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Dankrede Dankrede

leicht bedeuten, daß ein älterer Gebrauch bei den Flo- und deshalb bemerkenswerte, soziale, d . h . auf andere
rentinern noch fortlebte. Menschen bezogene, Handlungen von Menschen, die
Im Humanismus kommt es zu einem entschiedenen sich nicht Zufällen oder einem <Geschick> v e r d a n k e n ,
Bruch mit der C.-Tradition. Die Wiederbelebung der sondern intentionaler N a t u r sind und einem tugendhaf-
antiken Stilideale bringt ein neues Interesse für die me- ten Charakter entspringen. Subjekt des D a n k e s ist in der
trischen clausulae mit sich. Die von Lindholm untersuch- Regel ein Nutznießer der dankenswerten Handlungen
ten A u t o r e n des 15. J h . , L. BRUNI, G . B A R Z I Z Z A und bzw. jemand, der im N a m e n der Nutznießer spricht.
POGGIO BRACCIOLINI, haben sich ganz von den mittelal- Insofern die Handlungen als solche unbestritten sind,
terlichen Regeln befreit und kündigen den Ciceronianis- besteht die wesentliche rhetorische A u f g a b e darin, sie
mus an. Etwas länger lebt das alte C.-System in der selbst, ihren U r h e b e r und ihre Nutznießer mit Hilfe von
päpstlichen Kanzlei: unter Martin V. (1417—1431) und <Steigerungsmitteln> (amplificatio) so darzustellen, daß
Nicolaus V. (1447—1455) wird es noch streng befolgt, sie als groß, tugendhaft und eigentlich unverdient er-
unter PiusII. (1458-1464) und JuliusII. (1503-1513) scheinen.
dagegen wird die Tendenz zur Befreiung immer deutli- B . Eine <Theorie> der D . findet sich in den überliefer-
cher. Schließlich setzt der Ciceronianer P. BEMBO, der im ten Quellen der griechischen Antike nicht. Weder Gor-
Jahre 1513 Sekretär des Papstes L e o X . wird, dem C.- gias noch Isokrates noch Aristoteles behandeln die D . als
Gebrauch in den päpstlichen Briefen ein E n d e . eigenständige Gattung. ARISTOTELES, die platonische
Rhetorikkritik berücksichtigend, entwickelt zwar eine
Anmerkungen: Theorie der epideiktischen R e d e , aber <nur> in F o r m
lvgl. T. Janson: Prose Rhythm in Medieval Latin from the 9th einer Lehre von der Lobrede im allgemeinen. <Loben>
to the 13th Century (Stockholm 1975) 66; P. Rajna: Per il «cur-
ist, logisch gesprochen, ein dreistelliger Prädikator. Je-
sus» medievale e per Dante, in: Studi di filologia italiana3
(1932) 9ff.; G. Lindholm: Stud, zum mittellat. Prosarhythmus mand lobt j e m a n d e n f ü r etwas. Nach Aristoteles sind
(Stockholm 1963) 15; W.Meyer: Gesamm. Abh. zur mittellat. diese Größen in spezifischer Weise miteinander verbun-
Rhythmik 2 (1905). - 2 H . Hagendahl: La prose métrique d'Ar- den. Seiner Auffassung nach dürfen nur tugendhafte
nobe (Göteborg 1937); S.M. Oberhelman: The cursus in late Menschen Subjekt des Lobes sein; nur dies gewährleiste
imperial Latin prose, in: Classical Philology 83 (1988) 136-149; nämlich, daß ausschließlich Tugendhafte gelobt würden.
ders. : The history and development of the cursus mixtus in Latin Wer die Maßstäbe der Tugend nicht kenne, könne auch
literature, in: Classical Quarterly 38 (1988) 228-242. - 3vgl. nicht kompetent urteilen. D a m i t verknüpft Aristoteles
Janson[1] 45. - 4ebd. 63ff.,66f. - 5ebd. 73. - 6vgl. ders. 77; die Rhetorik der Lobrede nachdrücklich mit der Ethik,
LMA, Bd. I (1980) Sp. 281. - 7 vgl. R. Witt: On Bene of Floren-
ce's Conception of the French and Roman Cursus, in : Rhetorica
der Tugendlehre, worauf vor allem V. Buchheit hinge-
3 (1985) 81f., 97f. - 8 vgl. Janson [1] 92ff.; M. Plezia: L'origine wiesen hat. Nun äußert sich die Tugend in W e r k e n (er-
de la théorie du cursus rythmique au XII e siècle, in: Archivum ga), d . h . Handlungen, die individuell zurechenbar sein
Latinitatis Medii Aevi 39 (Brüssel 1974) 7ff.,16f. - 9Plezia [8] müssen. Insofern ist das L o b von Tieren, Pflanzen oder
15ff.; Janson[1] 95. - 10Rajna[l] 59ff.; Witt[7] 83f. - 11 vgl. auch unbelebten Gegenständen seit Aristoteles eigent-
dagegen Witt [7] 88ff. - 12vgl. U. Westerbergh (Rezension zu lich obsolet. Tugendhafte Handlungen verdienen Lob,
Lindholm [1]), in: Archivum Latinitatis Medii Aevi 35 (1967) wobei das E n k o m i o n sich auf einzelne Handlungen bzw.
79f.; Janson [1] 79. Leistungen bezieht; anders verhält es sich mit d e m Epai-
nos: «Er ist umfassend und begreift die Darstellung einer
Literaturhinweise: Persönlichkeit, ihre Aretai und Leistungen, die davon
E. Norden: Die antike Kunstprosa vom VI. Jh. v. Chr. bis in die ausgehen oder in Beziehungen zu ihnen stehen.» [1] Die
Zeit der Renaissance, 2. Bd. (31918) 950ff. - M . G . Nicolau:
L'origine du «cursus» rythmique et les débuts de l'accent d'in-
<kleine> und die <große> D . können hier jeweils zwanglos
tensité en latin (Paris 1930). - C. Erdmann: Leonitas. Zur mit- zugeordnet werden.
tellat. Lehre von Kursus, Rhythmus und Reim, in: Corona Die griechische Theorie des epideiktischen G e n u s
Quernea. Festgabe Karl Strecker (1941) 15-28. - H . M . Schal-
ler: Die Kanzlei Friedrichs II.: Ihr Personal und ihr Sprachstil,wurde im R a h m e n der römischen Republik weder theo-
Teil II, in: Archiv für Diplomatik 4 (1958) 264 - 327. - M. Leu- retisch noch praktisch wesentlich fortentwickelt. Was die
mann, J. B. Hofmann, A. Szantyr: Lat. Grammatik 2: Lat. Syn- Unterart der D. betrifft, so sind zunächst CICEROS ein-
tax und Stilistik (1965) 717f. - D. Norberg: Manuel pratique de schlägige Reden vor dem Senat und der Volksversamm-
latin médiéval (Paris 1968) 87ff. - J. J. Murphy: Rhetoric in thelung zu betrachten. Im folgenden soll Ciceros D . vor dem
Middle Ages (Berkeley/Los Angeles/London 1974, ND 1981) Senat in einigen Aspekten beleuchtet werden. [2] Zu-
249ff. - L . D . Stephens: Remarks on accentual prose rhythm, nächst eine knappe Skizze des historischen Kontextes:
in: Helios 15 (Lubbock, Texas 1988) 4 1 - 5 4 . - S.M. Ober- Nachdem Cicero die catilinarische Verschwörung aufge-
helman: Rhetoric and Homiletics in Fourth-Century christian
deckt hatte, wurden die Catilinarier E n d e 63 v . C h r .
Literature (Atlanta 1991).
E. Odelman hingerichtet. 58 promulgierte der Volkstribun Clodius
ein Gesetz, wonach jeder, der einen römischen Bürger
—* Accentus —» Ars dictandi, dictaminis —» Brief —» Briefsteller ohne Gerichtsverfahren hatte töten lassen, verbannt
—» Klausel —» Rhythmus werden sollte. Dieses Gesetz zielte auf Cicero, der R o m
dann auch verließ, noch ehe das Gesetz a n g e n o m m e n
war. 57 beschloß der Senat dann ein Gesetz über die
Rückberufung Ciceros. Einen Tag nach seiner A n k u n f t
in R o m sprach er d e m Senat und d e m Volk seinen D a n k
D aus.
In der Rede vor dem Senat bedankt Cicero sich nicht
D a n k r e d e (lat. gratiarum actio) einfach bei jenen, die seine «Begnadigung in die Wege
A . Die D . ist eine selbständig vorkommende oder in geleitet, gefördert und durchgesetzt haben» [3], sondern
andere Gattungen eingebettete Unterart der epideikti- er macht von einem ganzen Arsenal von Steigerungsmit-
schen Rede. Gegenstand des D a n k e s sind vornehmlich teln Gebrauch, und zwar nicht nur im Hinblick auf die
vergangene oder auch zu erwartende, nicht-alltägliche Handlung und in bezug auf die Personen, denen er zu

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danken hat, sondern auch mit Rücksicht auf sich selbst: Kaiser zu danken (gratiarum actio). Neben Ansprachen
Der Umfang der ihm zuteil gewordenen Wohltaten sei auf Neujahrsfesten, Jahrestagen der Gründung Roms
gar nicht beschreibbar, der Rest seines Lebens zu gering, und der Thronbesteigung des jeweiligen Herrschers,
um alles zu vergelten; viele hätten unter Lebensgefahr Glückwünschen nach siegreichen Feldzügen, zu Hoch-
für ihn Partei ergriffen. Erstes Lob gebühre dem Cn. zeiten und Geburtstagen waren diese D. die wichtigsten
Pompeius, den Cicero apostrophiert als «an Tüchtigkeit Modi der Epideixis. Unter dem Titel <Panegyrici Latini>
und Ruhmestaten weitaus der erste Mann aller Zeiten sind uns zwölf große Reden erhalten. [7] Darüber hinaus
und Völker»; er wendet sich an zahlreiche Einzelne und kennen wir aus der Zeit zwischen dem 4. und dem 6. Jh.
benennt ihre jeweiligen Verdienste um seine Rückkehr; noch einschlägige Reden u . a . von Ausonius, Cassiodor
alle Senatoren habe er «wie Götter» zu verehren. Ja, und Symmachus. Die weitaus bekannteste D. aus dem
mehr noch: Seine Eltern hätten ihm zwar Leben, Vermö- Korpus der zwölf ist die um 100 n.Chr. verfaßte D.
gen, Freiheit und Bürgerrecht vermacht, die Götter hät- P L I N I U S ' DES J Ü N G E R E N an Kaiser Traían. Sie umfaßt
ten ihn und sein Eigentum beschützt, das Volk hätte ihm etwa achtzig Seiten gedruckten lateinischen Texts. [8] Es
das hohe politische Amt des Konsuls angetragen, der ist wohl nicht entscheidbar, welche Teile ursprünglich
Senat hätte ihn oft geehrt; insofern man ihm nun aber all mündlich vorgetragen wurden. Sechs partes können un-
das, was er von Eltern, Göttern, Volk und Senat einst terschieden werden: eine kurze Einleitung, eine Darstel-
Stück für Stück erhalten, mit einem Schlage zurückgege- lung von Traians Karriere, eine Liste von Traians Ver-
ben habe, seien diejenigen, denen er zu danken habe, diensten um Rom, eine Darstellung seiner <Privat>-Tu-
sogar noch gleichsam über die Götter erhoben. Zugleich genden und - schließlich - Plinius' privater Ausdruck des
scheut Cicero sich nicht, zur Charakterisierung seiner Danks. Man sieht, daß hier die klassischen Themen der
Gegner auf die überkommenen Topoi der Tadelrede, Lobrede dominieren und der eigentliche Dank eher eine
insbesondere auf den Tadel von Körpermerkmalen zu- Nebenrolle spielt. Bei der Disposition handelt es sich um
rückzugreifen: Da hat einer einen stechenden Blick, eine Kombination der beiden Schemata, die Quintilian
Hängebacken, eine heisere, versoffene Stimme usw.; vorgegeben hatte. In «einem Fall macht es sich besser,
darüber hinaus werden noch Topoi aus der vituperatici wenn man den Altersstufen und der Reihenfolge der
rerum externum, genauer: der Erziehung und des Ge- Taten folgt, also in den ersten Lebensjahren die Anlagen
schlechts (das schlechte «transalpine Blut seiner Mut- lobt, dann die Erfolge beim Lernen, danach dann die
ter») bemüht. Besonders augenfällig ist aber Ciceros ganze Kette der Leistungen, das heißt der Taten und
Eigenlob (sui iactatio). Noch das Fremdlob und der Reden. In einem andern Fall wieder macht es sich bes-
Dank an andere wird im Dienst des Eigenlobs funktiona- ser, das Lob der Tugenden nach ihren Erscheinungsfor-
lisiert, wenn es z.B. heißt, daß «P. Lentulus, der Vater men einzuteilen, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Selbstbe-
und Gott meines Lebens, Glücks, Andenkens und Na- herrschung usw., und ihnen einzeln zuzuteilen, was in
mens [glaubte], daß es eine Probe auf seine Tatkraft, ein jeder von ihnen geleistet worden ist.» [9] Aus dem Jahr
Beweis seiner Gesinnung, der Glanzpunkt seines Konsu- 312 stammt eine weitere im Korpus enthaltene D. eines
lats sein werde, wenn er mich mir, den Meinen, euch und unbekannten Redners an Konstantin. Eine dritte und
dem Staate wiedergäbe.» [4] Cicero strapaziert den zum letzte schließlich ist die D. des Konsuls C L A U D I U S M A -
Lobinstrumentarium gehörenden Vergleich zu seinen MERTINUS auf Kaiser Julian, gehalten 362 in Konstantino-
Gunsten: « . . . welch ein Unterschied zwischen mir und pel, die hier etwas näher beleuchtet werden soll. [10]
meinen F e i n d e n . . . » Er weist darauf hin, daß er durch-
aus mutig genug gewesen wäre, sich selbst mit Waffenge- Im Exordium erläutert Mamertin, warum er erst jetzt
walt zu verteidigen. Abgehalten hätte ihn allein die Sor- dem Kaiser dankt, obwohl er schon seit langem Anlaß
ge um das allgemeine Wohl. Und schließlich: «Gerade dazu hat. Dann nennt er kurz die Meriten Julians um den
mein Unglück zeugt doch nicht etwa für ein begangenes Staat und kündigt den eigentlichen Gegenstand seiner
Unrecht, sondern für dem Staat geleistete übermenschli- Rede an. Das Lob Julians bezieht sich auf zwei Felder:
che Dienste.» [5] Angesichts dieser Art von Selbstlob ist seine militärische Bedeutung, die u. a. darin zum Aus-
man nicht nur heutzutage befremdet. Schon Q U I N T I L I A N druck komme, daß er Gallien gerettet und die Aleman-
bemerkte nämlich, auch auf Cicero gemünzt: «Vor allem nen geschlagen habe, und seine moralischen Tugenden,
[ . . . ] ist alles Großtun mit der eigenen Person ein Fehler u. a. seine Abneigung gegen Luxus und seine Großzügig-
[ . . . ] , und es bereitet den Zuhörern nicht nur Widerwil- keit. Was nun seine Wahl als Konsul angehe, so übertref-
len, sondern meistens sogar ein Gefühl des Hasses. Es fe die Wohltätigkeit des Fürsten die der Götter, ihm
besitzt nämlich unser Geist von Natur ein Gefühl für gebühre die aufrichtige Liebe aller, welche andere Kai-
Hohes, Aufrechtes und etwas, das sich gegen den Über- ser nicht hätten evozieren können. Seine Seele sei derart
legenen sträubt; und deshalb erheben wir die Niedrigen heiter, daß er sogar seinen Feinden vergebe, usw. Im
und sich Unterwerfenden gern, weil wir uns, wenn wir Rahmen der peroratio macht der Redner von dem Topos
dies tun, gleichsam größer vorkommen, und sobald der Gebrauch, daß er sich zu entschuldigen habe, weil er der
Wettbewerb wegfällt, tritt die Menschlichkeit an seine Größe seiner rhetorischen Aufgabe nicht gewachsen sei.
Stelle. Wer sich dagegen über das Maß erhebt, von dem Er verspricht Julian ewige Dankbarkeit und verpflichtet
glaubt man, er sei ein Unterdrücker und Verächter und sich, dem öffentlichen Wohl mit aller Kraft zu dienen.
mache nicht so sehr sich größer wie die anderen klei- In Byzanz waren die politischen und ökonomischen
ner.» [6] Verhältnisse derart, daß weder für die Gerichts- noch für
die politische Rede Raum blieb. Das politische Leben
Auffällig ist nun, daß selbst in der römischen Kaiser- konzentrierte sich in Kaiserakklamationen und in Form
zeit der D. keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet der höfischen Verherrlichung anderer hochstehender
wurde. Quintilian z.B. führt zwar Grabreden, Lob und Persönlichkeiten. Das überkommene Lehrgebäude wur-
Preis von Parteien bei Gericht und im politischen Milieu, de vor allem über T H E O N , A P H T H O N I O S , H E R M O G E N E S
darüber hinaus Festreden auf, referiert aber nicht auf die VON T A R S O S und M E N A N D R O S vermittelt. Hermogenes
D., obwohl sie mittlerweile zu einer Institution gewor- hat in der Nachfolge Ciceros und Quintilians vor allem
den war. Neu gewählte Konsuln hatten nämlich dem die für die Gattung der D. zentralen Aspekte des Perso-

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nenlobs systematisiert: Er unterscheidet u . a . bemer- sagung. Wirkungsmächtiger war aber letztlich die latei-
kenswerte Ereignisse bei der Geburt; Aufzucht und Er- nische Übersetzung der griechischen Progymnasmata-
ziehung; Natur der Seele, d . h . Gerechtigkeitssinn, Sammlung des Aphthonios, die noch in der zweiten Hälf-
Selbstbeherrschung, Weisheit, Stärke; Natur des Kör- te des 17.Jh. z . B . in die Rhetoriken J.MASENS und
pers, z.B. Schönheit und Kraft;Taten; <Umstände>, u. a. G. Vossius' integriert war. Hier ging es um Prosaklein-
Freunde, Besitz, Haushalt, Geschick. [11] Von Menan- gattungen wie descriptio und comparatio und um die
dros stammt die mit einer philosophischen, d.h. ethisch Chrie, wesentliche Elemente gerade auch in D. Die ver-
fundierten Rhetorik nicht zu vereinbarende Lehre von breiteten Lehrbücher wie die des Protestanten Vossius
den Rangstufen des Lobs. Demnach ist nicht nur das Lob und des Jesuiten SOAREZ fußten im wesentlichen auf
anerkannt lobwürdiger Gegenstände zugelassen, son- Aristoteles, Cicero und Quintilian. Theoretiker der epi-
dern auch das Lob von Übeln wie Dämonen und nicht deiktischen Rede wie etwa Hermogenes und Menandros
lobenswerter Gegenstände wie Hunden, Armut und wurden allenfalls am Rande erwähnt.
Tod. [12] Exempel für die byzantinische D. sind Reden Im 17. Jh. wurde die humanistische lateinische Schul-
von Themistios an Kaiser KonstantiosII. - hier geht es rhetorik im Licht des utilitaristischen Konzepts der poli-
um seine Ernennung zum Senator - , und an Theodosius tischen Klugheit, das auf die Figur des höfischen Red-
I., diesmal aus Anlaß seiner Ernennung zum praefectus ners zugeschnitten war, modifiziert. Nach C. W E I S E hat-
urbi. [13] te der Student der politischen Beredsamkeit zu lernen,
Das Mittelalter sah vor allem in Cicero den großen «1. Auff was vor ein Fundament eine Schul-Rede ge-
Lehrmeister der Rhetorik. Immer wieder wurden Cice- setzt ist;
ros Jugendschrift <De inventione> und die ihm zuge- 2. Worinnen die Complimenten bestehen,
schriebene <Rhetorica ad Herennium> kopiert und kom- 3. Was bürgerliche Reden sind;
mentiert. Beide Texte enthalten zur Lehre der epideikti- 4. Was bey hohen Personen sonderlich zu hofe vor
schen Rede nur wenig. Nach Auskünften zur D. sucht Gelegenheit zu reden vorfällt.» [15]
man hier erst recht vergebens. Die Darstellung der Ge- Weise reformuliert in logisierender Absicht das Ver-
richtsrede überwiegt bei weitem. Anders als im Fall der ständnis der vierteiligen Chrie: protasis, aetiologia, am-
epideiktischen Rede gab es für diese Gattung aber über- plificatio und conclusio, wobei die letzten beiden eigent-
haupt keinen gesellschaftlichen Bedarf. Nicht nur die lich auch entbehrlich sind. In derpropositio bzw. protasis
aristotelische, die <philosophische>, sondern auch die by- wird eine These exponiert, um deren Begründung man
zantinische, <sophistische> Version der Epideixis war den sich im Rahmen der aetiologia bemüht. In der amplifica-
mittelalterlichen Autoren unbekannt. Die für die Praxis no macht man wie zu Aristoteles' Zeiten von Gegensät-
der Lobrede maßgebenden Theoretiker wie Dionysios zen, Vergleichen, Beispielen, Zeugnissen usw. Ge-
von Halikarnassos, Pseudo-Longinus, Menandros, Aph- brauch mit dem Ziel, die Begründung weiter zu plausibi-
thonios und Hermogenes wurden erst in der Renaissan- lisieren. Die conclusio ist im wesentlichen eine Neuauf-
ce, im 15. und 16. Jh., ins Lateinische übersetzt und nahme der protasis. Danksagungskomplimente könn-
damit dem gebildeten Publikum im Westen zugänglich. ten, so Weise, darüber hinaus sogar die Form eines klas-
Für das Genre des Dankes wurden im Mittelalter, in sischen Syllogismus haben. Ein Beispiel für das chrienar-
der Renaissance und im Humanismus vor allem zwei tige Verfahren, eine Danksagung für «genossene vielgül-
neue Textsorten bedeutsam, der Brief und die Predigt. tige Recommendation»: «Propositio. Ich habe nicht Um-
Schulenbildend war die Behandlung der brieflichen gang nehmen können/denselben schuldigster massen
Danksagung durch DESIDERIUS ERASMUS VON ROTTER- auff zu warten.
DAM. Er unterstellt zunächst ein hierarchisches Verhält- Aethiologia wird nun abgetheilet.
nis: «Jenen Leuten sagt man Dank, denen etwas aufzu- Vorsatz: Denn weil ich nicht allein von vielen Jahren
tragen man nicht das Recht hat.» Man habe daran zu her allerhand Gunst und Beförderung von demselben
arbeiten, die erhaltene Wohltat zu vergrößern. Hier geht genossen; Sondern auch absonderlich in der neulichst
es um Amplifikation im überkommenen Verständnis. ertheilten Recommentation dessen vielgültige Affection
«Vergrößerungsmittel» seien u . a . die folgenden: Die reichlich verspüret habe ;
Wohltat sei aus freien Stücken und schnell erfolgt; sie sei Fortsatz: So befinde ich mich allerdings schuldig sol-
reichlicher als erwartet ausgefallen; sie sei nicht ihrer- ches mit immerwärender Danckbarkeit zu rühmen. [ . . . ]
seits Reaktion auf eine bereits empfangene Wohltat. Amplificado ab Exemplis. Und gleichwie sehr viel
Wenn jemand mit einem Rat aushalf, werde man sich Clienten bemühet seyn/dero hohe Gewogenheit durch
bedanken, indem man darauf verweist, daß man dem einige angenehme Auffwartung zu verschulden: Also»
Ratgeber mehr zu verdanken habe als einem, der nur etc. [16]
Geld gibt. «Wenn dagegen jemand mit Geld aushalf, Im 18. Jh. zitiert GOTTSCHED im Kontext der Behand-
wird man sagen, mit Worten Abhilfe schaffen sei eine lung von Lobreden Ciceros <De inventione> und referiert
wertlose Gefälligkeit. Wer bereitwillig Geld hergebe, auf die Örter aus dem Namen, der Eltern, der Vorfah-
muß unbedingt als der zuverlässigste Freund erschei- ren, Orte, Zeiten, Reisen, Gütern des Glücks, Eigen-
nen.» [14] Erasmus weist auch auf die Topoi hin, die das schaften des Geistes und des Gemütes, aus Taten und
Ausmaß der Dankesschuld betreffen: Man habe dauern- Tugenden. Einige dieser Lobquellen, so Gottsched in
de Dankbarkeit zu beteuern oder auch auf die Götter aufklärerischer Manier, seien nichts als «seicht», näm-
hinzuweisen, die das Verdienst desjenigen, dem zu dan- lich die, die sich nicht auf individuell zuschreibbare löbli-
ken ist, schon angemessen belohnen würden, wenn man che Handlungen beziehen. Und wenn, so Gottsched ge-
selbst nicht dazu in der Lage sei. gen die überkommene Topik, «ein Redner hier den aus-
Erasmus schrieb auch mit <De duplici copia verborum führlichen Lebenslauf eines [...] Menschen mit einem
ac rerum libri duo> (1512) eines der für das 16. Jh. maß- guten moralischen Erkenntnisse vereiniget; so wird er
gebenden Rhetoriklehrbücher. Im ersten Buch führt er keine ferneren Topiken brauchen». [17] Nicht nur die
zahlreiche Figuren, Tropen und idiomatische Wendun- «große» Lobrede wird entrhetorisiert, auch die «klei-
gen (formulae loquendi) vor, u. a. im Kontext der Dank- nen» Komplimentierreden, d . h . für Gottsched neben

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Staats-, Hof- und Landtagsreden auch Anwerbungs-, chen A n n a h m e verzichtet, die Leser würden die Beispie-
Hochzeits-, Strohkranz- usw.-, d . h . auch D a n k - R e d e n , le schon entsprechend den jeweiligen Umständen> ab-
verlieren an Dignität, insofern sie als bloße Chrien sollen wandeln. Gleichwohl lassen sich rekurrente Muster,
ausgeführt werden können. <Faustregeln> ausmachen. A . D o p p l e r u . a . [21] teilen
In zeitgenössischen rhetorischen Ratgebern figuriert z . B . eine «Danksagung für eine Geburtstagsrede» mit,
die D . üblicherweise als Gelegenheitsrede, die einmal die sich dem heutzutage gängigen Dispositionsschema
von der Sach- bzw. Informationsrede, zum anderen von Einleitung-Hauptteil-Schlußfügt: «Einleitung: Dank f ü r
der Überzeugungs- bzw. Meinungsrede unterschieden die herzlichen, aber für mich viel zu schmeichelhaften
wird. Mit Hilfe der Gelegenheitsrede zielt m a n , so die Worte. - D a n k f ü r das kostbare, gut und liebevoll ge-
gängige A u s k u n f t , vor allem auf den Ausdruck bzw. die wählte Geschenk.
H e r b e i f ü h r u n g oder Verstärkung einer dem jeweiligen Hauptteil:
Redeanlaß angemessenen Stimmung. Die Gelegen- 1. Verbundenheit mit allen Arbeitskollegen
heitsrede sei gefühlsbetont, alles <rein Verstandesmäßi- Versprechen, auch künftig mit allen gut zusammen-
ge> müsse vermieden werden. O f t nimmt man drei Ar- zuarbeiten.
ten von Gelegenheitsreden an: die R a h m e n r e d e , die Aufrichtiger Wille, alle gut zu verstehen.
Trauerrede und die Gesellschaftsrede. R a h m e n r e d e n 2. Die Berufserfolge der letzten Jahre sind vor allem den
haben sozusagen flankierende Funktion; hier geht es Mitarbeitern zu danken, E h r u n g e n , die mir widerfah-
insbesondere um Eröffnungs- und Schlußreden. So mag ren, sind nur zum geringsten Teil mein Verdienst:
man sich als Versammlungsleiter im R a h m e n eines Ihre Mitarbeit, Ihr Verständnis, Ihre Umsicht waren
Eröffnungsvortrags u . a . dafür bedanken, d a ß die Teil- entscheidend.
n e h m e r und Referenten trotz beschwerlicher Anfahrten 3. Aufzählen von Leistungen, die durch die gute Zusam-
und anderweitiger Verpflichtungen so zahlreich erschie- menarbeit erreicht werden konnten.
nen sind. Damit wird dem, was als kulturelle Selbstver- Schluß: Ausblick auf die Z u k u n f t : Die Arbeit ist mir
ständlichkeit erscheinen könnte, der Status einer be- bisher meist eine Lust und nur selten eine Last gewesen.
merkenswerten Leistung zugeschrieben. Thematisch [ . . . ] Ich danke Ihnen nochmals für die Ehre, die Sie mir
stärker im Zentrum steht der Dank im Kontext der erwiesen, und f ü r die Freude, die Sie mir bereitet haben.
Schlußreden, f ü r die etwa H . J u n g folgendes Disposi-
- Ich verspreche Ihnen, alles zu tun, mich Ihres Vertrau-
tionsschema vorschlägt:
ens würdig zu zeigen.» Hier finden sich die wesentlichen,
«1. A n r e d e
für die Lobrede konstitutiven Topoi wieder. Ins A u g e
2. Hinweis auf den Schluß der Versammlung springt vor allem, daß hier auch von der überkommenen
3. D a n k an den Referenten und die Versammlungsteil- Bescheidenheitstopik Gebrauch gemacht wird. D a r ü b e r
nehmer hinaus fällt auf, d a ß die Disposition im wesentlichen auf
4. Schließung der Versammlung» [18] verschiedenen Formen der Zeitreferenz basiert, weite-
Was die A n r e d e betrifft, deren Lehre im übrigen in rer Beleg d a f ü r , d a ß die gängige Überzeugung, im Rah-
der Ratgeberliteratur einen nicht geringen Stellenwert men des genus demonstrativum werde auf die Gegenwart
hat, so liegen die Verhältnisse im Fall der Schlußrede referiert, nicht haltbar ist. D e r R e d n e r bezieht sich eben,
einfach. Anzusprechen sind - so der übliche Ratschlag - wie bereits Aristoteles wußte, nur vorzugsweise auf die
nur der Referent selbst und die Teilnehmer in toto. D e r Gegenwart; «doch benutzt er häufig auch das Geschehe-
D a n k , so der topische Hinweis, soll nicht floskelhaft ne, indem er daran erinnert sowie das Künftige, indem er
sein, wobei - der Textsorte entsprechend - als probates ein Bild davon entwirft.» [22]
Gegenmittel zum Teil selbst wieder <Floskeln> empfoh-
len werden: D e r Dank solle «mit ein paar persönlichen Anmerkungen:
Worten unterstrichen und bekräftigt werden. D e r Hin- IV. Buchheit: Unters, zur Theorie des Genos Epideiktikon von
weis, daß diese Ausführungen für alle ein Gewinn waren Gorgias bis Aristoteles (1960) 163; vgl. auch Arist. Rhet. I, 9,
und der D a n k aus ehrlichem Herzen k o m m t , ist wir- 1 - 9 . - 2Cicero, Staatsreden, 2.T., hg. von H.Kasten (1981)
kungsvoller als die verbreitete leere Floskel "Wie Ihnen 12-66. - 3 e b d . 27. - 4 e b d . 17. - 5 e b d . 35. -6Quint. XI, 1,15f.
der Beifall der Z u h ö r e r z e i g t . . . " . » [19] - 7 R . A.B. Mynors (Hg.): XII Panegyrici Latini (Oxford 1964).
- 8ebd. 1 - 8 1 . -9Quint.III, 7, 15. - 10Mynors [7] 121-144. -
I m m e r wieder wird vor der G e f a h r gewarnt, Eröff- 11 H.Rabe (Hg.): Hermogenis Opera (1913; ND 1969). -
nungs· und Schlußreden zu Koreferaten auszuweiten. 12Rhet. Graec. Sp. 331-336. - 13H. Hunger: Die hoch-
Durchgängig plädiert man f ü r das Stilideal der Kürze, sprachl. profane Lit. der Byzantiner (1978) 151. - 14Erasmus
zum Teil so, daß man an den Lakonismus gemahnt wird. von Rotterdam: De conscribendis epistolis - Anleitung zum
D a r ü b e r hinaus wendet man sich unter Berufung auf das Briefschreiben (Auswahl), übers, von K. Smolek (1980) 279 u.
Sachlichkeitspostulat gegen jede Form von überschweng- 281. - I5C.Weise: Politischer Redner... (1681) Titelblatt. -
lichem D a n k . 16ebd. 181f. - 17J.C. Gottsched: Ausführt. Redekunst (1759;
ND 1975) 167. - 1 8 H . Jung: Reden müßte man können ! Erfolg-
Die D . muß aber keineswegs nur Rahmen-, insbeson- reiche Versammlungs-, Sitzungs- und Diskussionspraxis (1977)
dere Schlußrede sein: sie kann auch die <eigentliche> 33. - 19ebd. 34. - 20 G. Ammeiburg: Erfolgreich reden leicht-
Gesellschaftsrede ausmachen. G . Ammeiburg[20] z . B . gemacht (1981) 9. - 21 A.Bernhard u.a.: Besser schreiben,
klassifiziert die zahlreichen einschlägigen Redeanlässe reden, rechnen - Ein Bildungsbuch für jeden (o.J.) 398. -
nach Familie, Beruf und U n t e r n e h m e n , Geschäftsleben, 22 Arist. Rhet. 1,3, 4.
Vereins- und Verbandsleben, geselliger Kreis, öffentli-
che Gremien und Politik, Schule und Kirche. Dabei geht
Literaturhinweise :
es u . a . um die D . eines Geburtstagskindes oder eines F. Quadlbauer: Die antike Theorie der genera dicendi im lat.
<Silberbräutigams>, um die Dankansprache eines Chefs MA (Wien 1962). - G.Kennedy: The Art of Persuasion in
nach Verleihung des Bundesverdienstkreuzes, um den Greece (Princeton 1963). - G. Kennedy: The Art of Rhet. in the
D a n k f ü r jahrelange Vereinstätigkeit usw. Auffällig ist, Roman World (Princeton 1972). - A. Bremerich-Vos: Populäre
d a ß man zwar viele Redeexempel präsentiert, auf die rhet. Ratgeber. Hist.-systemat. Unters. (1991).
A n g a b e von <Regeln> aber zugunsten der zuversichtli- A. Bremerich-Vos

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Debatte Debatte

—» Amplificatio —• Bescheidenheitstopos —* Bittrede —» Dedi- pirrhema und Antipnigos. Damit wird ein Zusammen-
kation —> Enkomion —» Festrede —» Gattungslehre —• Gelegen- hang συζυγία (syzygía) geformt. Der Chor hilft diese Aus-
heitsrede —» Lobrede einandersetzung zu bewerten in Form der Sphragis, des
«Siegels». [3]
Wichtig ist das erkennbare Ordnungsschema mit ei-
Debatte (engl, debate; frz. débat; ital. dibattito) nem Ordner bzw. Chorführer, die Präsentation gegen-
A . <D.> bezeichnet eine Form sprachlicher Auseinan- sätzlicher Meinungen oder Auffassungen als selbstän-
dersetzung, die auf einem antagonischen Grundschema dige formale Vorträge, die nur durch einen formal ge-
beruht. Dabei steht die Auseinandersetzung mit dem trennten Chor und durch die Konvention, daß der erste
Ziel gedanklicher Virtuosität und sprachlicher Vollen- der Verlierer ist, relativiert wird. Auch in den Antilogien
dung in Konkurrenz mit der Auseinandersetzung um den des PROTAGORAS bzw. in der Dialexis, den δισσοι λογοί
sachlichen Gehalt. Das als D. heute bekannte Phänomen (dissoí logoí, Doppelreden) seines anonymen Epigonen,
hat Ursprünge und eine lange historische Vorgeschichte gilt ein vergleichbares Schema. Der Erfolg der Gegenre-
im Bereich der Philosophie (Sophistik, Sokratik), im de wird damit erzielt, daß sie eher glaubhafte, weil nicht
Bereich der Kunst (Tragödie, Komödie), im Bereich der paradoxe Thesen begründet. Auch ist sie durch ihre
Gesellschaft, der Politik (Griechische Demokratie, Ge- Position an zweiter Stelle in der Lage, sowohl die These
richtswesen) und nicht zuletzt im Bereich der Religion der Rede als auch ihre einzelnen Argumente zu widerle-
(Dualismus). gen, während die Rede einerseits infolge der Paradoxie
Der Begriff <D.> stammt aus Frankreich, wahrschein- ihrer These an sich unglaubhaft, andererseits infolge
lich aus der Zeit des 11. und 12. Jh., als dort im Zuge der ihrer Voranstellung nicht in der Lage ist, These und
gesellschaftlichen Entwicklung in den Kathedralen- Argumente der Gegenrede zu widerlegen. [4] Philo-
Schulen unter dem Einfluß der scholastischen Methode sophisch begründet ist die sophistische Auffassung in
eine Kunst der verbalen Differenzierung entwickelt wur- dem PROTAGORAS zugeschriebenen Grundsatz, über jede
de. Diese blieb nicht auf die spirituelle, theologische Sache gebe es zwei Reden. Diese «antilogische Praxis
Umwertung alter sakramental-theologischer Wertvor- des Rhetors», die noch nicht zur formalschematischen
stellung einer vorläufigen kosmologisch-ontologischen Rollenverteilung der D. gefunden hat, hat ihre Wurzel in
Weltanschauung beschränkt, sondern gewann auch als in der relativistischen Philosophie, daß der Mensch das
ernsten und wichtigen Fragen bewährtes Schema Einfluß Maß aller Dinge sei. [5] Daraus, daß jeder menschlichen
auf weniger wichtige, profane (αδιάφορα, adiáphora) Be- Subjektivität in Empfindung und Gedanken auch eine
reiche. [1] Quaestiones de quolibet (Untersuchungen zu adäquate Realität entsprechen muß, wurde gefolgert,
verschiedenen theologischen oder philosophischen Fra- daß auch das Gegenteil einer Auffassung einen Wahr-
gen) gelten als literarischer Niederschlag der damaligen heitsanspruch haben muß. Um diesem Wahrheitsan-
theologischen Schuldisputation. In diesem Zusammen- spruch gerecht zu werden, muß man ihn zum Ausdruck
hang entsteht der heutige Ausdruck <D.>. Als deren kommen lassen bzw. bringen. Dieser grundsätzlich nicht
Merkmale gelten: l ) d i e gesellschaftliche Anerkennung bestrittene Wahrheitsanspruch einer Gegenmeinung
von Redegewandtheit, 2) die Ebenbürtigkeit bzw. führt letztlich zur literarischen Ausformung der Diskus-
Gleichwertigkeit der Gegner zu Beginn einer Diskus- sion und D. Die Wertigkeit des fraglichen Wahrheitsan-
sion, 3) das Interesse an der Gegensätzlichkeit der spruches wird durch die Wahl der formalen Präsentation
Standpunkte, die neben dem formalen Gegensatz auch kommuniziert. Da der Redner auch ein <Weisen und als
als Ausdruck für die Interessen sozialer Gruppen oder solcher ein Denker ist, so wählt und gliedert er den Inhalt
Typen gelten kann, 4) die Erkenntnis und Anerkennung der logoi derart, daß der eine logos als der stärkere (λόγος
von sprachlichen Ambivalenzen und Meinungsunter- κρείττων, lògos kreittön), der andere als der schwächere
schieden je nach Standpunkt und Kontext. F. Heer sieht (λόγος ήττων, lògos héttôn) erscheint. [6] Deshalb ist bei
das 12. Jh. als Agon und Aufklang eines großen gesamt- der Betrachtung des Ursprungs, der Geschichte und der
europäischen Streitgesprächs. [2] Literarisch nicht nach- besonderen Entwicklung des <Debattenphänomens> die
weisbare Ursprünge liegen im religiösen Ritual, dessen Art und Weise der formalen Inszenierung von besonde-
Verweltlichung ins Theatralische die schematische Form rer Bedeutung.
der sprachlichen Auseinandersetzung künstlerisch inspi-
rierte und gesellschaftlich akzeptabel machte. Man unterscheidet im alten Griechenland zwischen
der μακρολογία (makrología), dem Austausch von langen
B . I . Antike. Eines der konstitutiven, formalen Ele- und ununterbrochenen Reden, und der βραχυλογία (bra-
mente der alten Komödie ist im wesentlichen der Agon chylogia), der schnellen Dialogabfolge. [7] Die jeweili-
oder die D. zwischen den im Drama einander entgegen- gen Vor- und Nachteile beider Methoden sind Gegen-
gesetzten Charakteren oder auch zwischen allegorischen stand von Auseinandersetzungen, z. B. in ARISTOPHANES
Personen, die dafür eingesetzt wurden. Diese Konfron- <Wolken>. Der langen Wechselreden bedient man sich
tation läuft folgendermaßen ab: vor Gericht und in der Volksversammlung, SOKRATES
Strophe oder Ode: vorgetragen von einem Halbchor, bevorzugt den Dialog als sichere Wahrheitsmethode. [8]
um das Interesse der Anwesenden zu wecken. Der kritische Punkt liegt in dem philosophisch-dialekti-
Der Katakeleusmos: Der Coryphaeus erteilt dem er- schen Versuch, einen systematischen Ausweg aus dem
sten Debattenredner, zum Verlierer bestimmt, das Dilemma der sophistischen antilogischen und eristischen
Wort. Praxis zu finden, neben dem formalen und sprachlichen
Die Epirrheme: Der erste Debattenredner trägt sein Widerspruch ein auf Wahrheit abzielendes bzw. ein in
Argument/Anliegen vor. Wahrheit begründetes Verfahren zu entwickeln. Die
Der Pnigos: Der erste Debattenredner erreicht den dialektische, letztlich auf Wahrheit abzielende Verfah-
Höhepunkt seines Vortrage in einem atemlosen Finale. rensweise versuchte, die gute und effektvolle (epideikti-
Das Ganze wird für den zweiten Debattenredner wieder- sche) rhetorische Vorstellung zu diskreditieren.
holt. Die Teile des weiteren Verlaufs werden berechnet Form und Funktion. In dieser Auseinandersetzung
als Antistrophe oder Antode, Anttkatakeleusmos, Ante- gewinnt die Wahl der formalen Regeln und der Versuch,

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formale Regeln der sprachlichen Auseinandersetzung in funden werden, um die Vielheit der verschiedenen Mei-
ihrer Einhaltung bzw. durch ihre Nichteinhaltung zu be- nungen formal und inhaltlich auf einen gesellschaftlich
einflussen, erhöhte Bedeutung. Während Ironie, Paro- akzeptierten Punkt zu bringen: dies geschieht mit der D .
die, Satire und nicht zuletzt eine dialektische Umwer- Die Form der D . liegt bereits in der klassischen Überlie-
tung mit Bezug auf sprachliche Aussagen andere, den ferung vor und dient dem Mittelalter als Modell. In den
unmittelbaren Redezusammenhang übergreifende An- <Ekologen> THEOKRITS und V E R G I L S fanden bereits karo-
spruchsebenen mobilisieren, wird in der D . oder Dispu- lingische Dichter ihr Vorbild für Streitgedichtformen
tation in der Regel der konventionelle Versuch unter- (conflictus). Die Ketzer und die scholastischen Gelehr-
n o m m e n , die sprachliche Auseinandersetzung in einen ten des 12. Jh. folgen der alten Weltvorstellung von einer
überschaubaren und zeitlich begrenzten und damit auch gottweltlich sakramental begründeten Einheit von Reich
sozial kontrollierbaren Z u s a m m e n h a n g zu bringen. Die und Gottesreich nicht mehr, sie suchen eine neue Gei-
Kontrollfunktion des Diskussions- und Debattenarran- steskirche ohne Sakramente und ohne alte Priester-
gements findet dort ihre Grenze und A u f h e b u n g , wo die schaft, ein neues Evangelium. [11] So entwickelt sich mit
Kontrolle durch Sanktion und Repression die formale dem neuen Weltverständnis auch ein neues Sprachver-
Gleichberechtigung der widerstreitenden Parteien auf- ständnis, das zum Teil neben und gegen die alten Vor-
hebt. Insofern erscheint die D . auf den ersten Blick in stellungen auftrat. Nebeneinander gibt es die Sprachen
ihrer gesellschaftlichen Funktion als eine von der jeweili- der höfischen Gesellschaft, des scholastisch gebildeten
gen politischen Herrschaftssituation unabhängige Rede- Klerus, der humanistischen Gelehrsamkeit und der mo-
praxis, welche die verschiedensten sprachlichen Äuße- nastischen Spiritualität. Die D . erlaubt es, die verschie-
rungen in Form von Wechselreden und Gesprächen er- denen Auffassungen und Aussagen in einer Form der
laubt. Vorgaben der D . sind nicht nur die kaum mehr Kommunikation in Szene zu setzen. Das jeweilige Publi-
beachteten formalen und andere unausgesprochene Be- kum und Arrangement der Abfolge mag zwar eine Be-
dingungen, die D . zulassen, T h e m e n erlauben bzw. den wertung im Sinne des jeweiligen Regisseurs vorentschei-
Redeablauf oder -abtausch inszenarisch festlegen; vor- den, entscheidend ist jedoch die Möglichkeit, auch dia-
gegeben ist auch die jeweils gegebene Legitimation des metral entgegengesetzte Auffassungen zur Sprache zu
Herrschaftsanspruches, die diese Bedingungen, Zensu- bringen und so auf- oder abzuarbeiten. Nicht den An-
ren und Szenarien in vielen Formen der Akzeptanz, des spruch zu erheben, aufgeworfene Fragen und Probleme
Gehorsams und der Loyalität aller Mitwirkenden gegen- wirklich lösen zu wollen, also ihre kontrafaktische Funk-
über diesem Anspruch mitbestimmt. Konstitutiv für die tion, erklärt den eigentlichen Erfolg der D e b a t t e n f o r m
D . ist allerdings grundsätzlich die Epoche von Wirkungs- in bestimmten historischen Situationen.
ansprüchen, die solchen Herrschaftsanspruch in Frage
stellen würde. Ein konkurrierender Herrschaftsan- Das spielerische Absehen von Wirklichkeit begründet
spruch könnte die derart eingeschränkte F o r m des De- die pädagogische Funktion der D . im Schulbetrieb meh-
battierens als Beschränkung eines allgemeinen politi- rerer Jahrhunderte. Als Streit spielt die D. in den Pro-
schen und gesellschaftlichen Anspruchs denunzieren, gymnasmata der Rhetorik als Schulübung eine große
der seinerseits möglicherweise das Establishment des Rolle. Hier liegen zugleich die Fäden, die das gesamte
Herrschaftsanspruches gerade auch außerhalb der kon- lateinische Mittelalter mit d e m Altertum verknüpft. [12]
trafaktischen bzw. fiktiven Debattensituation in Frage Die Linie verläuft vom Rhetorikunterricht der Sophisten
gestellt hat. Todfeinde und Systemgegner, f ü r die der über die römischen Rhetorenschulen zu den Kloster-
fiktional zelebrierte Konsens, der Form und Inhalt einer schulen des Mittelalters. Es ist dabei das Verdienst von
D. zugrunde liegt, nicht begreifbar ist, können sich ihrer- A B Ä L A R D , einem Übungstyp eine geschlossene schriftli-

seits nicht auf D e b a t t e n einlassen. Insofern hat die D . che Form gegeben zu haben, der zuvor im wesentlichen
neben dem Moment der gesellschaftlichen Freiheit, das nur mündlich durch Widerrede und Antworten prakti-
in ihr kämpferisch zum Ausdruck k o m m t , bis zum ziert wurde, durch Vortrag von Widerrede und Antwor-
Grenzpunkt einer repressiven Toleranz auch ein konser- ten. [13] Diese Disputation des wissenschaftlichen Un-
vatives M o m e n t , das dem kämpferischen Arrangement terrichts dient sowohl der Einübung und Vertiefung von
etablierter gesellschaftlicher Kräfte in einem allseits ak- Lernstoffen, aber auch zur Schulung eigener sprachli-
zeptierten Ordnungsrahmen dient. Das Arrangement cher Fertigkeiten und geistiger Möglichkeiten. Eine A r t
der D . ist wie jede politische Rhetorik auch an sich Säkularisierungsthese behauptet, diese Schulformen sei-
apolitisch. Es erfährt und vermittelt N o r m e n und Wert- en von sogenannten Vaganten, fahrenden Liederma-
vorstellungen aus der jeweils gegebenen historischen po- chern, aufgegriffen und zu einer eigenständigen Gattung
litischen und kulturellen Situation. des <Streitliedes> entwickelt worden. [14] So wurde diese
II. Von der Antike zum Mittelalter. Die D . wird auch in Form des sprachlich und literarisch geprägten Streites
Form und Funktion der allegorischen Literatur des Mit- außerhalb der Schulen popularisiert und lag bereit, als
telalters zugeordnet [9], aus der eine belehrende, schel- die widerstreitenden Erfahrungen der gesellschaftlich-
mische und auch nur unterhaltende Wirkungsabsicht spirituellen Krise des 12. Jh. eine angemessene F o r m
spricht. Sie wird als Ausdruck des subjektiven, verinner- sprachlichen Ausdrucks suchten. Bei einem Großteil der
lichten geistigen Erlebnisses von individuell begriffener Streitgedichte handelt es sich um wirklichkeitsnahe Aus-
und ergriffener Rationalität verstanden, die sich gegen einandersetzungen, auf aktuelle Zeitfragen bezogen, un-
die traditionelle liturgisch-sakramentale, symbolische gelöste kirchliche wie politische Fragen diskutierend,
und typologische Denk- und Redeweise, die von den ζ. T. mit heftigen Angriffen insbesondere gegen Tun und
Priestern verkündet und verwaltet wird, durchzusetzen Treiben der Geistlichkeit. D a s Anliegen der Streitge-
versucht. [10] Damit einher geht die Popularisierung des dichte ist dabei überwiegend nicht die Unterhaltung;
neuen, allein der Innerlichkeit jedes Individuums ver- erstrebt wird vielmehr Veränderung und Behebung be-
pflichteten Spracherlebnisses. Anstelle des sakramental stehender Mißstände. Allerdings setzt diese Funktion
ontologischen Konsens, den die Kirchenhierarchie ga- eine in soziologischer Sicht noch geschlossene Gesell-
rantiert, müssen neue F o r m e n der Kommunikation ge- schaft voraus. [15] Die scholastische Methode der mittel-
alterlichen Theologie ist somit eine Variante der der D .

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Debatte Debatte

zugrunde liegenden Kunstform in einem besonderen hi- Indem sich die D . von ihrer engeren theologischen
storischen und gesellschaftlichen Zeitpunkt. Die seit Zwecksetzung löst, die darin bestand, mit einem soliden
Abälard allgemein gebräuchliche Anwendung des drei- und präzisen logischen Apparat traditionelle Glaubens-
gliedrigen Schemas lautet: gewißheiten in vernunftbegriffliche Erkenntnisse umzu-
setzen, gewinnt sie in dem Urbanen und höfischen Publi-
- Einwendungen und videtur, quod non, kum eine Öffentlichkeit, die neue intellektuelle Voraus-
Gegeninstanzen sed contra setzungen mitbringt, die D. als unterhaltsames Forum
(objectiones) für dialektische Experimente und intellektuelle Polemik
- Lösung der Frage respondeo dicendum, zu begreifen. Es ist dies die Zeit der Troubadoure, ihre
(responsio principalis) (corpus articuli) der D. verwandten Formen heißen: Tenzone, Partimen,
- Beantwortung der Frage ad primum etc. joc partit. [21] Die Teilnehmer an einer D. bringen ihre
(responsiones aut Freunde mit und lassen so das Debattieren zu einem
objectiones) sozialen, oft höfischen Ereignis werden. So bezieht sich
Die durch die auctoritas (Kirche, Schrift, Väter) gegebe- die Disputation nicht auf die dem Mittelalter selbstver-
ne certitudo fidei soll durch Versenkung der durch den ständliche Struktur von clerici, milites und laborantes,
Glauben erleuchteten Vernunft in die Offenbarungs- sondern auf soziale Gruppen, die sich nach Beruf oder
wahrheit zur fidei ratio, zum fidei intellectus fortschrei- gesellschaftlicher Funktion definieren: Edelleute, Rit-
ten. [16] Dieses Lehrprogramm geht typischerweise (wie ter, Bauern, Kaufleute und Frauen. Allerdings wider-
schon die von Protagoras inspirierten Doppelreden) von spricht die horizontale Ebene, auf der sich die Debattan-
einem negativen bzw. paradoxen Problem aus, das zur ten als gleichberechtigte Partner begegnen, den vertika-
Widerlegung und Lösung geführt wird. Dies zeigt die len hierarchiebedingten Verhältnissen in der gesell-
Verknüpfung von formalen, strukturellen Elementen schaftlichen Wirklichkeit. [22] Die D. unterstellen des-
mit bestimmten Funktionen, wie hier der didaktischen. halb eine fiktive Gesellschaft, deren Fiktionalität gleich-
Das Disputationsverfahren bestimmt Form und Funk- wohl die von der geltenden Norm abweichenden Ansich-
tion des gelehrten Unterrichts. Disputierübungen ver- ten vorstellbar macht, die in einem nicht-spielerischen
mitteln Stoff und Ziele des Unterrichts. Eine in regelge- Kontext verpönt waren. Die D. ist jedoch im Mittelalter
rechten Formen, nach einem stereotypen Schema ver- nie ein Instrument einer gesellschaftsumgreifenden Öf-
fahrende Disputationsmethode ist in der abendländi- fentlichkeit, weil die Gesellschaft hierarchisch, plurali-
schen Scholastik des 12. Jh. erst die Frucht des Bekannt- stisch und polyzentrisch gegliedert ist. Öffentlichkeit war
werdens der logica nova, vor allem des 8. Buches von somit in der Regel okkasionell und auf bestimmte Grup-
ARISTOTELES' <Topik>. Neben der «disputatio in forma», pen an wenigen Orten beschränkt. [23]
d . h . der in streng syllogistischer Weise vorgehenden Di- III. Frühe Neuzeit: D. im Schulbetrieb. Der wichtigste
sputation, unterscheidet man die «disputatio extra for- Ort der Debattenpraxis bleibt im späten Mittelalter bis
mam», der in freieren Formen sich bewegenden Streitre- ins 17. Jh. die Schule. Die instrumentelle Vereinnah-
de. [17] Das gesamte theologische Material, das die auc- mung der Logik in der scholastischen Schulmethode
toritas der Uberlieferung begründet, wird unter dem führt nicht nur zu einem Übergewicht an rein formaler
Einfluß philosophischen Denkens durch Dialektik in Logik, sondern auch zu einer verschärften Trennung von
Fragen aufgelöst. Die Form ist die D., die Disputation: Logik und Rhetorik im mittelalterlichen Schulkanon,
quaeritur, item quaeritur, solet quaeri wird in lebhafter dem Trivium. Im Barock basieren Poetik und Rhetorik
Diskussion pro und contra erörtert und schließlich in auf der Priorität des Wortes gegenüber dem Begriff. In
einer solutio beantwortet. Es geht in diesem dialekti- den Rhetoriken der Frühaufklärung kehrt sich das Ver-
schen Wettkampf oft Schlag auf Schlag (<D.> kommt vom hältnis um. [24] Diese unterschiedliche Wertschätzung
altfranzösischen de bat-re). Es wird Argument auf Argu- von Rhetorik und Logik findet sich in den Disputationen
ment mit item aneinandergereiht, es werden verschiede- der frühen Neuzeit wieder. Hier gibt es keine einheitli-
ne Antworten auf Fragen und Einwände angeführt, ge- che, sondern vielmehr gegeneinander laufende Linien,
gen diese Antworten wieder Schwierigkeiten erhoben die überdies von der Zuordnung ins traditionelle katholi-
und dann die Lösungen dieser Schwierigkeiten durch die sche oder ins protestantische Lager bestimmt sind. Wäh-
Vertreter der Antworten wiederum angeführt und kriti- rend traditionelle Rhetoriklehren von der Abgrenzung
siert usw. Feststehende Formeln leiten durch die dialek- gegen die Logik bzw. Dialektik beeinflußt werden, legen
tischen Wendungen: Ad hoc quidam respondent distin- p r o t e s t a n t i s c h e P r o t a g o n i s t e n , wie z . B . PETRUS RAMUS,
guentes... sed contra hoc est..., Ad hoc respondent..., Wert auf die Priorität der Logik als bestimmende Diszi-
sed contra eos... Die Lösung vollzieht sich per distinctio- plin der Redekunst. Die Disputation des Schul- und
nem oder auch per interemptionem. Das Wuchern der Theaterbetriebs der Schulen des 17. Jh. ist jedoch ver-
ineinander verschränkten Einwendungen und deren Lö- gleichbar mit dem scholastischen Disputationsbetrieb in
sungen verwischt oft das Grundschema Argument, Ge- einem allerdings veränderten gesellschaftlichen Um-
genargument und Lösung. [18] Dieses Erörterungsver- feld. [25] Charakteristisch ist die rigide Inszenierung mit
fahren entwickelte seine Eigendynamik auch dadurch, festgelegten Rollen, der Wechselrede in einem geregel-
daß Thesen aus den verschiedensten Arbeitsgebieten der ten äußeren Rahmen und gesetztem zeitlichen Limit.
Philosophie und Theologie ohne inneren Zusammen- Ohne diese Reglementierung könnte, wie die histori-
hang zur Diskussion kommen. Es sind dies die Quaes tio- schen Beispiele beweisen, eine argumentative Eigendy-
nes quodlibetates. [19] Grundform und technisches Sche- namik ausgelöst werden, die den fiktiven Rahmen der D.
ma, welches in der Scholastik des 13. Jh. typisch werden sprengen und unkontrollierte Auswirkungen auf das
sollte, sind: eine bestimmt formulierte Frage, dann Ar- Selbstverständnis und die Selbstdarstellung des schuli-
gument (videtur, quod non), Gegenargument (sed con- schen und gesellschaftlichen Umfeldes zeitigen. Zuhö-
tra), Hauptteil (solutio, corpus, respondeo dicendum) rer, d . h . die akademische Bürgerschaft, sind wie die
und Kritik der für die abgelehnte Ansicht aufgeführten Agierenden ein integrierter Bestandteil des Disputa-
Argumente (adprimum... ). [20] tionsaktes. Die Rollenträger sind ein Präses und ein

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Respondens sowie zwei opponentes ordinarli. Es ist mög- oder ideologischen Konflikte gibt, die zur Veröffentli-
lich, daß aus dem Publikum die anwesenden Professoren chung drängen. Wenn in der Debattenregie diese Kon-
und Magistri der Reihenfolge ihres Ranges nach das flikte ausgespart werden, wirkt die Debatte langweilig
Wort ergreifen. Die strikte Befolgung bestimmter Dis- und als bloße akademische Abhandlung von wichtigen
putationstechniken ist zwingend. Auf drei Positionen Punkten auch unglaubwürdig. Deshalb hat diese Form
des Gegners war negierend, konzedierend oder distingu- der D. in der breiten Öffentlichkeit an Interesse und
ierend Stellung zu beziehen und die Prämissen und Kon- Relevanz verloren. Die Geschichte zeigt jedoch, daß die
klusionen dazu zu bewerten. Das Rollen Verständnis ver- D. zu bestimmten kritischen Zeitpunkten für bestimmte
langt ein von strikten Regeln geleitetes Argumentieren. gesellschaftliche Gruppen einen besonderen Stellenwert
Dies setzt weder voraus, daß die Akteure die eigenen gewinnen kann. Dies liegt in den Möglichkeiten ihrer
Argumente persönlich vertreten, noch daß zwischen den Regiestruktur einerseits und in ihrer egalitären Binnen-
Kontrahenten überhaupt eine ernsthafte Meinungsver- struktur, Gleichberechtigung der verteilten Rollen sowie
schiedenheit vorliegt; nur auf der Disputationsszene in der Epoche von herrschenden Meinungstrends, dem
herrscht Konsensverbot. Jedem Gegenspieler ist vor der Zensurverzicht als Funktionsvoraussetzung andererseits
Replik des Respondenten eine Zusammenfassung der begründet.
gegnerischen Argumentation aufgetragen (Repetition). IV. Parlamentarische D. der Neuzeit. Eine besondere
Als besondere Pflichten obliegt dem Opponenten die gesellschaftliche Funktion findet die D. in der europäi-
Entwicklung des status controversiae, d . h . er hat zur schen Entwicklung zum Parlamentarismus. Diese Form
Grundthese des Respondenten die präzise Gegenthese der politischen D. entwickelt sich aus den Beratungen
in einem kategorischen, direkten Syllogismus zu formu- der Vasallengemeinschaft des 12. und 13. Jh. Die Bera-
lieren. Die schriftliche Form der disputatio kann sowohl tung war, zusammen mit der Hilfe, ein wesentliches Ele-
als monologische Abhandlung oder als schriftlich geführ- ment der feudalen Beziehungen und der Verpflichtun-
ter Dialog verfaßt werden. [26] gen des Vasallen oder des fidelis. Diese Verpflichtung
Neben der syllogistischen Disputation scholastischer schuf nicht nur eine Beziehung von Untertan zu Herr-
Provenienz, wie sie in Jesuitenschulen gepflegt wurde, scher, sondern schuf eine Beziehung der Mitglieder un-
stand um die Wende vom 17. zum 18. Jh. die gesprächs- tereinander und auch letztlich die Idee, daß das Volk
weise disputatio. Diese dialogische und sokratische Fra- selbst die politische Gemeinschaft ist, sich selbst zu ver-
ge· und Antwortmethode ähnelt eher einer Unterhal- walten, zu überwachen und zu richten hat. Die Form der
tung als einer disputatio. [27] Sie greift auf Formen zu- D., in der das Gleichgewicht der Beratenden ein konsti-
rück, die schon vor der scholastischen disputatio in der tutives Element ist, entspricht dem Grundsatz «Quod
klassischen Antike verwendet wurden. Gleichzeitig tritt omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet»
SOKRATES als Prototyp des unpedantischen Philosophen (Was alle angeht, muß von allen behandelt und geprüft
mit Beginn des 18. Jh. den Siegeszug über die mehr und werden). [30] Eine historisch entwickelte und gesell-
mehr unpopuläre Leitfigur des Stubengelehrten und Ra- schaftlich akzeptierte, von Regeln bestimmte Beratungs-
bulisten an. Das Konsensgebot des höfischen Kompli- form findet in dem politisch motivierten Beratungsbe-
mentierwesens forderte die Vorspiegelung einer Harmo- darf im England des 12. und 13. Jh. ein gesellschaftliches
nie zwischen Sprecher und Empfänger. Anstelle des rhe- Korrelativ und wird anverwandelt. Die späteren Formen
torischen Auftrumpfens wurde das Understatement zu der politischen D. entwickeln sich im weiteren Verlauf
einem Kommunikationsideal und entschärfte die tradi- der Geschichte des englischen Parlaments, wobei das
tionellen Kontrahentenrollen. Die Disputation dient Parlament um die Erweiterung und Etablierung seiner
wieder weniger der individuellen Profilierung als intel- politischen Machtbefugnisse kämpft.
lektuellem Härtetest, in dem vorgebrachte Ansichten Die bereits in der Antike entwickelten und in Literatur
gegenüber Angriffen behauptet werden. Das Gespräch und Philosophie genutzten Grundbedingungen und Re-
dient stattdessen wieder mehr dem Bemühen, der Wahr- geln einer Kunstform, in der sich eine Begegnung und
heit zum Durchbruch zu verhelfen. [28] Grundsätzlich ein Austausch verschiedener Meinungen und Stand-
wurde auch in der Neuzeit die Form der D. oder Disputa- punkte vollziehen läßt, dabei aber scheinbar und spiele-
tion weniger für dialektische Umwertungen genutzt, risch von der Wirklichkeit, die einer solchen Kommuni-
sondern als Gelegenheit insbesondere für jüngere Leute, kation im Wege gestanden hatte, absieht, findet in einer
sich in Rollen zu präsentieren, Redepraxis einzuüben, Zeit des politischen Umbruchs und der Reorientierung
und sich mit Rollen und Redeweisen zu identifizieren. von politischen Loyalitäten eine neue gesellschaftliche
Die Geschichte der D. und Disputation zeigt jedoch, daß Nutzung im politischen Geschäft. Die formal etablierte
diese konservative pädagogische Funktion vom gesell- Gleichberechtigung der Debattenteile und der prakti-
schaftlichen Umfeld abhängt und daß die Form der D. schen Beeinflussungsmöglichkeiten durch entsprechen-
das Potential bietet, auch konfligierende Normen und de Regiearrangements wird im Laufe der Geschichte
Wertsysteme in einem fiktiven Vorstellungshorizont zur zum Anlaß und zum Gegenstand von formalisierten
Sprache zu bringen, der der gesellschaftlichen Aktualität Kontroll- und Verfahrensregelungen der politischen D.
kontrafaktisch entgegengesetzt ist. Solange der Konsens der Beratungs- und Redefreiheit
Eine ausgeprägte Debattenkultur hat es in jüngster noch von machtpolitischen Übergriffen bedroht war,
Vergangenheit vor dem Vietnamkrieg in den Vereinig- tagt das englische Parlament bis ins 17. und 18. Jh. unter
ten Staaten von Amerika gegeben, wo das Debattieren Ausschluß der Öffentlichkeit. Parlamentsberichte bezie-
z.T. als Schulfach praktiziert worden ist. [29] Die forma- hen sich auf fiktive Namen der Redner. Erst nach 1771
le D. erlaubt aus Zeitgründen oft nicht mehr als eine wird in England eine Veröffentlichung der D. gestat-
intelligente Übung, die Schlag- und Redefertigkeiten tet. [31] Das Amt des Parlamentsvorstehers, das office of
ausbildet und eine Art geistige Unterhaltung bietet. Der the speaker, spielt eine wichtige Rolle bei der Gewinnung
Erfolg ist jedoch abhängig von der Vorstellung einer des Freiraums für die politische D. und für die Einfüh-
relativ geschlossenen Gesellschaft, in der es im pluralisti- rung und Einhaltungen der entsprechenden Verfahrens-
schen Nebeneinander keine grundsätzlichen sozialen regelungen, die die parlamentarische D. bestimmen. Zu-

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erst vom König nominiert und zum Vertreter des Parla- d e m Publikum, das keinen direkten Zugriff auf die Vor-
ments in Verhandlungen mit dem König bestimmt, ent- tragenden beanspruchen kann und darf, richtende bzw.
wickeln sich die Parlamentssprecher zu Verteidigern der entscheidende Funktionen zugeordnet werden. Solche
Parlamentsprivilegien, die Redefreiheit, Immunität vor Debattenbeiträge werden nicht lediglich zu Protokoll
Verhaftungen und Zugangsrecht zum Herrscher einfor- gegeben oder als Insiderappell verstanden, sondern die-
dern. Die politische Figur des speaker, später von einer nen ganz dem Debattenziel, zu überreden oder in der
Partei bestimmt, verfügt über Verfahren, Ablauf und Sache zu überzeugen.
Inhalt der parlamentarischen Auseinandersetzung. [32]
Sein Vorläufer ist der Chor der alten Komödie bzw. der Anmerkungen:
Präses der Disputation. 1 M. A. R. Bossy: The Process of Debate: A Study of a Literary
Das Absehen von unmittelbarer Einwirkung von au- Mode 1100-1400 (Phil. Yale Univ. 1970) Introduction 34ff. -
ßen und auch von unmittelbaren Folgewirkungen hatte 2M. Grabmann: Die Gesch. der scholast. Methode, Bd. 2
(1911; ND Graz 1957) 543; F.Heer: Aufgang Europas: Eine
sich für die Kunstform der D . als ein wesentliches und
Stud, zu den Zusammenhängen zwischen polit. Religiosität,
konstitutives Element herausgestellt. Das politische Er- Frömmigkeitsstil u. dem Werden Europas im 12. Jh. (Wien/
fordernis, Beratungen zu schützen und abzuschirmen, Zürich 1949) 17. - 3R. Y. Hathorn: The Handbook of Class.
einen Freiraum zu gewährleisten, um gegensätzliche Drama (London 1967) 123ff. - 4H.Gomperz: Sophistik und
Standpunkte und Interessen abzuwägen, findet in der Rhet. Das Bildungsideal des είλεγειν in seinem Verhältnis zur
Epoche, die dieser Kommunikationsform eigentümlich Philos, des 5. Jh. (1912; ND 1965) 188. - 5 e b d . 200. - 6 e b d . 259.
ist, eine Entsprechung, sozusagen ein geformtes Korre- - 7H. L. Hudson-Williams: Conventional Forms of Debate and
lat. Die Adaption der D e b a t t e n f o r m für politische Bera- the Melian Dialogue, in: American J. of Philology 71 No282
tungen läßt einen dialektischen Bogen zurück zu den (1950) 156. - 8ebd. 159. - 9Sister M. Emmanuel: Art. <débat>,
in: Diet, of World Literary Terms, ed. J.T.Shipley (Boston
philosophischen A n f ä n g e n dieser Kunstform spannen. 1970). - 10Heer [2] 100, 232, 469 et passim. - l l E . B e n z : Die
Ursprünglich forderten die griechischen Skeptiker Ent- Sprachideologie der Reformationszeit, in: Studium Generale 4/
haltung von Urteilen über jegliche Sachverhalte wegen 5 (1951) 204; S. Ozment: The Age of Reform (1250-1550). An
der Ungewißheit allen Erkennens. [33] Dies war ein Mo- Intellectual and Religious History of Late Medieval and Refor-
tiv, den Dialog als bestmögliche Form zu wählen, sich mation Europe (New Haven/London 1968) 210; H. Grand-
der Wahrheit zu nähern. Bekanntlich war in diesem Zu- mami: Lex und Sacramentum bei Joachim von Fiore, in: Mis-
sammenhang bei Plato selbst die Schriftform verpönt. cellanea Mediaevalia, hg. von P. Wilpert, Bd. 6 (1969) 45;
Bei den politischen Beratungen geht es um umstrittene B.Töpfer: Die Entwicklung chiliast. Zukunftserwartungen im
Sachverhalte. Es entwickelt sich die Notwendigkeit, eine Hochma. (Habilitationsschr. Berlin 1960) 57, 271; M.Reeves:
The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in
Form der (mündlichen) Auseinandersetzung zu wählen Joachimism (Oxford 1969) 133-292, hier: 145 et passim. -
und schützen zu lassen, die unmittelbar machtbestimmte 12 vgl. G. A. Kennedy: Class. Rhet. and Its Christian and Secu-
Dogmatik neutralisiert, um einen Beratungsfreiraum zu lar Tradition from Ancient to Modern Times. Chapter 9: Latin
gewinnen, der es erlaubt, zu politischen Kompromissen Rhet. in the Middle Ages (London 1980) 174; D. Wuttke: Art.
zu kommen. Solche Beratungsergebnisse haben, ver- <Syncresis>, in: LAW, Sp. 2962f. - 13Bossy [1] 9. - 14M. Stein-
gleichbar der Beschränkung menschlicher Erkenntnisse, schneider: Rangstreit-Lit. Ein Beitrag zur vergleichenden Lit.-
ebenfalls nur eine annähernde Funktion im Vergleich zu und Kulturgesch. Sitzungsber. der Kaiserl. Akad. der
den angestrebten politischen Zielen. [34] So findet die Wiss. 155, 4 (1908) 10; vgl. Sister M. Emmanuel[9], - 15Bos-
philosophische Epoche im politischen Kompromiß eine sy [1] 7, 25; vgl. auch W. Klein (Hg.): Argumentation, in: LiLi
38/39 (1980) 23. - J6 Grabmann [2] Bd. 1 (1909; N D Graz 1957)
historisch-dialektische Entsprechung, die von der De- 31. - 17ebd. 37. - 18Grabmann [2] 20. - 19ebd. 558. - 20ebd.
battenform besorgt wird. 543. - 21 ebd. 522, 523 u. 220; Wuttke [12] Sp.2962; Stein-
schneider [14] 4 - 1 0 ; G. Bebermeyer: Art. <Streitgedicht/Streit-
Bei der Beurteilung der D . im parlamentarischen gespräch>, in: RDL 2 IV (1984) 232ff. - 22 Bossy [1] 24f. -
R a u m werden oft die historisch erkämpften und entwik- 23B. Thum: Öffentlich-Machen, Öffentlichkeit, Recht. Zu den
kelten Rahmenbedingungen vernachlässigt, die einer- Grundlagen und Verfahren der polit. Publizistik im Spätma.
seits Immunität, Redefreiheit des Debattenredners, an- (mit Überlegungen zur sog. <Rechtssprache>), in: LiLi 38/39
dererseits die Einbindung des Redners in Verfahrens- (1980) 47ff. - 24 M. Beetz: Rhet. Logik: Prämissen der dt. Lyrik
und Zugangsregeln (Fraktionszwang etc.) bestimmen. im Übergang vom 17. zum 18. Jh. (1980) 37. - 25ebd. 70ff. -
Dabei ist allemal die Möglichkeit, eine Argumentation 26ebd. 82. - 2 7 e b d . 84. - 28ebd. 89,101. - 2 9 D i e hohe Akzep-
überhaupt vorzutragen und damit zu Protokoll nehmen tanz und Bedeutung der Debatte spiegelt sich in folgenden
Übersichten: A.N. Kruger (Hg.): Argumentation and Debate:
zu lassen, von höherem Rang als der gedankliche, argu-
A Classified Bibliography (New Jersey 2 1975); E.M.Phelps:
mentative und womöglich dialektische Meinungsaus- Debate Index Reference Shelf 12, 9 (New York 1939);
tausch einer von Rede und Gegenrede getragenen Bera- R.B.Sutton: Speech Index. An Index to 259 Collections of
tung. Rhetorik und Dialektik der parlamentarischen D . World Famous Orations and Speeches for Various Occasions
sind Funktionen der Verfahrensordnung, die eher Zu- (New York 41966) u. Suppl. bd. 1966-1968, hg. von C.Mit-
gangs- und Rederecht und weniger argumentative Bera- chell; A.H.Craig: Pros and Cons, Complete Debates: Im-
tungsziele absichert, die schon in parlamentarischen Ar- portant Questions Fully Discussed in the Affirmative and the
beits- und Beratungsgremien in einer parlamentarischen Negative (New York 1926). - 30Y.M.-J. Congar: Quod omnes
Öffentlichkeit vorgeklärt und abgehandelt werden. In- tangit, ab omnibus tractari et approbari debet, in: Die ge-
schichtl. Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Ent-
teressant scheinen dem Publikum außerhalb des Parla- wicklung von den mittelalterl. Korporationen zu den modernen
ments parlamentarische Rededuelle erst, wenn eine die Parlamenten, hg. von H. Rausch, Bd. 1 (1980) 133f. - 31D.
parlamentarisch internen Beratungen übergreifende von Gerhard: Assemblies of Estate and the Corporate Order, ebd.
den Medien vermittelte Öffentlichkeit hergestellt wird, 321. - 3 2 P. Laundy: The Office of Speaker in the Parliaments of
vor der die R e d n e r sich und ihre Sache in sprachlich the Commonwealth (London 1987). - 33Gomperz[4] 162, 183,
artikulierter Legitimation gegeneinander behaupten 192 u. 256ff. - 3 4 e b d . 254.
müssen. Dabei kommt die konstitutive Funktion der D . ,
der gleichberechtigte Vortrag aus entgegengesetzten Po-
sitionen, zur Geltung, indem einer öffentlichen Instanz, Literaturhinweise :

