns als Nebenmotiv schon begegnet
ist, wurde zum Leitmotiv: man träumte, Ratgeber, Freund von Hitler,
Göring, Goebbels zu sein. Man träumte nicht satirisch verzerrt, nur
infantil übertrieben: ich bin Hitlers rechte Hand und sehr zufrieden.
(Derartige, in einem primitiven Wunschsatz faßbare Träume sind typisch
ür Kinder, die die Komplikationen der Erwachsenen beim Wünschen
noch nicht kennen.)
Oder man träumte etwas komplizierter, in diesem Falle ein
Transportarbeiter von 26 Jahren:
 
»Ich marschiere in einem SA-Zug mit, aber in Zivil. Sie wollen mich
verprügeln. Da kommt Hitler und sagt: ›Laßt ihn, gerade den wollen wir
dabeihaben.‹«
Oder man träumte, in diesem Falle ein Mann von sechzig:
»Ich stehe am Straßenrande, sehe die Hitlerjugend marschieren. Da
umringen sie mich und rufen im Chor: ›Sei du unser Fähnleinührer.‹«
 
Über die prominente Rolle der Frauen im Drien Reich besteht zwar
ohnehin kein Zweifel, aber die Gaung der von Frauen geträumten
Wunschträume bestätigt alle Vermutungen und Behauptungen in dieser
Beziehung. Ich will ein halbes Dutzend Beispiele solcher Träume mit offen
erotischer Komponente geben, die zwar monoton und uniform sind, die
der Leser aber hinnehmen muß als Zeugen des Typischen des Vorgangs.
(Die Verbindung von Macht und Erotik ist natürlich nicht neu – Macht ist
ein Erotikon –, aber in diesem Falle hat sie sich immerhin von Anfang an
in den Pro-Hitlerstimmen der Frauen ausgewirkt. Und auch diese
Wirkung war berechnet. »Es muß ein Junggeselle sein, dann kriegen wir
die Weiber«,73 das lag fest, bevor Hitler zum Führer wurde, und er hat sich
ja bekanntlich getreu bis zum Tod, wenn auch nicht darüber hinaus, daran
gehalten.)
Eine ältere Frau, die, wie sie versicherte, »gegen alles Erotische und
gegen Hitler« war, erzählte:
 
»Ich träume sehr o von Hitler oder Göring. Er will was von mir, und ich
sage nicht: ›Aber ich bin doch ehrbar‹, sondern: ›Aber ich bin doch keine
Nazi‹, und da gefalle ich ihm noch besser.«
 
Eine Hausangestellte von 33 Jahren träumt:
»Ich bin im Kino, sehr groß, sehr dunkel. Ich habe Angst, eigentlich darf
ich nicht da sein, ins Kino gehen dürfen nur PGs. Dann kommt Hitler, ich
habe noch größere Angst. Aber er erlaubt mir nicht nur zu bleiben,
sondern setzt sich neben mich und legt seinen Arm um meine Schulter.«
 
Eine junge Verkäuferin:
»Göring will mich im Kino betatschen. Ich sage: ›Aber ich bin doch gar
nicht in der Partei.‹ – ›Ist mir doch egal‹, sagt er.«
 
Eine andere Verkäuferin:
»Im Konzert. Hitler geht durch die vordersten Reihen, schüelt allen die
Hand. Darf ich ihm die Hand geben, überlege ich fieberha. Muß ich ihm
nicht sagen, ich bin dagegen? Inzwischen ist er bei mir angekommen und
hat seine beiden Hände über meine gelegt [was sie als typische Hitlergeste
ür besondere Innigkeit o in Abbildungen gesehen haben muß] und läßt
sie da liegen, bis ich aufwache.«
 
Eine Hausfrau:
»Ich sehe, als ich vom Einholen komme, daß auf der Straße getanzt
werden soll – wie in Frankreich am Bastilletag –, weil ein Feiertag zur
Erinnerung an den Reichstagsbrand ist. Man sieht überall Freudenfeuer
[welch glänzender parodistischer Regieeinfall der Träumerin] – adrate
sind mit Seilen abgesperrt, und die Paare gehen unter den Seilen durch
wie Boxer … Ich finde das sehr häßlich. Da umfaßt mich jemand mit
starken Händen von hinten und zieht mich durch ein Seil auf die
Tanzfläche. Als wir zu tanzen anfangen, erkenne ich, es ist Hitler, und
finde alles sehr schön.«
 
Eindeutige Situationen, die zweifellos ebenso häufig geträumt worden
sind, wurden nicht berichtet; ich fragte nicht, ür meinen Zweck war dies
ohne Bedeutung. Worauf es hier ankommt, ist nicht das Detail, sondern
die Situation: der Führer als faktischer Verührer, als erotisches
Wunschobjekt. Diese Mischung der erotischen und der politischen Sphäre
charakterisiert am klarsten der Traum einer anderen Hausfrau:
 
»Lange Tische stehen auf dem Kurürstendamm, an denen dichtgedrängt
viele braungekleidete Menschen sitzen. Neugierig setze ich mich auch,
aber abseits, am Ende eines leeren, einsamen Tisches. [Sie gebraucht ein
ganz ähnliches Bild wie die Frau im Speisewagentraum.]
Da erscheint Hitler, anheimelnderweise im Frack, mit großen Packen
Flugbläern, die er eilig und achtlos verteilt, und zwar so, daß er je einen
Pack an je einem der Tischenden hinwir, und die Sitzenden reichen sie
dann weiter. Es sieht so aus, als bekäme ich nichts. Da legt er plötzlich,
ganz gegen die bisherige Übung, einen Packen behutsam vor mich hin.
Dann reicht er mir mit einer Hand ein einzelnes Flugbla, während
seine andere Hand über mich hinstreichelt, von den Haaren über den
Rücken hinab.«
 
Die linke Hand weiß genau, was die rechte tut: die eine teilt Propaganda
aus, die andere streichelt. Kürzer und treffender kann man Hitlers Einfluß
auf große Schichten von Frauen nicht schildern.
Noch kennzeichnender sind die Wunschträume von Menschen, deren
Wünsche unerüllbar waren, weil nicht innere, sondern nicht
wegräumbare äußere Hindernisse ihnen im Wege standen, die also nicht
eine falsche Anschauung, sondern etwa eine falsche Großmuer haen;
kurzum, deren objektive Lage nicht so war, daß sie ihre Wünsche
befriedigen konnten, außer im Dunkel der Nacht.
 
Ein junges Mädchen mit einer jüdischen Großmuer träumte im Jahre
1935, als sie gerade durch die Rassengesetze zum neugebackenen 25%igen
Mischling geworden war:
 
»In Bad Gastein. Hitler ührt mich in lebhaer Unterhaltung eine große
Freitreppe hinunter, weithin sichtbar, unten ist Kurkonzert und
Menschengewimmel, und ich denke stolz und glücklich: Nun sehen doch
alle Leute, daß es unserm Führer nichts ausmacht, sich mit mir trotz
meiner Großmuer Recha in aller Öffentlichkeit zu zeigen.«
 
Ein 50%iger Mischling, eine Frau von etwa 45 Jahren, träumte zur gleichen
Zeit:
 
»Ich bin auf einem Schiff mit Hitler zusammen. Das erste, was ich ihm
sage, ist: ›Eigentlich darf ich gar nicht hier sein. Ich habe nämlich etwas
jüdisches Blut.‹ Er sieht sehr ne aus, gar nicht wie sonst, rundes,
angenehmes, gütiges Gesicht.
Ich flüstere ihm ins Ohr: ›Ganz groß häest du werden können, wenn
du es so gemacht häest wie Mussolini, ohne diese dumme Judensache. Es
ist ja wahr, daß es sehr üble unter den Juden gibt, aber alle sind doch nicht
Verbrecher, das kann man doch wirklich nicht behaupten.‹ Hitler hört mir
ruhig zu, hört sich alles ganz freundlich an.
Dann plötzlich bin ich in einem anderen Raum des Schiffes, wo lauter
schwarzuniformierte SS-Leute sind. Sie stoßen sich untereinander an,
zeigen auf mich und sagen zueinander mit höchstem Respekt: ›Seht mal,
das ist die Dame, die dem Chef Bescheid gesagt hat.‹«
 
Soweit die träumende Halbjüdin (die nebenbei diesen Traum
unaufgefordert und mit Genugtuung ihrer Untermieterin erzählte); er
zeigt in der Retorte, wie sehr gleichschaltungswillig auch nicht
Gleichschaltungsähige waren: sie hat »nur etwas jüdisches Blut«, im
allgemeinen ist sie auch gegen Juden, sie duzt Hitler, zeigt ihm, wie er
»ganz groß« werden kann, und die SS hat »höchsten Respekt« vor ihr –
alles in einem kurzen Traum.
Volljuden haben von direkten Wunscherüllungen dieser Art offenbar
selten geträumt, nicht weil die Bereitwilligkeit ihnen gefehlt häe –
naturgemäß häen sie reagiert wie andere Volksgruppen –, sondern weil
die Verhältnisse ür sie wirklich nicht so waren, daß sie auch nur im
Traum in Ordnung gebracht werden konnten, ein erneuter Hinweis, wie
stark diese Träume die Realität des öffentlichen Bereichs widerspiegeln.
Ich hörte, durch seine Muer, von einem 15jährigen jüdischen Jungen, der
im Traum in den Reihen der Hitlerjugend mitmarschierte; er stand »mit
glühendem Neid am Straßenrand«, plötzlich war er »miendrin«.
Der Wunschtraum eines jüdischen Arztes hat einen ganz anderen
Akzent. »Ich habe Hitler geheilt«, träumt er, doch das bildet nur ein
Nebenmotiv seines Traumes, obwohl er »der einzige im Reich war, der das
konnte« (wie der oppositionelle Augenarzt eines früheren Kapitels). Sein
breit ausgeührtes Leitmotiv klingt so:
»›Was wollen Sie ür meine Heilung haben?‹ fragt Hitler. ›Kein Geld‹,
sage ich. Darauf ein großer Blonder aus Hitlers Umgebung: ›Was, du
krummer Jud, kein Geld?‹ Darauf Hitler im Befehlston: ›Natürlich kein
Geld. Unsere deutschen Juden sind nicht so.‹«
 
Diesen Traum träumte der Arzt in Varianten; einmal antwortet er dem
Beleidiger: »Wenn ich nun nicht Deutscher, sondern Amerikaner oder
Engländer wäre, würden Sie das nicht riskieren« – mal wünscht er sich
von Hitler, wieder anerkannter Deutscher zu sein.
Abgesehen von Wünschen, die wie gesagt selten gewesen zu sein
scheinen, bewegten sich die Träume der Juden zwar im gleichen Kreis von
Angst und Abwehr wie die bisher behandelten aller anderen Gruppen,
stellten aber innerhalb dieses Kreises so unverkennbar eine besondere
Kategorie dar, wie die Juden eine besondere Kategorie innerhalb des
Hitlerregimes darstellten – sie unterlagen ja nicht latentem, sondern von
Anfang an offenem Terror.
Deshalb habe ich mich entschlossen, die Träume der Juden in einem
Sonderkapitel zusammenzufassen.
11. Kapitel
Träumende Juden oder
»Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz«
Man kann natürlich in einem Jahr nicht sämtliche
Läuse und sämtliche Juden hinaustreiben, das wird im
Laufe der Zeit geschehen müssen.74
Dr. Hans Frank
 
Der Untermensch ist nur ein Wurf zum
Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen,
geistig und seelisch jedoch tiefer stehend als das Tier …
Im Innern dieses Menschen ist ein grausames Chaos
wilder hemmungsloser Leidenschaen:
namenloser Zerstörungswille, primitivste
Begierden, unverhüllte Gemeinheit.75
Veröffentlichung Reichsührer SS






Wann und wo die Träume, von denen wir bisher gehört haben, geträumt
worden sind, wäre, wie ich sagte, aus ihnen ablesbar, selbst wenn man es
nicht wüßte. Aus den drei Träumen, die dieses Kapitel einleiten, läßt sich
auch ohne weiteres ablesen, wer sie geträumt hat: es können nur
assimilierte Juden im Drien Reich gewesen sein. Sie stammen alle drei
von Juristen, im Denken, Aussehen und Benehmen ganz angepaßte
Typen – zu alt, als daß diese feste Form noch häe umgeformt werden
können –, und haben Deplacierung und Entpersönlichung, Verlust von
Identität und Kontinuität, von denen wir soviel gehört haben, in dem
Extrem, wie sie sie real erlebten, zum Inhalt.
Der erste, ein Berliner Rechtsanwalt und Notar, Anfang ünfzig, mit
dem »Frontkämpferabzeichen«, durch das er, im Rahmen der
Rassengesetze, seine Berufszulassung einstweilen behielt, träumte 1935:
 
»Ich gehe ins Konzert, habe ein Billet, glaube wenigstens, eines zu haben.
Aber es stellt sich heraus, daß es nur eine Reklameanweisung war und auf
meinem Platz ein ganz anderer sitzt. Wie mir geht es vielen. Während wir
alle durch den Mielgang langsam und gesenkten Hauptes den Saal
verlassen, intoniert das Orchester: ›Wir haben hier keine bleibende
Sta.‹«76
 
Der zweite, wieder ein Berliner Rechtsanwalt und Notar, etwa ünf Jahre
älter, träumte, nachdem die Vergünstigungen ür Frontkämpfer
aufgehoben worden waren und er seinen Beruf verloren hae:
 
»Ich gehe, feierlich gekleidet, ins Justizministerium (wie ich, der Sie
entsprechend, dreißig Jahre zuvor nach bestandenem Assessorexamen
wirklich gegangen war). Der Minister, von SS-Wachen umgeben, sitzt
hinter einem riesigen Schreibtisch (wie man ihn von Hitlerbildern kennt)
und trägt eine Art Kreuzung zwischen schwarzer Uniform und
Anwaltsrobe. (Der Anlaß zu dem Traum war wohl, daß ich meine
Anwaltsrobe am Vortage hae wegwerfen müssen.)
Ich sage zu dem Minister: ›Ich klage an, daß mir der Boden unter den
Füßen entzogen wird.‹ Die Wachen fassen mich und werfen mich zu
Boden. Liegend sage ich: ›Ich küsse auch den Boden, auf den Sie mich
werfen.‹«
 
