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Verbrechen und Schuld

bei Platon und Aristoteles


Zur Unterscheidung und Bewertung
moralischen Fehlverhaltens

Arbogast Schmitt

Der Zustand des Verbrechers: innere Versklavtheit im (falschen)


Bewusstsein absoluter Freiheit

An einer berühmten Stelle seiner Politeia beschreibt Platon den Übergang einer
bereits im Verfall begriffenen Demokratie in einen Zustand, in dem sie Gefahr
läuft, unter verbrecherische Herrscher zu geraten, und in dem schließlich sogar
die Mehrzahl ihrer Mitglieder kriminell zu werden droht. Diesen „schönen und
jugendlichen Anfang, aus dem die Tyrannis erwächst“, charakterisiert er folgen-
dermaßen:

„Ist nicht das unersättliche Streben nach dem, was die Demokratie für ihr
<eigentliches> Gut hält, auch das, was sie zerstört?“
„Und was hält sie für ihr eigentliches Gut“?
„Die Freiheit, sagte ich. Denn das kannst du doch in einer Demokratie immer
hören, dass sie das Schönste sei, und dass es sich deshalb für einen, der zur
Freiheit geboren ist, nur in ihr zu leben lohne.“ […]
„Das ist es gerade, was ich sagen wollte. Der unersättliche Anspruch da-
­rauf und die völlige Vernachlässigung alles anderen, das ist es, was sie <in
ihrem Wesen> verändert und sie in einen Zustand bringt, der zwingend
in eine Tyrannis führt. […] Denn sie wird sich – aus Durst nach diesem
ungemischten Wein – gegen ihre Regierenden wenden, wenn diese ihr […]
nicht jede Art Freiheit gewähren. […] Und auch in die Familien wird dieser
Freiheitsdrang eindringen und schließlich die allgemeine Anarchie sogar den
Tieren einpflanzen. […]“
„Zum Beispiel: Der Vater gewöhnt sich daran, genauso zu sein wie seine
Söhne und sich vor ihnen zu fürchten, der Sohn aber stellt sich dem Vater

Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 16 (2013), 23–49.


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gleich und empfindet weder Achtung noch Furcht vor seinen Eltern, er muss
ja frei sein können. […]
Und nicht nur dies: Die Lehrer fürchten sich unter diesen Verhältnissen vor
ihren Schülern und biedern sich ihnen an. Die Schüler aber haben keine
Achtung vor den Lehrern […] und überhaupt stellen sich die Jungen den
Älteren gleich und erheben überall, beim Reden und Handeln, den gleichen
Anspruch. Die Alten aber machen sich mit den Jungen gemein, machen aus
allem einen Spaß, geben sich gefällig und benehmen sich wie die Jungen,
damit sie nicht als unleidlich und herrschsüchtig gelten. Zwischen Frauen
und Männern und Männern und Frauen, was für eine Freiheit im völlig
gleichen Umgang herrscht, hätte ich beinahe zu erwähnen vergessen. […]
Und wie viel freier hier sogar das Leben der Haustiere ist, das würde niemand
glauben, der es nicht selbst erlebt hat. Denn die Hunde sind, wie man sagt,
genauso wie ihre Herrinnen, und die Pferde und Esel gehen frei und stolz
einher und rempeln jeden an, der ihnen nicht aus dem Weg geht. Und auch
alles andere ist voll von Freiheit.“ […]
„Der Hauptpunkt von all dem, wenn man es zusammennimmt, – begreifst
du, wie es die Seele der Bürger zart macht, so dass sie gleich unwillig werden
und es nicht ertragen, wenn einer ihnen einen auch noch so kleinen Druck
auflegen will? Und zuletzt weißt du ja, dass sie sich auch um die Gesetze nicht
mehr kümmern, geschriebene oder ungeschriebene, damit auf keine Weise
irgendeiner Herr über sie sei.“  (R. VIII 562b–563e)

Wenn man solche Sätze von Platon hört, könnte man denken, und viele haben
so gedacht, dass er eine Gesellschaft nur dann für gut hält, wenn es in ihr eine
streng hierarchische Ordnung gibt und der freien Selbstbestimmung der Einzel-
nen möglichst wenig Raum gelassen wird. Popper war überzeugt, Platon habe
ein solches, angeblich gesetzmäßiges Niedergangsszenario nur erfunden, um sei-
ne Theorie einer totalitären Gerechtigkeit rechtfertigen zu können, Derrida geht
in seiner Abhandlung über die amerikanische Vorstellung von Schurkenstaaten
mit Platon davon aus, dass eine demokratische Freiheit die Tendenz hat, in eine
völlige Unterdrückung von Freiheit umzuschlagen. Er hält diese Tendenz aber
für ein unvermeidliches Moment jeder Demokratie. Freiheit sei immer nur als
unbedingte Freiheit erstrebbar. Der Wille, die eigene Freiheit zu behaupten, führe
mit geradezu tragischer Notwendigkeit zur Unterdrückung und moralischen Dis-
kreditierung des anderen – anderer Staaten ebenso wie anderer Menschen.

. S. K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I: Der Zauber Platons, Bern 1957 (engl.
1945).
. J. Derrida, Schurken. Aus dem Französischen von H. Brühmann, Frankfurt a. M. 2003.
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In Platons Augen ist diese Tendenz zur illegitimen und schließlich verbreche-
rischen Unterdrückung des anderen keine unvermeidliche Folge des Freiheitsbe-
griffs, sondern Folge eines unkritisch gebildeten, oberflächlichen, aber in dieser
Oberflächlichkeit gefährlichen Begriffs von Freiheit.
Platons Hauptthese, die der zitierte Text schon andeutet, ist, dass es gerade
die Meinung ist, Freiheit sei etwas Unbedingtes, die die Tendenz begünstigt, dass
das demokratische Freiseinwollen in eine private oder staatliche Schreckensherr-
schaft umschlägt. Denn ‚unbedingt‘ heißt ja: sich bei der Behauptung der eigenen
Freiheit nach nichts richten zu müssen, und das heißt, wie Platon diagnostiziert,
zu meinen, überhaupt keine Unterschiede mehr anerkennen zu müssen, auch
nicht unter dem, was für den Menschen gut und angenehm und daher erstre-
benswert ist. Das muss dazu führen, dass jede Beeinträchtigung des eigenen Wol-
lens als Zwang, als Einschränkung der Möglichkeit, frei sich selbst zu bestimmen,
empfunden wird.
In der Phase, in der sich eine solche Denkweise im Einzelnen oder in einer
Gesellschaft entwickelt und ausbreitet, entsteht nach Platon zunächst zu Recht ein
Gefühl großer Freiheit (R. 557b–562a). Denn das Maß des Handelns ist dann das,
was der Einzelne authentisch und unmittelbar als angenehm und erstrebenswert
erfährt. Es sind die eigene Erfahrung und das eigene Fühlen, die die Norm des
Handelns abgeben, keine nur übernommenen und nicht selbst geprüften Ehrbe-
griffe, Verhaltensmuster und dergleichen. Und in der Tat gibt es sehr viel Schö-
nes, Angenehmes, Erstrebenswertes, das unmittelbar erfahren und erlebt werden
kann, das in Gesellschaften unterdrückt wird, die die freie Entscheidung ihrer
Bürger durch Regulierungsvorgänge vieler Art beschneiden. Neben dem (posi-
tiven) Effekt, dass in einem solchen ‚demokratischen‘ Zustand vieles Sinnvolle
gedeiht, was in anderen Gesellschaftsformen unterdrückt wird, bringt es eine Le-
bensform, deren oberstes Maß ist, die Freiheit zu haben, zu tun und zu lassen, was
man will, mit sich, dass, je umfassender man sich auf dieses Lebensprinzip ein-
lässt, desto mehr Unterschiede verschwinden: Es wird gleichgültig, ob etwas not-
wendig oder nicht notwendig, nützlich oder schädlich, bedeutend oder lächerlich
usw. ist. Alles hat ein gleiches Recht.
Die Folge dieser „Gleichheit des Gleichen und Ungleichen“ (R. 558c) ist nach
Platon vor allem eine maßlose Perspektivenverzerrung, die dieses Nicht-mehr-
unterscheiden-Wollen zur Folge hat: Wenn die kleinste Lust dasselbe Recht hat
wie das elementarste Lebensbedürfnis, dann wird sie auch genauso unentbehrlich
erscheinen, wenn man sie gerade erstrebt, und es wird die sinnlose Befürchtung

. S. A. Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität,


Stuttgart/Weimar 22008, 514–519.
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genauso meine Befürchtung sein und ihr Recht haben, einfach weil ich sie gerade
habe, wie die Furcht vor einer wirklichen Bedrohung (R. 560e–562a).
Es entsteht das, was Platon den melancholischen Tyrannen (R. 562a–576b;
v. a. 571a–573c) nennt. Wer sich nicht mehr gehalten fühlt, zwischen bedeutend
und unbedeutend, nützlich und schädlich, gut und schlecht usw. zu unterschei-
den, da er jeder Begierde, jeder Neigung oder Abneigung, wenn sie gerade in
ihm da ist, ein absolutes Freiheitsrecht einräumt, muss in einen manischen Zu-
stand geraten. Er wird die kleinste Lust nicht entbehren, der kleinsten Furcht,
dem kleinsten Schmerz nicht widerstehen wollen und können und wird jedes
Recht auf seiner Seite glauben, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Platon nennt
diesen Zustand den Zustand der Tyrannis, und zwar nicht nur, weil er ihn für
den Nährboden einer Staatsform der Diktatur hält, sondern weil in ihm auch
jeder Einzelne in vielfältige Abhängigkeit und Unterwerfung unter Augenblicks-
bedürfnisse beliebigster Art gerät, die außerdem miteinander ständig im Streit
liegen. Das müsse dazu führen, dass auch die Bürger des Staats miteinander in
ständigem Krieg leben, da ja jeder den gleichen absoluten Rechtsanspruch gegen
alle anderen geltend macht.
Das ist genau der Zustand, in dem, wie Platon sagt, „aus dem Menschen
ein Wolf wird“ (R. 566a), d. h., der Zustand, den Hobbes als den angeblich na-
turgegebenen Zustand der Menschen untereinander bestimmt und den er zum
Ausgangspunkt seiner Staatskonstruktion gemacht hat, in der er den Staat mit
Zwangsrechten aller Art ausgestattet hat, die verhindern sollen, dass das Ausleben
der rechtmäßigen Freiheitsbedürfnisse der Einzelnen dazu führt, dass sie in eine
verbrecherische Destruktion der anderen münde.
Bevor ich fortfahre, möchte ich wenigstens die Bemerkung machen, dass
Platon mit dieser Beschreibung des melancholischen Tyrannen ein sehr erfah-
rungsnahes Psychogramm diktatorischer Charaktere gegeben hat. Man braucht
ja nur irgendeine Biographie verbrecherischer Diktatoren zu lesen, von Nero bis
Stalin, um zu erfahren, dass sie alle bis zum Exzess sentimental wehleidige Men-
schen waren, denen die geringste Beeinträchtigung ihrer Augenblicksbefindlich-
keit als Versündigung an ihnen selbst galt, so dass sie sich im Recht zu jeder Art
von Bestrafung und Vernichtung fühlten.