H. Heiber: Die Rhet. der Paulskirche (Diss. Leipzig 1953). -


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Decorum Decorum

S. Kraus (ed.): The Great Debates. Background, Perspectives, Wurzel sind das Adjektiv πρεπώδης (prepódés), sowie
Effects (Indiana University Press 1962). - H . D . Zimmermann: eine Reihe von Adjektiven mit dem zweiten Wortglied
Die polit. Rede (1969). - G. Kalivoda: Parlamentar. Rhet. und πρεπ- (prep-), wie z.B. ευπρεπής, euprepés (<glaubhaft>),
Argumentation (1986). - J. Klein: Zur Rhet. polit. Fernsehdis- απρεπής, aprepés (<unangemessen>), έκπρεπής, ekprepés
kussionen, in G . U e d i n g (Hg.): Rhet. zwischen den Wiss. (<hervorstechend>), μεγαλοπρεπής, megaloprepés (<einem
(1991)353-362.
H.J.Schild Adligen angemessen>), καινοπρεπής, kainoprepés (<neu>),
ξενοπρεπής, xenoprepés (<fremd>), und δουλοπρεπής doulo-
—» Agonistik -»• Argumentation —> Beratungsrede - » Dialog —>
prepés (<einem Sklaven geziemend>). Weitere verwand-
Diskussion —» Disputation —» Gesprächsrhetorik —> Parla- te griechische Begriffe sind οικείος, oikeios (<häuslich,
mentsrede —> Politische Rede —> Streitgespräch eigen>), καιρός, kairós (<der rechte Zeitpunkt>) und Kom-
posita wie εύκαιρος, eúkairos (<günstig>), άκαιρος, ákairos
(<ungünstig>); μέτριος, métrios (<maßvoll>), άρμόττον har-
mótton (<passend>), verwandt mit αρμονία, harmonía
Decorum (griech. το πρέπον, tó prépon, auch τό οίκεϊον
(<Harmonie>), προσήκον, proshékon (<schicklich>), δέον,
oder το προσήκον, tó proshékon; lat. auch accomodatum,
aptum, decens, proprium; dt. Angemessenes, Schickli- déon (<notwendig>), κύριος, kyrios (<berechtigt>). Die ge-
ches, Konvenienz; engl, appropriateness, propriety; frz. läufigsten lateinischen Ausdrücke sind decet, decens (<es
bienséance, convenance, decoré; i tal. decoro, conve- ziemt, ziemend>) und das damit verwandte Adjektiv de-
nienza) corum sowie proprium (<gehörig zu>) und aptum, con-
gruens (beides mit der Bedeutung <passend>). Den latei-
1. Rhetorik: A. Def. - Β. Anwendungsbereiche. - C. Wirkun- nischen Ausdrücken fehlt die visuelle Konnotation, die
gen. - 2. Malerei, Architektur. A . Def. - Β. I. Antike. - II. Mit- im Griechischen immer mit enthalten war. [6]
telalter. - III. R e n a i s s a n c e . - I V . 16. Jh. - V . B a r o c k . - V I . 18.
u. 19. J h . - V I I . 20. Jh.
1. Rhetorik. A. Unter dem Begriff <D.> faßt die anti- Anmerkungen:
ke Rhetorik das Geziemende, Schickliche oder Ange- lK.Chaitanya: Sanskrit Poetics (London 1965) 199ff. - 2vgl.
M. Pohlenz: τό πρέπον. Ein Beitrag zur Gesch. des griech. Gei-
messene in Redeausdruck und Verhalten (decorum vi-
stes, in: Nachrichten der Akademie d. Wiss. zu Göttingen.
tae). Das Prädikat <angemessen> wird genau dann ver- Philol.-Hist. Klasse, 1,16 (1933) 53ff.; H. DeWitt: Quo Virtus:
wendet, wenn etwas von einem bestimmten Standpunkt The Concept of Appropriateness in Ancient Literary Criticism
aus und innerhalb eines gegebenen Rahmens als passend (Diss. Oxford 1987). - 3 Dionysios von Halikarnassos, D e Com-
angesehen werden kann. Das Anwendungsspektrum des positione Verborum, 12. - 4 Q u i n t . XI, 1, Iff. - 5 P . Chantraine:
Begriffs <D.> ist im antiken Denken äußerst breit: Er hat Dictionnaire Etymologique de la Langue Grecque (Paris 1968)
eine ethische und ästhetische sowie eine rhetorische Di- 935f. - 6vgl. P. Geigenmüller: Quaestiones Dionysicae de Vo-
mension. Die Rhetorik unterscheidet mehrere Anwen- cabulis Artis Criticae (1908) 68ff.
dungsbereiche für <D.>. Dazu gehören der Aufbau der
Rede, der Charakter (ethos), das Thema und der rechte B. Anwendungsbereiche. 1. Sprache und Gegenstand.
Zeitpunkt. Maß und Harmonie im Zusammenspiel von Ein erhabenes Thema verlangt einen erhabenen Stil, ein
Redner, Auditorium, Gegenstand und Sprache sowie schlichtes Thema einen schlichten Stil. Diese Überle-
die innere Stimmigkeit von Texten stehen dabei im Mit- gung läßt sich bis zu ARISTOPHANES' <Fröschen> zurück-
telpunkt der D.-Lehre. Die ethische Dimension des D. verfolgen, wo Aischylos die folgende Frage in den Mund
verweist auf die virtutes dicertdi (Tugendsystem) und auf g e l e g t w i r d : άνάγκη / μεγάλων γνωμών και διανοιών ίσα καί τα
das Vir bonus-ldcal (Cortegiano, gentilhomme, gentle- ρήματα τίκτειν (muß ich für große Gedanken, Entschlüsse
man, Hofman) des Redners, der sich durch kontrollierte nicht Worte zugleich mir erschaffen von gleichem Ge-
Affekte, Taktgefühl und gutes Benehmen in Rede und wicht?). [1] Eine wichtige frühe Quelle ist die Passage in
Handlung auszeichnen soll. PLATONS <Phaidros>, in der Sokrates über Teisias und
Rhetorische Systeme bedürfen solcher Qualitäten, G o r g i a s s a g t , d a ß sie τά τε αύ σμικρά μεγάλα και τα μεγάλα
und wir finden entsprechende Begriffe für D. auch in den σμικρά φαίνεσ-δαι ποιοϋσιν δια ρώμην λόγου, καινά τε άρχαίως τά
Redetheorien anderer Kulturen, etwa den Sanskrit-Aus- τ' εναντία καινώς, συντομίαν τε λόγων και άπειρα μήκη περι
druck aucityam. [1] Der gebräuchlichste griechische Be- πάντων άνηϋρον (das Kleine groß, das Große klein erschei-
griff ist τό πρέπον (tó prépon), die lateinische Entspre- nen lassen durch die Kraft der Rede, ebenso das Neue in
chung decorum. Daneben gibt es jedoch in beiden Spra- alter Art, das Gegenteilige in neuer, und auch die Kürze
chen Synonyme und Umschreibungen in großer Zahl, und die unbegrenzte Länge der Reden über alle Dinge
wie geisteswissenschaftliche und literaturtheoretische erfanden). [2] In der Einleitung von ISOKRATES' <Panegy-
Untersuchungen bestätigen. [2] rikos> finden wir eine differenziertere Erörterung des
Allgemein fällt am Begriff <D.> auf, wie unscharf er in Verhältnisses zwischen Sprache und thematisiertem Ge-
antiken Texten definiert ist. Symptomatisch ist eine Be- genstand: Isokrates behauptet, es sei möglich, die gro-
merkung von DIONYSIOS VON HALIKARNASSOS, die darauf ßen Dinge gering darzustellen, das Geringe mit Größe
abzielt, daß Gorgias - obwohl er über das Thema des auszustatten, Altes auf eine neue Weise zu berichten und
rechten Zeitpunktes geschrieben hat - in seinen erhalte- jüngst geschehene Ereignisse auf eine altmodische Weise
nen Äußerungen nichts Nennenswertes hinterlassen ha- zu präsentieren. Mit der erwarteten Entsprechung von
be. [3] Die umfassendste erhaltene Darstellung zum Stil und Gegenstand zu spielen, scheint bei Sophisten wie
POLYKRATES beliebt gewesen zu sein. [3]
Thema stammt von Q U I N T I L I A N . [4]
Die semantische Differenzierung und die Anwen- 2. Angemessene Länge. Ein großes Thema verlangt
dungsvielfalt von D. verdeutlicht ein Blick auf das termi- eine lange Erörterung, ein kleines Thema eine kurze
nologische Feld: Der grundlegende griechische Begriff Behandlung. Dieser Gedanke wird Teisias und Gorgias
prepon entspricht dem unpersönlichen Verb πρέπει (pré- in der oben zitierten Passage des <Phaidros> zugespro-
pei), das ursprünglich <zu sehen sein> bedeutete, aber vor chen. Piaton fügt hinzu [4], daß PRODIKOS VON KEOS, als
allem ab dem 5. Jh. im Sinne von «angemessen sein» er dies einmal hörte, gesagt habe, μόνος αύτός ηύρηκέναι...
verwendet wurde. [5] Andere Ableitungen aus derselben ών δει λόγων τέχνην • δεϊν δε ουτε μακρών ουτε βραχέων άλλα

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μετρίων (er allein habe gefunden, welche Reden die stößt. Dagegen findet sich bei H E R M O G E N E S eine andere
Kunst brauche: sie brauche weder lange noch kurze, Betrachtungsweise [20]: π ά ν μέρος λόγου ευρηται μέν έπί
sondern angemessene). Diese Äußerung deutet darauf μηνύσει π ρ ά γ μ α τ ο ς , καιποϋ δε 'ιδίου τ υ χ ό ν , ó δε καιρός κ α τ ά ή-5ους
hin, daß Prodikos Wert auf Angemessenheit legte. Im προσ-$ήκην γινόμενος 'ιδίαν διάνοιαν α π ε ρ γ ά ζ ε τ α ι [...] (Jedes
<Gorgias> räumt Piaton ein, daß Gorgias über die Tech- Element der Sprache wird entdeckt, um ein Thema zu
nik verfügte, kurz oder ausführlich zu reden, wie es das vermitteln, einen rechten Zeitpunkt zu treffen, und der
Thema jeweils erforderte. [5] Möglicherweise geht der rechte Zeitpunkt, der durch Hinzukommen des Charak-
Gedanke bis auf P I N D A R zurück: «Doch Geringes, formt ters entsteht, produziert einen bestimmten Gedanken).
man's breit und bunt, wird dem Klugen zum Ohren- Hier scheint eine ganze Redetheorie auf der Idee des
schmaus.» [6] kairos aufgebaut zu sein.
3. Sprache und Charakter. In Piatons <Ion> [7] behaup- 6. Angemessener Aufbau. Neben den rhetorischen
tet der Rhapsode zu wissen, was für verschiedene Grup- Aspekten eigneten sich die Prinzipien des D. auch für
pen von Menschen zu sagen angemessen sei. Pohlenz den ästhetischen Bereich. Die klarste und allgemeinste
vermutet, daß diese Überlegung auf Gorgias zurück- Äußerung dazu erfolgt im platonischen bzw. pseudo-
geht, da wir aus Piatons <Menon> wissen, daß dieser über platonischen <Hippias major>. [21] Dort wird behauptet,
die Tugenden verschiedener Gruppen von Menschen - Schönheit lasse sich auf Angemessenheit reduzieren.
Männer, Frauen, Jungen und Mädchen usw. - geschrie- Der locus classicus hierzu ist eine Passage in Piatons
ben hat. [8] Auch ARISTOTELES führt in seiner <Poetik> [9] <Phaidros>, in der Sokrates sagt, daß jede Rede wie ein
den Charakter als einen Aspekt auf, bei dem man das D. lebendes Wesen gebaut sein müsse, ώστε [...] μέσα τε
beachten müsse; in späteren rhetorischen Quellen ist έ χ ε ι ν καί ά κ ρ α , π ρ έ π ο ν τ ' ά λ λ ή λ ο ι ς καί τ ω ο λ ω γ ε γ ρ α μ μ έ ν α ( s i e
dies ebenfalls üblich. [10] Derselbe Gedanke taucht bei muß ihren Rumpf und ihre Gliedmaßen haben, die alle
der Überlegung auf, daß die Rede den Charakter wider- so verfaßt sind, daß sie sich gegenseitig und dem Ganzen
spiegele, was zuerst im dritten Buch von Piatons <Staat> entsprechen). [22] Damit verwandt ist das Konzept der
ZU f i n d e n ist [11]: τ ί S' i τρόπος τ ή ς λ έ ξ ε ω ς καί ó λόγος; où τ ώ συμμετρία (symmetría), das in antiken Theorien der bil-
τ η ς ψυχής ή·5ει έ π ε τ α ι (Wie aber die Art und Weise des denden Künste von Bedeutung war. [23]
Vortrages und die Rede? Folgt diese nicht der Gesin- 7. D. bei Gorgias. Unter den Sophisten des 5. Jh.
nung der Seele?), sowie in einem Fragment von Menan- herrschte großes Interesse an der Behandlung des D.
d e r [ 1 2 ] : άνδρός χ α ρ α κ τ ή ρ έκ λόγου γνοιρίζεται ( D e r Cha- Diogenes Laertius berichtet, PROTAGORAS VON A B D E R A
rakter eines Mannes läßt sich an seiner Sprache erken- sei der erste gewesen, die καιρού δ ύ ν α μ ι ς , kairou dynamis
nen). Viel später findet dieser Gedanke bei Seneca (Epi- (Macht des rechten Zeitpunktes) zu lehren. [24]
stulae 114) seinen Ausdruck. [13] Wie D I O N Y S I O S VON H A L I K A R N A S S O S ausführt, hat sich
4. Rede und Publikum. Dieser Punkt kann als Varian- auch Gorgias von Leontinoi mit Fragen des D. auseinan-
te des vorhergehenden gesehen werden. In Piatons dergesetzt. Dies gilt insbesondere für die Aspekte des
<Phaidros> [14] führt Sokrates aus, daß der Rhetoriker Themas und des rechten Zeitpunktes. [25] Einige Hin-
über ein gründliches Wissen hinsichtlich der verschiede- weise für derartige rhetorische Überlegungen finden sich
nen Arten von Seelen verfügen müsse (ein Teil der soge- beispielsweise in seinem Werk <Epitaphios>: τούτον νομί-
nannten Hippokratischen Methode), nicht um die ver- ζ ο ν τ ε ς θ ε ι ό τ α τ ο ν καί κοινότατον νόμον, τ ο δέον έν τ ω δέοντι καί
schiedenartigen Menschen anhand der Rede darstellen λέγειν καί σιγάν καί ποιειν <καί έάν ( i n d e m sie d a s göttlich-
zu können, sondern um zu wissen, welche Menschen ste und allgemeinste Gesetz darin erkannten, im rechten
durch welche Art von Rede beeinflußt werden, um sie Augenblick das Rechte zu sagen oder zu verschweigen,
gewinnen zu können. Auf diese Weise ergibt sich eine zu tun oder zu lassen). [26] Es würde wahrscheinlich zu
Verbindung zwischen D. und Überredungskunst. weit gehen zu sagen, Gorgias habe das Konzept rhetori-
W. Süss führt sie auf die gorgianische ψ υ χ α γ ω γ ί α (psycha- scher Angemessenheit erfunden, doch war es ihm sicher
gögia) zurück. [15] wichtig. Man kann sich mehrere Möglichkeiten vorstel-
5. Rede und Zeitpunkt. Die Überlegung, daß man dem len, wie das Konzept des D. bzw. des rechten Augen-
Kontext angemessen reden solle, kann man mit guten blicks in Gorgias' allgemeine rhetorische Theorie passen
Gründen auf A L K M A N zurückführen [ 1 6 ] : ¿»οίναις δέ και έν würde. Die Überlegung, daß die Rede dem Publikum
·$ιάσοισιν άνδρείojv π α ρ ά δαιτυμόνεσσι πρέπε ( ι ) π α ι ά ν α κα-
gegenüber angemessen zu sein habe, hängt mit dem
ταρχήν (Bei Banketten und Versammlungen von Män- Konzept der psychagogia zusammen, das ebenfalls mit
nern ziemt es sich für die Beteiligten, einen Päan anzu- Gorgias in Verbindung gebracht werden kann. Auch
stimmen). Thukydides zeigt in seinen Äußerungen über hier könnte man wieder argumentieren, daß die Forde-
die Reden, daß er mit dem Gedanken vertraut war [17]: rung, der Stil müsse dem Publikum angemessen sein, von
ώ ς δ' άν έδόκουν ÈJJLOI έκαστοι περί τ ώ ν αίεί παρόντων τ α δέοντα
einem Theorem abhänge, wie verschiedene Menschen
μ ά λ ι σ τ ' ειπείν [...] (wie ein jeder in seiner Lage etwa
der Wahrscheinlichkeit nach reagieren werden; dazu
sprechen mußte). In Piatons <Phaidros> [18] empfiehlt würden Überlegungen zu ethos und εικός (eikos, Wahr-
Sokrates dem Rhetoriker, καιρούς του π ό τ ε λεκτέον καί έπισ- scheinlichkeit) gehören, die vermutlich gorgianischen
χ ε τ έ ο ν , β ρ α χ υ λ ο γ ί α ς τ ε αύ καί έ λ ε ε ι ν ο λ ο γ ί α ς καί δεινώσεως
Ursprungs sind. [27] Seltsam ist allerdings, daß Gorgias
εκάστων τ ε οι' αν είδη μά·$η λ ό γ ω ν , τ ο ύ τ ω ν τ ή ν εϋκαιρίαν τ ε καί
als Beispiel für einen unangemessenen Stil angeführt
άκαιρίαν (die rechte Zeit und die Unzeit für die Kurzrede
wurde. [28]
und Rührungsrede und Steigerung und alle Redefor- 8. Stiltheorie. Eine Beziehung zwischen D. und Stil-
men) zu erlernen. Der kairos scheint im Streit um die theorien finden wir zuerst bei ARISTOTELES, der fest-
improvisierte Rede gegenüber der schriftlichen Rede legt [29], daß ein Stil klar und weder niedrig noch zu
eine Rolle gespielt zu haben, denn A L K I D A M A S [ 1 9 ] führt erhaben sein solle, sondern angemessen. Zu diesem
das Argument an, es sei einer der Nachteile der schriftli- Zweck soll man Wörter verwenden, die κύρια, kyria und
chen Rede, daß sie die unmittelbaren Erfordernisse des ο ι κ ε ί α , oikeía sind. [30] Wenn erhabene oder emotionsge-
kairos nicht miteinbeziehen könne. Dies ist ein Gesichts- ladene Sprache in unangemessener Weise eingesetzt
punkt, auf den man in der späteren Rhetorik nicht oft wird, ist Kälte die Folge. [31] Im weiteren Verlauf seiner

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Ausführungen unterscheidet Aristoteles drei Bereiche, 9. Glaubwürdigkeit, guter Eindruck. Eine Rede muß
in denen der Stil πρέπουσα prépousa (angemessen) sein allgemein einen guten Eindruck machen. Der griechi-
solle: pathos, ethos undpragmata: τό Si πρέπον έξει ή λέξις sche Ausdruck dafür lautet ευπρέπεια (euprépeia) [ 4 5 ] ,
έάν ή π α θ η τ ι κ ή τ ε και ή ί ι κ ή και τοις υποκειμένους πράγμασιν ein Begriff, der manchmal den Beigeschmack von Täu-
άνάλογον (Angemessenheit wird die sprachliche Formu- schung hat; THUKYDIDES verwendet z.B. den Ausdruck
lierung besitzen, wenn sie Affekt und Charakter aus- ευπρέπεια λόγου, euprépeia lógou (durch den Schönklang
drückt und in der rechten Relation zu dem zugrundelie- eines Wortes) mit dieser Implikation. [46] QUINTILIAN
genden Sachverhalt steht). [32] Angemessenheit der beschäftigt sich eingehend mit diesem Thema. Über die
Sprache gegenüber den pragmata entspricht den Anwei- eigenen Verdienste zu sprechen (griech. περιαυτολογία,
sungen zum Gegenstand : τό δ' άνάλογόν έστιν, έάν μήτε - ε ρ ι periautología) sei unschicklich, selbst für einen Mann
εϋόγκων αύτοκαβδάλο,ις λέγηται μήτε περί ευτελών σεμνώς, μηδ' wie Cicero. [47] An dieser traditionellen Behandlung des
έπΐ τ ώ εϋτελεϊ ονόματι έπη κόσμος (Die rechte Relation aber Themas in den Redeschulen orientiert sich auch Plu-
liegt vor, wenn man nicht über Erhabenes ohne Sorgfalt tarch. [ 4 8 ] Das gleiche gilt für A E L I U S ARISTEIDES. Man
und über Geringfügiges erhaben spricht, sowie, wenn soll es vermeiden, bei der Behandlung heikler Situatio-
einem geringfügigen Wort kein schmuckvolles Epithe- nen unschicklich zu sein, wie etwa bei einem gerichtli-
ton beigegeben wird). [33] Glaubwürdigkeit ist das hier- chen Streit zwischen Eltern und Kindern [49]; man soll
bei angestrebte Ziel. Angemessenheit der Rede bezogen Gegner in angemessener Weise tadeln oder loben [50];
auf die Affekte kommt durch zusammengesetzte Wörter, um einen anderen einer Sache zu beschuldigen, deren
Epitheta und unbekannte Ausdrücke zustande. Auch man selbst schuldig ist [51], oder bei der Behandlung
THEOPHRAST hat das prepon zu einem Bestandteil seiner peinlicher Themen (Vergewaltigung, Proskription, Cha-
Stiltheorie gemacht, vielleicht auch zu einer der Stilqua- rakter des niederen Volkes und fremder Rassen) ist D.
litäten. [34] Für die Stoiker war das prepon eine von fünf von großem Nutzen. [52]
άρεται λέξεως, aretai léxeôs (Stilqualitäten). [ 3 5 ] Wie die
10. D. und Regel. Als Prinzipien stehen D. und Regel
ψυχρότης, psychrôtës (Kälte) für Demetrios ein mangel-
nicht grundsätzlich im Gegensatz zueinander. Eine Re-
hafter Stil war, der durch unangemessene Verwendung gel kann auf angemessenes Handeln zielen. Oft kann
des erhabenen Stils zustande kam (114,119), brachte der jedoch ein Gegensatz zwischen den beiden Prinzipien
Mißbrauch der anderen χαρακτήρες, charaktêres (Stilar- entstehen, aus der Tatsache heraus, daß Regeln dem
ten) andere schlechte Stile hervor. [ 3 6 ] Für DIONYSIOS Schüler nicht alles vorschreiben können, was die beson-
VON HALIKARNASSOS ist das prepon eine äußerst wichtige
deren Umstände, Charaktere und dergleichen erfor-
Stilqualität, die, bei LYSIAS besonders anschaulich, drei dern. Hierbei handelt es sich möglicherweise um eine
Aspekte in sich birgt: Angemessenheit in bezug auf den Weiterentwicklung von ALKIDAMAS' Gegensatz zwi-
Redenden, das Publikum und das Thema - eine Dreitei- schen der improvisierten Rede, die die unmittelbaren
lung, die deutlich an die Einteilung: Charakter/Affekt/ Umstände miteinbeziehen kann, und der schriftlichen
Gegenstand aus Aristoteles' Rhetorik erinnert. [37] Das Rede, bei der dies nicht der Fall ist. [53] Man denkt in
prepon überschneidet sich hier deutlich mit χάρις (chárís, dieser Sache vor allem an die bekannte Kontroverse aus
Anmut), einer weiteren Stilqualität, von der gesagt wird, der frühen Kaiserzeit zwischen APOLLODOROS VON P E R -
sie sei in jeder Kunstform ein Beispiel für den kairos und GAMON, der anscheinend ein Meister der Regel war, und
das metrion und komme durch Wahrnehmung zustande, THEODOROS VON G A D A R A , der sich für den kairos aus-
nicht mit Hilfe des Verstandes. [38] Das prepon scheint sprach. [54] Den Quellen zufolge wurde dieser Streit
eher zu den Stilqualitäten zu gehören. Die Bedeutung, hauptsächlich im Hinblick auf die partes orationis (Rede-
die Dionysios ihm zuspricht, macht es zumindest zu einer teile) ausgefochten. Nach SENECA D. Ä. vertrat Apollo-
Klasse für sich. [39] In <De Compositione Verborum> doros u.a. die Meinung, daß jede Rede ein Proömium
macht Dionysios den kairos zu einer von vier Quellen (eine Einleitung) haben müsse, während Theodoros in
guter sprachlicher Harmonie. [40] Im Rahmen einer an- diesem Punkt eine flexiblere Haltung einnahm. [55] In
deren Tradition ist D. ein notwendiges Kriterium für den den rhetorischen Lehrbüchern der frühen Kaiserzeit ist
Einsatz verschiedener Stilfarben in einer Rede. Dies als Vorbild für D. und Flexibilität gegenüber der Rigidi-
finden wir zum ersten Mal in CICEROS <Orator> bei der tät strenger Regeln stets DEMOSTHENES genannt. Hierzu
Erörterung der drei Stile. [41] Ähnlich ist Angemessen- gibt es ein gutes Beispiel in PSEUDO-LONGINOS' Erörte-
heit in HERMOGENES' <Peri idéon> als Stilqualität von rung der Metapher: Während Caecilius von Kaiakte nach
zentraler Bedeutung und wird dort besonders mit De- Pseudo-Longinus die Verwendung von zwei, höchstens
mosthenes in Verbindung gebracht; sie wird dort aller- aber drei Metaphern für das Maximum hielt, habe De-
dings als δεινότης (deinótes) bezeichnet. [ 4 2 ] Hermoge- mosthenes, um dem kairos zu genügen, gelegentlich
nes verspricht, das Thema deinotes in einem getrennten mehr verwendet. [56] Antike Quellen betonen zuweilen,
Werk zu erörtern (das allerdings nicht erhalten ist; die daß eine Meisterschaft im D. nicht mit Hilfe von Regeln,
überlieferte Schrift <Περι μεθόδου δεινότητος, peri methó- sondern auf andere Weise erlangt werde. Für CICERO war
dou deinôtëtos>, stammt nicht von Hermogenes). Da D. das Ergebnis praktischer Klugheit [ 5 7 ] ; DIONYSIOS
jedoch die Ansicht, daß D. schwer zu formalisieren sei, VON HALIKARNASSOS führt es an einer Stelle auf die Mei-
in der Antike fest etabliert war, ist es begründet, zu nung (δόξα, doxa) zurück [ 5 8 ] , an einer anderen Stelle auf
bezweifeln, daß Hermogenes das angekündigte Werk je die ästhetische Wahrnehmung ( α ί σ θ η σ ι ς , aisthësis). [ 5 9 ]
geschrieben hat. [43] Für Hermogenes ist Demosthenes Pohlenz hat die Vermutung geäußert, daß die Quelle
wegen seines außerordentlich vielfältigen Stils ein Mei- dieser «Epistemologie der Angemessenheit» [60] bei
ster des D. ; d. h., Vielfalt und Angemessenheit sind hier DIOGENES VON BABYLON (dem Lehrer des Panaitios) und
untrennbar verknüpft. Diese Verbindung thematisiert dessen ästhetischen Theorien über die Musik zu suchen
auch die folgende Passage aus Pseudo-Aristeides (<-ερ'ι sein könnte. Dies ist nicht abwegig: Der pseudo-platoni-
άφελείας>): ούτε Si κατά τό πρέπον έαυτώ τοις έπιχειρήμασι το
sche <Hippias major> zeigt, wie früh D. als ästhetisches
διαλλάττον παρείχετο (noch sorgte er durch Argumente für Kriterium herangezogen wurde. Es mag auch bezeich-
Vielfalt, wie es angemessen wäre). [44] nend sein, daß die Rhetoriker auf der Suche nach einem

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Modell für den Gedanken, daß D. sich Regeln nicht genden Art zu bilden: Ihr sollt dies tun, weil es angemes-
unterwerfen lasse, in den bildenden Künsten fündig wur- sen ist, bzw. nicht tun, weil es unangemessen ist.). Es
den : In seiner Erörterung des prepon erwähnt CICERO ein besteht hierbei keine Beziehung zu den verschiedenen
Gemälde von Timanthes, das die Opferung der Iphige- technischen Anwendungen des Prinzips der Angemes-
nie darstellt. Agamemnon ist darauf mit einem Schleier senheit, wie wir sie oben dargestellt haben; vielmehr
abgebildet, da es unangemessen wäre, das volle Ausmaß handelt es sich um einen Aspekt, der daraus erwächst,
seiner Trauer unmittelbar darzustellen. QUINTILIAN zi- daß Angemessenheit ein sozialer Wert ist. [72]
tiert die Passage, um zu zeigen, daß man weder in der 13. Angemessenheit als Gattungskriterium. Wir wen-
Rhetorik noch in anderen Künsten allgemeine Regeln den uns nun den Verwendungen von D. zu, die in den
dafür angeben könne, was angemessen sei. [61] Dennoch Bereich der literarischen Wertung gehören. Als erstes ist
kann man annehmen, daß diese Auffassung von D. als das Prinzip der Angemessenheit im Kontext der Gattung
Gegenpol zur Regel und als eine Sache, die durch das zu nennen. Früheste Spuren dieses Gedankens stammen
Urteilsvermögen erfaßt wird, eine rhetorische Überle- aus dem 5. Jh. v.Chr., wenn z.B. HERODOT sagt, daß
gung ist, die nicht der Rhetorik selbst zu verdanken ist. Homer die Geschichte von Helenas Fahrt nach Ägypten
Gleichzeitig stellt sie einen der wichtigsten Beiträge zur weggelassen habe, da sie nicht ές τήν έποποίην ευπρεπής (in
rhetorischen Theorie dar. sein Epos paßte). [73] In ARISTOTELES' <Poetik> wird die-
11. D. und Moralphilosophie. Möglicherweise hatten ser Gedanke vorausgesetzt. [74] Die wichtigste Äuße-
die Pythagoräer eine auf dem Prinzip des kairos gegrün- rung hierzu in der späteren Literaturtheorie steht in HO-
dete Ethik [62], und die Auffassung von der Mitte, auf RAZ' <Ars Poetica> [75]: «descriptas servare vices ope-
die Aristoteles seine Ethik gründete, setzt Prinzipien des rumque colores / cur ego si nequeo ignoroque poeta
D. voraus. [63] Der stoische Philosoph PANAITIOS VON salutor?» (Wenn ich die festgelegten Unterschiede und
RHODOS machte das prepon zur Grundlage seines Kon- den Stil einer Gattung nicht zu beachten vermag und
zeptes der moralischen Pflicht, das aus CICEROS <De Offi- nicht kenne, was laß ich als Dichter mich grüßen?) D. ist
cis> [64] bekannt ist und zwei Arten von D. umfaßt : 1) ein in der <Ars Poetica> von zentraler Bedeutung und hat
allgemeines D., wonach Handlungen der Natur und dem eine Fülle von Funktionen inne [76] ; die Erörterung der
rationalen Wesen des Menschen angemessen sind, 2) ein dramatischen Gattungen und der jeweils angemessenen
untergeordnetes D., das in allen Tugenden enthalten ist, stilistischen Ebene bildet dabei allerdings das Kern-
am offensichtlichsten in der temperantia (Maßhalten) stück. [77]
und damit vor allem auch in der harmonischen Anord- 14. D. und literarische Wertung. Die Bedeutung der
nung der Tugenden im Leben des Menschen. [65] Das Angemessenheit im Rahmen der literarischen Wertung
rhetorische bzw. ästhetische Prinzip des Angemessenen geht auf das 5. Jh. v. Chr. zurück [78] und hielt die ganze
mag dabei eine Rolle gespielt haben. - Man beachte, daß Antike über an. Wir treffen sie vor allem in der Litera-
Cicero das Prinzip des poetischen D. zum Vergleich turkritik an, wenn Kommentatoren ein Urteil über eine
heranzieht, als er die Ansichten des Panaitios refe- Stelle abgeben, wobei ein großer Teil unserer Beispiele
riert. [66] R. Philippson vertritt die Auffassung, daß Pa- aus der Homerkritik stammt. [79] Eine Passage als unan-
naitios' Konzept eine Verbindung von moralischer und gemessen zu bezeichnen, kann Verschiedenes bedeuten:
ästhetischer Angemessenheit darstellt, denn «das πρέπον Manchmal geht es darum, daß die Stelle nicht in den
(prépon) des Panaitios sei nicht nur das Geziemende, Zusammenhang paßt oder nicht zur Praxis des Autors,
sondern das, was zugleich ziert und ziemt». [67] Nach wie sie anderweitig festgestellt worden ist. Z . B . merkt
Pohlenz kann Panaitios' Ansicht, daß das prepon schwer ARISTARCH zur Ilias (9,186) an, es sei angemessen, daß
zu erklären sei, von der ästhetischen Überlegung beein- Achilles auf einer Leier spiele, die er im Kampf gewon-
flußt gewesen sein, daß der kairos über die Sinne wahr- nen habe. Er weist damit den offenbar geäußerten Vor-
genommen werde. [68] Es ist anzunehmen, daß es schon wurf zurück, dies sei unangemessen. (Man beachte, daß
vor den Stoikern eine enge Verbindung gab zwischen die antiken Kritiker in der Kategorie D. dachten, wäh-
moralischen und rhetorischen Funktionen, und sogar rend moderne Kritiker möglicherweise in der Kategorie
Panaitios kann die Gleichsetzung der beiden Bereiche Wirkung denken.). [80] In anderen Fällen kann die Un-
nicht allzu sehr forciert haben. [69] Der stoische Einfluß angemessenheit auf eine moralische Bewertung zielen,
bestand höchstens darin, der Auffassung Ansehen zu wie z.B. ZENODOTOS' Bemerkung zur Ilias (24, 130f.),
verleihen, so daß CICERO D. dann regelrecht mit sapien- die einer Passage gilt, in der Thetis den Vorschlag macht,
tia gleichsetzen konnte - Worte, die HORAZ in der <Ars Achilles solle mit einer Frau schlafen. [81]
Poetica> zu wiederholen scheint. [70]
15. D. und Nachahmung. Ein weiterer Anwendungs-
Aus der Tatsache, daß Sittlichkeit in einer Weise neu bereich des D. in der antiken Poetik ist das Prinzip der
definiert worden war, in der das prepon das wichtigste angemessenen Nachahmung. Diese ist in ARISTOTELES'
Moment ist, könnte man folgern, daß Rhetoriker das <Poetik> möglicherweise angedeutet. [82] Wir finden ei-
prepon als ethischen Maßstab betrachteten, dem sie zu- nen Hinweis darauf ebenfalls in DIONYSIOS' Analyse des
mindest per Analogie genügen konnten. Dies hätte zur thukydideischen Stils. [83] PLUTARCH bietet eine Vertei-
Abwehr platonischer Angriffe von großer Bedeutung digung gegen Piatons Vorwurf an, die Nachahmung un-
sein können, Angriffe, die lauteten: Die Rhetorik sei moralischer Dinge sei ebenfalls unmoralisch: In Kap. 3
eine von Grund auf amoralische Kunst. Als eine in diese von <De Audiendis Poetis> argumentiert er, daß die Be-
Richtung zielende Andeutung könnte man AELIUS A R I - ziehung zwischen der nachgeahmten Sache und der
STEIDES' Verteidigung der Rhetorik in <Über die Vier> Nachahmung in die Zuständigkeit des D. fallen: où γάρ
verstehen, wenn er daraufhinweist, daß sich die Rheto- έστι τ α ντο το καλόν κα'ί κ α λ ώ ς τ ι μιμεΐσί»αι. κ α λ ώ ς γάρ έστ ι το
rik unter anderem mit dem prepon beschäftige. [71] πρεπόντως και οίκείως, οικεία 5ε και πρέποντα τοις αίσχροϊς τ α
12. Prepon als Argumentationstopos. Ein letzter αισχρά. (Etwas Gutes nachzuahmen ist nicht das gleiche
Aspekt des prepon ist der Erwähnung wert: Das Ange- wie etwas gut nachzuahmen. Etwas gut nachzuahmen
messene und das Unangemessene werden als Argumen- heißt, dies angemessen und passend zu tun, und Häßli-
tationstopoi verwendet (d.h., um Argumente der fol- ches ist Häßlichem angemessen). [84] Dies ähnelt der in

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der Rhetorik allgemeiner geforderten Entsprechung DeWitt: The Concept of Appropriateness (Diss. Oxford 1987)
zwischen Charakter und R e d e . 265ff. - 70 Cie. Or. 70; Horaz, Ars Poetica 307ff. - 71 Aelius
Aristeides, Über Rhetorik 382. - 72z. Β. Hermog. Prog. 11,10;
Anmerkungen: Aphthonius, Progymnásmata, 14, 4-5R. - 73Herodot 2, 116;
1 Aristophanes, Frösche, 1058-9; übers, v. L. Seeger: Aristo- übers, v. J. Feix: Herodot, Historien Bd. 1 (21977) 295. - 7 4 z . Β.
phanes, Sämtl. Komödien (21980) 508. - 2Plat. Phaidr. 267a; Arist. Poet. 1153a36. - 75 Ars Poetica 86ff.; übers, v. E. Schä-
übers, v. K. Hildebrandt: Piaton, Phaidros oder Vom Schönen fer: Quintus Horatius Flaccus, Ars Poetica, Die Dichtkunst
(1979) 74. -3Isokrates, Panegyricus 8ff.; vgl. W. Steidle: Rede- (1980) 9. - 76ebd. Iff., 73f., 153ff. - 77M. Fuhrmann: Einf. in
kunst und Bildung bei Isokrates, Hermes 80 (1952) 270f.; vgl. die antike Dichtungstheorie (1973) 128; Pohlenz [60] 85ff. ;
A. S. Pease: «Things Without Honour», CP 21 (1926) 27ff. - C. O. Brink: Horace on Poetry II: The Ars Poetica (Cambridge
4Plat. Phaidr. 267b = VS 84A20; übers, v. K. Hildebrandt: 1971) 4 6 3 - 4 . - 7 8 D e m o k r i t , VS B23. - 79vgl. M. van der Valk:
Piaton, Phaidros oder Vom Schönen (1979) 74. - 5 Plat. Gorg. Researches on the Text and Scholia of the Iliad, Bd. 2 (Leiden
449c. - 6Pindar: Siegesgesänge und Fragmente, übers, von 1964) Iff.; K.Nickau: Untersuchungen zur textkritischen Me-
O.Werner (o.J.) 197.-7Platon, Ion 5 4 0 b - d 9. - 8Menon, 71e thode des Zenodotos von Ephesos (1977) 183ff. - 80H. Erbse:
= VS 82B19. - 9 Arist. Poet. (1454a30, a22ff.). - lOvgl. Cie. De Scholia Graeca in Homeri Iliadem (1971) 2, 438. - 81 ebd. 5,
or. 3, 210; AeliusTheon., Progymnasmata 115,26; Hermog. Id. 543. - 82 Arist. Poet. 1455a25. - 83Dionysios von Halikarnas-
321, 6ff.; Quint. 11, 1, 3Iff. - l l P l a t . , Pol. 3, 400d; übers, von sos, Thukydides 43ff. - 84Plutarch, De Audiendis Poetis 3.,
F. Schleiermacher: Piaton, Sämtl. Werke, Bd. 3 (1983) 133. - G. von Reutern: Plutarchs Stellung zur Dichtkunst (1933) 68ff.;
12Menander, Frg. 143. - 13J.C. Bramble: Persius and the E. Valgiglio: Plutarco, De audiendis poetis (Turin 1973).
Programmatic Satire (Cambridge 1974), 23ff. - 1 4 P l a t . Phaidr.
271dff., 270d. - 15 W. Süss: Ethos (1910), 21. - 16MG 98. - C. Wirkungen. A l l e n Verwendungen des Begriffes D .
17Thukydides, Gesch. des Peloponnesischen Krieges, Bd. 1 ist gemeinsam, daß sie die R e d e mit äußeren Kriterien in
(1973) 35, übers, von G.P. Landmann. - 18Plat. Phaidr. Beziehung setzen: O b eine R e d e gut oder schlecht ist, ist
272a [4] 82. - 19vgl. L. Radermacher: Artium Scriptores (Wien kein Absolutum, sondern relativ bezogen auf das Publi-
1951) 48f. - 20 Hermog. Dein. 414, 3ff. - 21 vgl. P.Woodruff: kum, die U m s t ä n d e , das Thema usw. Erfolg oder Mißer-
Plato: Hippias Major (Indianapolis 1982), 16ff.; Isokrates, Pa-
negyrikos 71 und Arist. EN 1122b9. - 22Plat. Phaidr. 264c [4] folg bei der Anpassung einer R e d e an die äußeren Krite-
70; vgl. Arist. Poet. 1456al4; Horaz, Ars Poetica 12ff. u. 73ff., rien ist eine Sache, die bis zu einem gewissen Grad
Hermog. Id. 296, 24ff. und M. Heath: Unity in Greek Poetics anhand von R e g e l n erlernt werden kann; umfassendes
(Oxford 1989), passim. - 23 vgl. J . J . Pollitt: The Ancient View Können auf diesem Gebiet erfordert jedoch auch Erfah-
of Greek Art (Yale 1974), 160ff.; F. Pfister: Kairos und Symme- rung. In Hinblick auf das gesamte Spektrum der Ver-
trie, in: Würzburger Stud, zur Altertumswiss. 13 (1938) 131ff. - wendungen lassen sich drei Kritikpunkte vorbringen:
24 Protagoras VII 52 = VS 80A1. - 25 Gorgias, De Compositio- a) Wenn es einerseits einen wichtigen Vorteil des Kon-
ne Verborum 12-20; vgl. Philostrats Leben der Sophisten 1, 1 zeptes darstellt, daß es äußerst flexibel ist, hat gerade
(VS A l a ) . - 2 6 Gorgias VS 82B6,16ff.; übers, v. W. Nestle: Die
diese Flexibilität eine gewisse Verschwommenheit und
Vorsokratiker (1978) 193. - 27vgl. W. Süss [15]. - 28vgl. Her-
mog. Id. 378, 2. - 29 Arist. Rhet. 3, 2, 1404b; vgl. Arist. Poet. Ungenauigkeit zur Folge. b ) E i n weiterer Nachteil des
1459a3. - 30 Arist. Rhet. 3, 2, 6; vgl. Quint. 8, 2. - 31 Arist. Konzeptes ist seine Unverbindlichkeit: Z u sagen, etwas
Rhet. 3, 3; vgl. Theophrast apud Demetrius, De Elocutione sei angemessen oder unangemessen, bedeutet oft nur, es
114. - 32Arist. Rhet. 3, 7. - 33ebd. - 34vgl. Cie. Or. 78; zu loben bzw. zu tadeln. Worauf es jedoch ankommt, ist,
J.Stroux: De Theophrasti virtutibus dicendi (1912), 16ff. - warum dies so ist. c) Ein besonderes Problem taucht im
35DiogenesLaertius7,59. - 3 6 v g l . D . M . Schenkeveld: Studies R a h m e n der literarischen Wertung auf: Ein literarisches
in Demetrius on Style (Amsterdam 1964), 81; Ps.-Long. 3, 1 Urteil, daß etwas angemessen oder unangemessen sei,
und 3, 5. - 37Lysias, 9. - 3 8 e b d . 10-1. - 3 9 R . Roberts: Diony- bezieht die entscheidenden Fragen nicht mit ein, näm-
sius of Halicarnassus (Cambridge 1901), 172; Schenkeveld [36]
lich, wer der Beurteilende und was die Grundlage für die
74; vgl. P. Geigenmüller: Quaestiones Dionysiacae de Vocabu-
lis Artis Criticae (1908), 68ff. - 4 0 Dionysios von Halikarnassos, Beurteilung ist. Wenn Dionysios und H e r m o g e n e s z . B .
De Compositione Verborum, 12, 20. - 41 Cie. Or. 70ff. - Gorgias' Stil als unangemessen beschreiben, interessie-
42Hermog. Id. 368, 23ff.; vgl. D.Hagedorn: Zur Ideenlehre ren sie sich nicht für die Überlegung, daß er für den
des Hermogenes, Hypomnemata 8 (1964), 33ff. - 43vgl. den Geschmack des 5. Jh. durchaus angemessen gewesen
Abschnitt über deinotes. - 44Pseudo-Aristeides, περ'ι άφελείας sein mag.
Β' 75, 10; vgl. Η. I. F. Drijepont: Die antike Theorie der Varie-
tas, Spudasmata 37 (1979), 3. - 45Der Begriff ευπρέπεια findet D a s Lose, Unbestimmte am Prinzip der A n g e m e s s e n -
sich z.B. in Pseudo-Dionysios, Peri eschematisménon logon, heit könnte dazu geführt haben, daß es für Angriffe v o n
295, 17; 324, 4. - 46Thukydides 3, 11, 3. - 47Quint. 11, 1, Seiten der Gegner der Rhetorik o f f e n ist. Quintilians
16 - 2 8 . - 48vgl. L. Radermacher: Stud, zur Gesch. der griech. Darstellung des D . wurde von R A M U S mit der Begrün-
Rhet. II (1897) 419ff. - 49Quint. 11, 1, 6 0 - 6 8 . - 50ebd. 11, 1, dung angegriffen, D . sei überall zu finden, und es gebe
6 8 - 7 4 . - 51 ebd. 11, 1, 7 5 - 8 3 . - 52ebd. 11, 1, 8 4 - 9 0 . - daher keinen besonderen Grund, es der Rhetorik zuzu-
53 vgl. [19], - 5 4 v g l . M. Schanz: Die Apollodoreer undTheodo-
reer, H. 25 (1890) 36ff.; H. Mutschmann: Tendenz, Aufbau und sprechen («quare quod tarn late pateat, ridiculum sane
Quellen der Sehr, vom Erhabenen (1913) 46ff. - 55 Seneca, est rhetoricae veluti proprium subiieere»). [1]
C o n t r o v e r s i a e I I , 1, 3 6 ; A n o n y m u s S e g u e r i a n u s , τ έ χ ν η z m πολι- D a s Prinzip der A n g e m e s s e n h e i t überdauerte am ehe-
τικού λόγου, in: Rhet. Graec. Sp. I, 427. - 5 6 P s . - L o n g . De subì. sten als literarischer Begriff, besonders hinsichtlich der
32,1. - 5 7 C i e . De or. 3, 212. -58Dionysios von Halikarnassos, Gattungen, mit der Überlegung, daß für die hohen und
De Compositione Verborum 12. - 59Lysias, 11. - 60M. Poh- niederen Gattungen verschiedene Konventionen ange-
lenz: -.'ο πρέπον: Ein Beitrag zur Gesch. des griech. Geistes,
messen seien. [2]
Nachrichten von d. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, Philol.-Hist.
Klasse, I, 16 (1933) 78. - 61 Cie. Or. 74; Quint. II, 13, 13. - D i e Übertragung v o n D.-Prinzipien auf die Literatur
62Iamblichus, VS 5 8 D 5 . - 6 3 Arist. E N I , 6; 1107a4: τοΟίέοντος. zeigt sich v. a. in den Poetiken des Mittelalters, der R e -
- 6 4 C i c e r o , De Officiis 1,92ff. - 6 5 vgl. L. Lobowsky: Die Ethik naissance und des Barocks. D i e klassische D . - L e h r e
des Panatios. (1934); H . A . Gärtner: Cicero und Panaitios wurde v o n A U G U S T I N U S , A L K U I N und H R A B A N U S M A U -
(1974); M. van Straeten: Panetius (Amsterdam 1946); M. Rist: RUS an die mittelalterliche Rhetorik und Poetik vermit-
Stoic Philosophy (Cambridge 1969) 190-1. - 66Cicero, De Offi- telt, wobei v . a . das Begriffspaar res - verbum im Zen-
ciis I, 97. - 67R. Philippson: Das Sittlichschöne bei Panaitios, trum stand: Wort und Sache, R e d e und Gegenstand
Philologus 85 (1930) 375ff. - 68vgl. Pohlenz[60], - 69H. müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander

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stehen. Dies gilt nicht nur für literarische Texte (ars wird Schicklichkeit (decorum) von Gottsched als Sprach-
poetica), sondern auch für die im Mittelalter bedeutsame tugend apostrophiert. [13]
Rede von Gott (ars praedicandi). Der Streit um das D.
und die elocutionellen Mittel läßt sich insbesondere an Anmerkungen:
den konträren Positionen von Augustinus und GREGOR 1 R h e t o r i c a e D i s t i n c t i o n e s in Q u i n t i l i a n u m (1549), engl. Ü b e r s .
D. GR. beobachten: Gilt es für Augustinus, die Rhetorik v o n C . N e w l a n d s (Illinois 1986) 158. - 2 vgl. A . F o w l e r : K i n d s of
für die Verkündigung der göttlichen Botschaft fruchtbar L i t . : A n I n t r o d u c t i o n t o t h e T h e o r y of G e n r e s a n d M o d e s
( C a m b r i d g e 1982); M . F u h r m a n n : E i n f . in die a n t i k e D i c h -
zu machen, so lehnt Gregor die geschmückte und rheto-
t u n g s t h e o r i e (1973) 193ff., 2 3 0 f f . ; T . M a c A l i n d o n : S h a k e s p e a r e
risch ausgefeilte Rede als unangemessen ab. Von Gott ist a n d D e c o r u m ( L o n d o n 1973). - 3 vgl. G . U e d i n g , Β . S t e i n b r i n k :
in einfachen und klaren Worten zu reden. In seiner G r u n d r i ß d e r R h e t . (1986) 71; J. J . M u r p h y : R h e t . in t h e M i d d l e
Schrift <Regula pastoralis> (591) schreibt Gregor vor, A g e s ( B e r k e l e y 1974) 294f. - 4 v g l . H . W i e g m a n n : G e s c h . d e r
daß mit der christlichen Verkündigung ein vorbildliches P o e t i k (1977) 24. - S e b d . 31. - 6 vgl. e b d . 41. - 7 vgl. J. D y c k :
Leben und gute Taten verbunden sein müssen, wobei für T i c h t - K u n s t (1966) 14. - 8 e b d . 15. - 9 e b d . 105. - 1 0 J . C .
ihn die Predigt dem jeweiligen Publikum anzupassen M ä n n l i n g : D e r E u r o p . H e l i c o n (1704) 35. - I 1 J . M . M e y f a r t :
sei. [3] Insofern werden bei ihm sprachliche und soziale T e u t s c h e R h e t o r i c a (1634) 70 u . 228. - 1 2 U e d i n g , S t e i n b r i n k [3]
Kriterien des D. thematisiert, das Vir-bonus-Ideal wird 8 8 . - 1 3 vgl. e b d . 133.
im Sinne eines christlichen Angemessenheitsbegriffs re- 1. Rutherford/L. G.
formuliert.
—» A f f e k t e n l e h r e —* A n g e m e s s e n h e i t —» D r e i s t i l l e h r e —* D i c h t -
Was die Dichtkunst anbelangt, geht beispielsweise k u n s t —» E t h o s —> G e s c h m a c k —» H a r m o n i e - > K a i r o s —> M i t t e ,
MATTHÄUS VON VENDÔME in seiner <Ars versificatoria> M i t t e l m a ß —> O r n a t u s —> P a t h o s —> P o e t i k —» P u b l i k u m —»
(1170) davon aus, daß gebundene Rede, Angemessen- R e d e g a t t u n g —» R e d e s i t u a t i o n —» W i r k u n g —» W ü r d e
heit und sprachlicher Schmuck aufeinander verwiesen
seien. In den Stilfiguren darf nichts Minderwertiges oder 2. Malerei, Architektur. X. In beiden Bereichen ist das
Überflüssiges enthalten sein. [4] D. wegen seiner einheitsstiftenden Wirkung eine Lehre
Auch in Humanismus und Renaissance werden antike von der Erscheinungsweise des Individualschönen, ent-
Vorschriften des D. tradiert: PIETRO BEMBO rückt das D. sprechend den Inhalts- und Funktionsmerkmalen der
in den Mittelpunkt. Es «wird bei ihm zum stilbestimmen- darzustellenden Sache. Als das dem Augenblick (kairos)
den Prinzip, wie überhaupt die rhetorische Lehre von Angemessene, Geziemende, Charakteristische bezieht
der convenientia nun dichtungstheoretisch assimiliert sich das D. sowohl auf die Binnenstruktur eines Werkes
wird (bei Bembo mit Konsequenzen für die strikte Tren- wie auf seine Außenwirkung. Als das Ordnende, Zuord-
nung der Stilarten).» [5] Fragen des D. werden auch von nende und Geordnete gliedert es die Teile zu einem
J. PONTANUS in seinen <Poeticarum Institutionum Libri zweckmäßigen, sinnvollen und harmonischen Ganzen,
Tres> (1594) und von G . J . Vossius im <Commentato- wobei die spezielle Wirkungsweise des einheitlichen Ein-
rium Rhetoricorum> (1630) ausführlich abgehandelt als drucks im subjektiv Stimmigen wie objektiv Nachvoll-
Aptum-Lehre. [6] ziehbaren liegt. In Anlehnung an Musiktheorie, Poetik
Die klassischen rhetorischen Aussagen zum D. gelten und Rhetorik beinhaltet das D. in Architektur und Male-
dabei auch für die Literatur in der deutschen Mutterspra- rei eine dreigliederige, später erweiterte Gattungseintei-
che. [7] Ein Autor hat seine Person mit Merkmalen aus- lung mit einem gesetzmäßigen Formenapparat. Das
zustatten, «die ihr als gesellschaftliche Figur im Rahmen Normgesetzliche liegt in der sogenannten Modus-Leh-
einer festgelegten Typologie entsprechen. Die Darstel- re[ 1] der Musik mit ihrer metrischen Proportionslehre
lung richtet sich dabei nach dem rhetorischen D., nach und der damit verbundenen Ausdruckslehre (Stilarten)
der Angemessenheit von Sache und Wort.» [8] Soziale mit unterschiedlichen Stilhöhen. Hierbei folgen auch
Standards und D.-Vorschriften sind bis in die Ba- Malerei und Architektur den Qualitätsnormen der rhe-
rockdichtung hinein aneinander gebunden. Die «Sach- torischen Stilstufen humilis, mediocris, gravis, die sich
walterin des Maßes und des guten Geschmacks» [9], die durch das Maß an Würde und Schmuck voneinander
D.-Lehre, umgreift Rhetorik und Poetik. So bringt etwa unterscheiden. Nach rhetorischem Vorbild sind darüber
J . C . MÄNNLING ( 1 7 0 4 ) ein drastisches Beispiel für die hinaus die Beziehungsmuster hinsichtlich der Zweck-
Verletzung einer D.-Regel: «Derjenige, so Verse ma- dienlichkeit und Würde des Aufstellungsortes und der
chen will, muß von guter Invention und Judicio seyn, daß Würde des Auftraggebers miteinbezogen. Grundlage
er nicht [...] G O T T den Herrn einen Bettelvogt schänd- des D. in allen Künsten ist die aus der Ritualwirksamkeit
licher Weise nenne. » [ 1 0 ] Auch hält J . M. MEYFART ( 1 6 3 4 ) stammende Moduslehre der alten mousikê mit der Ein-
seine Leser dazu an, die Mittel des ornatus sparsam zu heit von gesprochenem Wort, Gesang und Tanz. [2] Sie
verwenden, um D.-Verletzungen vorzubeugen. Er be- steht für die weltstiftende Wirkung des Mythos in dessen
ruft sich dabei z.B. auf Cicero und bringt Zurückhal- Aktualisierung im rituellen Vortrag. [3] Das D. trägt
tung, Maß und Behutsamkeit in Zusammenhang mit dem auf der profanen Ebene Rechnung mit dem gleichen
Redeschmuck und Sozialverhalten. [11] Bemühen um objektive Wahrheit hinsichtlich der Form
wie der subjektiven Wirksamkeit. Das Schöne, das Gute
«Das souveräne Auftreten, die Feinheit im geselligen und das Wahre bilden im D. ein unlösbares Beziehungs-
Umgang, das gut abgemessene und wohl angemessene muster [4], was sich in besonderem Maße in der Malerei
Verhalten» [12] findet seinen Ausdruck auch im Begriff durch die vergleichbare Thematik auswirkt. Das D. ent-
des italienischen decoro, in dem wesentliche Inhalte hu- faltet sich dementsprechend auf unterschiedlichen Ebe-
manistischer Kultur aufgenommen sind. Auch im Zeital- nen: a ) d e r des Angemessenen, Schicklichen [5], An-
ter der Aufklärung wird die Tradition der D.-Vorschrif- ständigen [6], Passenden, Zweckmäßigen des Augen-
ten rezipiert und für die Muttersprache fruchtbar ge- blicks [7], was sich auch in der Assimilation der artver-
macht. Die Kategorien Angemessenheit und Schicklich- wandten Begriffe prepon, aptum, decet ausdrückt, b) der
keit nimmt GOTTSCHED in seine Arbeiten zur Normie- des Proportionsschönen (commensuratio membrorum)
rung der deutschen Hochsprache auf: Neben Richtigkeit mit dem in der Modus-Lehre angelegten Doppelaspekt
(puritas), Klarheit (perspicuitas) und Schmuck (ornatus)

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objektiver Zahlenordnung und subjektiver Wirkungs- enden, was die Natur nicht zu vollenden vermag, oder sie
weise und c ) d e r des Maßgerechten als harmonischer ahmt die Natur nach. [7] In diesem Sinne stellt die Tragö-
Ordnung sowohl der Teile wie des Ganzen, wodurch das die den Menschen besser, die Komödie ihn gleichwertig
D . eine Gleichsetzung mit dem Schönen (to kailos) er- und das Satyrspiel schlechter dar als er ist. D e n Dramen-
fahren hat. [8] gattungen zugeordnet ist die Ausstattung der Bühne.
Die Vielschichtigkeit der Aspekte des D . mit ihren VITRUV [8] weist der Tragödie im Sinne der Tradition den
immanenten Widersprüchen kennzeichnen die Theo- Königspalast zu mit seinen Hoheitsformen Säule, Giebel
rieentwicklung wie den historischen Diskurs. Die Frage und Standbild, der Komödie das Privathaus mit E r k e r n ,
von Freiheit und Notwendigkeit, Willkür und Gesetz Fenstern und Vorsprüngen und d e m Satyrspiel B a u m ,
führen zu Verschiebungen in Gewichtung und Bedeu- Grotte und Berg entsprechend der A r t der Land-
tung, schließlich zur Loslösung einzelner Aspekte und schaftsmalerei. Zusammengebunden wird das D r a m a
der Bildung neuer Bezüge bis in die zeitgenössische vom Mythos; er bildet das ordnende Bezugssystem für
Kunst. Die Methodik des D . bietet eine erweiterte Be- angemessene und in sich stimmige Handlungsweise und
trachtungsweise f ü r die alte Kunst [9] und bei Neube- Personenbezeichnung. [9] Eine ähnliche Typologie sieht
stimmung des Wahrheitsgrundes ein Instrumentarium Aristoteles in der Malerei: Polygnotos hat schönere
zur Wesensbestimmung der aktuellen Kunst. [10] Menschen gemalt, Pauson häßlichere, Dionysos aber
ähnliche. [10]
Anmerkungen : Wegen der Vergleichbarkeit der T h e m e n ist das poeti-
1L. Labowsky: Der Begriff des πρέπον in der Ethik des Panaitios sche D . in gleicher Weise für die Malerei zuständig. Es
(1932) 103f., 106ff.; J. Bialostocki: Das Modusproblem in den äußert sich in vier Kategorien: a ) d i e sittliche Qualität,
bildenden Künsten, in: ders.: Stil und Ikonographie (1981) 14ff. b) die Angemessenheit an verschiedene Menschenarten
- 2vgl. B. Meinecke: Music and Medicine in Classical Antiqui-
ty, in: Music and Medicine (New York 1948); H. Koller: Die (Alter, Stand, Geschlecht), c)die Ähnlichkeit bei der
Mimesis in der Antike (Bern 1954); T. Georgiades: Musik und Nachbildung überlieferter Charaktere, d ) d i e Geschlos-
Rhythmus bei den Griechen (1958). - 3E. Grassi: Kunst und senheit des Charakters in verschiedenen Handlun-
Mythos (1957) 83; ders. : Die Theorie des Schönen in der Antike gen. [11] In bezug auf die Künstlerpersönlichkeit selbst
(1962) 123ff. - 4R. Philippson: Das Sittlichschöne bei Panai- ist das ethische D . Maßgabe des Schicklichen, Anständi-
tios, in: Philologus 85 (1930) 387ff. - 5vgl. A. Horn-Oncken: gen. D e m vir bonus verbieten sich sowohl unangemesse-
Über das Schickliche (1967). - 6F.W. Schlikker: Hellenist. ne T h e m e n wie eine das Maß des Schicklichen über-
Vorstellungen von der Schönheit des Bauwerkes bei Vitruv schreitende Darstellungsweise. [12] Im gleichen M a ß e
(Diss. Münster 1940) lOlff. - 7M. Pohlenz: το πρέπον. Ein Bei- wie für das ethische D . gilt für das ästhetische D . das Ziel
trag zur Gesch. des griech. Geistes, in: Nachrichten der Akad.
der Wiss. zu Göttingen. Philol.-Hist. Kl. 1,16 (1933) 71f.; Horn- einer gattungsmäßigen normgerechten Typenausbil-
Oncken [5] 92ff. - 8 Pohlenz [7] 73ff. - 9 Bialostocki [1] 31; dung. Die Modus-Lehre bietet auch für die Malerei und
U. Mildner-Flesch: Das D. (1983) 194. - lOvgl. U. Mildner: Architektur die gemeinsame Einbindung objektiver und
Schönheit als Provokation (1986). subjektiver Elemente, die das Angemessene und Schöne
ausmachen. Die objektiven Elemente der musikalischen
B.I. Antike. Für Malerei und Architektur der Antike Harmonienlehre gehen auf die kosmischen Spekulatio-
ist eine der Rhetorik vergleichbare Systematik des D. nen der Pythagoreer zurück, die das Weltganze als Ord-
nicht überliefert; die verstreuten Angaben zur bildenden nungszusammenhang von Zahlen und Proportionen ver-
Kunst lassen aber seine deutliche A n w e n d u n g erkennen. standen. [13] Da die Zahlen das Gesetz der Welt darstel-
Das D . beinhaltet neben der aus der Musik stammenden len, wie es sich in den gleichförmigen Bewegungen des
Modus-Lehre die Vorstellungen des altgriechischen pre- Planetenhimmels zeigt, liegt in ihnen auch das Gesetz
pon, das bei HOMER [ 1 ] den die G r u p p e oder die Einzel- des Schönen und das der Werke der Schaffenden. [14] In
person auszeichnenden Eigenschaftswert meint, welcher den Tönen der Musik und der Zahlen sahen die Pythago-
einer bestimmten gesellschaftlichen Stellung Rechnung reer Entsprechungen; beide sind dem Urgrund der Welt
trägt. Hieraus ergibt sich die Unterscheidung des rheto- verwandt, so daß sich in den musikalischen Tönen die
rischen und poetischen D . nach Stand, Alter, Geschlecht metaphysische O r d n u n g ausdrückt. [15] Ihre Elemente
und Beruf wie seine Übertragung auf die bildende Kunst sind der Gestalt und A n o r d n u n g bewirkende Rhythmus
und Architektur. [2] Wenn dann das prepon bei den Tra- und die Klarheit der melodischen Tonfolge. Über die
gikern Verwendung findet, bezieht es sich auf das dem Schönheitslehre wird dieser Anspruch einer metaphy-
Menschen in Beziehung zu den Göttern angemessene sisch begründeten O r d n u n g sowohl auf die Architektur
maßvolle Verhalten. Maßlos ist die Hybris und wird von wie auf die bildende Kunst übertragen. D e n musikali-
den Göttern bestraft. Hieraus entwickelt PANAITIOS und schen Modi immanent sind Ausdruckswertigkeiten, die
in seiner Nachfolge CICERO ein ethisches, das Sittlich- den Charaktermerkmalen der Seele entsprechen. Die
schöne in Erscheinung bringende D . [3] dorische Tonart gilt als männlich und ernüchternd, die
phrygische als emotional erregend, die äolische beruhigt
Cicero unterscheidet die A r t und Weise der in Erschei- und schläfert ein, die lydische vertreibt die Sorgen. [16]
nung tretenden Tugenden je nach den drei Seelenvermö- Ihnen zugeordnet sind die im Wesen vergleichbaren
gen Verstand, Gefühl und Begehren. [4] Das prepon ist Götter, die unterschiedlichen Planetensphären, die ein-
das maßgebende für die Verwirklichung eines Men- zelnen Affekte wie die verschiedenen Temperamen-
schentypus, nicht für die Ausformung individueller sub- te. [17] Nach antiker Vorstellung erstreckt sich die Ana-
jektiver Eigenschaften. [5] D a s ethische D . wird in zwei- logie von Planetenbewegung und musikalischer Bewe-
facher Weise f ü r die bildende Kunst und Architektur gung naturgemäß auch auf die Seelenbewegung. [18] Die
fruchtbar. grundsätzliche Anlage der Seelenbewegung (ethos) ent-
Indem ARISTOTELES erklärt, daß die Malerei wie die spricht der individuellen Prägung durch die Planetenbe-
Dichtkunst den Menschen und seine Handlungen abbil- wegungen, da sich die Seele auf ihrem Weg zur Inkarna-
det, wird es zum Thema der Darstellung selbst. Das Ziel tion im Bereich aller Planetensphären aufhalten muß,
aller nachahmenden Kunst ist das Sichtbarmachen wobei die Unterschiede durch die Verweildauer gegeben
menschlicher Möglichkeiten. [6] Dabei kann Kunst voll-

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sind. [19] Die Wesensverwandtschaft der kosmischen gleichbar dem griechischen Stilbegriff (thematismoi), der
wie irdischen Schwingungsmuster verleiht den Harmo- sich aus der musikalischen Modi-Lehre entwickelt hat.
nien eine im Objektiven begründete Wirkungswertig- Wie im Theater Tonart, Rhythmik, Metrik und Harmo-
keit, die nach ARISTOTELES [20] auch den anderen Kün- nie sowie Komposition und Interpretation der Gattung
sten gemeinsam ist. Die größtmögliche Identität von dem Inhalt angepaßt werden müssen, und das Bühnen-
Proportionswahrheit und Erscheinungswahrheit zeich- bild als objektive Entsprechung der jeweiligen Stilstufe
net die klassische Kunst aus, wobei jedoch schon hier dient, soll in der Architektur der jeweilige Baustil der
gewisse Modifikationen vorgenommen werden zugun- repräsentativen Funktion und dem Zweck des Bauwer-
sten der optisch richtigen Erscheinungsweise. kes angepaßt werden.
Die Ansätze der Eurythmie erweitern sich im Hellenis- Noch Vitruv sieht in den traditionellen Säulenordnun-
mus auch in die Bereiche der immanenten Ausdrucks- gen die den Göttern angemessenen Ausdruckswei-
wertigkeit der Proportionalität, so daß zur Symmetrie sen. [35] Consuetudo ist das Gewohnte, Traditionelle. Es
mit ihrem Ethos die Eurythmie mit ihrem Pathos tritt. bezieht sich auf die Auswahl und Übereinstimmung der
Beides geht als Folge der allgemeinen Stilentwicklung bekannten Stilelemente; Vitruv fordert Stilreinheit und
unter dem Stichwort der consuetudo in die Ausdrucks- die durchgängige Einhaltung der Stilhöhe. Mit natura ist
lehre des D. ein. [21] die äußere Lage des Bauwerkes und die Anordnung der
Im Gegensatz zum konstitutiven ethos meint pathos Räume nach Erwägung der natürlichen Bequemlichkeit
die expressive Seelenbewegung angesichts eines speziel- gemeint. Das Zahlenmäßige aus der Ideenlehre P L A T O N S
len Ereignisses. [22] Durch Mimik und Gebärde entspre- und der PYTHAGOREER behandeln die vorgeordneten Be-
chend der rhetorischen actio ist in der Figurendarstellung griffe ordinatio, symmetria und die auf das Wirkungsmä-
der bildenden Kunst nach SOKRATES ebenfalls das Pathos ßige abzielende eurythmia, wobei das ihnen innewoh-
in Erscheinung zu bringen. [23] Gegen den pathetisch nende Charakteristische über den decor erzielt wird. [36]
aufgeladenen, ins maßlose gesteigerten Formenapparat Dem Proportionalen wird auf diese Weise die der Sache
des Hellenismus wendet sich das spätere D. stoischer angemessene und damit richtige Maßgabe zuteil, wie das
Prägung; es betont das der Sache angemessene Maßvol- D. überhaupt in allen zuordnenden Bereichen das Maß
le. Dieses durch PANAITIOS und die stoische Philosophie angibt. Im Sinne des Harmonischen schafft das Maßvolle
als Schönheitslehre aktualisierte preponi decorum zeugt auch hier das Gleichgewicht der Teile. Der decor garan-
von einer veränderten Bewertung der Affekte. Die Af- tiert zuletzt das fehlerfreie Aussehen eines Gebäudes, in
fekte gelten hier als disharmonischer Zustand im Gleich- dem es das Quantitative der Form mit dem Qualitativen
gewicht der Seelenkräfte, der als krankhaft gilt. Das hinsichtlich der Sache in Einklang bringt. Aus der Ein-
Gesunde dagegen ist dem Kunstschönen vergleichbar sicht in die Mannigfaltigkeit der Natur folgt die Eigenart
der Zustand der Ausgewogenheit. [24] des decor, anstelle eines einzigen Schönheitsideals viele
Schönheiten zuzulassen. Auch Vitruv löst über den de-
Dementsprechend sind die Werke der klassischen Zeit cor die Einheit der Schönheit auf, in dem er verschiedene
vollkommener Ausdruck des Schicklichen und Erhabe- Baustile und Formgattungen als gleichberechtigt aner-
nen. Bei den frühen Bildhauern verfügen nach Q U I N T I - kennt und je nach Gegebenheit von Satzung, Brauch und
LIAN [25] Polyklet und besonders Phidias über die Eigen-
Natur verwendet. [37]
schaften von diligentia ac decor. Bei den Malern wird
Polygnot als Hauptvertreter von Ethos und Anstand an-
geführt. [26] Das klassizistische D. setzt in Anlehnung an
Anmerkungen:
das Klassische erneut die Natur zum Maßstab, so daß das
1 Homer, Ilias 13, 104. - 2L. Labowsky: Der Begriff des πρέπον
Willkürliche mit dem Gesetzmäßigen übereinstimmt in der Ethik des Panaitios (1932) 104. - 3 vgl. R. Philippson : Das
und der Schmuck als das Dazukommende nicht Hinzuge- Sittlichschöne bei Panaitios, in: Philologus 85 (1930); Labows-
fügtes, sondern Notwendiges ist. ky [2]; M. Pohlenz: -ο πρέπον. Ein Beitrag zur Gesch. des griech.
VITRUV richtet sich mit dem die Wandmalerei betref- Geistes, in: Nachrichten der Akad. der Wiss. zu Göttingen.
fenden decor gegen das der Natur Widersprechende, das Philol.-Hist. Kl. 1,16 (1933). - 4 C i c e r o , D e officiis I, 93ff.; vgl.
Phantastische. [27] Im allgemeinen fordern für die bil- U. Mildner-Flesch : D a s D . (1983) 19ff. - 5 Cicero [4] 97ff.; vgl.
Labowsky [2] 16ff. - 6 Arist. Poet. 1448 a 1; vgl. E. Grassi: Die
dende Kunst sowohl L U K I A N [28] wie CICERO [29] die dem Theorie des Schönen in der Antike (1962) 128ff. - 7 Aristoteles,
Inhalt angemessene Verwendung der künstlerischen Physik 199 a 15; P. v. Naredie-Rainer: Architektur und Harmo-
Mittel einschließlich der Farben. Daneben steht die an- nie (1984) 16. - 8 Vitruv V, VIII, 9. - 9 Arist. Poet. 1450 a 22;
gemessene Ausstattung des thematischen Vorwurfs. [30] Grassi [6] 134f. u. 139f. - 10 Arist. Poet. 1448 a. - ULabows-
Bei der Darstellung der Götter wird neben der Berück- ky [2] 104. - 1 2 v g l . Quint. II, 2, 18, 13. - 1 3 Aristoteles, Meta-
sichtigung des Wesensmäßigen und Charakteristischen physik A 5, 985 b 23 ; vgl. Naredie-Rainer [7] 13. - 1 4 Grassi [6]
in besonderem Maße die ihnen geziemende Würde be- 61. -15Naredie-Rainer [7] 15. - 1 6 Aristoteles, Politeia III, 398
tont. Es eignet ihnen von Natur aus die erhabene Seite c ff. - 17G. Bandmann: Melancholie und Musik (1960) 31ff. -
des hohen Stils. [31] 18 Aristeides Quintiiianus, Von der Musik, übers, von R. Schäf-
ke (1937) 299. - 19ebd. 300; vgl. H. Abert: Die Lehre vom
Nach Vitruv bleibt jede Kunstfertigkeit vergeblich, Ethos in der griech. Musik ( 2 1968). - 20 Arist. Poet. 447 a 2. -
wenn sie nicht der ihr zugedachten Funktion ent- 21 Vitruv I, II, 5ff. - 22G.Pochat: Gesch. der Ästhetik und
spricht. [32] Darin spiegeln sich die drei Merkmale der Kunsttheorie von der Antike bis zum 19. Jh. (1986) 28. - 23 Xe-
Baukunst in ihrer nach Vitruv sinnvollen Abfolge: Mili- nophon, Memorabilia III, 10. - 24Galenos, Opera omnia VIII,
tas, venustas, decor. [33] Decor ist bei Vitruv das fehler- 183, hg. von C.G. Kühn (1924) 183; vgl. Bandmann [17] 32ff.;
freie Aussehen eines Bauwerkes, «in dem die Teile auf- Philippson [3] 371f. - 25Quint. XII, 10, 7. - 26Arist. Poet. 6;
vgl. J. Overbeck (Hg.): Die antiken Schriftquellen zur Gesch.
grund der Kenntnis der Prinzipien (auctoritate) zusam- der bildenden Künste bei den Griechen (1959) 1050, 1053. -
mengefügt werden und das Aussehen des Baus seiner 27 Vitruv V, 4; Horaz, Ars poetica Iff. - 28 Lukian [26] 1073. -
Funktion und herkömmlichen Stiltradition ent- 29Cicero, De natura deorum 2, 58. - 30Overbeck [26] 1481. -
spricht». [34] 31 F.W. Schlikker: Hellenist. Vorstellungen von der Schönheit
Hierbei sind Satzung (statio), Brauch (consuetudo) des Bauwerkes bei Vitruv (Diss. Münster 1940) 102ff. - 32 Vi-
oder Natur (natura) zu berücksichtigen. Satzung ist ver- truv VII, 5, 5ff.; vgl. Xenophon [23], - 33Vitruv I, HI, 2. -

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34ders. I, II, 5. - 35ders. I, II, 6. - 36ders. VII, II, 5. - einem optischen Raumordnungssystem der Gegenstän-
37Schlikker[31] 95. de, dem wegen seiner zahlenmäßigen Grundstruktur ei-
ne dem Makrokosmos vergleichbare Wirklichkeit inne-
II. Mittelalter. Als Synonym für das Schöne erscheint wohnt. [5] Die hieraus resultierenden Identifikationsmo-
noch im 7. Jh. n. Chr. der Begriff des D. in der Enzyklo- delle des antiken D. finden damit schon im Grundlegen-
pädie des ISIDOR VON SEVILLA. Danach hängt die Schön- den der Malerei ihren Ansatzpunkt.
heit oder Perfektion (decorum) eines Dinges von seinem Die Übertragung des Raumes auf die Fläche ist Thema
Wesen oder Nutzen ab. Hinzu kommen Anmut und des 2. Buches. Sie besteht aus drei Vorgängen: circum-
schmückende Zutaten (venustas oder ornatus), sowie scriptione, compositione und receptione di lumi. [6] Auch
Licht, Glanz und Farbe. [1] Letztere haben im neuplato- hier ist das Zusammenspiel der Teile das konstitutive
nischen Sinn «Teil am Göttlichen», während sich der Element des Bildwerkes, denn die «Teile des Ge-
ornatus auf Eigenschaften des Körpers wie z.B. seine schichtsbildes sind die Körper, die Teile der Körper sind
Proportionen [2] oder auf kunstgewerbliche Dinge wie die Glieder, die Teile der Glieder sind die Flächen». [7]
Schmuck bezieht. [3] D. meint bei Isidor aber auch die Circumscriptione meint das Fixieren der Gegenstände im
Schönheit und Vollkommenheit von Dingen oder Men- perspektivisch erschlossenen Bildraum mit Hilfe der
schen; decet ist die seelische Schönheit, die körperliche Umrißlinien. Zu dieser äußeren Anlage der Gegenstän-
decor. Decor wiederum zeigt sich in den beiden Kompo- de gehört ebenfalls deren Binnenstruktur, da die Plasti-
nenten des Schönen <pulchrum) und Zweckmäßigen (ap- zität der Körper aus einer Vielzahl von zu begrenzenden
tum). [4] Das pulchrum besteht im Ästhetisch-Formalen Flächen gebildet wird. [8] Unter compositione versteht
in Maß und Proportion. [5] Die Architektur wird in Vi- Alberti die richtige Zusammenfügung der verschiedenen
truvs Sprachgebrauch in die Kategorie der Planung (dis- Teile, wobei über die die Körperhaftigkeit ausmachen-
position), der Errichtung (constructio) und der Schön- den Flächenverbindungen Schönheit (bellezza) und An-
heit (venustas - ornamenti et decoris causa) aufgeteilt. mut (gratia) bewirkt wird. [9] Die Komposition der Glie-
Die Malerei lehnt Isidor wegen ihres fiktiven und trüge- der hat bei der Bildung der einzelnen Körper den Geset-
rischen Charakters ab. - In der mittelalterlichen Kunst- zen der Natur (Anatomie) und der Schönheit (Selektion)
theorie rückt der im D. enthaltene metaphysisch begrün- zu folgen. Die Komposition der Körper schließlich ergibt
dete ordo-Gedanke in den Vordergrund [6] und mit ihm sich aus der istoria. Diese schließt die anderen Teilberei-
tritt eine Bedeutungssteigerung des Lichtes, der Klarheit che ein, so daß «sie nach Größe, Charakter [...] Bestim-
und der leuchtenden Farben ein als immaterielle Quali- mung, Farbe und anderen ähnlichen Dingen zu einer
täten. [7] Die Vernetzung von ordo und musikalischer Schönheit zusammenstimmen». [10] Dabei ergibt sich
Proportionslehre erfährt in diesem Zusammenhang eine das Verhältnis der Teile neben der Größe (grandezza),
neue Aktualität. [8] die über die Perspektive geregelt ist, aus dem Zweck
Der Vitruv-Kommentator AELIUS DONATUS erweitert (officio), der Nachahmung vorbildlichen menschlichen
in seiner auf den Werken von Virgil fußenden Systema- Handelns.
tik der rota Virgili die Stilgattungen um eine soziale Be- Istoria meint nicht Historienbild im modernen Sinne,
deutung, einzelne Berufe mit ihren Handwerkszeugen, sondern Begebenheiten aus dem sakralen und mythi-
Baum und Tiergarten. [9] Der Begriff des decor selbst schen Bereich oder der historisch entrückten Ruhmesge-
bleibt in der Diskussion um die Frage des Guten und schichte. Sie hat als thematische Vorgabe die gleiche
Bösen bzw. der Identität von Gut und Schön erhal- Funktion wie der Mythos im antiken Drama bei ARISTO-
ten. [10] Im Sinn der ars ist er im Bereich der Rhetorik TELES: Sie bedingt bei der Komposition der Körper die
durchgehend anwesend. Art (modo) und Anordnung (ordine), und somit Ort und
Lage der einzelnen Dinge. [11] Bei modo handelt es sich
Anmerkungen: um die angemessene Charakterisierung der Personen
l l s i d . Etym. XI, 24 c. 415; XVI, c. 568; XIX, c. 30. - 2 ebd. XI, und des Ambiente, während ordine die durch den Hand-
24 c. 415. - 3ebd. XIX, c. 30. - 4ebd. I, c. 163. - 5ders.: lungsablauf erzwungene Disposition der einzelnen Teile
Sententiae, c. 8; ML 82. - 6P. v.Naredi-Rainer: Architektur
bezeichnet. [12] Modo und ordine können mit der inven-
und Harmonie (1982) 19ff.; G. Pochat: Gesch. der Ästhetik und
Kunsttheorie von der Antike bis zum 19. Jh. (1986) 183ff. -
tio und dispositio der Rhetorik gleichgesetzt werden.
7ebd. 184ff.; R. Assunto: Die Theorie des Schönen im ΜΑ Auch hier wird zuerst die dem Thema angemessene Ar-
(1963) 96ff. und 106ff. - 8 Pochat [6] 102ff. u. 126ff. - 9J. Bia- gumentation unter besonderer Berücksichtigung des an-
tostocki: Das Modusproblem in den bildenden Künsten, in: gestrebten Zieles bedacht, so daß Inhalt und Zweck die
ders.: Stil und Ikonographie (1981) 17; Pochat [6] 133. - lOGui- konstitutiven Momente des Bildaufbaus (dispositio)
laume von Auvergne, D e B o n o et Malo; Ulrich von Straßburg, sind. Für seine Vergleiche mit der Rhetorik benutzt Al-
Summa de Bone (1262-1272); vgl. Assunto [7] 40ff. berti als antike Quelle CICERO. Schon bei ihm beruht die
Rede vornehmlich auf dem Zusammenspiel der Teile,
III. Renaissance. LEON BATTISTA ALBERTI überträgt im wie sie im Bereich der Wortfügungsarten (structurae
15. Jh. das System des rhetorischen D. auf die Malerei oder compositiones) formuliert sind. [13] Der von Alber-
und Architektur, um beide Künste in den Rang einer ars ti verwendete Begriff circumscriptione erscheint bei Ci-
zu erheben und damit gleichzeitig das Ansehen der cero unter dem Gesichtspunkt der anzustrebenden Ord-
Künstler zu erhöhen. [1] Im 3. Buch von <Della Pit- nung in der Wortfolge, und zwar hinsichtlich der Rhyth-
tura> [2] weist Alberti 1436 auf die Verwandtschaft von mik (numerus) der Klangstrukturen. [14] Deren Schön-
Malerei, Dichtkunst und Rhetorik hin. [3] An anderer heit läßt sich vergleichen mit der harmonischen Eintei-
Stelle [4] vergleicht er die Buchstaben mit den Umrißli- lung des berühmten Schildes von Phidias. [15] Neben
nien im Bild, die Silben mit den Gliedern der darzustel- diesem aptum/decorum mit seinen Anklängen an die
lenden Körper und die Worte mit den Körpern selbst. musikalische Modus-Lehre steht auch bei Alberti die
Dem geht im 1. Buch die Erörterung des perspektivisch Auseinandersetzung mit dem Schmuck.
zu erschließenden Bildraumes voraus als dem grundle- Wie der ornatus der Rhetorik in Einheit mit dem D.
genden Faktor der Malerei. Die Perspektive entspricht das Mittel der Amplifikation und Modifikation der Form