Der drie Träumer, auch er Berliner Rechtsanwalt und Notar, noch ünf
Jahre älter, gegen sechzig, in dessen Leben der Begriff »Bürgerliches
Ansehen« immer eine große Rolle gespielt hae, träumte zur selben Zeit
die logische Fortsetzung des schaurig-grotesken J'accuse77 des zweiten:
 
»Zwei Bänke stehen im Tiergarten, eine normal grün, eine gelb [Juden
duren sich damals nur noch auf gelb angestrichene Bänke setzen], und
zwischen beiden ein Papierkorb. Ich setze mich auf den Papierkorb und
befestige selbst ein Schild an meinem Hals, wie es blinde Beler zuweilen
tragen, wie es aber auch ›Rassenschändern‹ behördlicherseits umgehängt
wurde: ›Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz.‹«
 
Diese drei Träume erzählen, jeder auf seine Weise, von der Vernichtung
der Voraussetzungen, auf denen ein langes Leben geruht hae, wie es z. B.
der am Anfang wiedergegebene Traum der Mathematiklehrerin tat, in
dem etwas Mathematisches aufzuschreiben bei Todesstrafe verboten
wurde. Aber sie sind so direkt aus der aktuellen Realität, der die Träumer
unterworfen waren, erwachsen, daß alles Surrealistische ihnen fehlt. Die
beiden ersten bewegen sich hart an der Grenze des Kitsches, oder sagen
wir sentimentalen Pathos, wie die Tragödie o. Vom drien läßt sich
sagen, daß – lange bevor Becke im »Endspiel« seine Figuren in
Abfalleimer setzte78 – der Träumer sich im Endspiel seiner Existenz selbst
in den Abfalleimer setzt und sogar bereit ist, noch dem Abfall Platz zu
machen.
Die »Träume der drei Assimilierten« kommentieren sich selbst. Aber
man kann sta des überflüssigen Kommentars vielleicht hinzusetzen, was
aus den Träumern geworden ist. Vom zweiten, der den deutschen Boden
noch küßt, wenn er auf ihn geworfen wird, fehlt Kenntnis. Der erste
konnte, nachdem er seine »bleibende Sta« verloren hae, ins Ausland
gehen und hae, nicht mehr jung, doch noch nicht alt, wohl noch die
Kra, sich zurechtzufinden. Auch der drie entkam ins Ausland und starb
dort, ein gebrochener Mensch, stets bereit, »dem Papier Platz« zu machen.
Eine junge Frau, sehr deutsch aussehend, als Kind getaue Jüdin,
träumte 1934 gleichsam die eorie zu den Träumen derer, die aus dem
Traum der Assimilation unsan geweckt wurden. Ihr Traum macht, in der
Form einer dramatischen Ansprache, klar, was in Menschen vorgehen
konnte, die de facto aus der Gemeinscha, der sie anzugehören glaubten,
herausorganisiert wurden; klarer als unser Finger zu zeigen vermöchte,
indem er auf Einzelheiten dieser unblutigen Dramen weist, die den
blutigen vorausgingen. Sie träumte:
 
»Ich gehe mit zwei blonden Marineoffizieren in der Schweiz spazieren.
Eine große, sehr häßliche Jüdin sinkt vor einem Schaufenster langsam um.
Ihr Mann springt hinzu: ›Rosa, was ist dir?‹
Als sie eng umschlungen an uns vorbeigehen, sieht man erst richtig,
wie jüdisch und häßlich sie sind. Ich ühle, wie meine beiden Begleiter
schaudern vor Ekel; sagen tun sie nichts. Aber ich, plötzlich ausbrechend:
›Mir sind sie auch gräßlich, ich kann den Blick ihrer Augen nicht ertragen.
Aber ihr habt mich hineingeprügelt in diese Gemeinscha mit ihnen,
hineingeprügelt. Es ist immer noch nicht meine Gemeinscha. Aber ihr.
Was habe ich gemein mit einem von euch? Die ihr ausseht wie ich, denn
ich sehe aus wie sie, wie ihr, was habe ich damit zu tun? Höchstens, daß
ich mit einem von euch im Be …‹ Da wachte ich auf und notierte den
Ausbruch sofort wörtlich« [den man auch weder kommentieren noch
interpretieren kann. Allenfalls kann man darauf hinweisen, daß sie sogar
diesen Tumult ihres Innern vorsichtshalber ins Ausland verlegt].
 
Wenn schon, wie wir gesehen haben, Menschen aus allen Gruppen der
Bevölkerung in ihren Ängsten Prinzipien und Ziele des totalitären Staats
von Anfang an im Traum erkennen und weiterzudenken vermochten, so
daß es im hinterdrein wie Prophetie anmutet: die Sensibilität der Juden
war durch akute Bedrohung so geschär, daß sie Bilder ihrer Situation mit
naturalistischer Clairvoyance79 zeichneten.
Eine 35jährige Hausfrau träumte 1935:
 
»Beim Spazierengehen hören wir ein Gerücht auf der Straße, man soll
nicht in seinen eigenen Wohnungen bleiben, es wird was passieren. Wir
stellen uns auf die gegenüberliegende Seite der Straße und blicken
sehnsüchtig zu unserer Wohnung hinauf, die Jalousien sind vorgezogen,
sie sieht unbewohnt aus.
Wir gehen zur Wohnung meiner Schwiegermuer, unserer letzten
Zuflucht nun; die Treppe rauf, aber da wohnen ganz andere Leute, haben
wir uns im Hause geirrt?
Wir gehen die Treppe im Nebenhaus hinauf, aber auch falsch, das ist
ein Hotel. Wir kommen an einem anderen Ausgang raus, versuchen,
zurückzufinden, aber nun läßt sich die ganze Straße nicht mehr finden.
Plötzlich glauben wir, doch das Haus, das wir so nötig brauchen,
gefunden zu haben, aber es ist wieder das Hotel, das uns schon einmal
irregeührt hat. Als sich das entnervende Herumirren zum drien Mal
wiederholt, sagt die Besitzerin des Hotels: ›Selbst wenn Sie die Wohnung
finden, das wird nichts helfen. Was geschehen wird, ist das Folgende‹, und
sie deklamiert in Form und Gebärde der ahasverischen Verfluchung:80
 
›Es ist ein Gesetz:
Sie sollen nirgends mehr wohnen.
So durch die Straßen gehen
Das soll ihr Dasein sein.‹
 
Dann ällt sie wieder in Prosa und leiert, als ob sie ein Protokoll verliest:
›Gleichzeitig mit besagtem Gesetz wird alles verboten, was noch erlaubt
war, als da ist, Kaufläden zu betreten, Handwerker zu beschäigen …‹ Und
mir ällt mien in dem Grauen eine Nebensache ein: Wo laß ich mir denn
nun meinen Kostümstoff verarbeiten?
Wir verlassen das Hotel, gehen ür immer in den trüben Regen …«
 
Diese Frau, selbst keine Jüdin, aber mit einem Juden verheiratet, also mit
dem Schicksal der Gruppe verknüp, nimmt um Jahre vorweg, was später
nach und nach geschehen sollte, vom Umherirren der versteckt Lebenden
während der »Endlösung« bis zu den Kleinigkeiten, die das Leben
erschweren; und sie tri sogar in der Form das den Verlautbarungen der
Nazis o anhängende Gemisch zwischen Pathos und Aktensprache, ein
sprachliches Abbild ihres Wesens.
Ein Mann, ein Jurist, faßt den ahasverischen Fluch auf ganz andere
Weise neu, wenn er 1935 im Traum ins »letzte Land der Welt, wo Juden
noch gelien sind«, wandert:
 
»Dies ist der Name des Landes, einen anderen hat es nicht, und es liegt am
Ende der Welt. Ich, meine Frau, meine alte blinde Muer schleppen uns
heimlich durch Eis und Schnee – man muß durch Lappland, und Lappland
läßt einen nicht durch. Aber plötzlich liegt alles hinter uns, und vor uns in
der Sonne blinkt grün das ›letzte Land, wo Juden gelien werden‹.
Ein lächelnder Zollbeamter verneigt sich höflich, rosig sieht er aus, wie
ein Marzipanschweinchen: ›Sie wünschen, mein Herr?‹ – ›Ich bin der
Doktor …‹ und zeige ihm meinen Paß. ›Du bist ein Jude‹, schreit er und
wir den Paß zurück in das Eis von Lappland.«
 
Wieder ällt einem Brecht ein: »Auf der Flucht vor meinen Landsleuten /
hoch oben in Lappland / nach dem Nördlichen Eismeer zu / sehe ich noch
eine kleine Tür.«81
Der träumende Jude findet zwar dasselbe Bild wie der flüchtende
Dichter, aber er geht weiter, selbst die kleine Tür ist ihm verschlossen. Er
erfindet, während er noch im Lande seiner Geburt das
Ausgestoßenwerden in täglich neuen Formen erlebt, bereits dessen
weltweite Version.
Inmien einer schweren Gegenwart werden die großen und kleinen
Schwierigkeiten der Zukun, des Wohin und Wasdann, träumend
vorweggenommen. Sie üllen viele Träume von Juden aus dieser Zeit und
sollen hier nur summarisch erwähnt werden, einmal, weil ihre Details
heute schwer verständlich sind und in unseren Zusammenhang nur
bedingt gehören; zum anderen, weil sie, so schaurig sie waren, im Lichte
des Schaurigen, das sich ereignen sollte, unvermeidlich blaß wirken. Mit
Pässen, Dokumenten, Visen geschehen ihnen die phantastischsten Dinge.
Man läßt sie nicht über Grenzen, man läßt sie nicht landen, Schiffe irren
mit ihnen im Meere herum. Und wenn sie ankommen, sind sie
unerwünschte Gäste bei Fremden, trauen sich nicht an den Tisch, schlafen
zu acht Personen in einem Zimmer und machen Heimarbeit, ürchten sich
vor dunklen Wänden und kahlen Höfen, hören ein deutsches Lied und
schämen sich, gerührt zu sein, sprechen alles falsch aus und werden
verlacht. Sie finden also ihre verlorengegangene Person nicht wieder und
umreißen übrigens in erstaunlichen Details wieder einen Typ, den des
nicht mehr jungen Zwangsauswanderers, mit seinem im Mißverstehen des
Neuen, in der Ablehnung des Fremden sich verkriechenden Heimweh –
ein Zustand, den viele nie überwanden, selbst wenn sie lebend ins Ausland
kamen.
Ein Beispiel daür ist der Traum einer Hausfrau Anfang dreißig, voller
Ausnahmebestimmungen, Verbote und Diskriminierungen, die ihr übers
Wasser gefolgt sind; er wurde geträumt 1936, in Berlin:
 
»Ich komme nach langer Wanderscha in New York an. Man darf aber
nur bleiben, wenn man einen Wolkenkratzer von außen rauleert. Nur
die Getauen müssen das nicht, von denen sagt man: ›Die kleinen Nazis
sind sehr ne und zuverlässig.‹ Auch hier wieder Unterschiede.
Ich weiß nie, welche Richtung einschlagen, gehe stets in der falschen.
Mein armer Mann, denke ich, genauso hat er sich's immer vorgestellt.
Plötzlich bin ich in einer schmalen Straße, hügelig, rechts und links
liegen Uhren, Juwelen, Armbänder auf offenem Schnee. Ich möchte so
gern etwas davon nehmen, traue mich aber nicht, das ist bestimmt vom
›Amt zur Prüfung der Ehrlichkeit von Ausländern‹ hingelegt, vielleicht
wird man ausgewiesen, wenn man's nimmt. Oder sollte ich einfach auf
einem ganz und gar verbotenen Weg sein und bestimmt ausgewiesen
werden?
Ich weiß den Eingang zur Sprachschule nicht zu finden, ich weiß keinen
Platz zu finden. Ich bleibe als einzige stehen, während alle anderen
geordnet sitzen. Ich habe das Buch nicht, in dem alle anderen lesen, und
weiß auch nicht, wie es heißt. Schon am Eingang zur Schule habe ich
sofort gedacht: Sie sieht alt und häßlich aus, bei uns sind sie viel schöner.
[Dies ›bei uns‹ war so typisch ür die Emigranten, daß sie in vielen
Ländern die ›chez nous‹ genannt worden sind.]
Dann wird nach dem Alter gefragt. ›Muß man das sagen‹, frage ich. ›Ja
man muß‹, sagt die Lehrerin. ›Bei uns zu Hause muß man gar nichts‹, sage
ich.
Ich sehe weinend aus dem Fenster, sehe eine märkische Landscha,
ühle mich gerade etwas getröstet, da sagt die Lehrerin: ›Die kleinen Nazis
sehen nicht nur anständig aus, sie sind auch die einzig Anständigen unter
euch.‹«
 
Diesen in die Zukun projizierten Angst- und Abwehrträumen wird ein
neues Motiv o und in vielen Variationen zugeügt: die Angst vor dem
Verlust der Muersprache.
Ein Mann macht zur gespenstischen Szene dieser Angst ein
Trappistenkloster »irgendwo auf der Welt«, in dessen »alte düstere
Steinhallen und Zellen sich alle Leute geflüchtet haben, die sowieso nie
wieder sprechen können«.
Ein anderer verirrt sich in der Wüste, tri auf Wasser, von dem man
nur trinken darf, wenn man in der »Wüstensprache« vorliest, weigert sich
aber mit den Worten: »Lieber verdursten, als die fremde Wüstensprache
sprechen.«
Ein drier soll ins Französische übersetzen, um nach Marokko
hineingelassen zu werden, weigert sich auch: »Das lohnt sich alles nicht«,
sagt er, »man kann ja doch nicht bleiben, wo man hingeht«, und ängt an,
auf deutsch zu singen: »O Täler weit, o Höhen.«82
Das deutsche Gedicht, das deutsche Lied geistert vielfach durch diese
Heimwehträume in der verlorenen Heimat, in der man sich noch befindet.
Ein 27jähriges Mädchen singt im Traum folgendes Lied:
 