. T. Hobbes, »Vom Menschen«, in: Vom Menschen – Vom Bürger, eingel. und hrsg. von
G. Gawlick, Hamburg 1966, 59.
. Zur Differenz des platonischen und frühneuzeitlichen Ausgangspunktes einer Staatstheo-
rie s. A. Schmitt, »Der Mensch und seine Grundrechte. Zwei gegensätzliche Moralkonzep-
tionen der Antike und ihre Bedeutung für die Wertedebatte in der Moderne«, in: P. Janich
(Hrsg.), Humane Orientierungswissenschaft. Was leisten verschiedene Wissenschaftskulturen für
das Verständnis menschlicher Lebenswelt?, Würzburg 2008, 129–149.
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Die völlige psychische Depraviertheit eines solchen Verhaltens spricht aber,


und damit komme ich zu unserem eigentlichen Gedankengang zurück, dafür,
dass nicht Hobbes, sondern Platon im Recht ist, wenn er diesen Zustand nicht für
naturgegeben hält. Es ist nicht eine natürliche Tendenz im Menschen, sich in einer
so verbrecherischen Weise als er selbst gegen die anderen durchzusetzen, sondern
es ist eine Verfehlung seiner Natur. Nach Platons Analyse ist es die Unbedingt-
heit des Strebens nach einer Freiheit, die als subjektive Willkür missverstanden
wird, die dazu führt, dass jemand zum Verbrecher werden kann, und die zugleich
dazu führt, dass er selbst und die Gesellschaft, die eine solche Unbedingtheit und
Verabsolutierung der Freiheit des Einzelnen für ein Ideal hält, in den Zustand
absoluter Unfreiheit gerät.

Lust als Grund des Freiheitsgefühls

Ein wichtiger Grund für dieses Urteil Platons wird sichtbar, wenn man beach-
tet, warum er einer maßvollen Demokratie viele positive Seiten abgewinnt. Das,
was das berechtigte Gefühl der Freiheit in einem solchen Zustand ausmacht, ist,
dass jeder das tun kann, was ihm selbst angenehm und erstrebenswert ist (R. VIII
557b–558c). Wenn das aber Bedingung der Freiheit ist, dass man genau das tun
kann, was einem wirklich angenehm ist, dann ist Freiheit offenkundig unzurei-
chend und jedenfalls unvollständig bestimmt, wenn man sie einfach als Freiheit
von jeder Art von Beeinflussung durch äußere oder innere Faktoren versteht.
Nicht nur, darauf werden wir gleich noch genauer eingehen müssen, dass eine
solche Freiheit ein Unbegriff ist, weil sie nur als wirklich absolute Freiheit mög-
lich wäre – wo gibt es ein menschliches Entscheiden oder Handeln, das nicht von
irgendwelchen Determinanten beeinflusst wäre? –, wer eine solche Vorstellung
von Freiheit hat, geht an genau den subjektiven Erfahrungsbedingungen vorbei,
die ausmachen, dass er sich frei fühlt. Die Freiheit, die der ‚geborene‘ Demokrat
sucht, ist ja nicht, dass er von möglichst vielen Dingen in keiner Weise beeinflusst
wird, – unbeeinflusst sind wir in Wahrheit von den meisten Dingen dieser Welt,
oft einfach, weil wir sie gar nicht kennen, – die Freiheit, die er sucht, ist vielmehr,
dass er tun und lassen kann, was er will. Der Beeinflussung durch das, was ihm
gerade angenehm ist, gegenüber ist er nicht nur offen, er gibt sich ihr ausdrück-
lich hin und erkennt gerade darin seine Freiheit.
Bei diesem Freiheitsgefühl gibt es nach Platon offenkundig ein verbreitetes
falsches Bewusstsein, eine Verwechslung von Grund und Folge. Man fühlt sich
frei, weil man meint, tun und lassen zu können, was man will. Dieses Freiheits-
gefühl hat seinen Grund aber in der Erfahrung des Angenehmen. Weil uns etwas
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angenehm ist, deshalb wollen wir es. Das Gefühl der Lust ist also der Grund
des Freiheitsgefühls. Dass wir etwas frei zu wollen meinen, ist eine Folge davon,
dass es uns gegenwärtig oder im schönen Bild der Zukunft angenehm erscheint.
Diesem stimmen wir frei und im Bewusstsein, aus uns selbst heraus und autark
zu sein, zu, der bloße Wille ist nicht sein eigener Grund, ein Wille, der nicht
etwas will, ist nach Platon überhaupt kein Wille, er könnte nicht einmal eine un-
bestimmte Richtung haben.
Der exzessive und verbrecherische Gebrauch der eigenen Freiheit, wie ihn
sich der melancholische Tyrann genehmigt, beruht, folgt man dieser platonischen
Analyse, auf einer mangelnden Reflexion auf die Bedingungen der eigenen Frei-
heitserfahrung. Der melancholische Tyrann glaubt, frei zu sein, wenn er sich alles
erlauben kann und er sich von nichts und niemandem bestimmen lassen muss.
In Wahrheit verfolgt er diese vermeintliche Freiheit von jeder Fremdbestimmung
nur, weil er sich uneingeschränkt dem, was ihm jeweils als lustvoll erscheint, hin-
geben (und das heißt: bestimmen lassen) will. Durch die Fixierung des Blicks auf
dieses negative Freiseinwollen entgeht ihm, dass er eben dadurch, dass er jede
Freiheit zum Genuss jeder Augenblickslust oder zur Abwehr jeder Unlust be-
ansprucht, sich kriterienlos gegenüber diesen Augenblickslüsten oder Unlüsten
verhält. Er prüft, da er sich ja in seiner autonomen Selbstbestimmung von nichts
und schon gar nicht von Vernunftprinzipien beeinflussen lassen will, überhaupt
nicht, ob das, was er gerade will oder nicht will, tatsächlich angenehm oder un-
angenehm für ihn ist.

. Das ist auch die Position von Aristoteles, s. v. a. EN 1010b9–11: „Das Angenehme und
das Schöne […] ist das, um dessentwillen alle alles tun.“ S. auch allgemein zur Basis der Ethik
1104b7–13: „Der Bereich des Moralischen ist der Bereich von Lust und Unlust. Denn der Lust
folgend tun wir das Schlechte, aus Unlust unterlassen wir das Gute. Deshalb muss man sich, wie
Platon sagt, gleich von Kindheit an daran gewöhnen, Lust und Unlust so zu empfinden, wie es
angemessen ist.“ S. auch 1157b17: „Es scheint besonders in (unserer) Natur zu liegen, dass wir
die Unlust meiden und die Lust suchen.“
. S. z. B. Plato, Smp. 204e–205a, wo Diotima Sokrates erklärt, dass allen Menschen der Wil-
le (βούλησις) gemeinsam sei, für sich selbst Gutes zu haben, und zwar dasjenige Gute, durch
das man glücklich ist. S. z. B. Grg. 466–468 mit der Schlussfeststellung: „Um des Guten willen
also tun alle alles das, was sie tun“ (468b10).
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Die zentrale Voraussetzung der Verbindung von Denken und Lust:


Denken ist nicht (nachträgliche) Re-Präsentation, sondern präsentes
Unterscheiden

Die Erklärung menschlicher Verkommenheit aus dem Unwillen zu unterschei-


den bietet bereits eine erste, noch abstrakte Definition dessen, was nach Platon
und Aristoteles einen Verbrecher ausmacht: Grundsätzlich nicht zu wissen, was
wirklich angenehm und gut für einen ist, und zu meinen, man brauche sich da­
rum auch gar nicht zu kümmern, sondern könne den eigenen Willen, und das
heißt das, was einem gerade angenehm erscheint, absolut setzen und müsse sich
nur danach richten, das ist, wie auch Aristoteles sagt, dasjenige Verhalten, durch
das man verbrecherisch und überhaupt ein schlechter Mensch wird.
Leider stehen dem Verständnis dieser Auffassung viele in der Moderne ver-
breitete Vorurteile entgegen. Ich versuche zunächst genauer herauszuarbeiten,
was Platon und Aristoteles überhaupt meinen, um dann wenigstens einige der
sehr differenzierten Konsequenzen für die Beurteilung verbrecherischen und
schuldhaften Verhaltens, die sich daraus ergeben, zu verfolgen.
Wenn man diese Definition zum ersten Mal hört, muss man den Eindruck
gewinnen, dass Platon und Aristoteles ein sehr unrealistisches Vertrauen in die
Kraft des Wissens gehabt haben. Kann der Grund, warum jemand ein schlechter
Mensch wird, nur der sein, dass er kein Wissen über ‚angenehm‘ und ‚unange-
nehm‘, ‚gut‘ und ‚schlecht‘ hat? Und ist dementsprechend das Wissen des Guten
ausreichender Grund dafür, dass jemand gut wird?
Die Naivität dieses sogenannten Intellektualismus der Griechen ist oft kriti-
siert, ja lächerlich gemacht worden. Das kurze Referat über die Art, wie Platon zu
seiner These gekommen ist, hat aber vielleicht schon deutlich gemacht, dass die
Probleme, mit denen er sich befasst, überhaupt nichts mit dem zu tun haben, was
wir Intellektualismus oder Rationalismus nennen. Der Weg, auf dem man nach
Platon zum melancholischen Tyrannen und Verbrecher wird, ist ja nicht dadurch
charakterisiert, dass dieser Tyrann keine Lehrbücher der Moral liest oder sich
keine begriffliche Klarheit über das allgemeine Wesen des Guten und Angeneh-
men verschafft, sondern dadurch, dass er bei der Erfahrung von Lust und Unlust
selbst, und zwar in der täglichen Praxis, keine Unterschiede macht. Es geht Platon
also in jedem Fall um ein konkretes, nicht um ein abstraktes Wissen, und zwar
um ein im Fühlen und Wollen selbst enthaltenes kognitives Element, d. h. um
etwas von der Art, das wir emotionale Intelligenz nennen.