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ist, werden die ornamenti von Alberti als ein den Kün- Rhythmus erreichen. [24] Dabei wird auf die poetischen
sten gemeinsames Mittel angesehen. [16] Alberti folgt in Mittel der Sprache angespielt, nämlich die psychagogi-
seinen Überlegungen den rhetorischen virtutes als den sche Wirksamkeit der Musik, die im Rhythmus mitent-
die Stilqualitäten ausmachenden Elementen und damit halten ist, denn nur durch eine diesbezügliche Differen-
der Modus-Lehre, indem er von der optischen Richtig- zierung der Form wird im Bereich der Rhetorik das
keit der Gegenstände ausgehend zu deren Charakterisie- erwünschte delectare und movere erzielt. [25] Diese Dif-
rung schreitet. Das entspricht der Forderung der Rheto- ferenzierung erfolgt durch die besondere Länge und
rik nach latinitas undperspicuitas, aber auch nach aptum, Kürze der zu rhythmisierenden Glieder, d . h . durch die
das schon in der frühen Rhetorik zur Grammatik an sich Maßgabe ihrer Dimension. Im Sinne der mit dem Rhyth-
gehörte. Den Ausdruck in der Malerei bindet Alberti an mus verbundenen Modus-Lehre bezeichnet finitio bei
die Körperbewegungen gemäß dem 5. Teil der Rhetorik, Alberti nicht nur die Größe der Körper und Glieder in
der actio. Die Optik oder Perspektive erscheint bei Al- ihrer Proportioniertheit gemäß dem aristotelischen
berti gleichsam als die <Grammatik> der räumlichen Dar- Schönheitsmerkmal, also Größe als Begrenzung und
stellung, wodurch die Richtigkeit, Klarheit und Ange- Wohlabgemessenheit [26], sondern auch das Charakteri-
messenheit der Form gewährleistet ist. Dazu kommen stische. Der collocatio als Zusammenbindung der Teile
als besondere Charakterisierungen die ornamenti. Über- nach Lage, Richtung, Zahl, Form, Aussehen, «so daß
legungen zur Steigerung des Ausdrucks mit Hilfe der auch das Kleinste so geordnet werde, daß gegenseitig
ornamenti erfolgen im Malereitraktat nicht, da zur isto- Rechtes und Linkes, Oberstes und Unterstes, Nächstes
ria als eingrenzendem Thema der hohe Stil gehört, wo- und Gleiches dem Gleichen vollkommen ausgeglichen
durch alle Arten der Amplifikation - hier des Schmuckes übereinstimmen müssen zum Schmuck jenes Körpers,
- erlaubt sind. Der hohe Stil zeichnet sich durch Würde dessen Teil er bilden soll» [27], entspricht bei Cicero die
(grata) aus. Letzterem kommt außerdem die Funktion Wohlgeordnetheit der Rede auch im Sinne der Gesamt-
zu, den Betrachter zu erfreuen (diletto) und zu bewegen struktur (collocationes universam). [28]
(movimento). [17] Copia et varieta sind bei Alberti die
Da numerus, finitio und collocatio der concinnitas (Na-
die Langeweile verhütenden Mittel. [18] Die Fülle der
turgesetz) entsprechen, haben sie ihre Wirkung auch im
Schmuckformen findet auch hier ihre Grenze im Thema;
Bereich der Wahrnehmung. Ähnlich wie CICERO nennt
Würde und Schicklichkeit sind ihr als Maß gesetzt. [19]
Alberti die concinnitas den Genossen von Seele und
Wie das aptum in allen Bereichen der Rhetorik zur Vernunft. In gleicher Weise wie die Natur nach dem
Wirksamkeit gelangt, erscheint bei Alberti das convenire Gesetz der Harmonie das Vollkommene schafft, ver-
in den entsprechenden Bereichen der Malerei als das die langt auch der Mensch nach dem Besten, denn nur an
Form bestimmende Prinzip; mit ihm die verwandten Be- ihm findet er Wohlgefallen. [29] Das Wesen der concin-
griffe wie conveniente als der Vorstellung vom Passenden nitas stellt sich bei Alberti nicht nur als Harmonie der
und convenevolezza als dem Angemessenen, Gebührli- Erscheinung dar, sondern auch als ein Prinzip, das sich
chen, Schicklichen. [20] Alberti nutzt das universale D. auf die Anordnung differenzierter Teile nach einem
ebenso wie Cicero zur Begründung eines Sujetstils, der durchdachten Plan bezieht. [30] In dieser Doppelschich-
sich aus der Vielfalt der vorgegebenen Themen und tigkeit entspricht die concinnitas dem aptum/decorum
Zwecke notwendig ergeben muß. der antiken Theorien. [31] Im Rahmen des Architektur-
Im später verfaßten Architekturtraktat wiederholt Al- traktats bezieht Alberti zum Problem des decorum/orna-
berti die Klassifizierung der Malerei entsprechend den tus eindeutig Position. Obwohl er bei den Gebäudegat-
Bühnenbildern bei Vitruv und der rota V i r g i l i ; ihnen tungen die modale Differenzierung der Säulenordnung
analog sind als Themen die denkwürdigen Taten großer als der Grundform des Schmucks übernimmt, sieht er im
Menschen, die Gebräuche der Privatpersonen und das ornatus etwas Hinzugefügtes, den «die Schönheit unter-
Bauernleben gemäß der Abfolge der Stilstufen. Ebenso stützenden Schimmer und etwa deren Ergänzung». [32]
wie <Della Pittura> gewinnt das Architekturtraktat <De Die Schönheit dagegen ist grundsätzlicher Art, da sie
Re Aedificatore> [21] seine Bedeutung durch die Hin- auch dem schlichten Stil zu eigen sein muß, der über
wendung zur Rhetorik. Alberti folgt zwar von der Sache keinen Schmuck verfügt. Schönheit besteht in der ge-
her der Typologie VITRUVS mit der traditionellen Diffe- setzmäßigen Übereinstimmung der Teile, daß «man we-
renzierung der Gebäudegattungen im Sinne des D., bei der etwas hinzufügen noch hinwegnehmen oder verän-
seiner Begrifflichkeit folgt er aber wiederum der Rheto- dern könnte, ohne sie weniger gefällig zu machen.» [33] -
rik CICEROS. Ziel der als Baukunst definierten Architek- Die Wesensbestimmung der Form entspricht bei Alberti
tur ist das dem Harmonischen entsprechende Schöne. dem vielschichtigen System des rhetorischen aptum, wo-
nach die Form einerseits akzessoirischen Charakter hat,
Die Grundsätze der natürlichen Schönheit sind nume- andererseits aber unerläßlich notwendig ist zur gattungs-
rus und collocatio infolge des obersten Naturgesetzes, mäßigen Ausprägung der einzelnen Gebäudetypen,
der concinnitas. [22] Der numerus bezieht sich auf die demnach auch von innerer Art ist. [34] Dadurch ergibt
Teile der Körper in ihrer zählbaren Abfolge; finitio auf sich zwischen Form und Schmuck eine gesetzmäßige
deren Eingrenzung hinsichtlich der Proportionen und Einheit, die im Klassischen wie Klassizistischen mit der
collocatio auf die sinnvolle Anordnung der Teile. Wohlabgemessenheit des D. in Verbindung steht. [35]
Alle drei Begriffe stammen aus der Rhetorik. Nume-
rus und finitio gehören zum Bereich der compositiones. Die Auseinandersetzung mit dem D. der Architektur
Cicero will die Wörter nicht nur nach vernunftgemäßen bei den neuzeitlichen Vitruv-Kommentatoren zeigt
Regeln geordnet sehen, sondern auch begrenzt, um eine durchgehend das Bild der intensiven Verknüpfung von
gewisse Abrundung der Periode zu erzielen. Erreicht Schönheitslehre und Ausdruckslehre im Sinne Albertis
wird diese Abrundung durch die Gliederung der Wortfü- mit eben den Versuchen definitorischer Abgrenzung: F.
gungsarten (compositiones) im numerus und durch ge- DI GIORGIO MARTINO verwendet für den Begriff decor bei
wisse Wortarten, die der concinnitas entsprechen. [23] Vitruv durchweg ornamento, F. CALVO decoro et belezza,
Hierbei geht es um eine allgemeine Begrenzung, will decoro o gratia und decoro et convenientia, onesta. Im
man Komposition oder die vollkommene Ordnung oder Jahre 1521 bringt CESARINO die decens pulchritudo, de-

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centa pulchritudine wie Alberti mit der Proportionslehre die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks im Bilde auszurich-
in Verbindung. Bei F. LUTIO ( 1 5 2 4 ) und G. CAPORALI ten ist. [3] Von besonderer Bedeutung für die Malerei
( 1 5 3 6 ) findet sich für decor decente pulchritudine, o vero sind die dem klassischen D. entsprechenden Äußerun-
belezza oder conveniente belezza o ver'pulchritudine, gen S . SERLIOS im 2 . Buch der sieben <Libri dell architet-
womit der decor die Schönheitslehre schlechthin ist, die tura> ( 1 5 3 7 ) , wo es um die Perspektivtheorie und der
ebenso die Harmonie der quantitativen Hinsicht, das damit eng verbundenen Kunst des Theaters geht. Hier
Ebenmaß, einschließt. Für den Franzosen J . MARTIN wird die antike Einteilung der tragischen, komischen
( 1 5 4 7 ) ist decor la bella apparence und la beaulte. Bei C . und satyrischen Szenenbilder wiederholt; Illustrationen
FAVENTIUS, RIVIUS und STIEGLITZ findet sich die Verbin- veranschaulichen die im Sinne des D. verlangte Anpas-
dung von Verhältnisschönheit und Schicklichkeit, der sung der Figuren und Staffage an das gestellte Thema,
decor bei Vitruv wird zum Überbegriff der anderen fünf ein Grundzug neuzeitlicher Ideen der Landschaftsmale-
Begriffe der Architektur. Bei D. BARBARO ( 1 5 5 6 ) ver- rei. [4]
wirklicht der decor den emendatus aspectus, der sich aus LOMAZZO erweitert die traditionelle Dreiteilung der
bellezza und ornamento ergibt. Im späteren Kommentar Sujets um den lieblichen, schönen Platz in Anlehnung an
wiederholt er jedoch die von Alberti angelegte Trennung den antiken und mittelalterlichen Topos des locus amoe-
von Schönheit und Schmuck, wobei die Schönheit auf nus, während später D E PILES nur zwei modi der Land-
den Maßverhältnissen beruht, während der Schmuck schaft akzeptiert: den heroischen, der das Erhabene aus-
eher als etwas Hinzugefügtes gilt. Bei SCAMOZZI ( 1 6 5 1 ) drückt, und den pastoralen, dessen Inhalt Einfachheit
erscheinen die sechs Grundbegriffe Vitruvs untereinan- und natürliche Wahrheit ist. [5]
der in einer Art Progression; auch er sieht im decoro ein Im Zuge der Gegenreformation befaßt sich das Tri-
die übrigen Kategorien übergreifendes Prinzip. Durch dentinische Konzil mit den Künsten und entwickelt eige-
PALLADIO bekommt das Moment der qualita des Bau-
ne Vorstellungen zum D. religiöser Themen und Bauten.
herrn besonderes Gewicht, ein Punkt, der bei Vitruv Kritik findet 1573 das Bild <Abendmahl Christi und sei-
noch der distributio zugeordnet war, während C. PER- ner Jünger im Hause des Simeon> von VERONESE wegen
RAULT ( 1 6 7 3 ) die Forderung des decor und der distributio
der unziemlichen Ausstattung mit Hund und deutschem
überhaupt zusammenfaßt unter dem Begriff bienséance. Söldner. [6] Die Malerei wird in den Dienst einer sugge-
Aber auch er betont, daß die eigentliche Schönheit auf stiven Religionsverkündigung gestellt, wobei sich die
der commensuratio membrorum beruht. [36] Kirche das Urteil über das Maßgerechte und Ziemliche
vorbehält. [7] Infolge des Tridentiner Konzils entstehen
Anmerkungen: Regelbücher, die die architektonische Gestaltung der
1 J . R . S p e n c e r : U t R h e t o r i c a P i c t u r a , in: J . of t h e W a r b u r g a n d Kirchen und ihre Ausstattung sowie den Inhalt der neu-
C o u r t a u l d I n s t i t u t e s 20 ( L o n d o n 1957) 2 6 f f . ; H . M ü h l m a n n : en religiösen Ikonographie festlegen. [8] Die Wirkungs-
Ü b e r d e n h u m a n i s t . Sinn einiger K e r n g e d a n k e n d e r K u n s t t h e o - ästhetik der Gegenreformation und die Wiederaufberei-
rie seit A l b e r t i , in: Z S f ü r K u n s t g e s c h . 33 (1970) 127ff.; U . Mild- tung der aristotelischen Poetik und Rhetorik in den zeit-
n e r - F l e s c h : D a s D . (1983) 96ff. - 2 v g l . H . J a n i t s c h e k : L . B . genössischen Poetiken und Handbüchern führen in der
A l b e r t i , D e l l a P i t t u r a ( N D 1970); I. B e h n : L e o n B a t t i s t a A l b e r - zweiten Hälfte des 16. Jh. zu einer starken Betonung der
ti als K u n s t p h i l o s o p h ( S t r a ß b u r g 1911); G . H e l l m a n n : S t u d , z u r
persuasio als dem eigentlichen Ziel der Malerei. [9] Hier-
T e r m i n o l o g i e d e r k u n s t t h e o r e t . Sehr. L . B . A l b e r t i s (Diss. K ö l n
1955); M . G o s e b r u c h : <Varietà> bei L e o n B a t t i s t a A l b e r t i , in:
durch erfährt die Wirkungsästhetik des D. eine differen-
Z S f ü r K u n s t g e s c h . 2 0 , 1 (1957/8) 229ff.; R . W i t t k o w e r : G r u n d - zierte Bearbeitung, in deren Folge immer genauere Dar-
lagen d e r A r c h i t e k t u r im Z e i t a l t e r d e s H u m a n i s m u s (1969); stellungsmodelle entstehen. In der manieristischen
G . G e r m a n n : E i n f . in die G e s c h . d e r A r c h i t e k t u r t h e o r i e Kunsttheorie (LOMAZZO, ARMENINI, ZUCCARO) werden
(1980). - 3 R . W . L e e : U t Pictura Poesis, in: A r t Bulletin 22 die Affektentheorie und die Ausdruckslehre mit der
(1940) 197ff. -4 J a n i t s c h e k [2] 147. - 5 E . P a n o f s k y : I d e a (1975) Farbtheorie und der Elementenlehre im Sinne des D.
99ff. - 6 J a n i t s c h e k [ 2 ] 198. - 7 e b d . 104. - 8 e b d . - 9 e b d . 110. - neu verbunden. [10] Das Bestreben nach Gleichsetzung
1 0 e b d . - 11 e b d . 158. - 1 2 e b d . 144. - 1 3 H . L a u s b e r g : H b . d e r reicht bis zur Erneuerung der mittelalterlichen Färb- und
lit. R h e t . ( 2 1973) §1057. - 1 4 C i c . O r . 1 4 9 - 2 3 6 . - 1 5 M i l d n e r -
Zahlensystematik.
Flesch [1] lOOff. - 1 6 J a n i t s c h e k [ 2 ] 144. - 1 7 e b d . 115. - 1 8 e b d . -
1 9 e b d . 118. - 20 A . H o r n - O n c k e n : Ü b e r das Schickliche (1967) Eine besondere Gewichtung erfährt das Verhältnis
76, A n m . 147. - 2 1 L . B . A l b e r t i : D e r e a e d i f i c a t o r e ( N D 1975). der Farbenlehre und Affektenlehre zur Musiktheorie.
- 2 2 e b d . I X , 5; Ρ. v. N a r e d i - R a i n e r : A r c h i t e k t u r u n d H a r m o n i e
(1984) 22ff. - 2 3 Cie. O r . 164. - 2 4 e b d . 228. - 25 Q u i n t . X I I . -
Nach LOMAZZO bewegen die Farben ebenso wie gewisse
26 A r i s t o t e l e s , M e t a p h y s i k I I I , 3 , 1 9 7 8 b . - 27 A l b e r t i [21] I X , 7. akustische Stimuli, die quantitativ meßbar und qualitativ
- 2 8 C i e . O r . 234. - 2 9 A l b e r t i [21] I X , 5. - 3 0 e b d . - 3 1 M i l d n e r - geladen sind, die Seele des Betrachters. [11] Der Musik-
Flesch [1] 110. - 3 2 A l b e r t i [ 2 1 ] I I , 2 . - 3 3 d e r s . V I , 2. - 3 4 M i l d - theoretiker G. ZARLINO betont die Parallelität vom Licht-
ner-Flesch [1] l l l f f . - 35 J . S t r o u x : D i e A n s c h a u u n g v o m Klas- wert der Farbe und der musikalischen Tonfarbe. [12]
sischen im A l t e r t u m , in: d e r s . : D a s P r o b l e m d e s Klassischen ARMENINI vergleicht die Klarheit der abgehobenen
u n d die A n t i k e (1931) 5; R . K u h n : W a s ist das Klassische in d e r Farbigkeit mit klar strukturierter Musik. «Die höchste
M a l e r e i d e r H o c h r e n a i s s a n c e ? , in: R . B o c k h o l t ( H g . ) : Ü b e r d a s
Kunst der Farbgebung besteht darin, aus verschiedenen
Klassische (1987). - 3 6 H o r n - O n c k e n [20] 74ff.
vermischten und reinen Farben eine gewisse Ordnung zu
erzeugen, aus der eine klar gegliederte, einheitliche
IV. Im 16. Jh. erscheint in der Nachfolge Albertis der Komposition entsteht.» [13] Der Arzt und Mathemati-
decoro-Begriff gewöhnlich als gleichmäßige Stillage. [1] ker G. CARDANO beschreibt in seinem <Opus novum de
Bei LEONARDO bezeichnet er die Übereinstimmung (con- Proportionibus> den Zusammenhang von Farbe, Ton,
venientia) von Gebärde, Kleidung und Örtlichkeit und Geschmack und Duft. [14] A . KIRCHER erweitert die syn-
berücksichtigt außerdem den Grad der Würde, die dem ästhetischen Untersuchungen um eine Tabelle mit den
Dargestellten zukommt. [2] Bei VASARI besteht die con- Klangfarben der Singstimme. Zum Baß gehört die Farbe
venevolezza in Übereinstimmung (concordanza) und Schwarz, zur gebrochenen Stimme Weiß, zu sanftem,
Folgerichtigkeit (obedienza): Ziel des Malers ist die ein- ruhigen Singen Hellgelb, zu hoher Sopranstimme Schar-
heitliche Übereinstimmung (concordanza unita), auf die lachrot. [15]

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Bei der neuen synästhetischen Betrachtungsweise menhang auf die antiken Tonarten (modi) mit ihren
werden die Gesetzmäßigkeiten der Musik über die Pro- traditionellen charakteristischen Ausdrucksweisen. Da-
portionalität und Komposition hinaus auf die Gesamt- nach ist der dorische Modus stetig, ernst und streng,
struktur des Bildes übertragen. Die Stimmung beein- geeignet für ernste, strenge und von der Weisheit durch-
flußt das Optische. Gestärkt ist der synästhetische An- drungene Stoffe. Derphrygische Modus mit kleinen Mo-
satz durch die Doppelbegabung vieler Maler, die auch dulationen und weit schärferem Charakter paßt zu lusti-
Musiker waren wie z.B. CORREGGIO, PARMIGANINO oder gen Dingen, aber auch für schreckliche Kriegsszenen.
TINTORETTO. [16] Der metaphysische Schönheitsbegriff Während der lydische Modus den Klagethemen ent-
der Manieristen richtet den Blick des Künstlers von der spricht, besitzt der hypolydische eine gewisse Zartheit
Natur weg auf das disegno interno. Das Kunstwerk als und Weichheit, die die Seele des Beschauers mit Freude
disegno estemo entspricht der Selektion und einer von erfüllt und gut zu den göttlichen Themen Verklärung
der Natur abgehobenen Idealisierung. Dabei geht die und Paradies paßt. Zu Tänzen, Bacchanalien und Festen
auf Symmetrie beruhende Proportionalität des alten paßt der ionische Modus. Poussin geht in ihrer Anwen-
klassizistischen D. verloren. [17] dung jedoch einen Schritt weiter als seine Vorgänger, da
Daneben steht die naturalistische Bewegung C A R A - nach ihm auch der Gesamteindruck der Bildkomposition
VAGGIOS, wo die Ausdrucksmittel mit den verwendeten in seiner harmonischen Erscheinungsweise zusätzlich
hohen Themen nicht korrespondieren. Nach AGUCCHI Ausdruck einer dem Thema angemessenen einheitlichen
«habe er von der Idee der Schönheit abgelassen und sich Stimmungslage ist, die sich auf die Seele des Betrachters
statt dessen damit begnügt, nur der Ähnlichkeit nachzu- entsprechend den musikalischen Modi überträgt. [4]
gehen». [18] Was im Modus-Brief einer aktuellen Klärung dient, zeigt
sich in späteren Äußerungen eindeutiger dem Wesen des
Anmerkungen: rhetorischen und poetischen D. artverwandt. Poussin
1H. Körner: Auf der Suche nach der wahren Einheit (1988) 88. reduziert sein praktisches Schaffen auf den hohen Stil,
- 2Leonardo da Vinci: Trattato della pittura, hg. von H. Lud- die maniera magnifica. Diese wirkt in vier Bereichen:
wig (Wien 1872) 377. - 3Körner[l] 60. - 4J. Bialostocki: Das dem Stoff (materia), der Idee oder dem Gedanken (con-
Modus-Problem in den bildenden Künsten, in: ders.: Stil und cetto), der Komposition (struttura) und dem Stil (stile).
Ikonographie (1981) 20. - 5ebd. 21. - 6 G . Pochat: Gesch. der
Ästhetik und Kunsttheorie von der Antike bis zum 19. Jh. Der Stoff muß fähig sein, die der maniera magnifica
(1986) 293f. - 7Tridentinisches Konzil, Protokoll der 25. Sit- entsprechenden vollendetsten Formen anzunehmen.
zung (1563). - 8 vgl. Pochat [6] 293. - 9Μ. Β. Hall: Renovation Der concetto ist die Interpretation des Stoffes auf einen
and Counter-Reformation (Oxford 1979) 14ff. - 10 Pochat [6] wesentlichen Gehalt hin. Die Komposition muß einheit-
294ff.; M. Barasch: Licht und Farbe in der ital. Kunsttheorie licher Art sein, der Stil entspricht der besonderen Art
des Cinquecento, in: Renascimento 11 (1960) 207ff. - UPo- und Kunstfertigkeit des Malers. Im Werkvorgang selbst
chat [6] 300. - 1 2 G . Zarlino: Istituzione armoniche (1558); vgl. zeigt sich der concetto als das formgebende Element für
M. Barasch: Light and Color in the Italian Theory of Art (New
York 1978) 106f. - 13 Armenini, De 'veri precetti della pittura die Disposition entsprechend der inventio der Rhetorik.
(Ravenna 1587) 82. - 14G. Cardano, Opus novum de propor- Das spezielle aptum des Stoffes liegt in der darzustellen-
tionibus (Basel 1570); vgl. W. Kotte: Muziek op ooghoogte den ethisch hochwertigen Handlung, der Poussin den
(Amsterdam 1980) 12. - 15Α. Kircher: Musurgia universalis Vordergrund des Bildes einräumt. Gemäß der Forde-
(1650; ND 1970). - 16Kotte[14] 11. - 17E. Panofsky: Idea rung des poetischen D. nach Einheitlichkeit von Hand-
(1975) 47ff. - 18Pochat[6] 312. lung, Ort und Zeit entfaltet Poussin in einer zweiten
Bildebene das Erzählerische, und zwar gerafft im Mo-
V. In der Kunst des Barock zeigt sich in besonderer ment des Umschwungs der Situation, so daß das Vorher-
Weise das Wesen des rhetorischen D. Zu unterscheiden gehende mit dem Nachfolgenden organisch verbunden
sind hier die beiden Richtungen des hohen Stils, nämlich ist. [5] Die Zuspitzung der Handlung und der plötzliche
das Pathetische als Merkmal der Kunst im öffentlichen Umschwung entspricht der Peripetie bei Aristoteles. [6]
Raum und das Erhabene als Merkmal der Kunst im Der Disposition folgen die Ausschmückung (ornement),
privaten Bereich. Im Pathetischen vereinigt sich der rei- die Angemessenheit (decoré), die Schönheit (beauté),
che Schmuck als Würdezeichen und die Gemütserregung die Grazie (grâce), die Lebendigkeit (vivacité), das Übli-
als Mittel der persuasio. Die erhabene Seite des hohen che (costume), die Wahrscheinlichkeit (vraisemblance)
Stils entspricht dem von CICERO favorisierten ethisch und überall das Urteil (jugment). [7] Das hier genannte
geläuterten rhetorischen D. klassizistischer Prägung. D. schließt die kompositionellen Elemente des Bildauf-
Ziel hier ist das delectare et prodesse im Sinne von Horaz baus ab. Es weist der Disposition und seiner Ausschmük-
mit dem Zweck, Bewunderung hervorzurufen. Denn die kung eine der maniera magnifica entsprechende Aus-
Bewunderung ist der einzige Affekt, der den Verstand drucksweise zu. Dem folgen die nach Alberti selbstver-
nicht verdunkelt. [1] Die Freude richtet sich auf das Wie- ständlichen Teile der Ausführung: eine der Symmetrie
dererkennen der im Sinne des D. angemessen ausge- entsprechende Proportionsschönheit, die aus der Eu-
wählten Teile und deren stimmige und innerlich notwen- rythmie stammende Anmut, die durch Mimik und Ge-
dige Zusammenordnung. stik erzeugte Lebendigkeit, die charakteristische Aus-
stattung der Personen und Gegenstände unter Berück-
1647 greift N. P O U S S I N in seinem berühmten Modus- sichtigung der historischen Wahrheit, und die in sich
Brief das Wesensmäßige des D. auf. [2] Der Modus ist stimmige Handlungsweise der einzelnen Personen. Das
die «Vernunft oder das Maß und die Form, deren wir uns Urteil schließlich als das in allen Bereichen waltende
bei der Schöpfung bedienen, die uns vor Uberschreitun- Maßgebende weist zurück auf die Definition des Modus;
gen bewahrt, indem sie uns zwingt, gewissermaßen alles es meint nichts anderes als das Maßgebende des univer-
auf ein mittleres Maß und zur Mäßigung abzustimmen, salen D.[8], und zwar unter Berücksichtigung einer
und dabei ist solches Mittelmaß, solche Mäßigung nichts ganzheitlichen Ordnungseinheit im Kunstwerk. [9]
anderes als eine besondere Art oder eine bestimmte feste
Ordnung, bei deren Anwendung der Gegenstand sein Die Maßgabe des barocken D. geht von der Verbind-
Wesen bewahrt». [3] Poussin verweist in diesem Zusam- lichkeit der Formelemente im Rahmen der traditionellen

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Stilstufen aus. In der Architektur reduziert sich der Dis- sance-Malerei und bekrönt von der historischen Stufe.
kurs auf die angemessene Z u o r d n u n g der Säulenordnun- D e r e n höhere Vollkommenheit besteht in der Helldun-
gen. [10] Dabei schließt der Schmuck im Charakteristi- kelmalerei (clair-obscure) der Perspektive und der schö-
schen das Element der W ü r d e f o r m mit ein. D a das ba- nen O r d n u n g einer überlegten Komposition. Dank die-
rocke D . in seinem Wesen dem ethisch geprägten D. ser Qualität sprechen die modernen Maler mehr als nur
CICEROS folgt, wo die Wahrung der Würdezeichen zu Sinne und Herz an; sie erfreuen die Vernunft (raison)
einem Wesenszug des Schön-Guten erhoben wird, gera- des Betrachters, wodurch der G e n u ß mehr geistiger Art
ten sie in den Bereich der Naturgesetzlichkeit und damit ist und damit der Würde des Menschen gemäßer. [16] -
in den der Notwendigkeit. Ü b e r die Konferenzen an den Empirische Argumente heben gegen E n d e des 17. Jh.
neugegründeten Akademien in Frankreich [11] werden die klassizistischen Grundsätze der Kunsttheorie auf:
dem D . gemäße vorbildliche Muster zur Nachahmung Universale Vernunft und Wahrheit werden durch com-
für die Künstler ermittelt, jedoch mit ebengenannter mon sense oder bon sens (guter Menschenverstand) und
Akzentverschiebung in Richtung Würdeform, die der Wahrscheinlichkeit ersetzt. In dem M o m e n t verschiebt
italienischen Lehre vom decoro weniger stark zueigen sich das im Metaphysischen begründete Bezugssystem
ist. Die hierfür stehenden französischen Begriffe biensé- des D . auf das der Konvention verpflichtete Wirkungs-
ance und convenance mit ihrer Rang- und Würdeord- mäßige und deren Diktatur. [17] 1706 ergänzt der A B B É
nung bestimmen sowohl die Etikette des absolutistischen DE CORDEMOY in diesem Sinne die Autoritäten der Bau-
Königshofes wie die höfische Architektur und Bildkunst. kunst um den bon sens und den bon goût. [18] D e r gute
Geschmack ist angeboren; er ist das besondere Gefühl
In der Nachfolge von Poussin hat FÉLIBIEN den Modus
für das, was einen befähigt, in der Natur das Vernünftig-
als musikalische Charakterbezeichnung in der bildenden
ste, Wahrste und Vollkommenste auszuwählen, um
Kunst popularisiert und eine bis in die Moderne reichen-
dann in den Werken unbefangen die Idee davon auszu-
de Tradition der einfühlsamen Betrachtungsweise be-
drücken. [19] Der bon sens entspricht dem decor bei
gründet. D a n e b e n steht die detaillierte Ausarbeitung
VITRUV oder der bienséance und ist eine allgemein zu-
der Ideen des D . in den Regelbüchern des 17. und 18. Jh.
gängliche Instanz. [20]
wie bei H . T E S T E L I N , der Malregeln über Proportionen
zusammenstellt. [12] Danach m u ß sich das Einfache bei
alltäglichen und ländlichen Sujets in Menschen mit gro- Anmerkungen:
ber Geistesart und plumpen Körpermaßen ausdrücken. 1U. Mildner-Flesch: Das D. (1983) 141ff. - 2N. Poussin: Lett-
Die A n m u t und Schönheit bei gehobenen Themen dage- res de Poussin, ed. Colombier (Paris 1929), übers, in: E. Guhl:
gen in hochgewachsenen Göttergestalten und Helden Kunst und Künstler des 17. Jh. (1856); K. Badt: Die Kunst des
mit wohlproportionierten und durchgestalteten Glie- N. Poussin (1969); W. Messerer: Die Modi im Werk von Pous-
sin (1972). - 3 Mildner-Flesch [1], - 4 H . Kömer: Auf der Suche
dern. Hierfür sind im Sinne der traditionellen Selektion nach der wahren Einheit (1988) 57ff. - 5 Mildner-Flesch [1]
aus der Natur die verschiedenen Einzelformen zu neh- 121ff. - 6Arist. Poet. 10 u. 11; vgl. G.Pochat: Gesch. der
men, während bei den die Natur übersteigenden Vor- Ästhetik und Kunsttheorie von der Antike bis zum 19. Jh.
würfen wie Fabelgöttern und Riesen die literarischen (1986) 312. - 7Guhl [2] 296. - 8Mildner-Flesch [1] 133ff. -
Vorbilder zu befragen sind. Neu bei Testelin ist ein D . 9Körner[4] 57ff. - 10G. Germann: Einf. in die Gesch. der
der künstlerischen Mittel selbst. Die angemessene Li- Architekturtheorie (1980). - 11 Conférences de l'Académie
nienführung sieht grobe und unbestimmte Verläufe bei royale de peinture et sculpture (Paris 1883); vgl. A. Dresdner:
bäuerlichen Personen vor, dagegen edle, gebogene und Die Entstehung der Kunstkritik im Zusammenhang mit der
bestimmte bei würdigen und ernsten Personen. G r o ß e , Gesch. des europ. Kunstlebens (21968) 87ff. -12vgl. J.Bialo-
stocki: Das Modusproblem in den bildenden Künsten, in: ders.:
starke und entschlossene Linien bei Helden und mächti- Stil und Ikonographie (1981) 27. - 13ebd. 27f. - 14D. Bardon:
ge, herbe und majestätische bei Göttern und Heiligen. Traité de peinture suivi d'un essai sur la sculpture (Paris 1765) 2.
Bei der Farbigkeit ist eine d e m T h e m a angemessene - 15 vgl. Germann [10] 181ff. - 16 Ch. Perrault : Parallèle des
Grundtonalität zu wahren. Farbauftrag und Pinselduk- Anciens et des Modernes, hg. von H.R. Jauss (1964); W. D.
tus entsprechen dem Liniendecorum der Zeichnung. [13] Brönner: Blondel - Perrault. Architekturtheorie des 17. Jh. in
Auch wenn D . B A R D O N 1765 das System auf sechs Frankreich (Diss. Bonn 1972) 81; H. Blumenberg: Säkularisie-
«verschiedene Charaktere der Konturen und Formen rung und Selbstbehauptung (1974) 42f. - 17Pochat[6] 338. -
der unterschiedlichen Gegenstände» erweitert, bemerkt 18 J.L. Cordemoy: Nouveau Traité de tout l'architecture (1714,
er doch, daß die Charaktere, wie die Natur sie bietet, ND Farnborough 1966); vgl. Germann[10] 189ff.; P.E. Knabe:
Schlüsselbegriffe des kunsttheoret. Denkens in Frankreich von
unendlich verschieden sind. [14] der Spätklassik bis zum Ende der Aufklärung (1972). -19Cor-
demoy [18] 243. -20ders. 85.
Neben der ausgefeilten Montage steht im späteren
17. Jh. aber auch der Beginn der D e m o n t a g e des D . In
seiner berühmten Streitschrift gegen F. Blondel und den VI. 18. und 19. Jh. Im 18. Jh. erfährt das D . eine be-
Akademismus verleugnet C H A R L E S PERRAULT wie sein deutsame inhaltliche Wandlung. Das Beziehungsge-
Bruder C L A U D E die Verankerung bestimmter Proportio- flecht von wahr, gut und schön, bei dem das Wahre
nen in der Natur und in der unveränderlichen Struktur Grundlage des Schönen und Guten ist, bedurfte einer
der menschlichen Seele. D i e Wirkung der Proportions- Revision. Mit dem Beginn der Neuzeit löste sich das
verhältnisse sind ihrer Meinung nach nur zufällig mit der geschlossene statische Weltbild der Antike zugunsten
beauté naturelle et positive, die auf Gesetzen beruht und eines offenen, dynamischen auf. D e r Blickwinkel ver-
eine ontologische Bestimmung ist, verknüpft worden; im schiebt sich damit vom Sein auf das Werden. Die aus
Verlauf der Zeit sind sie durch gewohnheitsmäßige Ver- dem alten D . gewonnenen ausgefeilten und eingrenzen-
wendung zu beautez arbitraires herangewachsen. [15] Es den Regelzwänge der Kunst werden als Spiegelbild einer
geht ihnen bei der Betonung der relativen Seite des D . hierarchisch fixierten feudalen Gesellschaftsordnung er-
um den angeblich falschen Vollkommenheitsanspruch kannt [1], deren Rechtfertigung in der Wahrheit des al-
der antiken Kunst. Für sie steht die Antike im Sinne ten Weltbildes liegt. Die zeitgenössische Kunst selbst ist
einer fortschreitenden Entwicklung der Kunst und Wis- demzufolge abzulehnen, da sie einerseits in Formen-
senschaft an unterster Stelle, überflügelt von der Renais- schwulst und Manieriertheit erstarrt erscheint, anderer-

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Decorum Decorum

seits einem krassen Naturalismus Platz einräumt. [2] wähnt zuerst D I D E R O T [13], und DELACROIX verkündet
Nach WINCKELMANN kann nur die Kunst der Antike, später, daß alles, ja man selbst T h e m a sei. [14] D a s Werk
insbesondere die der Griechen, als vorbildlich angese- von Delacroix selbst wird mehrfach auf die Anwesenheit
hen werden, da in ihr die Idee des Schönen mit der Natur der Tonarten hin untersucht. «Hinsichtlich der Farbig-
eine ideale Verbindung eingegangen ist. Die Wertschät- keit (teinte générale) sieht Delacroix violett», meint Du-
zung der klassischen Antike übernimmt Winckelmann mas. [15] B A U D E L A I R E überschreitet schließlich die Be-
von G. P . BELLORI, der in Anlehnung an POUSSIN (1672) reiche der werkspezifischen Tonarten u n d der individu-
die Idee einer dem D . verpflichteten klassizistischen ellen Stimmungslage zugunsten einer das Werk in seiner
Schönheitslehre seinen Künstlerviten vorangestellt hat- Gesamtheit umfassenden Tonqualität, die im Schöpferi-
te. [3] Die Kritik an der Kunst der eigenen Zeit hatte bei schen der einzelnen Künstlerpersönlichkeit zu finden ist.
Cicero zur Ausarbeitung der Decorumtheorie geführt, in D e r künstlerische Schöpfungsprozeß wird zur Transfor-
die er die stilistischen Unterschiede der älteren Kunst mation der Realität im Prisma der einheitsstiftenden
und Künstler als Stilmittel einsetzte. Winckelmann dage- Subjektivität. [16] D e r Modus fällt hier mit dem indivi-
gen erkennt bei der Betrachtung der antiken Kunst das duellen Stil zusammen. [17] Eine ähnliche Akzentver-
Gesetzmäßige der historischen Entwicklung, sieht schiebung ist in der Architekturtheorie erkennbar. 1795
Wachstum, Reife und Verfall. Dabei unterscheidet er arbeitet G O E T H E in seinen fragmentarischen Überlegun-
vier Stufen mit eigenen stilistischen Merkmalen. Ver- gen zur Baukunst mit dem Begriff des Schicklichen. [18]
ächtlich ist die vierte Stufe mit dem Stil der Nachahmer, Eine Begriffsbestimmung des Schicklichen zeigt die Do-
die im Hellenismus beginnt und die römische Kunst mit- minanz des Üblichen und damit die des G e f ü h l t e n . [19]
einschließt. [4] Winckelmanns besondere Vorliebe gilt Bei G o e t h e beinhaltet das Schickliche entsprechend dem
der zweiten Stufe, der klassischen Epoche, die ihm un- traditionellen D . zwar auch die M a ß g a b e aller Beziehun-
trennbar mit religiöser und politischer Freiheit verbun- gen im einzelnen Kunstwerk selbst; das objektiv E r k e n n -
den ist. [5] Die klassischen Götterbilder scheinen ihm bare steht jedoch hinter der Wahrnehmungssensibilität
Hüllen und Einkleidungen bloß denkender Geister und zurück, die im Wesen des Schöpferischen begründet eine
himmlischer Kräfte zu sein [6] und sie bemühten sich, G a b e des Genies ist. [20]
«mit den Gesichtszügen und der Handlung derselben
eine Stille zu vereinigen, welche auch nicht das Geringste Schicklichkeit und E b e n m a ß sind bei G o e t h e ge-
von Bewegung und Leidenschaft verriethe, weil solches trennt, so wie die Frage der Zahlenverhältnisse und des
der Natur und dem Zustande der Gottheiten, zufolge der Charakters; sie verwirklichen erst im Schicklichen der
Philosophie, fremd war». [7] Für G O E T H E , der sich der Nachahmung den höchsten Zweck der künstlerischen
Auffassung Winckelmanns annehmen wird, ist dann die Gestaltung. [21] Im Diskurs um die Säulenordnung folgt
Aufgabe des Künstlers, «den höchsten darzustellenden G o e t h e jener Tradition, die in ihnen ein Mittel der plasti-
Moment zu finden», um den Gegenstand «aus seiner schen Bereicherung sehen, damit ein Hinzugefügtes, das
beschränkten Wirklichkeit herauszuheben und ihm in in den Bereich des ornatus gehört.
einer idealen Welt Maß, Grenze, Realität und Würde zu D a n e b e n unterscheidet G o e t h e einen motivierten
geben.» [8] Damit wird die positive Argumentation f ü r Schmuck, der sich vom Zierrath als bloßem Zierrath
das Klassische gemäß den Vorgaben Ciceros wiederholt. abhebt. [22] In der Nachfolge von G o e t h e werden die
Maß und Mäßigung bedingen die Ansichtigkeit des der E l e m e n t e antiker klassischer Struktur endgültig zu Ele-
Realität enthobenen Idealschönen. D e m untrennbar menten nachklassischen Dekors. [23] Die Vitruv-Kom-
verbunden ist auch bei Winckelmann das stoisch gepräg- mentare des 19. Jh. setzen f ü r decor die Polarität von
te ethische D . Die heroische Haltung des Laokoon steht bellezza-decoro statt der antiken Gleichung von kosmos-
bei Winckelmann für ein hochentwickeltes Menschen- prepon. Das Schöne als objektive Gegebenheit, die in
bild, dessen nur das Griechentum fähig war. [9] G e r a d e quantitativen Bestimmungen ihren Ausdruck findet,
dieses Menschenbild favorisiert Winckelmann mit verliert seine Überzeugung. [24] Individualität und hi-
durchschlagendem Erfolg f ü r seine Zeit. Erreichbar storisches Bewußtsein bewirken im 19. Jh. die A u f n a h -
scheint es ihm allein über das Erkennen und Begreifen m e der historisch gewachsenen Stile als Modi der Kunst.
der antiken Vorbilder. In einem wesentlichen Punkt un- SCHINKEL verwendet je nach A n l a ß den nachklassischen
terscheidet sich der Klassizismus des 18. Jahrhunderts oder neugotischen F o r m e n a p p a r a t ; die N A Z A R E N E R
von dem der römischen Antike: Für das antike D e n k e n drücken sich gemäß dem Klassischen, Präraffaelitischen
ist die Konstitution des Einzelmenschen an objektive oder Altdeutschen aus. [25]
Eigenschaften gebunden, die sich aus seiner H e r k u n f t
und Stellung in einem in sich geschlossenen Kosmos Anmerkungen:
ergeben. [10] Aus dem gleichen Geist heraus, aus d e m 1J. Schmidt: Die Gesch. des Genie-Gedankens in der dt. Lit.,
Winckelmann die historische Dimension der antiken Philos, und Politik 1750-1945, Bd. I (1985) 25ff. - 2ebd. 20. -
Kunst entdeckt, indem er sie als ein Gesamtorganismus 3 vgl. Die Idee des Künstlers, übertr. und eri. von K. Gersten-
betrachtet, entwickelt sich im 18. Jh. das historische Be- berg (1939); vgl. A. Baeumler: Ästhetik (1972) 82. - 4vgl. J. J.
wußtsein überhaupt. D e m Auftreten der persona in der Winckelmanns Gesch. der Kunst des Altertums, hg. von J. Les-
Antike [11] steht das sich entwickelnde Individuum in sing nach der Ausg. von 1764, 152ff. - 5 vgl. ebd. 98ff. - 6 vgl.
K. Borinski: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie, Bd. II
der Neuzeit gegenüber, das sein M a ß im Bereich seiner (ND 1965) 206f. - 7J. J. Winckelmann, Sämtl. Werke, hg. von
Subjektivität finden muß. [12] J. Eiselen, Bd. VII (1825) 120; vgl. ebd. 130. - 8 Ü b e r Laokoon,
in: Propyläen I (1798) 1-15. - 9vgl. Baeumler[3] 92. -
Mit der Hinwendung zur Subjektivität fällt im Laufe lOH.Drexler: Die Entwicklung des Individuums (Salzburg
des späten 18. Jh. die thematische und gattungsmäßige 1966) 233ff. - I i vgl. Cicero, De officiis, 1,97; vgl. L. Labowsky:
der Begriff des πρέπον in der Ethik des Panaitios (1932) 16ff. -
Begrenzung der Kunst zugunsten des Individuellen. Das 12Schmidt [1] 129ff. - 13D. Diderot: Versuch über die Malerei,
D . mit seinen unterschiedlichen Aspekten geht sowohl in in: Ästhet. Sehr. I, hg. von R Bassenge (1968) 642f. - 14vgl.
die subjektive Themenwahl wie in den neuen subjektiven H. Körner: Auf der Suche nach der wahren Einheit (1988) 256.
Blickwinkel des Künstlers ein. Die persönliche Stim- - 15 A. Dumas: Causeries sur Eugène Delacroix et ses oeuvres
mungslage als maßgebliche Tonalität des Werkes er- (Paris 1865) 82. - 16 Körner [13] 308. - 17 J. Bialostocki: Das

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Decorum Dedikatiom

Modusproblem in den bildenden Künsten, in: ders.: Stil und —» Ästhetik —* Architektur - * Ars —» Bild, Bildlichkeit —»
Ikonographie (1981) 14f. - 18 A. Horn-Oncken: Über das Ikonographie, Ikonologie —» Kunst —> Kunstgeschichte —»
Schickliche (1967) 109, Anm. 239. - 19ebd. 11. - 20ebd. 159. - Kunstphilosophie Schönheit, das Schöne
21 ebd. 110. - 22ebd. 112f. - 23ebd. - 24ebd. 113. - 25Bialo-
stocki [17] 30.

VII. Im 20. Jh. folgt der subjektiven A u t o n o m i e des Dedikation (griech. προσφώνησις, prosphonësis; lat. dedi-
Menschen und damit des Schöpferischen die A u t o n o m i e catio; dt. Widmung, Zueignung; engl, dedication; frz.
der Kunst selbst. Thema der Kunst wird die Kunst, und dédicace; ital. dedicazione)
zwar die künstlerischen Mittel, ihre Strukturen in R a u m A . Die D . bezeichnet den A k t , mittels dessen ein Ge-
und Zeit und ihre Wahrnehmungs- und Erfahrungsberei- genstand jemandem zugeeignet wird. Dabei denkt man
che. Farbe, Licht, Linie und Rhythmus gewinnen Eigen- heute insbesondere an die Zueignung von Büchern.
ständigkeit. [1] Auch wenn das D . seine normgebende Nach wie vor kann der Begriff aber auch, wie ursprüng-
Kraft eingebüßt hat, wirkt es im methodischen Ansatz lich, die Weihe einer Kirche bezeichnen. Im profanen
unterschwellig fort. Die Untersuchung ihrer eigenen Bereich sind nicht nur Bücher Gegenstand einer D . , son-
Mittel und deren Bedeutung verwandelt die Kunst in dern auch G e m ä l d e , musikalische Kompositionen,
eine visuelle Philosophie und Wissenschaft. Ihr Gegen- Kunstobjekte ganz allgemein, können von ihren Schöp-
stand ist das Wesen der Dinge, nicht mehr die ihnen fern einer Person zugeeignet werden. Die Weihe einer
innewohnende Idee des Schönen. MONDRIAN themati- Kirche, die Zueignung eines G e b ä u d e s sind oft durch
siert die konstruktive Komposition der Fläche, die Kubi- Inschriften belegt, die auf den Frontispizen der G e b ä u d e
sten den R a u m , die Futuristen die Zeit. D e n Surrealisten eingraviert sind oder durch U r k u n d e n bezeugt werden,
geht es um die Energie des U n b e w u ß t e n , JACKSON POL- die bei der Weihe einer Kirche manchmal mit Heiligen-
LOCK um die körperliche Energie. DUCHAMP erklärt das reliquien unter d e m Altar deponiert werden.
Kunstwerk zum Objekt, dessen Wesen im Transistori- Β. I. Gattungsformen. Das Wort dedicatio kommt aus
schen der geistigen Bezüge des Betrachters liegt. Wäh- dem Lateinischen, wo es in der Verbindung «dedicatio
rend der Ausgangspunkt bei dem Impressionisten noch aedis; dedicatio theatri» (Tempelweihe, Theatereinwei-
die traditionellen künstlerischen Mittel sind, bezieht PI- hung) als Terminus gebräuchlich war. Ursprünglich im
CASSO die Realität als Darstellungsmittel mit ein. Bei der liturgisch-religiösen Bereich verwendet, bezeichnet das
Erweiterung der künstlerischen Mittel auf alle Bereiche Wort die Widmung eines G e b ä u d e s oder eines Gegen-
der Realität und deren Umsetzung im R a h m e n der standes an eine Gottheit oder eine gottähnliche Person.
Kunst ist das Bezugssystem zum T h e m a wie beim D . In der Bedeutung der liturgischen Weihung> eines f ü r
immer gegeben. Bei J. BEUYS findet sich eine Symbiose gottesdienstlichen Gebrauch bestimmten Gebäudes ist
des ethischen und künstlerischen D . in einer folgerichti- das Wort auch heute noch gebräuchlich (ζ. B. im Franzö-
gen Konsequenz. Beuys thematisiert die Energieabläufe sischen «dédicace d'une église»), wenngleich bisweilen
von Chaos über gerichtete Energie (Formwille) zur in korrumpierter Form (ζ. B. im Wallonischen, wo es als
Form. Dabei bezieht er das menschliche Bewußtsein als «dicace, dicance, ducasse» das Kirch weihfest bezeich-
künstlerisches Material in den schöpferischen Prozeß mit net). Im Französischen wie auch in der italienischen
ein. Von daher ist das D e n k e n wie das Handeln unter Sprache steht das Wort sowohl f ü r die liturgische Wei-
künstlerischen Gesichtspunkten zu betrachten. D e m hung einer Kirche («Quinze ans s'étaient écoulés depuis
entsprechen sowohl der erweiterte Kunstbegriff wie die la dédicace du temple»: Fünfzehn Jahre waren seit der
soziale Plastik. Ebenso konsequent im Sinne des D . ist Tempelweihe verflossen) [1] als auch für die Feier des
seine Materialverwendung. Ihr Wert liegt nicht mehr im Jahrestages der Kirchweihe («La dédicace de Saint-Pier-
Ausdruck, sondern in den ihnen natürlich anhaftenden re de Rome»: das Fest zur Erinnerung an den Tag der D .
physikalischen Eigenarten. [2] Statt Nachahmung ist das der Kirche St. Peter in R o m ) . D a r ü b e r hinaus wird das
Werk konkrete Darstellung. Seinen Wahrheitsgehalt be- Wort analog auch zur Bezeichnung der Patronatsfeste
zieht es aus bestimmten Erkenntnissen der modernen benutzt.
Physik, die dem Geistigen den Vorrang vor dem Materi-
ellen einräumen. [3] D a n e b e n steht die Beliebigkeit mo- In der Antike bezeichnete man mit dem Begriff dedi-
daler Differenzierung im Denkansatz der Postmoderne, catio auch die Zueignung nicht religiöser G e b ä u d e zur
die keine verbindende Mitte mehr kennt noch eine feste Ehrung hochgestellter Persönlichkeiten. Eine Wid-
Verankerung. [4] mungsinschrift auf d e m Frontispiz der Gebäude erinner-
te oft an den vollzogenen Widmungsakt.
Als metaphorische Bezeichnung f ü r Zueignungen von
Anmerkungen : Schriften ist das Wort seit dem Zeitalter des Augustus
1 W.Hofmann: Grundlagen der modernen Kunst (1978). - belegt. Diesen Widmungen fehlt der religiös-kultische
2T. Vischer: Beuys und die Romantik (1983). - 3U. Mildner: Charakter der ursprünglichen D . Wir haben es hier mit
Schönheit als Provokation (1986) 34ff. - 4W. Welsch (Hg.): verweltlichten Widmungshandlungen zu tun, die die
Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Dis- Verbundenheit, den Respekt oder auch die freund-
kussion (1988). schaftliche Zuneigung der A u t o r e n gegenüber Verwand-
Literaturhinweise : ten, Freunden, weltlichen Herrschern oder hochgestell-
E.Forssmann: Dorisch, Ionisch, Korinthisch. Stud, über den ten Personen ganz allgemein b e k u n d e n .
Gebrauch der Säulenordnungen in der Architektur des Zueignungen von Schriften finden sich bereits bei den
16.-18. Jh. (Uppsala 1961).-M. Boos: Frz. Kunstlit. zur Male- Griechen, von denen die R ö m e r diese Sitte wohl über-
rei und Bildhauerei 1648 und 1669 (Diss. München 1966). - nommen haben. Die Griechen kannten für diesen A k t
H. Mühlmann: Ästhet. Theorie der Renaissance. Leon Battista der Widmung keine spezielle Benennung, sie verwende-
Alberti (1981). - C. Fensterbusch: Vitruv. Zehn Bücher über
Architektur (1987). - D. Bachmann-Medick: Die ästhetische ten den allgemeinen Begriff prosphonësis, der alles, was
Ordnung des Handelns. Moralphilos. und Ästhetik in der Popu- der eigentlichen Schrift vorausgeschickt war, bezeichne-
larphilos. des 18. Jh. (1989). te. Die Ausweitung des Phänomens der Zueignung von
U. Mildner Schriften erklärt wohl, daß die R ö m e r den im sakralen

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Dedikation Dedikation

Bereich vorhandenen Begriff dedicatio auch zur Be- Beachtung, und zwar nicht nur aufgrund seines Platzes
zeichnung der Buchwidmung verwenden. Die Formeln, als selbständige Vorrede oder als Formel innerhalb des
mit denen die Buchautoren ihre Widmungsintention be- exordiums. Auch im Hinblick auf seine möglichen Inhal-
kunden, sind immer den zugeeigneten Schriften voran- te ist der Widmungstext eng an das System der Rhetorik
gestellt. Dabei können sie außerhalb des Textes (als gebunden. Er kann Ausdruck eines Dankes, Gegenstand
Paratext) angeordnet oder unmittelbar in den Anfang einer Bitte sein und ist meistens als Lobrede auf den
des zugeeigneten Textes (exordium) eingearbeitet sein. Empfänger konzipiert; er kann Anlaß zu einer poetolo-
Die kürzeste Widmungsformel nennt nur den Namen gischen Auslassung oder zu einer Verteidigung des Au-
eines Buchpatens. Der Name kann um Ämter, Funktio- tors und seines Werkes sein.
nen, besondere Verdienste oder persönliche Indikatoren Von der äußeren Form als Brief (Anrede, exordium,
erweitert werden wie z.B. in der Widmung: «A Très- narrai io, conclusio, Schlußformel) sowie von seiner stili-
Haut/Très puissant/Et Victorieux Prince/Monseigneur/ stischen Gestaltung und Ausschmückung (Rückgriff auf
Guillaume/Prince d'Orange/Comte de N a s s a u . . . /Géné- Suchformeln und rhetorische Topoi: captatio benevolen-
ral des Armées/Terrestres et Navales/Gouverneur des tiae, Bescheidenheitsbeteuerung, Topoi des Personenlo-
Provinces, e t c . . . » [2] bes, Wahl der Stillage mit Rücksicht auf das Genre des
B A U D E L A I R E stellt 1 8 5 7 seinen <Fleurs du Mal> folgen- zugeeigneten Werkes sowie im Hinblick auf den gesell-
den Widmungstext voran: schaftlichen Status des gewählten Buchpaten) ist der
AU POÈTE IMPECCABLE Widmungstext ebenfalls starken rhetorischen Regeln
A U PARFAIT MAGICIEN ES L E T T R E S unterworfen.
FRANÇAISES Gleiche Widmungsanlässe und identische Hoffnungen
A MON T R È S - C H E R E T T R È S - V É N É R É auf den Erfolg der Widmungsgesten [6] erklären, daß bei
M A Î T R E E T AMI der Ausformung der Widmungstexte immer wieder auf
THÉOPHILE GAUTIER die gleichen rhetorischen Versatzstücke zurückgegriffen
A V E C LES SENTIMENTS wird und bei der Ausgestaltung des Lobes, das dem
D E LA PLUS P R O F O N D E H U M I L I T É Widmungsadressaten gespendet wird, immer wieder alle
JE DÉDIE Register des rhetorischen Instrumentariums gezogen
CES F L E U R S M A L A D I V E S werden.
C.B. [3] III. Geschichte der Buchwidmung. Die Geschichte der
Der Text Baudelaires enthält den ausdrücklichen Hin- Buchzueignung beginnt in der Antike und reicht bis in
weis (lat.: dedico) auf die Widmungsabsicht: «Je dédie unsere Gegenwart hinein. 1680 stellte die französische
ces fleurs maladives» sowie die Signatur des Dichters: Schriftstellerin MLLF D E S C U D É R Y in einem Widmungs-
C . B . Trotz der Kürze der Mitteilung zählt Baudelaire brief zu Conversations sur divers sujets> für ihre Zeit
jene Eigenschaften Gautiers auf, die er an seinem Zeit- den gleichen Sachverhalt fest: «Dédier des livres [ . . . ] est
genossen bewundert und die ihn im Grunde dazu veran- un usage très ancien ; et depuis Hésiode jusques à nous on
laßt haben, Gau tier seinen Gedichtband zu widmen: a dédié des livres» (Bücher zu widmen, ist ein sehr alter
«Poète impeccable, Magicien ès lettres, Maître et Ami». Brauch; und von Hesiod bis heute hat man Bücher zuge-
Hier ist in einer prägnanten Formel auf das Wesentliche eignet). [7] Bereits in der Antike ist die D. von Schriften
reduziert, was in Widmungsbriefen oft lange und breit keine kultische Handlung mehr, wenngleich der Gedan-
ausgeführt wird. Die Länge dieser Briefe kann sehr un- ke an die ursprünglich sakrale Weihezeremonie auch bei
terschiedlich sein. Neben kurzen Texten, die sich mit den Buchautoren sicher noch lebendig war und noch bis
wenigen Zeilen begnügen, existieren Zueignungsbriefe, in die Neuzeit lebendig geblieben ist. J . B . CROISILLES
die viele Seiten umfassen. weist z . B . 1625 in <Les Epîtres> auf die Analogie von
Anstelle von Prosabriefen schicken die Autoren ihren Buchwidmung und Tempelweihe hin: «Dédier, se dit des
Schriften oft auch Zueignungen in Versform (Sonette, ouvrages qu'on présente aux hommes, comme des
Rondeaux, Oden, gereimte Reden usw.) oder einen Pro- Temples qu'on offre et consacre à Dieu.» [8]
satext und ein Gedicht voraus. Der französische Schrift- Nicht einer Gottheit weihen die Autoren die Bücher,
steller TRISTAN L'HERMITE verfaßt für den Gönner, dem sondern sie eignen sie lebenden Personen zu: Freunden
er seine Gedichte zueignet, einen Prosabrief sowie ein und Verwandten, Gönnern, hochgestellten Zeitgenos-
Zueignungsgedicht. [4] sen und Herrschern, von deren irdischer Machtfülle und
Im Unterschied zu den meisten Buchwidmungen in Reichtum sie sich Schutz für das gewidmete Werk und
Form von Widmungsbriefen beschränkt sich bei anderen Unterstützung und Wohlwollen für ihre eigene Person
Gegenständen (z.B. bei Gemälden und anderen Kunst- erhoffen. Auch als Ausdruck des Dankes für erfahrene
objekten) die Mitteilung, daß es sich um eine Widmung Freundschaft oder Hilfe wird die Buchwidmung bemüht.
handelt, auf die Nennung des Empfängernamens und Die Feststellung des Zedlerschen Universallexikons, die
eventuell auf die Signatur des Spenders. Buchdedikationen seien von Anfang an den «mächtig-
Die hier aufgezeigten verschiedenen Verwendungsbe- sten, günstigsten und reichesten Herren» [9] gemacht
reiche des Wortes werden im Italienischen auch heute worden, trifft den Sachverhalt daher nur ungenau.
noch durch das gleiche Wort dedicazione abgedeckt: Die erste Widmung, die uns bekannt ist, im Sinne
«Atto e ceremonia di dedicare tempio, altare, chiesa all' einer vom Autor beabsichtigten Zueignung eines Litera-
onore della divinità. Festività commemorativa della con- turwerkes an eine ganz bestimmte Person, stammt aus
secrazione di una chiesa. Lettera dedicatoria. Dedica» dem 5. Jh. v.Chr.: D I O N Y S I O S C H A L K U S widmet seine
(Akt und Zeremonie der Weihe eines Tempels, eines Dichtung einem Freund namens Theodoras (450
Altars, einer Kirche zu Ehren der Gottheit; Gedächtnis- v. Chr.). Aus den nachfolgenden Jahrhunderten sind uns
feier der Weihe einer Kirche; Widmungsbrief; Wid- zahlreiche Buchwidmungen bekannt. Sie stammen u . a .
mung). [5] v o n T H E O P H R A S T U S , D I O G E N E S VON L A Ë R T I U S , A R C H I M E -
II. Rhetorik. Der dedicatio-Typus <Buchwidmung> ver- DES und A P O L L O N I U S VON P E R G A (alle im 3. Jh. vor Chri-
dient in rhetorisch-systematischer Hinsicht besondere stus). Apollonius schreibt seine <Kegelschnitte> (<koni-

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Dedikation Dedikation

ca>) zwei verschiedenen Paten zu: die drei ersten Bücher den"» (Préface ou Epistre dédicatoire - A Personne),
dem Eudemus, die fünf letzten Attalusl. und im 2. Buch seines <Roman bourgeois> druckt er den
Aus der römischen Literatur des l . J h . vor und des Text ab - «Epistre dédicatoire du premier livre que je
l . J h . nach Chr. sind zahlreiche Buchwidmungen be- ferai» - , den er dem Henker von Paris zugedacht
kannt. C A T U L L , L U K R E Z , V E R G I L , H O R A Z , PROPERZ, L U - hat. [10]
KIAN, CICERO, O V I D , Q U I N T I L I A N und M A R T I A L widmen Betrachtet man die Entwicklung der Buchwidmung
ihre Schriften als Ausdruck des Dankes, der Freund- von der Antike bis in unsere Zeit, so stellt man fest, daß
schaft, der Verehrung, in der Hoffnung auf Hilfe und schon früh alle äußeren Formen der Zueignung auftre-
Unterstützung. An Augustus, Germanicus, Brutus, Ti- ten, um dann durch die Jahrhunderte hindurch weiterge-
berius, Nero, Valerius Flaccus Vespasian, Tullus sind geben zu werden. Die einfache Nennung des Namens des
Widmungen adressiert. Maecenas ist ein oft umworbe- angesprochenen Freundes oder Gönners steht am An-
ner Buchpate. Catull schreibt sein <Epithalam> Cornelius fang. Der Appellativ wird bald durch eine ausführlichere
Nepos zu. Horaz wendet sich an die Söhne des Piso, Botschaft ergänzt. Die so zu einem Brief erweiterte per-
Lukrez an Memmius, Quintilian an seinen Freund Mar- sönliche Mitteilung, die inhaltlich und in der sprachli-
cellus Victorius. chen Ausformung vom zugeeigneten Werk abgesetzt ist
Dankbarkeit der Autoren gegenüber Maecenas oder und eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, entwickelt sich
anderen Gönnern, die Bitte um Hilfe, die von Anfang an über die Jahrhunderte und über Landes- und Sprach-
wohl die häufigsten Anlässe zu Widmungsgesten waren, grenzen hinweg zu einem Sammelplatz von stereotypen
bestimmen zwangsläufig - und auch dies von Anfang an - Formeln (Topoi), die letztlich alle mehr oder weniger in
Ton und Sprache der Widmungstexte. Die vielfältigen den Dienst der captatio benevolentiae gestellt werden.
Formeln der captatio benevolentiae, die phantasievolle Vom Topos der Bescheidenheit in seinen mannigfaltig-
Anwendung der Topoi des Personenlobs auf den ange- sten Ausformungen - der Autor versichert, den behan-
sprochenen Protektor erweisen sich schon früh als die delten Stoff nur aufgegriffen zu haben, weil er dazu
rhetorischen Waffen im Kampf um die Gunst der um- aufgefordert worden war; er bittet um Nachsicht, nur
worbenen Persönlichkeiten. Der massive Rückgriff auf eine unvollkommene Gabe vorlegen zu können; er weist
rhetorische Standards und Muster (praecepta, exempla), auf die Diskrepanz zwischen dem geringen Wert der
die die Autoren aus den Rhetorikanleitungen der Antike Schrift und dem hohen Gedankenflug des Gönners hin -
übernehmen, führt dazu, daß die Widmungstexte sich bis hin zu den vielen Topoi, die die antiken Rhetoriken
weithin gleichen. Und die Briefe der großen Autoren zur Gestaltung des Personenlobes, dem ja in den Wid-
stellen dabei keineswegs die bekannten rühmlichen Aus- mungsvorreden besonders viel Raum eingeräumt wird,
nahmen dar. bereitgestellt haben, greifen die Autoren zu allen be-
währten rhetorischen Mitteln, von denen sie annehmen,
Bedingt durch die Erfindung des Buchdrucks erlebt daß sie dazu beitragen, die den Zueignungstexten ge-
die Buchzueignung im Gefolge der vielen Bücher, die steckten Ziele zu erreichen.
fortan aus den Druckereien kommen, im 16. und 17.
Jahrhundert ihre große Blüte. Der Widmungsbrief wird Die Eigengesetzlichkeit des Widmungszeremoniells
zu einer sozialen Institution, der den Autoren eine Tri- läßt den Autoren nur wenig Spielraum für Originali-
büne liefert, von der aus sie ihren meist gesellschaftlich tät. [11] Die starre Formelhaftigkeit, die dem ganzen
hochgestellten Beschützern den Hof machen und auch Genre eignet, erklärt, daß trotz allen Bemühens der
auf die gesellschaftliche Bedeutung ihres eigenen noch Verfasser, durch stilistische Gestaltung (Vergleiche, Bil-
gering geschätzten Berufs hinweisen können. In dem der, überladene Ausschmückung ihrer Texte) ihren
Bemühen der Autoren um Anerkennung und im Ge- Briefen eine besondere Note zu geben, der Eindruck der
samtprozeß einer langsamen Herausbildung eines Monotonie beim Leser bleibt. Dies ist wohl einer der
schriftstellerischen Standesbewußtseins hat der Wid- Gründe, weshalb die Zueignungssitte bereits in den
mungsbrief eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Jahrhunderten ihrer größten Blüte - im 16., 17. und
Dabei ist zu vermerken, daß er in den romanischen Län- 18. Jh. - häufig kritisiert wird, z. B. in der <Somme dédi-
dern - und hier vor allem in Frankreich - zu besonders catoire> A. Furetières, die er in seinem 1666 erschiene-
reicher Entfaltung kam. Dies mag einerseits darauf zu- nen <Roman Bourgeois> abdruckt. Mit der sich im Laufe
rückzuführen sein, daß die lateinischen Völker aufgrund des 17. Jh. herausbildenden Gewißheit der Autoren, ei-
eines natürlicheren und spielerischen Verhältnisses zur ne wichtige soziale Funktion zu erfüllen und in dem
Rhetorik sich mit einem ganz aus rhetorischer Kunstfer- Maße, in dem das Schreiben zu einem Beruf wird, lassen
tigkeit lebenden Genre besser zurechtfanden als die die Autoren mehr und mehr davon ab, schmeichelhafte,
Nachbarn im Norden. Ein weiterer Grund mag in der um Gunst werbende Widmungsbriefe zu verfassen. Die
sehr umfangreichen Buchproduktion Frankreichs zu se- sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse, die den
hen sein, die mehr Anlässe zur Buchwidmung bot. Abstand zwischen hochgestellten, meist adligen Mäze-
nen und Autoren meist niedriger Herkunft verringern,
Interessant ist auch die Beobachtung, daß in Frank-
tragen das ihre dazu bei, die rhetorisch ausgefeilten Lob-
reich schon früh die Buchzuschriften in Frage gestellt
reden auf oft unwürdige Gönner bei den Autoren selbst
werden: sei es durch heftige direkte Kritik am Wid-
in Verruf zu bringen und nüchterneren Widmungen den
mungsbrauch und Widmungszeremoniell, sei es durch
Platz zu räumen.
Widmungstexte, die an fiktive Personen oder an Buch-
paten gerichtet sind, die einem Empfängerkreis angehö- Wie sehr die lobtriefenden Widmungsbriefe, wie sie
ren, dem normalerweise kaum Bücher zugeschrieben im 16. und 17. Jh. praktiziert wurden, im 18. Jh. in Ver-
werden. P. SCARRON schickte beispielsweise seinen bur- ruf gekommen waren, geht aus einem Text J . - F . M A R -
lesken Dichtungen (<La suite des Œuvres burlesques de MONTELS hervor, mit dem er dem Herzog von Richelieu
M. Scarron>, 1647) einen Widmungsbrief an «Dame 1750 sein Werk <Aristomène> zueignet, wobei er sich
Guillemette, Hündin» voraus. A . F U R E T I È R E veröffent- äußerst negativ über den Tribut äußert, den man mit
lichte 1653 als Vorspann zu <Le Voyage de Mercure> ein Schmeicheleien an das Mäzenatentum zollt. [12]
«Vorwort oder (eine) Zueignungsepistel an "Nieman- Die französischen Autoren des 19. Jahrhunderts ver-

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Definitio Definitio

ziehten auf den Rückgriff auf die diskreditierte Institu- Im gleichen Sinne wie Q U I N T I L I A N bestimmt auch CICERO
tion des Widmungsbriefes. A n seine Stelle tritt die einfa- die D . : «Siquidem est definitio oratio, quae quid sit id, de
che Namensnennung der ausgezeichneten Person. A . quo agitur, ostendit quam brevissime» (insofern ja Defi-
VILLIERS DE L ' I S L E - A D A M schreibt eine ganze Reihe sei- nition eine Ä u ß e r u n g ist, die das Wesen des Diskussions-
ner <Contes cruels> bekannten Zeitgenossen und Freun- gegenstandes so kurz wie möglich aufzeigt). [2]
den zu: A Théodore Banville, A Monsieur Leconte de D e r Vorgang des Definierens findet dabei im rhetori-
Lisle, A Monsieur Henry Ghys. schen Sprachgebrauch folgende Verwendungen: Im
H . B A L Z A C überreicht seinen R o m a n <Le Père Goriot> Vordergrund steht die Funktion der D . auf der E b e n e
«Au Grand et illustre G e o f f r o y Saint-Hilaire. C o m m e un der status, v. a. in der Gerichtsrede f ü r die Argumenta-
témoignage d'admiration de ses travaux et de son génie. tion bzw. die Beweisführung und ihre Umstrittenheit
D e Balzac» ( D e m großen und b e r ü h m t e n G . Saint-Hilai- zwischen Anklage und Verteidigung (parteiliche Kenn-
re. Als Zeugnis der Bewunderung seiner Leistungen und zeichnung des Faktums, des Tatbestandes, der quaestio
seines Genies). D e m R o m a n <Splendeurs et misères des finita, der Beziehung zwischen lex und factum) mit d e m
courtisanes> (1838) stellt Balzac einige Zeilen an «A. S. Ziel der Persuasion. Als rhetorische Figur ist die D . ein
A . le Prince Alfonso Serafino di Porcia» voran, in denen verallgemeinertes - aus dem status finitionis herausge-
er dem italienischen G ö n n e r dankt, bei ihm Gastfreund- n o m m e n e s - Argument zur Bestimmung «eines oder
schaft gefunden zu haben, die es ihm gestattet hatte, an mehrerer, oft benachbarter oder gegensätzlicher Begrif-
dem nun fertiggestellten Werk zu arbeiten. Es ist ein fe mit dem Ziel klarer Differenzierung». [3] Die D . steht
kurzer Text, völlig frei von schmeichelhaften Formeln. hier im Dienste der Partei-utilitas. Im rhetorischen Par-
Im Verlauf des 19. Jh. verliert der als rhetorisches teienkampf bedient sich der R e d n e r des modus defini-
Kunstwerk konzipierte Dedikationsbrief endgültig seine tivus. Auf der E b e n e der loci findet die D . innerhalb der
Funktion; fortan werden kurze Widmungsformeln oder argumenta a re Verwendung als locus a re.
einfache Namensnennungen bevorzugt, die darauf hin- Β . Im status definitionis geht es um die Frage «Quid
weisen, daß man es mit einer zugeeigneten Schrift zu tun fecerit?» o d e r «An hoc fecerit?» [4] Dieser status hat in
hat. der forensischen Rhetorik die A u f g a b e , den «wirklichen
Tatbestand durch die Definition des Wortlautes des Ge-
Anmerkungen: setzes entsprechend der Absicht des Gesetzgebers [,] zu
1F.-R. de Chateaubriand: Les Martyrs, t. 1 (1810) 127. - bestimmen». [5] Das Verfahren heißt D . : «cum autem
2H. Poirier: Deux Harangues panégyriques (Amsterdam nominis [controversia est], quia vis vocabuli definienda
1648). - 3C. Baudelaire: Les Fleurs du Mal, in: Sämtl. Werke, verbis est, constitutio definitiva nominatur» (wenn aber
hg. von F. Kemp, C. Pichois, Bd. 3 (1975). - 4 vgl. Tristan l'Her- die Bezeichnung umstritten ist, dann handelt es sich um
mite: La Lyre du Sieur Tristan (1641). - 5 Vocabulario della einen definitorischen Streitfall, denn die inhaltliche
lingua italiana, ed. N.Zingarelli (Bologna 81960) s.v. - 6vgl. Kraft eines Begriffes m u ß mit Worten definiert wer-
W. Leiner: Der Widmungsbr. in der frz. Lit. (1965) T. III, 1 u. den). [6]
IV, 2. - 7M lle de Scudéry: Widmungsbr. zu Conversations sur
divers sujets> (1680). - 8 J . B . Croisilles: Les Epîtres (1625); vgl.Die Bestimmung der Begriffsbedeutung als quaestio
Leiner [6] 18. - 9 vgl. J. H. Zedier: Großes vollständiges Univer- finita teilt sich - in der forensischen Rhetorik - in zwei
sallex. (1750) s.v. - lOvgl. Leiner[6] 29; A.Furetière: Le ro- Bereiche: das factum und die lex, die durch die Sprache
man bourgeois (Paris 1958). - 11 vgl. Leiner [6] 38ff. - 12 vgl.
ebd. 309, Anm. 7. verbunden sind, so daß semantische Operationen (Sema-
siologie/Onomasiologie) zur Kennzeichnung des Be-
griffsumfangs (z.B. Merkmale) und der Begriffsabgren-
Literaturhinweise:
G.Fratta: Della Dedicatione de' libri... (Venedig 1590). - zung (ζ. B. Gattung) nötig sind.
J. Breu: De Dedicationum literariarum moralitate (Argentorati Q U I N T I L I A N unterscheidet zur Bestimmung des Be-
1718). - B . Botfield: Praefationes et Epistolae Editionibus prin- griffsumfangs - von dem es abhängt, ob das factum unter
cipibus Auctorum Veterum (Canterbury 1861). - H.B. Wheat- die lex fällt - drei Typen: Die D . p l e n a (angemessen,
ley: The dedications of books to patron and friend... (London umfaßt alle Tatbestände), die O.parum plena (zu eng,
1887). - R. Graefenhain: De More libros dedicandi apud scrip- umfaßt zu wenig Tatbestände) und die D . falsa (zu weit,
tores graecos et romanos obvio (Diss. Marburg 1892). - umfaßt zu viele Tatbestände). [7] Folgendes Beispiel f ü r
Κ. Schottenloher: Die Widmungsvorrede im Β. des 16. Jh.
(1953). - G. Simon: Unters. zurTopik der Widmungsbr. mitter- eine D . falsa führt Quintilian an: «falsa est, si dicas
alterl. Geschichtsschreiber bis zum Ende des 12.Jh., l.T. 'animal rationale': nam est equus animal, sed inrationa-
(1958), 2.T. (1959), in: Arch, für Diplomatik Bd. 4, 52-119 le, quod autem c o m m u n u n e cum alio est, desinet esse
und Bd. 5, 73-153. - T. Janson: Latin Prose Prefaces (Diss. proprium» (Eine falsche [Definition] ist es zu sagen:
Stockholm 1964). - E. Herkammer: DieTopoi in den Proömien 'Vernünftiges Lebewesen'; denn ein Pferd ist ein Lebe-
der röm. Geschichtswerke (Diss. Tübingen 1968). wesen, aber unvernünftig. Was aber mit den anderen
W. Leiner gemeinsam ist, hört auf, eigentümlich zu sein). [8]
FORTUNATIAN unterscheidet zwischen der D . s i m p l e x
—» Buchkunst —* Captatio benevolentiae —> Dankrede —» Exor- u. der D . duplex, die er noch einmal in D . duplex sive
dium —* Formel —> Gelegenheitsgedicht —> Lobrede —> Wid-
mung comparativa und der D . duplex coniuncta unterteilt. [9]
Er fügt noch zwei weitere D . an: die D . ex partibus und
die D .antithetica. Auch SULPITIUS VICTOR und H E R M O G E -
Definitio (griech. όρισμός, horismós; dt. Begriffsbestim- NES trennen zwischen definitiones simplices u. defini-
mung; engl, definition; frz. définition; ital. definizione) tiones duplices. [10]
Α . Unter D . versteht man in der Rhetorik die Bestim- Neben d e m von der D . erfaßten Begriffsumfang ist die
mung der Begriffsbedeutung: «finitio igitur rei proposi- Bestimmung der Begriffsabgrenzung mit d e m Ziel einer
tae propria et dilucida et breviter comprensa verbis Abgrenzung gegen Synonyma verbunden. In diesem Sin-
enuntiatio» (Die Wesensabgrenzung ist also der dem ne ist die D . die «Periphrase eines Bedeutungsinhalts
Gegenstand eigentümliche, klare und kurz in Worte ge- ('voluntas')». [11] Hierzu unterscheidet Quintilian die
faßte Ausdruck eines angegebenen Sachverhaltes). [1] möglichst kurze D . f ü r die er folgende Aspekte be-