»Jetzt geht's der Olly gut,
Die sitzt in Hollywood …
[Anfang eines Schlagers
aus der Vor-Hitlerzeit.83]
Dort ändest du deine Ruh …
Dann wär's auf einmal still …
Alles kommt einmal wieder …«
 
Sie singt im Traum auch endlos: »Ist das Herz geleert, ist das Herz geleert,
ist das Herz geleert«, eine Zeile aus Rückerts »Jugendzeit«.84 Einmal
bearbeitet sie die ganze Strophe:
 
»Wohl die Schwalbe kehrt, wohl die Schwalbe kehrt,
Und der leere Kasten schwer.
Wem das Herz geleert, wem das Herz geleert,
Kehrt nimmer mehr.«85
 
Auch dies in der Rückschau eine Prophetie – die meisten, die so schwer
gingen, dachten an Wiederkehr, die wenigsten kehrten wieder – und im
Rahmen unseres Zusammenhangs genauso logisch wie die Traumdichtung
von Heines »Krähwinkel«.86
Ein Bankbeamter, als Jude entlassen, etwa vierzigjährig, träumt 1936 in
Berlin, daß er auswandert, daß es ihm gut geht im neuen Land, daß er
wieder auf einer Bank arbeitet, vorwärtskommt, sich seine erste
Ferienreise ins Gebirge leisten kann:
 
»Ich mache eine Bergbesteigung mit einem Führer. Und dann geschieht es,
auf dem höchsten Gipfel. Der Führer wir Cape und Kapuze ab und steht
vor mir, in voller SA-Uniform.«
 
Der Mann träumt also vom Wiederauau seiner vernichteten Person nur
als Effekt ür die Antiklimax: der Aufstieg unter neuen Umständen glückt
zwar, aber die Kräe, die ihn vernichteten und die er in einer neuen
Verkleidung nicht rechtzeitig erkennt, begleiten ihn: auf dem Gipfel des
Berges stehen sie, in Gestalt des Berg-»Führers«, plötzlich unverhüllt vor
ihm.
Ein Traum, der mit diesem Angsraum eines Juden aus dem Jahre 1936
so genau übereinstimmt wie viele der Träume, von denen wir gehört
haben, miteinander übereinstimmten, stammt aus dem Winter des Jahres
1960. Eine Frau, die zu der Zeit, aus der unsere Träume stammen, noch ein
Kind war, hat ihn geträumt. Er lautet:
 
»Ich sehe in meinem Haus, im Vestibül, ein Häufchen Briefe liegen. Sie
sind an mich adressiert, und sie sind fast alle geöffnet. Einer – Brief und
Umschlag liegen einzeln da – ist noch feucht und schlaff vom Dampf.
Haben denn moderne Brieöffner nicht wissenschalichere Methoden,
denke ich und fange an, mich beim Portier, der dasteht, zu beschweren.
Neben ihm steht ein anderer Mann, klein und dünn und unauällig, mit
sorgältig gescheiteltem Haar, in irgendeinem schwarzen Anzug. Ja, sagt
er, ganz recht, er sei wegen meiner Briefangelegenheit gekommen. Das
hört sich gut an; schön, sage ich, und will ihm erklären, was vorgefallen
ist.
Er unterbricht mich: ›Zeigen Sie mir Ihre Ausweispapiere.‹ Darauf ich:
›Aber nicht doch, hier im Haus kennt mich jeder, ich wohne hier seit
Jahren, und der Portier …‹ Er: ›Ihr Ausweis!‹
Und er richtet sich auf, wird immer größer, sein Anzug ist nicht mehr
irgendein schwarzer Anzug, sondern der schwarze Anzug, Abzeichen
funkeln und blitzen.
›Oh, nein‹, sage ich; er hat kein Recht, mich nach meinem Ausweis zu
fragen, außer wenn er mir seine Vollmacht zeigt. Ich bin es ja, die Klage zu
ühren hat. ›Und ich bin ein freier Bürger.‹
Er schlägt mir ins Gesicht, rechts und links, und wiederholt: ›Der
Ausweis‹, und ich sage nein, nein, und dann sagt er: ›Ohnehin überflüssig.
Wir kennen Sie und wissen, was und wer Sie sind‹, und schlägt mich
wieder. Und er packt meine Hände und bindet sie mit der Kee des
Fahrstuhls.
Und ich sage, mehr zu mir selbst, leise und traurig: ›Ich hae geho,
ich würde euresgleichen sofort erkennen können, wenn ihr das nächste
Mal kommt. Daß ich es nicht konnte, ist meine Schuld.‹
Dann fange ich zu schreien an, klammere mich wie ein normales
menschliches Wesen an die verzweifelte Hoffnung, daß jemand kommen
wird und mir helfen, wenn ich schreie. Aber ich weiß, daß nun niemand
mehr kommen kann, nie wieder.«
 
Die Träumerin gehört, wie gesagt, einer Generation an, die mit der
Vergangenheit des Drien Reichs weder durch Angst noch durch Schuld
verbunden ist. Ihre Angst gilt der Gegenwart (sie träumte ihren Traum
wenige Stunden, nachdem sie einen beängstigenden politischen Vortrag
gehört hae), und sie hält es ür Schuld, wenn man die Erscheinungen im
öffentlichen Raum, die unser Jahrhundert bedrohen, nicht erkennt, bevor
sie sich aufrichten und größer werden, bevor ihre Abzeichen sichtbar
funkeln und blitzen – das ist die Lehre ihrer Fabel.
Das ist auch die Lehre all der im Drien Reich geträumten politischen
Fabeln, die ja, wie jede Fabel, nicht nur Aufschlüsse enthalten, sondern
auch Warnungen: daß die Erscheinungen des Totalitarismus erkannt
werden müssen, bevor sie ihre Capes und Kapuzen abwerfen wie im
Bergührertraum; bevor man nicht mehr Ich sagen darf, sondern so
sprechen muß, daß man sich selbst nicht versteht; bevor das »wandlose
Leben« beginnt.
 
Nachbemerkung

Den ersten Schri zu dem vorliegenden Buch tat ich mit Hilfe von Roland
H. Wiegenstein, der – von Karl Oen87 darauf hingewiesen – eine
Auswahl der von mir gesammelten Träume las und mich veranlaßte, unter
dem Titel »Träume vom Terror«88 eine Sendung ür den Westdeutschen
Rundfunk aus ihnen zu machen.
Daß daraus »Das Drie Reich des Traums« wurde, danke ich Martin
Gregor-Dellin, der durch die Sendung auf das Vorhandensein des
gesamten Materials aufmerksam wurde und mich zur Abfassung des
Buches bestimmte.
 
Charloe Beradt
New York, Oktober 1965
 
Charloe Beradt
Träume unter der Diktatur89

Ich erwachte in Schweiß gebadet, die Zähne zusammengebissen. Wieder


einmal war ich, wie in zahllosen Nächten zuvor, wie rasend geflüchtet,
war beschossen, gemartert, skalpiert worden. Doch in dieser Nacht dachte
ich plötzlich, daß ich unter Tausenden und Abertausenden womöglich
nicht die einzige war, die die Diktatur zu solchen Träumen verdammte.
Was in meinen Träumen geschah, geschah auch in den ihren: atemlose
Fluchten über Felder, ein Versteck auf Türmen von schwindelnder Höhe,
in Gräbern kauern und immer die SA auf den Fersen.
So begann ich, die Leute nach ihren Träumen zu fragen.
Herr K., ein Fabrikbesitzer, erzählte mir: »Ich hae einen Angsraum,
in dem kein Schuß fiel, kein Blut floß. Goebbels kam in meine Fabrik. Er
ließ die Belegscha in zwei Reihen antreten, so daß sie sich
gegenüberstanden. Dazwischen mußte ich stehen und den Arm zum
Hitlergruß heben. Es kostete mich eine halbe Stunde, den Arm
hochzubekommen. Goebbels sah meinen Anstrengungen wie einem
Schauspiel zu, ohne Beifalls-, ohne Mißfallensäußerung. Doch als ich den
Arm endlich oben hae, sagte er ünf Worte: ›Ich wünsche Ihren Gruß
nicht‹, und ging zur Tür. Da stand ich in meinem eigenen Betrieb,
zwischen meinen eigenen Leuten, mit erhobenem Arm. Nie in meinem
Leben habe ich mich so gedemütigt geühlt. Bis ich aufwachte, stand ich
so.«
Herr K., ein mutiger Mann mit starkem Willen, zierte erschüert, als
er sich an diesen Traum erinnerte, den er einige Wochen zuvor geträumt
hae. Dieser Traum war anders. Nicht Angst vor brutaler Gewalt hae ihn
ausgelöst, sondern ganz allein der Druck, den die Diktatur auf den Geist
dieses Mannes ausübte. Wenn ich viele solcher Träume von gequälten
Seelen finden könnte, dann könnte man eindrücklich beweisen, was eine
Diktatur anrichtet!
Seit dieser Nacht habe ich systematisch Berichte von Träumen unter der
Diktatur gesammelt. Warum ich die Leute nach ihren Träumen fragte,
habe ich nicht gesagt, denn ich wollte keine »geärbten« Antworten. Es
war nicht so einfach, Antworten zu bekommen. Die meisten wollten ihre
quälenden Träume vergessen; jedenfalls sprachen sie nicht gern darüber.
Manchmal konnte ich sie dazu bringen, gegen ihren eigenen Willen von
ihren Träumen zu berichten, weil ich meine oder die von anderen erzählte.
Jeden Traum habe ich sehr genau aufgeschrieben.
Träume von Autoritäten, Gesetzen, Verügungen

In erster Linie ist es die Unzahl von Autoritäten und Büros, von Gesetzen,
Verboten und Strafen, die Auslöser unterschiedlichster Angsräume
waren. Ein Beamter, dessen alltägliches Leben von der Angst vor
Denunziation vergiet war, erfand in seinem Traum eine »Dienststelle zur
Überwachung von Telefongesprächen«, die mit ausgeklügelten Methoden
arbeitete und ihm vorwarf, ein Verbrechen begangen zu haben, weil er am
Telefon zu seinem Bruder gesagt hae: »Ich finde an nichts mehr Freude.«
Er bat und flehte, man solle ihm das eine Mal verzeihen, nur dies eine Mal
nichts melden, doch er wußte tief drin, daß er verloren war. Der Besitzer
eines kleinen Ladens in Wien träumte, daß die Lampe in der Zimmerecke
plötzlich zu sprechen begann und der Polizei jeden Satz wiederholte, den
er je gegen die Regierung geäußert hae, und jeden Witz, den er erzählt
hae. Auch er hielt sich ür verloren. Eine Mathematiklehrerin träumte,
daß es bei Todesstrafe verboten sei, irgend etwas niederzuschreiben, was
mit Mathematik zu tun hat. Sie floh in ein anrüchiges Lokal, und dort,
unter grölenden Betrunkenen und halbnackten Mädchen, schrieb sie in
Todesangst ein paar Gleichungen auf, die ihr wichtig waren. Eine schöne
junge Frau träumte, daß an jeder Straßenecke schwarze Tafeln aufgestellt
worden waren. Darauf zwanzig Worte, die auszusprechen dem Volke
verboten war. Darunter biblische Worte wie das Wort »Lord«.90 Das letzte
der zwanzig Worte war »Ich«. Eine andere Frau wanderte in ihrem Traum
zusammen mit ihrem Mann Tag und Nacht herum, von Straße zu Straße,
von Wohnung zu Wohnung, ohne eine Unterkun zu finden, bis
schließlich eine Hauswirtin in Form und Gebärde der ahasverischen
Verfluchung deklamierte:
»Es ist ein Gesetz: Sie sollen nirgends mehr wohnen.
So durch die Straßen gehen, das soll Ihr Dasein sein.«
Scham verbindet sich mit Angst

O gesellt sich in Träumen unter der Diktatur quälende Scham der Angst
hinzu. So träumte ein Anwalt, in dessen Leben bürgerliches Ansehen eine
wichtige Rolle spielte:
»Zwei Bänke stehen im Park, eine normale und eine gelbgestrichene.
Dazwischen steht ein Papierkorb. Ich zögere erst, doch dann setze ich
mich auf den Papierkorb und hänge mir selbst ein Schild um den Hals:
›Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz.‹«
Ein junges Mädchen, die kurz vor dem Examen als Krankenschwester
stand, träumte jede Nacht eine zeitgemäße Variante des wohlbekannten
Prüfungstraums. Sie legte die Prüfung mit »Auszeichnung« ab, doch dann
hörte sie voller Schrecken und Scham, wie der Prüfer ihr berufliches
Leben ür beendet erklärte: »Ich lasse Sie trotzdem durchfallen, weil Sie
Mitglied der Bekennenden Kirche sind.« (Die Kirche von Pastor
Niemöller) Ein anderes junges Mädchen hörte fast jede Nacht die Stimme
ihrer Zimmerwirtin, die sie wie ein Axthieb traf: »Meine Untermieter
stehlen wie die Zeugen Jehovas.« (Eine religiöse Sekte, der die Träumende
fanatisch anhing.) Tief verletzt hoe sie jedesmal, daß dies ein
Versprecher sei, daß die Frau sich korrigieren und »wie die Elstern« sagen
würde, doch jedesmal wurde sie enäuscht.
Ein Schristeller, der Schwierigkeiten mit der Reichsschritumskammer
hae (er mußte ihr angehören, sonst häe er nicht veröffentlichen
können), träumte, daß er ür ein paar Tage von einem seiner besten
Freunde eingeladen war, der in einer kleinen Stadt ein paar Zugstunden
entfernt lebte. Abends war eine Gesellscha ihm zu Ehren geladen, und
der Gastgeber hielt eine Rede auf ihn und schwor unerschüerliche
Freundscha. Plötzlich kam ein Nachbar und gab dem Freund einen
Hinweis. Solche Gesellschaen würden nicht mit der Parteilinie
übereinstimmen, und wenn dann noch unzuverlässige Leute eingeladen
seien … Sofort wurde er aus dem Haus gejagt, wobei sich der Gastgeber
nicht mal die Zeit nahm, ihm die Zugverbindungen mitzuteilen. So stand
er nachts im Regen auf der Straße, und ein Blick auf seine Uhr zeigte ihm,
daß der Sinneswandel seines Freundes nur zehn Minuten in Anspruch
genommen hae. Und die beschämende Lage wurde noch dadurch
verschlimmert, daß er sich ür seinen Freund schämte, den er sein ganzes
Leben geliebt hae.
Eine alte Dame, eine gläubige Protestantin, mischte in die Demütigung,
die man ihr zugeügt hae, die Scham, die sie ür das deutsche Volk
empfand. Sie träumte, daß sie an einer der belebtesten Straßenecken
Berlins ohnmächtig hinfiel. Keiner von den Hunderten von Menschen, die
vorübergingen, half ihr auf, niemand sah sich auch nur um … »›Woher
wissen die Leute, daß sie mich liegenlassen müssen, weil ich an meinen
Herrn Jesus Christus glaube?‹ Ich denke in meinem Traum fieberha
darüber nach. Als ich bemerke, daß der Mensch mir zunächst, eine
Zeitungsfrau, gelähmt in einem Korbwagen sitzt, mir also nicht
beispringen kann, erleichtert mich das nicht.«
Nicht nur die Methode, sondern auch die Ideologie der Diktatur löst alle
möglichen Angsräume aus. Die eorie der Überlegenheit der blonden
Rasse sucht ihre Opfer unter den Dunkelhaarigen. Andere werden aus der
gesellschalichen Gruppe herausgezerrt, der sie sich zugehörig ühlen,
und willkürlich einer anderen zugeschlagen. Darauf antworten sie, indem
sie das Gruppenkonzept in eine idée fixe ihrer Träume verwandeln. Ein
Mann ging so weit, in seinen Träumen nicht mehr allein, sondern nur
noch im Chor zu sprechen. Doch diese Träume, so typisch sie auch sind,
sind zu kompliziert, um sie hier wiederzugeben.
Träume derer, die im Untergrund arbeiten