. S. Aristoteles, EN 1110b28–31: „In Unwissenheit über das, was man tun oder meiden
soll, ist jeder verkommene Mensch, ja diese Unwissenheit ist der Grund, weshalb Menschen
schlecht und überhaupt böse werden.“
30 Arbogast Schmitt

Im Unterschied zum heutigen Gebrauch dieses Begriffs sind Platon und


Aristoteles aber nicht überzeugt, dass Gefühl und Wille eine eigene, eigenständi-
ge Intelligenz haben, die aus einer eigenen „Quelle der Weisheit“ entsteht, „zu der
der kognitive Geist keinen Zugang hat.“ Sie vertreten und begründen vielmehr
die Ansicht, dass es immer ein und dieselbe Intelligenz ist, von der der Mensch in
allen seinen verschiedenen Erkenntnisformen Gebrauch macht, wenn auch auf
eine unterschiedliche, oft sogar gegensätzliche Weise. Der wichtigste Grund für
diese andere, einheitlichere Denkweise ist, dass sie einen anderen Begriff von Ra-
tionalität haben.10
Die heutige Auffassung, Emotionen hätten eine eigene Quelle der Erkennt-
nis, dem Gefühl sei in einer eigenen und ganz besonderen Weise Vieles zugäng-
lich, was dem Verstand grundsätzlich verschlossen bleibe, hat ihre historische
Wurzel im 18. Jahrhundert. Damals musste die Einsicht in die Eigenständigkeit
des Fühlens und Wollens gegen den herrschenden Begriff des Bewusstseins, von
dem her man (im Grund seit dem späten Mittelalter, aber) v. a. seit Descartes alle
seelischen Akte zu erklären versucht hatte, durchgekämpft werden. Bewusst ist
das, was uns klar und deutlich gegenwärtig ist.11 Es gibt aber viele psychische Er-
fahrungen, die wir nicht im Zustand klarer und deutlicher Bewusstheit machen,
etwa wenn wir einen unmittelbaren Eindruck von einem Menschen, einer Situa-
tion, einer Atmosphäre gewinnen. Wenn Denken nur die bewusste Reflexion ist,
muss hier also eine andere, eigenständige Intelligenz des Gefühls, der Intuition,
des Erlebens usw. wirksam sein.
Platon und Aristoteles kennen diese hochproblematische Identifikation von
Denken und Bewusstsein nicht, für sie gibt es daher keine Notwendigkeit, mehre-
re, voneinander unabhängige Intelligenzen im Menschen anzusetzen.
Leider haben wir hier nicht den Raum, den Begriff des Denkens bei Pla-
ton und Aristoteles genauer zu behandeln. Ich möchte aber wenigstens darauf
hinweisen, dass die in der Neuzeit entwickelte Vorstellung, die ganze Antike sei
eine Zeit naiver Anschaulichkeit gewesen, ihr Denken eine Art Substanzenden-
ken, dem erst mit Descartes und Kant eine Reflexion des Denkens auf sich selbst
und damit ein Wissen um die Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit des

. S. R. E. Cytowic, Farben hören, Töne schmecken. Die bizarre Welt der Sinne, Berlin 1995,
259.
10. Zum platonisch-aristotelischen Rationalitätsbegriff s. ausführlich A. Schmitt, 22008, 207–
340; s. auch ders., Denken und Sein bei Platon und Descartes. Kritische Anmerkungen zur ,Über-
windung‘ der antiken Seinsphilosophie durch die moderne Philosophie des Subjekts, Heidelberg
2011 (Studien zu Literatur und Erkenntnis, Bd. 1), (2011a), 91–131; 159–169.
11. S. A. Schmitt, »Das Bewußte und das Unbewußte in der Deutung durch die griechische
Philosophie (Platon, Aristoteles, Plotin)«, in: Antike und Abendland 40 (1994), 59–85.
Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles 31

Menschen entgegentritt, eine durch viele Einzelforschungen erschütterte Fehl-


konstruktion ist.
Der tatsächliche historische Vorgang ist, dass sich die Renaissance inten-
siv den hellenistischen Schulen der Stoa, der Skepsis und des Epikureismus zu-
wandte – in dieser Neuzuwendung besteht die vermeintliche Wiedergeburt der
Antike – und den bis ins hohe Mittelalter tradierten, neuplatonisch geprägten
Aristotelismus feindselig und weitgehend undifferenziert verwarf.12 Erst diese ra-
dikale Ablehnung einer mehr als 1500-jährigen Tradition bietet die Voraussetzung
für die Überzeugung, die Selbstreflexivität des Denkens überhaupt erst entdeckt
zu haben. In Wirklichkeit handelt es sich um die Formierung eines veränderten
Begriffs von Denken. Denken wurde nun als Vergegenwärtigung (repraesentatio,
später: Bewusstsein) von empirisch gegebenen Daten ausgelegt. Für Platon und
Aristoteles war Denken dagegen zuerst die Fähigkeit, etwas Bestimmtes, das sich
für sich unterscheiden lässt, zu erfassen. Sie sprechen vom Denken daher als von
einer δύναμις κριτική13, einer Unterscheidungsfähigkeit.14 Die Fähigkeit, sich et-
was zu deutlicher Bewusstheit zu bringen, ist für sie etwas Nachträgliches und
Sekundäres. Was man genau unterschieden hat, davon hat man eben dadurch
auch ein klares Bewusstsein. Das Bewusstsein ist also das Abhängige, sich von
selbst Einstellende, das Unterscheiden das Primäre, Aktive.

12. S. A. Schmitt, »Zur Bedeutung der Hellenismus-Rezeption für die Entstehung eines epo-
chalen Gegensatzbewußtseins der Moderne gegenüber Mittelalter und Antike«, in: H. Busche
(ed.), Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700),
Hamburg 2011, (2011b), 237–252; s. jetzt auch M. Krewet, Die stoische Theorie der Gefühle. Ihre
Aporien. Ihre Wirkmacht, Heidelberg 2013, v. a. 279–413.
13. Aristoteles, APo. 99b35.
14. Einige wichtige Stellen bei Aristoteles, de an. 424a5–6; 426b10–14; 427a19–21: „Wenn aber
auch das Denken und Begreifen eine Art Wahrnehmen zu sein scheint, denn bei diesen beiden
Tätigkeiten unterscheidet (κρίνει) und erkennt die Seele etwas […]“; 428a3–5; 429b13–17; bei
Platon wie auch schon bei Parmenides ergibt sich die Leistung des Denkens aus ihrer Orien-
tierung am Sein als Erkenntniskriterium. Denn Sein meint für sie immer Etwas-Sein. Nur was
sich als ein Etwas erfassen lässt, ist erkennbar, d. h. erkennbar ist nur, was sich unterscheiden
lässt. S. A. Schmitt, »Parmenides und der Ursprung der Philosophie«, in: E. Angehrn (Hrsg.),
Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft, Berlin/
New York 2007 (Colloquium Rauricum, Bd. 10), 109–140; ders., »Einheit des Mannigfaltigen.
Der Widerspruchssatz als Erkenntnisprinzip in der Aufklärungsphilosophie (Kant und Wolff)
und bei Aristoteles und Platon«, in: J.-M. Narbonne/A. Reckermann (éds.), Pensées de l’‚Un‘
dans l’histoire de la philosophie. Études en hommages au professeur Werner Beierwaltes, Paris
2004, 339–375.
32 Arbogast Schmitt

Nach dem sorgfältigen Aufweis, den Platon in vielen Dialogen führt, dass der
seelische Grundakt schlechthin das Unterscheiden ist, und dass man nur auf die-
sem Begriff aufbauend einen sinnvollen Begriff der unterschiedlichen seelischen
Akte und Vermögen und ihres Zusammenwirkens gewinnen kann – Platon de-
monstriert dies z. B. daran, dass dort, wo man keinen Unterschied machen kann,
überhaupt kein Denken möglich ist15, so wie man auch nicht sieht, wenn man in
der Dunkelheit keine Farbe unterscheiden kann – hat er auch differenzierte Refle-
xionen darüber vorgelegt, was die Kriterien des Unterscheidens sind. Wenn man
nicht einfach ‚drauflos‘ unterscheidet, sondern sich den Akt des Unterscheidens
selbst zum Gegenstand einer unterscheidenden Reflexion macht, – und das ist in
seinem Sinn erst eine Reflexion des Denkens auf sich selbst – kann man sich ver-
gewissern, dass man bei jedem Unterscheidungsakt bestimmte Kriterien anwen-
det, z. B., ob das, was man unterscheiden will, etwas Eines, mit sich Identisches,
von anderem Verschiedenes, ein Ganzes aus Teilen mit Anfang, Mitte und Ende
ist usw., um nur die allerallgemeinsten, einfachsten Kriterien zu erwähnen. Sol-
che Kriterien wendet man immer an, auch wenn es einem, wie wir sagen würden,
oft nicht bewusst ist. Schon wenn man versucht, nur einen Ton zu hören oder eine
Farbe zu sehen, prüft man, ob man es tatsächlich mit einem Ton zu tun hat, ob
und wie lange er sich gleich bleibt, wann er anfängt, wo er aufhört, weil er durch
einen verschiedenen Ton abgelöst wird, usw.16
Es ist gar keine Frage, dass man diese Kriterien genauer und weniger genau
anwenden kann, und dass es von der Sorgfalt der Anwendung abhängt, wie prä-
zise man einen bestimmten Ton unterscheidet. Man kann diese Kriterien nach
Platon aber eben nicht nur anwenden, man kann sie auch rein für sich selbst un-
tersuchen. Wer auf diese Weise über diejenigen Erkenntniskriterien, die er sonst
nur anwendet, Bescheid weiß, der denkt nach Platon im eigentlichen Sinn. Er
verfügt frei über sein Unterscheidungsvermögen, weil er dessen Bedingungen be-
herrscht. Dieses freie Verfügen über das eigene Unterscheidungsvermögen ist ein
explizit rationales Vorgehen, die anderen Formen des Unterscheidens sind mehr
oder weniger rational, je nachdem wie gut sie den Unterscheidungskriterien ge-
nügen.17

15. S. v. a. R. 523a–524d; s. dazu A. Schmitt, 2011a, 93–101.


16. S. A. Schmitt, 2011b, 121–129 und s. vor allem die grundlegende Studie von G. Radke, Die
Theorie der Zahl im Platonismus. Ein systematisches Lehrbuch, Tübingen/Basel 2003.
17. S. A. Schmitt, »Die platonische Akademie. Die Akademie als philosophische Lebensge-
meinschaft«, in: Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach, hrsg. vom Deutschen Hochschul-
verband, Stuttgart 2005, 101–105.
Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles 33

Bei Platon und Aristoteles unterscheidet man also nicht zwischen Anschau-
ung und Gefühl, bei denen wir uns nur empfangend, aufnehmend verhalten, auf
der einen und bewusstem Denken als der eigentlichen Quelle spontaner Aktivität
auf der anderen Seite; für sie sind alle Formen, in denen man irgendwie etwas er-
kennt, aktiv. Auch beim Wahrnehmen unterscheidet man: ‚süß‘ und ‚bitter‘, ‚gelb‘
und ‚rot‘, usw., und man könnte dies nicht, wenn nicht auch das Wahrnehmen
ein Akt der einen Unterscheidungsfähigkeit in uns wäre. Man betätigt diese Er-
kenntnisfähigkeit dabei aber erstens in einer Bindung an die Leistungsfähigkeit
der Wahrnehmungsorgane – man kann beim Sehen eben nur Farben und For-
men, beim Hören nur Töne unterscheiden –, außerdem kann man diese Unter-
scheidungen auch ohne Kenntnis der allgemeinen Kriterien des Unterscheidens
vollziehen, und das heißt nichts anderes, als dass man dabei auch unkontrolliert
falsche Unterscheidungen treffen kann.