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stimmt: genus, species, differens und proprium [12]: «Ut über hinaus bildeten f ü r die Definitions-Lehre im Mittel-
si finias equum [ . . . ] genus est animal, species mortale, alter die Schrift des M A R I U S VICTORINUS <De defini-
differens inrationale, (nam et h o m o mortale erat), pro- tionibus liber> - damals fälschlicherweise Boethius zuge-
prium hinniens» (Wenn man z . B . das Wesen eines Pfer- schrieben - sowie die <Etymologien> des ISIDOR VON S E -
des abgrenzen will [ . . . ] so ist die Gattung 'Lebewesen', VILLA die Hauptgrundlage. Beide Werke führen 15 Ar-
die Erscheinungsform 'Sterbliches', das Unterscheiden- ten von D . auf, die später bei W I L H E L M VON OCKHAM in
de 'Unvernünftiges' - denn auch der Mensch gehört ja seiner <Summa totius logicae> in die f ü r die traditionelle
zur Erscheinungsform des 'Sterblichen' - , das Eigentüm- Logik grundlegende Unterscheidung von Real- und No-
liche 'Wieherndes'). [13] Die längere D . kann als «Peri- minaldefinition m ü n d e n . [24]
phrase der Definition» [14], also als Periphrase der Peri- Die rhetorisch-literarischen Theorien des 17. Jh. be-
phrase des Wortes angesehen werden: « [ . . . ] quid sit sinnen sich auf das D i k t u m Ciceros, daß dem Redner die
virtus, id aut universum verbis conplectimur, ut "rhetori- loci unmittelbar vertraut sein müssen. [25] So fordert
ce est bene dicendi scientia", aut per partes, ut "rhetorice K. STIELER in seiner <Sekretariatskunst>, daß die «Merk-
est inveniendi recte et disponendi et eloquendi cum firma mahle und Sitze/oder Plätze der Beweisgründe», die dem
memoria et cum dignitate actionis scientia"» (Was ist Schreiber so vertraut sein müssen «gleich wie Buchsta-
Tugend? Diese Frage aber beantworten wir entweder, ben d e m Schreibenden fließen/wenn er gleich nicht be-
indem wir das gesamte Wesen mit Worten umfassend sinnet/welchen er setzen oder schreiben soll». [26]
bestimmen, z . B . 'Die Rhetorik ist die Wissenschaft, gut A n Topoi zählt er an erster Stelle die D . auf, der «erste
zu reden' oder durch die Bestimmung ihrer Teile: 'Die Brunnquell der Beweisgründe» als die «Beschreibung
Rhetorik ist die Wissenschaft, richtig zu erfinden, zu einer Sache/nach ihrem Wesen/Natur und Eigenschaft/
gliedern und mit sicherem Gedächtnis und würdigem auch andern Umständen». [27] Nach Dyck steht die D . in
Vortrag darzustellen.') [15] Die differentia <bene dicen- den «Rhetoriken des 17. Jahrhunderts an erster Stel-
di) wird hier also definitorisch in ihre Bestandteile aufge- le». [28] Entscheidend f ü r den rhetorischen Gebrauch im
löst. Eine weitere Variante der D . , die Quintilian an- Unterschied zum philosophischen wird dann die Bestim-
f ü h r t , geht von der Wortform selbst aus: «Praeterea mung von A . BUCHNER: Das Wort D . müsse in einem
finimus aut vi [ . . . ] aut ετυμολογία, ut si assiduum ab aere weiteren Sinne verwendet werden, als es bei den Philo-
dando» ( A u ß e r d e m definieren wir entweder nach der sophen üblich ist, denn die Rhetoren definieren eine
Leistung [ . . . ] oder nach der Etymologie, z . B . 'assiduus' Sache nicht nackt und einfach, sondern sie führen auch
(emsig) vom G e b e n (dare) von Kupfergeld (aes)). [16] die Ursachen an und definieren durch Akzidentien und
Von ihrer ursprünglichen Funktion als status wurde Nebenumstände. [29]
die D . dann zur Figur verallgemeinert. Im Interesse der Im 18. Jh. finden sich philosophische und rhetorische
Partei-uft'/itai stehend, versucht die D . eine im Interesse Tradition der D . nebeneinander. In J . A . FABRICIUS'
des Anklägers oder Verteidigers e r f u n d e n e Deutung der Traktat Philosophische Oratorie, Das ist: Vernünftige
Sache. R U T I L I U S L U P U S erklärt, die D . k o m m e zustande Anleitung zur gelehrten und galanten B e r e d s a m k e i t
«cum definimus aliquam rem nostrae causae ad utilita- von 1724 findet sich die D . als «Beweisgrund», wobei
tem neque tarnen contra c o m m u n e m opinionem» (wenn man nach Aristoteles auf genus und differentia zu achten
wir eine Sache zugunsten unseres Fajles definieren, je- hat [30], sowie als «Erläuterungsgrund»: «beschreibung
doch nicht gegen die allgemeine Überzeugung). [17] des worts [ . . . ] durch an führung gleichvielbedeutender
Auch bei HERODIANUS findet sich eine Explikation des Wörter und redensarten». [31] A n Quintilian und Cicero
ορισμός (horismós): «Um eine Definition handelt es sich knüpft schließlich auch F . E . PETRI an, der ebenfalls zwi-
d a n n , wenn wir bei einem vorausgehenden Begriff oder schen rhetorischer und logisch-philosophischer Verwen-
einem vorausgehenden Wort abgrenzen, was es bedeu- dungsweise unterscheidet: Während er die Kategorien
tet.» [18] Ebenso bedient sich der R e d n e r im Parteien- <Genus> und <Differenz> der Philosophie zuschreibt, re-
kampf der D . (modus definitiv us ). klamiert er für die Rhetorik die klare und knappe U m -
Auf der E b e n e der loci ist die D . als loci afinitione eine schreibung. [32] In der rhetorisch-literarischen Theorie-
der argumenta a re: «ducuntur ergo argumenta ex finitio- bildung bleibt die inhaltliche, an der Semantik von Merk-
ne seu fine» (Man kann also Beweise aus der Definition mal und Differenz orientierte sprachliche Bestimmung
oder Abgrenzung herleiten.) [19] Beide Bezeichnungen der Definition bis heute gültig. [33] Dagegen finden sich
- definitio und finis - sind möglich: «aut enim p r e c e d e n - in der modernen Linguistik Verfahrensweisen der for-
te finitione quaeritur, sitne hoc virtus, aut simpliciter, malen Logik, wobei die D . auch als Äquivalenzrelation
quid sit virtus» (entweder schließt sich nämlich die Frage aufgefaßt wird (zwischen Definiendum und Defi-
an die vorangestellte Definition an: 'Ist dies Tugend?', niens). [34] Intendiert ist hierbei eine exakte Bestim-
oder sie lautet einfach: 'Was ist Tugend?') [20] In seinen mung und Abgrenzung von Begriffen bzw. der A u f b a u
Erscheinungsformen ist der locus a finitione mit dem einer wissenschaftlichen (Meta-)Sprache. [35] Gegen
status finitionis identisch. [21] Einzig im G e b r a u c h be- diese logische Rekonstruktion definitorischer Prozesse
steht eine Differenz: der status finitionis bildet die wendet sich eine gebrauchsorientierte Sprachwissen-
H a u p t f r a g e des ganzen Prozesses, während der locus a schaft (use, parole), die im Zuge der <Ordinary Language
finitione an einer beliebigen Stelle eingesetzt werden Philosophy> die definitorische Intention auf den (situa-
kann. Im argumentum a nota vel etymologia und im tiv) korrekten Gebrauch eines Wortes richtet. In dieser
argumentum a coniungatis kann auch in den loci die Hinsicht knüpft z . B . G . R Y L E auch an das rhetorische
Etymologie eingesetzt werden. [22] Konzept von Angemessenheit und Wirkungsfunktion
an, indem er die Verwendungsweise eines Wortes da-
Die Folie f ü r den Gebrauch in der mittelalterlichen nach beurteilt, ob sie hinsichtlich eines gegebenen Zieles
Schullogik bildet in erster Linie ARISTOTELES, der den richtig sei. Damit gelten für gebrauchsorientierte Defini-
Begriff ορισμός (horismós) in den Büchern 6 und 7 seiner tionen pragmatische Regeln, wie sie auch von der klassi-
<Topik> einführt. [ 2 3 ] D e r AUCTOR AD H E R E N N I U M ( I V , schen Rhetorik formuliert werden. [36]
35) verwendet als erster den Begriff - neben dem bis ins
hohe Mittelalter auch <diffinitio> gebraucht wird. Dar-

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Definition Definition

Anmerkungen: soll eine Aussage über den Begriff des Definiendum und
1 Quint. VII, 3 , 2 . - 2 Cie. Or. 116. - 3 H. Plett: Einf. in die rhet. damit über die begrifflich vermittelte Sache gemacht
Textanalyse (1971) 46. - 4 Q u i n t . Ill, 6, 5. - 5 J . Martin: Antike werden; deshalb muß die Real-D. im erkenntnistheoreti-
Rhet. (1974) 3. - 6Cic. D e inv. I, 8, 10. - 7Quint. VII, 3, 23. -
schen Sinn wahr sein. Die Nominal-D. hingegen gibt hur
8ebd. VII, 3, 24. - 9Fortun. Rhet. I, 13 p . 9 1 ; 7ff. - lOSulp.
Vict. 41 p. 338,1, ff. H und Hermogenes, D e Statibus, 414 p. 61,
eine Wortbedeutung an, sie verbleibt auf der Ebene der
21ff. R. - 11H. Lausberg: Hb. der lit. Rhet. ( 3 1990) §110. - Sprache; ihr Verhältnis zur Sache ist ein außerhalb des
12Quint. VII, 3, 3. - 13ebd. - 14Lausberg [11] §110. - Definierens angesiedeltes Problem.
15Quint. V, 10, 54. - 16ebd. V, 10, 55; I, 6, 29. - 17Rutilius Der Begriff der D. gehört gleichermaßen in philo-
Lupus: Schemata Lexeos, II, 5, 30, in: Rhet. Lat. min. 14. - sophische und rhetorische Zusammenhänge. Philo-
18vgl. Herodianos: Peri schemáton 98, 9ff., in: Rhet. Graec. sophisch geht es um Fragen der Erkenntnistheorie, Lo-
Sp. III. - 19Quint. V, 10, 54. - 20ebd. - 21 vgl. Lausberg[ll] gik und Sprachphilosophie. Rhetorisch erscheint die D.
§392. - 22vgl. Mart. Cap. 23, 483. 24, 484. - 23 Aristoteles,
Topica I, 8, 103b. - 24vgl. W. von Ockham: Summa totius
in der Statuslehre und bei den Figuren des lexikalischen
logica (Paris 1488) s.v. - 25Cie. D e or. 2, 30, 130. - 2 6 K . Stie- sowie des argumentativen Bereichs.
ler: Teutsche Sekretariatskunst... (1673) II, 107. - 27ebd. - Β. I. Antike. Für die Verständigung unter Gesprächs-
28 J. Dyck: Ticht-Kunst. Dt. Barockpoetik und rhet. Tradition partnern genüge es nicht, den Namen einer Sache zu
(1966) 45. - 29 vgl. A . Buchner: D e commutate Ratione Dicen- nennen, denn jeder könne unterschiedliche Vorstellun-
di Libri D u o (1680) 392. - 30 J. A . Fabricius: Philos. Oratorie gen mit ihm verbinden. Man müsse deshalb «mehr über
(1724) 62. - 31 ebd. 99. - 3 2 F . E . Petri: Rhet. Wörterbüchlein die Sache selbst durch Erklärungen sich verständigen als
(1831) 56. - 3 3 v g l . B. Dupriez: Gradus (Paris 1984) 143; G. von nur über den Namen ohne Erklärung». P L A T O N hat so
Wilpert: SachWB der Lit. ( 6 1979) 158. - 3 4 v g l . H. Bußmann:
das Bedürfnis nach expliziter D. bekundet. [3] Dabei hat
Lex. der Sprachwiss. (1983) 81f. - 3 5 v g l . G. Frege: Grundgeset-
ze der Arithmetik 2 (1903) 69; L. Wittgenstein: Tractatus logi-
die D. - er nennt sie όρος (hóros), aber auch ύπό·£>εσις
co-philosophicus (1921) 6. 53. - 36 vgl. G. Ryle, J.N. Findlay: (hypothesis) - für ihn wie schon für SOKRATES die Aufga-
Use, usage and meaning, in: Proceedings of the Aristotelian be, das Wesen einer Sache zu bestimmen. [ 4 ] ARISTOTE-
Society, Suppl. 35 (1961) 223ff. LES hingegen erklärt, daß eine D. sich nicht nur auf den
Begriff (λόγος, lògos) und somit auf das Wesen der Sache
Literaturhinweise : beziehen könne, sondern auch auf den Namen (όνομα,
H. Rickert: Zur Lehre von der Definition ( 3 1929). - R. Robin- ónoma) des Begriffs; nur könne ein einzelnes Wort nie
son: Definition (Oxford 1954). - T . Pawlowski: Begriffsbildung den Begriff selbst enthalten. [5]
und Definition (1980).
T. Seng Piatons Verfahren der D. durch Einteilung (όιαίρεσις,
dihaíresis), mit dem er (in den <Sophistes>) zugleich der
—> Argumentation —» Definition —» Figurenlehre —» Locus —> negativen, auf Widerlegung gerichteten Dialektik des
Logik —* Status-Lehre —* Topik —» Wirkung Sokrates das Prinzip der positiven Begründung entge-
genstellt, bestimmt die Begriffe durch pragmatisch plau-
sible Setzungen, die noch ohne formale Bindung ausge-
Definition (griech. ορισμός, horismós; lat. definitio, auch wählt werden. [6] Dagegen fordert Aristoteles für jede
finitio, diffinitio; engl, definition; franz. définition; ital. D., daß sie έκ γένους και διαφορών (ek génous kaì diapho-
definizione) rón): aus der Gattung und dem Unterschied (also einem
Α . Unter einer D. versteht man die Angabe des In- Gattungs- und einem Unterscheidungsmerkmal) gebil-
halts, der einem Begriff oder einem sprachlichen Aus- det werde. [7] Beispiel: Definiert man (mit Quinti-
druck zugehört. Die explizite D. bildet einen Satz, der lian [8]) Rhetorik als bene dicendi scientia, so ist scientia
den Begriff oder Ausdruck (das Definietidum) anführt (Wissenschaft) das Gattungs-, bene dicendi (gut zu spre-
und den zugeordneten Inhalt (das Definiens) vollständig chen) das Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen
mitteilt; als Kalkül geschrieben: Definiendum = df. De- Wissenschaften.
finiens. Die D. kann von jeder Seite des Gleichheitszei- Die weitere Entwicklung der D.-Lehre ist gekenn-
chens her gebildet werden. Ist das Definiens gegeben, in zeichnet durch Ausdifferenzierung bei den Formen und
aller Regel eine längere Textphrase, so wird hierzu das Typen der D. Q U I N T I L I A N nennt vier hauptsächliche
Definiendum als kurzes Namenszeichen gesetzt. Kenn- Aspekte der D. (finitioni subiecta), nämlich genus, spe-
zeichnend ist dieses Verfahren für die synthetische Nomi- cies, differens und proprium. [9] Der zu definierende
nal-D. Traditionell, bei der analytischen Real-D. eines Begriff (Beispiel: Mensch) wird nach der Gattung (Lebe-
Begriffs oder der analytischen Nominal-Ό. eines Aus- wesen), der Art (sterblich), dem Unterschied (zweifü-
drucks, läuft das Verfahren umgekehrt. Für das Defi- ßig, gegenüber Vierfüßlern) und der Eigentümlichkeit
niendum steht dann ein Wort oder eine kurze Phrase, (vernunftbegabt) bestimmt, wobei hier erst das vierte
deren Sinn angegeben werden soll; das Definiens stellt Merkmal die D. unterscheidungskräftig macht. [10] Die
durch eine längere Phrase diesen Sinn dar. Die Verknüp- D. bestimmt entweder umfassend durch eine einzige
fung beider Teile über das Gleichheitszeichen macht Aussage das Wesen der Sache (Beispiel: die oben zitierte
deutlich, daß das Definiendum nicht im Definiens wie- D. der Rhetorik), oder sie zergliedert die Sache in meh-
derkehren darf; die D. würde dadurch zirkulär. rere Elemente und zählt diese auf (Beispiel: Rhetorik ist
Von der expliziten D. mit ausformuliertem Definiens definiert als die Wissenschaft davon, wie man eine Rede
hat als erster GERGONNE[1] die implizite D. unterschie- gut erfindet, richtig gliedert, sicher lernt und würdig
den; bei ihr ist das Definiens aus einer oder mehreren vorträgt). [11] Die zweite Form heißt definitio ex parti-
gegebenen Aussagen erst zu erschließen. Bei der analyti- bus. [12] Eine andere Unterscheidung Quintilians: Wir
schen D. soll ein Sinn, der im gegebenen Teil stillschwei- definieren eine Sache entweder nach ihrer Wirkung (wie
gend bereitliegt, durch den zu ermittelnden Teil der D. in der zitierten D. für Rhetorik), oder etymologisch:
expliziert werden; dagegen setzt die synthetische D. das finimus aut vi, aut έτυμολογία (etymología). [13] Der erste
fehlende Teil konstitutiv. Diese Unterscheidung geht Typus wird später als definitio causalis bzw. genetica
zurück auf KANT. [2] - Je nach ihrem Gegenstand ist die klarer bezeichnet. Die (Real-)D. nach der Etymologie
D. entweder Real-D. oder Nominal-D. Im ersten Fall rekonstruiert die Entstehung eines Wortes; Beispiel: as-

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Definition Definition

siduus (emsig), gebildet aus dare (geben) und aes (Kup- fache D.); duplex actio sive conparativa (entgegengesetz-
fergeld). [14] tes Definieren des Streitpunktes durch die Gegner); du-
Die als Wesensbestimmung begriffene D. dient der plex quaestio sive coniuncta (Angriff des Gegners auf die
Beweisführung in Rede und Disput [15]; sie wird dabei D. des anderen); ex partibus definitio (D. aus Teilen des
zur positiven Begründung (ad probandum) ebenso ein- Begriffs); antithetica definitio (der D. des Gegners wer-
gesetzt wie zur Widerlegung (ad refellendum). [16] Sie ist den die Voraussetzungen entzogen).
argumentum, d . h . ein Beweisgrund. Als Aussage zur Als Werkzeug der parteiischen Argumentation ist die
Sache kann die D. ihren Gegenstand treffen oder verfeh- D. eine rhetorische Figur. Sie gehört zu den semanti-
len, also wahr oder falsch sein. An Fehlern beim Definie- schen Figuren (Tropen), die interessengerechte Abwei-
ren unterscheidet Quintilian: die D., die nichts zur Sach- chungen vom gewöhnlichen Sprachgebrauch darstellen,
frage beiträgt (nihil ad quaestionem pertineat)[ 17]; die und zu den sachbezogenen (im Unterschied zu personen-
falsche D. (finitio falsa), die ein zu allgemeines oder ein bezogenen) Figuren des argumentatorischen Bereichs
verkehrtes Merkmal nennt [18]; die unvollständige D. (D. als locus in re [37]).
(finitio parum plena), die zwar unterscheidungskräftig II. Mittelalter. Die Schullogik schreibt vor, daß die gül-
ist, in der jedoch ein Begriffsmerkmal fehlt, auf das es im tige (Real-)D. eines Begriffs aus der nächstliegenden
Fall ankommt. [19] Um die richtige D. zu finden, müsse Gattung, der sein Gegenstand zugehört, und aus (minde-
man eine klare Vorstellung davon haben, was man errei- stens) einem besonderen Unterscheidungsmerkmal zu
chen wolle. [20] Diese Maxime für den Redner bezeich- bilden sei: definitio fiat per genus proximum et differ-
net das Ziel rhetorischer Beweisführung: Es kommt dar- entiam specificam. [38] Im übrigen bleiben 15 Formen
auf an, für ein interessengemäßes Sachverständnis die bzw. Typen der D. anerkannt, die ISIDOR VON SEVILLA im
Zustimmung des Adressaten zu erwerben. Anschluß an Marius Victorinus aus der griechischen und
Dem entspricht, daß die lateinischen Autoren die D. lateinischen Tradition weitergab [39]: definitio substan-
vor allem im Zusammenhang der Status- (griech. Stasis-) tialis (Wesensbestimmung), notio (Kennzeichnung ohne
lehre behandeln. Deren vermutlicher Schöpfer, H E R M A - Wesensangabe), definitio qualitativa (D. durch Merkma-
GORAS aus Temnos (2. Jh. v.Chr.)[21], verstand unter le der Beschaffenheit), descriptio (Beschreibung), defi-
στάσις (stásis) den Punkt, um den in einer (gerichtlichen) nitio ad verbum (D. durch ein einziges Wort), definitio
Auseinandersetzung gestritten wird und über den eine per differentiam (D. durch ein Unterscheidungsmerk-
Entscheidung herbeizuführen ist. [22] Die Römer wähl- mal), definitio per translationem (D. mit Bewertung),
ten hierfür den Namen statüs; die exemplarische Ver- definitio per privantiam contrarli (D. durch Verneinung
wendung des Statusbegriffs für die Gerichtsrede gibt ihm des Gegenteils), definitio per imaginationem (Vorstel-
die Bedeutung: Grundfrage(n) eines Rechtsfalls. [23] lung eines einzelnen), definitio per analogiam (D. durch
Der Fall (causa) kann zweierlei Grundfragen aufwerfen: Entsprechung), definitio per indigentiam pieni ex eodem
solche im Bereich der Argumentation (Beweisführung) genere (D. aus derselben Gattung), definitio per laudem
und solche, die den Gesetzestext betreffen. [24] Zum (D. im Superlativ), definitio secundum quid (D. der Her-
ersten Bereich gehört der D.-Status. [25] Zum zweiten kunft nach), definitio per totum (D. durch Umfangsanga-
zählen die Auslegungsfragen (Gesetzesstatus); der Sinn be), definitio secundum rei rationem (D. durch den
eines Gesetzes kann sich aus einer im Gesetz enthaltenen Grund, die Ursache). Die Unterscheidung zwischen Re-
de finitio legalis ergeben. [26] al-D. (definitio exprimens quid rei) und Nominal-D. (ex-
primens quid nominis) wird scharf herausgearbeitet von
CICERO [ 2 7 ] und Quintilian [ 2 8 ] lassen, entsprechend
W I L H E L M VON OCKHAM [40], dem inceptor des spätmittel-
den drei Wesensfragen einer jeden Untersuchung - an
alterlichen Nominalismus.
sit, quid sit, quale sit (ob, was, wie etwas sei) - , drei status
der Argumentation gelten (andere Autoren nennen vier III. Von der Scholastik an wurde die Aufgabe der D.
und mehr). Der Vermutungsstatus (status oder quaestio zunehmend sprach- und erkenntniskritisch statt rheto-
coniecturalis) handelt davon, ob ein Verdächtiger eine risch gesehen. Erst im Barock gibt es eine erhebliche
bestimmte Tat überhaupt begangen hat. [29] Der D.- Weiterentwicklung der D.-Lehre. Am weitesten geht,
Status (status finitivus) betrifft die Subsumierbarkeit der gleich zu Beginn der Epoche, GALILEI; sein Verständnis
Tat unter eine gegebene Rechtsnorm. [30] Der Status der D. nimmt in den Grundzügen jenes der modernen
der Beschaffenheit (status qualitatis) läßt nach rechtli- Wissenschaftstheorie vorweg. Galilei lehrt, «daß eine
chen Modalitäten der Tat fragen, etwa ob sie gerechtfer- Erklärung der Fachausdrücke (termini) willkürlich (libe-
tigt oder entschuldbar ist. [31] - Im System der status ro) ist und daß es im Belieben (in potestà) eines jeden
dient die D. dazu, die rechtliche Erheblichkeit eines Naturwissenschaftlers steht, in seiner Weise die Dinge,
Verhaltens zu bestimmen, das eingestanden oder bewie- mit denen er sich beschäftigt, zu umschreiben und zu
sen ist; oder sie wird, was Quintilian empfiehlt, dem definieren. Dabei kann er nie irren.» [41] Die (wissen-
Vermutungsstatus vorgezogen und dann zum Maßstab schaftlich gebrauchte) D. ist hiernach nominalistisch,
für die Tatsachenermittlung. [32] Beispiele der durch D. allein eine Angelegenheit des Sprachgebrauchs; sie kann
zu lösenden Grundfrage eines Rechtsfalls: Der Täter, weder falsch noch wahr sein, denn sie betrifft einen
der die Wegnahme einer Sache nicht leugnen kann, be- Satzinhalt, keinen Sachverhalt; an die strikte Form der
streitet, daß diese Wegnahme Diebstahl sei; die D. muß Schullogik ist sie nicht mehr gebunden.
die Merkmale des Diebstahl-Tatbestands angeben. [33]
Zum skeptischen Umgang mit tradierten D. fordert
Oder er bestreitet, daß der begangene Diebstahl aus dem
HOBBES auf. [42] Zu wahren Aussagen könne nur finden,
Tempel die strafverschärfenden Merkmale des Tempel-
wer sich die Bedeutung der dabei verwendeten Namen
raubs erfülle [34]; in diesem Fall sind die D. beider Straf-
ständig vergegenwärtigt. Dies geschehe durch die D. zu
tatbestände erforderlich. [35] Da im Rechtsstreit jedoch
Beginn einer jeden (wissenschaftlichen) Überlegung und
zwei entgegengesetzt interessierte Parteien agieren, tref-
dadurch, daß die gewählte Bedeutung strikt beibehalten
fen dort einander ausschließende D. aufeinander. Vor
wird. Die D. älterer Gelehrter seien immer wieder zu
diesem Hintergrund unterscheidet FORTUNATIAN [ 3 6 ] für
überprüfen und oft zu erneuern; denn: «Mit jedem Fort-
den finitivus status fünf Vorgänge : simplex definitio (ein-
schritt in einer Wissenschaft mehren sich auch die durch

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Definition Definition

die Erklärungen veranlaßten Irrtümer.» Bei den zu defi- messene Deutlichkeit», das eigentliche Bestreben jeder
nierenden Namen unterscheidet Hobbes vier Hauptar- D., erst am Ende eines Werkes erreicht werden, nicht
ten: Bezeichnungen für Materie oder Körper; Bezeich- am Anfang.
nungen für Eigenschaften; Bezeichnungen für die Art Für die (politische) Rhetorik verweist W. G. H A M I L -
der Wahrnehmung (z.B. «hören», «sehen»); schließlich TON, Mitglied des englischen Unterhauses von
die «Namen, die wir den Benennungen selbst beilegen» 1754—1794 und berüchtigt für seine kritischen Analysen
(z.B. «allgemein»). Die D. kann auf zweierlei Art ge- der Beredsamkeit, auf die praktisch sinnvollen Typen
schehen [43]: soweit wir die Ursache oder Erzeugung der D.: «Der Philosoph definiert trocken nach Gattung
eines Dinges kennen, durch deren Angabe (definitio cau- und Artunterschied. Die Definition des Redners ist
salis oder genetica), im übrigen durch den Gebrauch mehr eine Beschreibung. Beschreiben kann man auf fün-
solcher Namen, die «klare und vollkommene Vorstellun- ferlei Weise: Die erste knüpft an die Teile an, aus denen
gen im Geist des Hörers wecken». eine Sache besteht, die zweite an die Wirkungen, die sie
Die Unterscheidung zwischen Real-D. und Nominal- erzeugt, die dritte an das, was eine Sache nicht ist, die
D. erhält eine neue Bedeutung bei Leibniz und C. Wolff. vierte an ihre Begleitumstände und die fünfte an Gleich-
Für LEIBNIZ [44] dient die Nominal-D. dazu, einen Be- nisse und Bilder.» [47]
griff zu erläutern, ohne jedoch anzugeben, ob dessen V. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gehört die D.-Lehre
Sache real möglich ist. Die Real-D. wird entweder a zu den Gegenständen einer wissenschaftstheoretischen
posteriori gefunden ; sie beschreibt dann einen erkannten Diskussion, die primär unter sprachkritischem Vorzei-
Gegenstand nach Gattung und unterscheidungskräftig chen geführt wird. Dabei lassen sich zwei aufeinander
bestimmten, wesentlichen Eigenschaften. Oder sie wird folgende Tendenzen unterscheiden. In einer ersten Pha-
a priori konstruiert, indem man einen Gegenstand in se wird die Reduktion des wissenschaftlichen Sprechens
begriffliche Elemente auflöst bzw. den Begriff «nach auf logisch-mathematische Stringenz gefordert; die rigi-
dem Vorbild der Natur» aus bereits anderwärts gültigen deste Form des logischen Empirismus erkennt allein
Elementen zusammensetzt. - Bei C. W O L F F [45] nennt noch den logisch-naturwissenschaftlichen Sprachge-
die Nominal-D. hypothetisch den Zweck oder die we- brauch als «sinnvoll» an. [48] Sodann, in einer zweiten
sentlichen Eigenschaften einer Sache; diese beschrei- Phase, die dem Puristen als Aufweichung erscheinen
bende Begriffserklärung soll Ausgangspunkt für die ex- muß, erfolgt eine Rückwendung zur Alltagssprache (Or-
perimentelle Beweisführung sein. Die Real-D. hat die dinary Language Philosophy) und zum Versuch, die Be-
Bedingungen für Entstehung und Existenz einer Sache dingungen für ihren sinnvollen, auch wissenschaftlich
anzugeben (Beispiel: D. des Begriffs «Uhr» durch Auf- exakten Gebrauch anzugeben.
zählung der Bestandteile und Funktionsbeschreibung G. FREGE, Begründer der logizistischen Sprachkritik,
des Räderwerks). Durch dieses genetische Verfahren versteht unter der D. die willkürliche sprachliche Abkür-
werde das Wesen der Sache erklärt. zung eines längeren Ausdrucks [49], erkennt also nur die
IV. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führt synthetische Nominal-D. an, bei welcher für ein vorhan-
KANTS kopernikanische Wende der Erkenntnistheorie
denes Definiens eine Kurzbezeichnung frei gewählt
auch zu einer Neubestimmung des Begriffs der D. [46] wird. Die im Prinzip willkürliche Entscheidung für ein
Ausgehend davon, daß die D. «den ausführlichen Be- bestimmtes Definiendum könne allerdings aus Erfah-
griff eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprünglich rungen und praktischen Beweggründen motiviert sein.
darstellen» soll, sieht Kant für sie nur noch einen schma- Aufgabe der D. sei es, eine «scharfe Begrenzung der
len Anwendungsbereich und stellt ihr drei neue Formen Begriffe» zu liefern [50], damit aus ihnen ein exaktes
der Inhaltsbestimmung gegenüber: Explikation, Exposi- System errichtet werden kann. W. DUBISLAV pointiert
tion und Deklaration. Nicht zu definieren, nur zu expli- dieses Verständnis, indem er D. als bloße «Substitutions-
zieren seien die empirischen Begriffe ; sie sind nicht «ur- vorschriften» für Zeichen innerhalb eines Kalküls auf-
sprünglich» (a priori), sondern erst a posteriori gegeben, faßt. [51]
und keiner von ihnen ist vollständig darstellbar. Zur
Explikation genüge es, jene Merkmale eines Gegen- Hat der logische Empirismus die Metaphysik, die er
standes aufzuzählen, die jeweils zu seiner Unterschei- für eine Art Sprachverwirrung hielt, mit einem - letztlich
dung notwendig sind. Die vermeintliche D. in diesem gescheiterten - Konzept logifizierten Sprachgebrauchs
Zusammenhang sei nur Wortbestimmung für die Be- zu überwinden versucht, so strebt die neuere sprachana-
zeichnung des Begriffs. Für undefinierbar hält Kant je- lytische Philosophie dasselbe Ziel durch Analyse der
doch auch die a priori gegebenen Begriffe (z.B. Ursa- Alltagssprache an. Die D. erhält die Aufgabe, den richti-
che, Recht). Möglich sei bei ihnen nur die Exposition, gen Gebrauch eines Wortes zu beschreiben: richtig im
die den Begriffsinhalt «vermutlich, niemals aber apodik- Sinn lexikalisch getreuer Wiedergabe erfahrbarer Wort-
tisch gewiß» angeben könne. Wenn nun für gegebene verwendungen, jedoch auch unter Gesichtspunkten der
Begriffe jeder Art die D., die bei ihnen analytisch zu Zweckmäßigkeit. Zweifel an der Idealvorstellung, wo-
verfahren hätte, nicht in Betracht kommt, so sind allen- nach eine D. «gleichzeitig kurz und erschöpfend» sein
falls konstruierte, d . h . synthetische Begriffe definierbar. müsse, hat der Wittgenstein-Schüler S. TOULMIN so for-
Auch insoweit soll die D. aber noch ausscheiden, wenn muliert: «Definitionen sind wie Hosengürtel. Je kürzer
«der Begriff auf empirischen Bedingungen beruht (z.B. sie sind, um so elastischer müssen sie s e i n . . . Eine kurze
eine Schiffsuhr)». Für den real herstellbaren Gegenstand Definition, die auf eine heterogene Sammlung von Bei-
soll die (der definitio genetica nachempfundene) Dekla- spielen angewandt wird, muß gedehnt und zusammenge-
ration möglich und ausreichend sein. Damit bleiben für zogen, qualifiziert und umgedeutet werden, bevor sie auf
die D. allein solche Begriffe übrig, die «eine willkürliche jeden Fall paßt.»[52] - An der definitio genetica inspi-
Synthese enthalten, welche a priori konstruiert werden riert ist die operationale D. Sie macht keine inhaltlichen
kann». D. gibt es demnach nur in der Mathematik; sie Angaben zur Sache oder zu einem Wortgebrauch, son-
sind dort jeder Untersuchung voranzustellen. In philo- dern definiert einen Begriff durch Beschreibung von
sophischen Untersuchungen hingegen könne die «abge- Verfahrensweisen, die ihm entsprechen. [53]
Zu einer besonderen Form der D. ist die Legal-D.

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Demotes Deinotes

geworden: dem Definiens als Phrase in einem Gesetzes- dem l . J h . v.Chr. gibt es eine besondere Assoziierung
text folgt in Klammern das Definiendum. Beispiel: «Die der Stilqualität <D.> mit DEMOSTHENES. Sie erreicht ihren
Anfechtung muß [...] ohne schuldhaftes Zögern (unver- H ö h e p u n k t in HERMOGENES' W e r k Περί ιδεών (Peri ide-
züglich) erfolgen [...]» [54] ôn), wo sie zur höchsten Stiltugend wird. Gleichzeitig
definiert Hermogenes sie jedoch neu als «angemessener
Anmerkungen: Gebrauch», was eine Rückkehr zur ursprünglichen Be-
1 J . D . G e r g o n n e : Essai sur la théorie d e s définitions, in: A n n . deutung Geschicklichkeit» darstellt. [2]
Math, pure et appi. 9 (1818/19) 23. - 2 1 . Kant: Kritik der reinen
Vernunft, h g . v . R . S c h m i d t ( N D . 1976) Β 757. - 3 P l a t o n , So- Anmerkungen:
phistes 2 1 8 c . - 4 H . M . Nobis: Art. <D.>, in: H W P h II, Sp. 31. - I E . Chantraine: Diet. Etym. de la Langue Grecque (Paris 1968)
5 Aristoteles, Topica 101 b 3 7 - 1 0 2 a 6 und 154a 2 9 - 1 5 4 b 5. - 256. - 2 L . Voit: Δ ε ι ν ό ς . Ein antiker Stilbegriff (1934). D i e
6 J . M . Bochenski: Formale Logik ( 3 1970) 42, 46. - 7 Aristote- Darstellung des Stichworts folgt weitgehend der Unters, von
les, Topica 103 b 1 5 - 1 6 . - 8 Q u i n t . V, 10, 54. - 9 e b d . V, 10, 55. Voit.
- 1 0 e b d . V, 10, 5 6 - 5 8 . - 1 1 ebd. V, 10, 54. - 1 2 F o r t u n . Rhet. I,
14, in: Rhet. Lat. min. 91. - 1 3 Q u i n t . V, 10, 55. - 1 4 e b d . - Β. I. D. in der attischen Redekunst. Bereits im späten
1 5 e b d . V, 10, 54. - 1 6 e b d . V, 10, 6 4 - 7 2 . - 1 7 e b d . VII, 3, 23. - 5. Jh. v.Chr. war D. eine Bezeichnung für rhetorisches
1 8 e b d . VII, 3, 23f. - 1 9 e b d . VII, 3, 23 und 25. - 2 0 e b d . VII, 3,
21. - 21 ebd. III, 6, 3. - 2 2 M . F u h r m a n n : D i e antike Rhet.
Können. Sie hatte allerdings zwei Seiten. Einige Rede-
(1984) 103. - 2 3 Q u i n t . III, 6 , 1 . - 2 4 e b d . , z . B . 66, 8 2 , 8 6 - 9 0 . - lehrer scheinen sich damit gebrüstet zu haben, das deinós
25 ebd. III, 6 , 2 9 - 5 5 und VII, 3. - 2 6 F o r t u n . [12] I, 26 p. 100. - légein zu beherrschen und diese Fähigkeit zu lehren.
2 7 C i e . Or. 1 4 , 4 5 . - 2 8 Q u i n t . III, 6 , 4 4 und 80 - 85. - 2 9 e b d . III, PLATON verwendet den Ausdruck z.B. im <Menon> für
6 , 5 , und 81; VII, 2, Iff. - 3 0 e b d . III, 6 , 5 ; III, 6 , 1 3 , und 81; VII, Gorgias. [1] Häufiger ist D. jedoch eine Eigenschaft, die
3, Iff. und 19. - 31 ebd. III, 6, 81 und 83; VII, 4, Iff. - 3 2 e b d . verurteilt wird, z.B., wenn ANTIPHON in einem seiner
VII, 3, 19. - 3 3 e b d . VII, 3, 1. - 3 4 e b d . III, 6, 41; VII, 3, 21f. - Proömien sagt: «Wenn ich etwas Richtiges sage, sollt ihr
3 5 e b d . VII, 3, 9. - 36Fortun. [12] I, 13 p. 91. - 37 Julius Victor es auf die άλήθεια (alétheia, Wahrheit) zurückführen und
V I , 2, in : Rhet. Lat. min. 398. - 38 Aristoteles, Topica V I , 5, nicht auf deinótes» [2]. Eine ähnlich negative Wertung
143a 15. - 3 9 I s i d . Etym. II, 29. - 40 Wilhelm von O c k h a m : liegt vor, wenn THUKYDIDES berichtet, Antiphon habe
S u m m a totius logicae I, 26. - 4 1 G . Galilei, Edizione nazionale den attischen Demos δια δόξαν δεινότητος (wegen der ihm
4, 631, 21ff. - 4 2 T . H o b b e s : Leviathan, dt. J. P. Mayer (1970)
nachgesagten Redekraft) gegen sich aufgebracht. [3]
cap. 4. - 4 3 d e r s . , D e corpore I, 1 und 6. - 4 4 G . W . Leibniz:
Philos. Sehr., hg. v. C. J. Gerhardt, Bd. 4 ( N D 1965) 422ff., 450;
Wie beide Aspekte im 4. Jh. fortlebten, zeigt sich an-
B d . 7 (1890; N D 1965) 292ff. - 4 5 C . Wolff: D t . Logik (1719) schaulich in ISOKRATES' <Antidosis», wenn er sich gegen
§ 41ff. - 4 6 Kant [2] Β 755ff. - 47 W. G . H a m i l t o n : D i e Logik der Lysimachos' Vorwurf verteidigt, daß seine D. dem Staat
D e b a t t e , h g . v . G. Roellecke ( 3 1978) 47. - 4 8 L . Wittgenstein: schade, seinen Anspruch auf D. jedoch nicht aufgibt. [4]
Tract, log.-phil. (1921) 6.53. - 4 9 G . Frege: Grundgesetze der DEMOSTHENES' D. kam 330 v. Chr. in Ktesiphons Prozeß
Arithmetik 1 (1893) 45. - 5 0 e b d . 2 (1903) 69. - 5 1 W . Dubislav: zur Sprache. [5] Die Angst der Redner in den atheni-
D i e D . ( 3 1931) 40. - 52 S. Toulmin: Voraussicht und Verstehen, schen Gerichtsverhandlungen, sie könnten als Männer
dt. E. Bubser (1968) 21. - 5 3 G . Gabriel: Art. <D., operationa- des deinós légein erscheinen, hängt vermutlich mit dem
le>, in: H W P h II, Sp. 43. - 5 4 § 121 B G B .
Gegensatz zusammen zwischen der angeblich in der atti-
schen Demokratie herrschenden ισηγορία (isëgoria, Re-
degleichheit) und der Praxis, in der sich die berufsmäßi-
Literaturhinweise :
gen Redner - Politiker oder Verfasser von Reden -
U . W e s e l : Rhet. Statuslehre und Gesetzesauslegung der römi-
schen Juristen (1967). - E. v. Savigny: Grundkurs im wiss. D e f i -
durchsetzen wollten bzw. mußten. [6]
nieren (1970). - A . J . Ayer: Language, Truth and Logic, dt. II. Technik der deinösis. Das <deinós légein> beschreibt
Sprache, Wahrheit und Logik, übers, v. H . Herring (1970). -
K . L o r e n z : E l e m e n t e der Sprachkritik (1970). - V . K n a p p :
zwar die rhetorische Technik, ist jedoch (zumindest an-
Einige Fragen der Legaldefinitionen, in: A R S P (1980) fänglich) kein rhetorischer Begriff. Der früheste rhetori-
511-533. sche Terminus, der mit deinós verwandt ist, ist deinösis
W. Gast ( = lat. indignatio). Dieses Substantiv ist vom Verb δεινόω
(deinoö: «schrecklich machen») abgeleitet und hat die
Argumentation —» B e d e u t u n g B e w e i s —» Causa —» D e f i n i - Bedeutung, zu übertreiben, um als Reaktion Schrecken
tio —> Descriptio —* Etymologie —> Figurenlehre —» Gerichtsre- oder Entrüstung hervorzurufen. [7] Oft bildet der Be-
de - » Logik —> Sprachgebrauch —» Statuslehre —» Topik griff mit dem entgegengesetzten έλεος (éleos, Mitleid) ein
Wortpaar [8], manchmal auch mit σχετλιασμός (schetlias-
mós, Entrüstung) [9]. Solche auf die Emotionen zie-
Deinotes (griech. δεινότης, deinótes; lat. vis, vehementia; lenden Effekte werden für den Epilog einer Rede emp-
dt. Redegewalt; engl, power of speech; frz. force du fohlen. [10] Die Verbindung zur αίίξησις (aùxësis, Aus-
discours; ital. forza/violenza del discorso) weitung) ist eng; die beiden Begriffe sind jedoch nicht
A . Das griechische Wort δεινός (deinós) hat zwei Be- identisch. [11] Spätere Autoren bringen sie besonders
deutungen: <furchtbar> und <geschickt>. Die erste ist mit Demosthenes in Verbindung. [12] Der rhetorische
wahrscheinlich die ältere. [1] Diese zwei Bedeutungen Begriff deinösis ist auf THRASYMACHOS VON CHALKEDON
entsprechen den zwei wichtigsten Verwendungen des zurückgeführt worden, den spätere Quellen als beson-
Begriffs in der Rhetorik. Zum einen kann δεινός (λέγειν) ders wichtig für die Entwicklung der rhetorischen Theo-
bzw. δεινάτης <redegewandt>, <Redefähigkeit> bedeuten; rie der Affekte darstellen. Diese Hypothese ist allerdings
dies ist wahrscheinlich die ursprüngliche Bedeutung. nicht wirklich zwingend. [13]
Zum anderen sind beide Wörter stilistische Begriffe für III. Theorie - Aspekte der D. I . D . als χαρακτήρ λέξεως
<gewaltig> bzw. <Kraft>. Dieser zweite Aspekt zeigt sich (charaktér léxeôs: Stilart) bei DEMETRIOS, <De elocutio-
auch im Substantiv δείνωσις (deinösis): <Übermaß, Über- ne>. Die D. ist hier der letzte von vier charaktéres (Stilar-
treibung>, vom Verb δεινόω (deinoö): vergrößern, über- ten), die Demetrios in <De Elocutione> erörtert. [14]
treiben, verschlimmern», das ursprünglich eine eigene Während die ersten drei als Weiterentwicklung der
Bedeutungsgeschichte durchmachte. Spätestens seit Theorie der drei Stilarten THEOPHRASTS angesehen wer-

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Deinotes Deinotes

den könnten, scheint die D. nicht in dieses System zu dieser Art von D. sind für ihn Isaios und Demosthenes,
passen ; wir können jedoch nichts Sicheres über ihre Her- der von Isaios beeinflußt war. [27] Besonders interessant
kunft sagen. [15] Eine Bemerkung (τήν νύν κατέχουσαν ist der Vergleich zwischen Demosthenes und Thukydi-
δεινότητα, die augenblicklich herrschende D.) deutet dar- des. Dionysios deutet an, daß Demosthenes den Stil
auf hin, daß Demetrios an einen mehr oder weniger vermieden habe, der υ ψ η λ ό ς , hypselós (erhaben), έ γ κ α -
zeitgenössischen Stil gedacht hat. [16] Die Analyse des τ ά σ κ ε υ ο ς , enkatáskeuos (kunstvoll) und έ ξ η λ λ α γ μ έ ν ο ς τ ο ϋ
Demetrios gliedert sich in folgende Abschnitte: Gegen- συνήθους (ungewöhnlich, außerordentlich) war, deren
stand [17]; Wortfügungsarten (kurze Satzglieder, gerun- Stärke jeweils die D. sei. Stattdessen habe er einen Kom-
dete Perioden, rauhe Fügung, eine Reihe von Redefigu- promiß zwischen Größe und Klarheit gesucht, so daß er
ren, die starke Emotionen hervorrufen, wie Paralepsis, die Wirkung der D. erzeugte, ohne die Klarheit zu op-
Aposiopese, Prosopopoiia, Anadiplosis, Anapher, Dia- fern. [28] Hier scheint die stilistische D. mehr mit der
lysis (= Asyndeton), Klimax) [18]; Diktion (die gleiche Zurschaustellung von Können zu tun zu haben als mit
ungewöhnliche Diktion wie bei der μεγαλοπρέπεια (mega- den Affekten. Die Verbindung zu Demosthenes finden
loprépeia, dem erhabenen Stil), jedoch nicht zum glei- wir auch bei P S E U D O - L O N G I N O S . [ 2 9 ]
chen Zweck), darunter weitere Figuren (die rhetorische 3. Entsprechungen in der römischen Zeit. CICERO cha-
Frage und die έπιμονή (epimoné, Verweilen, Verzöge- rakterisiert den demosthenischen Stil im <Orator> durch
rung) und zahlreiche Techniken, die an die Anspielung die Begriffe <vis> und <vehemens> sowie durch <acrimo-
grenzen, die der auf lebhafte Sprache spezialisierte atti- nia> und <atrocitas>. Diese Begriffe waren wahrscheinlich
sche Redner D E M A D E S im 4 . Jh. entwickelt hatte. [19] als Übersetzungen für <D.> gedacht. <Vis> erfaßt zu ei-
Auch die Technik der έμφασις (émphasis, Nachdruck) nem gewissen Grad beide Bedeutungsaspekte von <D.>:
bzw. des έσχηματισμένος λόγος (eschëmatisménos lògos) Kraft und Geschicklichkeit. [30]
sollte erwähnt werden, die recht ausführlich behandelt 4. Pseudo-Aristides und Hermogenes: Ideenlehre. In
wird. [20] Jedem der vier charaktéres ist ein entsprechen- P S E U D O - A R I S T I D E S ' Werk Περ'ι π ο λ ι τ ι κ ο ύ λ ό γ ο υ (Abfas-
der mangelhafter Stil zugeordnet. Im Fall der D. wird sungsdatum unbekannt, in HERMOGENES' <Peri ideon>
der entsprechende schlechte Stil als άχαρις (ácharis, un- jedoch vorausgesetzt) ist D. eine von sieben Stilqualitä-
fein, unangenehm) bezeichnet. [21] Das Wesen der D. ten. Sie wird durch π ρ ο δ ι ο ί κ η σ ι ς (prodioikësis) erzielt,
ist nach <De Elocutione> starke Emotion und Lebendig- d. h., indem man ein Argument so einsetzt, daß es sich im
keit. Nur was über die émphasis gesagt wird, läßt sich weiteren Verlauf positiv auswirkt, oder indem man
schwer in dieses Modell einfügen; aber die Überlegung, Schwierigkeiten im voraus aus dem Weg räumt. [31] Dio-
die wahrscheinlich dahintersteckt, ist die, daß die Auf- nysios bezeichnet dies als D. κ α τ ά εΰρεσιν (katá heúresin).
merksamkeit geweckt werden soll. Es ist eher die Ebene Die Stilqualitäten, die Dionysios in Verbindung mit D.
der Wirkung als die des Stils, auf der sich die D. des nennt, sind im System von Pseudo-Aristides durch die
Demetrios von der megaloprépeia unterscheidet. Die <Ideen> σ φ ο δ ρ ό τ η ς (sphodrótes, Heftigkeit) und manch-
häufigen Verweise auf Demosthenes (der in <De Elocu- mal β α ρ ύ τ η ς (barytes, Schwere) erfaßt.
t i o n s sonst nicht erwähnt wird) zeigen, daß dieser be-
reits zur Zeit der Abfassung des Textes mit der D. in In Hermogenes' <Peri idéôn (wahrscheinlich spätes
Verbindung gebracht wurde. Dieser Sachverhalt hat zu- 2. Jh. n. Chr.) ist D. eine von sieben Hauptideen und ihre
weilen zu der Vermutung Anlaß gegeben, <De Elocutio- gängige Bedeutung ist: «korrekte Verwendung». [32] Sie
ne> sei in das 1. Jh. v. Chr. zu datieren. Aber eine solche bezieht sich vor allem auf den Stil. Die D. von Hermoge-
Verbindung könnte auch früher entstanden sein, so daß nes hat jedoch auch mit inventio und dispositio zu tun. Es
wir eine späte alexandrinische Datierung für die Abfas- besteht eine enge Verbindung mit Demosthenes. Der
sung der Abhandlung aus diesem Grund nicht ausschlie- Begriff entspricht eindeutig dem π ρ έ π ο ν (prépon, Ange-
ßen können. [22] messenheit) der früheren rhetorischen Theorie und führt
einen bestimmten Aspekt von ihr fort, nämlich die Über-
2. Dionysios von Halikarnassos. DIONYSIOS scheint legung, daß angemessener Gebrauch etwas außeror-
den Begriff <D.> in einem weitgefaßten Sinne, mit zwei dentlich Subtiles ist, das über das hinausgeht, was an-
Schwerpunkten, verwendet zu haben. Einer davon ist hand strenger Regeln vermittelbar ist. In Buch 2, Kap. 9
«rhetorisches Können». So weist LYSIAS D. in der inveri- unterscheidet Hermogenes drei Arten von D. nach dem
no auf. [23] D. kann entweder sichtbar oder versteckt Gesichtspunkt, ob die Eigenschaft versteckt, sichtbar
auftreten. Man vergleiche Lysias, der κ α ι έν α ϋ τ ώ τ ώ ¡¿ή oder nur scheinbar vorhanden ist: Sichtbare D. ( ή δ ε ι ν ό τ η ς
δοκεϊν δ ε ι ν ώ ς κ α τ ε σ κ ε υ ά σ - S a i ~'ο δ ε ι ν ό ν ε χ ε ι (gerade indem er ούσα κ α ι φ α ι ν ό μ ε ν η ) heißt, die Fähigkeit wird zur Schau
scheinbar ohne Können argumentierte, gekonnt sprach) gestellt und ist tatsächlich vorhanden. Diese Art von D.
mit ISAIOS, von dem es heißt: κ α τ ε σ κ ε ύ α σ τ α ι τ ό δοκούν ε ί ν α ι findet man in den politischen Reden von Demosthe-
ά φ ε λ έ ς κ α ι ού λ έ λ η - 5 ε ν ό τ ι έ σ τ ι ρ η τ ο ρ ι κ ό ν (Der Eindruck der nes. [ 3 3 ] Versteckte D. ( ή ούσα δ ε ι ν ό τ η ς ) ist die subtile,
Schlichtheit wurde erzeugt, und es wurde nicht verbor- trügerische rhetorische Technik, die ihr Vorhandensein
gen, daß dies rhetorisch ist). [24] Daneben verwendet verbirgt; sie ist typisch für Lysias. [34] Die nur scheinbare
Dionysios den Begriff D. auch im engeren Sinne in bezug D. ( ή φ α ι ν ο μ έ ν η δ ε ι ν ό τ η ς ) ist der Anschein von Können
auf die Affekte, vor allem im stilistischen Zusammen- ohne reale Grundlage. Diese Art von D. findet man bei
hang. Dies wird an Thukydides [25] besonders deutlich, den Sophisten, z.B. bei Gorgias. [35] Den Anstoß zu
als Dionysios Beispiele für drei Gruppen von έ π ι - 5 ε τ α ί diesen drei Arten von D. gab wohl bereits Dionysios.
ά ρ ε τ α ί aufzählt, wobei er folgendes der zweiten Gruppe Wie für Dionysios ist Lysias auch für Hermogenes ein
zuordnet: τ ό ν ο ς , β ά ρ ο ς , π ά δ ο ς , π ν ε ύ μ α έξ ώ ν ή κ α λ ο ύ μ ε ν η δει- Redner, dessen D. verborgen bleibt. Dionysios scheint
ν ό τ η ς (Spannung, Gewicht, Gefühl, Atem aus denen die aber anzudeuten, daß Demosthenes vor allem den An-
sog. Kraft entsteht). Diese Stelle legt nahe, daß die D. schein von D. suchte. Damit widerspricht er Hermoge-
für Dionysios keine wahre ά ρ ε τ ή λ έ ξ ε ω ς , aretê léxeôs nes, nach dessen Ansicht Demosthenes Anschein und
(Stilqualität) war; er scheint sie vielmehr nur als populä- Wirklichkeit vereinte. Die Autoren, die für Hermogenes
ren Ausdruck angesehen zu haben. Daraus läßt sich Meister der drei verschiedenen Arten von D. sind, ent-
Demetrios' Auffassung von D. ableiten. [26] Die Meister sprechen den Erfordernissen der drei traditionellen Re-

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Deinotes Deinotes

degattungen Gerichtsrede (politische), Beratungsrede Anmerkungen:


und Lob- (bzw. Tadel-)Rede. Meister der ersten Art ist 1 Piaton, Menon95c. - 2 Antiphon5,5. -3Thukydides 8, 68,1;
Lysias, dessen Begabungen den Anforderungen der Ge- übers, von G. P. Landmann: Thukydides, Gesch. des Pelopon-
richtsrhetorik vollkommen entsprechen; Meister der nesischen Krieges, Bd. 2 (1973) 631; vgl. ebd. 3, 37, 5 und
Piaton, Apologie 1 7 A - B . - 4 Antidosis 16, 33, 230 - 5 Aischi-
zweiten Form von D. ist Demosthenes, besonders in nes 3, 174: δεινός λέγειν, κακός βιώναι; Demosthenes 18, 277: τήν
seinen politischen Reden; der Meister der dritten Form έμήν δεινότητα. - 6 Vgl. J. Ober: Mass and Elite in Democratic
ist Gorgias, dessen Talente im Bereich der Epideiktik Athens: Rhetoric, Ideology and the Power of the People (Prin-
lagen. Hermogenes gelingt es mit seiner Unterscheidung ceton 1989). - 7L. Voit: Δεινότης. Ein antiker Stilbegriff (Leip-
von versteckter und sichtbarer D . , die Hauptgattungen zig 1934) 122ff. - 8 P l a t . Phaidr. 272a 1, Arist. Rhet. 1417a 13. -
der politischen Rede auf eine neue Weise herzuleiten. 9Arist. Rhet. 1395a 1, 1395a 8. - 10Arist. Rhet. 1419b 26;
Während er Demosthenes' Stil erörtert, kündigt Hermo- Apsines 384,11; 406, 5. - 1 1 Voit kritisiert zu Recht die Ansicht
genes in <Peri ideon> mehrmals ein Werk namens Περί von J. Smereka («De Dinosi», Eos 30 (1927) 227ff., ebd. 31
όεινότητος oder Περί μεθόδου όεινότητος an. Damit meint er (1928) 87ff.), die zwei seien identisch. - 12Ps.-Longinus 12, 5;
Quint. VI, 2, 24. -13vgl. Voit [7] 122ff.; E. Schwartz: De Thra-
weder den Text in Kap. 2.9 noch die 5. Abhandlung im symacho Chalcedönio (1892); Thrasymachos und die Theorie
<Corpus Hermogenicum>, die, auch wenn sie Περί με-Sòàou der Affekte: Quint. III, 1,12; Plat. Phaidr. 267c, Arist. Rhet. 3,
δεινότατος heißt, offenbar nicht die von Hermogenes zum 1, 1404a 13. - 14Demetrius, De Elocutione 240ff. - 1 5 G. Mor-
Thema angekündigte Monographie ist. [36] purgo-Tagliabue: De Elocutione («II χαρακτηρ δεινός di Deme-
5. Zur Deutung der Stilqualität von D. Voit sprach trio e la sua Datazione», Rendiconti dell' Accademia di archeo-
logia, lettere e belle arti di Napoli 54 (1979) 281ff.); F. Solmsen:
sich dafür aus, deinós als einen Begriff zu verstehen, der Demetrius, περί ερμηνείας und sein peripatetisches Quellenmate-
die praktische Beredsamkeit im Gegensatz zur <nicht- rial, in: Hermes 66 (1931) 264ff. - 16De Elocutione 245. -
praktischen> Beredsamkeit (z.B. Panegyrik oder 17ebd. 240. - 18ebd. 241-71. - 19ebd. 272-86. - 20ebd.
Schreibstil) bezeichnet. Dies ist eine wichtige Differen- 287-298. - 21 ebd. 302. - 22vgl. Morpurgo-Tagliabue [15], -
zierung, die man zu allen Zeiten in der Rhetorik findet, 23Dionysios, Lysias 15, in: H. Usener und L. Radermacher
z.B. in ALKIDAMAS' Περί των σοφιστών (Über die Sophi- (Hg.): Dionysii Halicarnassi Opera (1899) 1.25.21. - 24Diony-
sten) [37], in ARISTOTELES' Unterscheidung zwischen λέ- sios, Lysias 8, in: Usener, Radermacher [23] 1.16; Dionysios,
ξις αγωνιστική (léxis agônistiké, Debattenstil) und λέξις Isaios 7, in: Usener, Radermacher [23] 100.13. - 25Dionysios,
γραφική (léxis graphiké, Stil der schriftlichen Darstel- Thukydides 23, in: Usener, Radermacher [23] 1.360.9ff.; Voit
[7], 40. - 2 6 Voit [7], 39. -27Dionysios, Isaios 3.20., in: Usener,
lung) [38], im traditionellen Vergleich zwischen Demos- Radermacher [23] 1.95.11 und 1.113.24; Dionysios, Peri tés
thenes und Isokrates bei KLEOCHARES VON MYRLEA Demosthénous léxeôs 56, in: Usener, Radermacher [23]
(3.Jh. v.Chr.) sowie bei Dionysios von Halikarnas- 1.250.3 - 4 . - 2 8 D e m . Lex. 10, 149, 3ff. - 29Ps.-Long. De subi.
sos. [39] Voit hat im großen und ganzen recht, wenn er 12, 4; 34, 4. - 30Morpurgo-Tagliabue [15], 288; F. Nassau: Äs-
D. als Symbol für die praktische Seite dieses Gegensatz- thetisch-rhet. Beziehungen zwischen Dionysios von Halicamass
paares ansieht, jedenfalls dann, wenn wir den Begriff mit und Cicero (1910) 141ff.; P. Geigenmüller: Quaestiones Diony-
rhetorischem Können verbinden. Aufgabe der deinösis siacae de Vocabulis Artis Criticae (1908) 68. - 31 Kap. 124ff.,
ist die Fähigkeit des Redners, bei den Zuhörern Entrü- in: W. Schmid (Hg.): Aristidis qui feruntur libri Rhetorici 2
(1926) 48.19ff. - 32Hermog. Id. 368, 23ff.; vgl. D.Hagedorn:
stung hervorzurufen; stilistische D . ist hauptsächlich die Zur Ideenlehre des Hermogenes, Hypomnemata 8 (1964) 33ff. -
sprachliche Qualität, die mit dieser Wirkung einhergeht. 33 373, 8ff. - 34 376,5ff. - 35 377, lOff. - 36 vgl. E. Bürgi : «Ist die
Gleichzeitig wird der Begriff manchmal außerhalb des dem Hermogenes zugeschriebene Schrift περί μεθόδου δεινότατος
rein rhetorischen Rahmens verwendet. So findet Deme- echt?», Wiener Stud. ZS für klassische Philol. 48 (1930) 187ff.;
trios, wie wir gesehen haben, D. in der <nicht-prakti- Hagedorn [32] 84ff. - 3 7 Alkidamas in L. Radermacher: Artium
schen> Literatur, wie z . B . bei Piaton und Timaios; und Scriptores (Wien 1951) 135ff.; vgl. den Ausdruck λέγειν δεινός in
Dionysios deutet an, daß Demosthenes nur den An- Kap.6. -38Arist. Rhet.3, 12, 1; übers, v. F.G.Sieveke: Ari-
schein von D. suchte, während tatsächliche D. beiThu- stoteles, Rhetorik (1980) 199. - 39Kleochares von Myrlea,
kydides zu finden war. Photios, Bibliotheca 121b 9ff.; Voit [7], 105; Dionysios. -
40 vgl. G.Kustas: Studies in Byzantine Rhetoric (Thessaloniki
IV. Zur Geschichte des Begriffs in der nachklassischen 1973) 92-93. - 41z.B. zu Ilias 5, 633ff.; vgl. M. van der Valk
Zeit. Spätere Autoren behalten zur Bezeichnung der (Hg.): Eustathii commentarli ad Homeri Iliadem pertinents
(Leiden 1971) II. 164.7. - 42 ebd. - 43 T. Metochites und
<Redegewalt> lediglich die früheren Kategorien bei, be- N. Choumas in: Rhet. Graec. W. Bd. VIII; vgl. I. Sevcenko:
sonders in der Formulierung von Hermogenes. JOHANN Études sur la polémique entre Théodore Métochite et Nicé-
ITALOS (11.Jh. n.Chr.) findet Beispiele hermogenei- phore Choumnas (Brüssel 1962) 55. - 44gravitas bei J.C. Scali-
scher D. bei den Kirchenvätern [ 4 0 ] ; EUSTATHIUS findet ger: Libri Poetices Septem (157Í). J. Sturm bevorzugte in seiner
D . vereinzelt bei Homer[41]; GREGOR VON KORINTH einflußreichen Edition und Übersetzung von 1571 den Begriff
(12. Jh. n. Chr.?) schreibt einen Kommentar zu Pseudo- decorum; vgl. J. Sturm: Hermogenis ars rhetorica [...] (1571);
Hermogenes: Περί μεθόδου δεινότητος. Zur Erklärung der vgl. A. Patterson: Hermogenes and the Renaissance (Princeton
Autorschaft bei diesem Werk stellt er die Hypothese 1970)179.
auf, Hermogenes habe bei der Abfassung des Textes
selbst versteckte D . eingesetzt. [ 4 2 ] In THEODOROS M E - I. Rutherford!L. G.
TOCHITES' <Kritischer Abhandlung über Demosthenes
und Aristeides> (14. Jh.) wird Demosthenes als Beispiel Literaturhinweise:
für D . präsentiert, während Aelius Aristeides als Bei- R. Volkmann: Rhet. der Griechen und Römer (21885; ND
spiel für αφέλεια (aphéleia, Schlichtheit) genannt wird. 1963). - J. Martin: Antike Rhet. (1974)
Der Begriff D. spielte auch im literarischen Streit zwi-
schen Theodoros Metochites und NIKOLAUS CHOUMAS —» Actio —» Affektenlehre —> Angemessenheit —> Anmut —» Ars
eine Rolle. [43] Autoren der Renaissance übersetzten —» Beredsamkeit —- Decorum —> Elocutio —» Erhabene, das —»
<D.> in der Regel mit <gravitas> (Bedeutsamkeit, Wür- Leidenschaften —s· Pathos —> Rednerideal —» Stillehre —»
de) oder dem entsprechenden volkssprachlichen Aus- Stimme —> Wirkung
druck. [44]

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Dekadenz Dekadenz

Dekadenz (griech. φδορά, phthorá; lat. degenerado, incli- 37000km 2 , am Ende des 1. Jh. n.Chr. 237000km 2 [5] -
nado; engl, decline, decay; frz. décadence, dégénéres- eine proportional zur Größe wachsende Regierungs-
cence, vieillesse, chute; ital. decadenza) schwäche. 2) Die Interpretation selbst wird durch zeitge-
A. Die Geschichte des Wortes décadence läßt sich bis nössische Geschichtskonzeptionen strukturiert. Im Rah-
ins 17. Jh. zurückverfolgen. Französische Wörterbücher men eines kosmologischen oder vegetabilen Zyklusmo-
wie NICOTS <Thrésor de la langue française (Paris 1 6 0 6 ) dells relativiert sich D. als Phase notwendigen Abster-
überliefern das Wort in der Bedeutung von <ruine>, bezo- bens vor erneutem Wachstum. Das Urteil steten Verfalls
gen auf den Verfall von Häusern und Sachen. B O U H O U R S der Menschheitsgeschichte fällt erstmals H E S I O D (8. Jh.
<Remarques nouvelles sur la langue française* (Paris v.Chr.); seine Lehre von der Abfolge des Goldenen,
1675) dehnt das Bedeutungsfeld auf den Untergang von Silbernen, Bronzenen und Eisernen Zeitalters, wie sie
Weltreichen aus: «un empire qui tombe en décadence». die Dichter O V I D , V E R G I L , H O R A Z , T I B U L L tradieren,
FUETIERS <Dictionaire universel) von 1 6 9 0 definiert das büßt ihre Geltungsmacht erst in der Renaissance ein.
Wort im modernen Sinn von allgemeinem Verfall und Noch unausweichlicher erscheint die Todesnähe der D.
Niedergang; hier taucht auch der Komplementärbegriff in irreversibel linearen Geschichtskonzeptionen wie den
<Fortschritt> (progrès, avancement, profit) erstmals in Lebensaltermodellen oder den christlich-eschatologi-
seiner heutigen Bedeutung auf. schen Deutungen (Apokalypse des Johannes, Buch Da-
Begriff. Die an historisch variable Normen gebunde- niel). Mit der Abdankung der Fortschrittsideologie und
ne, stets moralisch wertende Diagnose des Verfalls, die der gesteuerten Rückentwicklung der Dritten Welt im
das Wort D. überliefert, beruht wie der Komplementär- 20. Jh. hat auch die Diagnose der D. an Gewicht verlo-
begriff <Fortschritt> auf dem modernen dynamischen Ge- ren. «Y a-t-il place encore pour une forme de décadence
schichtsverständnis. Die beiden relationalen Kategorien dans un <Futur sans Avénir>?» (Gibt es noch Raum für
- «La croissance avance sur des champs de ruines» (Der eine Form der D. in einer <Zukunft ohne Aussich-
Fortschritt kommt über Ruinenfelder.) [1] - interpretie- ten?>) [6] 3) Akzentuiert wird die Zeiterfahrung bzw.
ren die Historie. Deshalb ist der geschichtsphilosophi- -deutung der D. durch das jeweils aktuelle Krisenbe-
sche Diskurs der D. grundsätzlich metaphorisch. Die im wußtsein und den dadurch ideologisch leicht manipulier-
weitesten Sinne biologischen, im engeren Sinne medizi- baren Erwartungsdruck. Das Krisenbewußtsein kann
nischen Bilder verraten, daß im Sprechen über D. ein pathologische (hysterische) Züge tragen. Fundamenta-
verdrängtes Sprechen über Alter, Krankheit, Tod statt- ler hat F R E U D es in seiner - allerdings umstrittenen -
hat. Nur in reichen, nicht akut bedrohten Gesellschaften Schrift <Jenseits des Lustprinzips> (1920) als konfligie-
kann sich folglich das Denkmodell der D. festigen, nur rendes Nebeneinander von Lebens- und Todestrieben zu
auf solche kann es sich beziehen : «Vieillir est un privilège charakterisieren versucht. Auch der Todestrieb ist Aus-
des riches» (Altern ist ein Privileg der Reichen.) [2] druck der konservativen Natur des Lebenden; im Ziel,
dem Tod, bewahrt er den Ursprung des Lebens. [7]
Der Status des Begriffes D. ist vor allem wegen seines
unausgesprochenen Projektionscharakters prekär. Auf D. als rhetorisch-ästhetische Kategorie. Der Diskurs
der einen Seite objektiviert sich subjektive Enttäu- der D. interpretiert Geschichte, hat folglich gleicherma-
schungserfahrung im Verdikt der D. vorschnell zu histo- ßen geschichtsphilosophische wie rhetorische Kompo-
rischem Urteil. Andererseits ist diese Projektion ideolo- nenten und arbeitet mit ästhetischen Kategorien
gisch gefärbt, wenn sie auch nicht an eine bestimmte (Gleichmaß, Symmetrie etc.). D a ß der Verfall der Spra-
Gruppenzugehörigkeit gebunden ist; sie dient <konser- che sogar ein besonders deutliches Indiz für den Nieder-
vativen> wie <progressiven> Kräften. Den Historiker irri- gang der Sitten sei, davon gingen die Versuche der Re-
tiert neben der zu beobachtenden Ungleichzeitigkeit von naissance zur Erneuerung der lateinischen Sprache aus.
Selbst- und Fremdwahrnehmung der betroffenen Epo- L. V A L L A schrieb in seinen <Elegantiae> (1435—44): «Al-
chen vor allem die Unverträglichkeit der an den moder- le Studien und Disziplinen blühen, wenn die Sprache in
nen Zeitbegriff gebundenen Kategorie mit früheren Blüte steht, und sie verfallen, wenn die Sprache ver-
Deutungen. «La décadence ne vient pas de la phtorá fällt». [8] E r konnte sich auf den Topos der corrupta
antique» (Die Dekadenz kommt nicht von der antiken eloquentia beziehen, den P E T R O N I U S , S E N E C A und T A C I -
Vorstellung des Untergangs [phthorá]). [3] Der Vorgang TUS im Rückgriff auf die Kritik des Asianismus durch
der Rückprojektion leistet der Fehldeutung einer konti- CICERO im 1. Jh. n.Chr. geprägt hatten. In dieser Zeit
nuierlichen Entwicklung des Phänomens und seiner Er- muß auch die L O N G I N U S einst zugeschriebene Abhand-
klärung Vorschub. lung <Vom Erhabenen* entstanden sein, die N. B O I L E A U -
D E S P R E A U X Ende des 17. Jh. entdeckte, übersetzte und
Die historisch wechselnden Niedergangsparadigmen
kommentierte: <Réflections sur quelques passages du
weisen idealtypisch drei übereinandergelagerte Schich-
Rhéteur Longin> (1693). Pseudo-Longins Argumenta-
ten auf. 1) Der Interpretation vorgelagert ist die Beob-
tion diente den französischen Klassizisten in der einset-
achtung des drohenden Gleichgewichtsverlustes, der
zenden <Querelle des anciens et des modernes* als Auto-
möglichen Selbstzerstörung eines natürlichen Systems.
rität; großen Einfluß übte die Schrift ebenfalls auf die
Die moderne Physik bezeichnet diesen Vorgang als En-
engl. Dichter D R Y D E N , M U L G R A V E und P O P E aus. Für
tropie. Auf dem sozialgeschichtlichen Feld lassen sich
Longin sind das Kindische (Kap. 3.4), die Scheinraserei
Gleichgewichtsstörungen annähernd neutral mit demo-
(Kap. 3.5) und der Schwulst (Kap. 3.3) Indikatoren für
graphischen Meßdaten erfassen. Die Degradierung der
das Scheitern einer erhabenen Rhetorik: «Aber wie
alten Kulturzentren in Südwestasien, Mesopotamien,
beim Körper, so sind im Sprachlichen gedunsene und
Arabien zur Peripherie Europas ist z. B. an der Verringe-
künstliche Schwellungen häßlich und führen uns zweifel-
rung der Bevölkerung von 52Mio. (200 v.Chr.) über
los zu ihrem Gegenteil; nichts, heißt es, ist dürrer als der
41 Mio. (500 n.Chr.) auf 19Mio. (1400 n.Chr.) ables-
Mann mit Wassersucht.» [9] In Kapitel44 konfrontiert
bar [4], mit der Zahl ihrer Träger verfällt auch die kultu-
Longin seine eigene Begründung der D., die in der
relle Tradition. Umgekehrt verrät unmäßige territoriale
schlechten Natur des Menschen liege, mit der «eines
Expansion eines Staates - das Römische Reich umfaßte
Philosophen»: früher habe das mit Ehrgeiz geführte
264 v.Chr. 27000km 2 , nach dem 2.Punischen Krieg