Die bisher wiedergegebenen Träume haben alle etwas gemein. Die


Träumer leiden, ohne etwas zu tun. Sie kommen nicht auf den Gedanken
Widerstand zu leisten, zu tief hat sich die Angst eingegraben. Ein Mann,
Widerstandskämpfer gegen die Diktatur im Untergrund, hae andere
Träume: Er wurde aktiv, kämpe. Im ersten Teil seines langen, langen
Traums spielen vervielältigte Handzeel eine Rolle, er wird entdeckt, ist
stundenlang von Angst überwältigt. Im zweiten Teil kommt die Gestapo
schon die Treppe herauf; er verschließt die Tür, doch das Schloß ällt
heraus, dann flieht er durchs Fenster. Im drien Teil, auf der Flucht,
bemerkt er zwei Männer vor einem berühmten Café, und der eine wispert
dem andern zu: »Wir müssen protestieren.« Er tri zwischen sie, legt
seine Hände auf ihre Schultern und ru ins Café: »Wir protestieren.«
Dann rennt er weiter und zieht die beiden mit sich fort. Am Ende des
Traums rennen alle drei im Gleichschri nebeneinander her und rufen
laut im Chor: »Wir protestieren.«
Und noch jemand wurde aktiv: die Frau eines Mannes, dessen
Untergrundarbeit entdeckt worden, der aber über die Grenze entkam. In
jedem ihrer Träume kommt ihr Mann zurück, um seine Arbeit
fortzuühren; er wird entdeckt und eingesperrt. Eines Nachts träumte sie,
er sei als deutscher Soldat verkleidet wiedergekommen: »Ich hae Angst,
daß er sich nicht richtig verhalten würde, weil er das Militär nicht kannte.
Ich rannte zu einer Kaserne, um irgendwie an gedruckte
Dienstvorschrien zu kommen. Ich wollte ihm Unteroffiziersstreifen an
den Kragen nähen, damit die Gemeinen ihn zuerst grüßen müßten und er
sich nicht wegen falschen Grüßens verdächtig machte.«
Doch auch dieser Traum gli bald wieder aus der Sphäre des Handelns
zurück in die des Leidens; der Mann wurde verhaet und die Frau in einen
Keller gebracht, der einem Krematorium ähnelte. In die Wand eingelassen
war ein Fach, worin der Mann lag und worauf stand: »770 ccm,
Temperatur 75 Grad.«
Träume, die die Zukun vorwegnehmen

Angsräume, die die Zukun vorwegnehmen – diese besondere Art von


Träumen war den Juden vorbehalten, der Bevölkerungsgruppe, die am
grausamsten verfolgt wurde. Eine ältere Frau, ungeähr siebzig Jahre alt,
träumte: »Mein Mann und ich waren in ein weit entferntes Land
emigriert. Wir waren ganz allein, niemand half uns. ›Warum heben wir
kein Geld vom Sparbuch ab?‹ fragte ich meinen Mann. ›Da ist nichts mehr
drauf.‹ ›Dann hol doch Geld bei der Bank.‹ ›Wir haben nichts mehr.‹
›Dann hol was aus dem Safe.‹ ›Da ist auch nichts mehr drin.‹ ›Dann
nimms aus Deinem Portemonnaie.‹ ›Aber wir haben nichts mehr.‹«
Die Alpträume ihres Mannes gingen noch weiter: Als ihm Hitler – wie
im Märchen – die Erüllung eines Wunschs gewährt, antwortet er ohne zu
zögern: »Ein Paß ür mich und meine Frau.«
Pässe, Dokumente, Visa – diese Papiere zogen sich wie ein roter Faden
durch die Träume, lange bevor sie wirklich gebraucht wurden. Ein Mann
trägt im Traum immer alle Papiere mit sich, wo immer er hingeht. Ein
anderer, der sich plötzlich auf einem sinkenden Schiff findet, überlegt
nicht, wie kann ich mich reen, sondern, wie kann ich meine Papiere
reen? Und nach dem Unglück gilt seine erste Sorge seinen Papieren.
All die kleinen und großen Schwierigkeiten – wohin und was dann? –
werden von den aufgeriebenen Nerven dieser Menschen
vorweggenommen. Man hält sie an Grenzen auf; sie dürfen nicht landen;
man lacht über sie, weil sie Wörter nicht richtig aussprechen, so daß sie
gar nicht mehr zu sprechen wagen; sie schlafen zu sechst in einem Raum;
sie ürchten sich vor leeren Wänden und dunklen Höfen; sie kommen
durch ihnen unbekannte Straßen, hören ein deutsches Lied und schämen
sich ihrer eigenen Geühle. Ein Träumer wählt als unheimlichen Ort ür
seinen prophetischen Traum ein Trappistenkloster, da er sich ürchtet, in
einer fremden Sprache stumm bleiben zu müssen. Einen anderen ührt
sein Traum »in das letzte Land auf der Welt, wo Juden noch gelien
werden«. Nur so nennt er dieses Land, einen anderen Namen hat es dort
nicht. Es scheint am Ende der Welt zu liegen, denn er muß durch
Lappland, kein anderer Weg ührt hin. Er ist ganz glücklich, als er zu Fuß
endlich die Grenze erreicht, schweres Gepäck drückt ihn nieder, seine
blinde Muer und seine Frau sind bei ihm. Viele Kilometer durch Eis und
Schnee liegen hinter ihm, doch vor ihm steht ein lächelnder, höflicher
Zollbeamter, rosig wie ein Marzipanschweinchen, und fragt: »Sie
wünschen, mein Herr?« – Der Wanderer gibt ihm seinen Paß und sagt:
»Ich bin Professor …« »Du bist ein Jude«, schreit der Beamte nach einem
Blick in den Paß mit dem großen roten »J«.
Das ist die schlimmste al ür diese Menschen – die Angst, daß die
Verfolgungen nicht im alten Land zurückbleiben. Ein Mann träumte, daß
es ihm gut geht im neuen Land, daß er sich seine erste Ferienreise ins
Gebirge leisten kann. Und dann geschieht es: Auf dem höchsten Gipfel des
fremden Kontinents wir der Führer Cape und Kapuze ab und steht vor
ihm, in voller SA-Uniform.
Träume von unbewußten Wünschen

Der Gegenpol zu diesen Angsräumen sind Wunschträume. Sie zeigen


keine so große Vielfalt. Was sie ausdrücken, ist eine natürliche Sehnsucht
nach Gleichheit und Anerkennung, nach verlorenen Dingen. Auch diese
Träume sind voller Leiden, auch wenn sie auf den ersten Blick absurd oder
gar abstoßend erscheinen. Ebenso wie die Angsräume zeigen sie, wie die
von der Diktatur zugeügten Wunden bluten und schmerzen, auch wenn
es keine körperlichen Verletzungen sind.
Ein Augenarzt, der seine Stelle in einer Klinik verloren hat, träumt, daß
er Hitler behandelt. Er ist allen anderen vorgezogen worden, weil nur er
diese Behandlung ausühren kann. Ein Anwalt, der hae kündigen
müssen, träumt, daß er bei einer Behörde arbeitet. Göring selbst inspiziert
das Büro und zeichnet ihn mit einem zufriedenen Nicken aus.
Dutzende Frauen träumen fast denselben Traum. Sie besuchen eine
Auührung, sitzen in der ersten Reihe oder in einer hell erleuchteten Loge
im eater. Plötzlich kommt ein Naziührer herein, meistens Hitler selbst.
Er schüelt ihnen die Hand, und wenn sie sagen, sie seien Katholiken,
Juden, Sozialdemokraten, sagt er: »Das ist mir egal.« O reagieren die
Frauen auf diese Unaufrichtigkeit empört und beleidigt, doch immer ist da
auch das Geühl von Behagen. Ein junges Mädchen träumte, daß ihr
Goebbels auf einem Volksfest persönlich ein Flugbla gibt. Ihre Geühle
dabei beschreibt sie so: »Ich versuchte, mich einfach nur kapuzulachen
und nicht stolz darauf zu sein.« Eine andere junge Frau, die mit Hitler in
München, ihrer Heimatstadt, im Beisein vieler Leute eine große Freitreppe
hinunterging, dachte voller Hoffnung: »Nun sehen doch alle Leute, daß er
sich mit mir zeigt; vielleicht ist er gar nicht so schlecht?«
Es ällt auf, wie selten Racheträume sind, was wieder beweist, wie tief
ins Unbewußte die Angst reicht. Ein kleiner Beamter, der entlassen
worden war, weil er der SA nicht beigetreten war, träumte in immer neuen
Varianten, daß er doppelt Steuern zahlen müsse und daß man ihm keine
Briefmarken verkaufe. Zuällig tri dann ein Ausländer an den Schalter
und sagt zu dem Beamten (der o die verhaßte Uniform trägt), was er
gerne sagen würde, sich aber nicht traut: »Sie behandeln diesen Mann
schändlich, und ich werde im Ausland darüber berichten.«
Die einzige mir bekannte Person, die Hitler im Traum sogar
widersprochen hat, ist eine Frau. In ihrem Traum sah er nicht aus wie auf
den Fotos, sondern hae ein rundes und freundliches Gesicht. Sie sagte
ihm lediglich: »Sie häen in dieser und jener Sache anders handeln sollen,
dann wären Sie noch größer geworden.« Plötzlich fand sie sich in einem
anderen Raum, wo lauter SS-Leute waren, die sich untereinander
anstießen, auf sie zeigten und mit höchstem Respekt zueinander sagten:
»Seht mal, das ist die Dame, die Hitler Bescheid gesagt hat.«
Als ich in dieses Land kam, traf ich ein Mädchen wieder, das ich kannte;
sie hae in Deutschland sehr unter Angsräumen gelien. Nach ihrer
Flucht träumte sie nur dann vom Leben unter der Diktatur, wenn
irgendeine Erfahrung die Erinnerung an deren Methoden wachrief. Eines
Tages las sie in der U-Bahn ein Buch, das in Deutschland verboten war. In
der Nacht träumte sie, daß ein Kind sie deswegen denunziert hae. Später
li sie unter einem einzigen Alptraum: Daß man sie zwingen könnte, nach
Nazi-Deutschland zurückzukehren. Nachdem sie ein Jahr in den USA gelebt
hae, schrieb sie im Traum ein zwölf Verse langes Gedicht in der Sprache
ihrer neuen Heimat. Es handelte von einem Buch und einer bestimmten
Begebenheit in Amerika, die ihr beide am Herz lagen. Die ersten acht
Verse hae sie vergessen. Die letzten vier lauten:
»I can sit for hours
Calling every tree,
Reading through my window,
America, of thee!«
 