‚Vom Sein zum Sollen‘: die die Erkenntnis begleitende Lust oder Unlust
als Grund der moralischen Qualität eines Handelns

Der Übergang zur Moral ist bei diesem Verständnis von Rationalität erheblich
kürzer als bei einem am Bewusstsein orientierten Rationalitätsbegriff. Denn Mo-
ral beginnt für Platon und Aristoteles nicht dort, wo man nur aus Pflicht und in
keiner Weise mehr aus Neigung handelt, für sie ist genau umgekehrt jedes Han-
deln, gleichgültig ob praktisch oder theoretisch, moralisch relevant, und zwar
genau unter dem Aspekt, unter dem es von Lust und Unlust begleitet ist (EN II
1104b8–11).
Lust und Unlust aber sind für sie nichts vom Denken Getrenntes, keine Er-
regungszustände, die irgendwie in uns entstehen, zu denen wir nur nachträglich
kognitiv Stellung nehmen können, sie gelten ihnen vielmehr als unmittelbare Be-
gleitphänomene des Denkens selbst.18 Dies ist von ihrem Begriff von Denken viel
plausibler als von einem Begriff her, für den Kognition immer erst eine bewusste
und deshalb nachträgliche Bewertung ist. Wer sich einen schrillen Ton vorstellt
oder sich dessen Merkmale bewusst macht, wird von diesem Bewusstsein nicht
oder nur beiläufig emotional getroffen, wer diesen Ton aber gerade hört, wird
erschrecken, zusammenfahren, sich angespornt fühlen o. ä., d. h. er wird un-
mittelbar in der Hörunterscheidung selbst das Angenehme oder Unangenehme

18. S. dazu v. a. die Kapitel X 4–X 7 der EN, bes. 1174b20–21: „Zu jeder Wahrnehmung gehört
Lust, in gleicher Weise auch zum rationalen und intellektiven (noetischen) Denken […] es voll-
endet aber die Lust die Tätigkeit.“ Zum Gefühlskonzept des Aristoteles s. jetzt die umfassende
Untersuchung von M. Krewet, Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles, Heidelberg 2011.
34 Arbogast Schmitt

dieses Tons mitempfinden, ja diese Empfindung gibt es überhaupt nur aufgrund


dieses Höraktes, und sie wird auch genauso sein wie die in diesem Akt getätigte
Unterscheidung. Dies gilt umso mehr, wenn man bei diesem Unterscheiden nicht
nur auf ‚laut‘ und ‚leise‘, ‚hoch‘ und ‚niedrig‘, d. h. auf das rein Hörbare achtet,
sondern mit dem Gehörten zugleich ein Urteil verbindet und etwa den schrillen
Ton als Zeichen einer Gefahr oder als Aufforderung, einen Wettkampf zu begin-
nen, auffasst. Je nach der Art der Erkenntnis werden auch die ihr entsprechenden
Gefühle ausfallen.
Rechnet man mit ein, dass für Platon und Aristoteles nicht nur psychische
Akte, sondern alle Handlungen unmittelbar von Erkenntnisakten abhängen, –
man könnte den Löffel nicht zum Teller führen, wenn man ‚Teller‘ und ‚Löffel‘,
‚rechts‘ und ‚links‘, ‚oben‘ und ‚unten‘ usw. nicht unterscheiden und verbinden
könnte –, dann kann man ihre These, dass alle Lust und Unlust Begleitphänome-
ne von Tätigkeiten sind, zumindest für bedenkenswert halten.
Jedenfalls hängt, wenn man diese Erklärung einmal annimmt, die moralische
Qualität einer Handlung von der in ihr enthaltenen Erkenntnis ab, weil von ihr
die Lust oder Unlust geprägt ist, die mit dieser Handlung verbunden ist. Wenn
jemand etwas als Unrecht empfindet, ist die Tatsache selbst, dass er es als Unrecht
und nicht etwa als Hilfe empfindet, ebenso wie das Ausmaß seiner Empörung
eine direkte Folge dessen, worauf er gedanklich konzentriert ist: Je mehr und je
bedeutendere Unrechtsaspekte er unterscheidet, umso mehr wird auch der Zorn
in ihm ansteigen und anhalten und etwa ein Gefühl der Dankbarkeit gar nicht
erst aufkommen lassen. Dabei ist es fast ein bisschen lächerlich, wenn als ein Be-
weis für die emotionale Irrelevanz des Denkens angeführt wird, dass man sich
gegen derartige Gefühle mit dem Denken nicht helfen könne. Auch wenn man
genau wisse, dass man von seinem Ärger nur selbst geschädigt werde, dass man
die Dinge nicht so wichtig nehmen dürfe usw., werde man trotz seines Wissens,
ja gegen es oft von seinen Gefühlen übermannt. In aristotelischer Analyse kämpft
hier nicht der Verstand mit dem Gefühl, sondern eine Art des Denkens mit ei-
ner anderen: ein Denken, das mit einem bestimmten einzelnen Unrecht intensiv
beschäftigt ist und es gleichsam schmeckt, und ein anderes, das – wie ein Schau-
spieler auf der Bühne – allgemeine Vorstellungen über den Umgang mit Unrecht
vor sich selbst rezitiert.19
Mit der These, bei dem, was man populär als Kampf von Verstand und Ge-
fühl oder Verstand und Leidenschaft verstehe, handle es sich in Wahrheit um
die Lust- bzw. Unlustformen unterschiedlicher Erkenntnisaktivitäten, griff

19. S. dazu die wichtige Behandlung im 7. Buch der EN 1145b7–1147b19; s. dazu A. Schmitt,
Aristoteles, Poetik. Übersetzung und Kommentar, Berlin 2008 (Bd. 5 der Reihe: H. Flashar
(Hrsg.), Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, 22011, 450–511.
Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles 35

Aristoteles in die Auseinandersetzung um das sokratische ‚Paradoxon‘ ein, dass


man nur wider besseres Wissen schlecht handle.20 Um zu erklären, dass die These,
das richtige Wissen reiche zum richtigen Handeln aus, nur scheinbar den Phäno-
menen widerspreche, nämlich dann, wenn man unter Wissen nur ein abstraktes
Allgemeinwissen verstehe, entwickelt Aristoteles ein subtil differenziertes System
über den Zusammenhang verschiedener Erkenntnisformen mit unterschiedli-
chen Arten der Lust- und Willensformen und entfaltet dabei zugleich ein breit
gefächertes Band unterschiedlicher Verantwortlichkeiten für das eigene Fühlen,
Wollen und Handeln, das auch eine Reihe wichtiger Urteilskriterien liefert, wann
ein Fehlhandeln entschuldbar, selbstverschuldet oder gar verbrecherisch ist.21
Aristoteles beginnt, wie so oft, mit einem Axiom, mit dem wohlbekannten
und doch oft missverstandenen Axiom, dass man alles, was man tue – und das
heißt bei ihm auch: alle innerpsychische Aktivität – um eines Guten willen tue.22
Viele legen dieses Axiom so aus, als behaupte Aristoteles, dass jeder bei jedem
Handeln sich erst bewusst mache, was daran gut für ihn sei, bevor er überhaupt
zu handeln beginne, und dass es ihm dabei auch immer um etwas objektiv und
wirklich Gutes gehe.
Beide Behauptungen des Aristoteles stünden, hätte er sie wirklich vertreten,
in einem eklatanten Widerspruch zu den Phänomenen. Denn man handelt sehr
oft, ohne sich bewusst zu machen, was für ein Gut man anstrebt; auch ist vie-
len gleichgültig, ob dieses Gut objektiv oder sittlich gut ist. Ein Axiom ist für
Aristoteles aber etwas, was jeder verstehen kann, und was auch der anerkennen
muss, der es bestreiten möchte.23 Diesen Bedingungen genügt das, was er aus-
drücklich vorträgt, tatsächlich. Denn er betont eigens, dass „das, wonach jeder
strebt“ nicht bereits das objektiv Gute (auch nicht das für jemanden objektiv
Gute) ist, sondern das „was ihm als ein Gut erscheint“ (EN 1114a31–b3).24

20. S. EN 1145b21–29.
21. Die platonische Analyse des Fehlhandelns erklärt prägnant und konzise B. Kappl, s. v.
»Verfehlung« (ἁμαρτία), in: C. Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon. Begriffswörterbuch zu Platon
und der platonischen Tradition, Darmstadt 2007, 301–304; zu Aristoteles s. z. B. die knappe, aber
die wichtigen Aspekte berücksichtigende Darstellung bei C. Rapp, Aristoteles zur Einführung,
Hamburg 42012, 41–53, der allerdings den präsentisch unterscheidenden Aspekt des aristote-
lischen Begriffs des Denkens nicht beachtet und deshalb eine primär formale Erklärung gibt,
von der her die aristotelische Analyse als ungenügend erscheint.
22. S. den ersten Satz der EN 1094a1–3.
23. S. APo. I 2, 71b21–22; s. dazu T. Wagner, »Axiom«, in: C. Rapp/C. Corcilius (Hrsg.), Aristo-
teles Handbuch, Stuttgart/Weimar 2011, 191–193.
24. S. dazu V. Cessi, Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frank-
furt a.M. 1987, 119–120, die zu Recht auf die Erklärung bei Thomas de Aquino (in EN n. 515)
36 Arbogast Schmitt