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Dekadenz Dekadenz

Streitgespräch die Argumentation geschliffen, «wir Jet- donien fallen müsse. In Anlehnung an PLATONS Theorie
zigen aber sind doch schon in der Kindheit in die Schule der Aufeinanderfolge von Aristokratie-Oligarchie-De-
der gerechten Despotie gegangen». [10] Die Klage dar- mokratie-Tyrannis konzipierte er das Modell der άνα-
über, daß die Rhetorik zur Panegyrik degeneriere, wenn κύκλωσις (anakyklösis) (Buch VI.3—10), ein zyklisches
ihr das Fundament republikanischer Freiheit entzogen Schema sozialer Organisation, das keine Entwicklung,
werde, führte bereits THUKYDIDES in seiner Beschrei- nur den naturgesetzlichen Wechsel zweier Zustände
bung der Pathologie des Krieges. Er erkannte die Preis- kennt: Zunächst zivilisieren sich barbarische Völker. Ih-
gabe der Ordnungs- und Wertvorstellungen der Polis re Nachkommen wachsen bereits im Luxus auf und füh-
nach dem Peloponnesischen Krieg an den hohlen, von ren ein zugleich laszives und gewaltsames Leben, das
Machtgier zeugenden Propagandaformeln. Im l . J h . wieder in Barbarei umschlägt. In der Spätantike konkur-
n. Chr. wurde die Rhetorik von der politischen Bühne ins rieren mehrere D.-Konzeptionen miteinander. Neben
ästhetische Abseits der Schulen und Theater gedrängt; teils christlicher, teils paganer Apologetik greifen die
die Kaiserviten des 3./4. Jh. zeigen, wie weit sich Monu- Zeitgenossen der römischen Krise im 3.—6. Jh. n.Chr.
mentalstil und Fiktionalisierung treiben ließen. Das Ar- auf Lebensalter-Modelle (Roma senescens, das alternde
gument vom Verfall der Redekunst unter despotischer Rom; senectus mundi, das hohe Alter der Welt) oder -
Herrschaft greift J . J . R O U S S E A U ( 1 7 1 2 — 1 7 7 8 ) im d i s - wie AMBROSIUS (nach 3 7 8 ) , SULPICIUS SEVERUS (nach
cours de l'Inégalité>, speziell der <Prosopopoie des Fabri- 4 0 0 ) und HIERONYMUS (nach 4 1 0 ) - auf apokalyptische
cius> wieder auf, wendet es allerdings zur allgemeinen Weltuntergangsvisionen zurück. Die Kirchenväter SAL-
Kritik an der bloß instrumenteilen Verbesserung der VIANUS, O R O S I U S und auch A U G U S T I N U S [ 1 3 ] sehen in der
Sprache (Schriftlichkeit, abstrakte Termini), die ihrer Plünderung der Stadt Rom durch die Germanen eine
originären Mitteilungsfähigkeit und Ausdruckskraft gerechte Strafe für Sünde und Sittenverfall. Augustinus
schadet. Im Spannungsfeld einer despotischen Indienst- differenziert seine D.-Schilderung je nach Adressaten-
nahme der Rhetorik und ihrer ästhetischen Normierung kreis: gegen die Heiden gewandt, schreibt er der eigenen
einerseits, ihrem Freiheitsdrang und der Herauslösung Zeit keine größeren Übel zu als der früheren ; die Chri-
aus praktisch-politischen Zusammenhängen anderer- sten hingegen ermahnt er in der Ära großer Prüfungen,
seits prägt sich als Kriterium für den Niedergang der wie sie das Krankheitsstadium der Welt vor ihrem Unter-
Sprache das Auseinanderbrechen von Inhalt und Form, gang im Feuer mit sich bringe, zu größter Glaubensfe-
Gehalt und Stil der Rede aus. Hier liegt die (Un-)Mög- stigkeit. [14]
lichkeit der ästhetischen <Umwertung> der D. im 19. Jh.
begründet. Im Mittelalter verlieren die spätantiken D.-Modelle an
Bedeutung. Es dominiert die Theorie der translatio im-
Das Modell Rom. Nahezu alle D.-Konzeptionen neh- perii·, das Erbe des Imperiums machen das oströmische
men auf den Untergang des Römischen Reiches Bezug: Reich, das Papsttum und seit 800 das Deutsche Reich
«Il n'y a jamais qu'une Rome et l'unique décadence est einander streitig. Das mittelalterliche Geschichtsver-
romaine.» (Es gibt immer nur ein Rom und die einzige ständnis synchronisiert Vergangenheit und Zukunft zu
Dekadenz ist römisch.) [11] Bis zur Spätrenaissance wer- Dimensionen eines ewigen göttlichen Systems. Die Un-
den die D.-Paradigmen allerdings von einer Rom-Idee beständigkeit alles Irdischen beklagen das <Chronicon>
(Roma aeterna, imperium sine fine (Ewiges Rom, Reich des O T T O VON FREISING und NITHART in den <Historiarum
ohne Ende)) ideologisch balanciert, wie sie V E R G I L , A M - libri IV>. Der Mensch sei immer selbst Ursache des Nie-
MIAN, A U S O N I U S , SYMMACHUS und D A N T E überliefern. dergangs, «nihil novum sub sole» (nichts Neues unter der
Ende des 17. Jh. übernehmen die <Fortschritts>-Konzep- Sonne), dekretiert PETRUS A L A R I U S im <Liber Gestorum
tionen diese Funktion. Der Fall Roms gilt mit der Erobe- in Lombardia>. In der Tradition griechischer Epigramm-
rung durch ALARICH 4 1 0 n.Chr. als besiegelt; je nach dichtung (<Anthologia Graeca> mit Elegien auf die
Perspektive werden die Regierungszeiten so exaltierter Trümmer von Mykene, Troja etc.) präludiert A L K U I N
und grausamer Herrscher wie G A I U S ( C A L I G U L A ) um 800 die poetische Ruinenromantik: «Roma caput
( 3 7 - 4 1 ) , N E R O ( 5 4 - 6 8 ; 6 4 Brand Roms) und ELAGABAL mundi, mundi decus, aurea R o m a / nunc remanet tantum
(218—222) als Zeichen der D. gewertet. Deutlicher Aus- saeva ruina tibi» (Rom, das Haupt der Welt, ihre Zier,
druck der Reichskrise im 3. Jh. sind die rasche Abfolge das goldene Rom bleibt hier nun als furchtbare Ruine
der sogenannten Soldatenkaiser (22 Kaiser in 50 Jahren übrig). [15]
zwischen 235—285) und die Einrichtung des Mehrkaiser-
Zu Beginn der Neuzeit schwindet die Legitimations-
tums 293. Als Gründe des Niedergangs und somit Er-
kraft der Kontinuitätstheorie durch die Eroberung Kon-
scheinungsformen der D. werden genannt: die Wand-
stantinopels 1453, durch den Machtverlust des Papst-
lung der Aristokratie zurTyrannis, die wachsende Macht
tums und die Reformation sowie das Versagen des rö-
des zunehmend disziplinlosen und von Söldnern durch-
misch-deutschen Kaisertums gegenüber den Landesfür-
setzten Heeres, die Vorherrschaft der Provinzen, soziale
sten. Der Nachweis der Diskontinuität, in der neuen
Umschichtungen («humiles sublimitate, sublimes humi-
historischen Periodisierung: Antike-Mittelalter-Neuzeit
litate mutantur»; die Niedrigen verändern sich zur Höhe,
zum Ausdruck gebracht, legitimiert nun historische
die Hohen zur Niedrigkeit) [12], schlechte Ertragslage
Spiegelungen. PETRARCA, V A L L A , B R U N I , MACHIAVELLI
der Landwirtschaft, Ruin der Finanzen durch Ver-
feiern Roms republikanische Frühzeit, während sich
schwendung, physische Degeneration (abnehmende Le-
wenig später die barocken Fürsten mit den römischen
benserwartung, sinkende Geburtenrate), religiöse und
Caesaren identifizieren werden. Den Humanisten er-
moralische Krisen (Verweichlichung durch Luxus).
scheint die Spätantike als dekadente Phase, in der sich
B . I . Das erste D.-Modell entstand bereits, als Rom
die ideale Welt, die sie verehren, in eben jene reale (das
zur Weltmacht aufstieg. Der Grieche POLYBIOS (ca.
finstere Mittelalter) verwandelt, die es zu überwinden
210-120 v.Chr.), von 166-150 v.Chr. als Geisel in
gilt. D e m Impuls, aus Geschichte zu lernen, um Kata-
Rom, vertrat in seinen <Historien> die Ansicht, daß Al-
strophen zu vermeiden, entsprechen die zyklischen D.-
tern und Zugrundegehen ein für alle Staaten unaus-
Modelle von B R U N I (<Historiam Florentini populi libri
weichlicher Prozeß sei, Rom also wie Persien und Make-
XII>), MACHIAVELLI (<Discorsi>, <11 Principo) und P A R U -

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Dekadenz Dekadenz

τι («Discorsi politici sopra diversi fatti illustri et memo- Korruption der menschlichen Seele durch die Zwänge
rabili)). Stärker noch als die katholischen Gelehrten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation begründet
bleiben die Reformatoren den christlich-mittelalterli- sieht, begreift die Regression in die Barbarei wie Vico als
chen Erklärungen der D. verhaftet, wie CASPAR CRUCI- zyklisch notwendiges Remedium für moderne dekaden-
GER in MELANCHTHONS <Quaestiones Academicae> [16] te Gesellschaften. Damit propagiert er ein zivilisations-
bestätigt: Gott strafe und warne aus Güte durch den kritisches D.-Modell, das den Historismus des 19. Jh.
Sturz großer Reiche. Gleichzeitig avancieren die römi- überdauert und in der irrationalistischen Philosophie der
schen Ruinen zum eigenwertigen Gegenstand der Male- Jahrhundertwende wieder zur Geltung kommt.
rei; bekannt ist POUSSINS <Verfall des römischen Rei- Im 19. und frühen 20. Jh. dringt der Begriff der D. ins
ches> von 1661 (später <Der Morgen> genannt). System einer politischen Rhetorik ein, die sich dem dar-
Der Kampf gegen den Absolutismus begünstigt im winistischen Prinzip des (Survival of the fittest» andient,
18. Jh. bei den englischen und französischen Aufklärern und überlagert den geschichtswissenschaftlichen Deu-
die Bereitschaft, sich in den römisch-germanischen Aus- tungsanspruch des (Modells Rom>. Mitte des 19. Jh. er-
einandersetzungen mit den Siegern zu identifizieren. In wacht das medizinische Interesse an mentalen Verfalls-
England tritt Nationalstolz (Germanenabstammung) erscheinungen; von B . H . M O R E L erscheint 1857 (Traité
hinzu. Der aristokratische Gesinnungsrepublikaner des dégénérescences physiques, intellectuels et morales
MONTESQUIEU (1689—1755) veröffentlicht 1734 das be- de l'espèce humaine», von J . M O R E A U 1859 (La Psycholo-
deutendste Werk der Aufklärungsliteratur zu diesem gie morbide». Μ. NORDAU nutzt deren Ergebnisse 1894 in
Thema: die (Considérations sur les causes de la grandeur seiner Schrift (Entartung» zu einer Pathologisierung zeit-
des Romains et de leur décadence>. Aufstieg und Verfall genössischer Künstler wie B A U D E L A I R E , V E R L A I N E u.a.
werden nach dem klassischen D.-Modell gedeutet: und bereitet die Diffamierung politischer Gegner als
Roms Ausdehnung habe die innere Stärke zur Voraus- (dekadent» vor. Der gefährlichen Karriere des Kampfbe-
setzung und die äußere Schwäche zur Folge gehabt; das griffs (Entartung», seiner nationalsozialistischen und an-
Kaisertum brachte den Luxus, den Verfall der politi- tisemitischen Zuspitzung, leisten auch die falschen Er-
schen Verantwortung und der sittlichen Normen mit ben Nietzsches und der Lebensphilosophie Vorschub : so
sich. In <De l'esprit des lois> (1748) setzt Montesquieu O . SPENGLER mit seiner (kulturmorphologischen» Studie
stärkere politische Akzente. Jeder Despotismus berge (Der Untergang des Abendlandes» ( 1 9 1 8 - 2 2 ) und
den Todeskeim in sich: «Les Romains, en détruisant tous L. K L A G E S in seinen irrationalistischen Philosophemen
les peuples, se détruisaient eux-memes» (Die Römer ((Der Geist als Widersacher der Seele», 1 9 2 9 - 3 2 ) . Die
zerstörten sich selbst, indem sie alle Völker zerstör- letzte Perversion seiner moralistisch-ideologischen Im-
ten). [17] VOLTAIRE zeichnet die römische D. im 51. Ka- plikationen erfährt der D.-Begriff im Nationalsozialis-
pitel der Einleitung ((Questions sur les conquêtes des mus. Mit der Parole (Gegen D. und moralischen Verfall.
Romains, et leur décadence») seines Werkes <Essai sur Für Zucht und Sitte in Familie und Staat!» [22] werden
les mœurs et l'esprit des nations> (1756) als naturgesetzli- 1933 ideologisch verfemte Bücher verbrannt.
che Entwicklung nach : Alles wachse und sterbe mit der-
selben Notwendigkeit. [18] Entschiedener noch als MA- Der späte und oft fehlgedeutete Theoretiker einer
CHIAVELLI betont er neben der Gewaltpolitik eines Kon-
ästhetisch-philosophischen Umwertung der D. ist F.
NIETZSCHE. Für ihn kennzeichnet der Begriff D. einer-
stantin die zersetzende Rolle der Kirche, besonders der
Glaubenskämpfe zwischen Alt- und Neugläubigen: seits eine gefährliche Schwächung des Lebenswillens,
«Deux fléaux destruisirent enfin ce grand colosse: les einen «physiologischen Rückgang» [23], andererseits die
barbares et les disputes de religion» (Zwei Plagen zer- moralisierende Aufwertung dieses Niedergangs im Sinne
störten schließlich diesen großen Koloß: die Barbaren einer Sublimationsleistung. Der ersten sokratischen und
und die Dispute über die Religion). [19] Diesem Argu- christlichen «Umwertung» gilt es mit einer zweiten, einer
ment schließt sich E . GIBBON in der vierzehnbändigen Umstellung der «Perspektiven», zu begegnen. Seine ei-
(History of the Decline and Fall of the Roman Empire> gene Krankheit habe ihn dafür sensibilisiert: «Von der
(1776ff.) an. Ausgangspunkt ist hier eine melancholische Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Wer-
Antikensehnsucht; wie G. F. POGGIO-BRACCIOLINI (<Hi- ten, und wiederum umgekehrt aus der Fülle der Selbst-
storiae de varietate fortunae libri V) im 15. Jh. sitzt Gib- gewißheit des reichen Lebens hinunterzusehen in die
bon 1764 zwischen den Trümmern des Kapitols und sinnt heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts - das war mei-
der großen Vergangenheit nach. Von den Invektiven ne längste Übung.» [24] Den «Konservativen» kann er
gegen ein mißbrauchtes Christentum (Vermehrung der also «ins Ohr» sagen: «Es hilft nicht, man muß vorwärts,
Kirchengüter, Spaltungen) abgesehen, verbleibt Gibbon will sagen Schritt für Schritt weiter in die décaden-
im Rahmen des klassischen D.-Schemas: «The decline of ce.» [25] Das ist der Weg der wirklich «freien Geister»,
Rome was the natural and inevitable effect of immodera- die maximale Widersprüche aushalten können und die
te greatness. Prosperity ripened the principle of decay.» Zeit der «Übermenschen» vorbereiten. Die Bejahung
(Der Fall Roms war die natürliche und unausweichliche des Untergangs zerstört die Ideologie moralischer Le-
Folge von unmäßiger Größe. Reichtum brachte das Ge- bensbewahrung und -Veredelung und befreit zugleich
setz des Untergangs zur Reife.) [20] Es ist ROUSSEAU im deren Rhetorik zur Kunst des schönen Scheins. Den Stil
(Discours sur les sciences et les arts» (1750), der im der D. charakterisiert Nietzsche mit der ihm eigenen
Rückgriff auf G. B . Vicos (Prima Scienza Nuova> (1725) Lust an subversiven Effekten: «Das Wort wird souverän
alte Kulturkreislauf-Modelle wieder aufnimmt. Vico und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und
hatte ausgeführt: «Zuerst fühlen die Menschen das Not- verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben
wendige, dann achten sie auf das Nützliche, darauf be- auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes
merken sie das Bequeme, weiterhin erfreuen sie sich am mehr.» [26]
Luxus, schließlich werden sie toll und zerstören ihr Er- Die Autonomie des dichterischen Wortes schreibt sich
be.» [21], eine Argumentation, die auch WINCKELMANN die Bewegung der künstlerischen, vor allem literarischen
beeinflußt hat. Rousseau, der die D. wesentlich in der D. auf die Fahnen, die sich um 1830 in Frankreich, Mitte
des Jahrhunderts in England bildet und in Österreich/

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Deutschland um 1900 (<Fin de siècle») ihren Höhepunkt der «Nervenkunst» (H. BAHR). Die Protagonisten der
erreicht. Die ästhetische Rebellion beginnt mit der «Um- Erzählungen von E.A.POE, Roderich Usher, Morella,
wertung) jener Argumente, die der Neoklassizist D. Ligeia u. a., erscheinen als späte Erben alter Geschlech-
NISARD in seiner Philippika gegen den dekadenten Stil ter, auf denen die Hypothek nervöser Erkrankung lastet.
der Romantik, <Etudes des mœurs et de critique sur les Anders als ZOLA, der im Zyklus der «Rougon-Mac-
poètes latins de la décadence> (1834), ins Feld führte. quarts> die Degeneration einer Familie im Seconde Em-
Solche und ähnliche Frontstellungen werden sich fortan pire anprangert, weisen FLAUBERT in «Igitur, ou la folie
wiederholen; ein bekanntes Beispiel bietet die soge- d'Elbehnen> (1867—70) und J.K.HUYSMANS in <A re-
nannte «Realismus- bzw. <Expressionismusdebatte>, die bours> (1884) und «Là-Bas> (1891) auf die Sensibilisie-
E . BLOCH, B . BRECHT, G . LUKACS, B . ZIEGLER u . a . 1937/ rung durch Krankheit und Todesnähe hin. Auch
38 in der Moskauer Exilzeitschrift <Das Wort> veröffent- SCHNITZLER, HOFMANNSTHAL und T. MANN haben dieses
lichten: Auch hier findet die politische Argumentation in Thema in ihren Erzählungen gestaltet. In den «Budden-
einer klassizistischen Ästhetik die adäquate Verbünde- brooks» (1901) zeichnet T. MANN das Portrait des «Ver-
te. Im Namen des künstlerischen Fortschritts greifen die fallsprinzen> Hanno: «Kurz, ohne den Décadent, den
neuen Literaten des 19. Jh. die klassizistischen Normen kleinen Hanno, wären Menschheit und Gesellschaft seit
ebenso an wie die bürgerliche Philistermoral («épater le diluvialen Zeiten um keinen Schritt vorwärts gekom-
bourgeois»), wenn sie auch gegen den «Fortschritt) in men. Es ist die Lebensuntauglichkeit, welche das Leben
seiner technisch-industriellen Gestalt polemisieren. Die steigert, denn sie ist dem Geiste verbunden.» [31]
widersprüchliche Bezogenheit der literarischen D. auf
BAUDELAIRE deklariert im Essay «Le peintre de la vie
den Fortschritt, die Moderne, ist durch die spürbar wer-
moderno: «Le dandyisme est le dernier éclat d'héroisme
dende gesellschaftliche Ausgrenzung der Künstler (Bo-
dans les décadences.» (Der Dandyismus ist der letzte
hème) [27] und ihre Überantwortung an den Markt ver-
Ausbruch des Heroismus in der Dekadenz.) [32] Der
ursacht. Nicht zuletzt deshalb erschöpft sich die Kritik
Dandy, Flaneur in den Pariser Passagen des 19. Jh., ist
am Großstadtleben (die D. ist ein Phänomen der Groß-
jedoch von Anfang an auch das Bindeglied zum Reich
stadt) und an der Politik Napoleons III. (die D. ist ein
allzeit austauschbarer und fungibler Moden. Die Geset-
Phänomen des Seconde Empire) in der symbolischen
ze der Mode überfremden die künstlerischen Traditions-
Überzeichnung der darin angelegten Möglichkeiten. Die
linien. So sind die aus Symbolismus und Jugendstil, den
Rebellion gegen die Industrie-Kultur bleibt dieser in der
Gedichten von BAUDELAIRE, MALLARMÉ, VERLAINE,
Konstruktion der «künstlichen Paradiese» (BAUDELAI-
O.WILDE, HOFMANNSTHAL, RILKE, GEORGE u . a . be-
RE) verhaftet; der Affront gegen die herrschende Moral
kannten Accessoires der D. : künstliche Blumen, Perlen,
führt zu einer Moral «A rebours» («Gegen den Strich»),
Opale und Diamanten, Seiden und Brokate, Pfauenfe-
so der Titel des berühmten D.-Romans von HUYSMANS.
dern, Moschusdüfte und Opiate vor allem modische Re-
Zur ästhetischen Attraktion umgewertet wird das quisiten. Als renommierte Zitate wandern sie durch die
«Modell Roir», das der Gesellschaft den Spiegel vorhält Literatur und Kunst des 20. Jh., «objets trouvés» einer
und zugleich Flucht in exotische Zeitferne verspricht. antiquarisch interessierten Postmoderne.
Sensation des <Salon> von 1847 ist T. COUTOURES Gemäl-
de «Dekadenz der Römer>, das den Untertitel trägt: Anmerkungen:
«Der Luxus ist über uns hereingebrochen, wütet grausa- 1 P . Chaunu: Histoire et Décadence (Paris 1981) 275. - 2 e b d .
mer als das Schwert, und der besiegte Osten hat uns zur 282. - 3 e b d . 293. - 4 e b d . 152. - 5ebd. 174. - 6ebd. 22. -
Rache das Geschenk der Laster verehrt.» [28] Die litera- 7 S . Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: Das Ich und das E s
(1988) 146f. - 8 L . Valla: In sex libros Elegantiarum praefatio,
rischen Impulse für GAUTIER, BAUDELAIRE, PELADAN
in: E . G a r i n (Hg.): Prosatori latini de Quattrocento (Mailand
u.a. gehen zurück auf D E SADES Definition des «Natürli- 1952) 598. - 9 P s e u d o - L o n g i n u s : Vom Erhabenen, griech. u. dt.
chen> als des Destruktiven, Antihumanen, Perversen. In von R. Brandt (1983) 33. - lOebd. 115. - l l C h a u n u [ l ] 252. -
«Justine et Juliette* (1797) finden sich zahlreiche Anspie- 12Tertullian: Apol. 20, 2, zit. nach G . Alföldy: Hist. Bewußt-
lungen auf Caligula, Nero, Elagabal. Das imperiale Rom sein während der Krise des 3. Jh, in: ders. (Hg.): Krisen in der
führt die Komplementarität von Luxus und ennui/Lan- Antike (1975) 120. - 13Augustinus: Predigten 81, 105, 296;
geweile auf der einen Seite, von eruptiver Gewalt, Sadis- Sermo de Urbis excido; De civitate Dei. - 14Augustinus, D e
mus, perversen Exzessen auf der anderen vor Augen. ci vitate Dei IV, 7, vgl. A. Demandi: Der Fall Roms (1984) 59. -
J. LOMBARD propagiert in seinem Roman <L'Agonie> 15 Alkuin, zit. nach A . Demandt[14] 86. - 1 6 C o r p u s Reforma-
torum X 764f. - 1 7 M o n t e s q u i e u : D e l'esprit des lois. X X I I , 20,
(1888) die Homosexualität am Beispiel Elagabals, ein
zit. nach A . D e m a n d t [14] 140. - 18 W. R e h m : Der Untergang
Motiv, das sich auch durch S. GEORGES Gedichtsamm- Roms im abendländischen Denken (1930) 106. - 19Voltaire:
lung <Algabal> (1892) zieht. Schon FLAUBERT («Mémoires Essai sur les mœurs et l'esprit des nations, zit. nach A. De-
d'un fou>, 1838) hatte den Kaiser Nero als ästhetisches mandi [14] 141. - 2 0 E . Gibbon: History of the Decline and Fall
Phänomen betrachtet: «Es war Rom, das ich liebte, das of the Roman Empire. VI, 385, zit. nach A . Demandt [14] 133. -
kaiserliche Rom, diese schöne Königin, die sich in der 21 J. B . Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche
Orgie wälzte, wobei sie sich ihre edlen Gewänder mit Natur der Völker I, 2. Übers, von E . A u e r b a c h (1924) 101. -
dem Wein der Ausschweifung befleckte... Nero ! Nero 22 Neuköllner Tageblatt vom 1 2 . 5 . 1933, in R . Geißler: D. und
mit diamantgeschmückten Wagen... seiner Liebe zu Ti- Heroismus (1964) 23. - 2 3 F . Nietzsche: Der Antichrist, in:
gern.»[29] In seinem Gedicht <Langueur> (<Wehmut>) Werke, hg. von K. Schlechta (1979) 11,1171. - 2 4 F . Nietzsche:
zieht VERLAINE 1883 Bilanz; unter dem Strich wird die Warum ich so weise bin, in: Werke [23] II, 1071. - 2 5 F . Nietz-
sche: Götzendämmerung, in: Werke [23] II, 1019. - 2 6 F . Nietz-
noch gepriesene Unfruchtbarkeit bereits zum Todesstoß
sche: Der Fall Wagner, in: Werke [23] II, 917. - 2 7 H . Kreuzer:
für das <Rom> des l'art pour l'art: «Ich bin das Reich am Die Bohème ( 1968). - 28 Α . E . Carter : The Idea of D. in French
Ende mählichen Verfalls. / Barbaren gehen groß vor- Literature 1 8 3 0 - 1 9 0 0 (Toronto 1958) 24. - 2 9 G . Flaubert: Mé-
über, monoton / und weiß, ich aber dichte ein Akrosti- moires d'un fou (1838) 181f., zit. nach Carter [28] 43. - 30 P.
chon, / goldprunkend, wie die späte Glut des Sonnen- Verlaine: Gedichte I, übertragen von H. Hinderberger (1959)
balls.» [30] 233. - 31 T. Mann: W e r k e X I (1968) 556. - 3 2 C . Baudelaire:
Œuvres, I I 3 5 0 .
Körperliche und psychische D. wird zur Bedingung

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Deklamation Deklamation

Literaturhinweise : waren. E s wird angenommen, daß die Theorie mit Mu-


Ε. v. Sydow: Die Kultur der D . (1922). - R. Koselleck, P. Wid- sterreden verknüpft war. [3] Die Sophisten, die noch kei-
mer (Hg.): Niedergang (1980). - U. Horstmann: Ästhetizismus ne Schulen im institutionellen Sinne k a n n t e n , fertigten
und D . (1983). - W. Rasch: Die lit. D. um 1900 (1986). für ihre Rhetorikschüler Musterreden zu Übungs- und
C. Blasberg
Unterweisungszwecken an; einer der bekanntesten Rhe-
toren des 5./4. Jh., G O R G I A S VON LEONTINI, versuchte in
—» Apollinisch/Dionysisch —* Asianismus —» Manier, Maniera
—» Manierismus —* Moderne, Modernität Verfall der Bered- seinen Musterreden zu demonstrieren, welche Möglich-
samkeit keiten die Rhetorik bietet, einen Gegenstand in be-
stimmter Weise erscheinen zu lassen. [4] A u c h von A N T I -
PHON sind solche gerichtlichen Übungsreden für den Un-

Deklamation (griech. μελέτη, meléte; lat. declamatio; dt. terricht erhalten; es waren fingierte Fälle, die die Ge-
Redeübung, Schulvortrag, kunstgerechter Vortrag; richtspraxis ihrer Zeit widerspiegelten. [5] Im Unter-
engl, declamation; frz. déclamation; i tal. declamazione) schied zu den D . der römischen Kaiserzeit waren diese
1. Rhetorische D . - A . D e f . - B.I.Antike. - II. Mittelalter. - Exerzitien der Sophisten mit dem rhetorischen Unter-
III. Renaissance, Humanismus, Reformation. - IV. Barock. - richt verbunden; so «deklamierten beispielsweise die
V. Aufklärung, 18. Jh. - VI. 19. Jh. - VII. 20. Jh. - 2. Musikali- Isokrateer über dieselben T h e m e n , worüber sie auch
sche D . schrieben». [6]
1. Rhetorische Deklamation. PLATON veränderte die von den Sophisten begründete
A . Schon in der Antike bezieht sich der Begriff D . Theorie des génos epideiktikón (Lobrede). In dieser Gat-
sowohl auf den Vortrag dichterischer Werke als auch auf tung wurde nicht mehr anhand eines Streitfalles eine
eine Teilübung (dicendo) der exercitatio: Ü b e r die Stu- Übungsrede gehalten, in der bestimmte rhetorische For-
fen der praeexercitamenta (Vorübungen) gelangt der men demonstriert wurden: Sokrates betätigte sich im
Rhetorikschüler zur D . einer Gesamtrede, die entweder <Symposion> als L o b r e d n e r , dessen Redegegenstand
schriftlich vorbereitet ist oder extemporiert wird. Die nicht umstritten, sondern als Gegebenes gesetzt war. [7]
D.übungen folgen den aristotelischen Redegenera, wo- D e r Unterricht war auf die praktische Verwendbarkeit
bei Lobreden (genus demonstrativum), scholasticae con- ausgerichtet; er vollzog sich meistens im Vortrag von
troversiae (genus iudiciale) und suasoriae (genus delibe- Musterstücken, die von den Schülern auswendig gelernt
rativum) im Vordergrund stehen. Deklamatorische Ex- wurden (vgl. Phaidros, der in dem nach ihm benannten
erzitien anhand konkreter oder fingierter Fälle führen Dialog Piatons mit der Erlernung einer Musterrede des
den Schüler zur Beherrschung der pronuntiatio im rheto- Lysias beschäftigt war). [8] ARISTOTELES' Schule verfolg-
rischen Ernstfall. Sie sind (insbesondere als suasoriae) te nicht den Zweck, R e d n e r heranzubilden, sondern das
Bestandteil des rhetorischen Unterrichts bis ins 19. Jh. System der Rhetorik wissenschaftlich-philosophisch zu
hinein. Die D . als Kunst des öffentlichen Vortrags ist erfassen. Deshalb enthält seine <Rhetorik> keine Anwei-
immer auch mit Formen des Verfalls der Rhetorik ver- sungen für den mündlichen Vortrag; sie scheinen auch
bunden. Vor allem in der römischen Kaiserzeit gerät die «von niedriger A r t zu sein». [9] Dennoch sei dieser Kom-
in Deklamatorenschulen entwickelte Vortragskunst zur plex ebenso Bestandteil der Rhetorik wie die Poetik.
Sensationshascherei: Prahlerei, Schwulst, asianischer Cicero folgend kann man davon ausgehen, d a ß auch zu
Stil und pathetische G e b ä r d e dienen der rednerischen Zeiten von Aristoteles die R e d e n in D . f ü r die Praxis
Selbstdarstellung und der inhaltsarmen Publikumsunter- geübt wurden, bevor die R e d n e r das F o r u m oder den
haltung. D e m Deklamator wird das Ziel des idealen Gerichtssaal betraten. [10] D a es noch keine Theorie der
Redners kritisch gegenübergestellt (Seneca, Quintilian). rhetorischen Vortragskunst gab, ist anzunehmen, daß
Die Trennung zwischen D . und actio erfolgte im H u m a - die R e d n e r von den Schauspielern beeinflußt wurden.
nismus. Seither beschränkt sich die D . auf den mündli- Von D E M O S T H E N E S ist z . B . bekannt, daß er bei Schau-
chen Vortrag, das <Hörbare>, während die actio auf Mi- spielern Vortragsunterricht erhielt [11], sehr sorgfältig
mik, Gestik und G e b ä r d e , also auf das <Sichtbare> ge- seine Auftritte vorbereitete [12] und vor dem Spiegel
richtet ist. seine R e d e n einübte. Obwohl THRASYMACHOS [13] die
rednerische Darstellungskunst hauptsächlich für eine
Als Teil des rhetorischen Unterrichts steht die dekla- Naturgabe hielt, finden sich bei ihm erste Ansätze zu
matorische Stufe meist am E n d e der Rednerausbildung. einer Theorie des rednerischen Vortrags. Entsprechend
Die überzeugende actio, das richtige aptum und die Be- der Rhetorik seiner Zeit gab er für Musterreden Hinwei-
herrschung der Affekte werden eingeübt, wobei die se zur stimmlichen Gestaltung und zum Vortrag, u m so
Schritte von der doctrina über die exempla zur imitatio auf die A f f e k t e der Z u h ö r e r zu wirken. Die bewußte
zugrundegelegt sind. D e r E r w e r b von Fertigkeiten in Ausarbeitung des Vortrags und die sorgfältige Vorberei-
freier Rede über deklamatorische Exerzitien ist immer tung des rednerischen Auftretens war für das 5. J h . (z. B.
verbunden mit der Zurückweisung der deklamatori- f ü r Themistokles) selbstverständlich und ist mit d e m
schen Phrase bzw. mit der Kritik an der Kompensation Aufschwung der Rhetorik in der attischen D e m o k r a t i e
von nichtigem Inhalt durch den stilus gravis. verbunden. [14]
B. I. Antike. Die <Rhetorica ad Herennium> verwendet
das Wort <D.> zum erstenmal. Sie stellt fest, d a ß für Mit dem Niedergang der griechischen Stadtstaaten
einen guten Vortrag die Gestaltung der Stimme und die wurde die Rhetorik zunehmend von der praktischen Po-
Bewegung des Körpers von Bedeutung seien. Die litik getrennt; sie zog sich weitgehend in die Schulen
Stimme untergliedert sie in U m f a n g , Festigkeit und zurück. [15] In der zweiten Hälfte des 2. Jh. v . C h r . ent-
Weichheit. Obwohl die Natur alle drei Fähigkeiten ge- wickelte sich die asianische Beredsamkeit[16], deren
währt, werde die f ü r den R e d n e r unentbehrliche Weich- Entstehen auch mit DEMETRIOS VON PHALERON in Verbin-
heit der Stimme erst «durch die Modulierung der D . dung gebracht wird. [17] Beim Vortrag wurde Wert ge-
gewonnen». [1] Die A n f ä n g e der D. [2] reichen aber in legt auf starke rhythmische Gestaltung, großen stimmli-
eine Zeit zurück, in der die theoretischen Erkenntnisse chen A u f w a n d und theatralische Gestik und Mimik. Ihr
der Rhetorik noch nicht in Lehrbüchern systematisiert Hauptvertreter war HORTENSIUS. [18] Diese Richtung

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beeinflußte durch die Eigenart des Stils die Entwicklung tes. «Die Welt der D. war phantastisch und melodrama-
des rednerischen Vortrags. Die Asianer waren bestrebt, tisch, und eben deshalb vielleicht beliebt in einer eintöni-
«durch neue, wenn auch noch so geschmacklose Einfalle gen Zeit. Augustus hat der Welt Frieden und Sicherheit
[...] zu überraschen und Gefühle zu erregen, die nicht gebracht; die Deklamatoren schwelgten in Gewalttaten,
sowohl aus der Sache herauswachsen, als künstlich in sie Brandstiftung und Schiffbruch.» [32] Bei der Behand-
hineingetragen werden». [19] Dementsprechend wurde lung der Themen wurde nicht versucht, das Verfahren
auf Übungsreden in den Schulen großer Wert gelegt. Die der Gerichtshöfe nachzuahmen; man konnte sprechen,
D. dienten aber nicht als Selbstzweck, sondern als Übun- solange man wollte und die Partei ergreifen, die einem
gen für wirkliche Rechtsfälle. [20] Gegen diesen Asianis- gefiel. [33] Wenn der Deklamator z.B. für die Anklage
mus wandte sich der bereits erwähnte A U C T O R A D H E - sprach, hielt er nicht nur die für eine Eröffungsrede
R E N N I U M und die <rhodische Schule>. [21] Sie stellten an entsprechende narratio, sondern auch die Widerlegung -
das deklamatorische Können ihrer Schüler andere An- so, als ob er auf eine andere Rede antwortete. Die Ein-
forderungen: «Eine Schule, die eine so geartete Topik wände, auf die er antwortete, waren rein imaginär. [34]
bot, mußte den Schülern bei den praktischen Deklama- Das charakteristische Merkmal des deklamatorischen
tionsübungen auch zu entsprechendem Vortrag anlei- Stils war die sententia. [35] Da die Deklamatoren nur die
ten.» [22] Unterhaltung der Zuhörer vor Augen hatten, versuchten
Im ciceronischen Zeitalter blieben die D. nicht auf die sie um jeden Preis, Eindruck zu machen und trachteten
Schulen beschränkt. Gute Redner behielten diese Praxis nach Applaus. Geistreiche Sentenzen großer Deklama-
auch dann noch bei, wenn sie ihre Ausbildung bereits toren wurden zur Gewohnheit; sie wurden auswendig
beendet hatten. Daß Hortensius dies unterließ, war nach gelernt und wiederholt. Sentenzen weniger guter Redner
Cicero die Ursache dafür, daß seine Redekraft ab- wurden Gegenstand lebhafter Kritik. [36]
nahm. [23] Cicero selbst übte sein ganzes Leben; er be- Der Beifall für eine gelungene D. war groß, teilweise
hauptete, daß niemand so lange deklamiert habe wie hemmungslos. PORCIUS LATRO hatte vergeblich versucht,
er. [24] Wie ernst er das Deklamieren in seiner Jugend seine Schüler von der Gewohnheit abzuhalten, nach je-
betrieb, schildert er im <Brutus>. Er ging mit 15 Jahren der Sentenz Beifall zu spenden [37]; in den Schulen blieb
aufs Forum, wo er täglich den besten Rednern zuhörte der Brauch des kritiklosen Applaudierens bestehen. Am
und häufig rednerische Übungen durchführte. «Ich war Ende jeder Periode sprangen die Zuhörer von ihren
ständig mit der Ausarbeitung und dem Vortrag von De- Sitzen auf und drängten mit aufgeregtem Schreien nach
klamationen beschäftigt - das ist ja der Ausdruck, den vorn. [38] Daneben gab es als zweite Form der D . die
man heutzutage gebraucht - [ . . . ] und zwar täglich.» [25] suasoria; sie galt als elementare leichtere Übung. Darin
Als D. galt zu dieser Zeit vor allem eine privat gehaltene gab der Redner z.B. einer historischen Persönlichkeit
Übungsrede; mehrere Freunde fanden sich zu Übungen einen Rat, wie sie in einer kritischen Situation vorgehen
dieser Art ein. [26] Mit dem Übergang von der Republik solle. [39] Das Thema war auch hier meistens ebenso
zum römischen Kaiserreich wurde die Rhetorik aus der unrealistisch wie die Durchführung. Daneben boten sua-
praktischen Politik zurückgedrängt; aus der öffentlichen soriae Gelegenheiten zu Übungen, Landschaften, Ge-
Rhetorik wurde eine ästhetische Beredsamkeit, in der bräuche u. ä. malerisch zu schildern; der Stil scheint hef-
die Redner an keinen Zweck gebunden waren; sie zogen tig, sogar ungestüm gewesen zu sein. [40]
sich in die Schulen zurück und verloren dabei den Kon-
Die Kritik an der von Seneca d . Ä . überlieferten De-
takt zum wirklichen Leben. Die Rhetorik wurde eine
klamationspraxis darf nicht dazu verleiten, diese Reden
«Kunst-, Schul- oder Schauberedsamkeit». [27] Neben
zu unterschätzen. Ein guter Deklamator war ein Virtuo-
den bisherigen zwei Arten der D. - als Teil des Lehrplans
se und zugleich ein guter Schauspieler, denn er verkör-
der Schule und als Praxis der privaten D. von Erwachse-
perte verschiedene Personen, die in den Deklamations-
nen - entwickelte sich im augustäischen Zeitalter eine
themen eine Hauptrolle spielten (z.B. Söhne, Eltern,
D., die keine Übungsrede darstellt [28], sondern eine
Reiche, Alte usw.). [41]
Praxis des Schulrhetorikers, der sich ganz dieser Kunst
widmete. Redegegenstand und Parteiinteresse traten in Im l . J h . n.Chr. wandten sich einige Zeitgenossen
den Hintergrund; wichtig war nur die Art und Weise, wie gegen diesen <Verfall der Beredsamkeit). T A C I T U S kriti-
etwas dargeboten wurde. Die Schulen wurden zu Thea- sierte in seinem <Dialogus de oratoribus> u. a. die Dekla-
tern, die D. zu einem gesellschaftlichen Ereignis, bei mationspraxis der Rhetorenschulen mit ihren wirklich-
denen Lehrer und Schüler der Redekunst versuchten, keitsfremden Themen (Tac. Dial. 35, 5; 31,1). Die De-
das Publikum zu unterhalten, wobei sie in virtuoser Wei- klamatoren trügen die controversiae und suasoríae
se Figuren und kunstvolle rhetorische Regeln verwende- schauspielhaft vor; es sei aber für die Redner unpassend,
ten. Der Inhalt der D. war wirklichkeitsfremd und be- «daß sie durch die Leichtigkeit der Worte, die Ober-
wegte sich in komplizierten Scheinproblemen. Die unbe- flächlichkeit ihrer Sätze und die Zügellosigkeit im Satz-
deutenden Themen wurden im stilus gravis deklamiert, bau Schauspieltöne verlauten lassen» und sich damit
um Wichtigkeit vorzutäuschen. Hier wurde der Asianis- rühmten, daß «ihre Redeentwürfe gesungen und getanzt
mus[29] mit seinen schmuckreichen Reden und dem würden». [42] Auch L U C Í A N wandte sich gegen die Ma-
Fehlen eines bedeutenden Redegegenstandes zum Stil nier der gesungenen D., das falsche Pathos und verwarf
der schwülstigen «verfallenen Beredsamkeit». [30] Über das affektierte Äußere der Deklamatoren, ihre auffällige
den kaiserlichen Deklamationsbetrieb sind u.a. die Kleidung und das zurechtgemachte Haar. [43]
<Controversiae et suasoriae> (Streitfälle und Beratungs- In der Bestimmung der Ursachen des Verfalls [44] und
reden) von S E N E C A D . Ä . erhalten. [31] Wie in Griechen- in der Kritik an den D . stimmte Q U I N T I L I A N mit seinen
land unterschied man zwischen controversia und suaso- Zeitgenossen überein. Die D. habe sich als Übungsform
ria. Bei den controversiae des römischen Kaiserreichs «von jenem wahren Bild des Redners gelöst» [45] und
vollzog sich thematisch ein Wandel vom Wirklichen zum bilde eine sich selbst genügende Form der Rede. Die
Unwirklichen, vom Konkreten zum Vagen; es waren Ursachen dafür sah Quintilian vor allem in den Schulen.
konstruierte Fälle eines bestreitbaren Rechtsstandpunk- Einerseits seien die Eltern darauf bedacht, ihre Kinder
deklamieren zu sehen, d.h. sich hervorzutun (II, 7.1; X,

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5.21), andererseits seien die Lehrer dafür verantwort- und Pansa (Cie. Brut. 310). - 27 Α . Westermann : G e s c h . der
lich, denn Deklamatoren machten «sich aus verkehrtem Beredsamkeit in Griechenland und R o m . 2T. (1833/35) II, 249.
Ehrgeiz anheischig [ . . . ] , sofort zu sprechen, nachdem - 2 8 v g l . Clark[15] 114. - 2 9 v g l . [16], - 3 0 U e d i n g , Stein-
ihnen der Streitpunkt angegeben worden ist; ja, die sich b r i n k ^ ] 37. - 31 The eider Seneca. D e c l a m a t i o n s in two volu-
mes. Translated by M. Winterbottom, V o l . 1 Controversiae,
sogar das Wort bezeichnen lassen, mit dem sie anfangen
B o o k s 1—6 (London/Cambridge 1974); vgl. J. Fairweather: T h e
sollen» (X, 7.21). Quintilian war ein «politisch han- Elder Seneca and D e c l a m a t i o n , in: Principat. 32, 1 (1984),
delnder Mensch, kein Redner-Schauspieler in der A r t S l l f f . - 3 2 C l a r k [ 1 5 ] 120. - 3 3 S e n e c a [ 3 1 ] VII, p r a e f . 8 . -
der Deklamatoren seiner Zeit». [46] Er versuchte, den 3 4 Q u i n t . IV, 2, 29; Seneca [31] X , 5, 12; III, praef. 12. - 3 5 vgl.
Verfall der Beredsamkeit durch eine Erziehung zum Quint. VIII, 5, 2f. und 14. - 3 6 S e n e c a d . Ä . [31] II, 2, 8; X , 1,
Redner zu überwinden. In die <Institutio> ü b e r n a h m er 14; Tac. Dial. 20, 4. - 3 7 ebd. VII, 4 , 1 0 . - 3 8 Q u i n t . II, 2, 9 - 1 2 ;
das bestehende System, nach dem es die Hauptaufgabe vgl. Seneca [31] 1 , 1 , 2 1 ; II, 3 , 1 9 ; I X , praef. 5. - 3 9 J. F. B o n n e r :
des Rhetoriklehrers war, die Theorie der Beredsamkeit R o m a n declamation in the late Republic and in the early E m -
auszulegen und das Deklamieren zu lehren. [47] Als er- pire (Liverpool 1949) 53. - 4 0 Quint. I l l , 8 , 5 8 f f . - 4 1 ebd. III, 8,
51. - 4 2 T a c . D i a l . 2 6 , 2f. - 4 3 L . v o n Samosata: D e r Rhetorik-
ster bezog er die Vorstufen der Ausbildung zum R e d n e r lehrer 12ff., 19. - 4 4 v g l . K . H . O . Schönberger: Klagen über
mit ein. Unter anderem forderte er eine R e f o r m der D . , d e n Verfall der röm. Beredsamkeit im ersten Jh. n. Chr. (1951).
denn trotz der herrschenden Deklamationspraxis war er - 4 5 Q u i n t . V, 12.17. - 4 6 U e d i n g , Steinbrink [7] 45. - 4 7 v g l .
vom Wert des Deklamierens überzeugt, weil es eine Clark [15] 156. - 4 8 Q u i n t . I I , 10, 4. - 4 9 v g l . Quint. Kritik an
Vorbereitung auf die Praxis sei. D a h e r sollten die The- Procius Latro, der zu lange D e k l a m a t o r war ( X , 5 , 1 7 ; XII, 11,
men und die F o r m , in der deklamiert werde, «den öffent- 15). - 5 0 Q u i n t . II, 11, Iff. - 5 1 ebd. II, 10; vgl. J. A d a m i e t z :
lichen R e d e n ähnlich sein, zu deren Ü b u n g sie erfunden Quintilians <Institutio oratoria>. In: Principat 32.4 (1986), 2241;
sind» [48], andererseits dürfe nicht zuviel Zeit auf das Clark [15] 161f. D e n fehlenden Mut Quint, gegenüber der D e -
Deklamieren verwandt werden. [49] Die Gegner Quinti- klamationspraxis kritisiert M . Winterbottom: Quint, and rheto-
lians argumentierten, d a ß technische Einzelregeln ent- ric, in: Empire and after math, hg. v o n T. A . D o r e y ( L o n d o n /
B o s t o n 1975) 81ff. - 5 2 Q u i n t . II, 1 0 , 6 ; 12ff. - 53 vgl. L. Häkan-
behrlich seien; natürliches Talent und das Deklamieren
son: D i e quintilianischen D . in der neueren Forschung, in:
führten rascher zum Ziel. [50] Dieser Tendenz versuchte Principat[51], 2296f.; vgl. J . D i n g e l : Scholastica materia. U n -
er entgegenzutreten, doch waren gegen die Konventio- ters. zu den D e c l a m a t i o n e s minores und der Institutio oratoria
nen in den Schulen tiefgreifende Reformen kaum durch- Quintilians (1988). - 5 4 v g l . Clark[15] 181; Rhet. Lat. Min.
zusetzen. [51] D a Quintilian sich aus der Tradition, in (1863).
der die D. standen, nicht befreien konnte, finden sich
'Zugeständnisse' in seinem Werk. [52] Trotzdem waren
die controversiae mit ihren unrealistischen Stoffen für II. Mittelalter. Die mittelalterliche Rhetorik war ge-
ihn eine ernsthafte Übung, keine prunkvolle Zurschau- prägt vom Zusammentreffen ü b e r k o m m e n e r antiker
stellung und die D . blieb die nützlichste rhetorische Kultur und christlicher Lehre. Anfangs k a m es zu hefti-
Übung. Aus dieser Zeit sind zwei Deklamationssamm- ger Ablehnung antiker Wissensdisziplinen, die auch eine
lungen erhalten, die in die Tradition Quintilians gehören A b w e n d u n g von der Rhetorik war, speziell von der spät-
und anfangs ihm zugeschrieben wurden: die <Declama- römischen Deklamationskunst mit den prunkvoll ge-
tiones Maiores und Minores>. [53] Noch im Zeitalter schmückten Reden. Das Mittelalter setzte diesen das
FRONTOS und CALPURINUS FLACCUS waren D . beliebt; Ideal der Einfachheit entgegen. BASILEIOS zog die Klar-
dennoch fand keine Weiterentwicklung mehr statt. [54] heit des Ausdrucks der bloßen Schönrednerei vor; die
Schule Gottes brauche nicht die Regeln des Enkomions
und beschäftige sich nicht mit sophistischen Eitelkei-
ten. [1] AMBROSIUS räumte zwar ein, daß rhetorischer
Anmerkungen:
1 Auct. ad. Her. III, l l f . - 2 v g l . W. Hofrichter: Stud, zur Ent- Schmuck nützlich sein könne und auch in der Bibel vor-
wicklungsgesch. der D . von der griech. Sophistik bis zur röm. k o m m e , aber auch er setzte positiv gegen die R e d n e r der
Kaiserzeit (1935). - 3 V. Buchheit: Unters, zur Theorie des Spätantike den schlichten stilus historiáis des Evangeli-
G e n o s Epideiktikon von Gorgias bis Aristoteles (1960) 39f. - sten Lucas. [2] Noch im 12./13. Jh. wurden die üppig
4 v g l . seine Musterreden <Lobpreis der Helena> und <Apologie angewandten rhetorischen Mittel der spätrömischen D .
des Palamedes>, in: Gorgias v o n Leontini: R e d e n , Fragmente, abgelehnt. ALANUS AB INSULIS wandte sich in seinen
Testimonien. G r i e c h . - D t . , hg. von T . B u c h h e i m (1989). - Predigtvorschriften gegen diejenigen, die die «Zuhörer
5 M . F u h r m a n n : D i e antike Rhet. (1984) 22. - 6 F . B l a s s : D i e durch den Glanz ihrer eigenen Redekunst zu gewinnen
griech. Beredsamkeit (1865) 57. - 7 n a c h G. U e d i n g , B . S t e i n -
brink: Grundriß der Rhet. (1986) 20. - 8 n a c h J. Martin: A n t i k e
trachten», sie seien keine «treuen Verwalter des göttli-
Rhet. (1974) 8. - 9 A r i s t . Rhet. III, 2ff. - lOCic. Or. 46, 127; chen Wortes, sondern Lohndiener, die den Beifall der
vgl. Blass [6] 57. - 11 Quint. X I , 3, 7. - 12Cic. D e or. I, 61; Welt über die Ehre Gottes stellen». [3] D e n n o c h hielt
Quint. X I , 3, 54 und 130. - U A r i s t . Rhet. 1404a; Plat. Phai- sich die Deklamationspraxis antiker Prägung an den
d r . 2 6 7 a . - 14 A . Krumbacher: D i e Stimmbildung der R e d n e r Rhetorikschulen Galliens und Italiens bis ins 6. Jh. Bei
im Altertum bis auf die Zeit Quintilians (Diss. Würzburg 1920) ENNODIUS VON PARIA, dem letzten Vertreter weltlicher
16. - 1 5 vgl. M. L. Clark: D i e Rhet. bei den R ö m e r n (1968) 16. - Tradition, findet man D . im Sinne der alten Schultradi-
16 vgl. U . v. Wilamowitz-Moellendorf: Asianismus und Atticis- tion. In den <Dictiones Ethicae> sind imaginäre R e d e n
mus, in: Hermes 35 (1900), I f f . ; vgl. auch Blass [6] 54ff. - 1 7 C i c .
mythischer Personen und controversiae verzeichnet, die
Brut. 37f.; Quint. X , 1, 80; II, 4, 41ff. - 1 8 vgl. Krumbacher [14]
37. - 1 9 1 . von Müller: Hb. der klass. Altertumswiss. Bd. VII, 2:
an frühere D . erinnern (Figuren wie Tyrannen, Stiefmüt-
Gesch. der griech. Lit., bearb. v o n O . Stählin, W . S c h m i d ter, enterbte Söhne). So blieb diese Deklamationspraxis
( 6 1920) 1. Hälfte, 303; vgl. Krumbacher[14] 36. - 2 0 B l a s s [ 6 ] teilweise unverändert von Augustinus bis zum Ostgoten-
56. - 21 Cie. Brut. 51; Quint. XII, 1 0 , 1 8 . - 2 2 C i c . Brut. 91, 316; reich lebendig. [4] In der Folgezeit scheinen sie aus d e m
vgl. die Topik des Epilogs bei Cie. D e inv. I, 52, 98 mit 56. - Schulbetrieb verschwunden zu sein; die Predigtkunst
2 3 C i c . Brut. 320. - 24vgl. F. Nunberger: Ciceros oratorische wurde zu dieser Zeit nur als Schriftauslegung aufgefaßt.
Laufbahn, ein Auszug aus d e m Buche Brutus, nebst einer kur-
zen A b h . von der D . der A l t e n (Wien 1778). - 25Cie. Im 4. Jh. kam es zu einer differenzierteren Auseinan-
Brut. 3 0 5 - 3 1 0 . - 2 6 C i c . deklamierte in seiner Jugend u . a . mit dersetzung zwischen christlicher Lehre und Rhetorik.
Marcus Piso und Quintus Pompeius; im Alter waren es Hirtius Die Überzeugung setzte sich durch, daß man die «gebil-

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deten Heiden» [5] mit Hilfe der Rhetorik von den Vorzü- desituation. [10] Obwohl C A S S I D O R S <Institutiones divi-
gen der christlichen Lehre überzeugen könne. Deshalb narum et saecularium litterarum> für den Unterricht ge-
verbanden die wirkungsvollen Redner der alten Kirche, dacht waren, ging er nicht auf Redeübungen ein; er
wie Gregor von Nazianz und Basileios, ihr Bekenntnis nannte nur pronuntiatio als 5. Teil der rhetorischen
zum Christentum mit einer fundierten hellenistischen Kunstlehre und definierte sie als das Vermögen, Stimme
Bildung. [6] Im Erziehungssystem fand allmählich wie- und Körper in schicklicher, maßvoller Weise der Würde
der das griechische Ideal der Allgemeinbildung Eingang; des Redegegenstandes und der Worte anzupassen. Es ist
man lehrte die Fächer des triviums und ging dann über wahrscheinlich, daß diese Anforderungen an den Red-
zum quadrivium. Allmählich wurden die Rhetoren- und ner in schulischen D. erprobt wurden. [11]
Philosophenschulen in Katecheten- und Theologenschu- A L K U I N empfahl in seinem <Dialog über die Rhetorik
len umgewandelt, an denen, wie in den Klöstern, die und die Tugenden>, der Redner solle sich Übungen un-
klassischen Studien gepflegt wurden; Rhetorik und Dia- terziehen, die ihn die Kontrolle von Stimme und Atem
lektik umfaßten auch Übungen im mündlichen Aus- sowie Bewegung von Körper und Zunge lehren, denn
druck. Einen Einblick in den Rhetorikunterricht an Klo- diese Fähigkeiten ließen sich mehr durch Übung als
sterschulen gibt das <Tagebuch> W A L A F R I E D STRABOS. durch Kunstregeln erlernen. Seine praktischen Anwei-
Nachdem die Schüler in Schlußprüfungen gezeigt hatten, sungen sind kurz, denn auch er sah einen guten Vortrag
daß sie befähigt waren, aus der Grammatik- in die Rhe- weniger durch Kunstregeln, als durch tägliche Übung
torikklasse überzugehen, begannen die rhetorischen und Praxis gewährleistet, die die Naturanlage positiv
Studien mit Ciceros Schriften. Es wurden täglich ver- verändern. [12]
schiedene Redeformen gelernt und die Schüler mit Ge-
Obwohl die Autoren des Mittelalters die Rhetorik als
setzessammlungen bekanntgemacht, die in das wirkliche
das Wissen und die Fähigkeit definierten, gut in öffentli-
Leben einführten und Stoff zu rhetorischen Übungen
chen und rechtlichen Angelegenheiten zu reden und des-
boten. Das Einüben rhetorischer Regeln geschah münd-
halb juristische Themen Platz im Lehrbetrieb fanden,
lich und schriftlich. Den Schülern wurden Stoffe aus der
verschwand die Rechtskunde zeitweise aus dem Unter-
Geschichte, dem Alltag oder der Rechtsprechung zuge-
richt; die Bemühungen um die forensische Rhetorik hör-
wiesen, die in Reden zu behandeln waren. Oft mußte das
ten im Laufe der Zeit auf. Das war auch der Grund
Thema auf mehrere Arten deklamiert werden. Daneben
dafür, daß die Rhetorik eine pragmatische Funktion
übten sich die Schüler in Charakterschilderungen oder
neuer Art bekam: es entwickelte sich zunehmend die
Lobreden. [7] In den Texten zur ars praedicandi sind
Kunst des Briefschreibens und des Abfassens von Ur-
Übungsreden nicht erwähnt, actio und pronuntiatio nur
kunden; man übte den sermo epistolaris. Schon im Un-
am Rande oder gar nicht behandelt (z.B. spricht ALA-
terrichtsplan A L K U I N S im 8. Jh. gehörte zum rhetori-
N U S VON L I L L E nicht davon und A L E X A N D E R VON A S H B Y
schen Lehrstoff in den Karolinger Kloster- und Bischofs-
geht nur kurz darauf ein). Bei T H O M A S VON W A L E Y finden
schulen neben der Redelehre die Behandlung des Brief-
sich dagegen genauere Hinweise : er betonte besonders
und Urkundenstils. «Die Rhetorik bestand aus stilisti-
den Aspekt der Angemessenheit. [8] Allgemein war man
schen Übungen im Aufsatz, Briefen und Urkunden, mit
der Ansicht, daß sich diese nicht durch Regeln und
einigem juristischen Wissen unterbaut[...]». [13]
Übungsreden erlernen lasse. Im Gegensatz zu den De-
klamatoren der zweiten Sophistik bestimmten Maßhal- Die Lehre vom Briefstil löste sich im 11. Jh. von der
ten und Selbstbeherrschung die Rednerauftritte; die tradierten Rhetorik und verdrängte deren Studium zeit-
Worte wurden klar und einfach vorgetragen - mit gelas- weise fast ganz. Musterbriefsammlungen und Formelbü-
senem Ausdruck und ruhiger Miene. Die Beschränkun- cher gab es in großer Zahl [14]; ausgesuchte Muster wur-
gen dieses Maßhaltens finden sich z. B. bei A U G U S T I N U S den in den Schulen bearbeitet, man lehrte ein Eintei-
sehr deutlich. Er geht in seiner «doctrina christiana> zwar lungsschema, es wurden - entsprechend den fingierten
nicht auf das Einüben von Reden ein, aber bei der Dar- Prozessen in den römischen Schuldeklamationen - alle
stellung des modus proferendi befaßte er sich mit der nur denkbaren Fälle und geschäftliche Angelegenheiten
angemessenen sprachlichen Gestaltung und verwies sei- ersonnen, sogar kaiserliche Manifeste kunstgerecht aus-
ne Schüler zur weiteren rhetorischen Ausbildung an ei- gearbeitet. [15]
nen Rhetor. In der Abhandlung über den ersten kateche- Die aus der Antike bekannten Deklamationssamm-
tischen Unterricht finden sich Hinweise, wie der Vortrag lungen waren im Mittelalter wenig verbreitet und dien-
eines Predigers auszusehen habe ; im übrigen verwies er ten vorwiegend als Exempla-Sammlungen. [16] Senecas
auf das Prinzip der imitatio. «Gefällt dir demnach das <Controversiae et suasoriae> bildeten die Hauptquelle
eine oder andere an mir und wünschst du darum von mir für die mittelalterlichen <Gesta Romanorum>. [17] Im
ein Muster für deinen Vortrag zu erhalten, so würdest du Mittelalter wurden diese fingierten Rechtsfälle teilweise
die Sache noch viel besser erfassen, wenn du mich wäh- als Novellen aufgefaßt. Eine Versnovelle, die auf eine
rend meines Vortrags sähest und hörest, statt bloß zu quintilianische Schulrede zurückgeht, ist der <Mathema-
lesen, was ich darüber niederschreibe.» [9] ticus> (Astrolog), der sich in den Werken H I L D E B R A N D T S
findet. [18]
M A R T I A N U S C A P E L L A wurde mit der Schrift <De nuptiis Obwohl die D. im Mittelalter eine kaum beachtete
Mercurii et Philologiae> (Über die Hochzeit Merkurs Rolle spielten, könnten sie teilweise den Ausgangspunkt
und der Philologie) und den darin erläuterten artes libe- gebildet haben für die Praktiken und Aspekte, die in den
rales zum bedeutenden Vermittler antiker Wissensdiszi- Schulen des 12. Jh. und den anschließend gegründeten
plinen des Mittelalters ; er orientierte sich an Quintilian Universitäten von Bedeutung waren: die scholastischen
und übernahm die Aufteilung der actio in Stimme, Mi- Disputationen, die ars dictaminis, die kunstvoll gelehrten
mik und Gestik. Obwohl Martianus nicht ausdrücklich universitären Predigten und Lobreden, die anläßlich von
Redeübungen empfahl, war er der Ansicht, daß die Examen gehalten wurden. [19] Nach Murphy ist im Ab-
Stimme zwar Naturanlage sei, ihre Ausübung aber durch lauf der Disputation der Aufbau einer römischen D. in
Kunst und Übung bestimmt werde ; er legte Wert auf die allen Schritten wiederzuerkennen. [20]
Ausgewogenheit von Redegegenstand, Vortrag und Re-

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Anmerkungen: Lektionen und Disputationen wesentlich die von den


1 vgl. J . J . M u r p h y : Rhetoric in the Middle A g e s (1974) 51. - Humanisten empfohlenen Vorlesungen und Ü b u n -
2 e b d . 52. - 3 D . R o t h : D i e ma. Pr.theorie und das Manuale gen» [6] traten. 1524 hatte Melanchthon in Wittenberg
Oratorum des J . U . S u r g a n t (1956) 39f. - 4 M . L . C l a r k : D i e
mit diesen Übungen begonnen. [7] Nach den Statuten
Rhet. bei den R ö m e r n (1968) 197f. - 5 n a c h G. U e d i n g ,
B. Steinbrink: Grundriß der Rhet. (1986) 47. - 6 e b d . - 7 n a c h
dieser Universität (1536), die von ihm maßgeblich beein-
R. Limmer: Päd. des M A (1958) 49ff. - 8 Murphy [1] 308, 313, flußt und beispielhaft f ü r spätere Neugründungen wur-
333f., 337. - 9 Augustinus, V o m ersten katechetischen Unter- den (z.B. Königsberg, Heidelberg u . a . ) , waren D . und
richt, in: D e s Hl. Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgew. Disputationen im Unterricht der philosophischen Fakul-
prakt. Schriften homilet. u. katechetischen Inhalts. A . d. La- tät obligatorisch. Es wurde samstags abwechselnd dispu-
tein. v. P. S.Mitterer, Bd. 7 der Bibl. der Kirchenväter (1925) tiert und deklamiert. Die «Deklamationen liegen den
271. - 1 0 v g l . U e d i n g , Steinbrink [5] 53ff. - 1 1 ebd. - 1 2 e b d . 56. Lektoren der Rhetorik, des Griechischen und des Te-
- 13 Alkuins Unterrichtsplan, in: W. Wühr: D a s abendländi- renz ob ; einmal im Jahr soll jeder Professor deklamieren.
sche Bildungswesen im M A (1950) 57f. - 14vgl. F. A . Eckstein:
Die Mitwirkenden bei Disputationen und Deklamatio-
Lat. u. griech. Unterricht (1887) 52. - l S n a c h E . R . C u r t i u s :
Europäische Lit. und lat. M A ( 9 1978) 85. - 1 6 v g l . Gaselee: A n nen erhalten Präsenzgelder». [8] H a t t e n im Mittelalter
Anthology of Medieval Latin ( L o n d o n 1925). - 17 nach im wesentlichen Disputationen die D . verdrängt, so wur-
L. Friedländer: Darstellungen aus der Sittengesch. R o m s II den zunächst philosophische Disputationen zum «Ge-
(1964) 10, 205; vgl. Curtius [15] 164. - 1 8 e b d . 164. - 1 9 L M A spött der Humanisten» [9]; später betonte Melanchthon,
S p . 6 2 1 f . - 2 0 Murphy [ l ] 3 8 f f . , 104. daß eine Schule ohne Disputation kümmerlich sei und
nicht den N a m e n einer A k a d e m i e verdiene. [10] Wäh-
III. Renaissance, Humanismus, Reformation. Im rend Disputationen im Z u s a m m e n h a n g mit Promotio-
16. Jh. wurden die öffentliche R e d e , die Predigt, die nen standen, wurden D . von Studenten unter Anleitung
mündliche Verhandlung im Rat und auf dem Reichstag der Professoren gehalten; sie glichen d e m heutigen
Formen der Wirksamkeit, das gesprochene Wort be- Schulaufsatz, nur, daß der Vortrag hinzukam; «die stili-
herrschte die öffentliche Verhandlung ebenso wie den stisch-oratorische Form ist dabei die Hauptsache; die
Unterricht. Die Lernenden waren meistens auf den Absicht ist, die Schüler anzuleiten, über ein gegebenes
mündlichen Vortrag angewiesen. War die Vorlesung T h e m a in korrektem Latein und mit angemessener Dis-
größtenteils die Quelle der Belehrung, so boten D . Gele- position schriftlich und mündlich sich auszusprechen.
genheit, das Gelernte anzuwenden (z.B. bei akademi- Moralische Gemeinplätze, historische Laudationen, loci
schen Feiern, Schulactus u . a . ) . [1] 1538 stellte J. STURM aus der Katechese usf. bilden den Gegenstand der De-
in einem Gespräch mit F. Frosius <Über die verlorenge- klamationen». [11] Ähnliches sahen die Heidelberger
gangenen Fähigkeiten zu reden> fest, daß «es in allen Statuten von 1556 vor, wo D . f ü r die Bakkalaurien ange-
Staaten eine Überfülle von Leuten gibt, die [ . . . ] die ordnet wurden [12]; außerdem fanden neben den Vorle-
Redegabe schulen». [2] Vor diesem Hintergrund erlebte sungen in allen Fakultäten Übungen statt, in der artisti-
die D . in der Renaissance als Schulübung, die in die schen abwechselnd D . und Disputationen. [13] Auch an
lateinische Rede einführte, ihre Wiederbelebung. Durch den Jesuitenuniversitäten gehörten D . zum Alltag, denn
diese Erneuerung im Zeichen des Humanismus entstan- im wesentlichen wurden in dieser Hinsicht die humanisti-
den Rednerschulen, an denen die klassischen Regeln der schen R e f o r m e n von 1519 ü b e r n o m m e n .
Rhetorik Ciceros und Quintilians gelehrt und die Übun-
Die Lektionspläne der protestantischen Gelehrten-
gen der antiken Rhetorenschulen wieder aufgenommen
schulen zeigten ein ähnliches Bild. G r a m m a t i k , Rheto-
wurden. Nachdem das Erlernen des Lateins als fremder
rik und Dialektik mit D . und Disputationen erfüllten den
Sprache der Hauptinhalt eines jahrelangen Schulstu-
Kursus der drei unteren Klassen; auch in den oberen
diums war, fielen der D . neue Funktionen zu: sie half,
Klassen fanden solche Übungen statt. So wurde z . B .
Sprachmuster einzuprägen, lockerte den Lehrbetrieb
E n d e des 16. Jh. auf die Lateinschule in Göttingen ein
auf und gab den Schülern den Anschein von Selbstän-
Pädagogium aufgebaut; «es wurden darin, außer den
digkeit sowie einen öffentlich präsentierbaren Leistungs-
drei Sprachen und den philosophischen Wissenschaften,
nachweis für erreichte Fertigkeiten. Diese Stellung be-
auch theologische und juristische Vorlesungen gehalten,
hauptete sie im gelehrten Schulwesen bis ins 18. Jh., am
nicht minder finden Deklamationen, Disputationen und
besten ausgebaut von den Jesuiten, die sie zuerst mit
dramatische Aufführungen statt». [14] D e n H ö h e p u n k t
dem lateinischen Schultheater verbanden und auf prakti-
der Schulübungen bildeten im Schulbetrieb D . und dra-
sche Zwecke abzustimmen wußten. [3]
matische A u f f ü h r u n g e n , auf die der Unterricht vorberei-
Ü b e r Aufgaben und Ziele des gelehrten Unterrichts tete. [15] Diese Reden machten die Schulübung zu einem
hat sich MELANCHTHON in vielen akademischen R e d e n , Stück öffentlichen Lebens. Dramatische A u f f ü h r u n g e n
den sog. <declamationes>, geäußert. «Das Ziel des allge- bildeten seit der humanistischen Schulreform einen
mein-wissenschaftlichen Unterrichts, in den sich die wichtigen Bestandteil des Schulbetriebs. Sie dienten da-
Schulen und philosophischen Fakultäten teilen, setzt er zu, die Schüler «zum öffentlichen A u f t r e t e n und Ü b e n in
mit dem Humanismus in die Eloquenz, d . h . die Fähig- der Aktion» [16] zu gewöhnen und gaben d e m R e d n e r
keit des sprachrichtigen, logisch durchsichtigen und Zuversicht und gute Manieren. D e r andere Teil der
sachkundigen Vortrags, natürlich in der gelehrten Spra- Schulübungen waren die D. ; die Gelegenheit dazu boten
che». [4] In seinem Lehrbuch <De rhetorica libri tres> u . a . Schulfeste, Introduktionen, Jubiläen, Prüfungen
(1519) führte Melanchthon zwar die fünf Teile der rheto- und kirchliche Feste. In den oberen Klassen größerer
rischen Kunstlehre auf, machte aber über die memoria Schulen fanden oft Deklamationsübungen statt, mit de-
keine Vorschriften und «von der pronunciatio oder actio nen Lehrer und Schüler an die Öffentlichkeit traten.
will er [ . . . ] nicht reden, weil man darüber zu seiner Zeit Stoff dazu boten anfangs die Beschäftigung mit Altertum
anders denkt als im Altertum. Wie man sich beim Vor- und Religion sowie die moralisierende Behandlung von
trage zu halten habe, das sei auf d e m Forum durch Nach- historischen und theologischen Fragen. Neben eigenen
ahmung zu lernen». [5] Deshalb sah seine Studienord- Erzeugnissen wurden aber auch antike R e d e n dekla-
nung vor, daß «an die Stelle der alten philosophischen miert und man führte auch antike D r a m e n auf. Diese D .