Aus dem Englischen von Barbara Hahn
 
Barbara Hahn
»Ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus«
Nachwort

Womöglich verdanken wir Das Drie Reich des Traums einem dieser
Zuälle, die sich im nachhinein als notwendig erweisen. New York,
Frühjahr 1962. Charloe Beradt liest den Band Gedichte und Prosa ihres
Freundes Albert Ehrenstein, den der große Expressionismuskenner Karl
Oen herausgegeben und ür den sie einen bewegenden Essay über den
toten Dichter geschrieben hat.91 In diesem Buch stößt sie auf einen Brief
Ehrensteins vom September 1941, kurz nach seiner Ankun in New York
geschrieben. In diesem Brief findet sich der Hinweis, der alles auslöst.
Ehrenstein erwähnt eine Zeitschri Free World, in der er vielleicht ab und
an publizieren könne.92 Und plötzlich wird eine Erinnerung wach:
»Lieber Karl Oen, Sie haben schon wieder in mein Leben eingegriffen
und zwar so: durch die Erwaehnung [!] von ›Free World‹ in dem AE Brief
kam etwas in den Vordergrund meiner Erinnerungen zurueck, das nun die
Anlage zu diesem Brief bildet. Ich habe eine Sammlung von Traeumen, die
Leute in den dreissiger Jahren unter und durch die Diktatur traeumten,
und zwar keine, wo sie blutig geschlagen wurden, sondern solche, die
zeigten, wie die herrschende Ordnung des taeglichen Lebens Menschen
bis in die Nacht verfolgte. – – – sleep no more, Hitler does murder
sleep'93 – das ist heute evident, war es damals keineswegs. Ich schrieb
diese Traeume auf, wie sie erzaehlt wurden, mit Codeworten – Onkel,
Grippe, schwarzer Anzug etwa fuer Hitler, Verhaung, SS-Uniform – und
sandte sie ins Ausland, wo sie mich erwarteten, als ich ankam. Aber da
erwartete mich auch sonst so vieles, Kee von Operationen Beradts94
inmien des Auaus einer bescheidenen Existenz, das [!] ich wohl einen
Aufsatz aus meinem Material zusammenstellen konnte, als Ueberblick, in
der Hoffnung, dass einer nach dem Gesamtmaterial fragen und es
auswerten wuerde. Das geschah nicht, obwohl die Zeitschri in 6
Sprachen, sogar chinesisch, erschien, es ging unter im ›anti-Hitler-stuff‹,
und das gab es vielfach. Vielleicht war das ganz gut so, denn heute, der
Aktualitaet entkleidet, kann ich wohl selbst was damit anfangen. Wie
kann und soll man das herausgeben, frage ich hiermit den besten der
Herausgeber. Mich interessiert natuerlich das Allgemein-Menschliche, was
der Psychiater oder Analytiker dazu sagt, nur am Rande. Ich sehe, dass
meine gesammelten Traeume dem anerkannten Traum-Schema
entsprechen, der Aufsatz ordnet sie ja auch demgemaess, aber mir kommt
es auf das Eingreifen der Diktatur von Beginn in das Allerprivateste des
Menschen, die Nacht und den Schlaf, an. Ich lege ausser dem Aufsatz ein
paar Beispiele bei: Sie wird das Kaaeske reizen, das Vorwegnehmen
damals noch unbekannter Schrecken, z. B. Brennoefen, Verbot Laeden zu
betreten, Emigrantenschicksal in allen Einzelheiten. – Ich habe viele
Dutzende solcher Traeume, mehr waeren ja mehr oder weniger eine
Wiederholung. Ich glaube nicht, dass es so etwas schon gibt, und vielleicht
ist es gut, wenn es erst jetzt, der Aktualitaet entkleidet, das Licht des
Tages erblickt, als kleiner Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus. In
diesem Zusammenhang wuerde es wohl, ausser fuer die Allgemeinheit,
fuer social und political scientists, wie fuer Psychiater, Sonderinteresse
haben. Es tut mir leid, Ihre Zeit zu beanspruchen; andrerseits, wenn die
Sache Sie nicht ergrei, sind die Chancen, dass sie jemanden ausser
Fachleuten fesselt, gering. Gruss und Dank Ihre Charloe Beradt.«95
Auch die erwähnten Beilagen haben sich erhalten. Beradt legte eine
Kopie des erwähnten Aufsatzes »Dreams under Dictatorship« mit
handschrilichen Korrekturen sowie getippte Traumprotokolle bei.96 Karl
Oen war begeistert. Am 30. März 1962 schrieb er nach New York, Beradt
solle das Material unbedingt publizieren: »Ihre Einleitung muss bestehen
aus: Dem Bericht, wie Sie zu der Idee kamen, wie Sie vorgegangen sind,
welche Leute ihre Träume erzählen, und dann die seelische Lage dieser
Träumer im Gesamtbilde der deutschen Traumwelt, die ein Gemisch aus
Angst, Wahn, Sadismus, Masochismus, Arroganz, Antisemitismus und
Grössenwahn war. Auch eine zeitliche genaue Angabe muss erstrebt
werden. Sowie die geistige Existenz der Befragten, welcher Berufsgruppe
oder Gruppen die Menschen angehörten. Geistige, technische, Aerzte,
Anwälte, Kaufleute. Verzeichen [!] Sie, dass ich Ihnen dreinrede, ich will
nur Rückfragen vermeiden und Ihnen den grösstmöglichen stimulus zur
Klarheit geben. Es muss von Ihnen die Erregung der Entdeckung ausgehn.
Sie müssen die Türen öffnen, die in unerforschte Kammern ühren.«97
Charloe Beradt machte sich sofort an die Arbeit, wobei sie – wie sich
zeigen wird – nicht all diesen Vorschlägen folgte. Am 31. Dezember 1962
schrieb sie, die Träume »haben mir mehr Mühe gemacht als ich annahm,
habe zwei Monate daran herumgeknuspert; musste auch erst mal die
medizinische Literatur ueber Lagerneurosen etc. mir ansehen, und dann
einen roten Faden fuer das Ganze finden, was nicht so selbstverstaendlich
war wie es jetzt aussieht.«98
Diesen »roten Faden« brauchte sie erst einmal ür eine Radiosendung:
Träume vom Terror. Gesammelt und kommentiert von Charloe Beradt
wurde am 21. März 1963 vom Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlt.
Andere Sender folgten; der Südwestfunk entschied sich sogar ür eine
Neuproduktion,99 vielleicht weil der WDR die kommentierende Stimme,
Charloe Beradts Part, aus unerfindlichen Gründen von einem Mann hae
sprechen lassen.
Vergleicht man den englischen Essay mit der Radiosendung, wird
schnell deutlich, warum Charloe Beradt so lange an ihrem Text
»herumknuspern« mußte. Den Essay hae sie noch mit Sigmund Freuds
Gedanken zur Traumdeutung im Hinterkopf strukturiert. Er beginnt mit
den Autoritäten, geht über zu Scham und Furcht und endet mit
unbewußten Wünschen. Die Radiosendung entfernt sich von diesem
Zugang. Von der »inneren Logik der Diktatur« ist die Rede, die den
»Menschen verschiedensten Alters und sozialen Standes« Träume
diktiere. Von einem »surrealen Mosaik, dessen Steinchen aus Elementen
der politischen Wirklichkeit bestehen«. Daher, so die Schlußfolgerung,
könne man die Träume »vom politischen Standpunkt interpretieren und
beiseite lassen, dass sie noch andre, psychologische Inhalte haben
moegen«.100 Karl Oens Vorschlag, genau mitzuteilen, wer wann was
träumte, verwarf sie damit ausdrücklich. Die Träume sagen – so wie
Beradt sie liest – wenig über individuelle Träumer aus, daür um so mehr
über eine neue und zerstörerische politische Erfahrung. Die Träumer
»erleben in ganz raetsellosen Bildern, wie zwischen Wachen und Schlafen,
von der Parabel ueber das Paradox zur Parodie, alles, was dem Individuum
von totaler Macht angetan werden kann und muss: Nicht ihre persönliche
Tragoedie, sondern Schrecklicheres; Aechtung, Entwurzelung,
Entwertung: Unterbrechung der Lebenskontinuitaet, Existenzunsicherheit
bis zu der Frage: existiert mein Ich ueberhaupt? Entpersoenlichung bis
zum Bruch der Person, denn das eben sagt die Logik der Diktatur, dass nur
total gebrochene Personen total beherrschbar sind.«101 Eine klare Absage
an Traumdeutungen. Die gesammelten Träume archivieren politische
Erfahrungen, die nur hier, in diesen Träumen, in dieser Schärfe gefaßt
werden.
Bei der Ausarbeitung des vorliegenden Buches102 ließ sich Charloe
Beradt offenbar von der Einsicht leiten, daß diese Erfahrungen – in den
richtigen Rahmen gestellt und mit angemessenen Kommentaren
versehen – lesbar werden. Viel stärker noch als in der Radiosendung
arbeitete sie daher an der Komposition der Träume, an der Anordnung von
Traum, Kommentar und Zitat. Das zeigt bereits die erste Seite, der
»Inhalt«: Elf Kapitel, wobei das letzte Kapitel »Träumenden Juden«
gewidmet wurde. Bei keinem anderen erfahren wir, wessen Träume da
präsentiert sind. Zehn Kapitel also und ein zusätzliches, das aus der
Ordnung springt. Und auch wieder nicht. Denn alle Kapitelüberschrien –
bis auf die erste – folgen demselben Schema: Zuerst ein beschreibender
Obertitel, dann ein Zitat, einem der Träume im Kapitel entnommen.
Verbunden sind sie durch die Konjunktion »oder«. Ein Buch wie ein
Gespräch, in dem zwei gleichberechtigte Stimmen – Beschreibung und
Zitat – miteinander sprechen. Die Träume sind also nicht wie Dokumente
arrangiert, sondern eher wie Stimmen, die etwas mitzuteilen haben. Aber
nur dann, wenn jemand sie richtig anordnet und sich die Zeit nimmt
ihnen zuzuhören.
Noch etwas springt ins Auge: Allen elf Kapiteln wurden jeweils zwei
Moi vorangestellt. Zitiert werden das Buch Hiob, Robert Ley, T. S. Eliot,
Hannah Arendt, Franz Kaa, Bertolt Brecht, das Evangelium des Lukas,
George Orwell, Heinrich Heine, Heinrich Himmler, Eugen Kogon, Johann
Wolfgang von Goethe, Hans Frank. Drei Nazi-Größen also, die hebräische
und die griechische Bibel, zwei große eoretiker der NS-Zeit,
Schristeller und Dichter. Eine waghalsige Mischung von Stimmen, so
könnte man sagen. Sie erzeugen keine Kakophonie, sondern eine
spannungsgeladene Vielfalt. Manchmal präsentieren die
Zitate theoretische Einsichten, manchmal setzen sie den Ton, manchmal
schreiten sie den Weg von der »Parabel ueber das Paradox zur Parodie«
aus, wie ihn Beradt in ihrer Radiosendung skizziert hae. Einmal, beim
elen und letzten Kapitel, haben sie eine ganz andere Funktion:
Ausgewählt wurden zwei Texte von Nazis, in denen das Wort »Jude« eine
Denunziation bezeichnet, die nichts zu tun hat mit einem Volk, einer
Religion, einer Kultur. Die im Kapitel arrangierten Traumsequenzen
stellen dieser ideologischen Zuschreibung etwas entgegen.
Die Anordnung der Kapitel spannt einen Bogen: Den Anfang bildet die
»Entstehungsgeschichte« des Buches, dem folgt eine Serie von Kapiteln,
die die Genese eines totalitären Regimes rekonstruieren. Das achte Kapitel
unterbricht: In ihm stehen die Handelnden im Mielpunkt. Handeln unter
totalitären Bedingungen bedeutet, nicht einverstanden zu sein. Doch
damit endet das Buch nicht. Eher im Gegenteil: Die »verhüllten« und
ebenso die »offenen Wünsche« zeigen den umgekehrten Weg, den »vom
Gegner zum Mitläufer«.103
Ohne Mitläufer können totalitäre Regimes nicht überleben. Beradts
Buch zeigt, wie Menschen zu Mitläufern werden. Wie sie sich
zurechtbiegen, ihren inneren Widerstand brechen. Das Drie Reich des
Traums – auch eine eorie totaler Herrscha.
So wurde das Buch bisher nicht gelesen. Karl Oen ging im zitierten
Brief davon aus, daß Beradt eine Facee zum »Gesamtbilde der deutschen
Traumwelt, die ein Gemisch aus Angst, Wahn, Sadismus, Masochismus,
Arroganz, Antisemitismus und Grössenwahn war«, beisteuern würde. Das
Erscheinen des Buches hat er nicht mehr erlebt;104 vielleicht häe er sein
Urteil revidiert. Bruno Beelheim, der ür die englische Fassung des
Buches105 ein Nachwort schrieb, schwebte ein ähnliches Gesamtbild vor.
Es fehlten Träume, die zeigen, was Nazis und deren Anhänger
träumten.106 Was von einem »kompleen Bild des Traumlebens im
Drien Reich«107 an Aufschlüssen zu erwarten gewesen sein könnte,
bleibt offen. Und noch etwas hat er zu bemängeln: Da die Autorin nur
»manifeste Trauminhalte« aufzeichnete, nicht aber »latente
Traumgedanken« erfragte, müsse die Lektüre der Träume in Raterei
steckenbleiben.108 Und wieder bleibt offen, welcher Erkenntnisgewinn von
einer solchen Befragung zu erwarten gewesen wäre.
Reinhart Kosellecks Initiative ist zu verdanken, daß das Buch 1981 neu
aufgelegt wurde.109 Wie aus seinem Brief an Charloe Beradt vom 30. Juni
1980 hervorgeht, teilte er »vollauf Ihre Kritik an dem Nachwort von Bruno
Beelheim«. Denn das »Schema, das Beelheim den Träumen überstülpt,
ist wirklich dogmatisch und dem politischen Befund nicht angemessen«.
In seinem Nachwort zur Neuauflage kritisiert Koselleck Beelheims
Lesart, ohne ihn zu nennen: »Es ällt auf, daß in den von Charloe Beradt
geschilderten Traumgeschichten, freudianisch gesprochen, der latente und
der manifeste Trauminhalt fast zur Deckung kommen.«110 Auch ür
Koselleck schlagen sich in diesen Träumen »unmielbare Erfahrungen des
Drien Reiches« nieder, »unbeschadet ihrer Phylogenese«111: »Die im
Traum verfremdete Wirklichkeit gewinnt eine abgründige Dimension, wie
sie aus anderen ellen nicht ermielbar ist.«112 Diese »ellen«
bedüren einer »Auslegungskunst«, um sie »an die Geschichte des
vermeintlich nur Tatsächlichen zurückzubinden«.113 Auch Reinhart
Koselleck konnte nicht sehen, daß diese »Auslegungskunst« längst im
Buch niedergelegt ist. Auch er las nur die Träume, nicht aber Beradts
Komposition, ihre Kommentare, die ausgewählten Zitate. Immerhin
wissen wir von einer Leserin, die nicht nur das »Material«, sondern auch
all das andere gelesen hat. Aufgeschrieben hat sie ihre Lektüre leider
nicht. In einem Brief Charloe Beradts heißt es, Hannah Arendt habe auf
ihren eigenen Wunsch hin das Typoskript des Buches gelesen »und ueber
den Klee gelobt (sie wuerde unerschrocken ueber den Klee tadeln), denkt
sogar ich hae [!] einen best seller – dies hat mich beruhigt, ich meine
dies Urteil – sie findet das Material faszinierend und auch, dass ich es gut
gemacht haee, so gut man nur koennte.«114
 
Anmerkungen
 1. Kapitel
Das Drie Reich des Traums –
Entstehungsgeschichte
1
   Hiob 33/15, nach der Übersetzung von Martin Luther.
2 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrscha, München 1955, S. 542 (»Das
  
zeitweilige Bündnis zwischen Mob und Elite«).
3 In der New York Times vom 23. Oktober 1965, S. 31, findet sich ein Nachruf auf Paul Tillich von
  
Philippe Halsman, wo es heißt: »e experience of Nazism was a difficult one for him to
forget. ›For months I dreamed about it, literally‹, he said later, ›and woke with the feeling that
our existence was being changed. In my conscious time I felt that we could escape the worst,
but my subconscious knew beer.‹«
4 Diese »ersten Veröffentlichungen« sind der Essay: C. Beradt, Dreams under Dictatorship, in:
  
Free World, Oktober 1943, S. 333-337; vgl. die Übersetzung in diesem Buch, S. 137-147, sowie
die Radiosendung »Träume vom Terror«, die der WDR am 21. März 1963 ausstrahlte.
5 Vgl. S. 137-147.
  