Außerdem ergibt sich aus seinem Begriff von Denken, dass ‚etwas als gut
und lustvoll erkennen‘ meint, ‚im Prozess der Erkenntnis von etwas zugleich die
Erfahrung machen, dass etwas gut, angenehm für einen ist‘, nicht etwa ‚sich in
einem reflexiven Akt bewusst machen, dass das, was man empfindet, denkt oder
will, gut ist‘.
Nimmt man diese beiden Aspekte zusammen, dürfte es in der Tat schwer
sein, das aristotelische Axiom zu bestreiten. Denn auch wenn jemand das Böse
absichtlich und bewusst als Böses will, dürfte kaum bestreitbar sein, dass das,
was er tut, etwas für ihn Gutes sein soll. Und auch wenn jemand sich absichtlich
selbst schädigt oder gar sich das Leben nimmt, wird er es nur dann tun, wenn ihm
dieses – ihn objektiv schädigende Handeln – subjektiv als das Bessere, z. B. allein
noch Sinnvolle erscheint.
Es ist also keineswegs ein optimistisch naiver Glaube an die Gutheit der Men-
schen, dass sie gleichsam von Natur aus immer nach dem Guten streben, mit dem
Aristoteles beginnt. Sein Anfang ist, auch wenn das nicht zu einem verbreiteten
modernistischen Vorurteil über die objektive Antike passt, eine Reflexion auf die
subjektiv inneren Bedingungen, die nicht dieses oder jenes einzelne Handeln,
sondern die Handeln überhaupt möglich machen. So wie das Erkenntnisaxiom,
dass nur das, was sich als etwas Bestimmtes unterscheiden lässt, gedacht werden
kann, aufgewiesen wird als Bedingung der Möglichkeit, überhaupt einen Denk-
akt auszuführen, also in einer Reflexion auf den Akt des Denkens als solchen25, so
ist es beim Handeln. Unabhängig von den empirischen Bedingungen dieses oder
jenes Handelns geht es Aristoteles um die innere Erfahrung, die jeder bei jedem
Handeln in sich machen kann, wenn er reflexiv prüft, warum er in irgendeiner
Weise aktiv geworden ist. Dieses Movens ist für ihn das, was jedem jeweils als für
ihn selbst gut, d. h. als das Angenehmere, Lustvollere, für ihn Bessere erscheint.

Zur Grundlegung moralischer Urteilskriterien

Trotz des subjektiven Anfangs, mit dem für Aristoteles alle Moral beginnt, ist er
kein Skeptiker, sondern ist von der Möglichkeit überzeugt, dass man moralisch

verweist: „Considerandum est, quod bonum movet appetitum inquantum est apprehensum. Ad
hoc igitur quod aliquid appetatur, praeexigitur quod apprehendatur ut bonum. Et inde est quod
unusquisque desiderat id quod apparet sibi esse bonum“ („Man muss bedenken, dass das Gute das
Begehren [nur] bewegt, sofern es erkannt ist. Damit also etwas erstrebt wird, muss es zuvor als
etwas Gutes erfasst sein. Das ist der Grund, weshalb jeder das begehrt, was ihm für sich gut zu
sein scheint.“).
25. S. A. Schmitt, 2004, 339–375.
Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles 37

und rechtlich relevante Unterschiede unter richtigem, falschem, entschuldbarem,


schuldhaftem und gänzlich verwerflichem Handeln machen kann, auch wenn er
ausdrücklich betont, dass es im Bereich sittlichen Handelns kein exaktes Wissen
geben könne (EN 1094b11–1195a13). Die Prinzipien und Kriterien richtigen Han-
delns unterliegen nämlich nicht diesem empirischen Vorbehalt, sondern können
universale Geltung beanspruchen. Diese universale Geltung sucht Aristoteles al-
lerdings nicht in dem, was wir in Anlehnung an v. a. stoische Konzepte der Antike
seit der frühen Neuzeit Naturrecht nennen.26
In seiner für die Naturrechtskonzeptionen der Neuzeit maßgebenden Ab-
handlung De iure belli ac pacis (mitten im Dreißigjährigen Krieg, 1625 in Paris
erschienen) leitet etwa Grotius aus der der menschlichen Natur eigentümlichen
Vernunft allgemein geltende Regeln ab, die überall zu beachten seien, weil sie,
auch wenn es keinen Gott gäbe, ebenso unwandelbar seien wie die mathemati-
schen Sätze. Solche Grundsätze sind etwa, dass man fremdes Gut respektieren, ge-
gebene Versprechen erfüllen, selbstverschuldeten Schaden ersetzen müsse, usw.
Auch wenn man von offensichtlich problematischen Naturrechten, die Gro-
tius auf die menschliche Vernunft meint stützen zu können, absieht, etwa davon,
dass jedem Land ein Zugang zum Meer zustehe, – überhaupt daran zu gehen, sol-
che allgemeinen, keinem historischen Wandel unterworfenen Normen, Regeln,
Verhaltensmuster aufzustellen, ist aus aristotelischer Sicht gerade nicht rational,
sondern Resultat eines zu oberflächlichen Schematismus.
Der Glaube an eine gesetzgebende Vernunft in diesem Sinn geht auf eine Um-
formung des Aristotelismus im späten Mittelalter und auf die Stoa-Rezeption der
Renaissance zurück.27 Aristoteles ist viel zu sehr Platon-Schüler, als dass er sich
mit solchen allgemein anerkannten ‘patterns’ hätte anfreunden können.
Auch wenn dies selten beachtet wird: Es war gerade Platon, der die geschicht-
liche Relativität derartiger vermeintlich allgemeinverbindlicher Normen immer
wieder aufgedeckt hat. Das ist ja das Anliegen fast aller seiner sogenannten frühen
Dialoge, den guten Bürgern, die wissen, was gut und richtig ist, zu demonstrieren,
dass sie kein Wissen haben, sondern nur Meinungen, die mehr oder weniger häu-
fig und allgemein zutreffen. Zu solchen bloßen Meinungen würden nach Platon
auch die von Grotius formulierten Grundsätze gehören. Man wird ein gegebenes
Versprechen, jemandem etwas zurückzugeben, so betont er etwa, nicht halten
dürfen, wenn die Erfüllung dieses vermeintlichen Gebots der Gerechtigkeit dazu
führen könnte, dass das zurückgegebene Gut zum großen Schaden des Besitzers

26. S. zu diesem Unterschied und zum Folgenden A. Schmitt, 2008, 129–149.


27. S. dazu A. Schmitt, 2011a, 237–252.
38 Arbogast Schmitt

oder anderer benutzt wird.28 Von einer unverrückbaren Allgemeingültigkeit kann


hier keine Rede sein.
Aristoteles sucht die Allgemeinverbindlichkeit ethischer Prinzipien keines-
wegs in inhaltlich fixierten Normen und Dogmen oder anderen vorgeblich histo-
risch invarianten Mustervorstellungen richtigen Verhaltens, sondern in dem, was
tatsächlich ‚Prinzip‘ richtigen Verhaltens sein kann. Von seinem Ausgangspunkt
her ist das, wie gesagt, das, was jemandem für sich selbst gut, angenehm, lustvoll
zu sein scheint. Dieser Ausgangspunkt hat die Besonderheit an sich, dass es bei
ihm kein subjektives Interesse an Täuschung gibt, im Gegenteil, hier sucht of-
fenbar jeder die Wahrheit, d. h., es soll das, was er tut, wirklich lustvoll erfahrbar
sein und sich nicht als Unlust entpuppen. Selbst der größte Heuchler sucht, auch
wenn er nicht das geringste Interesse an der durch Frömmigkeit oder anderes
rechtschaffenes Verhalten erreichbaren Lust hat, die mit dem äußeren Schein gu-
ten Verhaltens verbundene Lust und er sucht diese Lust wirklich, auch wenn er
dieses Streben sogar vor sich selbst verbirgt. Aus Beobachtungen dieser Art zieht
Aristoteles den Schluss, dass sich über das wirklich Angenehme niemand täu-
schen will.29
Wenn der Bereich sittlich relevanten Handelns der Bereich von Lust und Un-
lust ist, gibt es aber in der Regel nicht nur keinen vernünftigen Grund, daran zu
zweifeln, dass jemand das für ihn wirklich Angenehme auch wirklich will, es liegt
dann auch das Kriterium, ob etwas für jemanden wirklich und in diesem Sinn
objektiv angenehm ist, in ihm selbst. Jedenfalls kann die Entscheidung darüber,
ob etwas für jemanden wirklich angenehm ist, in keiner Weise in etwas Äußerem
gesucht werden, etwa, ob Oliven, ein bestimmter Wein oder bestimmte Musik
oder bestimmte Verhaltensweisen wirklich lustgewährend sind. Die Lust ist, wie
Aristoteles sagt, sich selbst genug (EN X 3).
Auch von diesem Aspekt her muss man also darauf bestehen, dass die Be-
gründung der Moral bei Aristoteles auf subjektiv innerliche und nicht etwa
auf irgendwelche von außen aufgenommene Kriterien gestützt wird. Das, was
Aristoteles aber von vielen neuzeitlich modernen Versuchen, Moral subjektiv zu
begründen, unterscheidet, ist, dass für ihn moralisch relevante Gefühle nicht dem
bewussten, intentionalen Denken entgegengesetzt sind und auf irgendeine irra-
tionale oder vorbewusste Weise quasi von selbst entstehen. Gefühle sind nach
Aristoteles niemals einfach in uns da. Das würde für ihn bedeuten, dass Gefühle
ein unterschiedslos gleicher, bloßer Erregungszustand in uns sein müssten. Da