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wurden erweitert zu einer Art dramatischer Aktion. Es Anmerkungen


wurden ciceronische und demosthenische Reden mit al- INach F.Paulsen: Gesch. des gelehrten Unterrichts, l . B d .
len Mitwirkenden einer römischen Gerichtsverhandlung ( 3 1919), 353ff. - 2 D e amissa dicendi ratione 1538; zit. nach
E. Garin: Gesch. und Dokumente der abendländ. Päd., Bd. III
dargeboten. 1575 soll Cicero in Straßburg mit seiner
(1967), 139ff. - 3 vgl. H.Bukowski: Der Schulaufsatz und die
Rede für Milo nachträglich eine Niederlage erlitten ha- rhet. Sprachschulung (Diss. Kiel 1956) 70. - 4Paulsen [1] 214. -
ben. [17] 5K. Hartfelder: Ph. Melanchthon als Praeceptor Germaniae
Während in der Antike und im Mittelalter die Rheto- (1964) 221. - 6Paulsen [1] 120. - 7Hartfelder [5] 128. - 8Paul-
riklehrbücher zwischen Schauspieler und Redner unter- sen [1] 223. - 9 ebd. 224. - 10Compendium der Rhet. III, 189,
schieden, wurden beide im Humanismus verschmolzen. zit. nach Paulsen [1] 224. - 11 ebd. 223. - 12ebd. 274. - 13ebd.
In den Schulen war neben den D. das Theater die 249. - 14ebd. 313. - 1 5 A. Jundt: Die dramatischen Aufführun-
Übungsstätte für actio und memoria; beide verfolgten gen im Gymnasium Straßburg. Programm des prot. Gymna-
siums (1881); O. Francke: Terenz und die lat. Schulkomödie in
die Ausbildung der Eloquenz. In solchen Übungen soll- Deutschland (1877); R. Möller: Gesch. des altstädtischen Gym-
ten Gedächtnis, Stimme und Mimik geschult werden. nasiums zu Königsberg, Programm (1878). -16Paulsen [1] 364.
Bei D. und Schulaufführungen kam es darauf an, daß - 17nach Jundt[15] 22. - 18Schulordnung von 1570; zit. nach
man «die Pronunciation und Geberde in den Knaben J.Maasen: Drama und Theater der Humanistenschulen in
formire». [18] In diesem Zusammenhang ist die Schrift Deutschland (1929) 52. - 19J. Burckhardt: Die Kultur der Re-
des Humanisten J . W I L L I C H <Liber de Pronunciatione naissance in Italien (1928) 258. - 20ebd. 259. - 21 ebd. 264. -
Rhetorica doctus et elegans> (1540) bedeutsam ; als erster 22 W. Barner: Barockrhet. (1970) 345. - 23Monumenta Ger-
Deutscher schrieb er über Stimmführung, Mimik, Gestik maniae Paedagogica V, 411f. - 24ebd. 365.
und Körperhaltung bei D.
Literaturhinweise :
Da in der Renaissance «das Hören als ein Genuß
H. Kindermann: Theatergesch. Europas. Bd. II: Das Theater
ersten Ranges galt und wo das Phantasiebild des römi- der Renaissance (1959). - M. G. M. van der Poel: De "declama-
schen Senats und seiner Redner alle Geister beherrsch- tio" bij de humanisten (Nieuwkoop 1987).
te» [19], wurde die Rhetorik ein wichtiges Element des
gesellschaftlichen Lebens. Das wird z.B. auch daran IV. Barock. In den rhetorischen Lehrbüchern dieser
deutlich, daß sich die Staatsgesandten Oratoren nann- Epoche wird der umfangreiche Komplex mündlicher
ten. [20] Dabei war es gleichgültig, aus welchem Stand Übungstechniken kaum deutlich, obwohl seit der Neu-
der Redner kam; zu einer vollendeten Persönlichkeit belebung durch den Humanismus D. und öffentliche
(das Ideal des uomo universale) gehörte die praktische Schulkomödien in vielen Schulordnungen verankert wa-
Beredsamkeit, wie sie unter anderem der Florentiner ren und zum Bestand der rhetorischen Tradition gehör-
B. C A S I N I lehrte. «In ganz praktischen Absichten, um ten. Colloquia, dialogi, actus, declamationesu. a. führten
nämlich seine Landsleute zum gewandten Auftreten in zu eloquenten Fähigkeiten. «Ohne die Basis dieser Exer-
der Öffentlichkeit zu befähigen, behandelte er nach citien ist die oft hervorgehobene 'Mündlichkeit' weiter
Maßgabe der Alten die Erfindung, die D . , Gestus und Bereiche der literarischen Barockkultur nicht zu den-
Haltung im Zusammenhang. Auch sonst legte man ken, ebensowenig wie die ausgeprägte 'Theatralik'
großen Wert auf eine gute rhetorische Erziehung: sprachlichen Repräsentierens.» [1] Das grundlegende
nichts galt höher als aus dem Stegreif in elegantem Rhetoriklehrbuch für den protestantischen Gelehrten-
Latein das jedesmal Passende vorbringen zu kön- unterricht schrieb G. J. Vossius: <Rhetorices contractae,
nen.» [21] sive partitionum oratoriarum libri quinque> (1606); er
Auch die Jesuiten leiteten ihre Schüler zu D. an. Wie griff darin auf antike Vorbilder (z. B. Cicero, Quintilian)
die Humanisten versprach sich der Orden u . a . von die- zurück. Als «Hüter der rhetorischen Klassizität» [2] war
sen rednerischen Übungen eine gründlichere Auffassung es für Vossius selbstverständlich, daß die mündliche Fer-
des Lehrstoffes. Um 1560 schrieb C. SOAREZ das wohl tigkeit im Latein gemeint war; das erstrebenswerte Bil-
bekannteste Rhetoriklehrbuch für die Jesuiten <De arte dungsziel war die allseitige Beherrschung der eloquentia
rhetorica libri tres>; es enthielt bereits Anfangsgründe latina. Er faßte unter pronuntiatio «alle Probleme der
der Vortragslehre. Wie später Vossius berief er sich auf oratorischen Praxis zusammen, die schon in der Antike
antike Vorbilder. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen (als memoria und actio bzw. pronuntiatio) eine gewisse
bezeichnete der Autor memoria, pronuntiatio und gestus Sonderstellung innerhalb der üblichen Schematik ein-
als wichtigste Regeln und den entscheidenden Teil der nahmen». [3] Pronuntiatio unterteilte er in die Lehre von
Rhetorik. Aber wie spätere Rhetoriklehrbuchautoren der Modulation der Stimme und den Bewegungen des
des 17. und 18. Jh. widmete er diesem Teil nur wenige Körpers; beides müsse aufeinander abgestimmt sein.
Seiten. Dies entspringe «der unter Rhetorikern immer Diese Techniken und Fertigkeiten wurden mit den Schü-
wieder ausgesprochenen Erfahrung, daß sich actio und lern in der deklamatorischen Stufe> geübt; sie lag am
pronunciatio nur schwer als reine Theorie lehren lasse, Ende der rhetorischen Ausbildung. [4] Als Hilfe bei der
daß hier vielmehr alles auf das lebendige Vorbild und auf Ausarbeitung konnte der Lehrer eine Gliederung vorge-
die praktische Übung» ankomme. [22] Deshalb schrieb ben, und es mußte dann ausreichend Zeit zur Vorberei-
die <Ratio studiorum> diese Übungen vor. «Jeden zwei- tung bleiben [5] ; entscheidend waren dann memoria [6]
ten Sonnabend soll [...] morgens von einem oder zwei und eine überzeugende actio. Themen und Inhalte der
Schülern eine D. oder eine Vorlesung in lateinischer D. waren von untergeordneter Bedeutung; oft wurden
oder in der Muttersprache, [ . . . ] in anwesenheit der Hu- Stoffe aus der Bibel, Geschichte oder dem täglichen
manisten auf dem Katheder gehalten werden» [23] und Leben deklamiert. Als Grundthemen dienten manchmal
der Präfekt habe dafür zu sorgen, daß «die monatlichen auch progymnastische Kleinformen (Erzählung, Chrie
(feierlichen) Deklamationen [...] durch den Besuch mit moralischem Schwerpunkt). [7] Über mangelnde
nicht allein der Rhetoriker und Humanisten, sondern Gelegenheiten, Reden zu halten, konnten sich die Schü-
auch der höheren Studierenden ausgezeichnet wer- ler der Gelehrtenschulen nicht beklagen; neben Vorträ-
den». [24] gen vor der Klasse und feierlichen D. vor einem Publi-
kum gab es Rede- oder Schulakte (actus oratorii oder

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scholastici) als Übungsformen, die an bestimmte Anlässe <Problemata oratoria> (1672) und die <Dispositiones ora-
gebunden waren (Schul- oder Festveranstaltungen). Die toriae> (1687) beweisen. Es waren Reden, die er für
D. hatten die Schüler zuhause ausgearbeitet, sie waren Übungszwecke ausgearbeitet hatte; sie waren nicht ei-
vom Lehrer korrigiert worden und konnten erst dann im genständig gedacht, sondern als integrierter Teil thema-
actus frei vorgetragen oder vorgelesen werden. [8] An tisch geschlossener Redeakte. «Dieser stattliche Corpus
den Jesuitengymnasien erfuhr der Rhetorikunterricht oratorischer Übungstexte Kaldenbachs vermittelt ein in-
keine tiefgreifende Änderung ; das Ziel war nach wie vor, struktives Bild vom rhetorischen Alltagsbetrieb. [...]
beizutragen zum «großen Werk der Gegenreforma- Und der Sachverstand, über den jeder 'Academicus' aus
tion». [9] Lektüre und schriftliche Ausarbeitungen blie- eigener Praxis wie aus regelmäßigem Besuch solcher
ben zwar unentbehrlich, aber die eigentliche eloquentia Deklamationen verfügte, war ein beträchtliches incita-
blieb an die Beherrschung der freien Rede gebunden. mentum für den Lehrer und seine Zöglinge». [20]
Deshalb blieb die Ausbildung zur Mündlichkeit das Das Schultheater war auch im Barock in der rhetori-
wichtigste Prinzip und Latein das einzig legitime Me- schen Schulpraxis fest verankert. Die Redeakte waren
dium dafür. Die Jesuiten waren bestrebt, über den Rah- teilweise in der Struktur dem Drama angenähert; sie
men des Klassenzimmers hinaus vor größerem Publikum bildeten ein Bindeglied von einfachen Redeübungen zu
zu reden (declamatiopublico). In der <Ratio studiorum> aufwendigeren Schulveranstaltungen (Schulkomödien
(1599) wurden als Orte für D. neben Aula, Katheder, und Dramen). So entwickelte sich eine «gleitende Skala
Kirche und Schule auch der Speisesaal genannt. [10] Auf von rhetorischen Übungs- und Präsentationsfor-
das Publikum als notwendiges Gegenüber wurde großer men» [21], an deren Ende Schulkomödien und Dramen
Wert gelegt. Die Constitutiones sahen ζ. Β. vor, daß jede standen. In der Perfektion solcher Aufführungen sah
Woche ein Schüler einen lateinischen Vortrag hielt [11], man die Früchte des gymnasialen Unterrichts. [22] Um
und in Humanitas und Rhetorica fand jeden zweiten die Mitte des 17. Jh. war es u. a. J. S. MITTERNACHT, der
Sonntag eine praelectio statt, zu der die jeweils höhere sich nicht n u r f ü r D . einsetzte, sondern jedes Jahr Komö-
bzw. niedrigere Klasse eingeladen wurde. [12] Durch dien und Dramen schrieb, die er dann von seinen Schü-
Redeübungen vor größerem Publikum gewannen die lern aufführen ließ. [23] «Daß die Comödien bey der
Schüler die nötige Selbstsicherheit im Vortrag. Die Je- Jugend ihren sonderlichen Nutzen haben / das ist ausge-
suiten erweiterten deshalb den Kreis der Übungsmög- macht. Voraus wenn es zur lebendigen Oratorie kom-
lichkeiten nicht nur auf das Schultheater, sondern auch men soll. Denn es liegt nicht allein das meiste von der
auf Akademien, in denen sich Schüler trafen; entspre- Action und Pronunciation daran / sondern es besteht
chend der Vielfalt des rhetorischen Unterrichts war die auch ein grosser Teil von der natürlichen und ungezwun-
Skala der Darbietungen groß: sie reichte vom Rezitieren genen expression hierinne». Mit diesen Bemerkungen
von Gedichten und der D. bis zur Inszenierung einer begann C. W E I S E seine letzten Äußerungen zum Schul-
Gerichtsverhandlung, bei der die Gegenseiten zu Wort drama, der Vorrede zur <Liebes-Alliance> (1708). Pro-
kamen und ein Urteil «gefällt» wurde. [14] nuntiatio und actio blieben Standardlernziele im Schul-
theater. Obwohl Weise diese beiden rhetorischen Kate-
An den im 17. Jh. gegründeten Adels- und Ritteraka- gorien in seinen Lehrbüchern kaum behandelte, be-
demien verzichtete man zwar nicht auf Redeübungen, es trachtete er sie nicht als nebensächlich. Seine Ausführli-
wurden aber «neben einiger Fertigkeit im Deklamie- chen Gedancken von der Pronunciatio und Aktion> ver-
ren» [15] nur oratorische Kurzformen, Komplimente öffentlichte er als Vorrede eines Dramensammelban-
und Konversationsfloskeln geübt. [16] Ziel der Ausbil- des. [24] Damit unterstrich er die Bedeutung der Komö-
dung war nicht der eloquente Gelehrte, sondern ein dien für einen lebendigen Rhetorikunterricht und die
Hofmann mit politischen Umgangsformen. Dem paßte dafür zu schaffenden Redegelegenheiten. Während D.
sich der rhetorische Unterricht an. Die Übungen waren auch weiterhin oft in lateinischer Sprache abgehalten
deshalb Anweisungen zur Redegewandtheit, bei denen wurden, setzte sich im Schultheater an den protestanti-
Nützlichkeit und Praxis im Vordergrund standen. In der schen Gelehrtenschulen allmählich die Muttersprache
Wolfenbütteler Akademie-Ordnung (1688) hieß es, die durch. [25] Gegen Ende des 17. Jh. vollzog sich im Zei-
Professoren sollten veranlassen, daß «öffentliche Dispu- chen des Politisch-Galanten ein Wandel: der decorum-
tationen, Consultationen und Deklamationen gehalten Begriff veränderte sich in charakteristischer Weise. Der
werden mögen, wozu sie dann gute und nützliche Mate- Bereich des äußeren <Sich-Auf führe ns>, der in dieser
rien außwählen» müßten. [17] Im Gegensatz zu den Ge- Kategorie aufgehoben war, verselbständigte sich und
lehrtenschulen wurden diese Redeübungen vorzugswei- Weise löste sie vom Ethischen ab, so daß das decorum
se in Deutsch und Französisch gehalten und die Themen bei ihm nur noch die äußere Erscheinung, die «galante
der politischen Wirklichkeit entnommen. Gestalt» [26] umfaßte. Mit dem «freymüthigen» und
Im universitären Bereich wurde neben dem Disputie- «höfflichen» Redner erbot Weise zwei rednerische Qua-
ren die akademische D. gepflegt, wie sie von Melan- litäten zum Leitbild, die sich im Klassenzimmer nicht
chthon eingeführt worden war; davon zeugen verschie- ausbilden ließen. Den so Ausgebildeten fehle der Mut,
dene Deklamationssammlungen. [18] Diese freiere «mit einer politischen courage» aufzutreten und die nöti-
Form der Redeübungen hat u.a. der Tübinger Rhetorik- ge Höflichkeit, das Beherrschen der gesellschaftlich nor-
professor C. K A L D E N B A C H fortgeführt; sie stellten das mierten Umgangsformen. [27] Deshalb bevorzugte Wei-
Kern- und Prunkstück akademischer Eloquenz dar, in se für seine Redeübungen ein «kleines Theatrum». [28]
dem die Rhetorikprofessoren im Rahmen von Festver- Es eigne sich besonders gut, die Schüler zu «freymüthi-
anstaltungen ihr Können unter Beweis stellten. Diese gen» Rednern auszubilden, die «zu künfftigen Aemptern
Reden erschienen später gesammelt in Buchform. [19] In mit eigener Hertzhafftigkeit gleichsam ausgerüstet» sei-
den reformierten Statuten der Universität Tübingen en [29] und den äußeren Umgangsformen nach einen
(1536) war festgelegt, daß die Professoren zum Unter- «Höfflichen Redner» abgaben.
richt im Deklamieren verpflichtet waren. Kaldenbach
trug diesen Anweisungen Rechnung - wie die veröffent- Für das jesuitische Schultheater gab F. L A N G in der
lichten Reden <Orationes et actus oratorii> (1671/79); <Dissertatio de actione scenica> (1727) rückblickend ein

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eindrucksvolles Bild von seinen rhetorischen Redeübun- Katheder halten zu lassen. D a man mit solchen Übungs-
gen im Zusammenhang mit dem actus theatralis. [30] Er reden «einen höhern Grad der Vollkommenheit in der
behandelte die declamado bzw. die exercitia scholastica Beredsamkeit» erreichen wollte, sollten sie so ausgear-
in Verbindung mit pronuntiatio und actio (§§ lOff.). Die beitet werden, «als wenn man sie wirklich öffentliche
D . sei für den Schauspieler eine Vorübung; bevor die halten solte». [5]
Schüler eine Rolle spielen könnten, die den Einsatz ge- Zwar wurde im 18. Jh. noch an einigen Gelehrtenschu-
stischer und mimischer Mittel erfordere, müßten sie Er- len T h e a t e r gespielt, doch im Laufe der Zeit traten die
fahrungen in szenischen Übungen sammeln. Als Rheto- öffentlichen Redeübungen wieder mehr in den Vorder-
rikprofessor schrieb er dafür 36 D . und szenische Stücke grund. [6] An der «allgemeinen Redelust» [2] beteiligten
(handschriftlich in der Staatsbibliothek München erhal- sich Universitäten und Gymnasien. Neben Latein traten
ten). Deutsch und einige Sprachen, die an diesen Schulen
auch gelehrt wurden (z.B. Französisch, Griechisch); die
Anmerkungen: T h e m e n wurden gegenwartsbezogener. Die Redeübun-
1W. Barner: Barockrhet. (1970) 449. - 2 e b d . 274. - 3 e b d . 269. gen behandelten patriotische und poetische Ereignisse,
- 4z.B. in der <Stralsunder Ordnung> (1643) von den Prima- religiöse, historische und pädagogische Fragen. Im Lau-
nern, in: R.Vormbaum: Ev. Schulordnungen, Bd.2 (1862), fe der Zeit lösten sich die D . von der unter d e m Einfluß
382. - 5ebd. - 6vgl. Landgräfl. Hess. Schulordnung (1656), in: der antiken Rhetorik stehenden Beredsamkeit. D e r
Vormbaum[4] 463. - 7Beispiele dafür von H.Bender in
W.Schmid: Gesch. der Erziehung V, 1 (1901) 73. - 8vgl. Nützlichkeitsgedanke, d . h . die Fähigkeit, das in der
R. Büttner: Rektor J. S. Mitternacht und seine Wirksamkeit am Schule Gelernte andern zu vermitteln, diente als Be-
Geraer Gymnasium 1646-1667. Progr. 1888, 22. - 9Barner[l] gründung öffentlicher Redeübungen. Neben f r ü h e r be-
331. -10Monumenta Germaniae Paedagogica V, 412. - 1 1 ebd. reits erhobenen Erfordernissen für einen «annehmlichen
II, 63.-12 ebd. V. 392; vgl. die Bestimmungen des Entwurfs von Vortrag» ging D A M M auf Details des Stimmgebrauchs
1586, ebd. 146. - 13vgl. «Regulae Academiae Rhetorum et ein, wie sie so detailliert bisher nicht gegeben worden
Humanistorum», a.O. [10] V, 474ff. - 14ebd., vgl. im übrigen waren. [8] Wie solche D . an Gelehrtenschulen aussahen,
Barner [1] 321, 340ff. - 15vgl. C.F.Bahrdt: Gesch. seines Le- geht u . a . aus dem Görlitzer Programm hervor. «Sonn-
bens, seiner Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst ge- abends beym Beschluß der Lectionen werden zwey Re-
schrieben (1790) I, 62. - 16vgl. Veit L. von Seckendorff: Teut-
scher Fürstenstaat (21660) 576. - 17Vormbaum ebd. 728f.; vgl. den gehalten. Die Erfindung, Einrichtung und Ausarbei-
Monumenta [10] VIII, 270ff. -18vgl. D. G. Morhof: Polyhistor tung wird den Rednern überlassen. Sie werden auf einem
(31732) 976, der einen Überblick über solche Redesammlungen freyen Platz und aus freyem Gedächtniß abgelegt. Man
gibt. -19vgl. Barner[1] 434f. - 20ebd. 436f. - 21 ebd. 302 und bemerkt bey der Musterung alles, was im Ausdrucke,
307. - 22 vgl. N. Sorg: Restauration und Rebellion. Die dt. Declamation, [ . . . ] fehlerhaft ist, und hat nichts anders
Dramen J.S.Mitternachts (1980) 49f. - 23vgl. J.S.Mitter- zur Absicht, als Theils die G a b e n junger Leute kennen
nacht: Diss, de variis exercendi styli et comparandae eloquen- zu lernen, theils auch sie durch öftere Vorübung so zu
tiae rationibus instituta. Progr. Gera (1651). - 24C. Weise: bilden, daß sie nach und nach geschickt werden, öffent-
Freymüthiger und Höfflicher Redner (1693). - 25Barner[1] lich aufzutreten und sich mit einigem Beyfall hören zu
310. - 2 6 C . Weise: Ausführliche Fragen über die Tugend-Lehre
(1696) 576. - 27ders.: Curieuser Körbelmacher (1702/1705), lassen.» [9] Wie in früheren Jahrhunderten wurden diese
Vorrede a2v. - 28ebd. a4v. - 29C. Weise: Das Ebenbild eines Reden erst in den obersten Klassen gehalten; in den
Gehorsamen Glaubens (1682) Vorrede 2 r . - 30F. Lang: Abh. unteren Klassen bereitete man durch kleinere R e d e n ,
über die Schauspielkunst, übers, u. hg. v. A. Rudin (1975). Rezitieren und Memorieren auf die D . vor. [10] Wäh-
rend diese Redeübungen Mitte des 18. Jh. ihren Höhe-
Literaturhinweise : punkt erreichten, gab es auch kritische Stimmen. Man
J.M. Meyfart: Teutsche Rhetorica oder Redekunst (1664; ND sah diese Schulung «vor nichts anders, als ein Verderben
1977). - R. Bary: Methode pour bien prononcer un discours, et vor dieselben [die Schulen]». [11] Man begründete das
pour le bien animer (Paris 1679). - J.C.Männling: Expediter mit d e m Hinweis auf die unangemessen große Vorberei-
Redner oder Deutliche Anweisung zur galanten Dt. Wolreden- tungszeit und darauf, daß die Schüler ohnehin erst am
heit (1718; ND 1974). - U.Stötzer: Dt. Redekunst im 17. u. E n d e der Schulzeit die erforderlichen rhetorischen Vor-
18. Jh.(1962). kenntnisse dafür besäßen. Trotz dieser Kritik wurde
auch an den im 18. Jh. errichteten philologisch-pädago-
V. Aufklärung, 18. Jahrhundert. Das Rednerideal der gischen Instituten der Universitäten, den späteren Leh-
Aufklärung, der vernünftige, aufgeklärte R e d n e r , präg- rerseminaren, Wert auf D . gelegt. In Helmstedt z . B .
te auch die Auffassung vom mündlichen Vortrag. F A B R I - waren dafür wöchentlich 4—6 Stunden vorgesehen. [12]
CIUS empfahl dem «vernünftigen und klugen redner»,
daß es gut sei, «wenn man bey reden im gemeinen leben Mitte des 18. Jh. wurde die Begrifflichkeit der D . un-
nichts ohne Überlegung fürbringt, [ . . . ] und in öffentli- klarer; man klagte über das «Unerträgliche der Regello-
chen declamationibus ein ordentliches systema seiner sigkeit» [13] und die Geringschätzung der D . [14] Dage-
gedancken, nach einer indiciösen disposition, im köpfe gen steht die große Zahl von Werken in Deutschland,
hat und bey der ausrede mehr auf die Gedancken, als England und Frankreich, die bis ins 19. Jh. hinein ver-
worte dencken darf, als welche man durch eine gute suchten, die D . zu systematisieren, theoretisch zu erfas-
Übung, leicht und wohl extempore setzen lernet». [1] E r sen und f ü r die verschiedensten Bereiche Anleitungen zu
empfahl, dieses in Rednergesellschaften zu lernen, die geben. Diese Theorien gingen aber kaum über den Stan-
ein «fürtrefliches mittel» [2] dafür seien. G O T T S C H E D dard der Antike hinaus. P F A N N E N B E R G empfahl nicht nur
gründete in Leipzig mehrere solcher Gesellschaften, de- die Nachahmung guter Muster, sondern ging auch detail-
ren Ziel es war, angehende R e d n e r unter Aufsicht eines liert auf theoretische Grundlagen der D. ein. Er unter-
Lehrers im R e d e n zu üben. [3] E r selbst hatte diese Gele- schied zwischen D . und Aktion - eine im 18. Jh. üblich
genheit «begierig ergriffen» und «mit grossem Vortheile gewordene Trennung zwischen pronuntiatio und actio.
getrieben». [4] In anderen Rednergesellschaften ver- Als D . definierte er das «öffentlich feierlich hergesag-
suchte m a n , verschiedene A r t e n von R e d e n durchzuge- t e ] » Hörbare. «Davon unterscheidet sich das Sichtbare
hen und diese entweder auf einem freien Platz oder an d e m Redenden, das gleichsam den zweiten Haupt-

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theil seines Vortrags ausmacht, die Aktion» oder, wie er «Kann man denn zuviel deklamieren? man kann nur
an anderer Stelle sagt, die «Geberden». [15] Sowohl D. falsch deklamieren. In diesem Ausdrucke braucht man
als auch Aktion gebraucht man zur Bezeichnung des das Wort ganz unrichtig, indem man es vorzüglich von
äußerlichen Vortrags. L Ö B E L faßt in seinen Bemerkun- der feyerlichen pathetischen Deklamation zu gebrau-
gen) die deklamatorischen Grundregeln zusammen. Für chen scheint. Man stellt in dieser Art zu reden, der
ihn ist die D. «die mündliche Darstellung vorgezeichne- Deklamation den Conversationston entgegen; gerade als
ter Ideen und Empfindungen». [16] «Declamation und wenn der Conversationston nicht auch eine Art der De-
Mimik lehren uns also mit den Worten zugleich den klamation wäre.» Sie «ist so mannigfaltig als die Gegen-
Geist kennen, der sie beseelt.» Für ihn gilt, daß man nie stände, welche durch sie vorgetragen werden sollen. So
etwas deklamiere, das man nicht durchdacht und sich zu wie jede Art des Styls ihren Charakter hat, so hat auch
eigen gemacht habe. Erst wenn man in den Sinn und die jede Art der Deklamation ihren eigentümlichen Charak-
Eigenheiten einer Komposition eingedrungen sei, könne ter und diesen auffassen, heißt gut deklamieren». [27]
man hoffen, daß man den wahren Ausdruck treffe; und Eine Verbindungslinie zwischen Redner und Schauspie-
dieses Nachdenken über die Natur und Beschaffenheit ler findet sich auch im Deklamator, der besonders im
der Gedanken mache den größten und wichtigsten Teil 19. Jh. an Bedeutung gewann (s. d.).
des Studiums der D. aus. [ 1 7 ] Am stärksten hat C L U D I U S Die Kanzelberedsamkeit erlebte beim Wiedererwa-
die D. systematisiert. Er unterteilt die körperliche Be- chen der D. neue Beachtung. «Was die Deklamation auf
redsamkeit in Tonsprache (D.), Gebärdensprache (Mi- der Kanzel betrifft, so erfordern die Majestät des Ortes,
mik) sowie den Redeakt und nennt die D. den «vollkom- und die Heiligkeit des Zweckes, daß sich der Prediger
mensten Ausdruck des in einem Vortrag liegenden Sin- eines so starken, iedoch harmonischen Schalles der
nes und Affektes». [18] Er betont, daß es sich nicht auf Stimme, als seine Brust es nur verstatten kann, einer
eine «Rede» beziehe, «weil man darunter blos die feierli- deutlichen und verständlichen Aussprache, eines gesetz-
che Rede verstehen möchte», die D. aber «auch beim ten und ernstlichen Betragens [...] befleißige [...]. Das
Vorlesen geist- und affektvoller Aufsätze, beim Vorle- Dogmatische erfordert bloß einen einfachen und gleich-
sen didaktischer, epischer und lyrischer Poesie, auf dem mäßigen Ton; die Drohungen des Wortes Gottes erfor-
Theater usw. stattfinden muß» [19] - eine Definition, die dern mehr Stärke». [28] Der Ton des Kanzelredners
auf das 19. Jh. weist. spielt beim Vortrag eine besondere Rolle und deshalb
Andere Klassifikationen gingen von einer Ideen-, müsse sich der Prediger besonders gut und vielseitig in
Empfindungs- und Phantasiedeklamation aus. [20] Bei der D. üben. [29] Daß die Vollkommenheit im Kanzel-
der ersten werden die Verhältnisse der Ideen nach ihrer ton nur wenigen Predigern gelang, geht aus den Klagen
Lage, Stellung, Einerleiheit, Verschiedenheit, ihren darüber Ende des 18. Jh. hervor. So entstanden Werke,
Verbindungen und Einflüssen zueinander angegeben; die sich speziell mit der Euphonie oder dem Wohllaut auf
beim Empfindungsvortrag stehen die «Wirkungen der der Kanzel beschäftigten, denn «besonders der Kanzel-
Eigenschaften einer Sache» im Vordergrund. «Die Re- redner verliert, wenn die Deklamation überhaupt oder
de, welche das Objekt in einem Spiegel zeiget, in dem sie im engeren Sinne, die Euphonie seinen Vorträgen
vermöge der lebhaften Perception demselben verähn- fehlt». [30]
licht ist, heißt alsdann Phantasiedeklamation oder viel-
leicht auch malende Deklamation.» [21] Alle diese Defi- Anmerkungen
nitions· und Einteilungsversuche finden sich in den 1 J . A . Fabricius: Philos. Oratorie (1724, N D 1974), 534. -
Theorien zur D. des 19. Jh. in unterschiedlichen Varian- 2 e b d . - 3 C . A . Büttner: A n l e i t u n g zur wahren B e r e d s a m k e i t
(1748) 358f. - 4 J . C . G o t t s c h e d : Ausführliche R e d e k u n s t (1736)
ten wieder. Sie kennzeichnen den Versuch, in der Vor-
529. - 5 Büttner [3] 358f. - 6 W . Barner: Barockrhet. (1970) 318.
tragslehre Rhetorik und Schauspielkunst wieder in einen - 7 F . Paulsen: G e s c h . des gelehrten Unterrichts. B d . 1 ( 3 1919)
Zusammenhang zu bringen. 600f. - 8 C . T . D a m m : Z u geneigter A n h ö r u n g einer öffentli-
«Will man die Kunst der D. unter uns noch finden, so c h e n dt. R e d - U e b u n g (1747) 2. - 9 C . F. Baumeister: D a s Früh-
muß man sie größtentheils auf dem Theater su- l i n g s = E x a m e n wird in Prisma des Gymnasii den 2. April 1784
chen.» [22] Diesem Satz aus dem Jahr 1794 muß hinzuge- g e h a l t e n werden (Görlitz 1784) Bl. 1. - 10vgl. J . E . B l ü h d o r n :
V o n den R e d e ü b u n g e n auf gelehrten Schulen (1796) 35. -
fügt werden, daß der «theatralische» Vortrag erst seit
I I P . F . Würtenberger: V o n d e m vielen A c t u s O r a t o r i o s = h a l -
einiger Zeit zu «beträchtlicher Vollkommenheit» [23] ten (Greitz 1745) Bl. 2. - 12 Nachricht v o n d e m auf der Julius-
gediehen war. Zwar hatte sich L E S S I N G bereits Mitte des Carls-Univ. zu Helmstädt errichteten Philol.-päd. Institut.
18. Jh. im Hinblick auf die Schauspielkunst mit der D. 1780, in: M o n u m e n t a G e r m a n i a e Paedagogica VIII, 473. -
befaßt, es sind aber nur Skizzen seines um 1754 geplan- 1 3 C . G . Schocher: Rechtfertigung der Schreibart <Teutsch>
ten Werkes <Der Schauspieler: Ein Werk worinnen die (1793) IX. - 14vgl. F . H . R a m b a c h : Frg. über D . (1800) 5 f . ;
Grundsätze der ganzen körperlichen Beredsamkeit ent- H . G . F . F r a n k e : U e b e r D . , 2 T h e i l e (1789/1794) T h e i l l , 5f. -
wickelt werden> überliefert. [24] Entstand die Deklama- 15 J . G . Pfannenberg: U e b e r die rednerische A k t i o n mit erläu-
tionskunst der Goethezeit teilweise erst im Anschluß an ternden Beispielen (1796) 76 u. 77. - 1 6 R . G . L ö b e l : Einige
B e m e r k u n g e n über die D . , in: T. Sheridan, U e b e r D . oder d e n
die Lehre von der Schauspielkunst, so wurden die Aufga- mündlichen Vortrag in Prose und V e r s e n , aus d e m Engl. T. 2
ben des Schauspielers auch in der Deklamatorik berück- (1793), 207f. - 1 7 e b d . 279. - 1 8 H . H . C l u d i u s : Grundriß der
sichtigt. [25] Der Unterschied zwischen oratorischer und körperlichen B e r e d s a m k e i t (1792) 40. - 1 9 e b d . 40f. A n m . 2. -
theatralischer D. besteht darin, daß der Schauspieler eine 2 0 F r a n k e [14] 114, 261f. - 2 1 e b d . - 22 J. G. D . S c h m i e d t g e n :
Person in einer besonderen Lage darstellt; Grundlage U e b e r die E u p h o n i e oder den Wohllaut auf der Kanzel (1794)
seiner D. ist der Charakter der Person, die er vorstellt. 33. - 2 3 e b d . - 2 4 G . E . Lessing: Sämtl. Sehr., hg. v o n K. Lach-
Der Redner dagegen stellt seinen Charakter, seine Ge- m a n n , B d . 14 (1898) 179ff. - 2 5 v g l . W . W i t t s a c k : Stud, zur
danken, Leidenschaften und Absichten dar und ist «weit Sprechkultur der G o e t h e z e i t (1932) 5ff. - 2 6 Cludius [18]
X X X V I f . - 2 7 R a m b a c h [14] 5f. - 2 8 F . v. Bielfeld: Erste
entfernt, freude nachzuahmen» [26]; er deutet nur auf sie
Grundlinien der allg. G e l e h r s a m k e i t , B d . 2 (1767) 370f. -
hin. Nach R A M B A C H waren es im 1 8 . Jh. nur die Schau- 2 9 v g l . ders.: Warum mangelt e s bey d e m täglichen Wachsthum
spieler, «von denen wir Deklamation fordern» und man der Wissenschaften gleichwohl n o c h sehr an g u t e n Predigern?
machte ihnen den Vorwurf, sie deklamieren zu viel. (1771) 42f. - 3 0 Schmiedtgen [22] X I V .

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Literaturhinweise : die sich bereits im 18. Jh. anbahnte. Stilistik und D.


M. L'Abbe: L'Eloquence du Corps ou l'action du predicateur (verselbständigt aus elocutio bzw. actio und pronuntia-
(Paris 1761). - H.Blair: Vöries, über Rhet. und schöne Wiss., tio) traten als eigenständige Formen auf, wobei die Mi-
übers, von K.G. Schreiter, 4Bd. (1785-89), 24., 25., mik unter die D. gefaßt wurde. Ausdruck dieser Ent-
3 0 . - 3 4 . Vorl. - C.Batteux: Einl. in die Schönen Wiss., übers,
von K. W. Ramler, B d . 3 ( 4 1774), 245ff. - J. Clerici: Gedancken
wicklung war u.a., daß es in Wien einen Lehrstuhl für
Von der Wahren und Falschen Rede-Kunst Ihres Nutzens we- Stilistik gab und einer für D. Anfang des 19. Jh. in Leip-
gen. Aus dem Frz. (1722) 88ff. - (F.C. Curdes): Uiber die zig eingerichtet wurde. Zum anderen verarbeiteten
Action angehender Prediger auf der Kanzel (1791). - C. J. Do- Schulrhetoriken und Lehrbücher für Homiletik und
rât: Über die D. Aus dem Frz. In: A.W.Schreiber, Dramati- Schauspielkunst diese Entwicklungen in eigenen Ab-
sche Blätter, 2. Quart. (1788) 193ff. - Etwas über D . , in : Dreßd- schnitten. «Die Theorie dieser äußern, körperlichen Be-
ner Gelehrte Anzeigen (1791) 313ff. - J.G.Ewald: Ueber D. redtsamkeit oder Redekunst heißt [...] Deklamations-
und Kanzelberedsamkeit (1809). - M . L e Faucher: Traite de kunst oder Declamatorik [...], welche im weiteren Sinne
l'action de l'orateur, ou de la Pronunciation et du geste (Paris
die Betonungs- oder Redeton- und geberdensprachkunst
1657); dt.: Conrarts Gründlicher Unterricht wie ein geistl. u.
weltl. Orator in der Aussprache und Gestibus sich manierlich [D. und Mimik im engern Sinne] in sich faßt, deren
und klug aufzuführen hat (1709). - J. G. Fichte: Plan anzustel- Produkt das eigentliche Deklamieren oder die wirkliche
lender Rede-Übungen (Zürich 1789), in: J.H.Fichte, Deklamation im engeren Sinne ist». [4] Damit umschrieb
J.G. Fichtes Leben und litter. Briefwechsel, Th. 2 (1831) 3ff. - W Ö T Z E L die Theorie. Darüber hinaus faßte er die D. als
J. C. Gottsched : Vorübungen der Beredsamkeit ( z 1756) 225ff. - «Schönsprechkunst oder die schöne Kunst» [5] auf, in
J.F.Gruner: Anweisung zur geistlichen Beredsamkeit (1766) der «das Innere des Menschen [...] am vollkommensten
335ff. - S . d e Grimarest: Traité du Récitatif, dans la lecture, und schön wirksamsten ausgedrückt werden müsse». [6]
dans l'action pubi, dans la declamation et dans le chaut, avec un Damit wurde Wötzel beispielhaft für viele Deklama-
traité des accens, de la quan tité (Paris 1707); dt. Abh. vom
Recitiren im Lesen, in öffentlichen Reden, in der D. und im
tionsbücher, die Anfang des 19. Jh entstanden. [7] Die
Gesänge, in: Sammlung vermischter Sehr, zur Beförderung der Ton- und Gebärdensprache sei eine Empfindungs- und
schönen Wiss. und freien Künste 4 (1761) II, 223ff. - J. D. Hart- Gefühlssprache und demnach auch «die wahre Urspra-
mann: Einige Gedanken über den Nutzen öffentlicher Redeü- che des frühesten Menschengeschlechts» [8], die vor der
bungen auf Schulen (1791). - A. J. Hecker: Gedanken über die Wort- oder Verstandessprache existierte und Gefühle
beste Art des Vortrage der Rhet. und der Bildung populärer unmittelbar auszudrücken vermochte. Zwar -war auch
Volksredner auf Schulen (1783). - C . G . Körner: Ideen überD., für F A L K M A N N 1836 die Vortragskunst noch «die edelste
in: ders. Ästhet. Ansichten. Ausg. Aufsätze, hg. von J. P. Bau- der Schönen Künste» [9], es gab aber im Vormärz auch
ke (1964) 15-23; zuerst: N. Thalia 1793, 4. Stck., lOlff. - Lehr- Hinweise, daß sie wieder zur politischen Kunst werden
buch der Dicht- und Redekunst zum Gebrauch der Churfürstl.
Gymnasien in Baiern (1783) 203ff. - J.G. Maaß: Grundriß der
könne. Nach 1775 waren Rhetorik und parteiische Wir-
allg. und besondern reinen Rhet. (1798) 98ff. - (L. J. Marien- kungsabsicht mehr und mehr in den Hintergrund getre-
burg): Anweisung zur Redekunst (1797) 156ff. - J. Mason: Es- ten; mit dem Ausschluß des Bürgertums von der Aus-
sai on Elocution, or Pronunciation (London 1749). - ders.: Der übung der politischen Macht gingen die Betätigungsfel-
Student und der Priester, Oder Anweisungen, wie man in die- der für die Beredsamkeit verloren, die Vortragskunst
sem Stande sich rühml. u. nützl. verhalten soll. Aus dem Engl. zog sich in andere Bereiche zurück. Falkmann sah erste
(1768) 81ff. - J. Priestley: Vorl. über schriftlichen und mündli- Anzeichen für politische Reden bei den «Vorträgen der
chen Vortrag. Nach der neuesten engl. Ausg. teutsch bearbeitet Volksvertreter in den Kammern oder: [in den] Häusern,
von J. v. Wackerbarth (1793). - C. Pyl. : Die Nutzbarkeit der auf wo sie über das Beste ihres Landes sich berathschlagen.
einer Bühne zu haltenden Redeübungen (1736). - P. Rapin:
Betrachtungen über die Beredsamkeit, Dichtkunst, Gesch. und
[...] Man kann, man wird hier die Gabe des Mündli-
Weltweisheit. Aus dem Frz. 2.Th. (1768) 16ff. - J.K.F. Rell- chen] V[ortrags] nicht entbehren, und vielleicht geben
stab : Versuch über die Vereinigung der musikalischen und ora- diese immer mehr [...] sich ausbildenden Institutionen
torischen D. (1786). - C. Rose: Kritik der äusserlichen Bered- unserer Kunst einen neuen, bisher nicht gekannten
samkeit (1800). - J. W. Schmid: Anleitung zum populären Kan- Schwung». [10] Nachdem die Befreiungskriege einige
zelvortrag, Th. 1 (1795) 331ff. - G. S. Steinbart: Anweisung zur Rednertalente hervorgebracht hatten, fand die Vor-
Amtsberedsamkeit christl. Lehrer (1784) 145ff. - ders.: Gedan- tragskunst in der politischen Rede neue Betätigungsfel-
ken über die zweckmäßige Einrichtung öffentlicher Redeübun- der und lebte in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in den
gen (1764). - J.G. Sulzer: Allg. Theorie der schönen Künste.
Volksvertretungen weiter.
4Theile (1771ff.) (Vortrag). - I. Weithase: Zur Gesch. der ge-
sprochenen dt. Sprache, 2Bde. (1961). - C. Winkler: Elemente
der Rede (1931). - I. Wurz: Anleitung zur geistlichen Bered- Um die Jahrhundertwende gab es immer wieder neue
samkeit, B d . 2 ( 3 1789) 308ff. - J.F.Zöllner: Vergleichung der Versuche, die D. und den mündlichen Vortrag zu klassi-
Action des Predigers mit der des Schauspielers, in: Berlin. fizieren. H E I N S I U S [11] und R A M B A C H [12] unterteilten sie
Monatsschr. 1 (1783) 168ff. nach personifizierenden, charakterisierenden und gram-
matischen Aspekten. Dabei unterschied man zwischen
der theatralischen D. des Schauspielers, der deklamato-
VI. 19. Jahrhundert. D Ö R I N G definierte 1830, die D . risch-mimischen des Redners und dem rein deklamatori-
«stellt sich die Aufgabe, irgend ein stylistisches Erzeug- schen Vortrag des Vorlesers. Stellte der Schauspieler
niß mündlich so wiederzugeben, daß dasselbe in aller einen bestimmten Charakter dar, so mußten bei ihm
Frische der ersten Entstehung als eben gedacht oder deklamatorische und mimische Kunst vollständig ver-
empfunden aus der Seele des Sprechenden hervorzuge- schmelzen. Der Redner dagegen sei im körperlichen
hen scheint. Vollkommen ist daher eine D. nur dann zu Ausdruck viel beschränkter. Er sei auf einen bestimmten
nennen, wenn sie in dem Zuhörer die Illusion hervor- Raum angewiesen (Katheder, Kanzel) und bringe ent-
bringt, daß er den Vortrag, selbst bekannten Inhalts, für weder nur seine eigene Persönlichkeit zum Ausdruck,
eine Geburt des Augenblicks hält». [1] Anfang des die den Gesetzen des Sittlichen und Schicklichen streng
19. Jh. wurde die D. nicht nur in «medicinischer und unterworfen sei, oder mische in dieselbe von dem Cha-
diätetischer» [2] Hinsicht betrachtet und ihr Wissen- rakter, den sein prosaischer oder poetischer Vortrag ent-
schaftscharakter untersucht und bejaht. [3] Es lösten sich halte, nur soviel ein, als die eigene und allgemeine Emp-
auch einzelne Teile aus der Rhetorik, eine Entwicklung, findung seiner Hörer von der Eigentümlichkeit des frem-

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den Charakters fordere. Hieraus folge zwar, daß er den Bedacht [genommen wurde], die Jugend in d e m freien
Hauptausdruck auf Ton und Stimme lege, und auch den Gebrauch der R e d e zu üben». [24] E n d e des 19. J h . klag-
Ausdruck höheren Affekts gegen den Schauspieler her- te H E S S E L noch, daß «diese Fähigkeiten in der Schule
abstimme; nicht aber, daß er der mimischen Beihilfe nicht genügend geübt worden sind». [25] A u c h eine Mi-
ganz entbehren könne. Diese müsse d e m R e d n e r in allen nisterialverfügung f ü r die höheren Schulen Preußens
Fällen bleiben, wo er nach seinem eigenen oder dem empfahl dringend größere Berücksichtigung der D . [26]
Gefühl des Dichters, den er repräsentiere, das Bedürfnis Sie fördere Selbstvertrauen und wirke gemeinschaftsbil-
empfinde, durch Kopf, H a n d und Blick den Ausdruck dend; deshalb dürfe es nicht bei d e m üblichen Verfahren
der Stimme zu begleiten, um die Lebhaftigkeit der Vor- bleiben, daß man nur einige Schüler an Feiertagen oder
stellung auch f ü r den sinnlichen Teil des Publikums ein- zum Jahresabschluß deklamieren lasse. Die D . müsse f ü r
dringlich zu machen. [14] D e r Vorleser dagegen habe jeden Schüler zur Pflicht werden. [27]
sich auf den stimmlichen Ausdruck zu beschränken. «Er E n d e des 19. Jh. wurde erstmals die D . im R a h m e n
ist bloß Organ seines Schriftstellers [ . . . ] , und sein ganzes weiblicher Bildung diskutiert. [28] A u s Schulprogram-
Bestreben kann nur dahin gehen, die Schönheiten des men geht z . B . hervor, daß man einerseits Bedenken
Gedankens durch den angemessenen Ausdruck der gegen die Deklamationspraxis an Mädchenschulen ha-
Stimme zu erhalten.» [15] be, weil sie zu Eitelkeit und Koketterie erziehe und man
A n Universitäten und Gelehrtenschulen wurden De- G e f a h r laufe, «Schauspielerinnen heranzubilden» [29],
klamationsübungen im 19. Jh. beibehalten, und die andererseits versprachen sich die Lehrer von der einfüh-
Techniken des mündlichen Vortrags waren noch bis ins lenden D . «eine ethische Rückwirkung auf die Schülerin-
20. Jh. üblich. [16] Heinsius stellte fest, «das Studium der nen selbst». [30] Aufgrund erfolgreicher Deklamations-
Deklamation ist in neuern Zeiten auf [ . . . ] Schulen als ein übungen im Unterricht b e m ü h t e m a n sich, diese Kunst
so würdiger Gegenstand der Aufmerksamkeit betrachtet über die Schule hinaus zu kultivieren. «Eine sorgfältige,
worden, daß man fast allgemein den praktischen U e b u n - von höheren Gesichtspunkten aus geleitete Pflege der
gen in derselben besondere Stunden in der Woche be- Deklamation in der Mädchenschule [ . . . ] muß endlich
stimmt hat» [17]; Holtei berichtete aus seiner Schulzeit in auch auf das H a u s und die Familie in heilsamer Weise
Breslau, daß alle 14Tage ein D.-Tag stattfand. [18] In zurückwirken.» [31]
der Restaurationszeit machten die Lehrer aus den Schu- Auch im 19. Jh. blieb die Verbindung zwischen Red-
len zeitweilig eine «Arene der Beredsamkeit» [19] und ner und Schauspieler gewahrt - wie sich beispielsweise
versuchten, durch Ü b u n g e n im mündlichen Vortrag «auf an der Weimarer Bühne zeigte. In seinen auf die Thea-
die Lehrstühle, Kanzeln, Gerichtshöfe» [20], wie insge- terpraxis bezogenen <Regeln für Schauspieler» (1803)
samt auf das öffentliche und private Leben stilbildend nannte G O E T H E die D . eine gesteigerte Rezitation. [32]
einzuwirken. Diese Praxis der Vortragskunst ging auch Auch A U S T I N hob die enge Verbindung von Rhetorik
in die Lehrpläne ein, so z. B. in die I n s t r u c t i o n f ü r den und Schauspielkunst hervor [33]; 1861 gab A . SCHEBERT
Unterricht in dem Großherzogl. Gymnasium zu Darm- in <Rede und Gebärde» schauspielerisch-deklamatori-
stadt» (1827): «Besondere Anweisung wird zur Haltung sche Anweisungen, die sie von Quintilian ableitete. Eine
öffentlicher R e d e n ertheilt» (S. 16). In den Schulpro- andere Verbindung zwischen R e d n e r und Schauspieler
grammen wurden diese Anweisungen in die Praxis um- findet sich im Deklamator. Bereits in der Goethezeit
gesetzt. Ein Stufenplan sah vor, daß in den oberen Klas- wurde die D . als eine Kunst betrachtet, in der der Vor-
sen aus Vortragsübungen D . wurden. Die von den Schü- tragende «angemessene Körper- und Seelenzustände
lern ausgewählten und zu deklamierenden Stücke gingen durch R e d e t ö n e wahr und schön» darstellt. [34] D e r öf-
in Prima «in die frei, augenblicklich extemporierte Rede fentlich-deklamatorische Vortrag lag in den H ä n d e n von
über, wobei der Schüler nicht blos den äußern Vortrag, D e k l a m a t o r e n , die durch lesende A u t o r e n ( z . B . TIECK,
sondern auch schnelles Erfinden und O r d n e n der Begrif- H O L T E I ) und Schauspieler ( I F F L A N D u . a . ) ergänzt wur-
fe üben kann». [21] Die intensive Behandlung der D . , den. [35] U m 1800 trat der Deklamator in den Vorder-
d . h . die Notwendigkeit von Übungen zur Vortragskunst grund. E r stehe «zwischen dem eigentlichen R e d n e r und
in den Schulen, rechtfertigte B E N E D I X damit, «daß in Kunstschauspieler mitten inne», müsse sich aber mehr
unsern Zeiten fast Jeder, in gesellschaftlichen Kreisen, dem R e d n e r als dem Schauspieler nähern, weil er nicht
vor Gericht, in Versammlungen, in der Oeffentlichkeit bloß eine Rolle zu spielen, sondern m e h r e r e nach einer
überhaupt in die Lage kommt, vor Zuhörern allein zu «psychologischen O r d n u n g ausgewählte Deklamierstük-
sprechen». [22] So erschienen neben Rhetoriklehrbü- ke mündlich schön mit angemessener Gebärdensprache
chern vor allem Vortragsanleitungen für die tägliche Pra- vorzutragen und den Charakter jeder darin vorkommen-
xis und alle Disziplinen. 1892 resümierte SCHUSTER: «Mit den Stelle treu durchzuführen» habe. [36] In der Tradi-
der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfah- tion der Deklamierbücher [37] trat später der Deklama-
rens, [ . . . ] mit den Stände- und Volksversammlungen, tor hinter d e m Vorleser zurück; Mimik und Gestik
[...]» i s t j e n e f r ü h e r vermißte Beredsamkeit in unserem schenkte man kaum noch Beachtung, der stimmliche
[ . . . ] Vaterlande mit ungeahnter Kraft wieder erstanden Ausdruck wurde das allein Ausschlaggebende. E n d e des
und glänzende R e d n e r finden sich gegenwärtig in allen 19. Jh. verschwammen die Konturen zwischen D . und
Ständen und Volksklassen, auf dem Katheder wie in der Rezitation. «Zugleich von dem Gegenstand ergriffen zu
Werkstatt, unter Juristen, Medizinern, Kaufleuten und scheinen und doch innerlich über ihm zu stehen, die
Gewerbetreibenden.» [23] War Anfang des 19. Jh. der Rezitation mit der D . zu verbinden, ist schließlich die
Rhetorikunterricht teilweise reduziert und der Aufsatz höchste A u f g a b e eines guten Vorlesers.» [38] Ähnliche
in den Mittelpunkt gerückt, förderte man später die Entwicklungen zeichneten sich in England und Frank-
Mündlichkeit und auch D . wieder mehr. Trotzdem gab reich ab. Die Engländer haben ihre «Shakespeare-Rea-
es viele Schulen, besonders die sog. niedrigen, in denen dings» und die Franzosen geben «ihre déclamationes»
die «Entwicklung und Vervollkommnung nicht als eine auf und beginnen, laut lesen zu lernen. [39] D . und Rezi-
Hauptaufgabe des Unterrichts» betrachtet wurden; man tation bildeten in der zweiten H ä l f t e des Jahrhunderts
bedauerte, daß «leider bis jetzt [ . . . ] zu wenig darauf beliebte und gepflegte Konventionen. A u t o r e n stellten

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ihre Dichtungen in privaten Kreisen vor, Rhapsoden, 8 Wötzel [4] 5. - 9 C. F. Falkmann : Deklamatorik oder vollstän-
Rezitatoren und D e k l a m a t o r e n traten auf Tourneen in diges Lehrgebäude der dt. Vortragskunst. T. 1 (1836) 9. -
öffentlichen Veranstaltungen auf. In den Abendgesell- lOebd. 16. - 11T.Heinsius: Teutsch oder theoretisch-prakti-
schaften der Gründerzeit wurde die D . zum Unterhal- sches Lehrbuch der gesammten Dt. Sprachwiss. (1807-1812),
Th.3: Der Redner und Dichter oder Anleitung zur Rede und
tungsmittel, ein geselliges Ritual mit festen Regeln - wie
Dichtkunst (51832) 117ff. - 12F. Rambach: Frg. über D. (1800)
u . a . das äußere Auftreten des Deklamators zeigte: er 22ff. - 13Heinsius[11] (61839) 132f. - 14ebd. - 15ebd. 133. -
präsentierte sich in Gesellschaftstoilette und mit Hand- 16 vgl. A. Ciar: Uber Declamation und declamatorische Übun-
schuhen. [40] D a s T h e m a der D . hing «von der geistigen gen, ein Vorwort bei Eröffnung der akademisch-deklamatori-
Beschaffung und der Stimmung der Gesellschaft» ab; schen Übungen (1820); ders.: Auswahl von Gedichten zu dekla-
wie die Konversation möglichst glatt und höflich war, so matorischen Übungen. Nebst dem Hergang der deklamatori-
ging man auch bei der Wahl der zu deklamierenden schen Uebungen an der Karl Ferdinands Universität in Prag
Texte «mit äußerster Vorsicht zu Werke»; man wählte (1822). - 17T. Heinsius: Theoretische und praktische Anlei-
kein T h e m a , das an Zeitströmungen «Konzessionen» tung zur Bildung des mündlichen Vortrags (1802) Vorerinne-
rung. - 18K. v. Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 1 (1843) 148. -
machte. [41] Im Unterschied zu den Salons des 18. Jh., 19Verh. der dritten Versammlung dt. Philologen und Schul-
der Romantik und Biedermeierzeit, in denen man sich männer in Gotha (1840, 1841) 28. - 20 A. Arnold: Ueber den
kritisch mit Literatur auseinandersetzte, hatten die D . in Umgang und die Anordnung des Unterrichts in der Mutterspra-
diesen Abendgesellschaften nur noch dekorative Funk- che. Progr. d. Gymn. Bromberg (1825) 19. - 21S.Imanuel:
tion. A u c h die Anstandsbiicher als Z e u g e n gesellschaft- Ueber den Deklamationsunterricht auf Schulen, Progr. Minden
lichen Verhaltens bestätigen, daß D . beliebte Unterhal- (1825) lOf. - 22R.Benedix: Der mündliche Vortrag, 3Bde
tungsmittel waren. Gleichzeitig dokumentieren diese (1859) Bd. 1, Vff. - 2 3 C . F . T . Schuster: Der gute Vortrag, eine
Bücher aber auch, daß der umfassende Anspruch der Kunst und eine Tugend (21892) lOf. - 24D. Knispel: Ueber die
Schule durch den Charakter der Gesellschaft in diesem Notwendigkeit der oratorischen Ausbildung und bes. der des
äußeren Vortrages eine erhöhte F ü r s o r g e . . . , in: Allg. Schulz.
Punkt mißachtet wurde, denn die Deklamierbücher ent- (1844), Nr. 168 (1361-1372); 169 (1377-1381); 170
fernten sich zunehmend v o n den Zielen der Schuldekla- (1885-1889), hier: 1361. - 25K. Hessel: Der mündliche Vor-
mation. Nicht literarische A m b i t i o n e n , sondern die A b - trag und seine Pflege im Schulunterricht, in: W. Reins Ency-
sicht, die Sammlungen den gesellschaftlichen Bedürfnis- klop. Hb. d. Päd. 7(1899) 482. - 2 6 G. Kniffer: Über das Dekla-
sen anzupassen, bestimmten Auswahl und Anordnung mieren an den höheren Schulen, in: Jb. f. Philol. u. Päd. 35
der Texte; entsprechend waren die Ansprüche herabge- (1889) 100-108. - 27W. Münch: Die Pflege der D. an den
setzt. D i e hohe Zahl v o n Deklamatorien läßt auf ein höheren Schulen, in: Beilage z. Jb. d. Realgymn. Barmen
großes Bedürfnis nach Vorlagen für deklamatorische (1887) 16. - 28 H. Nehry: Über Deklamationsunterricht in der
höheren Mädchenschule, in: Die Mädchenschule. Zs. f. d. ge-
Veranstaltungen schließen. Sie waren für den häuslichen
samte Mädchenschulwesen mit besonderer Berücksichtigung
Gebrauch, die Salons und geselligen Kreise bestimmt, der höheren Mädchenschule 2 (1889) 209 - 2 2 5 . - 29B. Peiné:
denn D . <ereignete> sich in Gesellschaft. U m die Jahr- Wie sind unsere Schülerinnen zu einem guten Vortrag deut-
hundertwende wurden diese Deklamationsveranstaltun- scher Poesie und Prosa anzuleiten? in: Zs. f. weibl. Bildung in
g e n zunehmend kritisiert. [42] Schule und Haus 20 (1892) 87. - 30Nehry [28] 214ff. - 31 ebd.
225. - 32vgl. R . M . M e y e r : Goethes Regeln für Schauspieler,
War das 19. Jh. in der Vortragskunst wesentlich durch in: Goethe-Jb.31 (1910) 117ff.; I. Weithase: Goethe als Spre-
die D . bestimmt, so wirkte sich das auch auf den Kanzel- cher und Sprecherzieher (1949). - 33G. Austin: Die Kunst der
vortrag aus. [ 4 3 ] Z A R B L forderte, «die Kanzelberedsam- rednerischen und theatralischen D., übers, von C.F. Michaelis
keit soll an der allgemeinen Kultur des schön gesproche- (1818). - 34D. Anton: Die Kunst des äußeren Vortrags (1823)
nen Wortes teilnehmen» [44], aber Tonfall, Mimik und 1. - 35vgl. G. A. v. Seckendorf: Vorlesungen über die D. und
Mimik, 2Bde. (1815/16) Bd. 1, 14f. - 36 J. C. Wötzel [4] 795f. -
Gebärde des Predigers sollten maßvoll sein, der Aus- 37E. Palleske: Die Kunst des Vortrags (1880); R. Benedix: Die
druck müßte «selbst bei einer vorwaltenden besondern Lehre vom mündlichen Vortrag (1852). - 38Palleske [37] HO. -
Lebhaftigkeit des Innern [ . . . ] immer etwas Mildes und 39ebd. - 40N. J. Anders: Takt und Benehmen. Das Buch der
Gemäßigtes zeigen». [ 4 5 ] M Ö L L N meinte, daß man größ- feinen Lebensart (1902) 210f. - 4 1 ebd. - 4 2 G . Häntzschel: Die
tenteils gedämpft sprechen müsse und mit der Stimme häusliche Deklamationspraxis. Ein Beitrag zur Sozialgesch, der
verfahre man ökonomisch, «damit sie für Stellen des Lyrik in der 2. Hälfte des 19. Jh., in: Zur Sozialgesch, der dt.
wärmeren Ergusses mehr Kraft und Erhebung zulas- Lit. von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende (1985)
se». [ 4 6 ] Nach KERNDÖRFFER müßte der Prediger die 203 - 2 3 3 ; hier 231ff. - 43 vgl. J . G . Ewald: Ueber D. und Kan-
zelberedsamkeit (1809). - 4 4 J . B . Zarbl: Hb. der kath. Homile-
«malende R e d e » zwar kennen, in der die Stimme mit den
tik (1839) 394f. - 4 5 H . A. Kerndörffer: Hb. für den geregelten
ihr eigenen Tönen B e w e g u n g e n ausdrückt», er dürfe mündlichen Vortrag geistlicher Reden (1832) 12f. - 46Mölln:
davon aber «nur einen mäßigen, besonders bedingten «Predigten for denkende Verehrer Jesu.» Vorw. seiner
Gebrauch» [47] machen. N o c h E n d e des 19. Jh. riet AL- 1. Sammlung; zitiert nach I. Weithase: Zur Geschichte der ge-
LIHN d e m Kanzelredner, er möge sich «wohl hüten, in sprochenen deutschen Sprache, Bd. 2 (1961) 64f. -47Kerndörf-
A f f e k t zu geraten und durch heftige und gewaltsame fer [45] 132. - 48H. Allihn: Der mündliche Vortrag und die
B e w e g u n g e n gesunde ästhetische und ethische Gefühle» Gebärdensprache des ev. Predigers (1893) 3.
verletzen. [48]

Literaturhinweise :
Anmerkungen : H . A . Kerndörffer: Kurze Übersicht über die declamatorischen
1M. Döring: Praktische Anleitung zur D. für Schule und Haus Regeln (1800). - F.Manitius: Versuch einer Slg. von Materia-
(1830) 1. - 2G.F.Ballhorn: Über D. in medicinischer und lien für D. und Gestikulation (1800). - G. Pureberl: Über den
diätetischer Hinsicht ( 1802). - 3 D. F. Bielfeld : Ueber die D. als mündlichen Vortrag des Redners mit erläuternden Beispielen.
Wiss. (1801). - 4J. C. Wötzel: Grundriß eines allg. und faßli- Zur Beförderung der geistlichen Beredsamkeit (1803). -
chen Lehrgebäudes oder Systems der D. nach Schochers Ideen D. C. v. Rommel: Aristoteles und Roscius, oder über die Kunst
(1814) 27. - 5 ebd. 30. - 6 ebd. 68. - 7 Eine Zusammenfassung überhaupt und über die Gebehrden- und Deklamirkunst insbe-
über die Theoretiker und Didaktiker der D. bei I. Weithase: sondere (1809). - H. A. Kerndörffer: Hb. der D. 3Bde. (1813/
Anschauungen über das Wesen der Sprechkunst von 15). - A. Cammerer: Magazin für Gedächtnisübungen und De-
1775-1825 (1930) 108-116; bibliograph. Notizen bei W. Witt- clamation in Schulen (1814). - C. H. Hänle: Practische zum Teil
sack: Stud, zur Sprechkultur der Goethezeit (1932) 201 - 2 0 8 . - auf Musik gegründete Anleitung zur Declamation und zum

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mündlichen Vortrag (1814). - Grundriß einer Anweisung für higkeiten vebessern ( . . . ) will, m u ß ständig üben, sei es
Lehrer in Seminarien, Bürger- und Landschulen zum Lesen und durch Selbsttraining zu Hause oder in Rhetoriksemina-
Declamiren (21815). - H. A. Kerndörffer: Materialien für den ren». [7] E s erschienen «Übungen aus der Praxis f ü r die
ersten Unterricht in der Declamation, zur Bildung eines guten Praxis aufgezeichnet, die Sie selbst durchführen o d e r ,
richtigen und schönen Vortrags (1815). - C. J. Bierbaum: Leit-
faden zum Schul- und Privatunterricht in der Declamation und falls Sie Rhetoriktrainer sind, in Seminaren als Redetrai-
dem mündlichen Vortrage (1816). - C. D. Klopsch: Dt. und lat. ningsübungen einsetzen können». [8] So o d e r ähnlich
Gespräche zur Declamation bei öffentlichen Redeübungen auf lauten die Formulierungen in den meisten Populärrheto-
Gymnasien und höheren Bürgerschulen (1823). - H.A.Kern- riken, denn auch in der Weiter- und Erwachsenenbil-
dörffer: Anleitung zur gründlichen Bildung des guten deklama- dung erkannte man zunehmend den praktischen Wert
torischen Vortrags besonders für geistliche Beredsamkeit der Beredsamkeit. Verkaufs- und Managerschulungen,
(1823). - ders.: Anleitung zu der richtigen und würdevollen Rhetorikseminare f ü r Führungskräfte versuchen, über-
deklamatorischen Behandlung der in den kgl. Preuß. Landen zeugendes, sicheres A u f t r e t e n zu vermitteln und zu-
angeordneten Kirchen-Agende (1831). - ders.: Chrestomathie
gleich die «Kunst der freien Rede» [9] leicht zu machen.
für D. Ein Leitfaden zu dem öffentlichen Unterricht und zum
Privatgebrauche, für die Bildung des richtigen und mündlichen Inzwischen gibt es viele solcher Bücher, die unter Beru-
Vortrags (1831). - J.F.Schröder: Theoretisch-practisches fung auf die Rhetorik berufliches F o r t k o m m e n und Er-
Lehrbuch der Declamation, enthaltend eine kurze systemati- folg versprechen. Bestand seit der Antike in der rhetori-
sche Darstellung (1832). - J. Lutz: Hb. der kath. Kanzelbered- schen Tradition die Verpflichtung des Redners, sein
samkeit (1851). - F. Heine: Grundzüge eines Unterrichtsplanes Wissen und seine Bildung zu erweitern, so fehlt dieser
in der Kunst des mündlichen Vortrags (1859). - Beiträge zu Bildungszusammenhang in den Populärrhetoriken ganz.
deklamatorischen Vorträgen und theatralischen Vorstellungen Selbstbewußtsein und -Sicherheit stehen am A n f a n g des
für Lehrer und Schüler, 2T. (1862). - W. Grohmann: Lehre der Prozesses der Persönlichkeitsbildung des Erfolgsred-
D. (1882). - H . Ortloff: Die gerichtliche Redekunst (1890).
ners, nicht am E n d e , und sie werden «antrainiert»; aus-
drücklich verstehen sich diese Rhetoriklehrer auch als
«Trainer»; Lektüreempfehlungen werden «Trainings-
VII. 20. Jahrhundert. Bot schon die Beredsamkeit im
tips» [10] genannt. Zwar gilt auch heute noch als die
19. Jh. ein unübersichtliches Bild, weil die Umrisse der
wichtigste Phase die «Präsentations-, Vortrags- oder Re-
Rhetorik zu verschwimmen begannen, so verstärkt sich
dephase» [11], aber dabei handelt es sich um eine
dies im 20. Jh. Sie bleibt zwar in der Werbung, Propagan-
Schwundstufe antiker Beredsamkeit, bei der man sich
da, in den Medien R u n d f u n k und Fernsehen sowie in der
auf das Technische beschränkt. D a bei solchen Rede-
politischen Rede überall präsent, aber die rhetorischen
übungen mit modernen Medien (Tonband, Video) gear-
Methoden des Unterrichts gibt es nur noch vereinzelt.
beitet wird, ist es üblich, neben Mustern von Gelegen-
Die Redepraxis - und damit auch die R e d e ü b u n g - wird
heitsreden, Zitatensammlungen und beispielhafte R e d e -
zunehmend sich selbst überlassen. Das Wort D . ver-
strukturen f ü r die verschiedensten Anlässe [12] soge-
schwindet aus d e m Sprachgebrauch. A u c h aus dem
nannte «Checklisten» zur kritischen Kontrolle und
Schulbetrieb wird die Rhetorik fast ganz verdrängt. Die-
Selbstanalyse anzufügen, die die Vorbereitung und den
ser Wandel begann mit der Aufsatzreform um 1900.
Erfolg der Redeübungen berechenbar, ü b e r p r ü f b a r ma-
«Der bis dahin vorherrschende, auf Verstandesschulung
chen sollen. Diese «Checklisten» f ü r den Rednerauftritt
bedachte Reproduktionsaufsatz, der vorgegebene Glie-
untergliedern sich z . B . in Körpereinsatz und -haltung,
derungs- und Formulierungsmuster nachahmte, [ . . .
Redestil, Stimmgebrauch oder Zuhörerbezug; hinzu
wurde] durch den freien oder Produktionsaufsatz abge-
kommen Checklisten für die «Selbstanalyse nach dem
löst.» [1] Dieser Veränderung der Ansprüche an den
Vortrag» oder «Beurteilungsbogen für Ihre
Aufsatz «entsprach eine Entpragmatisierung des
Stimme». [13] Diese Reduktion rhetorischer Bildungsin-
Deutschunterrichts» [2], in deren Verlauf der mündliche
halte ist charakteristisch für die Kunst des Vortrags. Sie
Vortrag ganz verdrängt wurde. Seit Mitte des Jahrhun-
spiegelt die Rhetorikkonzeption insgesamt wider, die
derts macht sich eine veränderte Einstellung zur Rheto-
diesen Populärrhetoriken zugrundeliegt. A u c h ethische
rik bemerkbar. U m 1950 bemerkte B E S T I A N , «die Unrast
Forderungen bleiben ausgeklammert.
unserer Zeit, die politische Entwicklung und die Ver-,
breitung des R u n d f u n k s haben es mit sich gebracht, daß
das gesprochene Wort eine weit größere Bedeutung ge- Diese «reduktionistische Tradierung» des Faches ver-
wonnen hat als das geschriebene». [3] Deshalb sei die sucht die Tübinger Rhetorik zu überwinden. Hier wird
Erziehung zur freien R e d e heute ebenso notwendig wie «die R e d e nicht allein zum Gegenstand theoretischer
andere Aufgaben des Deutschunterrichts. E r entwickel- Reflexion, der Analyse und Kritik gemacht, sondern
te entsprechende Anleitungen zu Redeübungen für alle ebenso als Ergebnis praktischer Übungen aufgefaßt. D e r
Altersgruppen. Später sprach D I E H L sich dafür aus, «die Student soll [ . . . ] ganz praktisch auf der wissenschaftli-
Rhetorik mit praktischen Debattierübungen» [4] im Un- chen Grundlage des überlieferten rhetorischen Systems
terricht aufzunehmen. Diese Ansätze blieben zunächst lernen, sich sprachlich wirkungsvoll und angemessen
ohne größere Resonanz. Anfang der 70er Jahre bewirk- auszudrücken». [14]
ten politische R e f o r m e n , daß die neuen Richtlinien f ü r Auch in Österreich versuchte man in diesem Jahrhun-
den Deutschunterricht die Förderung der Kritik- und dert, der völlig darniederliegenden Redekunst neue Im-
Kommunikationsfähigkeit betonten, in deren Folge eine pulse zu geben. [15] Während in Deutschland 1967 in
Reihe von Schriften zur Sprech-, Stimmerziehung, Tübingen das erste und bisher einzige Seminar für Allge-
Sprechtechnik oder zum Stimmgebrauch erschienen. [5] meine Rhetorik institutionell verankert w u r d e , begegne-
Diese neuen Forderungen wurden teilweise dahinge- te man in Österreich schon 1912 der «Unterschätzung
hend ausgelegt, daß im Unterricht mündliche Redeü- des Wertes und der Schönheit der freien Rede» durch die
bungen und Gebrauchstexte die Beschäftigung mit Lite- Gründung eines Universitätsinstituts f ü r öffentliche Re-
ratur verdrängten. [6] deübungen». [16] Lektorate f ü r Vortrags- und R e d e -
kunst bestanden schon vorher. A u ß e r d e m versuchte
Insgesamt wuchs das Bewußtsein von der Wichtigkeit man, den D . an Mittelschulen neue Impulse zu ge-
rhetorischer Kompetenz. «Wer seine rhetorischen Fä- ben. [17] Zwar waren in den Lehrplänen f ü r die oberen

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Klassen Redeübungen vorgeschrieben, aber die erhoff- gen). [4] Gemeinsames Element von Musik, Tanz und
ten Resultate blieben aus. Deshalb begann man «mit den D. ist der Rhythmus. Seine Funktion ist historisch und
eigentlichen Redeübungen [...] bereits in der fünften neurologisch belegt. [5]
Klasse» [18] und beschränkte sie nicht auf den Deutsch-
unterricht. Dadurch konnten Schwierigkeiten bei der Anmerkungen:
Wahl der Stoffe ausgeschlossen werden. Man orientierte I H . Engel: Deklamation, in: M G G 3 (1954) 102-114. -
sich an antiken Bildungsintentionen, wenn man die 2 C . Petsch: Althochdt. Synonima für musikalisches Rezitieren,
in: Die Musikforschung 41, 3 (1988) 1 4 2 - 1 4 3 . - 3 H . Ramirez:
Schüler nur über Gegenstände deklamieren ließ, mit Introducción a la grafia de Gustavo Becerra, in : Revista Musical
denen sie sich längere Zeit beschäftigt hatten und diesen Chilena (1972) 119-120, 6 0 - 8 1 . - 4 C . D e l u m e : A propos de
auch Interesse entgegenbrachten. Außerdem griff man S O N A N T de Mauricio Kagel, in: Les Cahiers du C r e m , 4 - 5
auf Rhetoren der Antike zurück (Demosthenes, Cicero ( R o u e n 1987) 88. - 5 H . M . B o r c h e w i n k : Prosody and Musical
u.ä.), die eine «Überfülle des Stoffes [...] für Rede- R h y t h m are controlled by the Speech Hemisphere, in: M.Cly-
übungen» [19] lieferten. Um den Schülern Gelegenheit nes (Hg.): Music, Mind and Brain (1982) 2, V I I I , 151-158.
zu geben, diese D. einem größeren Publikum vorzutra-
gen, erweckte man die früher so beliebten Schul- und B . I . Antike. Musikalischer Vortrag im griechischen
Abschlußfeiern wieder zum Leben. Altertum ist die Einheit von spielen, singen und mi-
men. [1] Es wird zwischen Rezitation mit und ohne Mu-
Anmerkungen sikbegleitung (Parakatalogé, Katalogé) unterschieden.
I B . A s m u t h : Die Entwicklung des dt. Schulaufsatzes aus der Sokrates und Glaukon definieren Melodie als Zusam-
R h e t . , in: H . F . Plett: R h e t . (1977) 276. - 2 G . Ueding, B. Stein- mensetzung von Wort, Harmonie und Rhythmus. [2]
brink: G r u n d r i ß der R h e t . (1986) 176. - 3 H . B e s t i a n : Rede-
ARISTOTELES verknüpft Affekt mit Lautstärke, Tonfall
übungen im Deutschunterricht, in: W W 1 (1950) H . 3, 166f. -
4 G . Diehl: R h e t . in der Schule, in: Sprachforum 2 (1956/57) und Rhythmus. C L E O N I D E S definiert die Eigenschaften
42f. 5 H . Coblenzer, F. M u h a r : A t e m und Stimme. Anleitung der Melodie durch continuo (Sprache) und diastematica
zum guten Sprechen ( 3 1976); F. Kienecker: Rezitation als Inter- (Intonation). [3] Die Grenze zwischen gesprochener und
pretation. Ein Beitrag zur prakt. Sprecherziehung im Unter- gesungener D. mit oder ohne instrumentaler Alternanz
richt, in: Sprachpäd., Literaturpäd. (1969) 272ff.; B. Necker- oder Begleitung ist fließend. Sprechen und singen wer-
m a n n : Die gute Aussprache (1975). - ¿vgl. Ueding/Stein- den seit dem 6. Jh. v.Chr. unterschiedlich behandelt
brink [2] 1 7 8 . - 7 P . E b e l i n g : D a s große Buch der R h e t . o . O . u. ( L A S O S VON H E R M I O N E ) . ARISTOXENOS sieht nur im ge-
O.J., 163. - 8 e b d . - 9 V . J . Willi: Sicher und erfolgreich reden.
sungenen Vortrag eine volle Geltung des poetischen
Die Kunst der freien R e d e leicht gemacht (1989). - lOEbe-
ling [7] 151. - 1 1 ebd. 174. - 1 2 vgl. D e r Reden-Berater. H b . für
Rhythmus. Die A S I A N E R (3. und 2 . Jh. v. Chr.) übertrei-
erfolgreiche R e d e n im Betrieb, in der Öffentlichkeit und im ben, mit der Opposition der RHODISCHEN SCHULE, diese
Privatleben (1987ff.). - 1 3 E b e l i n g [ 7 ] 198ff. - 1 4 U e d i n g , Stein- Richtung. [4] Kunstreden der römischen Kaiserzeit kom-
brink [2] 186f. - 15 A . F i s c h e r : Die Pflege der Sprech- und Re- men der musikalischen Komposition nahe. [5] Cicero
dekunst an Mittelschulen, in: X X X I I . Jahresbericht des Staats- und Quintilian vermuten einen Gesang in der Rede. [6]
Real-Gymnasiums in A r n a u (1912/13) III. - 16ebd. IV. - 1 7 v g l . Chorale D. wird mit Fußstampfen synchronisiert und die
Mittelschule und Redegewandtheit, in: Wiener Ztg. v. 6./7.6. Melodie durch Handbewegungen (Cheironomie) gelei-
1913. - 1 8 F i s c h e r [15] X. - 1 9 e b d . tet. Die Psalmenvortragstechnik besteht im Gregoriani-
schen Gesang weiter. Die Erzähltechnik vom Nomos
Literaturhinweise: pythikos des Sakadas von Argas (Aulos) und die Ode
F. Mondry: Die Forderung der Redegewandtheit in der Mittel- zum Sieg Apollos über den Drachen Phyto beziehen
schule, in: Z S für das Realschulwesen (Wien 1912). - W. Jens: Auletik (Aulos allein) und Aulodik (Gesang mit Aulos)
R h e t . , in: R D L 2 , Bd. III. - V. Meindl: Die R e d e ü b u n g e n an
unseren Mittelschulen, in: Mitteilungen aus dem höheren
aufeinander. Diese Vortragsformen werden in der Tra-
Schulwesen XII (1913) N r . 2 , 3 7 f f . - A . D a m a s c h k e : Gesch. der gödie zum choralen Gesamt-Vortrag (nur Männer mit
Redekunst (1921). - R. Steiner, M. Steiner von Sivers: Die Sprache, Körpersprache und Musik). Der Chorvortrag
Kunst der Rezitation und D . (1928). - E . Dovifat: R e d e und wird in Rom durch cantica ersetzt. Die Psalmodie
R e d n e r (1937). - F. Schweinsberg: Stimmliche Ausdrucksge- (50 v.Chr. bis 350 n.Chr.) wird wechselchörig (Män-
staltung im Dienste der Kirche (1946). - M. Weller: D a s Buch ner-Frauen, Männer-Knaben) [7], der akzentuierende
der R e d e k u n s t (1954). - W . J e n s : A r t . <Rhet.>, in: R D L 2 , Rhythmus ersetzt den quantitativen. Die D. der Psalmen
Bd. III. war, sprachbedingt, nicht einheitlich. [8] Aus den Psal-
J. Sandstede mentönen entsteht der Gregorianische Choral, aus den
Osterspielen das Passionsspiel.
—* Actio —» Actus —> Angemessenheit —» Exercitatio > Imitatici
—» L o b r e d e —» Pronuntiatio —> Publikum —> Redegattungen —>
Rezitation —» Schauspiel —> T h e a t e r —» Übungsrede —» Vortrag A n m e r k u n g e n :
l v g l . R . H a a s : Griech. Altertum in H b . derMusikwiss. A u f f ü h -
2. Musikalische Deklamation (auch Psalmodie, Rezita- rungspraxis (1934) 20. - 2 Plat. Pol. übers, von P. Shorey (Lon-
tiv, Melopoeia, Melodram). don 1930) 2 4 5 - 2 6 9 , 2 8 7 - 2 9 5 . - 3vgl. Cleonides: Harmonie
Introduction, in: O . Strunk: Source Readings in Music History 4
A . Die D. in der Musik bezeichnet die unterschied- (New York 1950) 35. - 4 Α . Krumbacher : Die Stimmbildung der
lichen Formen des gehobenen Vortrags eines Textes im R e d n e r im Altertum bis auf die Zeit Quintilians (Diss. 1920) 38.
musikalischen Kontext. Der stimmliche Vortrag (figura - 5vgl. Haas [1] 22. - 6 J . Cousin: Quintilien et la Musique, in:
vocis) in der actio [ 1] kommt gesprochen, halbgesungen H . Temporini, W. H a a s e : Aufstieg und Niedergang der Römi-
(Sprechgesang), gesungen, als Lesen (legere, lectiones) schen Welt, II (1986) 2323. - 7 A . Schering: Tabellen zur Musik-
oder Sagen (dicere) vor. [2] D. ist diachron oder syn- gesch. (1962) 2 - 3 , 7 - 8 . - 8vgl. Chrysostomus: Exposition of
chron zur instrumentalen Musik, wird musikalisch oder Psalm XLI, in: M G 5 5 , 1 5 5 - 1 5 9 .
prosodisch kontrolliert. [3] Die Handhabung der D.
reicht von der erwarteten Wirkung (Ethos, Pathos) ihrer II. Mittelalter. B O E T H I U S und CASSIODORUS leiten über
Rezitationsformeln (Modi, Toni, Tonarten) bis zu musi- zum Mittelalter. Boethius akzeptiert nur spekulative
kalisch auskomponierten Texten (nicht Vertonun- Musik. [1] Cassiodorus folgt A U G U S T I N S <De musica> und

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verbindet wie Censorius die Natürlichkeit des Sprach- D. wird fortan meist Rezitativ genannt. Der Sprech vor-
rhythmus mit der Musik. [ 2 ] ISIDOR VON SEVILLA bezieht trag wird beispielsweise im <Ballet comique de la Royne>
Rhythmus und Metrik auf Wortstruktur und -kombina- (1581) und der <Masque of the Lords>, später (1630) auch
tionen. [3] O D O N VON CLUNY versteht Musik als Ge- in der Kammermusik angewendet. [21]
s a n g ^ ] , G U I D O D ' A R E Z Z O , als pytagoräische Aku-
stik. [5] FRANCO VON K Ö L N wertet die alte Praxis auf [ 6 ] , Anmerkungen:
JAKOB VON LÜTTICH ebenso. [7] Die Theorie bleibt ten- l D . B a r t e l : Hb. der musikalischen Figurenlehre (Diss. 1982),
denziell spekulativ. Trouvadours, Trouvères, Minne- 2,19f. - 2 G . Zarlino: Istituzioni armoniche (1558) III, 32.33, in:
und Meistersinger (ca. 1 1 5 0 — 1 3 0 0 ) entwickeln dagegen O. Strunk: Source Readings in Music History (New York 1950)
eine D. zwischen Prosodie und Tanz, zwischen Rezita- 256 u. 260. - 3P. Cerone: El melopeo y maestro (1633) XII, 14,
in: Strunk [2] 269. - 4T. Morley: A plain and Easy Introduction
tion und Takt. [8] Deren Grundregeln gelten auch für to Practical Music (1597), in: Strunk [2] 2 7 4 - 2 7 5 . - 5 B . Casti-
italienische Laudi, spanische Cantigas, französische Or- glione: Il cortegiano (1528), übers, von Sir Thomas Hoby
gana, Conductus, Motteten (mit französischen, griechi- (1561), in: Strunk [2] 284. - 6 P. de Ronsard: Livre des mélanges
schen und lateinischen Merkmalen), Balladen und Chan- (1560), in: Strunk [2] 2 8 8 - 2 8 9 . - 7 G . de Bardi: Discourse on
sons mit weltlichen und kirchlichen Elementen. [9] Ancient Music and Good Singing (1580 von V. Galilei geschrie-
ben?), in: Strunk [2] 291. - 8J. Westrup: Recitative, in: The
New Grove Dictionary of Music and Musicians. Vol. 15, 643;
Anmerkungen:
V. Galilei, Dialogo della musica antica e della moderna (1581),
lBoethius: Institutione Musica, in: O. Strunk: Source Readings
in: Strunk [2] 315. - 9 H . Ulrich: Dt. Rezitation und Psalmodie
in Music History, 11 (New York 1950) 86. - 2Cassiodorus:
(Diss. 1982) 5 - 6 ; über die hist. Entwicklung W. Kienzl: Die
Institutiones divinarum et saecularium litterarum 12, 92. - 3 Isi-
Musicalische Declamation (1880). - 10H. Peacham: The Com-
dor von Sevilla: Etymologiarum sive originum III, 18, 94. -
pleat Gentleman (1622); ders. Of Music, in: Strunk [2]
4Odon von Cluny: Enchiridion musices I, 105. - 5Guido
332—333. - 11 Hierüber mehr in N.Temperley u.a.: Psalms
D'Arezzo: Scholia enchiriadis, Prologus antiphonarii sui, 135. -
metrical in: Groves[8] 15, 3 4 7 - 3 8 2 . - 12J.Calvin: Geneva
6Franco von Köln: Ars cantus mensurabilis, Prolog, 139. -
Psalter (1543), in: Strunk [2] 348. - 13C.Goudimel: Geneva
7Jakob von Lüttich: Speculum musicae, Prohemium, 181. -
Psalter, Foreword to the edition of 1565, in: Strunk [2] 349. -
8F. Ludwig: Hb. d. Musikgesch. hg. von G. Adler ( 4 1981) III,
14Ulrich [9] 5 - 6 . - 15Papst GregoriusXIII: Brief on the Re-
183-265; vgl. E. Rohloff: Neidharts Sangweisen (1962) Einl.,
form of the Chant (1577), in: Strunk [2] 358. - 1 6 0 . Rinuccini:
15f. - 9 Ludwig [8].
Euridice (1600) Dedication, in: Strunk [2] 369. - 1 7 G . Caccini,
in: Strunk [2] 368. - 18J. Peri: Euridice (1601), Foreword, in:
III. Renaissance, Humanismus, Reformation. Aus der Strunk [2] 3 7 3 - 3 7 4 . - 19G. Caccini: Le nuove musiche (1602),
Foreword, in: Strunk [2] 3 7 7 - 3 9 2 . - 20C. Monteverdi: Madri-
klassischen Lehre entsteht um 1600 eine musikalische
gali guerrieri ed amorosi (1605). Foreword, in: Strunk [2]
Rhetorik, auch Figurenlehre genannt, mit formalen, 4 1 3 - 4 1 4 . - 21 H. Engel: Deklamation, in: MGG 3,101.
meist wortgebundenen satztechnischen Implikatio-
nen. [1] G. ZARLINO setzt die Melodie aus Sprache, Har-
monie und Rhythmus mit vorgeschriebenen Textmetren IV. Barock. Monteverdi rundet den stile rappresentati-
zusammen. [2] P. CERONE verteidigt die Psalmentexte vo ab, was reformierte und katholische Liturgien beein-
gegen Verdunklung der D. durch musikalische Imita- flußt. Theatrale Aufführung notierter (Intonation, Me-
tion. [3] T. MORLEY beschreibt das imitativ und kontra- trik, Tempo) D. kirchlicher Musik wird wichtig. Die
punktisch raffinierte Madrigal, die satztechnisch be- Verständlichkeit der Texte und die Störungen durch Po-
scheidenere Canzoni a la Napoletana, bis zur einfachen, lyphonie klären L. G. DA VIADANA [1] und A. A G A Z Z A -
bäuerlichen tanz- und sprachsynchronen Vilanella. [4] B. RI. [2] H . SCHÜTZ führt in Deutschland den neuen Stil mit
CASTIGLIONE schätzt Lieder mit einfacher Begleitung als seinen Symphoniae sacrae ein. [3] Dieser entwickelt sich
verständlicher. [5] Für P. DE RONSARD wird Musik, wie in in der weltlichen Solokantate fort und interagiert, eng mit
der Antike, durch Poesie inspiriert. [6] G. DE BARDI för- der Rhetorik verbunden, mit der Oper, die D. (interna-
dert mit rezitationskundigen Gelehrten, im Zeitgeist, tional überwiegend italienisch) verändernd. [4] F. RA-
eine Wiedergeburt der Musik. [ 7 ] V. GALILEI führt den GUENET und L E C E R F DE LA VIEVILLE streiten um die
später von D. MAZZOCCHI sogenannten (1626) stile reci- Adäquanz französischer und italienischer Sprache in der
tativo ein, der textliche Inhalte musikalisch darstellt. [8] Oper; in Italien weichen Rezitative kaum von der Um-
Die Adaption der nationalen Sprachen an gregoriani- gangssprache ab. [5] B. MARCELLO kritisiert die Verzer-
sche Modelle beschäftigt die Reformation - auch in rung der D. in Singstimmen und Begleitung. [6] J. P. RA-
Deutschland. [9] Der Puritaner H. PEACHAM geht von MEAU teilt der Melodie eine intensivierende Funktion der
Davids Psalmen aus und behandelt die Musik als Schwe- D. zu. [7] Diese gelingt besser im recitativo, weniger im
ster der Poesie rhetorisch: Singen soll ausspracheför- recitativo arioso. In der aria stößt sie sich an der Takt-
dernd sein (Plato). [10] Diese metrischen Psalmen (Ver- struktur und an der Möglichkeit, Worte und Silben zu
sform) entwickeln sich in Europa, England, Irland und wiederholen. Im Barock erreicht die Verbindung von
Nordamerika. [11] J. CALVIN [12], C . GOUDIMEL[13], M. Musik und Rhetorik einen Gipfelpunkt. [8] J . S . B A C H S
LUTHER und Papst GREGORIUS XIII schöpfen aus Psalmo- vokales Werk erreicht paradigmatische Bedeutung. [9]
die und Kirchenlied. [14] [15] Der stile recitativo wird in
der Handlung bzw. Erzählung zum stile rappresentativo Anmerkungen:
oder narrativo. O. RINUCCINI [16] und G. CACCINI ver- 1L. Grossi da Viadana: Cento concerti ecclesiastici (1602), Pre-
binden diesen Stil mit veredelten Formen der Umgangs- face, in: O. Strunk: Source Readings in Music History (New
sprache. [17] J. PERI schreibt die Erfindung des neuen York 1950) 4 2 0 - 4 2 3 . - 2 A. Agazzari: Of Playing upon Bass
with All Instruments and of their Use in the Consort (1607), in:
Stils E. DEL C A VALIERES ZU und diskutiert die Annahmen Strunk [1] 426. - 3 H . Schütz: Symphoniae sacrae (1629), in:
über diastematica und continuata (s.o.) im griechischen Strunk [1] 433f. - 4E.Schmitz: Gesch. der Kantate und des
Drama. [18] Caccinis Beispiele zeigen in Ansätzen Figu- geistlichen Konzerts (1914) 316-318. - 5 F . Raguenet: Parallèle
ren einer musikalischen Affektenlehre. [19] C. M O N T E - des Italiens et des Français (Paris 1702). - 6B.Marcello: II
VERDI bezieht die Affekte concitato, molle und temperato teatro alla moda. To the Composers of Music (1720), in: Strunk
auf Akzente, Metrik und Tempo. [20] Die musikalische [1] 526-527. - 7J.P. Rameau: Aus dem Traité de l'harmonie,
in: Strunk [1] 574. - 8 H . - H . Unger: Die Beziehungen zwischen