6
   In Shakespeares Macbeth, Akt 2, Szene 2, heißt es: »Methought I heard a voice cry ›Sleep no
more, / Macbeth does murder sleep‹ – the innocent sleep, / Sleep that knits up the raveled
sleeve of care, / e death of each day's life, sore labor's bath, / Balm of hurt minds, great
nature's second course, / Chief nourisher in life's feast.« (»Mir war, als rief' es: ›Schla nicht
mehr, Macbeth / Mordet den Schlaf!‹ Ihn, den unschuld'gen Schlaf; / Schlaf, der des Grams
verworr'n Gespinst entwirrt, / Den Tod von jedem Lebenstag, das Bad / Der wunden Müh', den
Balsam kranker Seelen, / Den zweiten Gang im Gastmahl der Natur, / Das nährendste Gericht
beim Fest des Lebens.«)
7 Von Georg Christoph Lichtenberg ist ein auf die »Nacht vom Ostersonntag 1792« datierter
  
Traum überliefert, bei dem er »lebendig verbrannt werden sollte. Ich war sehr ruhig dabey,
welches mich beym Erwachen nicht freute.« Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen. Nach
den Handschrien hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1908, S. 153. Friedrich Hebbel notierte
einen Traum, in dem er »einem toten Menschen [begegnet], der sein Geisterleben auf Erden in
einem hölzernen Körper fortührte«. Am 25. April 1847 findet sich der Träumer in »einem
uralten Brunnen von unabsehbarer Tiefe, d. h. oben innerhalb des Geländers auf einem Balken;
dieser Brunnen war aber eigentlich eine Uhr, Räder gingen, wie die grünlichen Wasser flossen,
Gewichte stiegen auf und nieder, ich mußte alle Augenblicke meinen Platz verändern, wenn
ich nicht zerquetscht oder in die Tiefe hinabgestoßen werden wollte.« Friedrich Hebbel,
Tagebücher, Berlin 1913, Bd. I, S. 368; Bd. III, S. 235.
8 In einem auf den Herbst 1914 datierten Traum, »Die Nationalhymne« überschrieben, kommt
  
der Träumer in Wieland Herzfeldes Traumbuch auf einen Hof, durch den »die Eisenbahn ährt
(gerade wie die Stadtbahn kurz vorm Savigny-Platz in Charloenburg)«: »Langsam, als könne
er nicht mehr recht, ährt ein Zug, der nicht enden will, über den Hof. Er kommt von der
Front, überüllt mir Kriegsgefangenen. Die hängen wie Fledermäuse an allen Stangen und
Griffen, Netzen und Türen der Waggons, starr, zusammengekramp, leblos. Ich begreife: auf
der Fahrt erfroren. Und das hungrige Volk reißt sich diesen und jenen herunter, zerschlägt ihn
mit Beilen unter Fluchen und Streiten und schleppt sich die besten Stücke der Beute nach
Hause.« Wieland Herzfelde, Tragigrotesken der Nacht, Berlin 1920, S. 29.
9 Sigmund Freuds Traumdeutung war 1899, vordatiert auf das Jahr 1900, erschienen.
  
10
   Vgl. Jean Paul, Herbst-Blumine oder gesammelte Werkchen aus Zeitschrien, in: Jean Paul,
Sämtliche Werke. Hist. krit. Ausgabe hg. von Eduard Berendt, Berlin/Weimar 1927ff., Repr.
Akademie-Verlag, Berlin 1996ff., Bd. I/17, S. 236.
11 Jean Paul, »Blick in die Traumwelt, § 5, Wunderbarer Übergang vom Schlafe ins Bewußtsein
  
und von dem träumerischen in das wache«, in: ebd., Bd. I/16, S. 138f: »So grei tiefer Traum
und durchsichtiges Schein-Träumen, Festes und Flüchtiges unaualtbar und sinnlos
durcheinander, und der arme Geist, welcher zu beherrschen und sich zu besinnen glaubt, wird
von zwei Wellen zwischen den Ufern zweier Welten geworfen.«
12 Bruno Beelheim, der 1938 im Konzentrationslager Dachau inhaiert war, schrieb das
  
Nachwort ür die englische Ausgabe von Charloe Beradts Buch; vgl. Charloe Beradt, e
ird Reich of Dreams. Translated by Adriane Gowald, Chicago 1968, S. 150-170. Bereits 1943
hae er einen Essay über »Individual and Mass Behavior in Extreme Situations« geschrieben,
der im Journal of Abnormal and Social Psychology erschienen war.
13 Hannah Arendt und Heinrich Blücher gaben 1947 ür den Schocken-Verlag eine – leider bis
  
heute viel zu wenig beachtete – Ausgabe von Kaas Parabeln heraus, die Charloe Beradt
sicher kannte. Vgl. Franz Kaa, Parables. In German and English, New York 1947.
14 Hiob 33/15.
  
15
   Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrscha, München 1955, S. 542 (»Das
zeitweilige Bündnis zwischen Mob und Elite«).
16 Hiob 33/15.
  
 2. Kapitel
Der Umbau der Privatperson oder
»Das wandlose Leben«
17
   omas Stearns Eliot, e Waste Land, New York 1922, Zeile 30. (»Ich zeig dir die Angst in
einer Handvoll Staub.« T. S. Eliot, Das öde Land, übertragen von Norbert Hummelt, Berlin 2008.
S. 11).
18 Hannah Arendt, Ursprünge und Elemente totaler Herrscha, München 1955, S. 749: »Totalitäre
  
Herrscha wird wahrha total in dem Augenblick – und sie pflegt sich dieser Leistung auch
immer gebührend zu rühmen –, wenn sie das privat-gesellschaliche Leben der ihr
Unterworfenen in das eiserne Band des Terrors spannt.«
19 Hauptwerk von Mahias Grünewald, zwischen 1512 und 1516 erschaffen. Beim Isenheimer
  
Altar handelt es sich um einen Wandelaltar in drei Teilen aus dem Antoniterkloster in
Isenheim, ausgestellt im Museum Unterlinden in Colmar.
20 Ein Geßlerhut ist redensartlich eine Einrichtung, deren Zweck die öffentliche Erzwingung
  
untertänigen Verhaltens ist. Nach der Legende ließ Hermann Geßler (fiktiver Reichsvogt in
Schwyz und Uri) in Altdorf einen Hut aufstellen, den jeder Vorbeikommende zu grüßen hae.
Wilhelm Tell versäumte es, diesen Gruß auszuühren, und wurde deshalb zu jenem Apfelschuß
gezwungen, der im Mielpunkt von Friedrich Schillers Darstellung der Gründungssage der
Schweiz in seinem Drama Wilhelm Tell steht.
21 Dem griech. Mythos nach eine Seherin. Erste schriliche Erwähnung im Singular bei Heraklit.
  
Danach bei Platon, Aristophanes und Euripides im Plural.
22 Vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch von Hermann Diels, Bd. 1, Berlin,
  
1922, S. 77-102, hier S. 95: »Die Sibylle, die mit rasendem Munde Ungelachtes und
Ungeschminktes und Ungesalbtes redet, [reicht mit ihrer Stimme durch tausend Jahre.] Denn
der Go treibt sie.«
23 Wolfgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte, 1. Akt, 12. Auri:
  
   »Papageno von aussen am Fenster, ohne gleich gesehen zu werden. Vorige.
Papageno:
Wo bin ich wohl? wo mag ich seyn?
Aha! da find ich Leute;
Gewagt! ich geh herein.
geht herein
Schön Mädchen, jung und fein,
Viel weisser noch als Kreide.
Monostatos und Papageno sehen sich, – erschrecken einer über den andern.
Beyde:
Hu! Das – ist – der – Teuf – el – sich – er – lich!
Hab Mitleid, und verschone mich!
Hu! Hu! Hu!
laufen beyde ab.«
24
   Am 6. September 1940 notiert eodor Haecker: »Ich habe zuzeiten phantastische Träume, die
mir aber meist rasch entfallen oder überhaupt nicht einfallen. Heute nachmiag träumte mir:
ich sitze vor dem Café Luitpold und schreibe. Meine Manuskriptbläer liegen auf dem Tisch
herum wie nachts zu Hause, wenn ich zu schreiben pflege. Freunde stehen herum mit
unbeweglichen Gesichtern und sehen mich an. Plötzlich springt ein elegant gekleideter Mann
von südländischem Typus hastig auf mich zu und will nach den Manuskriptbläern greifen.
Ich wehre mich erstaunt. Dann schreit ein anderer, ebenso elegant gekleideter Herr: Halt! Der
ist's nicht! Wendet sich höflich zu mir: Entschuldigen Sie, dieser Herr hat Geschichten bestellt
bei Moralla. Können Sie uns sagen, wo der wohnt? Ja, im vierten Stock, sage ich. Sie eilen in
den Hof, der plötzlich da ist. In der Hand des einen sehe ich eine Pistole, in der des andern
einen langen Dolch. Ich erschrecke, lache aber verlegen auf. Die Freunde, unbeweglichen
Gesichts, starren mich an. […] Mein Go, wo sind wir, wenn wir schlafen?« eodor Haecker,
Tag- und Nachtbücher 1939-1945, mit einem Vorwort hg. von Heinrich Wild, München 1947,
S. 149f.
25 Georg Orwells Roman 1984 erschien 1949.
  
26
   Schillers Drama Don Carlos, entstanden 1783-1787. Schiller verarbeitet darin politische
Konflikte, u. a. die Anänge des Achtzigjährigen Krieges zwischen den Niederlanden und
Spanien sowie Intrigen am Hof von König Philipp II. (1556-1598).
27 Kommentare der Autorin innerhalb der Traumtexte wurden in eckige Klammern [ ] gesetzt.
  
28
   Ein Lied und Kreisspiel:
    »Ist die schwarze Köchin da?
Nein, nein, nein!
Dreimal muß ich 'rummarschier'n,
das viertemal den Kopf verlier'n.
Das ünemal: komm mit!
Ist die schwarze Köchin da?
Ja, ja, ja.
Da geht sie ja, da steht sie ja,
die Köchin aus Amerika!
Zisch, zisch, zisch!«
Das Lied wurde während eines Kinderspiels gesungen: Ein Kind lief um den Kreis, den die
anderen Kinder bildeten. Wenn das Kind, das um den Kreis herumlief, ein anderes im Kreis
berührte, lief dieses dann mit um den Kreis herum. Das Kind, das zum Schluß übrig blieb, war
»die schwarze Köchin«.
29 Im 13. Kapitel des zweiten Buchs von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1782) lauscht der
  
Protagonist dem »Lied des Harfners«:
    »Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
wer nie die kummervollen Nächte
auf seinem Bee weinend saß,
der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Ihr ührt ins Leben uns hinein,
ihr laßt den Armen schuldig werden,
dann überlaßt ihr ihn der Pein;
denn alle Schuld rächt sich auf Erden.
Ihm ärbt der Morgensonne Licht
den reinen Horizont mit Flammen,
und über seinem schuld'gen Haupte
bricht das schöne Bild der ganzen Welt zusammen.«
30
   Vgl. Franz Kaa, »In der Straolonie«, in: Franz Kaa, Schrien, Tagebücher, Briefe. Kritische
Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kiler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann,
Frankfurt am Main 1994, S. 201-248, hier S. 212.
31 Vgl. Albrecht Schaeffers Geschichte »Die Verwechselung«, die 1950 in der Neuen Rundschau
  
61/4 erschien.
32 »Die Fahne hoch!
  