28. S. Plato, R. 331b–d; S. dazu A. Schmitt, »Gerechtigkeit als Recht zur Selbstverwirklichung
bei Platon«, in: G. Melville/M. Breitenstein/G. Vogt-Spira (Hrsg.), Verlangen nach Vollkommen-
heit. Europäische Konzepte und Praktiken im Wandel. Band 1: Gerechtigkeit(en), Stuttgart 2013.
29. S. v. a. die Kapitel I 3–6 der EN; vgl. v. a. I 5 mit X 5.
Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles 39

wir aber offenbar ganz unterschiedliche Gefühle empfinden, müssen die Unter-
schiede, die dafür verantwortlich sind, dass wir bitter und nicht süß, Zorn und
nicht Wohlwollen usw. empfinden, irgendwie erfasst sein, bevor das Süße als an-
genehm, das Bittere als unangenehm, die Kränkung als entehrend empfunden
werden kann, usw., ja, Aristoteles hat bei der reflexiven Klärung, was genau einen
solchen primären Unterscheidungsakt ausmacht, einleuchtend aufgedeckt, dass
dieser selbst bereits mit Lust und Unlust verbunden ist, dass die Lust also ein un-
mittelbares, aus der Unterscheidungsaktivität selbst resultierendes Begleitphäno-
men und nicht etwa ein irgendwie zusätzlich und eigenständig in uns wirksames
Pseudosubjekt ist.
Leider können wir die schönen und erfahrungsreichen Analysen, die Aris­
toteles zu dieser Frage v. a. im 10. Buch seiner Ethica Nicomachea vorgelegt hat,
nicht weiter verfolgen30, es ergibt sich aber, wenn man das Resultat dieser Analyse
einmal zugrunde legt, dass es nicht ‚die‘ Lust, oder gar: die Lust als Gegenbegriff
gegen den Verstand gibt (wie etwa in der Stoa oder bei Kant), sondern so viele
und so unterschiedliche Lüste wie es unterschiedliche Aktivitäten gibt.31
Die meisten verbinden zwar, wie Aristoteles feststellt, mit dem Begriff der
Lust vor allem die Sinneslust und setzen dieser Lust ein Leben nach der Vernunft
entgegen. Das ist in seinen Augen erfahrungsfremd, denn das, was davon abhält,
eine Lust zu verfolgen, sei immer die höhere Lust bzw. Unlust. Und höher sei für
die meisten schon die Lust an Ehre und Anerkennung. Verweigert man jeman-
dem die Anerkennung – öffentlich oder privat – dann ist die damit verbundene
Unlust so stark, dass alle Sinnesfreuden ihre Attraktivität verlieren.
Bei der Klärung der Frage, was das wirklich Angenehme und Lustvolle ist,
das deshalb, weil es wirklich und nicht nur unter irgendeinem momentanen As-
pekt lustvoll ist, auch das moralisch Richtige ist, und dessen Verfolgung den Gu-
ten vom Bösen unterscheidet, muss es also um die Frage gehen, welche Aktivität
die angenehmste und lustvollste ist. Bei dieser Suche können diejenigen Akti-
vitäten ausscheiden, die gar nicht selbst lustvoll oder nur weniger lustvoll sind,
die wir vielmehr um einer anderen Lust willen erstreben. Wir arbeiten, so sagt
Aristoteles, um Muße zu haben (EN X 7, 1177b4–5). Mit dieser letzten Feststellung
hat er zugleich das letzte, äußerste Ziel angegeben, das er dem menschlichen Le-
ben gesetzt sieht. Dieses letzte Ziel kann in seinem Sinn nicht die bloße Selbster-
haltung des Lebens sein – ein schlechthin lustloses Leben ist für niemanden mehr

30. S. aber A. Schmitt, 22008, 341–380 und M. Krewet, 2011, 145–148.


31. S. Aristoteles, EN 1175b25–36: „Wie sich die Tätigkeiten durch Vollendung oder Vernach-
lässigung unterscheiden, […] so auch die Lüste. […] Jede Tätigkeit hat die ihr eigentümliche
Lust. […] So wie die Tätigkeiten verschieden sind, so sind es auch die Lüste.“
40 Arbogast Schmitt

lebenswert – es kann nur diejenige Aktivität sein, die sich durch sich selbst, durch
die in ihr enthaltene höchste, unvermischte Lust rechtfertigt.
Auch bei der Auswahl der von sich selbst her lustvollsten Form des Han-
delns richtet sich Aristoteles nach subjektiven Kriterien. Dies macht bereits seine
wichtige Unterscheidung zwischen Handeln und Machen deutlich. Nicht nur das
Erkennen, auch das Handeln in konkreter Einzelsituation ist nach Aristoteles et-
was primär Subjektives. Denn keineswegs alles, was jemand tut, ist im Sinn seiner
Analyse ein Handeln. Beim Bauen eines Hauses, bei der Zubereitung einer Speise
usw. muss man sich nach den Bedingungen des Bauens, des Kochens samt der
zugehörigen Materialien richten. Ein solches, auf die richtige Bewertung äuße-
rer Bedingungen angewiesenes Tätigwerden nennt Aristoteles ‚machen‘ (ποιεῖν).
Beim Handeln hängt dagegen der Erfolg oder Misserfolg nicht von der Erfüllung
der äußeren Bedingungen ab. Man kann ein Gericht perfekt zubereiten, aber es
schmeckt einem selbst oder einem Gast nicht. Wenn aber das Ziel des Tuns, das
erstrebte Gut, ein besonderer Genuss war, dann ist das Ziel dieses Tuns nicht er-
reicht, d. h., als Handlung war das Machen erfolglos. Erfolg und Misserfolg eines
Handelns haben ihr Kriterium also allein in der Erreichung des subjektiven Guts,
in der erstrebten Lust bzw. der vermiedenen Unlust. Das Handeln des Zornigen
besteht in dem möglichst ungehinderten und vollständigen Genuss des Gefühls
der Wiederherstellung seiner Ehre, das Handeln des Zuschauers im Theater in
dem möglichst ungehinderten und vollkommenen verstehenden Erleben der
Bühnenhandlung usw. usf., allgemein also ist die möglichst ungehinderte, mög-
lichst vollkommene Durchführung einer subjektiven Aktivität ihr eigentliches
Ziel, ihre eigentliche und eigentümliche Lust, die Behinderung, die unvollkom-
mene Beherrschung dieser Aktivität, die ihr eigene Unlust.32
Aus Überlegungen dieser Art leitet Aristoteles ab, dass die angenehmste und
lustvollste Beschäftigung für den Menschen das Erkennen selbst ist (EN X 7),
und zwar das Erkennen, das über seine Kriterien verfügt und weiß, was es tut.
Auch alle anderen Formen des Erkennens sind, wenn man in mehr oder weniger
gebundener Form seine Erkenntniskompetenz nur anwendet, nach Aristoteles
besonders lustvoll.33 Beispiele sind für ihn etwa die Kinder, bei denen man se-
hen kann, wie ihnen die Fortschritte im Lernen und Erkennen die eigentliche
Freude sind, oder etwa auch die Tatsache, dass der Kunstgenuss wesentlich auf
Erkenntnis beruht, so sehr, dass man sogar die bildliche Darstellung hässlicher
Dinge oder die dichterische Darstellung tragisch scheiternden Handelns genie-

32. S. v. a. EN X 4–5.


33. Geradezu axiomatisch formuliert dies Aristoteles im ersten Satz seiner Metaphysica: Alle
Menschen streben von ihrer Natur her nach Erkenntnis. Einen Hinweis darauf gibt die Liebe
zu den Sinneswahrnehmungen (980a21–25).
Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles 41

ßen könne, weil sie uns eine besonders intensive und deutliche Form des Erken-
nens möglich machen.
Leider haben wir hier nicht die Möglichkeit, die inhaltliche Seite des pla-
tonisch-aristotelischen Erkenntnisbegriffs zu behandeln, von der her erst ver-
ständlich werden könnte, warum Aristoteles das Erkennen „das Beste und
Angenehmste“ nennt; für seine Konstruktion von Moral und Recht – und beides
ist für Aristoteles zwar unterschieden, aber nicht voneinander unabhängig mög-
lich – genügt es vielleicht, sich auf das dafür unmittelbar Relevante zu beschrän-
ken. Das Wichtigste ist, dass er mit der Auszeichnung, dass beim Erkennen die
Lust nur um ihrer selbst willen gesucht werde, auch einen Freiheitsbegriff kon-
stituiert, der sich grundlegend von denjenigen neuzeitlichen Freiheitsbegriffen
unterscheidet, die Freiheit nur dann für möglich halten, wenn es einen Raum für
den Menschen geben könnte, in dem er in gar keiner Weise determiniert wäre.
Für Aristoteles ist jemand nicht frei, weil er von nichts beeinflusst wird, sondern
wenn er das, wovon er beeinflusst wird, von sich selbst her wirklich will, und das
ist dann der Fall, wenn er es uneingeschränkt als angenehm erfährt. Beim Erken-
nen ist diese Erfahrung der Lust zugleich von einer Aktivität bestimmt, die ganz in
unserer eigenen Verfügung liegt und auch in diesem Sinn frei ist. Für die Freiheit
dieser Aktivität hat Aristoteles eine Begründung, die die Prädikate reflexiv und
kritisch verdient. Denn sie beruht auf einer Reflexion nicht auf die Bedingun-
gen dieser oder jener Aktivität, sondern auf den Grund, warum wir überhaupt
tätig sein können. Dieser Grund ist, wie ich schon zu zeigen versucht habe, dass
wir unterscheiden können. Das haben wir mit allem, was lebt, gemeinsam. Die
Besonderheit des Menschen ist, dass er auch die Bedingungen erkennen kann,
die ausmachen, dass er unterscheiden kann. Die Erkenntnis dieser Bedingungen
hängt also ausschließlich von einer Reflexion auf dasjenige subjektive Vermögen
ab, über das jeder von sich selbst her verfügt. Er erkennt sie allein dadurch, dass
er sich selbst bei dem, was er ständig tut und also offenbar kann, beobachtet und
nach dem Grund dieser seiner Fähigkeit fragt. So wie man etwa beim Zusam-
menbauen eines Autos herumprobieren kann, so dass der Erfolg von vielen, oft
zufälligen äußeren Bedingungen abhängt, aber auch die Konstruktionsbedingun-
gen kennen kann und dann selbst den Arbeitsvorgang beherrscht, so ist es nach
Aristoteles auch beim Unterscheiden und Erkennen.
Freiheit im eigentlichen, strikten Sinn muss für ihn also zwei Kriterien genü-
gen: Es muss das Erstrebte uns als solches angenehm sein, und wir müssen zur
Erkenntnis dieses Angenehmen das Vermögen in uns selbst haben und es aus
eigenem Wissen verwirklichen.
Diese beiden Bedingungen machen für ihn Freiheit nicht nur im höchsten
Sinn möglich, sie machen, je nachdem, wie sie erfüllt sind, bei jedem Handeln
den Aspekt aus, unter dem es mehr oder weniger als frei gelten kann. Da ‚frei‘
42 Arbogast Schmitt

höchste Lusterfahrung meint, und die höchste Lusterfahrung das eigentliche Ziel
und die Erfüllung des Menschseins ist, macht die Erfüllung dieser Freiheitsbedin-
gungen auch den moralischen Aspekt eines Handelns aus: In ihr liegt das eigent-
liche Gut des Menschen, um dessentwillen er alles tut, was er tut.