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Deklamation Dekonstruktion

Musik und R h e t . im 1 6 . - 1 8 . J h . (1941) 145-147. - duzierten und reproduzierten musikalischen D. werden


9 A . Schmidtz: Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik definiert. [10]
J o h a n n Sebastian Bachs ( N D 1976) II, 37.
Anmerkungen:
V. Aufklärung. 18. Jahrhundert. J . J . R O U S S E A U be- 1 J . Paul: Aus der Vorschule der Ästhetik, in: O. Strunk: Source
Readings in Music History (New York 1950) 749. - 2 Ε . T. Α .
richtet über eine ausharmonisierte, über den Versrhyth-
H o f f m a n n : Beethoven's Instrumental Music, in: Strunk [1] 775.
mus sich dem Wort annährende D. [1] [2] F. ALGAROTTI - 3 C . M . von Weber: O n the O p e r a «Undine» von E . T . A .
diskutiert die Oper und ihre Komposition und bringt H o f f m a n n (1817), in: Strunk [1] 806. - 4 H . B e r l i o z : Rossini's
Begriffe wie diastematica und continuata (s.o.) einander «William Tell» (1834), in: Strunk [1] 8 2 0 - 8 2 1 . - 5 R . Wagner:
näher. Er räumt B. Marcello eine Schlüsselstelle in der T h e A r t of Tone, in: Strunk [1] 883. - 6 H . Engel: A r t . <D.>, in:
Synthese zwischen alt und neu ein. [3] Die mehrsprachi- M G G B d . 3 , 102. - 7 e b d . 111. - 8 R . E g g e r : Deklamations-
ge D. wurde bei Orlando di Lasso in der Renaissance rhythmik H u g o Wolfs in historischer Sicht (1963), II, III; 16,25.
deutlich. Bei C . W . V O N G L U C K (Deutsch, Italienisch, - 9 W. Kienzl: Die Musikalische Declamation (1880) 1. -
Französisch) fördert sein Stil im 18. Jh. erneuernd den 10 ebd. 11,92,149,155.
dramatischen Ausdruck. [4] Sein Librettist F . L . DU
ROULLET lobt Glucks Beachtung der französischen Pro- VII. 20. Jahrhundert. Ende des 19. Jh. kommt die Pfle-
sodie. [5] Von der Poesie inspiriert unterstützt er die ge der Sprechstimme, nach drei Jahrhunderten Vorherr-
D. [6] C . B U R N E Y polemisiert mit M. DE L A L A N D E über schaft der Singstimme, wieder zum Zuge. [1] Erste Ver-
für die D. negative Wirkungen von Mimik und melodi- suche sind seit 1886 in Baden bekannt. In Preußen flie-
sche Verzierung. [7] Die adäquate D. in der Vertonung, ßen diese 1901 in die Lehrerseminarplanung mit ein, in
die Wahl zwischen Arien- oder Rezitativtypen diskutiert Sachsen 1907. [2] Die Bindung von Musik und Rhetorik
J. F. REICHARDT. [8] Für A. E. M. GRÉTRY gehört die er- wird in der Musikwissenschaft gestärkt, nicht so in der
ste Priorität, exemplarisch für die Oper, der gelungenen Kompositionslehre. Raffinierte Satztechnik und D. op-
dramatischen D. an. [9] Dialog anstelle des recitativo ponieren zeitweilig. Nach Wagner entsteht in der Musik
secco kommt in der Opéra comique, im deutschen Sing- (präzise notiert) und im Theater eine sehr breite Diaste-
spiel und der italienischen Opera buffa vor. Im Melodra- matie. [3] Diese greift in der W I E N E R SCHULE betont über
ma vermischen sich Musik und Sprache diachron und auf die Kammermusik. Gesprochene Texte werden un-
synchron. [10] terschiedlich streng gesetzt, übernommen, verändert
und sogar nach musikalischen Kriterien komponiert. [4]
Texte werden deklamiert, schriftlich als Zeitparameter
Anmerkungen: oder als Ersatz für Rhythmus und Artikulation in der
1 J . J. Rousseau: Lettre sur la musique française, Vorwort, in: instrumentalen Musik eingesetzt. [5] Echolalien und
J . J . R o u s s e a u : Musik und Sprache (Ausgewählte Schriften), Glossolalien werden zum unterschiedlichen Gebrauch
übers, von D o r o t h e a und Peter Gülke (1984) 81. - 2 J. J. Rous- aus Texten abgeleitet oder phonematisch kompo-
seau: Récitatif, in: Dictionnaire de la musique, Bd. II (Genf
niert. [6] D. zur Musik wird in Film und Theater zu einer
1781) 145-155. - 3 F . Algarotti: A u s dem Saggio sopra l'opera
in musica (1755), in: O. Strunk: Source Readings in Music His-
festen Kombination.
tory (New York 1950) 657 u. 672. - 4 C . W . Gluck: Alceste,
Dedication (1769), in: Strunk [3] 674. - 5 F . L . du Roullet: Let- Anmerkungen:
ter to M. d'Auvergne (1722), in: Strunk [3] 677 u. 679. - 1 H. H. Unger: Die Beziehungen zwischen Musik und R h e t . im
6 C . W . Gluck, in: Strunk [3] 681, 682. - 7 C . B u r n e y : From 1 6 . - 1 8 . Jh. (1941) 2. - 2 A. K r u m b a c h e r : Die Stimmbildung
«The Present State of Music in France and Italy» (1771), in: der R e d n e r im Altertum bis auf die Zeit Quintilians (Diss. 1920)
Strunk [3] 695 u. 696. - 8 J. F. Reichardt: Br. eines aufmerksa- 107-108; H. Engel: Art. <D.>, in: M G G Bd. 3,111. - 4 C . Delu-
men Reisenden (1774), in: Strunk [3] 705. - 9 Α . E . M . Grétry: me: A Propos de Sonant, in: Les Cahiers du Crem 4—5 (1987)
Mémoires (1797), in: Strunk [3] 7 2 4 - 7 2 5 . - Î O H . Engel: Art. 88. - 5 H . Ramirez: Introducción a la grafia de Gustavo Becer-
<D.>, in: M G G Bd. 3,101. ra, in: Revista Musical Chilena 119-120 (1972) 6 0 - 8 1 . -
6 D . Durney: «Theatre et Musique» France - années, in: Les
Cahiers du Crem 4 - 5 (1987) 5 1 - 5 3 .
VI. 19. Jahrhundert. JEAN P A U L , ein literarischer Vor- G. Becerra-Schmidt
läufer der musikalischen Romantik, schließt in seinem
Poetik-Begriff die Musik mit ein. [1] E . T . A. H O F F M A N N —* Actio —> Chironomie —» Figurenlehre —> Metrik —* Musik —»
zeigt in seinem literarischen und musikalischen Werk die Rezitation
Möglichkeiten einer übergreifenden Poesie und moti-
viert R. Schumann, Offenbach und F. Busoni. Für Hoff-
mann ist die instrumentale Musik Beethovens wortlose Dekonstruktion (engl, deconstruction; frz. déconstruc-
Poesie (1813). [2] In seinem Roman <Die Serapions-Brü- tion)
der) wird Oper als von der Poesie notwendig entsprunge- A. Def. - Β. I. Philosophie. - II. Literaturwissenschaft. -
ne Musik definiert. [ 3 ] C . M . V O N W E B E R preist seine III. Rhetorik.
Satztechnik und korrekte D. in <Udine>. [3] Ähnlich be- A . Das Kunstwort <déconstruction> wurde 1967 von
wertet H. BERLIOZ Rossinis <Wilhelm Tell> wegen seiner dem französischen Philosophen J. DERRIDA durch die
choralen Rezitationen (coro parlato).[4] R.WAGNER Verbindung der gegensätzlichen Begriffe <déstruction>
geht vom Gesamtkunstwerk und dem Verständnis von (Zerstörung, lat. destructio) und <construction> (Auf-
Musik als Verbindung zwischen Poesie und Tanz aus. [5] bau, lat. constructio) gebildet [1] und hat dann als Re-
D. mit Musikuntermalung wird in Opern und Melodra- construction ins Englische und Amerikanische Eingang
men verwendet. [6] Eine Spannung entsteht zwischen D. gefunden. [2] Der Begriff bezeichnet eine Richtung post-
und Melodie im deutschen Kunstlied. [7] [8] Die musika- strukturalen Denkens und Verfahrens, welches sich, vor
lische D. wird zunehmend als musikalische Behandlung allem durch eine radikal gegen den Strich gewendete
von Texten verstanden. [9] Verhältnisse zwischen Wort- Lektüre traditioneller philosophischer und literarischer
akzent, Satzakzent (logischer) und Musik sowie Schilde- Texte, die Destruktion unausgesprochener metaphysi-
rungs- und Stimmungsmelodramen im Rahmen der pro- scher Annahmen und behaupteter einheitlicher Sinn-

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Dekonstruktion Dekonstruktion

und Bedeutungskonzepte zum Ziel setzt, um so - und das Diese zweideutige dekonstruktivistische Vorgehens-
wäre die konstruktive Seite - einen Raum für das freie, weise, die «sich auf Unterscheidungen verläßt, die sie
von Sinn und Bedeutung entbundene Spiel der Zeichen selbst in Frage stellt» [8], wird besonders deutlich bei der
zu gewinnen. Innerhalb bestimmter Begriffssysteme ar- Diskussion des Verhältnisses von Sprache und Stimme
beitend, ist es Ziel der D., diese aufzubrechen, weshalb einerseits, Schrift (écriture) andererseits, der Derrida
sie als doppelter Prozeß «der systematischen Verwen- sein Hauptwerk <De la grammatologie> (1967) widmet.
dung von Begriffen und Voraussetzungen, die zugleich Ausgehend von der in der abendländischen Tradition
unterminiert werden» [3], anzusehen ist. behaupteten Nähe der Stimme (phonë) zum lògos
D. als philosophische Position, für die die Texte Derri- (Sein) [9], sieht Derrida diese Tradition durch eine fort-
das repräsentativ sind, versteht sich als Metaphysikkri- laufende Abwertung der Schrift geprägt, die bei Piaton
tik. D. im Bereich der Literaturwissenschaft (bzw. -kri- einsetzt, über Rousseau (und andere) bis hin zu Saussure
tik) ist vor allem eine Interpretationsmethode, deren führt. PLATON stellt (im <Phaidros>) der Schrift im geläu-
wichtigster Vertreter, der Belgo-Amerikaner P. DE figen, sinnlich wahrnehmbaren Sinn die Schrift der
MAN , an Derrida anknüpft. D. will auch politisch-institu- Wahrheit in der Seele gegenüber; ROUSSEAU glaubt an
tionelle Kritik sein, «Analyse der Bedingungen desTota- die Möglichkeit einer natürlichen, pneumatologischen
litarismus in all seinen Formen». [4] Darüber hinaus wer- Schrift, die «unmittelbar an die Stimme und den Atem
den dekonstruktivistische Ansätze im gesamten Spek- gebunden ist»; SAUSSURE schließlich phonetisiert die
trum gegenwärtiger Wissenschaft und Kultur aufgenom- Schrift, indem er sie zur «äußerlichen Repräsentation
men. [5] der Sprache und des Laut-Gedankens» erklärt [10] und
eine Hierarchie, außen - Schrift, innen - Sprache, eta-
bliert. [11] Derridas Fazit lautet: «Die Schrift wurde als
Anmerkungen:
Eindringen der künstlichen Technik, als Einbruch einer
1 1 9 6 7 erschien Derridas Buch <De la grammatologie>, in d e m
erstmalig von <la déconstruction> die R e d e ist (dt.: J. Derrida:
ganz eigenen Spezies, als arche typische Gewalt denun-
G r a m m a t o l o g i e (1983) 81). D a s Verb déconstruire gibt e s aller- ziert; als Einfall des Draußen in das Drinnen, welcher die
dings schon seit A n f a n g des 19. Jh. (vgl. Le Grand Robert de la Innerlichkeit der Seele, die lebendige Selbstpräsenz der
L a n g u e Française. T o m e III (Paris 1985) 226). - 2 I m Oxford Seele im wahren logos und das bei sich selbst seiende
English Dictionary ( S e c o n d Edition. Vol. I V (Oxford 1989) gesprochene Wort verletzt.» [12]
346) wird Derrida als Q u e l l e dieses Begriffes a n g e g e b e n . -
3 J. Culler: D e k o n s t r u k t i o n . Derrida und die poststrukturalisti- Die Mißachtung der Schrift und die Angst vor ihrer
sche Literaturtheorie (1988) 97. - 4 J. Derrida: W i e Meeresrau- Materialität, die zusammengehen mit der Illusion, in der
schen auf d e m Grund einer M u s c h e l . . . Paul de Mans Krieg. eigenen Rede, im Sich-Sprechen-Hören (s'entendre par-
M é m o i r e s II (Wien 1988) 109. - 5 Z u m Beispiel im B e r e i c h der ler), Zugang zum unmittelbaren Denken (logos) zu ge-
Architektur (vgl. das Vitra D e s i g n M u s e u m in Weil am R h e i n ) . winnen [13], sind keine philosophiegeschichtlichen Mar-
ginalien, sondern die Entstehungsbedingungen der logo-
Β . I. Philosophie. In Anlehnung an HEIDEGGERS «De- zentrischen Metaphysik, die Derrida mit der Grammato-
struktion der Geschichte der Ontologie» [1] unternimmt logie, der Wissenschaft von der Schrift, dekonstruieren
DERRIDA die D . des gesamten abendländisch-metaphysi- will. Für die Grammatologie entwickelt Derrida einen
schen Denkens, dem er den Namen <Logozentrismus> neuen Wissenschaftsbegriff, da er den Gegenstand die-
gibt, weil dieses Denken auf einem <Zentrum> beruht: ser Wissenschaft, <Schrift>, auf eine besondere, nicht-
«Das Zentrum erhält nacheinander und in geregelter identische Weise faßt: Schrift wird als Spiel verstanden,
Abfolge verschiedene Formen oder Namen. Die Ge- als «Abwesenheit des transzendentalen Signifikats». [14]
schichte der Metaphysik wie die Geschichte des Abend- Schrift ist an keinen hinter ihr liegenden Sinn gebunden,
landes wäre die Geschichte dieser Metaphern und dieser sondern, in aller Unbestimmtheit, «dem seminalen
Metonymien. Ihre Matrix wäre [...] die Bestimmung des Abenteuer der Spur (l'aventure séminale de la tra-
Seins als Präsenz in allen Bedeutungen dieses Wortes. ce)» [15] ausgeliefert. Spur (trace), ein «nicht weiter ab-
Man könnte zeigen, daß alle Namen für Begründung, leitbarer Begriff» [16], verweist darauf, «daß das Signifi-
Prinzip oder Zentrum immer nur die Invariante einer kat ursprünglich und wesensmäßig [...] Spur ist, daß es
Präsenz (eidos, arché, télos, enérgeia, ousiá [...]> alê- sich immer schon in der Position des Signifikanten befin-
theia, Transzendentalität, Bewußtsein, Gott, Mensch det». [17]
usw.) bezeichnet haben.» [2] Auch der Strukturalismus Die dekonstruktivistische Sprachnot zeigt sich in die-
hat sich, so Derrida, nicht vom Logozentrismus ge- sem Begriff der <Spur> besonders deutlich. Wenn damit
löst [3], denn er kann <Struktur> nicht ohne Zentrum die Position des Signifikats in der des Signifikanten be-
denken: «Und noch heute stellt eine Struktur, der jegli- nannt werden soll, so ist die Differenz zwischen Signifi-
ches Zentrum fehlt, das Undenkbare selbst dar. [...] Das kat und Signifikant (und mit ihr der Begriff des <Zei-
Zentrum setzt [...] dem Spiel, das es eröffnet und er- chens>) sinnlos geworden. Dennoch operiert Derrida
möglicht, eine Grenze. [...] Im Zentrum ist die Permuta- weiter mit diesen Begriffen, die er der metaphysischen
tion oder Transformation der Elemente [...] unter- Tradition zurechnet. [18] Der «metaphysischen Kompli-
sagt.»^] Diese Untersagung aber will Derrida aufbre- zenschaft», dem Zirkel, die Geschichte der Metaphysik,
chen und ein unendliches Spiel von Differenzen [5] an- mit ihren eigenen Begriffen erschüttern zu wollen, kann
stelle des Zentrums (hier der geregelten Struktur) set- Derrida so nicht entkommen: «Das Problem des Status
zen. NIETZSCHES <Fröhlicher Wissenschaft eingedenk, eines Diskurses, der einer Überlieferung die erforderli-
bejaht der Dekonstruktivist das Spiel der Welt, «einer chen Hilfsmittel entlehnt, die er zur Dekonstruktion
Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ur- eben dieser Überlieferung benötigt, muß ausdrücklich
sprung, die einer tätigen Deutung offen ist». [6] Aller- und systematisch gestellt werden.» [19] Eine Möglichkeit
dings übernimmt Derrida vom Strukturalismus die Me- aber, sich aus der metaphysischen Tradition herauszu-
thode der Zerlegung in binäre Gegensätze, deren Hier- sprengen und einen Exterioritätspunkt zu erreichen,
archien aber umgekehrt und letztlich in die Nichtigkeit «der gegenüber der Totalität der logozentrischen Epo-
überführt werden. [7] che in gewissem Sinn äußerlich ist» [20], sieht Derrida in

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Dekonstruktion Dekonstruktion

der Erfindung neuer Termini, deren wichtigster, neben sophischer (und literarischer) Texte besteht [1], denen er
dem der D. selbst, der der <différance> ist. [21] Dazu freilich keinen Sinn abgewinnt, sondern in ihnen viel-
führt Derrida aus, daß es sich weder um ein Wort noch mehr Heterogenitäten aufdeckt [2], ist die Nähe zur Lite-
um einen Begriff, sondern eher um ein Bedeutungsbün- raturwissenschaft unmittelbar gegeben. Während die D.
del handelt, welches in erster Linie die Möglichkeit zum Derridas sich problemlos in die breite Strömung des
systematischen Spiel von Differenzen, d. h. die Möglich- strukturalistisch bis poststrukturalistischen Denkens im
keit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -sy- gegenwärtigen Frankreich einfügt [3], ist die Karriere
stems überhaupt, benennt. [22] <Langue> und <parole> der D. in der amerikanischen Literaturwissenschaft unge-
z.B. wären schon Produkte der Differenzen setzenden wöhnlich und kann nur in Hinsicht auf die besondere
différance. [23] Situation dieser Wissenschaft in den USA erklärt wer-
den, die jahrzehntelang durch die Dominanz eines einzi-
Anmerkungen: gen, weitgehend homogenen Literaturmodells, durch
I M . Heidegger: Sein und Zeit ( 15 1979) 19. Die Beziehungen den New Criticism, geprägt war. Erst ab den späten
Derridas zu Heidegger sind vielfältig. Wenn Heidegger von der sechziger Jahren wurden Ansätze der Strukturalisten
«Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontolo- vorgestellt, doch wurden diese, kaum propagiert, schon
gie» (ebd. 22) spricht, so ist diese Destruktion ebensosehr posi- von Derrida und der D. überrannt. [4]
tiv, konstruktiv: «Die Destruktion will aber nicht die Vergan-
genheit in Nichtigkeit begraben, sie hat positive Absicht [...].» In der Mitte der siebziger Jahre, als Derrida sich länge-
(ebd. 23). Damit wäre Heideggers Verfahren - avant la lettre - re Zeit an der Yale University aufhielt, erreichte der
dekonstruktiv. - 2 J . D e r r i d a : Die Schrift und die Differenz Einfluß der D. einen ersten Höhepunkt mit der Institu-
(1976) 423f. - 3 Das Fundament der Kritik Derridas am Struk- tionalisierung des <Yale Deconstructionism>, einer losen
turalismus, damit Fundament des Poststrukturalismus, ist sein Assoziation der in Yale lehrenden Poststrukturalisten
1966 an der Johns Hopkins University (Baltimore) gehaltener
H . BLOOM, P . DE M A N , G . HARTMAN und J. H. MIL-
Vortrag «Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs
der Wissenschaften vom Menschen» (in: ebd. 422—442). - LER. [5] Der gebürtige Belgier (Flame) de Man, der 1947
4 e b d . 422f. - 5<Spiel> ist der Gegenbegriff zum <Zentrum>: in die USA kam, war bis zu seinem Tod 1983 die Leitfi-
«Spiel wäre der N a m e für die Abwesenheit des transzendenta- gur des amerikanischen Dekonstruktivismus. Obwohl
len Signifikats als Entgrenzung des Spiels, das heißt als Erschüt- diese Theorie alles andere als homogen ist, vor allem
terung der Onto-Theologie und der Metaphysik der Präsenz.» weil bei vielen Literaturwissenschaftlern die Abgren-
( J . D e r r i d a : Grammatologie, 1983, 87). - 6 D e r r i d a [ 2 ] 441. - zung vom Strukturalismus nicht ganz klar ist [6], läßt sich
7 vgl. J. Georg-Lauer: Le désir philosophique. Z u m Begriff der dennoch ein Kernbereich gemeinsamer Grundüberzeu-
D . bei J . D e r r i d a , Neue Zürcher Zeitung v. 26.121.3. 1988. gungen herausstellen, der aus vier Punkten besteht:
U n d : J. Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststruktura-
a) Kritik an humanistischer Subjektzentrierung: statt-
listische Literaturtheorie (1988) 244. - 8 ebd. - 9 Weshalb der
Logozentrismus auch als Phonozentrismus zu bezeichnen ist dessen Intertextualität, b) Kritik am etablierten Wissen-
(vgl . z . B . Derrida [5] 25). - 1 0 ebd. 30,33. u. 56. - 1 1 So schreibt schaftsverständnis : stattdessen Kontamination von Lite-
Saussure explizit: «Die Schrift selbst (ist) dem inneren System ratur, Literaturkritik bzw. -theorie und Philosophie,
fremd ( . . . ) . Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Syste- c) Kritik an interpretativen Sinn- und Wahrheitsansprü-
me von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das chen: stattdessen Aufweis von Aporien und Betonung
erstere darzustellen.» (F. de Saussure: Grundfragen der allge- des Lesens, d) Aufwertung von Sprache zur Letztbegrün-
meinen Sprachwissenschaft, 2 1967, 28). - 12Derrida[5] 61. - dungsinstanz: Heraushebung der Rhetorik.
13 vgl. Derrida [2] 255; hier setzt seine Husserl-Kritik ein; siehe
J. Derrida: Husserls Weg in die Gesch. am Leitfaden der Geo- Z u a): Intertextualität ist besonders bei H.BLOOM[7]
metrie. Ein Kommentar zur Beilage III der <Krisis> (1987). - ausgeprägt. Für ihn ist moderne Dichtung immer Aus-
14 «Der G e d a n k e drängt sich auf, daß die Schrift das Spiel in der einandersetzung mit vorgängiger, anderer Dichtung -
Sprache sei.» Derrida[5] 87. - 15Derrida[2] 441. - 16Derri- dies allerdings auf eine kriegerische Weise, da sich der
da [5] 123; vgl. auch Derrida [2] 323. - 17Derrida [5] 129. - spätere Dichter (latecomer poet) gegen die Übermacht
18 «Tilgte man die radikale Differenz zwischen Signifikant und der Tradition wehren muß: «Ein Dichter [...] ist weniger
Signifikat, müßte man das Wort für den Signifikanten selbst als ein Mensch, der zu anderen Menschen spricht, als viel-
einen metaphysischen Begriff aufgeben.» (Derrida[2] 425). - mehr ein Mensch, der dagegen revoltiert, von einem
19ebd. 427. - 20Derrida [5] 279. - 2 1 D e r Derrida-Ubersetzer toten Menschen (dem Vorläufer) angesprochen zu wer-
R . Gasché schreibt: «Der Begriff <différance> läßt sich nicht ins
Deutsche übertragen. Er bezeichnet die die Differenzen erzeu-
den, der entsetzlicherweise lebendiger als er selbst
gende <Tätigkeit> und gleichzeitig die Verzögerung und den ist.» [8] Der Text des späteren Dichters steht so in einem
Aufschub der Präsenz, die durch diese Erzeugung bewirkt wird. intertextuellen Konfliktfeld zu dem eines früheren.
Die différance ist folglich die substantivierte Form der beiden Dichtung hat deshalb keinen <Sinn>, sondern immer nur
Verben différencier (Unterschiede setzen) und différer (auf- Bezüge: «Jedes Gedicht ist eine Fehlinterpretation eines
schieben).» R . Gasché, in: Derrida[2] 99; vgl. auch J. Derrida: vorgängigen Gedichtes. Dichtung ist Mißverstehen,
Randgänge der Philos. (Wien 1988) 2 9 - 5 2 . - 22 vgl. dazu auch Mißinterpretation, Mißverhältnis.» [9] Für die Literatur-
U . H o r s t m a n n : Parakritik und D . Eine Einführung in den ame- theorie hat, nach Bloom, diese Auflösung des Kunst-
rikanischen Poststrukturalismus (1983) 17. - 23 vgl. Culler [7]
werks in seine intertextuellen Vermittlungen vor allem
108; différance «bezeichnet die Produktion des Differierens»
(Derrida [5] 44). die Konsequenz, daß ihr «nur die Übernahme des poeti-
schen Interaktionsverhaltens selbst» [10] bleibt, wo-
durch der Gattungsunterschied zwischen Dichtung und
Literaturhinweise :
Interpretation eingeebnet wird: Der Interpret wird
C. Norris: Deconstruction. Theory and Practice (London 1982).
- M. Frank: Was ist Neostrukturalismus? (1984). - R . Gasché: selbst zum latecomer poet.
The Tain of the Mirror. Derrida and the Philosophy of Reflec- Zu b): Die Kontamination von Dichtung und Interpre-
tion (Cambridge, Massachusetts/London 1986). - H. Kimmer- tation, Literatur und Philosophie wird vor allem mit dem
le: Derrida zur Einführung (1988).
Argument begründet, daß sich kein wie immer auch
definierter Diskurs (sei er philosophischer, literatur-
II. Literaturwissenschaft. Da DERRIDAS Philosophie theoretischer oder literarischer Art) dem <Spiel der Zei-
hauptsächlich aus der Interpretation anderer philo- chen) entziehen kann, wie vor allem das Beispiel der

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Dekonstruktion Dekonstruktion

Metaphern in philosophischen Texten zeigt [11]: «In ih- när. Es gibt keinen Weg aus dem «prison-house of
rer Abhängigkeit vom Figurativen ist die Philosophie language». [25] Positiv gewendet: Sprache - vor allem
dazu verdammt, Literatur zu sein, auch wenn sie sich als literarische Sprache - wird in ihrer autonomen, von Re-
Gegensatz zum Figurativen definiert.» (P. de Man) [12] ferenz befreiten Kraft entdeckt. [26] Literatur ist der
Die Unterscheidung literarischer und nichtliterarischer privilegierte Ort, «an dem dieses negative Wissen von
Texte wird zugunsten einer allgemeinen Literalität oder der Verläßlichkeit sprachlicher Äußerungen erwiesen
Textualität> aufgegeben. werden kann.»[27] Die wahre Natur der Literatur ist
Zu c): Die D. gibt den Anspruch auf, durch Interpre- Fiktionalität: «Der selbstreflektierte Spiegeleffekt,
tation den einheitlichen Sinn eines Textes entschlüsseln durch den ein fiktionales Werk, allein weil es existiert,
zu können, da kein Text von diesem bestimmt ist. In seine Trennung von empirischer Realität behauptet, sei-
jedem Text gibt es vielmehr Lücken, Löcher, Abgründe, ne Divergenz, als Zeichen, von einer Bedeutung, deren
Unentscheidbarkeiten, mit einem Wort: Aporien, die Existenz auf der konstitutiven Aktivität dieses Zeichens
aufzudecken Ziel dekonstruktivistischer Interpreta- beruht, charakterisiert das literarische Werk in seiner
tionen ist. [13] Sie werden von der Frage geleitet, ob ein Essenz.» [28] Wenn Literatur keine «glaubwürdige In-
Text «sich auf sich selbst in einer Weise zurückbezieht, formationsquelle über irgend etwas ist, außer über ihre
die die Autorität seiner eigenen Behauptungen in Zwei- eigene Sprache» [29], dann liegt es nahe, daß ihr - und an
fel zieht, insbesondere, wenn diese Behauptungen sich ihr vor allem die rhetorische oder tropologische Dimen-
auf die Arten des Schreibens beziehen, die ihn rechtferti- sion - die dekonstruktivistische Aufmerksamkeit gehört.
gen.» [14] Was das heißt, zeigt sich in P. DE MANS Inter-
pretation eines PROUST-Textes über das Lesen [15], der Anmerkungen :
durch «die Nebeneinanderstellung figurativer und meta- l l n seinen verschiedenen Texten interpretiert Derrida u.a.:
figurativer Sprache» auffällt: Darin evozieren eine Viel- Rousseau, Freud, Artaud, Lévi-Strauss, Heidegger, Hegel,
zahl von Metaphern <Sommer>; zugleich aber kommen- Saussure. - 2Seine Interpretationsstrategie bezeichnet Derrida
tiert Proust «in einer offen normativen Weise das Ver- mit dem Begriff <greffe>, was soviel wie <Aufpfropfung> (aber
fahren, mit dem solche Wirkungen hervorgerufen wer- auch Schreibinstrument) heißt. Durch die Strategie unterläuft
Derrida die traditionelle Unterscheidung des Wesentlichen
den». [16] De Man erkennt in ProustsText einen Wider-
vom Unwesentlichen. Vgl. dazu J.Derrida: Randgänge der
spruch zwischen figurativer Praxis und metafigurativer Philos. (Wien 1988) 1 3 - 2 7 sowie ders.: Glas (Paris 1974). -
Theorie, derart, «daß die Behauptung der Vorherrschaft 3vgl. M.Frank: Was ist Neostrukturalismus? (1984). - 4 Z u
der Metapher über die Metonymie ihre Überzeugungs- dieser eigentümlich phasenverschobenen Rezeption in den
kraft dem Gebrauch metonymischer Strukturen ver- U S A vgl. U . Horstmann: Parakritik und D . Eine Einführung in
dankt.» [17] Dieser Widerspruch zwischen einer ästhe- den amerikanischen Poststrukturalismus (1983) l l f f . - 5ebd.
tisch empfänglichen Lektüre, die sich von den Meta- 19. - 6vgl. J. Culler: Dekonstruktion. Derrida und die post-
phern gleichsam blenden läßt, und einer rhetorisch auf- strukturalistische Literaturtheorie (1988) 30 und J . H . Miller:
merksamen ist unauflöslich, ist mithin eine Aporie: «Sie Steven's Rock and Criticism as Cure, in: Georgia Review 39
(1976) 3 3 0 - 3 4 8 . - 7 vgl. vor allem H. Bloom: Kabbala. Poesie
[die Aporie] bezeichnet das unwiderrufliche Eintreten
und Kritik (1989). - 8 H . Bloom: Kaballah and Criticism (New
zumindest zweier sich einander gegenseitig ausschlie- York 1975) 19. - 9 H . Bloom: The Anxiety of Influence (New
ßender Lektüren und behauptet die Unmöglichkeit York 1973) 94f.; vgl. dazu U.Horstmann: Parakritik und D .
wirklichen Verstehens sowohl auf der Ebene der Figura- Eine Einführung in den amerikanischen Poststrukturalismus
tion wie auf der der Themen.» [18] Der interpretatori- (1983) 36. - 10ebd. 36. - I I P . de Man: Allegorien des Lesens
sche Aufweis von Aporien fügt - so das dekonstruktivi- (1988). D e Man beruft sich auf Nietzsche, der ihm (neben z . B .
stische Selbstverständnis - der interpretierten Literatur Augustinus und Montaigne) zu denjenigen gehört, «deren
nichts hinzu, sondern deckt lediglich die aporetische Se- Werk die beiden Aktivitäten des menschlichen Intellekts, die
mantik, die der Literatur ihre Literarizität verleiht, auf: einander am nächsten und füreinander am undurchdringlich-
sten sind, umschließt - : die Literatur und die Philosophie.» (de
«Die D. [...] ist es, die den Text allererst konstituiert
Man: ebd. 146). - 1 2 C u l l e r [6] 164. - 1 3 Β . Johnson definiert D .
hat. Ein literarischer Text behauptet und verneint zu- als' «das sorgfältige Entwirren einander bekämpfender Bedeu-
gleich die Autorität seiner eigenen rhetorischen Form tungskräfte im Text» (B. Johnson: The Critical Difference, Bal-
[...]. Dichtung ist die avancierteste und verfeinertste timore 1980, 5). - 1 4 d e Man[11] 59. - 15ebd. 43ff. u. 9 1 - 1 1 7 ;
Form der D. [...].» [19] de Man bezieht sich auf: M. Proust: A la recherche du temps
perdu. Bd. I (Paris 1954) 8 2 - 8 8 . - 16de Man [11] 44. - 17ebd.
Die Erkenntnis verschiedener, einander wechselseitig 45. - 18ebd. 105. - 19ebd. 48; vgl. auch Horstmann [8] 61: «D.
ausschließender Bedeutungen eines Textes wird gerne ist methodologische Mimesis des literarischen Textes, sie de-
mit dem französischen Ausdruck <mise en abyme> [20] monstriert die Unhaltbarkeit reduktionistischer Kohärenzer-
wartungen [ . . . ] » . - 2 0 E n abyme = in unendlicher Rekursion;
(Sturz in den Abgrund) bezeichnet, welcher die Rolle
bezeichnet eigentlich «den optischen Effekt eines Bildes [ . . . ] ,
des Lesers (bzw. Interpreten) benennt, der sich auf das das sich selbst immer wieder enthält und derart eine unendliche
bodenlose Spiel literarischer Sprache einläßt. Lesen Flucht erzeugt» (J.Derrida: Wie Meeresrauschen auf dem
rückt überhaupt zur dekonstruktivistischen Tätigkeit par
excellence auf [21]: «Lesen heißt am Prozeß der Bedeu- Grund einer Muschel Paul de Mans Krieg. Mémoires II,
Wien 1988, 121, A n m . 3 5 ) . - 21 Dieses Interesse am Akt des
tungserschütterung teilzunehmen, heißt versuchen, un-
Lesens und der Rolle des Lesers leitet sich von <älteren> semio-
seren eigenen Sturz in die Sprache zu kontrollieren oder tisch-strukturalistischen Untersuchungen ab, für die beispiel-
damit zurechtzukommen.» [22] Da es aber unmöglich haft zu nennen wären: U . Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit
ist, zum eindeutigen Sinn zu kommen, ist jedes Lesen der Interpretation in erzählenden Texten (1987) und R. Bart-
ebensosehr ein Ver-lesen, was de Man <Unlesbar- hes: S/Z (1976). - 2 2 S . Felman: Postal Survival, or the Question
keit> [23] oder «Allegorie des Lesens> [24] nennt. of the Navel, in: Yale French Studies 69 (1985) 54. - 23Dieser
Begriff dürfte auf Paul Celan <Unlesbarkeit dieser Welt>,
Zu d): In dieser Auffassung des Lesens artikuliert sich P.Celan: Gesammelte Werke. Zweiter Band (1986) 338 zu-
ein radikaler Sprachskeptizismus, der generell die Mög- rückgehen, den de Man mehrfach erwähnt. - 2 4 So der Titel des
lichkeit in Abrede stellt, durch Sprache Zugang zur gleichnamigen Buches von P. de Man (dt. 1988, engl. 1979, N e w
Wirklichkeit zu gewinnen. Jeder Gedanke an Flucht in Häven/London) als: Allegories of Reading). - 25 vgl. F. Jame-
eine sprachtranszendente Wirklichkeit erscheint illusio- son : The Prison-House of Language (New York 1972) ; vgl. auch

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J. H. Miller: The Criticas Host, in: H. Bloom u. a.: Deconstruc- Sprache, die nicht existiert außer als ständige Disjunk-
tion and Criticism (London 1979) 230. - 2 6 vgl. de Man [11] 34. - tion, die allen Sprachen als solchen innewohnt.» [8]
27P. de Man: Der Widerstand gegen die Theorie, in: V. Bohn Dieser eigenwillig entstellenden dekonstruktivisti-
(Hg.): Romantik, Literatur und Philosophie. Internat. Beiträge
schen Verwendung des Begriffs Rhetorik blieb nicht un-
zur Poetik (1987) 91. - 28P. de Man: Blindness and Insight.
Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism (London widersprochen. B. VICKERS spricht in seiner Kritik von
2
1983) 17. - 29 de Man [27] 92. «Reduktion, Fragmentierung und Fehlanwendung der
Rhetorik.» [9] De Man beziehe sich, so Vickers, lediglich
auf die elocutio und ignoriere zudem noch die affektive
Literaturhinweise : Bedeutung der Tropen: «In den Händen de Mans heißt
H. Bloom u. a.: Deconstruction and Criticism (London 1979). -
Rhetorik nicht länger Redekunst, öffentliche Beredsam-
J. Arac, W.Godzich, W.Martin (Hg.): The Yale Critics. De-
construction in America (Minneapolis 1983). - P. de Man: The keit, Gefühlsbewegung oder die Gesamtkonstruktion ei-
Rhetoric of Romanticism. Reprint of essays originally written ner kunstvollen Rede; sie bezieht sich auf wenige wohl-
1956-1983 (New York 1984). - R.C. Davis, R. Schleifer (Hg.): bekannte Tropen [...].» [10] Vickers weist an vielen Bei-
Rhetoric and Form: Deconstruction at Yale (Oklahoma 1985). spielen nach, daß de Man sein reduziertes Rhetorik-
- L. Waters, W. Godzich (Hg.): Reading de Man reading (Min- Verständnis in Texte hineinliest und die rhetorische Tra-
neapolis 1989). dition, besonders die der Antike, nicht wahrnimmt:
«Von der Rhetorik profitiert in Paul de Mans Literatur-
III. Rhetorik. Für die D. hat die Rhetorik einen privi- theorie die Dekonstruktion, die nicht nur Rhetorik, son-
legierten Status, kollidiert doch der Bedeutungsüber- dern auch Literaturkritik, den Diskurs überhaupt, so-
schuß figuraler Sprache mit jeder eindimensionalen wohl hervorbringt als auch paralysiert.» [11] Entschie-
Sinnfestschreibung. So verstanden ist die Rhetorik - ob- den warnt Vickers vor einer Übernahme dieser Auffas-
wohl ausschließlich von ihrer ornamentalen Seite begrif- sung von Rhetorik: «Hinsichtlich der Rhetorik kann sei-
fen [1] - gerade kein Ornament, sondern es wird ihr nach ne [Paul de Mans] Wirkung nur schädlich sein, denn die
DE MAN eine «erkenntnistheoretische Stoßkraft» [2] zu- völlig unhistorische und in sich selbst nicht schlüssige
gesprochen, die jedoch darin besteht, die Erkenntnis- Natur seiner Angriffe auf die Rhetorik könnte jede wei-
theorie zu stören: «Durch ihre aktiv negative Beziehung tere Überlegung paralysieren und verwirren.
zu Grammatik und Logik hebt die Rhetorik den An- Ein summarisches Urteil über die D. ist gegenwärtig
spruch des Triviums (und letztlich der Sprache) auf, ein kaum möglich, da sie sich dem einmal durch ihre Hetero-
erkenntnistheoretisch haltbares Konstrukt zu sein.» [3] genität entzieht und sich zum anderen noch in ihrer
Diese weitreichende und fragwürdige Aussage stützt de Entwicklungsphase befindet. Kritik an ihr (bzw. an ein-
Man durch eine Kritik an der französischen Semiologie zelnen Erscheinungen der D.) wird vielfältig und heftig
( B A R T H E S , G E N E T T E , TODOROV, G R E I M A S ) , die grammati- geübt. [13] Dennoch scheint dieses Projekt Zukunft zu
sche und rhetorische Strukturen harmonisch miteinan- haben [14], ja vielleicht darf D. in ihrer manchmal mon-
der verbindet und nicht die «Spannung zwischen Gram- strösen Unverständlichkeit geradezu als Vorgriff auf die
matik und Rhetorik» [4] sieht. Im Rückgriff auf C.S. Zukunft definiert werden: «Der Vorgriff auf die Zukunft
PEIRCE löst de Man die Grammatik von der Rhetorik, die ist nur in Gestalt der absoluten Gefahr möglich. Sie ist
zu einem unendlichen Prozeß der Zeichenproduktion das, was mit der konstituierten Normalität vollständig
wird : «Die Deutung des Zeichens ist für Peirce nicht eine bricht und also nur in Gestalt der Monstrosität sich kund-
Bedeutung, sondern ein anderes Zeichen; es ist eine tun, sich präsentieren kann.» [15]
Lektüre und keine Dekodierung, und diese Lektüre muß
ihrerseits mit einem weiteren Zeichen gedeutet werden
und so ad infinitum. Peirce nennt diesen Prozeß, durch Anmerkungen:
1 Explizit sagt de Man : «Tropen und Figuren (sie sind es, die der
den "ein Zeichen ein anderes gebiert", reine Rhetorik im
Begriff <Rhetorik> hier bezeichnet, und nicht die abgeleiteten
Unterschied zu jener reinen Grammatik, die die Mög- Bedeutungen von Erläuterung, Redegewandtheit und Überre-
lichkeit einer unproblematischen dyadischen Bedeutung dung) [...]·» (P.de Man: Allegorien des Lesens, 1988, 35). -
postuliert [...].» [5] Die aus dem Trivium herausgelöste 2de Man: Der Widerstand gegen die Theorie, in: V.Bohn
Rhetorik entspricht den dekonstruktivistischen Erwar- (Hg.): Romantik, Literatur und Philos. Internat. Beiträge zur
tungen vollkommen: hinsichtlich der unendlichen Zei- Poetik (1987) 98. - 3 e b d . 101. - 4 d e Man [1] 38. - 5 e b d . - 6 e b d .
chenproduktion (Spiel der Zeichen) und hinsichtlich der 40. - 7 v g l . W.Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schrif-
mise-en-aby me-Struktur, eröffnet diese Rhetorik doch ten (1977) 5 0 - 6 2 . - 8de Man: Conclusions». Walter Benja-
«schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Ver- min's <The Task of the Translater». Messenger Lecture. Cornell
University, March 4,1983, in: Yale French Studies 69 (1985) 44.
irrung». [6]
- 9 Β . Vickers: In Defence of Rhetoric (Oxford 1988) 453. -
10 ebd. 457. - 1 1 ebd. 464. - 12ebd. - 1 3 In Deutschland sind als
Die Beschränkung der Rhetorik auf die Figurenlehre
Kritiker der D. besonders Habermas (J. Habermas: Der philo-
gewährt einen Durchblick auf die von de Man (in Anleh- sophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, 1985)
nung an B E N J A M I N ) [7] so genannte <reine Spracho: und Gadamer (H.-G. Gadamer: Destruktion und Dekonstruk-
«Benjamin, der über die Unfähigkeit der Trope, bedeu- tion (1985), in: ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode.
tungsadäquat zu sein, spricht, benutzt dauernd eben die- Ergänzungen (1986) ( = Ges. Werke Bd. 2, 361-372) hervorge-
se Tropen, welche scheinbar die Entsprechung von Be- treten. - 14 Als Beispiel für eine mögliche Weiterentwicklung
deutung und Trope behaupten; aber er schützt sie gewis- der D. sei hier der Versuch W. Godzichs genannt, der, vor dem
sermaßen, verschiebt sie, um dem Original einen Anstoß Hintergrund der dekonstruktivistischen Kritik an der Institu-
zu versetzen, um das Original zu dekanonisieren, um tion <Literaturwissenschaft>, versucht, eine <un-europäische Li-
teraturkritik) zu etablieren (vgl. W. Godzich: Philosophie einer
ihm eine Bewegung zu geben, die eine der Desintegra- un-europäischen Literaturkritik, 1988). - 15 J. Derrida: Gram-
tion, der Fragmentierung ist. Diese Bewegung des Origi- matologie (1983) 15.
nals ist ein Umherirren, eine Irrfahrt, eine Art dauerndes
Exil, wenn man so will, aber es ist nicht wirklich ein Exil,
Literaturhinweise:
denn da gibt es keine Heimat, nichts, wovon man exiliert
P. Forget (Hg.): Text und Interpretation (1984). - H. G. Gada-
wäre. Am allerwenigsten gibt es so etwas wie eine reine mer: Dekonstruktion und Hermeneutik, in: A. Gethmann-Sie-

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Delectare Delectare

fert ( H g . ) : Philos, und Poesie. O . P ö g g e l e r z u m 60. Geburtstag. Verbindung mit einer jeweils spezifischen u. angemesse-
(1988) 3 - 1 5 . - Rhetorik 9 (1990) nen Stilart wird unmittelbar zum ersten Mal von CICE-
T. Pekar RO [13] formuliert: «Erit igitur eloquens [ . . . ] is, qui in
foro causisque civilibus ita dicet, ut probet, ut delectet,
—» Diskurs —» H e r m e n e u t i k —» Interpretation —* Intertextualität ut flectat. probare necessitatis est, delectare suavitatis,
—» Literatur —* Literaturkritik —» Literaturtheorie, rhetorische
—» Literaturwissenschaft —* Philosophie —> P o s t m o d e r n e —»
flectere victoriae; nam id unum et omnibus ad obtinen-
Text
das causas potest plurimum» (Der vollkommene Redner
[...] wird also der sein, der auf dem Forum und in Zivil-
prozessen so spricht, daß er beweist, daß er unterhält,
Delectare (lat. auch conciliare; dt. unterhalten, erfreu- daß er beeinflußt. Beweisen ist Sache der Notwendig-
en; engl, please, delectation; frz. plaire, délecter; ital. keit, Unterhalten eine Frage des Charmes, Beeinflussen
dilettare) aber bedeutet den Sieg: dieses eine vermag ja am meisten
Α . Das D. dient als zweite Aufgabe der drei officia von allem die Entscheidungen zu bestimmen). Gleich-
oratoris dazu, die Sympathie des Publikums für den Red- falls wird von Cicero der Zusammenhang von Stil, Wir-
ner und für den Redegegenstand zu gewinnen. Es ist als kungsfunktion und Redegegenstand deutlich hervorge-
solches Teil des Hauptziels der Rede, des persuadere [1], hoben. [14] Den Ausgangspunkt bilden aber wohl das
und ist der als ή6ος (éthos) bezeichneten sanften Affekt- Grunddispositionsschema der Aristotelischen <Rheto-
stufe (im Gegensatz zum movere) zugeordnet [2]; denn: rik> «πράγματα, ήθη, πάθη» (prágmata, êthë, páthé) [15]
Das D. oder conciliare geht immer «als das Hervorbrin- bzw. die πίστεων τρία εΐδη (pisteön tría eidë). [16] Die
gen einer geneigt machenden Emotion von der Charak- Überzeugung durch den Charakter (Ethos) erfolgt,
ter- und Sittendarstellung [...] aus» und «hat zur Folge wenn die Rede so gehalten wird, daß sie den Redner
eine Emotion des Wohlwollens, der Freundlichkeit, der glaubhaft macht. [17] Im zweiten Buch der <Rhetorik>
Geneigtheit, auch offenbar der Gelassenheit». [3] Beide verliert ARISTOTELES die moralische Verläßlichkeit des
emotionalen Redefunktionen, das D. und das movere, Redners aus dem Auge und begreift statt seiner das
sind die eigentliche Domäne des Redners, in der es gilt, Ethos als «Charakter», «als erscheinend an den darge-
seine ganze Kunst zu zeigen ; denn, so QUINTILIAN [4], die stellten Personen, an denen auch das "Pathos", die "Lei-
Beweisgründe ergeben sich meist aus der Natur des Fal- denschaft" erscheint und handelt es demgemäß als eine
les, und für die bessere Sache sind sie immer in größerer Unterabteilung des Pathos ab». [18] Ethë und pâthë,
Zahl vorhanden, aber während die Beweise es nur zu- Charaktere und Leidenschaften treten als emotionale
stande bringen, daß die Richter unsere Sache für die Wirkung der rationalen Wirkung durch die prágmata
bessere halten, bewirken die Affekte, daß sie das auch gegenüber und werden so über die römische Rhetorik in
wollen: «sed id, quod volunt, credunt quoque». Der den abendländischen Bildungsbesitz weitergegeben. Die
Redefunktion D. mit dem ihr zugehörigen Redegegen- Charakterdarstellung aber, das delectare oder conciliare
stand, dem Ethos, ist die mittlere Stilebene, das genus ist der mildere Teil der emotionalen Redefunktionen «ad
medium (temperatum, floridum), zugeordnet. [5] Das D. naturas et ad mores et ad omnem vitae consuetudinem
als Mittel der Sympathiegewinnung ist besonders für das accomodatum» ([...] bezieht sich auf die Natur, den
exordium von Wichtigkeit [6], wofür Quintilian [7] einen Charakter, die ganze Lebenshaltung) [19], von dem eine
maßvollen Stil empfiehlt: «ut videamur accurate, non Emotion der «Neigung und des Zutraulich-Zutunli-
callide dicere» ([...] damit unsere Rede sorgfältig chen»[20] auf die Zuhörer ausgeht. [21] Ethos und Pa-
scheint, nicht aber schlau). Man soll kein ungewöhnli- thos in ihrer Anbindung an die spezifischen Stilarten, das
ches Wort, keine kühne Metapher, kein aus veraltetem genus medium bzw. grande werden zum Ausgangspunkt
Sprachgebrauch oder dichterischer Freiheit stammendes «für die Ästhetik des "Schönen" und "Erhabenen", die
Wort verwenden. Diese Freizügigkeit wird erst gewährt dann als "Anmut" und "Würde" die Diskussion des
«magis conciliatis animis et iam calentibus» (sind erst die 18. Jahrhunderts beherrschen». [22] Die Weitergabe der
Herzen gewonnen und schon erwärmt [...]). Der ornatos Wirkungsfunktionen der Rede läßt sich im Mittelalter
in der narratio dient dazu, delectatio zu vermitteln: «et verfolgen, etwa bei AUGUSTINUS, bei dem neben der
minus longa quae délectant videntur» (und weniger lang grundsätzlich belehrenden Funktion der Predigt auch
erscheint, was unterhaltsam ist) [8] und macht dadurch das delectare seinen Platz hat. [23] Weiterhin bei LU-
das Publikum aufmerksamer, d. h. dient somit der Sache THER [24], indem die affectus in unmittelbaren Bezug
des Redners. [9] Die im exordium erreichte Aufmerk- zum Glaubensvorgang gestellt werden, aber auch in der
samkeit soll erhalten bleiben, das Publikum, in dem mit Predigtpraxis, wo «seine Bauernpredigten reichhaltig
Hilfe der delectatio Genuß (voluptas) erzeugt wird, ge- von den (freilich meist sanft) bewegenden und rühren-
wonnen werden. [10] Vom Wesen des Gegenstandes der den Mitteln der Rhetorik Gebrauch machten». [25] Die
narratio hängt in diesem Redeteil der Grad des delectatio Wirkungsfunktionen finden in den Rhetorik-Lehrbü-
erzeugenden ornatus ab, wobei bei bedeutenderen Ge- chern des 16. und 17. Jh. ihren Niederschlag, in denen
genständen (maior res) bereits ein freieres Spiel der Af- die emotionalen Mittel von Tropen und Figuren abge-
fekte zugelassen ist. [11] Um bei der argumentatio Eintö- handelt werden, während die Praxis von Rede und Dich-
nigkeit zu vermeiden, bedarf es ebenfalls der unterhalt- tung «alle Möglichkeiten des movere und/oder des delec-
samen Auflockerung bis hin zum starken Affektspiel: tare bis an die Grenzen auszuschöpfen sucht». [26] Die in
«Nisi [iudices] et delectatione adlicimus et viribus trahi- der Aufklärung mit Klopstock und Lessing einsetzende
mus et nonunquam turbamus adfectibus, ipsa quae iusta Gegenbewegung zur Rationalität der Normpoetik führte
ac vera sunt, tenere non possumus» (Wenn wir solche zu einer Neubewertung der beiden emotionalen Wir-
Menschen nicht mit Unterhaltsamem anlocken, mit kungsfunktionen des delectare und movere (sittliche Läu-
Macht mitreißen und zuweilen mit Gefühlswirkungen in terung durch Erregung von Emotionen als Funktion der
Verwirrung versetzen, können wir auch das, was gerecht Literatur gegenüber bloß moralischer Belehrung). Ihr
und wahr ist, nicht festhalten). [12] Einfluß in der Ästhetik reichte, wie Dockhorn aufgezeigt
B. Die Theorie von den drei Aufgaben des Redners in hat, noch bis weit ins 19. Jh. hinein. [27]

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Demagogie Demagogie

Anmerkungen : ner, war wohl an Beredsamkeit den meisten Zeitgenos-


1 vgl. Quint. XII,10, 59; Mart. C a p . 2 8 , 502. - 2 Q u i n t . V I , 2 . - sen überlegen. [3] An der Spitze der sogenannten Kriegs-
3 K . D o c k h o r n : Macht u. Wirkung der Rhet. (1968) 52f. - partei stehend, betrieb er eine rastlose Agitation gegen
4 Q u i n t . VI,2, 4 - 8 . - 5 vgl. Cie. Or. 21,69; H . Lausberg: Hb. oligarchische Demagogen von außen und gegen den
der lit. Rhet. ( 3 1990) §1079, 2 a - b . - 6 M a r t . Cap. 21,473. -
7 Q u i n t . IV,1, 58f. - 8 e b d . IV,2, 46. - 9 e b d . V I I I , 3 , 5. - 1 0 e b d .
Strategen der Friedenspartei im Inneren, NIKIAS. Wie
IV,2, 119. - 1 1 ebd. I V , 2 , 1 1 6 f f . - 1 2 e b d . V,14, 29. - 13Cic. Or. durch die Kritik von PLATON und ARISTOTELES an Schein-
21, 69. - 14vgl. Cie. D e or. 2, 211ff. - 15vgl. R E Suppl. - beweisen und Trugschlüssen die Sophistik ihren negati-
Bd. VII (1940) 1 0 3 9 - 1 1 3 8 , hier: 1075; L . F i s c h e r : G e b u n d e n e ven Akzent erhielt, so brandmarkte der Spott der Komö-
R e d e (1968) 111 A n m . 2 5 . - 16Arist. Rhet. 1,2, 3, 1356a2. - diendichter alles, was mit den Demagogen zusammen-
17 Arist. Rhet. 1,2, 4, 1356a5f. - 1 8 D o c k h o r n [ 3 ] 50. - 19Cic. hing. Das setzte schon mit der Beurteilung von K L E O N
Or. 37, 128. - 2 0 D o c k h o r n [3] 54. - 21 ebd. - 2 2 D o c k h o r n [3] ein, der mit seiner patriotischen Agitation und D. die
57; vgl. G. U e d i n g : Schillers Rhet. Idealistische Wirkungsästhe- radikale Kriegspartei gegen PERIKLES anführte [4], und
tik u. rhet. Tradition (Diss. Tübingen 1969). - 2 3 A u g . Doctr.
steigerte sich in der zeitgenössischen Komödie gegen
IV B , 29. - 2 4 D o c k h o r n [ 3 ] 90. - 2 5 G . U e d i n g , B. Steinbrink:
Grundriß der Rhet. (1986) 82. - 2 6 e b d . 96. - 2 7 D o c k h o r n [3]
Demagogen wie HYPERBOLOS [5] und KLEOPHON. [6]
68ff. Denn seit K L E O N gewinnt eine plebejische D. die Ober-
hand, die im Gegensatz zu den ästhetisch-rhetorischen
Vorstellungen der adligen Demagogen-Vorläufer steht.
Literaturhinweise : Billiger Witz, argumenta ad hominem, Eitelkeit, Polari-
L . F i s c h e r : G e b u n d e n e R e d e . Dichtung und R h e t . in der lit. sierung von Beschönigung und Verteufelung, Dreistig-
T h e o r i e des Barock in Deutschland (1968). - K. D o c k h o r n :
Rhetorica movet. Protest. Humanismus und karolingische Re-
keit, Unbedenklichkeit in der Wahl rhetorischer Mittel
naissance, in: H . S c h a n z e : Rhet. Beitr. zu ihrer Gesch. in entsprachen der Skrupellosigkeit in der politischen
Deutschland v. 1 6 . - 2 0 . Jh. (1974) 1 7 - 4 2 . Handlungspraxis. Ein Ausbund negativer Akzentu-
G. Wöhrle ierung von D. und Demagoge war der Athener Seemann
D E M A D E S [7], der zwar durch eine natürliche Redebega-
bung hervorragte, aber vollends in die Vulgarisierung
—» A f f e k t e n l e h r e —> Argumentation —> Conciliatio —> Dreistil-
lehre —» D o c e r e —> Ethik E t h o s —» M o v e r e —» Narratio —>
abglitt. Es ist nicht unzutreffend darauf hingewiesen
Officia oratoris —* Ornatus —* Persuasion —» Wirkung worden [8], daß sich im Wandel der Inhalte von D. und
Demagoge auch der wandel der Sozialstruktur Athens
und seiner Volksversammlung und damit der Politiker
abzeichnet. Aufsteigende Händler und Handwerker
Demagogie (griech. δημαγωγία, demagogia; lat. artes po- wurden bestimmend, die adelige Landkultur wurde ab-
pulares; engl, demagogism; frz. démagogie; ital. dem- gelöst von städtischer Industriekultur. Die Volksmassen
agogia) produzierten nun aus eigenen Reihen ihre politische Eli-
Α . Volksverführung durch eine Rhetorik des Uberre- te, die natürlich von der Redeweise der alltäglichen So-
dens, die in bedenkenloser Weise Inhalte und rhetori- ziokultur der Basis geprägt war.
sche Mittel der Schmeichelei, der Verlockung, der Täu-
schung, der schrankenlosen Versprechungen oder auch Während in den griechischen Stadtstaaten der Titel
der Panikmache einsetzt, also mit Appellen an Gefühle <Demagoge> sozusagen institutionalisiert war, findet
Volksmassen für eigene politische und ideologische man in der römischen Republik keine direkte Lehnwort-
Zwecke lenken oder gegen politische Gegner aufwiegeln übernahme, ebenso nicht für D. Der Sache nach finden
will. wir aber Entsprechungen unter den Volkstribunen und
B.I. Antike. Wie man im 5. Jh. v.Chr. mit <Sophist> politischen Rednern. Sie werden - römischem Individu-
zunächst sachlich einen Weisheitslehrer, einen bezahlten aldenken gemäß - nicht mit einer Klassifikation, sondern
Erzieher für die Fächer der höheren Bildung, vornehm- mit individuellen Attributen in positiver oder negativer
lich für Recht, Sozialethik, Politik, Anthropologie und Hinsicht als Demagogen ausgewiesen: plebis dux, populi
Rhetorik, bezeichnete, so nannte man im Athen der actor, orator popularis, contionator popularis, assentator
Polisdemokratie gleichzeitig einen Bürger, der durch populi, homo seditiosus, civis turbolentus, vulgi turbator.
Ansehen und Redebegabung die Entschließungen der Der textliche und der politisch-historische Kontext ist
Volksversammlung beeinflußte, einen Demagogen dann entscheidend für die Bewertung. Diese Ambiva-
(δημαγωγός, dêmagôgôs). Noch ARISTOTELES gebraucht lenz ergibt sich zum Beispiel bei der Bewertung der D.
diese Bezeichnung durchgängig wertneutral. Der Begriff der älteren GRACCHEN oder im Falle der von SALLUST
war zunächst für die zehn amtlichen Redner gebräuch- überlieferten Rede des M A R I U S gegen den Consul M E -
lich, die im Gerichtsverfahren auf Ansuchen der Partei- TELLUS. Ein Meister aller Untugenden, die sich mit der
en die Hauptrede hielten. Doch schon bald hießen die negativen Semantik der D. verbinden, war PUBLIUS C L O -
Wortführer parteiähnlicher Gruppierungen in der DIUS PULCHER [ 9 ] , der als Ankläger gegen CATILINA seine
Volksversammlung oder diejenigen, die durch ihre poli- öffentliche Laufbahn begann und als Volkstribun zur
tischen Reden auf Dauer eine Wortführerrolle er- Zeit des 1. Triumvirats CICERO und CATO politisch ent-
langten, eben Demagogen: <Wortführer) und <Volksfüh- machtete, eine Schreckensherrschaft mit seinen Straßen-
rer> wurden fast deckungsgleich. Wie mit dem Begriff banden in Rom ausübte, ständig zu seinem Nutzen politi-
<Sophist> anfänglich die Eigenschaft und die Fähigkeit sche Frontwechsel vornahm und sich gleichbleibend oh-
sachlicher, logischer Argumentation verbunden wurde, ne Gewissen der Hetzrede bediente. In der Endzeit der
so mit der Bezeichnung <Demagoge> die der glaubwürdi- römischen Republik wiederholte sich, was im Falle At-
gen Beweis- und Überzeugungskraft. Im Sinne dieses hens bereits festgestellt wurde: Mit dem Aufstieg der
Rednerideals wurden zum Beispiel PERIKLES [ 1 ] und sein homines novi wandelten sich die rhetorischen Maßstäbe.
Freund, der Stratege LYSIKLES [ 2 ] , so genannt. Der adeli-
ge Demagoge ALKIBIADES aus dem Eupatriden-Ge-
schlecht, ausgezeichnet mit herausragenden körperli- Anmerkungen:
chen und geistigen Gaben, zunächst Liebling der Athe- I R E X I X , 1, 7 4 8 - 7 9 1 . - 2 R E X V I I 1, 3 2 3 - 3 3 3 . - 3 R E I, 2,
1 5 1 6 - 1 5 3 2 . - 4 R E X I , 1, 7 1 4 - 7 1 7 . - 5 R E IX, 1, 2 5 4 - 2 5 8 . -

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Demagogie Demagogie

6 RE XI, 1, 792f. - 7 RE IV, 2, 2703f. - 8 The Cambridge des Tatbestandes, des Ursprungs und der mannigfachen
History 5 (1969) 106-110. - 9 R E IV, 1,82-88. Verzweigungen der gegen die bestehende Verfassung
und innere R u h e , sowohl des ganzen Bundes, als einzel-
Literaturhinweise : ner Bundesstaaten, gerichteten revolutionären Umtrie-
H. Benner: Die Politik des P. Clodius Pulcher. Unters, zur De- be und demagogischen Verbindungen» (Art. 2 des Un-
naturierung des Clientelwesens in der ausgehenden röm. Repu- tersuchungsgesetzes). Von nun an gehörten die Begriffe
blik (1987). - W.G.Forrest: Wege zur hellen. Demokratie.
Staatsdenken und polit. Wirklichkeit von 800 -400 v.Chr. «demagogische Umtriebe» und «Demagogenverfolgun-
(1966). - T. Mommsen: Röm. Gesch. III (91904). -T.Tarkiai- gen» zum tagtäglichen Vokabular der Zeitgenossen bis
nen: Die athenische Demokratie (1966). über die revolutionären 30er und 40er Jahre hinaus.
Ladendorf [3] bringt f ü r den gängigen G e b r a u c h von
II. Neuzeit. Welche allgemeinen Real- oder speziellen «Umtriebe» auch in anderen Sinnfeldern eine R e i h e von
Fachlexika seit der Wende vom 18. zum 19. Jh. man auch Belegen. Ein ausgebautes Spitzelsystem mit den Folgen
zur H a n d nimmt, unter den Stichwörtern D . und Dem- bösartigsten Denunziantentums trat an die Seite der be-
agoge springen sie mit ihren Erklärungen von der Antike hördlichen Aufsicht und Überwachung der Professoren
direkt in die Neuzeit, konkret in die Zeit der Französi- (zum Beispiel E . M. A R N D T , F. L. J A H N , die G e b r ü d e r
schen Revolution und besonders in die Zeit der Restau- WELCKER, J . VON GÖRRES, F . SCHLEIERMACHER) u n d Stu-
ration und Reaktion nach dem Wiener Kongreß 1815. denten (Verbot der Burschenschaften). Hinzu k a m e n
U n d sie knüpfen dabei unmittelbar an die negative Be- das Verbot politischer Versammlungen und die Zensur
deutungsbelastung der klassischen antiken D . in ihrer aller Druckschriften. 1834 wurden Pressezensur und
Niedergangsperiode an, nicht ohne im ersten Satz auf die Kontrolle der Universitäten von der Wiener Minister-
ursprünglich wertneutrale Bedeutung hinzuweisen. Ge- konferenz lückenlos ausgebaut und streng ausgeübt. Die
nauer: Sie gehen von der politischen R e d e in Athen monarchistische Reaktion begrenzte D . und D e m a g o g e
direkt über zur politischen Agitation und Propaganda im nicht auf die politische R e d e , sondern erweiterte sie auf
frühen 19. Jh. Die Verengung von D . in dieser Auffas- alle Formen des Redens, Schreibens, Unterrichtens und
sung von Politik übersieht, daß bei der Deckungsgleich- Organisierens, die sich oppositionell zum Bestehenden
heit von religiösen und politischen Zielsetzungen die in nationalliberalem Sinne äußerten. Für die nationale
Agitation und Propaganda der Streitschriften im Mittel- Einigung zu sein, bedeutete in den D e n k m u s t e r n der
alter, während der Reformation und Gegenreformation Monarchisten, revolutionärer Systemveränderer zu sein.
und vor allem die Predigtliteratur zur letztgenannten Das <Neueste elegante Conversations-Lexicon> definier-
Periode demagogische Negativa enthalten kann. D e r Sa- te dann auch: «In neuerer Zeit heißt D e m a g o g einer,
che nach war D. als Hetze und Aufwiegelei mit Tot- welcher dem monarchischen Princip auf alle Weise ent-
schlagfolgen immer vorhanden, in den H a ß a u f r u f e n zur gegenhandelt.» [4] U n d die <Allgemeine deutsche Real-
Ausrottung der Albigenser, in den Judenpogromen, in Encyklopädie> bringt es lapidar auf den Punkt des Kapi-
den Aufständen innerhalb der italienischen Stadtstaa- taldeliktes, wenn sie schreibt, daß D . «ein Verbrechen in
ten, in den Hugenottenverfolgungen bis zu den Riots im der Monarchie» sei. [5]
London des 18. Jh. Diese Geschichte der D . und der
A m E n d e des 19. Jh., also nach der Reichsgründung
Demagogen muß noch gesondert geschrieben werden.
1871 kleindeutscher A r t , wurde D . wieder in den Be-
Sie läuft bisher zu verstreut in der allgemeinen Literatur
reich der politischen Agitation und Propaganda zurück-
zur Geschichte der Propaganda mit.
genommen. Demagoge ist wieder der Politiker als Red-
Das Substantiv <D.> ist nach Strauß [1] vereinzelt im ner, «der die Aufwiegelung und Irreführung der Massen
17. Jh. nachgewiesen, so etwa bei LEIBNIZ als ein Termi- u. den Umsturz der staatlichen Einrichtungen er-
nus der Geschichtsschreibung. Das diskriminierende s t r e b t . » ^ ] Liberale Lexikon-Autoren machten aber
Wort <Demagoge> ist dann seit E . B U R K E S R e f l e c t i o n s noch deutlich, daß die Demagogenverfolgungen eigent-
on the Revolution in France> (1790) Gemeingut des eu- lich Unterdrückungen der «Bestrebungen jener politi-
ropäischen antirevolutionären Sprachschatzes gewor- schen Verbindungen (waren), welche es auf eine frei-
den. Für D A N T O N , M A R A T und ROBESPIERRE gebraucht, heitliche Gestaltung der Verfassung» abgesehen hat-
wurde es bald allgemeine Bezeichnung für alle propa- ten. [7] Mit der Erweiterung der Rede- und Preßfreiheit
gandistischen Kontrahenten des monarchischen Prinzips sei man im Falle der Bedeutung von «Demagogismus»
und synonym angewandt für Revolutionär und Hochver- und Demagoge wieder mehr zur griechischen Bedeu-
räter. In diesem Sinne setzte es sich besonders in tung zurückgekehrt, der negativen freilich. [8] N u n fand
Deutschland auf D a u e r fest. Die Karlsbader Beschlüsse die Abgrenzung gegenüber dem politischen G e g n e r des
haben dazu den entscheidenden Anstoß gegeben. Als Bürgertums statt, gegenüber der Sozialdemokratie.
der Theologie-Student und Burschenschaftler K. L. Normann versucht, diese Abgrenzung zu verwischen,
S A N D am 23. März 1819 den Komödienschreiber und wenn er demagogische Anfälligkeit in allen politischen
russischen Staatsrat A . VON KOTZEBUE als angeblichen Lagern für möglich hält: «In der konstitutionellen Mon-
Lohnschreiber und Spion des Z a r e n erstach, hatte MET- archie und in demokratisch regierten Staaten kann der
TERNICH den ersehnten Anlaß, bundeseinheitlich gegen verfassungsmäßig gewählte Volksvertreter, wenn er die
die nationale Einigungsbewegung in Presse und Univer- R e d n e r b ü h n e zur Ausstreuung politischer Losungswor-
sitäten Deutschlands vorgehen zu können. Metternich te unter das Volk benutzt, als Demagoge gelten. Unter
und HARDENBERG verabschiedeten zusammen mit den allen Parteien wird am häufigsten die radikale versucht
Ministern von zehn deutschen Staaten in der Zeit vom sein, zu den Mitteln der Demagogie zu greifen; aber
6. bis 31. August 1819 die Entwürfe der berühmt-be- auch absolutistische oder liberale oder konservative Po-
rüchtigten Karlsbader Beschlüsse (Universitätsgesetz, litiker verschmähen diese nicht.» [9] Baumbach nennt
Pressegesetz, Untersuchungsgesetz, Exekutionsord- dagegen deutlich den eigentlichen Gegner: «Neuerdings
nung) [2], zu deren Exekutierung eine <Central-Untersu- hat die sozialdemokratische Partei manchen D e m a g o -
chungskommission> des Deutschen Bundes in Mainz ein- gen in jener üblen Bedeutung des Worts großgezo-
gesetzt wurde zwecks «Untersuchung und Feststellung gen.» [10]

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Denkmalsrhetorik Denkmalsrhetorik