   Die Reihen fest (dicht/sind) geschlossen!
SA marschiert
Mit ruhig (mutig) festem Schri
|: Kam'raden, die Rotfront und Reaktion erschossen,
Marschier'n im Geist
In unser'n Reihen mit:|
Die Straße frei
Den braunen Bataillonen
Die Straße frei
Dem Sturmabteilungsmann!
|: Es schau'n aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen
Der Tag ür (der) Freiheit
Und ür Brot bricht an:|
Zum letzten Mal
Wird Sturmalarm (/-appell) geblasen!
Zum Kampfe steh'n
Wir alle schon bereit!
|: Schon (Bald) flaern Hitlerfahnen über allen Straßen (über Barrikaden)
Die Knechtscha dauert
Nur noch kurze Zeit!:|«
33
   »Die Zerstörung der Pluralität, die der Terror bewirkt, hinterläßt in jedem einzelnen das
Geühl, von allen ganz und gar verlassen zu sein. […] Die Grunderfahrung menschlichen
Zusammenseins, die in totalitärer Herrscha politisch realisiert wird, ist die Erfahrung der
Verlassenheit.« Hannah Arendt, Ursprünge und Elemente totaler Herrscha, München 1955,
S. 749f.
 3. Kapitel
Bürokratische Greuelmärchen oder
»Ich finde an nichts mehr Freude«
34
   Franz Kaa, »In der Straolonie«, in: Franz Kaa, Schrien, Tagebücher, Briefe. Kritische
Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kiler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann,
Frankfurt am Main 1994, S. 201-248, hier S. 204f.
35 Bertolt Brecht, »An die Nachgeborenen«, in: Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und
  
Frankfurter Ausgabe, Bd. 12, Gedichte 2. Sammlungen 1938-1956, hg. von Werner Hecht, Jan
Knopf, Werner Mienzwei und Klaus-Detlef Müller, Berlin/Weimar/Frankfurt am Main 1988,
S. 85-87, hier S. 85.
36 Brecht schrieb sein Gedicht »An die Nachgeborenen« zwischen 1934 und 1938 im dänischen
  
Exil.
37
   Vgl. André Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Deutsch von Ruth Henry, Hamburg 102001,
S. 18 (»Erstes Manifest des Surrealismus«, 1924): »Von dem Augenblick an, da der Mensch
einer methodischen Befragung unterworfen wird; wo es durch noch zu bestimmende Miel
gelingt, den Traum in seiner Integrität wiederzugeben (und das bedarf einer Disziplinierung
des Gedächtnisses, die sich über Generationen erstreckt; beginnen wir trotzdem damit, die
hervorstechendsten Tatsachen zu registrieren); und von dem Augenblick an, da seine Kurve
sich regelmäßig und in einer Dimension ohnegleichen entwickeln wird, darf man hoffen, daß
die Geheimnisse – die keine sind – dem großen Geheimnis, dem Mysterium weichen werden.
Ich glaube an die künige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum
und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach
ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen
Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen.«
38 Der Völkische Beobachter war von Dezember 1920 bis zum 30. April 1945 das publizistische
  
Parteiorgan der NSDAP. Die Zeitung erschien zunächst zweimal wöchentlich, ab dem
8. Februar 1923 täglich im Franz-Eher-Verlag, München.
39 »Hypnopädie«, eine Methode zum Lernen im Schlaf, wird in Aldous Huxleys dystopischem
  
Roman Schöne neue Welt (Brave New World, 1932) zur Konditionierung von Kindern eingesetzt.
 4. Kapitel
Der Alltag in der Nacht oder
»Damit ich mich selbst nicht verstehe«
40
   Lukas 12, Vers 3.
41 George Orwell, Neunzehnhundertvierundachtzig, aus dem Englischen von Kurt Wagenseil,
  
Zürich 1950. In der Übersetzung der deutschen Erstausgabe heißt es: »Es bestand natürlich
keine Möglichkeit festzustellen, ob man in einem gegebenen Augenblick gerade überwacht
wurde. Wie o und nach welchem System die Gedankenpolizei sich in einen Privatapparat
einschaltete, blieb der Mutmaßung überlassen. Es war sogar möglich, daß jeder einzelne
ständig überwacht wurde. Auf alle Fälle aber konnte sie sich, wenn sie es wollte, jederzeit in
einen Apparat einschalten. Man mußte in der Annahme leben – und man stellte sich
tatsächlich instinktiv darauf ein –, daß jedes Geräusch, das man machte, überhört und, außer
in der Dunkelheit, jede Bewegung beobachtet wurde.«
42 Big Brother ist der Name des Diktators in George Orwells Roman
  
Neunzehnhundertvierundachtzig.
43 Gemälde von Raffael, entstanden 1512/1513, Gemäldegalerie Dresden. Der nach oben
  
gerichtete Blick der beiden Engel wird in der Kunstgeschichte immer wieder diskutiert.
44 In Anlehnung an »l'art pour l'art« (die Kunst der Kunst wegen). Diese Variante taucht auch in
  
der frz. Literatur des 19. Jahrhunderts auf.
45 Vgl. das 1. Buch Mose 11, »Turmbau zu Babel«.
  
46
   Vgl. Caesar Carena, Tractatus de Officio sanctissimae Inquisitionis, Lyon 1659, S. 322: »Spricht
jemand im Traum Ketzereien aus, so sollen die Inquisitoren daraus Anlaß nehmen, seine
Lebensührung zu untersuchen, denn im Schlafe pflegt das wiederzukommen, was untertags
jemand beschäigt hat.«
47 Nicht ermielt. Vielleicht zitiert Beradt aus einem Prozeßbericht in der Tageszeitung Die Welt.
  
 5. Kapitel
Der Nicht-Held oder »Und sage kein Wort«
48
   Erste Strophe von Bertolt Brechts »Ballade von der Billigung der Welt« (1932), in: Bertolt
Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 11, Gedichte 1. Sammlungen
1918-1938, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mienzwei und Klaus-Detlef Müller,
Berlin/Weimar/Frankfurt am Main 1988, S. 239-243, hier S. 239.
49 Die 23. Strophe aus Heinrich Heines »Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen« (1854).
  
Vgl. Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr,
Hamburg 1992, Bd. 3/1, S. 228.
50 »Der Traum ein Leben. Dramatisches Märchen« von Franz Grillparzer (1840); 1834 im
  
Burgtheater Wien uraufgeührt.
51 Vgl. George Grosz, Ein kleines Ja und ein großes Nein, Hamburg 1955, S. 217f. Am Ende des
  
Traums heißt es: »Was ist denn das? Der bärtige Mann dort – ja, Herrgo noch einmal, das ist
aber wirklich die Höhe – wir nach mir mit großen Kohlenstücken! Ist ja toll, wo hat er die
nur her? In hohem Bogen kommen sie angeflogen, wie mit der Schleuder, und der Mann, der
sie wir und übrigens noch dazu lacht, sieht genau aus wie Lenin. Oder ist es etwa Eduard
Fuchs, der sogenannte Sienfuchs und Daumierkenner? (›Wisse Se, der Daumier, der Daumier,
der fing – hajo, der fing an bei die Naas, haha – hajo, bei die Naas hat der ang'fange …‹) Ich
will ihm gerade zurufen: ›Hör mal‹, will ich rufen, ›hör mal, Eduard, laß doch das, hier mit
Kohlenstücken zu werfen‹ – aber in dem Augenblick ändern sich Eduards Gesichtszüge, und es
ist nicht mehr der Sienfuchs, sondern Kurt Birr, und Kurt ru mir laut und deutlich zu, ich
höre es noch: ›Warum gehst Du nicht nach Amerika?‹«
52 Vgl. Fjodor Dostojewski, »Der Traum eines lächerlichen Menschen. Phantastische Erzählung«,
  
aus dem Russischen von Hermann Röhl, in: Kleine Prosa, Leipzig 1985, S. 313-335.
53 Vgl. Karl Valentin, I sag gar nix. Dös wird man doch noch sagen dürfen! Politische Sketche,
  
München 1994.
54 Wie zum Beispiel in James Joyces Finnegans Wake (1939).
  
55
   Gedankengut, das Zwietracht sät oder anderen Schaden anrichtet.
 6. Kapitel
Der Chor oder
»Da kann man nichts machen«
56
   Achtundzwanzigste Strophe von Bertolt Brechts »Ballade von der Billigung der Welt« (1932)
in: Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 11, Gedichte
1. Sammlungen 1918-1938, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mienzwei und Klaus-
Detlef Müller, Berlin/Weimar/Frankfurt am Main 1988, S. 239-243, hier S. 243.
   »Ich sah die Mörder und ich sah die Opfer
Und nur des Muts und nicht des Mitleids bar
Sah ich die Mörder ihre Opfer wählen
Und schrie: Ich billige das, ganz und gar!«
57
   Franz Kaa, »Unglücklichsein«, in: Franz Kaa, Schrien, Tagebücher, Briefe. Kritische
Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kiler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann,
Frankfurt am Main 1994, S. 33-40, hier S. 38f.
58 Diese Formulierungen lassen sich in Karl Jaspers' Schrien nirgendwo nachweisen. Ich danke
  
Kirsten Graupner, Wissenschaskolleg zu Berlin, ür ihre gründliche Recherche.
59 Automobilmarke.
  
60
   Vgl. hps://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/exponat-plakat-spd-193233.html.
 7. Kapitel
Doktrinen machen sich selbständig oder
»Die Dunkelhaarigen im Reich der Blonden«
61
   »Es geht nicht mehr darum, ob blaue Augen, blondes Haar und 1,70 m wirklich die Garantie
ür überlegene Eigenschaen bieten, sondern darum, daß man mit diesem wie mit einem
anderen Miel Menschen organisieren und zu bestimmten Handlungen bringen kann, bis dies
wirklich der entscheidende Unterschied zwischen Menschen wird und sich niemand mehr
besinnen kann, ob dies je fraglich war, und niemand mehr Gelegenheit hat, sich zu besinnen,
ob diese Unterscheidung sinnvoll ist oder sinnlos.« Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge
totaler Herrscha, München 1955, S. 615. »Diese anscheinend kleine, in Wahrheit
entscheidende Operation des Ernstnehmens ideologischer Meinungen haben alle erfahrenen
Beobachter totalitärer Bewegungen darum unterschätzt, weil sie wie Demagogie zum Zwecke
der Volksversammlung aussah.« Ebd., S. 743.
62 In den gedruckten Reden Heinrich Himmlers nicht nachweisbar.
  
63
   Vgl. Franz Kaa, »Vor dem Gesetz«, in: Franz Kaa, Schrien, Tagebücher, Briefe. Kritische
Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kiler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann.
Frankfurt am Main 1994, S. 267-269.
64 Ein Vers aus der vierten Strophe von Detlev von Liliencrons Gedicht »Heimgang in der Frühe:
  
»Sieht mein Sehnen nur / Blond und blaue Farben? Himmelsrot und Grün / Samt den andern
starben.« Vgl. Detlev von Liliencron, Bunte Beute, Berlin/Leipzig 1903, S. 64f., hier S. 64.
 8. Kapitel
Handelnde Personen oder
»Man muß nur wollen«
65
   »Ob die seelische Verarbeitung des Lagers gelang, war nicht in erster Linie eine Frage der
sozialen Herkun und der gesellschalichen Stellung, denen jemand vorher angehört hae,
sondern hing fast ausschließlich von der Stärke des Charakters und vom Vorhandensein oder
Fehlen religiöser, politischer, humanitärer Zielvorstellungen ab.« Eugen Kogon, Der SS-Staat.
Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974, S. 370. Das Buch war 1946 in
mehreren Verlagen der westlichen Besatzungszonen sowie bei Bermann Fischer in Stockholm
erschienen.
66 Aus den Schlußworten Egmonts in Johann Wolfgang Goethes gleichnamigem Drama (1788).
  
67
   Das Symbol des steilen Bergs und des Abgrunds ist aus berühmten politischen Träumen
bekannt; aus einem Traum von Madame Jullien während der Französischen Revolution und
aus einem Traum von Bismarck zum Beispiel. (Anmerkung von Charloe Beradt) Vgl. Madame
Jullien, »An den Sohn« (Paris, 1. Juni 1792), in: Briefe aus der Französischen Revolution, hg. von
Gustav Landauer, Bd. 1, Frankfurt am Main 1919, S. 368f.: »Ein Traum, ein Nichts, alles ängstet
uns, wenn es um das geht, was man liebt. Mein Sohn, mir hat heute nacht geträumt, daß wir,
Dein Bruder, Du und ich, beim blassen ziernden Schimmer des Mondes am Rand eines
Abgrunds gingen; da ich in der Gefahr nichts Heilsameres kenne als Unverzagtheit und
Kaltblütigkeit, sage ich mutig zu Euch: Geht festen Schries, Kinder, aber geht weiter. Ein
falscher Tri, den Du machtest, stürzte Dich vor meinen Augen 100 Fuß tief hinab. Ich rufe um
Hilfe, ich lege mich auf den Felsen, der fast senkrecht abällt; ich lasse mich mit ganzer Kra
hinabgleiten und komme fast gleichzeitig mit Dir auf dem Boden des Abgrundes an, ohne auch
nur betäubt zu sein. Ich hebe dich auf, Du bist ganz zerquetscht, aber voller Leben und Mut.
Zwei Männer, die mir gefolgt sind, nehmen Dich auf ihre Arme und tragen Dich nach oben,
indem sie einen Pfad hinaufsteigen, der so steil ist, daß Menschenfuß ihn niemals beschrien
hat. Ich ging mühsam hinter der Gruppe her. Die Muerliebe gab mir die Kra eines Herkules,
und die Freude, auf dem Gipfel anzulangen, erweckt mich; ich bin von Schweiß bedeckt und
keuche vor Freude. Ich konnte nicht wieder einschlafen, so hae die Aufregung dieses Traums
all meine Lebensgeister geweckt. Sollte er prophetisch sein? Droht Dir eine Gefahr?
   Mein liebes Kind, ich sehe die Jugend immer an Vulkanen, an Abgründen und am Schlund der
Leidenschaen Deiner Jahre gehen. Urteile über meine Gedanken! Ich flehe Dich an, im
Namen Deiner Muer, wache über meinen Sohn. Ich wiederhole Dir, so o Du es willst, das
einzige Wort, mit dem alles gesagt ist: ein weises Mißtrauen möge das Auge Deines Gewissens
bei jedem Deiner Schrie wach halten …« Und ferner Bismarcks Brief an Wilhelm I. vom
18. Dezember 1881. Vgl. Oo Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Neue Ausgabe,
Bd. II Stugart/Berlin 1922, S. 222f: »Eurer Majestät danke ich ehrfurchtsvoll ür das
huldreiche Handschreiben. Ich glaube doch, daß der Traum das Ergebnis nicht grade meines
vorhergehenden Vortrages, aber doch der Gesammtheit der Eindrücke der letzten Tage, auf
Grund der mündlichen Berichte von Pukamer, der Zeitungsartikel und meines Vortrags war.
   Die Bilder des Wachens tauchen im Spiegel des Traumes nicht sofort, sondern erst dann
wieder auf, wenn der Geist durch Schlaf und Ruhe still geworden ist. Eurer Majestät
Miheilung ermuthigt mich zur Erzählung eines Traumes, den ich Frühjahr 1863 in den
schwersten Conflictstagen hae, aus denen ein menschliches Auge keinen gangbaren Ausweg
sah. Mir träumte, und ich erzählte es sofort am Morgen meiner Frau und andern Zeugen, daß
ich auf einem schmalen Alpenpfad ri, rechts Abgrund, links Felsen; der Pfad wurde schmaler,
so daß das Pferd sich weigerte, und Umkehr und Absitzen wegen Mangel an Platz unmöglich;
da schlug ich mit meiner Gerte in der linken Hand gegen die glae Felswand und rief Go an;
die Gerte wurde unendlich lang, die Felswand stürzte wie eine Coulisse und eröffnete einen
breiten Weg mit dem Blick auf Hügel und Waldland wie in Böhmen, Preußische Truppen mit
Fahnen und in mir noch im Traume der Gedanke, wie ich das schleunig Eurer Majestät melden
könnte. Dieser Traum erüllte sich, und ich erwachte froh und gestärkt aus ihm.«
68 Inge Scholl, Die Weiße Rose, Frankfurt am Main 1993, S. 60.
  