Die Grade der Abweichung von der freien Verfügung über sich selbst
als Kriterium der Unterscheidung verschiedener Formen moralischen
Fehlverhaltens

Mit den möglichen Abweichungen von dem, was nach Aristoteles das eigentli-
che Gut des Menschen ist, beginnen die moralisch und rechtlich problematischen
oder verwerflichen Handlungsweisen.

a. Die Verabsolutierung der Sinneslust als Grund ihrer moralischen


Problematik

Die Fehlformen menschlichen Handelns ergeben sich für Aristoteles konsequen-


terweise dort, wo jemand sich von der freien Verfügung über sich selbst abbrin-
gen lässt. Das ist vor allem bei den am meisten gebundenen Erfahrungsformen
der Fall, bei den Sinneswahrnehmungen. Auch Wahrnehmungen sind nach
Aristoteles Aktivitäten, die wesentlich von der Ausübung unseres Unterschei-
dungsvermögens abhängen; wir können es beim Wahrnehmen aber nur betätigen,
wenn etwas Wahrnehmbares gerade da ist, und wir können es nur in der Form
betätigen, die das Wahrnehmungsorgan zulässt: Wir unterscheiden mit dem Ohr
eben nur Töne, mit dem Auge nur Farben, usw. Daraus ergibt sich nach Platon
wie Aristoteles keine grundsätzliche Verdächtigung der Sinnlichkeit, so, als ob
sie das eigentlich Böse, unserer vernünftigen Moralität Entgegenstehende sei, wie
etwa noch Kant sagt.34 Im Gegenteil: Sofern die Lust im Sinn der aristotelischen
Analyse in der vollendeten Durchführung einer Aktivität liegt, ist die mögliche
höchste Lust einer Sinneswahrnehmung auch das moralisch Erwünschte und
Gute. Platon wie Aristoteles sehen darin, bereits bei der Sinneswahrnehmung das

34. S. z. B. Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, BA 31: „Das Passive der Sinnlich-
keit, das wir doch nicht ablegen können, ist eigentlich die Ursache alles des Übels, was man
ihr nachsagt. Die innere Vollkommenheit des Menschen besteht darin, dass er den Gebrauch
seiner Vermögen in seiner Gewalt habe, um ihn seiner freien Willkür zu unterwerfen. Dazu
aber wird gefordert, dass der Verstand herrsche, ohne doch die Sinnlichkeit (die an sich Pöbel
ist, weil sie nicht denkt) zu schwächen: weil es ohne sie keinen Stoff geben würde, der zum
Gebrauch des gesetzgebenden Verstandes verarbeitet werden könnte.“
Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles 43

wirklich Angenehme gleichsam schmecken zu lehren, sogar eine moralische Er-


ziehungsaufgabe.
Die Probleme mit den Sinneslüsten entstehen aus ihrer Begrenztheit und
Gebundenheit. Die Lust des Auges oder der Zunge ist nicht das, was die Vollen-
dung der menschlichen Aktmöglichkeiten ausmacht, sie können lediglich dazu
beitragen, und sie werden dies in genau dem Maß tun, in dem sie den genannten
Freiheitskriterien genügen. Jemand, der beim Schmecken eines guten Weins sich
z. B. nicht von einem ersten Eindruck einer gewissen Herbheit abschrecken lässt,
sondern die Unterscheidungsgabe seines Geschmacks- und Geruchssinns wirk-
lich einsetzt, wird nicht nur mit einer differenzierteren, höheren Lust belohnt, er
wird durch die Qualität dieser Lusterfahrung auch davon abgehalten, eine Begier-
de nach gröberen, primitiveren Lusterfahrungen mit dem Wein, die sein Unter-
scheidungsvermögen verdunkeln, zu entwickeln.
Es ist daher erst der Verzicht auf diese eigentätige Freiheit in der wirklich
angenehmen Lusterfahrung, aus der die Probleme mit der Sinnlichkeit entstehen.
Aristoteles beschreibt sehr richtig, dass die Lusterfahrung immer etwas Präsentes,
an den jeweiligen Augenblick Gebundenes ist. Das setzt die höhere, an komple-
xere Entstehungsbedingungen gebundene Lust in einen Nachteil gegenüber leicht
zugänglichen Gegenwartslüsten und macht es zur eigentlichen Aufgabe morali-
scher Bildung und Erziehung, die subjektiven Bedingungen herzustellen, die auch
das Komplexere präsent und dadurch in seiner Lustqualität erfahrbar machen.
Aus der Abweichung von dieser Aufgabe entsteht nach Aristoteles die Reihe
der möglichen Verfehlungen des besten und lustvollsten Lebens, und zwar genau
im Maß der Abweichung. Da diese Abweichungen immer Abweichungen von der
freien Selbständigkeit des Menschen sind, arbeitet Aristoteles mit großer Sorgfalt
bei jeder Art von Fehlverhalten den Anteil an eigener Verantwortung heraus. Ich
kann nur noch einige Beispiele vorführen, die die Entstehung verbrecherischer
Gesinnungen erklären.
Wer etwa beim Weintrinken nur die abstrakte, bei jedem Wein gleiche Lust
an einem Zustand der Betäubtheit sucht, verliert dabei nicht nur einen konkreten,
differenzierten Genuss an einem bestimmten Wein – weshalb das Streben nach
dem größtmöglichen Genuss bereits im Blick auf die sinnlichen Lusterfahrungen
das moralisch Gebotene ist, denn es erhält die Aktivität des Unterscheidungs-
vermögens und macht so frei für die diesem zugänglichen anderen Lusterfah-
rungen – er schädigt damit zugleich seine Gesundheit und also die Grundlage
aller möglicher Lusterfahrungen überhaupt. Der Fehler bei diesem Verhalten
liegt nach Aristoteles nicht etwa in einem Mangel an Willensstärke, sondern an
dem, was diese Willensstärke gegenüber der Augenblickslust überhaupt erst mög-
lich machen kann. Die emotionale Blindheit gegenüber der Gesundheitsschädi-
gung ist für Aristoteles tatsächlich zuerst eine Blindheit, d. h., sie beruht auf dem
44 Arbogast Schmitt

Nichtbetätigen einer dem Menschen möglichen Erkenntnisfähigkeit. Der der


unbestimmten Augenblickslust Ergebene hat es versäumt, sich den Gesundheits-
schaden in der Vorstellung so präsent zu machen, wie er ihn erführe, wenn er
gegenwärtig da ist. Denn dann ist auch die mit ihm verbundene Unlust präsent
und wird, je nachdem wie stark und schmerzlich sie ist, das Streben nach der Au-
genblickslust mindern oder auslöschen. Deshalb würde es Aristoteles als Zeichen
von geistiger Schwäche und nicht von Willensschwäche bezeichnen, wenn man
vor einer schweren Operation noch raucht oder trinkt, oder vor dem Examen
nicht lernt.

b. Die Unbeherrschtheit: ihre Gründe, ihre Mittelstellung zwischen


verständlichem und selbstverantwortlichem Fehlverhalten

Aus dem Unterschied zwischen einem konkreten Wissen, das man haben könnte,
sich aber in seinen Details nicht präsent macht, und einem tatsächlich ausgear-
beiteten, in allen Einzelheiten vergegenwärtigten Wissen erklärt Aristoteles alles
Verhalten aus Unbeherrschtheit. Der Unbeherrschte, der sagt: „ich weiß ganz ge-
nau, dass […], kann mich aber nicht beherrschen“, handelt nach Aristoteles kei-
neswegs gegen sein besseres Wissen, sondern gegen ein schlechteres Wissen. Er
verhält sich, so sagt er, wie Schüler, die ihrem Lehrer Sätze nachsagen, deren Sinn
sie nicht verstehen. Sein Wissen – etwa um die Schädlichkeit des Rauchens – hat
den Charakter einer abstrakten Allgemeinvorstellung. Ein solches Wissen hat
nach Aristoteles schon deshalb keine emotionale Handlungsrelevanz, weil man
beim Handeln grundsätzlich auf Einzelnes bezogen ist. Dieser Bezug auf das Ein-
zelne ist aber für Aristoteles – anders als es von einem modernen Rationalitäts-
begriff her erscheint – kein bloßer Akt der Subsumtion, der Unterordnung eines
Einzelnen unter ein Allgemeines. Er setzt vielmehr eine intellektuelle Durchar-
beitung, ein Durchdenken aller der Konsequenzen, die sich bei der Anwendung
auf das Einzelne ergeben, voraus.35 Nicht wer sagt, „ich weiß, dass man Spin-
nen nicht fürchten muss“, verliert die Angst vor ihnen, wohl aber der, dem ihre
Ungefährlichkeit in empirisch bewährter, konkret gefüllter, selbst kontrollierter
Anschauung präsent ist. Auf dieser schon von Aristoteles formulierten Einsicht
basieren ja viele neuere Therapiekonzepte der Psychologie, von Aristoteles her ge-
sehen macht dieses konkrete Durcharbeiten allgemeiner Einsichten das Verdienst
bei gutem Handeln aus, die Art und das Ausmaß, in dem es unterlassen wird, die
eigentliche Schuld.

35. S. dazu ausführlich mit Stellenangaben A. Schmitt, 22011, 458–469.


Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles 45

Über diesen Übergang vom Abstrakten zum Konkreten, von der Theorie zur
Praxis hat Aristoteles viel zu sagen. Das Wichtigste ist, dass er sich diesen Über-
gang nicht als einen Dimensionswechsel vorstellt, so als ob es auf der einen Seite
ein theoretisch kognitives, auf der anderen ein bloßes Tun gebe. Er hält es viel-
mehr mit Euripides, der seine Phaidra an einer berühmten Stelle sagen lässt: „Das
Richtige und Gute wissen und kennen wir <im Allgemeinen>, aber wir arbeiten
es nicht <bis in seine Einzelheiten> durch.“36 Gemeint ist damit genau das, wo­
rauf auch Aristoteles hinauswill: Das Wissen um das, was im Allgemeinen Scham,
Empörung, Mitleid, Furcht usw. verdient, muss, wie er sich ausdrückt, ‚zusam-
menwachsen‘ mit der Erkenntnis des Einzelnen: dass dies hier genau das ist, was
Mitleid verdient, und zwar in genau diesem Ausmaß, in der Art und Weise usw.
Nicht darin, dass man sich ein momentanes Gefühl bewusst macht, liegt für ihn
die Intelligenz des Gefühls, sondern darin, dass man auf diese Unterschiede ach-
tet: wem gegenüber, in welchem Maß, wie, wann usw.37 Es ist, wie wenn man einen
Plan – einer Stadt, eines Hauses, der Zusammensetzung eines Gegenstands – im
Allgemeinen sehr gut kennt, aber nun in konkreter Situation sein allgemeines
Wissen umsetzen muss. Diese Umsetzung ist, wenn sie nicht blind sein soll, selbst
ein Erkenntnisvorgang, der die Besonderheit an sich hat, dass man etwas Ein-
zelnes, Konkretes als die jeweilige, besondere Ausführung eines Abstrakten er-
kennen muss. So ist es etwa auch beim Chirurgen, der sein allgemeines Wissen
um Bau und Funktion eines bestimmten Körperteils bei einem einzelnen Eingriff
umsetzen muss. Dieser Eingriff ist nicht einfach bloße Handarbeit im Gegensatz
zur Theorie, sondern ein konzentriertes, aufmerksames Unterscheiden: ‚hier ist
die Arterie verschlossen‘, ‚diese Stelle darf nicht verletzt werden‘ usw.
Aristoteles hat für diese Art der Intelligenz den Begriff einer praktischen In-
telligenz (πρακτικός νοῦς) eingeführt, er nennt sie auch ein „Auge der Seele“.
Beispiel ist ihm etwa der Tapfere, der in langer und aufmerksamer Erfahrung
in vielen Kämpfen ein Auge dafür gewonnen hat, wo ein Gegner bedrohlich ist
und wo nicht, und der diese Erfahrung in neuer konkreter Situation konzentriert
und gleichsam im Nu einsetzen kann. So geht auch der erfahrene Kenner von
Kunst nur zum Schein spontan auf das schönste Bild einer Ausstellung zu, weil
diese vermeintliche Spontaneität auf reicher, ihm aktual zur Verfügung stehender