 9. Kapitel
Verhüllte Wünsche oder
»Endstation Heil«
69
   Franz Kaa, »Ein Bericht ür eine Akademie«, in: Franz Kaa, Schrien, Tagebücher, Briefe.
Kritische Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kiler, Hans-Gerd Koch und Gerhard
Neumann. Frankfurt am Main 1994, S. 299-313, hier S. 311.
70 Zu finden in Plutarchs Parallelbiographie von Dion und Brutus im Kapitel neun, wobei es
  
Dionys selbst ist, der Marsyas zum Tode verurteilt. Wenn er von diesem Mord träume, dann sei
er wohl auch ähig, ihn im Wachen auszuühren.
71 »Ballade vom angenehmen Leben«, in: Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und
  
Frankfurter Ausgabe, Bd. 11, Gedichte 1. Sammlungen 1918-1938, hg. von Werner Hecht, Jan
Knopf, Werner Mienzwei und Klaus-Detlef Müller, Berlin/Weimar/Frankfurt am Main 1988,
S. 142f., hier S. 143.
 10. Kapitel
Offene Wünsche oder
»Den wollen wir dabeihaben«
72
   Franz Kaa, »Ein Bericht ür eine Akademie«, in: Franz Kaa, Schrien, Tagebücher, Briefe.
Kritische Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kiler, Hans-Gerd Koch und Gerhard
Neumann. Frankfurt am Main 1994, S. 299-313, hier S. 303.
73 Dem nationalsozialistischen Schristeller Dietrich Eckart zugeschriebene Äußerung.
  
 11. Kapitel
Träumende Juden oder
»Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz«
74
   Hans Frank auf einem Banke der Sicherheitspolizei am 20. Dezember 1941: »Kameraden der
Polizei! Als ihr von der Heimat Abschied nahmt, da mag manche besorgte Muer, manche
besorgte Gain zu euch gesagt haben: Was, zu den Polen gehst du, wo es lauter Läuse und so
viele Juden gibt? Man kann natürlich in einem Jahr nicht sämtliche Läuse und Juden
hinaustreiben, das wird im Laufe der Zeit geschehen müssen.« Zitiert in: Léon Poliakov / Josef
Wulf, Das Drie Reich und die Juden, Wiesbaden 1955, S. 180.
75 Die Rede Heinrich Himmlers findet sich in: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, hg.
  
von Walther Hofer, Frankfurt am Main 1957, S. 280.
76 Johannes Brahms, Ein deutsches Requiem, op. 45 N°6.
  
77
   Titel von Emile Zolas offenem Brief an den damaligen Präsidenten der französischen Republik
Félix Faures vom 13. Januar 1898, in dem Zola auf den Justizskandal um den – jüdischen –
Hauptmann Alfred Dreyfus hinwies, der trotz erwiesener Unschuld auf die Teufelsinsel
verbannt worden war.
78 Samuel Becke: Endspiel (1956), ein einaktiges Drama. In einem Raum befinden sich die
  
Protagonisten Hamm, sein Diener Clov und Hamms Eltern, Nagg und Nell, die beinlos in zwei
Mülltonnen dahinvegetieren.
79 Hellsichtigkeit.
  
80
   Anonymes deutschsprachiges Volksbuch vom Ewigen Juden (Leiden, 1602). Nachdem Ahasver
dem kreuztragenden Jesus verweigert, vor seiner Haustür zu ruhen, entgegnet ihm der zum
Tode Verurteilte: »Ich will stehen und ruhen, du aber sollst gehen!« Das ist der Fluch, der
Ahasver zur Figur des ewigen/wandernden Juden macht.
81 »Auf der Flucht vor meinen Landsleuten / Bin ich nun nach Finnland gelangt. Freunde / Die
  
ich gestern nicht kannte, stellten ein paar Been / In saubere Zimmer. Im Lautsprecher / Höre
ich die Siegesmeldungen des Abschaums. Neugierig / Betrachte ich die Karte des Erdteils.
Hoch oben in Lappland / Nach dem Nördlichen Eismeer zu / Sehe ich noch eine kleine Tür.«
Das Gedicht ist unter der Nummer 8 in der »Steffinschen Sammlung« aufgeührt. Vgl. Bertolt
Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 12, Gedichte 2. Sammlungen
1938-1956, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mienzwei und Klaus-Detlef Müller,
Berlin/Weimar/Frankfurt am Main 1988, S. 98.
82 Nach einem Text von Joseph von Eichendorff, vertont von Felix Mendelssohn Bartholdy.
  
83
   Max Hansen: »Jetzt geht's der Dolly gut« (1929). Eine historische Aufnahme mit Willi Kolle ist
auf Youtube zu hören: hps://www.youtube.com/watch?v=XlgyblfEOgQ. (3. 5. 2016)
  
»Vor'ges Jahr, genau um diese Zeit war ich verlobt, was bin ich heut?
Meine Freundin Dolly war sehr ne, da neulich las ich in der B. Z.:
Jetzt geht's der Dolly gut, sie sitzt in Hollywood an einem Tisch mit Lilian Gish.
Sie kennt den Harold Lloyd, sie kennt den Conrad Veidt.
Wen kennt se nich? Ich glaube mich!
Dabei hab ich ihr hundert Mark geschenkt, damit sie immer, immer an mich denkt.
Jetzt geht's der Dolly gut, sie sitzt in Hollywood, in USA, und ich steh' da!
Dolly schrieb an Chaplin einen Brief: ›Heirate mich!‹ Du lachst Dich schief!
›Scheiden lassen wir uns in nem Jahr, und dann bin ich ein großer Star!‹
Jetzt geht's der Dolly gut, die lebt in Hollywood an einem Tisch mit Lilian Gish.
Sie kennt den Harold Lloyd, sie kennt den Conrad Veidt.
Wen kennt se nich? Ich glaube mich!
Dabei hab ich ihr hundert Mark geschenkt, damit sie immer, immer an mich denkt.
Jetzt geht's der Dolly gut, sie lebt in Hollywood, in USA, und ich steh' da!
Alles rennt mir jetzt die Wohnung ein und fragt: ›Wo mag bloß die Dolly sein?‹
Jeder möcht ein Autogramm von ihr, besonders der Herr Gerichtsvollzieh'r.
Der hat ne Holly-Wut, er kennt die Dolly gut.
Der hasst den Tisch mitsamt der Gish, der hasst den Harold Lloyd, der hasst den Conrad Veidt,
wen hasst der nich? Ich glaube mich.
Dabei hab ich ihm keine Mark geschenkt, damit er immer an die Dolly denkt.
Jetzt geht's der Dolly gut, sie sitzt in Hollywood, in USA, und ich steh' da!«
84
   Friedrich Rückert: »Aus der Jugendzeit« (vermutlich 1818 verfaßt, 1831 erstmals gedruckt).
Vgl. Friedrich Rückerts Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Hans Wollschläger und
Rudolf Kreutner, Göingen 2000, Werke 1817-1818, S. 342f.
  
Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar;
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein einst war!
Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang,
Die den Herbst und Frühling bringt;
Ob das Dorf entlang, ob das Dorf entlang,
Das jetzt noch klingt?
Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
Waren Kisten und Kasten schwer;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War alles leer.
O du Kindermund, o du Kindermund,
Unbewußter Weisheit froh,
Vogelsprachekund, vogelsprachekund
Wie Salomo!
O du Heimatflur, o du Heimatflur,
Laß zu deinem heil'gen Raum
Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur
Entfliehn im Traum!
Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War mir voll die Welt so sehr,
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War alles leer.
Wohl die Schwalbe kehrt, wohl die Schwalbe kehrt,
Und der leere Kasten schwoll,
Ist das Herz geleert, ist das Herz geleert,
Wird's nie mehr voll.
Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt
Dir zurück, wonach du weinst;
Doch die Schwalbe singt, doch die Schwalbe singt
Im Dorf wie einst:
Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
Waren Kisten und Kasten schwer;
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War alles leer.
85
   ansta: »Wohl die Schwalbe kehrt, wohl die Schwalbe kehrt,
    Und der leere Kasten schwoll,
Ist das Herz geleert, ist das Herz geleert,
Wird's nie mehr voll.«
86
   Vgl. S. 53.
87
   Zur Rolle Karl Oens bei der Entstehung des Buches vgl. das Nachwort, S. 150.
88 Die Sendung »Träume vom Terror« wurde am 21. März 1963 vom WDR ausgestrahlt.
  
 Träume unter der Diktatur
89
   »Dreams under Dictatorship«, in: Free World, Oktober 1943, S. 333-337. Die Übersetzung grei,
wenn möglich, auf Formulierungen Charloe Beradts aus der Radiosendung zurück.
90
   In der deutschen Fassung setzte Charloe Beradt hinzu: »Als erstes das Wort ›Lord‹ – das
habe ich wohl aus Vorsicht auf englisch, nicht auf deutsch geträumt.«
 Barbara Hahn
»Ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus«
Nachwort
91
   Albert Ehrenstein, Gedichte und Prosa, hg. von Karl Oen, Neuwied 1961. Charloe Beradts
Essay, »Exil« überschrieben, findet sich auf den Seiten 30-33.
92
   Vgl. ebd., S. 30.
93
   Anspielung auf Shakespeares Macbeth, wo die Titelfigur im zweiten Akt zu Lady Macbeth
sagt: »Methought I heard a voice cry, ›Sleep no more! Macbeth does murder sleep!‹« (»Mir
war, als rief' es: ›Schla nicht mehr, Macbeth mordet den Schlaf!‹«)
94 Der Schristeller Martin Beradt, mit dem Charloe Beradt verheiratet war.
  
95
   Brief vom 7. März 1962; Deutsches Literaturarchiv Marbach (im folgenden: DLA Marbach),
Nachlaß Oen 2000.4/531.
96 Vgl. die Übersetzung des Essays in diesem Buch, S. 137-147.
  
97
   DLA Marbach, Nachlaß Oen 2000.4/250.
98 DLA Marbach, Nachlaß Oen 2000.4/531.
  
99 Vgl. ihren Brief vom 14. Januar 1964 an Ellen Oen: »Gestern bekam ich einen Brief aus
  
Baden-Baden (Suedwestfunk) dass sie die ›Traeume‹ nicht nur uebernehmen, sondern in einer
neuen Produktion machen wollen. Mit der Sache habe ich wirklich Glueck gehabt.« Ebd.
100 Typoskript ohne Titel; DLA Marbach, Nachlaß Oen 2000.4/531, S. 10.
  
101
   Ebd., S. 11.
102 Eine erste Ausgabe erschien 1966 bei der Nymphenburger Verlagsanstalt in München. Leider
  
hat der Verlag keine Unterlagen mehr aus dieser Zeit, aus denen sich entnehmen ließ, wie
genau das Buch zustande kam. Das geht aus einer E-Mail der Buchverlage LangenMüller
Herbig nymphenburger terra magica an die Verfasserin vom 12. Oktober 2015 hervor: »Leider
können wir Ihnen nicht weiterhelfen. Unser Archiv aus dieser Zeit ist mehr als mangelha.«
1981 erschien eine Neuausgabe beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main.
103 Vgl. S. 113.
  
104
   Karl Oen starb im März 1963.
105 Charloe Beradt, e ird Reich of Dreams. Translated by Adriana Gowald, with an essay
  
by Bruno Beelheim, Chicago 1968.
106 Bruno Beelheim, An Essay, in: ebd., S. 169f.: »It is thus a limitation here that no dreams of
  
ardent Nazis are included, nor of that other large group of dreamers – those who delighted in
the Nazi regime because it enabled them to take revenge on others they looked upon as
enemies.«
107 Ebd., S. 170.
  
108
   »Unfortunately, the author, who also collected these dreams, could record only the manifest
content, that is, what the dreamer spontaneously remembered, what his conscious mind was
willing to accept and ready to let others know. But behind such manifest content are the
latent dream thoughts, or one might beer say images, which appear in what is remembered
only through heavy disguise. Latent thought is accessible only through free associations or
other forms of dream interpretation. e manifest dream permits no certainty about it. We
can make certain guesses as to what it may have been, but without the free associations of the
dreamer they remain largely just that: educated guesses.« Ebd., S. 154.
109 Wie aus seinem Brief an Charloe Beradt vom 9. Juni 1980 hervorgeht, hae Koselleck bei
  
Siegfried Unseld angefragt, ob er sich eine Neuausgabe des Buches bei Suhrkamp vorstellen
könne. DLA Marbach, HS. 2008.0095.
110 Reinhart Koselleck, Nachwort, in: Charloe Beradt, Das Drie Reich des Traums, Frankfurt am
  
Main 1981, S. 128.
111 Ebd., S. 123.
  
112
   Ebd., S. 126. Auch Siegfried Unseld liest Beradts Buch als »erstaunliche ellensammlung«;
vgl. seinen Brief an die Autorin vom 6. Juli 1981; DLA Marbach, Suhrkamp Archiv.
113 Reinhart Koselleck, Nachwort, S. 126.
  
114
   Brief vom 10. Juni 1965. DLA Marbach, Nachlaß Oen 2000.4/531.

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