36. S. Euripides, Hipp. 380–383; s. dazu A. Schmitt, 22011, 466–469.


37. S. zu dieser von Aristoteles immer wieder wiederholten Forderung z. B. EN II 6,
1106b21–23.
46 Arbogast Schmitt

Kunstkenntnis aufruht, die etwa dem Laien, dem statt des besten das eingängigste
und eher kitschige Bild ‚spontan‘ zusagt, nicht zur Verfügung steht.38
So wie Tapferkeit damit wesentlich ein Verdienst einer im konkreten Hand-
lungsvollzug erworbenen praktischen Intelligenz ist, so liegt umgekehrt der
Anteil an Eigenverantwortlichkeit bei den Fehlformen des Handelns für Aristo-
teles in dem Mangel an erworbener Erkenntnisfähigkeit. Er diskutiert eine breite
Palette von Möglichkeiten, besonders interessant ist seine Behandlung affekti-
scher Fehlhandlungen.

c. Von der Unbeherrschtheit zur Zügellosigkeit

Die Tat, die im Affekt ausgeführt wird, hat oft, wenn der Affekt eine bestimmte
Stärke erreicht hat, den Charakter des Unfreiwilligen, Zwanghaften, sofern der
Handelnde etwa durch Gefühle des Zorns, des Hasses, der Eifersucht, der Angst
um sein freies Urteil und damit um seine souveräne Verfügung über sein Urteils-
vermögen gebracht ist. Dennoch unterscheidet Aristoteles diese Art des unwis-
sentlichen, unüberlegten Handelns von einem Handeln, bei dem einem das für
das richtige Handeln nötige Wissen überhaupt nicht zu Gebote stehen konnte.
Ödipus konnte nicht wissen, dass der ihm begegnende Fremde sein Vater ist. Für
diese Unwissenheit ist er in keiner Weise verantwortlich. Anders steht es mit der
Affekthandlung, in der er einen Fremden, weil dieser ihn von der Straße zu drän-
gen versucht, erschlägt. Aristoteles erkennt zwar an, dass man in der Konzentra-
tion auf das vermeintliche Unrecht – und darin besteht für ihn der Zorn – den
Blick auf das allgemein Richtige verloren haben kann, dieser Verlust der richtigen
Einsicht ist in seinen Augen aber schuldhaft, und zwar in unterschiedlichem Aus-
maß.39 Grundsätzlich gilt, dass es sich hier um ein augenblickliches Nichtwis-
sen handelt, das aber nicht absolut ist, sondern im Gegenteil ein Wissen nicht
ins Auge fasst, das man haben könnte. Deshalb zählt bei der Beurteilung einer
im Augenblick der Tat mehr oder weniger unfreiwilligen Handlung der Weg,
auf dem man in diese Unfreiwilligkeit gekommen ist. Es ist nach Aristoteles wie
beim Rausch. Im Rausch selbst handelt man unfreiwillig, der Weg in den Rausch
kann aber sehr verschieden motiviert sein. Es kann eine einmalige Entgleisung
von jemandem, der im Allgemeinen das richtige Maß einzuhalten pflegt, etwa

38. S. dazu A. Schmitt, »Phronesis – eine andere Art des Erkennens?«, in: G. Radke-­Uhlmann
(Hrsg.), Phronesis – die Tugend der Geisteswissenschaften. Beiträge zur rationalen Methode
in den Geisteswissenschaften, Heidelberg 2012 (Studien zu Literatur und Erkenntnis, Bd. 3),
31–81.
39. S. dazu und zum Folgenden v. a. EN VII 6, 1149a29–1150a9.
Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles 47

angesichts eines großen Unglücks, sein; in diesem Fall muss der subjektive Schul-
danteil geringer veranschlagt werden. Es kann aber auch die zur Gewohnheit ge-
wordene Entgleisung dessen sein, der bestimmten Augenblickslüsten oder auch
Unlüsten grundsätzlich nicht widerstehen kann, der schon beim ersten Anblick
des lustverheißenden Gutes schwach wird, oder der der geringsten Drohung ei-
nes Schmerzes nicht ins Auge sehen kann, sondern überängstlich davor zurück-
weicht. Solche zum charakterlichen Habitus gewordenen Schwächen beurteilt
Aristoteles nicht etwa, wie dies heute häufig geschieht, milder, sondern strenger
als die Augenblicksentgleisungen. Denn sie haben ihren Ursprung ja in einer
dauerhaften Verweigerung, die eigenen Erkenntnisfähigkeiten ihrer sachlichen
Potenz nach richtig einzusetzen, sie schädigen den Menschen daher, je nach dem
Bereich, in dem er sich diese Verweigerung zur Gewohnheit hat werden lassen,
substantiell und nicht nur beiläufig.

d. Der Verlust jeder Ordnung der Lüste durch den Unwillen


zu unterscheiden als Kriterium verbrecherischen Handelns

In der Vernachlässigung der Vermögen, die der Mensch hat, und von denen er
wissen kann, weil er sie ständig gebraucht, liegt für Aristoteles auch der eigent-
liche Übergang von einem nur schuldhaften zu einem verbrecherischen Leben.
Man hat die Fähigkeit etwa zur Wahrnehmung nicht nur zum Sehen, Hören,
Schmecken, sondern auch als Teil der dem Menschen insgesamt zu Gebote ste-
henden Fähigkeiten. Wenn, wie Aristoteles aufzuweisen versucht hat, in ihrer
vollendeten Aktivierung das eigentliche Glück des Menschen besteht, dann ist
das Nicht-zusammen-wirken-Wollen, das Sich-nicht-Kümmern um die Funktion
des Einzelnen im Ganzen der eigentliche Anlass, der den Menschen um sein ihm
mögliches Glück bringt. Also ist jemand, der meint, nicht nur hin und wieder,
sondern grundsätzlich nicht gehalten sein, sich um die Einheit seiner menschli-
chen Akte kümmern zu müssen, derjenige, der sich am meisten schädigt und der
damit zugleich seine ihm aufgegebene Freiheit am wenigsten entfaltet: Er über-
lässt sich jedem Lust- oder Unlustgefühl, wenn es gerade da ist, und glaubt – und
das erst macht die Eigenverantwortlichkeit seines Fehlhandelns aus – dazu auch
jedes Recht zu haben. Grundsätzlich nicht zu wissen, was gut und schlecht für
einen ist – obwohl man es wissen könnte – das ist es daher, was nach Aristoteles
den Verbrecher zum Verbrecher macht, und er bringt damit auf den Begriff, was
Platon in seiner Beschreibung des melancholischen Tyrannen so anschaulich vor
Augen geführt hat.
48 Arbogast Schmitt

Ausblick

Von der platonischen wie der aristotelischen Analyse kann man sagen, dass sie
anthropologisch sind. Anders als viele neuere Anthropologien verdanken sie ihre
Ergebnisse aber nicht empirischen Beobachtungen, aus denen sie möglichst all-
gemein zutreffende Charakteristika ableiten – derartige allgemeine Kategorien
wären in ihrem Sinn immer dem geschichtlichen Wandel unterworfen –; ihre
Ergebnisse ziehen ihre Rechtfertigung vielmehr aus einer Reflexion auf die dem
Menschen zu Gebote stehenden Vermögen, v. a. auf sein Unterscheidungsvermö-
gen. In gewissem und vielleicht sogar in einem legitimeren Sinn verdient aber
auch diese Reflexion das Prädikat ‚empirisch‘, denn sie stützt sich ja auf Erfah-
rungen, die jeder bei sich selbst in völliger Konkretheit machen kann und auf
die er sich auch schon stützen muss, wenn er in kontrollierter Weise empirische
Beobachtungen an äußeren Gegenständen machen will.
Die frühe Neuzeit hat in der Abkehr von dem vermeintlich dunklen Mit-
telalter auch dieses platonisch-aristotelische Verständnis des Menschen von sich
selbst als metaphysisch und dunkel verdächtigt. Wenigstens einige Argumente
dafür, dass es an der Zeit sein könnte, sich in rationaler Form mit diesem Men-
schenbild auseinander zu setzen, wollte diese Studie beibringen.

Abstract
Crime and fault in Plato and Aristotle: How to identify and evaluate morally
culpable action

With his description of morality as the “domain of pleasure and aversion”,


Aristotle diverges significantly from conceptions of morality that consider it to
be primarily a function of the fulfillment of duties (above all, those owed to oth-
ers). In place of the guidance (and repression) of pleasures by reason, we find the
task – as is already the case in Plato – of arriving at a hierarchy of pleasures. The
path leads from what appears to be good to the individual at the present moment
(because it is pleasurable) to what is really good for him, i.e., what is good in a
comprehensive sense and will make him happy in the long run. Thus, Plato and
Aristotle do not derive the criteria for morally culpable action from a catalogue of
vices, nor from sanctions against deviation from universal norms (natural rights,
human rights, etc.) supposedly demanded by reason. Rather, they derive these
criteria from the deviation from the perfect and most comprehensive experience
of pleasure possible for a human. Since, as Aristotle says, everyone does what they
do for the sake of pleasure, for Aristotle, the individual’s genuine autonomy and
Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles 49

responsibility lies in his inherent striving for pleasure. Via a rational reflection on
the acts through which the individual can gain pleasure in the domains of sensu-
ality, of honor and recognition, or of knowledge for its own sake, Aristotle gains
a measure for identifying lesser or greater deviations from the perfect happiness
possible in these different domains. The main reason why individuals fail to attain
what is good and pleasurable for them is because they absolutize their depen-
dence on present experiences of pleasure, which hinders the effective functioning
of the other experiences or domains necessary for the well being of the individ-
ual as a whole. This paper attempts to clarify this conception of morality in the
Aristotelian texts and to distinguish it from contrasting conceptions of morality.
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