Die bolschewistische Revolution, die radikale Rechte «merk-würdige» Ereignisse verdankt. Auf beide Bedeu-
und Linke in der Weimarer Republik, Faschismus und tungsbereiche ist der Begriff der Denkmalsrhetorik an-
Nationalsozialismus, aber auch die Antisemiten und wendbar sowie teilweise auch auf die sehr verbreitete
Deutschnationalen haben im 20. Jh. reichlich Demago- übertragene Verwendung des Denkmalbegriffs (z.B.
gen im negativen Bedeutungsakzent des Wortes hervor- <Monumenta Germaniae Historica>). [1]
gebracht. Alle üblen Eigenschaften der Einleitungsdefi- Β. I. Allgemeines. 1. Funktionen. Wie bereits das anti-
nition sind dabei personifiziert in den Demagogen HIT- ke <monumentum> auf das Verbum <monere> verweist,
LER und GOEBBELS. Ihre politischen Taten, neben denen das nicht nur erinnern und mahnen, sondern auch auffor-
anderer nationalsozialistischer Agitatoren und auch rus- dern bedeutet, so besitzt auch das Denkmal im heutigen
sischer Revolutionsredner, verhindern eine Rückkehr zu Verständnis neben der memorialen eine appellative
positiven semantischen Konnotationen, wenn heute in Funktion. In diesem Sinne verbindet die Gegenwart der
der politischen Öffentlichkeit von <D.> und <Demagoge> Denkmalserrichtung Vergangenheitserinnerung und
gesprochen wird. Zukunftsappell. Inhaltlich kann die appellative Funk-
tion sehr unterschiedlich akzentuiert sein: z.B. affirma-
tiv, analogisierend, apologetisch (herrschafts-)legitimie-
Anmerkungen:
rend, moralisierend, panegyrisch, normativ - aber auch
I G . Strauß u . a . : Brisante Wörter von < Agitation) bis <Zeitgeist>
(1989) 121. - 2Texte in E . R . H u b e r (Hg.): D o k u m e n t e zur dt.
antagonistisch und kritisch-distanzierend (z.B. beim Ge-
Verfassungsgesch. 1 ( 3 1978) Nr. 3 1 - 3 3 . - 3 0 . Ladendorf: Hi- gendenkmal). Der appellative Impuls setzt ein Gegen-
stor. Schlagwtb. (1906; N D 1968) 48ff. - 4 N e u e s t e s elegantes über voraus - den Betrachter, gelegentlich auch bewußt
Conversations-Lex. für Gebildete aus allen Ständen. Hg. im die Pluralität der Menge - , in deren Denken und Han-
Verein mit einer Gesellsch. von Gelehrten (1843, Neuausgabe deln sich letztlich die Wirkungsintention jedes Denkmals
von W. Lenz 1970) 40. - 5 Allg. dt. Real-Encyklopädie für die erfüllen soll. Denkmäler sind deshalb allgemein betrach-
gebildeten Stände 3 ( 8 1833) 107. - 6 Herders Konversations- terorientiert und bieten Möglichkeiten eines kontextli-
Lex. 2 ( 3 1903) 1136. - ) K . B a u m b a c h : Staats-Lex. H b . für jeden chen Dialogs. Darüberhinaus entwickeln sie häufig Stra-
Staatsbürger zur Kenntnis des öffentl. Rechts und des Staatsle-
bens aller Länder, insbes. des D t . Reichs (1882) 110. - 8 Allg.
tegien zur gezielten Einbindung des Betrachters. Dazu
Realencyklopädie oder Conversationslex. für alle Stände 4 gehören u.a. bühnenhafte Öffnung, <einladende> Be-
( 3 1867) 267. - 9 H . N o r m a n n : Polit. Konversations-Lex. (1892) gehbarkeit, gestischer Bezug und sogar plastische «Mo-
65ff. - 1 0 B a u m b a c h [7] 110. delle) angemessener Rezeption wie auch die direkte
(d.h. wörtliche) Ansprache. Sie sollen eine möglichst
den Intentionen des Denkmalssetzers gemäße Erfüllung
Literaturhinweise ihrer Doppelfunktion gewährleisten. Dabei kann sich
C. T. Welcker: Wichtige U r k u n d e n für den Rechtszustand der
D t . Nation (1819-1822. 1834) mit eigenhändigen A n m . von
die Sprachlichkeit des Denkmals und sein rhetorisches
J. L. Klüber (Aus dessen Papieren mitgeteilt und eri. von Vermögen - qualitativ und quantitativ - sowohl an be-
C . T . Welcker, 1844; N D 1977). - L. F. Ilse: Gesch. der polit. sonderen Details als auch an seiner Gesamtheit, am Ort
U n t e r s . , welche durch die n e b e n der Bundesversammlung er- und an der Form seiner Errichtung sowie an der Materia-
richteten Commissionen geführt sind (1860). - P. Schneider: lität seiner Erscheinung festmachen. Gleichwohl ist die
Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit (1966). - E . R. Hu- Möglichkeit des Mißverstehens oder Nicht(-mehr-)Ver-
ber: D t . Verfassungsgesch. seit 1789 1 ( 2 1967) Kap. IX. - E . K. stehens stets latent gegeben und wächst noch mit zeitli-
Bramstedt: Goebbels und die nationalsozialistische Propagan- chem Abstand.
da 1925 bis 1945 (1971). - E . Büssem: Die Karlsbader Beschlüs-
se von 1819. D i e endgültige Stabilisierung der restaurativen
Politik im D t . B u n d nach d e m Wiener Kongreß von 1814/15
2. Redende Komponenten. Neben Inschriften, Attri-
(1974). buten, Emblemen, Allegorien und Personifikationen ge-
hören auch entwickeltere Formen bildlich-plastischer
H.-G. Schumann
Art, die von Erfindungen, Werken, Schlachten und Ver-
diensten berichten, zu den <redenden> Komponenten.
Agitation —» Beratungsrede —» Eristik —» Ethik —> Manipula-
tion —» Politische R e d e —»Redner, Rednerideal —* Vir bonus —»
Zusammen mit der progressiven zeitlichen Entfernung
Volksrede erschweren nämlich die horizontale Ausgrenzung und
vertikale Entfernung aus der Realitätsebene und Maß-
stäblichkeit des Betrachters die Kommunikation zwi-
Denkmalsrhetorik schen Geehrtem und Ehrendem, Erinnertem und Erin-
A . Der Begriff <D.> ist ein Neologismus, der gleichsam nerndem. Hier setzen die redenden Komponenten an,
die terminologische Konsequenz aus Eigenschaften, Fä- denn sie schlagen nicht nur Brücken aus der statischen
higkeiten und Aufgaben des Denkmals zieht. Diese sind Vergangenheit des Standbildes in die sich wandelnde
mit der Entwicklung und Differenzierung des Denkmal- Gegenwart des wechselnden Betrachters. Zwischen bei-
begriffs eng verbunden. Vor allem zwei Anwendungsbe- den angesiedelt, überbrücken sie zeitliche und räumliche
reiche sind zu unterscheiden: 1. Ein Denkmal im weite- Distanz, vermitteln zwischen dem Würdemaßstab oben
ren Sinne ist jedes Zeugnis der kulturellen Entwicklung, und dem Alltagsmaßstab unten. Häufig ist durch ihr
dem eine besondere künstlerische, historische oder wis- Kommentieren und Illustrieren individuelle Aneignung
senschaftliche Bedeutung beigemessen und das dieser überhaupt erst möglich. So fördern sie die didaktische
Bedeutung wegen des Gedenkens und der Erhaltung für Wirksamkeit der ehrenden Erhöhung im bestätigenden
würdig erachtet wird. Denkmal in diesem Sinne können Nachvollzug des Betrachters, indem sie Identifikation,
Werke der Baukunst, bildenden Kunst, Technik und Konkretion und Konnotation erleichtern. Gleichwohl
historische Stätten sein. Sie sind u.a. Objekte des Denk- wird mit zunehmender Beschleunigung des Wandels al-
malschutzes und der Denkmalpflege. - 2 . Ein Denkmal ler Lebensbereiche die Kluft zwischen dem Anspruch
im engeren Sinne ist jedes in der Öffentlichkeit errichte- des Denkmals auf potentiell ewige Gültigkeit und der
te, meist für die Dauer bestimmte Werk, das bereits sich zunehmend schneller wandelnden Wirklichkeit sei-
seine Entstehung, zumindest aber seine Erhaltung dem ner Umgebung immer größer. Offenbar wird die imma-
Zwecke des Erinnerns an Personen, Handlungen oder nente <Tragik> jeder Denkmalsetzung: Als erinnernde

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Denkmalsrhetorik Denkmalsrhetorik

Kunstwerke sich intentional gegen die «Furie des Ver- etc. In den gleichen Zusammenhang gehören auch die
schwindens» (Hegel) behauptend, sind sie doch selbst mittels aufgeklebter Zettel «sprechenden Statuen> des
der vielfältigen Wirkung zeitlichen Wandels ausgesetzt, päpstlichen R o m , die - wie z . B . Pasquino und Marforio
und zwar in ihrer materiellen Substanz wie in ihrem - sogar Zwiegespräche führen konnten.
ideellen Gehalt, in der Konsensfähigkeit ihres Wertgefü- II. Geschichtliche Entwicklung. Schon in seinen Vor-
ges wie in der Überzeugungskraft ihres Zukunftsappells. und F r ü h f o r m e n ist das öffentliche D e n k m a l mit Katego-
3. Materialität und Zeitfaktor. Denkmäler im weiteren rien des Rhetorischen verknüpft. Bereits Ehrenstatuen
Sinne können aus fast allen Materialien bestehen, im der griechischen Archaik kennen die Einbeziehung des
engeren Sinne ist jedoch die Verwendung besonders Betrachters in einen Bild/Wort-Kontext. So trägt z . B .
dauerhafter Materialien charakteristisch. Als verding- eine Jünglingsstatue (um 520 v . C h r . , A t h e n , National-
lichte Standhaftigkeit manifestiert sich im «ewigen Erz» museum) an ihrer Basis die appellative Inschrift: «Bleib
und «dauerndem Stein» ein eminent beharrendes Ele- stehen und weine am G r a b des Kroisos, der im Krieg als
ment, das seinem Wesen nach statisch und stationär ist. Vorkämpfer gefallen ist.» [3] - Art und U m f a n g der Klei-
Seine Immobilität und <Standhaftigkeit> meint in be- dung können den Charakter einer politischen Aussage
zeichnender Verschränkung zugleich materielle, lokale erhalten (vgl. z . B . die <heroische> Nacktheit im Denk-
als auch zeitliche Be-Ständigkeit und sogar Wider-Stand mal der Tyrannenmörder H A R M O D I O S und ARISTOGEITON
gegen (wodurch auch immer bedingte) Veränderung. Im von der Agora in A t h e n (514 v . C h r . ) , ferner die Bron-
prospektiven Anspruch an künftige Generationen grün- zestatue eines römischen Feldherrn (ca. 180—150
det das Interesse an Wirkungskontinuität. Beharrend v . C h r . , R o m , Museo Nazionale), deren Nacktheit ihn
und bewahrend steht das Denkmal gegen Vergänglich- den Götterbildern angleicht. - Entsprechendes gilt für
keit und Vergessen als Indikatoren der Zeitlichkeit. Als die bekleideten Ehrenstatuen (Toga) wie auch für «ko-
eine Wirklichkeit höherer Art verfolgt jede Denkmals- stümierende» Formen statuarischer Repräsentation, die
setzung gegen die G e f ä h r d u n g ihrer materiellen Sub- den Dargestellten in eine «griechische» oder «höhere
stanz durch Zerstörung und Vergänglichkeit, gegen die Sphäre» heben. [4] Gelegentlich kann dabei die Charak-
nivellierende Übermacht des Alltäglichen und Gewöhn- terisierung des Dargestellten durch die Wahl seiner Klei-
lichen, wie auch gegen Anfechtungen eines sich wan-
delnden Wertegefüges die Überwindung der zeitlichen
Begrenztheit von E h r u n g und Erinnerung, unbegrenzte
D a u e r , Ewigkeit. - Bei D e n k m ä l e r n im weiteren Sinne
kompensieren bewahrende Pflege und Konservierung
die begrenzte Dauerhaftigkeit der verwendeten Materia-
lien mit dem tendenziell gleichen Ziel des Erhalts für
möglichst lange Zeiten.
4. Redende Steine. Häufiger als das Erz ist der Stein als
pars pro toto und Material des Monumentes Objekt der
Übertragung menschlicher Fähigkeiten und Handlun-
gen. Anders als die metaphorische Charakterisierung
der Steine als tot, stumm oder als Sinnbilder der Ver-
schwiegenheit ist die Projektion menschlicher Regungen
wie A t m e n , Weinen - und eben auch Reden - auf das
unbelebte Material meist positiv besetzt. Wohl als Um-
kehr und Analogie zu den stummen Steinen gebildet, ist
derTopos der redenden Steine zuerst greifbar im antiken
«saxa loquuntur». [2] Charakteristisch sind variierende
Übertragungen auf Wände, Bauten, Statuen und Modi-
fikationen des Redens als Predigen, Schreien, Singen

Abb. la: Rekonstruktion der Porta Capuana von Mariano (1928) Abb. 1b: Sitzfigur Friedrichs II. vom Brückentor in Capua
(1234—1239), Zeichnung aus dem Nachlaß von J.-B. Séroux
d'Agincourt (1781), Rom, Bibliotheca Vaticana

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Denkmalsrhetorik Denkmalsrhetorik

dung von einer entsprechenden Gestik (körperliche Be- wie gleichwertig neben das des zu ehrenden Heiligen
redsamkeit) zusätzlich unterstrichen werden. So zeigt stellt. Parallelisierend in selbstbewußter bildlicher Argu-
z . B . die Augustus-Statue von Primaporta (um 20—17 mentation erscheint das Heiligendenkmal zugleich als
v. Chr., Vatikan) den Kaiser in Prunkpanzer und Paluda- Künstlerdenkmal. A . SCHLÜTERS Reiterstandbild des
m e n t u m , der als Feldherr und R h e t o r mit dem Gestus Großen Kurfürsten (1697-1700, Berlin, Schloß Charlot-
der adlocutio vor das H e e r getreten ist [5]. tenburg) inszeniert die willensbetonte strahlende Er-
Zweifellos greift die denkmalhafte Sitzstatue F R I E D - scheinung des Fürsten oben im Kontrast zur beredten
RICHS II. am Brückentor in Capua (1234—39) ( A b b . l a Gestik der Sklaven unten am Sockel als indirekte Selbst-
und b) als stellvertretendes Bildnis und politisches Mani- darstellung absolutistischer Ordnung.
fest des Mittelalters auf antike Vorbilder zurück. In fixie- Als prominentes Beispiel empfindsamer Denkmals-
r e n d e m Redegestus und in redender Z u o r d n u n g von rhetorik besitzt das Grabrelief der im Kindbett verstor-
Bildnis und Inschrift über dem Kopf des Kaisers wird der benen Maria Langhans (1780) von J. A . N A H L in Hindel-
Hindurchschreitende unmittelbar angesprochen: «Sel- bank bei Bern ( A b b . 2) entsprechende Komponenten
ten im Mittelalter ist die Sprachfähigkeit einer Statue gleich in doppelter F o r m : Den Grabstein sprengend wird
außerhalb von Legende und Wunderbericht so wir- die Mutter mit d e m Säugling im A r m sichtbar, gibt der
kungsnah überliefert worden.» [6] - Auf antike Vorbil- aufbrechende Grabdeckel das Leben preis und verweist
der geht auch das Reiterdenkmal Ottos des Grossen (um zugleich auf den Punkt, in dem sich Ursache und Über-
1250) auf dem Alten Markt in Magdeburg zurück (Origi- windung des Todes treffen: Auf dem Sargdeckel neben
nal im Kulturhistorischen Museum ebd.). E s ist als den an Gott gerichteten Worten der Auferstehenden
Rechtssymbol auf die Gerichts- und Ratslaube orien- «Herr! Hier bin ich und das Kind [ . . . ] » erscheinen die
tiert: Die befehlende Rechte des Reiters scheint auf die Verse einer «Ansprache der Mutter an den Sohn», die
wartende Menge gerichtet; der Mund ist leicht geöffnet, ein Betrachter mitleidend nachvollziehen soll: «Horch,
ganz so als sei der Herrscher bei einer Ansprache an die Trompete ruft, sie schallet durch das G r a b / Wach'
seine Untertanen dargestellt. [7] auf mein Schmerzenskind [...]». [8]
Erst in der Renaissance löst sich das D e n k m a l allmäh- Stellvertretend f ü r zahllose ähnliche Denkmäler be-
lich aus dem Kontext des stellvertretenden Bildnisses im legt F. R U D E S M o n u m e n t für den Mathematiker und
R a h m e n von Grabkult und politischer Repräsentations- Physiker Gaspard Monge (1846-48) in Beaune die Kon-
kunst. Symptomatisch dafür ist das wachsende Selbstbe- tinuität der <illustrierenden> Gestik. Von «ses élèves»
wußtsein auch des Künstlers, der wie P . V I S C H E R D . Ä . errichtet, zeigt es, in Analogie zu Attributen und Requi-
am Nürnberger Sebaldusgrab (1507-19) sein Standbild siten, Kostümen u n d Allegorien, eine handlungs- und
berufsbezogene Darstellung, den Gelehrten in der de-
monstrierenden Gestik des Dozierenden. [9] Wie der
Lehrer auf dem Sockel den Betrachter in die Rolle seines
Schülers versetzt, so versetzt ihn der vorwärts zum Feind
deutende General bei zahlreichen Kriegerdenkmälern
(scheinbar) in die Rolle seiner Soldaten.
Architecture parlante. Mit dem Topos der «Redenden
Steine> verwandt bzw. von ihm abgeleitet ist der Termi-
nus A r c h i t e c t u r e parlante> in der Architekturtheorie
des 18. Jh. E r bezeichnet ein Verständnis der Architek-
tur als Ausdrucksträger der «caractères» ihrer Bewohner
bzw. ihrer Funktionen. Die Betonung der an Architek-
tur geknüpften Wirkungsintentionen vernachlässigt pri-
märe Funktionen zugunsten denkmalhafter Überhö-
hung: «Architektur wird zum Ausdrucksträger von In-
halten, zum Instrument von Erziehung, aber sie ist kaum
noch bewohnbar oder benutzbar [...]». [10] Typische
Beispiele sind die Entwürfe von E . L. B O U L L É E
(1728—93). Z u Monumentalität und Denkmalhaftigkeit
tendierend, gipfeln sie in Boullées Newton-Kenotaph.
Analog zur wachsenden Bedeutung der aus der Rhetorik
abgeleiteten Wirkungsästhetik finden sich auch bei
Boullée Vorstellungen einer optischen Rhetorik. Bereits
1745 hatte G . B O F F R A N D in seinem <Livre d'Architectu-
re> die Forderung erhoben, Architektur solle den seiner
Bestimmung gemäßen Charakter ausdrücken. Grundla-
ge seines Werkes bildet die <Ars Poetica> des H O R A Z ,
dessen Ausführungen über die Dichtkunst Boffrand auf
die Architektur ummünzt. [11] So vergleicht er, die De-
kor-Theorie der Rhetorik auf die Architektur übertra-
gend, architektonische Formelemente mit den Wörtern
einer Abhandlung, die im Diskurs ihres Miteinanders
ganz spezifische Wirkungen erzielen: Architektur als
stumme Dichtkunst analog zu H o r a z ' Definition der
Dichtkunst als Malerei mit Worten(«ut pictura poesis»);
Abb. 2: Johann August Nahl (1710-1785): Grabrelief der Maria sie vermittelt ihrerseits zum übertragenden Verständnis
Langhans (nach 1768), verkleinerte Terracotta-Replik nach der von Architektur als Malerei mit anderen Mitteln, näm-
Grabplatte von 1751, Berlin, Skulpturengalerie SMP Κ

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Denkmalsrhetorik Denkmalsrhetorik

lieh mit den <Worten> der Formelemente. Diese Zusam- modifizierte Reaktion auf derartige bronzene Provoka-
menhänge erklären nicht nur die besondere Betonung tionen oder Steine des Anstoßes entwickelt: statt Denk-
der Sprachlichkeit von Architektur und ihre Affinität malsturz und damnatio memoriae, ihr Erhalt und ihre
zum Denkmal, sondern auch die Hochschätzung ihrer Konfrontation mit einem Gegendenkmal. Vorausset-
pittoresken Beredsamkeit. Sie bilden den Hintergrund zung für eine derartige Denkmälerpraxis ist die Über-
für Boullées berühmtes Leitwort «Ed io anche son pitto- zeugung von der ungebrochenen Wirksamkeit öffentli-
re», das er seinem Traktat <Architecture. Essai sur l'art> cher Kunst, ihre sinnvolle Funktion als Deutungsmuster,
(um 1790) voranstellte. Sinnstiftungen und Identifikationsangebote, als wir-
Landschaftsgarten. Auf «Voraussetzungen der Revo- kungsmächtige Appelle und Stimuli. Die antithetische
lutionsarchitektur im Landschaftsgarten» [12] ist wieder- Konstellation aus Denkmal und Gegendenkmal lebt von
holt hingewiesen worden. In der Tat besteht ein direkter ihrem Dialogcharakter. Erst durch ihren Diskurs werden
Zusammenhang zwischen der visionären Monu- nämlich Satz und Gegensatz, These und Antithese, Be-
mentalarchitektur der Architecture parlante und dem hauptung und Widerspruch in gegenseitiger Erhellung
mit «redenden» Inschriften, «sprechender» Kleinarchi- optimiert; erst durch sie scheint der Schritt von der Ver-
tektur und Einzelmonumenten durchsetzten Land- herrlichung zur Entlarvung, von der Verklärung zur
schaftsgarten des 18. Jh. Als bildhaft arrangierte Natur Aufklärung möglich. - Wenn aber die eine Hälfte sicht-
ist er begehbare Landschaftsmalerei. Die in Dichtung, bar machen will, was die andere unterschlägt, verfälscht
Malerei und Geschichte gespiegelte Natur des Land- oder verschweigt, so ist damit zugleich eine didaktische
schaftsgartens zwischen Arkadien und Utopie war als Konstellation umschrieben, die den Appell, beide doch
Ganzes wie auch in ihren Staffage-Komponenten Stim- miteinander zu vergleichen, stets miteinschließt. Dabei
mungs- und Bedeutungsträger, der auf den Betrachter werden die formalen Gegensätze solch dialogischer Kon-
belehrend und <erhebend> wirken wollte. Dabei erlangt frontationen als künstlerische Argumentationshilfen er-
die Kategorie des Erhabenen (The Sublime) in der durch kennbar und zugleich als Appelle, die formalen Unter-
E. BURKE (1729-97) begründeten Gefühlsästhetik eine schiede inhaltlich zu hinterfragen, zu bewerten und letzt-
zentrale Bedeutung. Als Modus assoziativer Erfahrung lich in Handlung umzusetzen.
hat es Teil an der moralisierenden Inszenierung sowohl Gegenwart. Vielfältig greift das Monument der Ge-
der Natur als auch des bürgerlichen Helden: «Der Bür- genwart auf historische Formen einer Denkmalsrhetorik
ger reklamiert das Erhabene als den ihm und seinem zurück. 1983 schuf H . J A N S S E N eine Radierung seiner
Wollen angemessenen Ausdruck, als Ausdruck seiner eigenen zum steinernen Monument stilisierten Signatur.
gesellschaftlichen Bedeutung [...]». [13] Riesengroß und umgeben von den Attributen der Ver-
Bürgerliche Denkmäler. Büsten und Denkmäler er- gänglichkeit verbinden sich in ihr Natur und Kunst.
gänzen Inschriften und Motti als «Empfindungsanwei- Wohl in Anlehnung an Vorbilder von G . B . P I R A N E S I
sungen»·. W . K E N T S Garten von Stowe z . B . birgt als (1720-78) wird sie als pars pro toto und indirektes
Tempel der <British Worthies> nicht nur die bis in die Selbstbildnis zum Monument und Epitaph des Künst-
Gegenwart verlängerte Reihe vorbildhafter Helden; sie lers, der nur in seinem Werk überlebt. - Ein verwandtes
setzt sich - auf die Zukunft bezogen - in einem Tempel <archäologisch> akzentuiertes Bild schwebte offensicht-
der Freundschaft fort. Ganz entsprechend wurden im lich auch S. FREUD vor, der in seiner Studie <Zur Ätiolo-
Park von Ermenonville Säulenmonumente, die durch gie der Hysterie» (1896) die verwischten und in ihrer
Inschriften berühmten Männern der Vergangenheit und Bedeutung erst wieder freizulegenden Spuren der Ana-
Gegenwart gewidmet sind, ergänzt durch roh belassene mnese mit «saxa loquuntur», trümmerhaften Bruchstük-
Säulentrommeln, von denen eine die Inschrift trägt ken von Tafeln mit Inschriften vergleicht. - In ganz
«Quis hoc perficiet?» Sie verweisen auf die für den frü- ähnlicher Weise knüpft der schottische Künstler I . H .
hen Landschaftsgarten charakteristische Spannung zwi- FINLAY in der Ausstattung seines Gartens <Little Sparta>
schen historischem Rückgriff (Stilzitat) und den auf die an klassizistisches Gedankengut und an die Tradition des
Zukunft gerichteten Wirkungsintentionen. Landschaftsgartens bzw. der Dichtergärten (A. Pope)
an. Sein Denken kreist um Klassizismus, Französische
Darin, im Bildungsbezug und in der Kommentarbe-
Revolution und die Ästhetik des Erhabenen. Die von
dürftigkeit berühren sich die an den Landschaftsgarten
ihm bevorzugten Formen haben häufig Denkmalcharak-
geknüpften Intentionen mit denen des bürgerlichen Ver-
ter. So hat er z. B. 1983 Steinfragmente wie Bruchstücke
dienst-Denkmals, das etwa um die gleiche Zeit entsteht.
einer zyklopischen Inschriftentafel mit dem Zitat des
Bereits die Erlangung der passiven Denkmalsfähigkeit
Jakobiners Saint-Just ausgelegt: «Die Ordnung der Ge-
besaß eine eminent politische Aussagefähigkeit: «Unab-
genwart ist die Unordnung der Zukunft.» [15] Hier ver-
hängig von verdeutlichenden Worten oder Allegorien
weisen die Fragmente auf das Verhältnis von Natur und
sprachen die bürgerlichen Denkmäler des 19. Jahrhun-
Kunst, Gestaltung und Zerstörung, Dauer und Vergäng-
derts, indem sie Leistungen statt durch Geburt erworbe-
lichkeit. - Die abstrahierende <Modernisierung> traditio-
ne Würden hervorhoben.» [14] Mit der rapide wachsen-
neller Denkmalstypen im 20. Jh. analog zu den Formfin-
den Denkmälerzahl wuchs auch die Bedeutung der diffe-
dungen der Avantgarde geht parallel mit einer allgemei-
renzierenden und vermittelnden, Verständnis erleich-
nen Reduktion des formalen Äufwandes und der r e d e n -
ternden und lenkenden Komponenten. Dazu gehören
den* Komponenten zum symbolischen Zeichen und ab-
u . a . Form und Höhe der Sockel - wie schließlich auch
strakten Denkmal (z. B. E. LUDWIG: Luftbrücken-Denk-
der Verzicht auf einen Sockel: Ausgesprochen deklama-
mal, Berlin, 1951). Dieser Prozeß ist generell mit einem
torisch ist teilweise die Gestik der <Bürger von Calais>
Verlust inhaltlicher Eindeutigkeit verbunden und zeitigt
( 1 8 8 4 — 8 6 ) im berühmten Denkmal A. R O D I N S , das Hö-
allgemein eine unspezifische <semantische Offenheit). In
hepunkt und Überwindung des bürgerlichen Denkmals
dem Maße wie die Gefahr interpretierender Beliebigkeit
im 19. Jh. markiert.
und Fehldeutungen oder die Möglichkeit willkürlicher
Denkmal und Gegendenkmal. Nach Vorformen auf- Zuweisungen unterschiedlicher Inhalte wächst, wächst
klärerischer «Gegendidaktik» in der russischen Okto- auch die Kommentarbedürftigkeit. Sie begründen teil-
berrevolution hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine

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Denkmalsrhetorik Denkschrift

weise den Funktionsverlust des traditionellen Denkmals (1990) 24. - 9R.Zeitler: Die Kunst des 19. Jh., Propyläen
wie auch seine Angleichung an F o r m e n autonomer Kunstgesch. XI (1966) Abb. 326. - 10H.-W. Kruft: Gesch. des
Kunst bzw. deren Nutzung als M o n u m e n t e , z . B . Plasti- Architekturtheorie (21986) 183. - 11D. Lehner: Architektur u.
ken H. MOORES. - Die Obsoletheit des traditionellen Natur. Zur Problematik des «Imitatio-Naturae-Ideals» in der
frz. Architekturtheorie des 18. Jh. (1987) 105. - 12J. Langer:
Denkmals in der Gegenwart zeitigt unterschiedliche Re- Ledoux und die <fabriques>. Voraussetzungen der Revolutions-
aktionen, die bis zur formalen U m k e h r und bis zu Ex- architektur im Landschaftsgarten, in: Zs. für Kunstgesch. 26
tremformen eines nur noch imaginierten Monuments <im (1963) 1-36. - 13G. Ueding: Einf. in die Rhet. (1976) 144. -
Kopf> reichen. Neben der sich vor allem in der Tatsache 14 Mittig [1] 461. - 1 5 Y. Abrioux, S. Bann : Jan Hamilton Finlay
und Art ihrer Errichtung artikulierenden <Rhetorik der (Edinburgh 1985) 46.
Standhaftigkeit> ist eine gewandelte, häufig ironisch ge-
brochene H a n d h a b u n g traditioneller Gestaltungsmuster Literaturhinweise :
zwischen ästhetischer A u t o n o m i e und inhaltlicher Funk- H.C.Buch: Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungslit. und ihre
tionalität zu konstatieren; dabei kann auch die Kategorie Kritiker von Lessing bis Lukács (1972). - H.-E. Mittig, V. Pla-
des <Erhabenen> reaktiviert werden. - Als Beispiel der gemann: Denkmäler im 19. Jh., in: Stud, zur Kunst des 19. Jh.
gebrochenen postmodernen Aktualisierung der Denk- 20 (1972). - R. R. Taylor: The Word in Stone. The role of the
malsrhetorik mag die <Denk-Säule> von Α . P. POIRER vor architecture in the nationalsocialist ideology (1974). - A. Hau-
dem 1988 eröffneten <Museo d ' A r t e Contemporanea> zu ser: Architecture parlante - stumme Baukunst. Über das Erklä-
Prato dienen, die die Ambivalenz von D a u e r und Ver- ren von Bauwerken, in: C. Braegger (Hg.): Architektur und
Sprache (1982) 127-161. - A.Reinle: Das stellvertretende
gänglichkeit im Gegensatz von materiellem Monument Bildnis (1984). - W. Lipp: Natur - Geschichte - Denkmal. Zur
und immateriellem dichterischen R u h m thematisiert: ei- Entstehung des Denkmalbewußtseins der bürgert. Gesellschaft
ne umgestürzte, in ihre Trommeln zerbrochene Säule (1987). - G. Germann: Einf. in die Gesch. der Architekturtheo-
aus poliertem Stahl. Auf ihrer Basis die Horaz-Worte rie (21987). - P . Springer: Rhet. derStandhaftigkeit. Monument
«Monumentum aere perennius». und Sockel nach dem Ende des traditionellen Denkmals, in:
Wallraf-Richartz-Jb. XLVIII/XLIX (1988) 365-408. - ders.:
Musealisierung. Die Lokalisierung eines solchen Denkmal und Gegendenkmal, in: E. Mai, G. Schmirber (Hg.):
denkmalartigen Werkes im musealen Kontext berührt Denkmal - Zeichen - Monument. Skulptur und öffentl. Raum
sich mit zwei Tendenzen: l ) d e r mit dem Verlust an heute (1989) 92-102.
Konsensfähigkeit als identitätsstiftende Instanz wach- P. Springer
senden künstlerischen Verfügbarkeit des Mediums
<Denkmal> und seiner formalen K o m p o n e n t e n , 2) mit Actio —» Architektur —» Erhabene, das —> Ikonologie/Ikono-
dem wachsenden Ungenügen des statischen Mediums graphie —> Malerei, Graphik —* Mimesis —> Plastik —> Symbol,
Denkmal in einer Zeit progressiven Wandels, das sich Symbolismus —* Ut - pictura - poesis - Doktrin
auch in den Plänen zur Ergänzung oder Vorschlägen zur
Ersetzung eines Denkmals um/durch ein <Denk-Haus>
oder ein Museum, Dokumentationszentrum, <Aktives Denkschrift (lat. m e m o r a n d u m ; engl, m e m o r a n d u m ;
Museum* etc. niederschlägt. (Vgl. auch die denkmalhaf- frz. mémoire; ital. promemoria, memoria)
ten Memorialbauten amerikanischer Präsidenten und A . Als D . können erinnernde, mahnend-appellierende
die denkmalhaften Kulturbauten europäischer Regie- oder bittende Texte verschiedener «Schriftengattun-
rungschefs.) Damit scheint sich eine Perspektive anzu- gen» [1] angesehen werden, die in folgenden drei For-
deuten, bei der die Idee des Denkmals in der des Mu- men auftreten: 1) als Schrift zum A n d e n k e n an eine
seums bzw. in der progressiven Musealisierung unserer Person oder ein Ereignis (memoria), 2) als Eingabe an
Lebenswelt aufgeht. (In diesem Kontext muß man auch eine Behörde oder Institution (promemoria) und 3) als
das Verhältnis von Denkmal und Gegendenkmal sehen.) Abhandlung einer gelehrten Körperschaft. [2] Ihr Ge-
Flexibler und umfassender können seine Bestände Ver- genstand ist daher eine bedeutende Person, ein wichtiges
lust und Vergänglichkeit, Zerstörung und Wandlungsbe- Ereignis, eine öffentliche Angelegenheit oder eine Peti-
schleunigung kompensieren und dabei alle didaktischen, tion. Ziel der D . ist es, etwas «in Erinnerung zu bringen,
technischen, medialen Möglichkeiten der Gegenwart was erinnernswert ist». [3]
nutzen. Die rhetorischen K o m p o n e n t e n , die Lehrhaftig-
keit wie auch die identitätsstiftenden Fähigkeiten besitzt D e r deutsche Begriff <D.> bildet sich erst im 17. Jh. [4].
es schon seit je. Entlehnt ist dieser Begriff d e m frz. mémoire, das auf lat.
memoria (Gedächtnis, Erinnerung) und lat. memor (sich
erinnernd, eingedenk) zurückgeht. [5] Bezeichnungsmo-
Anmerkungen: tivisch ist das Memorandum, die D . , «etwas, womit be-
l Z u m Denkmalbegr. vgl. H.-E. Mittig: Das D., in: W. Busch, stimmte Dinge in Erinnerung gebracht werden sol-
P. Schmoock (Hg.): Kunst. Die Gesch. ihrer Funktionen (1987) len». [6] Begriffsgeschichtlich verwandt ist der Ausdruck
457 -459. - H. Scharf: Kleine Kunstgesch. des dt. D. (1984) Memoiren, der «als Titel dienen [kann] für Aufzeichnun-
5-20. - 2Lucanus: De bello civile, hg. von W. Ehlers (1973) 6, gen rein sachlichen Inhalts, für offizielle Berichte z . B .
618. - 31. Scheibler: Ausstellungskatalog - Sokrates, Glypto-
thek München (1989) 13. - 4vgl. P. Zanker: Augustus und die von Gelehrten, Gesellschaften, ebenso wie f ü r eine auto-
Macht der Bilder (1987) 15-18, 38 - 4 1 , 167-170. - 5K. Vier- biographische Schrift» [7], und der somit auch auf den
neisel und P. Zanker (Hg.): Ausstellungskatalog - Die Bildnis- Begriff der D. verweist.
se des Augustus, Glyptothek München (1979) 45f. - Entwickelt hat sich die D . aus den F o r m e n röm. libel-
6P.C.Claussen: Die Statue FriedrichsII. vom Brückentor in lus, griech. υπόδημα (hypômnëma) und mit Einschrän-
Capua [...], in: FS Biermann, hg. von C.Andreas u.a. (1990) kungen dem lat. commentarius, der wiederum der Form
20; vgl. auch J. Meredith: The Revival of the Augustan Age in
the Court Art of Emperor Frederick II, in : Artistic Strategy and nach vom hellenistischen H y p o m n e m a beeinflußt wur-
the Rhet. of Power. Political Uses of Art from Antiquity to the de. [8] Aus diesen F o r m e n und ihrer Entwicklungsge-
Present, ed. by D. Castriota, Southern Illinois University (1989) schichte lassen sich auch die unterschiedlichen Anwen-
39-56 190-192. - 7E. Schubert: Stätten sächsischer Kaiser dungsbereiche und Strukturen der D . erklären. Als D .
(1990) 127-132. - 8P. Bloch: Bildwerke 1780-1910 aus den gelten also zunächst «Aufzeichnungen nur des Merkens
Beständen der Skulpturengalerie und der Nationalgalerie wegen, dann mahnende, dazu Gesuche.» [9] Libellus

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Denkschrift Denkschrift

und hypómnSma weisen auch schon auf den Bereich der <Memoire> oder des <Memorandum>. Hierzu konstatiert
politischen Beredsamkeit: Das hypómnema hat sich aus ADELUNG später (1808) in dem Artikel <D.>: «Bei eini-
einer mnemotechnischen Notiz in politischen Verhand- gen, eine ungeschickte Übersetzung des Franz. Memoi-
lungen und Audienzen entwickelt, vom 2. Jh. vor Chr. re, welches sich besser durch Nachricht geben läßt.» [23]
an gilt es als «Eingabe an eine Behörde». [10] Dadurch Eine Nachricht oder Information wird jeweils durch die
gewinnt das hypómnema auch Nähe zum späteren aide- D. vermittelt, die in allen auftretenden Formen adressa-
mémoire, das seine Wichtigkeit als Merk- und Erklä- tengerichtet und intentionsgebunden ist. R . J . B R U N T ,
rungsschrift im diplomatischen Verkehr beweist. [11] der den Einfluß der französischen Sprache auf den deut-
Gemeinsam ist diesen Ausdrücken der nicht-literari- schen Wortschatz für das 17. und 18. Jh. untersucht,
sche Anspruch, der nur von den commentariis durchbro- nennt ebenfalls adressatengebundene D.: «1636, Fried-
chen wird, sowie der klare Adressatenbezug. rich Wilhelm [...]: ein an den Grafen von S. Albans, den
B. Ausgehend von PLATONS <Phaidros>, in dem das Favoriten der Königin Mutter gerichtetes Memoire»;
Vergessen und die Vernachlässigung des Gedächtnisses «1697, Elisabeth Charlotte [...]: schickt mir ein frant-
durch das geschriebene Wort thematisiert wird, [12] zösch memoire mitt größerm detail». [24] Belege für die
stellt das hypómnema, von dem im <Theaitetos> die Rede Intentionsgebundenheit der D. bietet auch L E I B N I Z , des-
ist, eine Gedächtnisstütze, [13] «ein Mittel zur Fixierung sen Bemühungen um die Gründung der Berliner Sozie-
der sonst vergehenden Taten und Worte» [14] dar. Der tät, der späteren Akademie, begleitet werden von zahl-
Begriff commentarius schließlich ist seit CICEROS <De reichen D. [25] Er adressiert mehrere D. (promemoria)
oratore> ebenfalls als «Gedächtnisstütze» und «öffentli- mit detaillierten Überlegungen und Vorschlägen zur Fi-
ches Protokoll» [15] belegt. In der Antike überwiegen nanzierung der Sozietät der Wissenschaften an den Kai-
somit auch die Darstellungen (commentarius, hypómne- ser «A l'empereur d'Autriche» [26]: «Nachdem S. kay-
ma), die vor allem an ein Ereignis, eine Person bzw. serliche und catholische Majt. Sich bereits vor einer ge-
deren Leben und Taten erinnern (memoria) und damit raumen zeit zu stifftung einer Societät der wissenschaff-
auch politisches Zeugnis ablegen. ten und nüzlicher künste allergdst. resolviret und mir
daran zu arbeiten aufgegeben [...]; so gereichet an E.
Das berühmteste Beispiel liefert CAESAR mit seinen kayserl. Mt. mein allerunterthänigstes suchen hiermit
Schriften über die von ihm geführten Kriege <Commen- [...]». [27]
tarii de bello Gallico) (Aufzeichnungen über den Galli-
schen Krieg) und <Commentarii de bello civili> (Auf- 18. und 19. Jh. verfügen gleichermaßen über alle For-
zeichnungen über den Bürgerkrieg), die seine Taten in men der D. ; als besonders wichtig gilt jedoch die «Schrift
schlichtem, auf rhetorischen ornatus verzichtendem Stil zur Erhaltung des Andenkens an eine Person oder Bege-
schildern. Ciceros Urteil, sie seien «nüchtern, zutreffend benheit» [28]. Z E D L E R bezeichnet die <Memoria> wie
und anmutig» (nudi enim sunt, recti et venusti) [16], folgt: «dieses Wort ward auch ehemals von den schriftli-
weist schon auf das perspicuitas-ldea\ der meisten D. chen Verzeichnissen gebraucht, worein dasjenige ge-
Parallel dazu findet sich in der D. des röm. Kaisers bracht wurde, was [...] zu immerwährenden Andencken
A U G U S T U S (Gaius Iulius Imperator Caesar Augustus, 63 einer Sache zu wissen nöthig war». [29] C A M P E differen-
v.Chr. —14. n.Chr.), im <Monumentum Ancyranum> ziert dann die verschiedenen Formen, er benennt auch
(ca. 14 n. Chr.), eine ebenso schlichte Berichterstattung. die <Promemoria>: «Eine Schrift, welche jemand an et-
Die Sprache ist in Anlehnung an Caesars <Commentarii> was erinnert, welche einen Andern veranlassen soll, das
knapp und sachlich gehalten, [17] die geschilderten Ta- man wünscht oder bittet, thätlich zu denken, eine Einga-
ten sollen für sich selbst sprechen. Das von Kaiser Augu- be (ein Promemoria, Memoire)». [30] Diese Eingaben
stus selbst angefertigte Verzeichnis <Index rerum gesta- variieren von der Bezeichnung juristischer Stellungnah-
rum> - auch hier ist die Verwandtschaft zur Memoirenli- men in Prozessen bis zu amtlichen Feststellungen, so
teratur sichtbar [18] - berichtet von seinen Leistungen, z.B. <Comte de Varennes: D. für den Grafen Cagliostro.
Ämtern und Ehrungen, den Aufwendungen für den Straßburg 1786>, sowie die D. gegen den Büchernach-
Staat und den Ereignissen während seiner Regierungs- druck, die eine Deputation Leipziger Buchhändler dem
zeit. [19] Der Lebensbericht, der nach dem Vorbild der Wiener Kongreß 1814 überreicht. [31] GRIMM gibt für das
Grabschriften orientalischer oder hellenistischer Herr- 19. Jh. die ausführlichste und differenzierteste Darstel-
scher auf Pfeilern vor dem Mausoleum des Kaisers in lung: neben <memoria> und <promemoria> existieren die
Rom eingraviert und in Abschriften in anderen Teilen «abhandlungen einer gelehrten gesellschaft, nach dem
seines Reichs aufgestellt wurde, wird somit zum «Testa- franz. mémoire». Als Beispiele werden die «denkschrif-
ment», das «Rechenschaft und Apologie, Bekenntnis ten der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu
und Vermächtnis zugleich sein sollte.» [20] Der große wien» genannt. [32] Im 19. Jh. setzt sich auch bei der
«Rechenschaftsbericht» [21] des Augustus läßt vor allem Titelgestaltung der periodischen Veröffentlichungen
die Herrschertugenden virtus, iustitia, dementia und pie- von gelehrten Gesellschaften und Akademien die Ten-
tas hervortreten, die alles bisher Dagewesene überbieten denz fort, das französische Wort mémoire durch <D.>
(aemulatio) und das <Monumentum Ancyranum> zur einzudeutschen, so auch bei der Königlichen Akademie
Lobrede werden lassen. der Wissenschaften in München 1808. [33]
Für das Mittelalter lassen sich vermutlich die Aneinan- Der Aufbau der D. ist an keine festen Regeln gebun-
derreihungen von «Tatenberichten» der Äbte und Bi- den, die Gliederung nach Anrede, Schilderung der Sach-
schöfe, nämlich die spezifisch mittelalterliche Form der lage und dem ausformulierten Ziel läßt sich jedoch an-
Geschichtsschreibung (gesta), an die Tradition der me- satzweise in allen Formen der D., besonders aber der
moria anknüpfen, gesichert erscheint dies jedoch nicht. Promemoria, finden. Die D. fungiert als informierender
Z E D L E R gibt für das im Spätmittelalter belegte Memorial Sachtext, ausgehend von der früheren Form des Ge-
der Kanzleisprache die Definition: «ein Denckzettel und dächtniszettels und der schriftlichen Erinnerung. [34]
schriftliche Erinnerung, lat. Libellus supplex.» [22] Die Promemoria stellt hier eine Weiterentwicklung dar,
Erst im 17. Jh. wird der Begriff der <D.> gebräuchlich, da sie nicht mehr allgemein formuliert, sondern an einen
häufig jedoch noch in der französischen Fassung des bestimmten Adressaten gerichtet ist. P. L A R O U S S E be-

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Denkschrift Denkspruch

tont 1864 ebenfalls den argumentativen Aufbau und um>, in: Kindlers Lit. Lex., B d . 8 (1966, N D 1986) 6429. -
Charakter der D., Einfachheit der Form und äußerste 19vgl. LAW, Sp. 1989. - 20Kindler[18] 6429. - 21 vgl. Sueton:
Klarheit sind zu beachten («Un memorandum doit être Cäsarenleben (^1986) 141. - 2 2 A r t . «Memorial», in: J . H . Zed-
ier: G r . vollst. Universal-Lex., Bd. 20 (1739; N D G r a z 1961)
écrit avec le plus de simplicité et le plus de clarté possible
Sp.593. - 2 3 J . C . A d e l u n g : Gramm.-krit. Wtb. der hochdt.
[...]»). [35] Das perspicuitas-Ideal steht neben dem ap- Mundart, Bd. 2 (1808) Sp. 1449. - 2 4 R . J. Brunt: T h e influence
tum/decorum (der Angemessenheit) an erster Stelle. of the French language on the G e r m a n vocabulary. 1649-1735
In die Literatur eingegangen ist das Memorandum, das (1983) 372. - 2 5 vgl. G . W . Leibniz: D . über die Errichtung einer
vor allem eine Rolle in politischen Umbruch- und Kri- Churfürstlichen Societät der Wissenschaften (1700). -
senzeiten spielt. Häufig als aide-mémoire im diplomati- 26 A. Foucher de Careil (Hg.): Oeuvres de Leibniz, Bd. 7
schen Umfeld sind diese D. Petitionen, Mahnungen oder (1875, N D 1969) 337ff., 367ff. - 2 7 e b d . 337; vgl. auch E . J .
Appelle an Regierungen. TOLSTOIS <Krieg und Frieden> Aiton: G o t t f r i e d Wilhelm Leibniz. Eine Biogr. (1991) 459. -
2 8 J . C . A . H e y s e : H a n d w t b . der D t . Sprache, Bd. 1 (1833; N D
nennt sowohl die informierende und erinnernde D., «ein 1968) Sp. 254; Bspe. vgl. L G B 2 [ 1 ] Bd. 2, 249: J. M. v. Birken-
recht sauberes französisches Memorandum [...], ein Ex- stock: D . auf den König Friedrich II v . P r e u ß e n (Wien 1788);
posé, das übersichtlich alle die Nachrichten ent- E . Klette zu Klettendorf: D. zur Feyer des Jubels der Gnaden-
hält», [36] als auch die D., die neue Militärreglements kirche von Teschen (1809). - 29 A r t . <Memoria>, in: Zedler[22]
etc. vorschlägt. [37] Die D. kann daher sowohl als Be- Sp.592. - 3 0 J . H . C a m p e : W t b . der D t . Sprache, Bd. 1 (1807;
weismittel als auch als Perfektionsmittel dienen. Der N D 1969) 703. - 3 1 vgl. L G B 2 [ 1 ] Bd. 2,249; ebenso D . über das
Begriff <D.> bezeichnet heute zum einen den «an Behör- geistige Eigenthum. Nach Beschluss des dt. Schriftstellertags
den gerichtetefn], klare[n] und objektivefn] Bericht über vom 20. August 1865 veröffentlicht (1866). - 3 2 G r i m m , Bd. 2,
Sp. 942f. - 3 3 vgl. L G B 2 [ 1 ] Bd. 2,249. - 3 4 vgl. Bickermann [10]
e. wichtige öffentliche Angelegenheit» oder aber die
167. - 35 P. Larousse : G r a n d Dictionnaire Universel du XIX.
«Abhandlung e. gelehrten Körperschaft». [38] Die <D.> Siècle, Bd. XI/1 (Paris 1874; N D 1982) 6. - 3 6 L . Ν. Tolstoi:
kann jedoch auch den Abschlußbericht eines For- Krieg und Frieden, Bd. 1, in: ders.: Die R o m a n e , übers, v.
schungsprojektes darstellen. [39] D. werden zur Haus- H . Röhl, B d . 4 (1984) 209. - 37Tolstoi [36] Krieg und Frieden,
halts- und Wirtschaftsführung verfaßt, als Jubiläums- Bd. 3, in: ders.: Die R o m a n e , Bd. 6 (1984) 19f. - 3 8 G . v o n
schriften für eine Institution oder zur Lage der Deut- Wilpert: Sachwtb. der Lit. ( 6 1979) 161. - 39vgl. W. Frühwald
schen Wirtschaft. [40] «Zur Beratung der Öffentlichkeit u . a . (Hg.): Geisteswiss. heute. Eine D. (1991). - 4 0 v g l . z . B . :
gehören auch die von der Deutschen Forschungsgemein- H . H . Voigt u. a.: D. zur Lage der Astronomie. Im A u f t r a g e der
schaft herausgegebenen D. zur Lage der Grundlagenfor- D F G (1962); Überregionale Lit.Versorgung von Wissenschaft
und Forschung in der B R D : D . (1975); D. zur Lage des D t .
schung auf verschiedenen Wissensgebieten in der Bun-
Literaturarchivs und des Schiller-Nationalmuseums Marbach
desrepublik Deutschland.» [41] In erster Linie geht es am Neckar. Vorgel. v. der D t . Schillerges. (1985). - 4 1 D i e
dabei um die Darstellung eines Wissensgebietes, einer D F G : A u f b a u und Aufgaben (1986) 21. - 4 2 H . A u e r u. a.: D .
Institution oder eines Forschungsprojektes, um ein be- Museen: Z u r Lage der Museen in der B R D und Berlin (West)
stimmtes Anliegen - d.i. häufig die (Weiter-)Förderung (1974) 70. - 43 A u e r [42] 9. - 44 Wilpert [38] 161.
eines Projektes - zu erreichen. Ein sachlich-rationaler U. Rather
Duktus herrscht vor, um «Sinn, Aufgabe und Ziele» [42]
der Institution darzustellen, Verständnis für die «beson- —» Adressant/Adressat - » Appell, rhet. —» Intention —• Inter-
deren Aufgaben und Möglichkeiten» sowie die «beson- esse —> L o b r e d e —» Memoria —> Parteilichkeit —» Wirkung —»
deren Nöte und Bedürfnisse» [43] des Wissensgebietes Zweck
zu wecken.
D. und Memorandum werden in allen genannten Bei- Denkspruch (griech. ά-όφ&εγαα, apóphthegma; lat. me-
spielen synonym verwendet, die Trennung «Memoran- morabilis sententia; engl, sentence; frz. devise, senten-
dum (lat. = zu Erinnerndes), Pro Memoria (lat. zur ce; ital. sentenza, massima)
Erinnerung)» [44] findet heute keine weitere Anwen- A. Mit Α . JoLLES läßt sich d e r D . der einfachen literari-
dung. schen Form <Spruch> zuordnen. [1] Jolies begreift ihn als
intellektuellere Variante des Sprichwortes [2], als eine
Anmerkungen: «literarische Form, die eine Erfahrung abschließt, ohne
I G . Pflug: A r t . <D.>, in: Lex. des gesamten Buchwesens,
daß diese damit aufhört, Einzelheit in der Welt des Ge-
( L G B 2 ) , hg. v. S . C o r s t e n s u . a . , unter Mitw. v. B . B i s c h o f f ,
Bd. 2 ( 1989) 249. - 2vgl. G r i m m , B d . 2, 942f. - 3 E t y m . Wtb.
sonderten zu sein. Sie bindet diese Welt in sich, ohne sie
des D t . , hg. v. der A k a d . der Wiss. der D D R (1989) 1089. - durch ihre Bündigkeit der Empirie zu entheben.» [3]
4C.Ludwig: Teutsch-Engl. Lex. (1716 u.ö.); vgl. Diese Definition formuliert wesentliche Merkmale des
Fr. L. K. Weigand: D t . W t b . , Bd. 1 ( s 1909) Sp.343. - 5 F . Klu- D. : Er bildet individuelle, soziale oder psychische Erfah-
22
ge: Etym. W t b . der dt. Sprache ( 1989) 473; vgl. Weigand [4] rungen und Wahrnehmungen ab und bringt sie in sprach-
Bd. 2( 5 1910) Sp. 167. - 6 K l u g e [5] 473. - 7 G . Misch: Gesch. der licher Verallgemeinerung kondensiert zum Ausdruck.
Autobiographie, Bd. 1/1 ( 3 1949) 9. - 8vgl. W . S c h u b a r t : A r t . Einprägsamkeit und Knappheit (brevitas) der Formulie-
<Commentarii>, in: Lex. des gesamten Buchwesens, hg. v. rung steigern die Merkbarkeit (memoria, Mnemotech-
K . L ö f f l e r u. J . K i r c h n e r , unter Mitw. v. W . O l b r i c h , Bd. 1
nik) des D., spezifische sprachlich-rhetorische Techni-
(1935) 364. - 9 E . Ziebarth: Art. <ΥΠΌΜΝΗΜΑ>, in: R E , Suppl.
Bd. VII (1940) Sp. 282. - 1 0 E . Bickermann: Beitr. zur antiken
ken fördern seinen ästhetischen Reiz: Periodisch-rhyth-
U r k u n d e n g e s c h . III, in: Archiv für Papyrusforschung, B d . 9 mische Bauform; parataktische, elliptische, parallele
(1930) 168; vgl. W . S c h u b a r t : A r t . <Hypomnema>, in: Lex. des oder asyndetische syntaktische Konstruktion; imperati-
gesamten Buchwesens [8] Bd. 2 (1936) 130f. - 11 Bicker- vischer oder deklarativer Aktcharakter; metaphorische
m a n n [10] 172, 180,182; vgl. K. Strupp: W t b . des Völkerrechtes oder antithetische Sinngebung (ars longa vita brevis est;
I (1924) 244. - 12Plat. Phaidr. 275 A. - 13Platon, Theaitetos die Kunst ist lang, kurz ist das Leben); anaphorische,
143 A ; vgl. auch M . F u h r m a n n : A r t . <Hypomnema>, in: D e r alliterative oder reimende Bindung (per aspera ad astra;
kleine Pauly, Bd. 2 (1967) Sp. 1282. - 14vgl. Bickermann [10] auf rauhen Wegen zu den Sternen). Der Sprachgestus
168. - 15Cic. D e or. 2, 224; vgl. auch A . Lippold: Art. <com-
mentarii>, in: D e r kleine Pauly [13] Bd. 1 (1964) Sp. 1257. -
des Kurz-und-Bündigen, die Konzentration (ein Gedan-
16Cie. Brut. 262. - 1 7 P . K r o h : Lex. der antiken A u t o r e n (1972) ke - ein Satz - eine Strophe) sowie die Zuspitzung (Prä-
100. - 18vgl. E . Schmalzriedt: Art. <Monumentum Ancyran- gnanz, Pointe) verleihen dem D. oft die Tendenz zum

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Denkspruch Denkspruch

Formelhaften. [4] D e n Formenbereich <Spruch> konsti- bis zu den Texten der altorientalischen Weisheitsdich-
tuieren neben d e m D . auch der Sinn-, Sitten-, Mahn-, tung zurückverfolgt werden, wie sie uns in den sumeri-
Lehr-, Wahl-, Grab-, Z a u b e r - oder Kalenderspruch. In schen Spruchsammlungen, in den aramäisch, assyrisch,
solchen Texten kommt die Situationsfunktion der Rede arabisch und armenisch überlieferten Achikarsprüchen
zum Ausdruck. [5] Diese Ausformungen spruchhafter und in ägyptischen Texten entgegentritt. Schon hier be-
Rede sind Oberflächenphänomene, deren gemeinsame gegnet man unterschiedlichen Aussageweisen: der Maxi-
Tiefenstruktur das Form-/Bedeutungspotential <Spruch> me, Mahn- und D e n k s p r ü c h e n , Sprich Worten [ . . . ] . » [13]
bildet. [6] W. P R E I S E N D A N Z führt die Genese von Sprü- Mit diesen Texten ist auch das Spruchprinzip gegeben,
chen auf eine spezifische F o r m der ästhetischen Apper- Lehre und R a t auf die O r d n u n g der Welt und die G r u n d -
zeption der Außenwelt zurück : die «gnomische Apper- lagen des menschlichen Handelns zu beziehen: D e r
zeption». [7] D e r D . formuliert dabei eine Regel, eine Spruch Weisheit kommt im Diskurs Autorität zu (auctori-
allgemeine Wahrheit, eine bedenkenswerte Lebensweis- tas).
heit, die als Wahlspruch einer G r u p p e , als Devise ei- Als gnòme oder apophthégma bzw. als sententia the-
nes Standes (Wappenspruch), als persönliche Maxime matisiert die griechische und römische Antike spruchför-
«Richtschnur des Handelns sein soll, z . B . vivitur inge- mige Redeweisen. Auf kurze Weise sind in ihnen wichti-
nio, caetera mortis erunt (Man lebt durch den Geist, das ge allgemeine Wahrheiten und Lebensregeln gefaßt [14],
andere fällt dem Tode anheim)». [8] Indem der D . vor- denen nicht nur eine docere-Funktion eignet, sondern
gängige Erfahrungen bündelt, ist er in der Tendenz rück- die - aufgrund ihrer rhetorisch-stilistischen Eigenschaf-
schauend. Als <Spruch> fällt er jedoch auch ein Urteil ten - auch eine delectare-Wirkung erzielen. Schon in der
über Verhaltensweisen und Lebensbedingungen, womit Antike orientieren sich Spruchsammlungen an rede- und
eine vorausweisende Handlungsanleitung gegeben ist: erziehungspraktischen Bedürfnissen: Sie sind Teil der
Insofern kann er als ein Gebot oder eine Verhaltensregel rhetorischen Erziehung im Unterricht, sie dienen der
angesehen werden, die ihn mit einem religiösen oder E r b a u u n g und sind nützlich f ü r die Legitimation von
sittlichen Denksystem (ethos, vir-bonus-Ideal) in Bezie- philosophischen, theologischen und politischen Argu-
hung setzt. Zugleich dienen D . als Legitimationsbasis für mentationssystemen. [15] Im Vordergrund steht dabei
den eigenen Standpunkt oder sind gruppenspezifische die ethische Kraft der Spruchweisheiten, sittlich-morali-
Signale innerhalb eines bestimmten Bildungskanons. [9] sche Verhaltensanweisung, persönliche Handlungsmaxi-
Obwohl A . Jolies den lehrhaften Charakter des Spruches me oder gruppenspezifische Lebensnorm sein zu kön-
überhaupt bestreitet und nur seinen empirisch fundier- nen. Beides, die ethische Dimension und argumentative
ten retrospektiven Folgerungscharakter sieht, erfüllt der Operationalisierbarkeit, wird bei ARISTOTELES f ü r die
D . auch eine pädagogische Funktion. Sein lehrhafter Sprüche (γνώμη, gnômë) ausgewiesen: Allgemeingültig-
Charakter (docere) und seine individuelle, überzeitliche keit des Inhaltes, Regelung des sittlichen oder lebensklu-
Anwendbarkeit machen ihn zu einem anthropologisch gen Verhaltens und verkürztes E n t h y m e n als Erfah-
angelegten Richtwert, der persönliche Entwicklungssta- rungsschluß. Nach Aristoteles befördert der Spruch,
dien begleiten kann und (im Unterricht) zu didaktischen «was beim Handeln zu wählen oder zu meiden ist». [16]
Zwecken eingesetzt wird: «Früh übt sich, was ein Mei- Sprüche treffen meist auf vorhandene Einsichten und
ster werden will; non scholae, sed vitae discimus (nicht Überzeugungen und «machen die R e d e gesinnungstüch-
f ü r die Schule, fürs Leben lernen wir).» tig». [17] Vor diesem Hintergrund kann man auch den
redestrukturellen (systematischen) Einsatz des D . be-
D . können auf sprachspielerisch-kreative oder argu- stimmen: l ) a l s These im R a h m e n eines Syllogismus;
mentativ-scharfsinnige Weise (argutia) individuell her- 2) als verkürztes E n t h y m e m (conclusio)·, 3) als Beispiel-
vorgebracht oder aus gegebenen Kontexten (biblische, argument (exemplum)·, 4) als motivierender Handlungs-
philosophische, literarische Schriften) entnommen sein aufruf in der peroratio (appellatio); 5) als illustrierende
(Zitate): «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein» (Matt. Sentenz in der narrado (ornatus) oder 6) als redeeröff-
4,4) oder «Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, nende These (attentum parare). Die Bildhaftigkeit, An-
der täglich sie erobern muß» ( G o e t h e , Faust II). [10] schaulichkeit, Lebensnähe und Publikumszugewandt-
Funktion und praktischer Nutzen des D . sind begrün- heit spielen dabei eine wesentliche Rolle. D e r ethisch-
det in seiner Anwendung als memorierbare Lebensweis- normative Gehalt von Spruchformen wird auch in der
heit, situative Verhaltensregel, allgemeines Lebensprin- HERENNius-Rhetorik betont: «Sententia est oratio
zip oder als geistreicher, schlagfertiger Kommentar zu sumpta de vita quae aut quid sid aut quid esse oporteat in
Ereignissen und Verhaltensweisen. K. K A N Z O G disku- vita breviter astendit, hoc pacto. "Difficile est primum
tiert dies am Beispiel der unterschiedlichen Funktionen, quidque."» (Eine Sentenz ist eine aus dem Leben ent-
die spruchhafter R e d e im gesellschaftlichen Diskurs der n o m m e n e Aussage, die kurz ausspricht, wie es im Leben
Normen zukommen: «Der Sinnspruch will Normrefle- bestellt ist oder bestellt sein soll, z . B . : "Aller A n f a n g ist
xion bewirken, der Denkspruch legt die Ü b e r n a h m e der schwer.") [18] Zugleich thematisiert dieser Text auch die
Norm nahe, der Lehrspruch hat Anweisungscharakter, Beweiskraft von sentenzhaften Aussagen: «Notgedrun-
der Mahnspruch impliziert mögliche Folgen.» [11] gen wird nämlich der Z u h ö r e r im stillen beipflichten,
Schließlich besitzt der D . auch eine Funktion der Be- wenn er sieht, daß sich auf unsere Sache ein bestimmter
weisführung (argumentatio), da er enthymematisch Ab- Grundsatz anwenden läßt, der d e m Bereich des Lebens
leitungsschritte zusammenfassen oder die Beweisfüh- und der Sittlichkeit e n t n o m m e n ist.» [19] Im deutschen
rung als These (Syllogismus) eröffnen kann. Diese Lei- Terminus <D.> sind diese Bedeutungsschichten spruch-
stungsfähigkeit des D . führt z . B . A . Jolies auf seine lo- hafter R e d e insbesondere aufgehoben: vernünftige Fol-
gisch-semantischen Merkmale zurück, denn «die Erfah- gerung aus Erfahrungen (ratio), Urteil über die Realität
rung, in der sie der Spruch faßt, ist ein Schluß». [12] (iudicatio) und allgemeine Denkwürdigkeit des Inhaltes
B . I . Als prosaische oder versgebundene Kurzform (memoria).
steht der D . in einer literarischen Traditionskette. Seine
Geschichte ist verbunden mit der Entstehung und Ent-
II. Im Mittelalter wird v . a . die ethische und pädago-
faltung der Spruchdichtung: «Die Spruchtradition kann
gisch-didaktische Dimension der Spruchformen tradiert.

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Denkspruch Denkspruch

Die rhetorische Literatur weist ihnen einen systemati- bei G.P. HARSDÖRFFER zum Ausdruck kommt: Sein
schen Platz in den Figurenlehren und Blütensammlun- Werk <Ars Apophthegmata, Das ist: Kunstquellen
gen (colores rhetorici) zu und verbindet damit den orna- Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofre-
tus-Charakter mit der docere-Funktion. So finden etwa den> von 1655 [29] wählt eine weltmännisch-polyglotte
bei O N U L F VON SPEYER (um 1 0 5 0 ) die Sentenzen oder Perspektive, indem seine Sammlung sowohl als rhetori-
Sprüche Anerkennung, «welche oft weise Lebensregeln scher Fundort funktioniert als auch zur Konturierung
enthalten. In den Versen wird hierbei des Knaben ge- und Kultivierung der höfischen Konversation bei-
dacht, der nicht leicht verlernt, was er in der Kindheit trägt. [ 3 0 ] Mit J.W. ZINCGREFS Werk <Der Teutschen
aufgenommen hat. Er knüpft daran die Ermahnung zu scharpfsinnige kluge Sprüche> (1626) erfolgt die eigentli-
kräftiger Züchtigung [...].» [20] Für Onulf gilt: «Senten- che Begründung der apophthegmatischen Gattung und
tia mores instruat» (Der Spruch belehrt über sittlichen damit des D. im deutschen Sprachraum. Anders als bei
Lebenswandel). [21] Die zweite Traditionslinie knüpft - Harsdörffer ist seine Intention bzw. Wirkungsabsicht auf
im Rahmen der religiösen Rede - an die Spruchliteratur die Beförderung der deutschen Sprache und Literatur
der Bibel an. Hintergrund ist die Erneuerungsbewegung gerichtet und damit der Tätigkeit der Sprachgesellschaf-
des 12. und 13. Jh., als deren Kennzeichen auch die ten vergleichbar. Daß auch hier das vir-bonus-Ideal zum
Wendung von den Künsten (artes) zu den großen Auto- Ausdruck kommt, zeigt ein Zitat aus Harsdörffer: «Sey
ren (ductores) gelten kann. Damit rücken die Aussagen einem jeden Waage / das ist / billich gegen jederman / und
und Sprüche der Bibel und der Kirchenväter (auctoritas) thue niemand unrecht.» [31] Die Rezeption und Verbrei-
ins Blickfeld, die für eine christlich fundierte Sittenlehre tung der höfischen Ideale, die Haltung des Cortegiano,
herangezogen werden: «Es ist praktische Alltagsmoral, des Hofmannes, bilden auch die Basis von B. GRACIÁNS
Lebensweisheit auf religiöser Grundlage.» [22] Diese ist <Orácula manual> (1647), eine Sammlung von Einsichten
insbesondere an die Jugend gerichtet, wie es schon die und Denkwürdigkeiten, an die vor allem die französi-
appellative Fassung von Salomos Sprüchen ausdrückt. schen Moralisten anknüpfen. An deren Maximen (maxi-
«Mein Kind, vergiß meines Gesetzes nicht, und dein ma) und Regeln (regula) orientieren sich fürstliche Er-
Herz behalte meine Gebote. Denn sie werden dir langes ziehungsprozesse und religiöse bzw. sittliche Anleitun-
Leben, und gute Jahre und Frieden bringen.» [23] Vor- gen des Bürgertums. Lebensregeln und Richtschnüre
weg wird die Intention der Sprüche formuliert: «Dies des Handelns, oft im Sinne von D., finden sich in LA
sind die Sprüche Salomos [...] zu lernen Weisheit und ROCHEFOUCAULDS <Refléxions ou sentences et maximes
Zucht, Verstand, Klugheit, Gerechtigkeit [...].»[24] morales> ( 1 6 6 5 ) , in B . P A S C A L S <Pensées> ( 1 6 6 9 ) , in L A
Die Spruchsammlung selbst belegt die rhetorischen Bau- BRUYÈRES <Caractères> ( 1 6 8 8 — 9 4 ) sowie in V A U V E N A R -
prinzipien, den moralischen Impetus und die soziale Em- GUES <Refléxions et maximes> ( 1 7 4 6 ) . An den «Geist der
pirie des Textes: «Denn die Hure bringt einen ums Brot; moralischen Erbauung, der theologischen Reflexion und
aber das Eheweib sähet das edle Leben.» Oder: «Ein der geistlichen Anleitung» [32], so wie er im Mittelalter
Armer redet mit Flehen, ein Reicher antwortet auch sentenzenhaft formuliert war, knüpfen insbesonde-
stolz.» [25] Antithetische Bedeutungsgebung, metapho- re F . FÉNELONS Explications des maximes des saintes>
rische Veranschaulichung, Alliteration und anapho- (1697) an. Hier liegt scharfsinnige, denkwürdige Spruch-
risch-parallelistische Syntax erzeugen dabei die Einpräg- literatur vor, die Erfahrungsresultate in anschaulichen
samkeit und den ästhetischen Reiz der Formulierungen. Gegenüberstellungen, subtilen Analysen und brillanten
Formulierungen vorträgt. [33]
Auf antiken Gnomologien und Sentenzen bauen auch
die mittelalterlichen Spruchsammlungen und damit die IV. Der ethische Charakter und die handlungsanlei-
abendländische Spruchtradition auf. Es entstehen neue tende Potenz des D. dominiert auch vom 18. —20. Jh. Die
lateinische Auswahlen besonders für Klosterschulen, die rhetorische Zuordnung knüpft dabei z.B. an den schon
auch aus christlicher Überlieferung (Bibel, Patristik) in der Antike (Aristoteles) reklamierten Allgemeingül-
und einheimischem Volksgut schöpfen, wie EGBERT VON tigkeitsanspruch an, mit dem die Termini gnome oder
LÜTTICHS <Fecunda ratis> (um 1 0 2 3 ) . [ 2 6 ] Die erste deut- Sentenz erläutert werden, wie in C. SCHRÖTERS Buch
sche Sprichwortsammlung präsentiert NOTKER L A B E O in <Gründliche Anweisung zur deutschen Oratorie> von
seiner Lehrschrift <De partibus logicae> (um 1000). Auch 1704: «Gnome oder Sententia ist ein gemeiner Aus-
diese Kompendien zielen auf Erbauung, Erziehungspra- spruch / den man auf keine gewisse Person zeucht», ζ. Β.
xis und sittliche Lebensführung. «Ein zertheiltes Reich muß so wohl als ein zerbrochenes
III. Mit den Epochen der Renaissance und des Barock Schiff zu Grunde gehen.» [34] Der argumentative Gehalt
entfaltet sich die Sammlung und Verbreitung denkwür- und die rhetorische Begründung von D. werden mit Be-
diger Sentenzen und Sprüche. Tradiert wird dabei die ginn des 19. Jh. zurückgedrängt zugunsten der sozialen,
Bedeutung von sententia als Sinn- oder Denkspruch (zu politischen oder ethischen Funktion bzw. zugunsten sei-
sentire = denken, urteilen, fühlen): Seit dem frühen ner Individualisierung als persönliche Handlungsmaxi-
16. Jh. wird Sentenz begriffen als einprägsam, kurz und me oder Lebensregel. Deutlich wird dies etwa am Bil-
treffend formulierter Ausspruch, denkwürdiger Kern- derbuch für die Jugend> (1836), einer Sammlung «er-
satz, allgemeingültige Aussage oder Maxime, «oft als probter Denk- und Weisheits-sprüche zur Veredelung
Zitat berühmter Persönlichkeiten» [27], aber auch als des Geistes und Herzens» [35], wo in gereimter und illu-
selbständige prosaische Kunstform bzw. als sinnfälliger strierter Form pädagogische Spruchweisheit an die Hand
Teil des Dialogs. Dies beginnt mit den großen lateini- gegeben wird. Daneben dominiert seine literarische und
schen, dem Ethos verpflichteten Sammlungen des Hu- volkskundliche Zuordnung, die ihn in die Nähe zum
manismus, wie beispielsweise E R A S M U S ' <Adagia> Sprichwort bringt oder ihn als gattungsspezifischen Ty-
( 1 5 0 0 ) , und mit den deutschen Werken von H . B E B E L pus setzt. [36] Entsprechend wird er auch in einschlägi-
(<Proverbia germanica>, 1 5 0 8 ) und J. AGRICOLA ^Deut- gen Wörterbüchern dokumentiert: Adelung (1807) hebt
sche Sammlungen>, 1528). [28] In diesen Schriften wer- die individuelle Bedeutung des D. hervor und bringt ihn
den auch die deutschen Termini des formelhaften Sinn-, in Zusammenhang mit anderen Varianten spruchhafter
Lehr- und Denkspruchs greifbar, wie dies beispielsweise Äußerungen: «Dienet er zur herrschenden Regel des

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Denkspruch Deprecatio

eigenen Verhaltens, so heißt er ein Wahlspruch, Symbo- in: Wattenbach [20] 382. - 22Realencyclop. für protest. Theol.
lum.»[37] Dagegen scheint bei Campe noch die memo- und Kirche Bd. 18, hg. von A. Hauck (1906) 690. - 23 Salomos
πα-Leistung des D . auf. E r definiert ihn als «ein denk- Sprüche, AT 3, 1 - 2 ; in der Übers. Luthers. - 24 ebd. 1, 1 - 3 . -
würdiger Spruch, ein Ausspruch, welcher an eine denk- 25ebd. 6,26 und 18, 23. - 26vgl. G. von Wilpert: Sachwtb. der
Lit. ( 6 1979) 777. - 27H. Schulz: Dt. Fremdwtb. Bd. 4 (1978)
würdige Sache, Wahrheit etc. erinnern soll (Sentenz, 129. - 28vgl. Metzler[8] 415. - 29G.P. Harsdörffer: Ars
Maxime); auch Denkwort.» [38] Dies gilt schließlich Apophthegmata, 2Bd. (1655), hg. von G.Braungart (1990). -
auch für G R I M M S Wörterbuch, wo <D.> als deutsche Ent- 30vgl. Braungart [29] I, 14. - 31 Harsdörffer [29] I, 131. -
sprechung zum lateinischen Begriff «memorabilis sen- 32R. Picard: Von La Fontaine bis Rousseau (1970) 13. - 33 vgl.
tentia» [39] knapp gekennzeichnet wird. Dies deutet ein- auch M.Kruse: Die Maxime in der frz. Lit. (1960). - 34C.
mal auf die nur unzureichende etymologische und ver- Schröter: Gründliche Anweisung zur dt. Oratorie (1704; ND
wendungspraktische Belegbarkeit des Begriffs <D.> hin 1974) II, 511. - 3 5 D a s Glück ist kugelrund; ausgew. von B. Ma-
sowie auf die Notwendigkeit und den Usus, ihn seman- riacher aus dem Bilderbuch für die Jugend (1972). - 36vgl.
tisch und funktional im Wortfeld Apophthegma, Sen- Jolies [1] 156f. - 3 7 J . C . Adelung: Gramm.-kritisches Wtb. der
hochdt. Mundart (Wien 1808) Bd. 1/2, Sp. 1450. - 38 J.H. Cam-
tenz, Spruch, Maxime oder Devise zu lokalisieren und pe: Wtb. der dt. Sprache (1807; ND 1969) Bd. I, 703. -
abzugrenzen als Variante formelhaft knapper Äußerun- 39Grimm, Bd.2, Sp. 943. - 40Walther von der Vogelweide,
gen. Gedichte, hg. von P. Wapnewski ( 7 1971) 66. - 41 Goethes
V . Die rhetorisch stilistischen Qualitäten und Wir- Werke Bd. I, hg. von E. Trunz ( 12 1981) 328. - 4 2 B . Brecht: GW
kungsfunktionen des D . zeigen auch seine Affinität zur Bd. 10 (1967) 966. - 43 Wilpert [26] 778.
Spruchdichtung·. So dient <Spruch> schon als Bezeich-
Literaturhinweise :
nung für die germanische gnomologische Dichtung, wie
F. Seiler: Dt. Sprichwörterkunde (1922). - R. Strömberg:
sie in Lebensweisheiten, Zaubersprüchen und Rätseln Griech. Sprichwörter. Eine neue Slg. (Göteborg 1961). - A. Ot-
vorliegt. In formelhafte Sprache und in einfachen Vers- to: Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der
bau (Stabreim) gebracht, sind diese Sprüche situativ ab- Römer (1890, ND 1962). - Dt. Sprich Wörter-Lex., 5 Bde., hg.
rufbar oder lebenspraktisch generalisierbar. Dies gilt von K.F.W. Wander (1964). - J.Werner: Lat. Sprichwörter
auch für die memorierbare Spruchliteratur des Mittelal- und Sinnsprüche des MA aus Hss. gesammelt (1966). - H.J.
ters, beispielsweise von WALTHER VON DER VOGELWEIDE: Hermisson: Stud, zur israelitischen Spruchweisheit (1968).
«Hüetet iuwer ôren, oder ir sît tôren» (Hütet eure Oh- G. Kalivoda
ren, oder ihr seid Toren). [40] In der Neuzeit kann auf
G O E T H E verwiesen werden, der in seinen <Maximen und
—» Aperçu —> Aphorismus —> Apophthegma —> Argumentatio
—* Auctoritas —» Brevitas -> Epigramm —» Ethos —• Formel —»
Reflexionen> (1809ff.) ein Beispiel gattungsübergreifen- Geflügelte Worte —» Gnome —» Maxime —» Memoria —» Motto
der Intertextualität liefert und der sich auch in seinem —» Redensart —» Sentenz —> Sprichwort —» Spruch —» Wirkung
lyrischen Werk an brevitas und Empirie des Spruches
orientiert: «Ihr müßt mich nicht durch Widerspruch ver-
wirren! Sobald man spricht, beginnt man schon zu ir-
Deprecado (lat. auch deprecativa venia; dt. Bitte um
ren.» [41] Mit dem ästhetischen Reiz reimhaft gebunde-
Nachsicht, Mitleid; engl, deprecation; frz. déprécation;
ner Rede arbeitet auch Β . B R E C H T S Spruch: «Traue nicht
ital. deprecazione)
deinen Augen / Traue deinen Ohren nicht / Du siehst
A . Bei Q U I N T I L I A N ist die D . als Gedankenfigur defi-
Dunkel / Vielleicht ist es Licht.» [42] Diese Beispiele der
niert [1], während C I C E R O sie auch als Wortfigur auf-
literarischen Adaption von Spruchformen zeigen nicht
faßt[2], mit der um Nachsicht und Verständnis für den
nur die formalstilistischen Übereinstimmungen zwischen
Angeklagten gebeten wird. Wie in der Herennius-Rhe-
D . und Spruchdichtung, sondern auch inhaltliche Kon-
torik[3] bezeichnet sie gelegentlich in synekdochischer
vergenzen: Sentenziös-didaktische Aussage, lehrhaft-
Fassung die Widerlegung (refutatio) insgesamt. Als Teil
moralisierende Grundhaltung und persönliche oder so-
der argumentatio in einer Verteidigung richtet sich die D .
ziale (politische) Fundierung [43] eignen beiden literari-
an die ratio und emotio des Richters oder eines Publi-
schen Formen. Das docere- und delectare-Prinzip bleibt
kums, indem sie nach den Ursachen (mildernde Umstän-
also auch für die spruchhaften Äußerungen der Moderne
de) für fehlerhaftes oder strafwürdiges Verhalten fragt,
gültig. Eine religiös-alltagspraktische Variante des D . ,
um diese zur Entlastung des Täters anzuführen. Dies gilt
aufbauend auf der memoria und Handlungsanleitung,
nicht nur für das Plädoyer in der Gerichtsrede (juri-
findet sich schließlich in zeremoniellen Situationen,
stisch), sondern auch für die Beziehung zwischen Mäch-
wenn Brautpaaren oder Konfirmanden und Firmlingen
tigen und Untertanen (politisch) und das Verhältnis zwi-
biblische Sentenzen als persönliche Wahl- oder Lebens-
schen menschlichem Tun und göttlichem G e b o t (reli-
sprüche mitgegeben werden, oder wenn D . aus Anlaß
giös). D e r Angeklagte, der unbotmäßige Untertan oder
einer persönlichen Widmung Anwendung finden.
der Sünder gestehen eine Tat ein (concessio, confessio)
und bitten dann um Mitleid oder mildes Urteil. In for-
Anmerkungen: melhafter oder ritualisierter Weise tritt die D . vor allem
1 vgl. A. Jolies: Einfache Formen ( 4 1972) 150ff. - 2 e b d . 151f. - in der religiösen R e d e auf: «mea culpa, mea maxima
3ebd. 156. - 4vgl. K. Kanzog: Art. <Spruch>, in: RDL, Bd. 4 culpa (meine Schuld, meine übergroße Schuld); und ver-
(1984) Sp. 154. - Svgl. ebd. 151. - 6vgl. ebd. - 7W.Preisen- gib uns unsere Schuld.» Die eindringliche Bitte (obsecra-
danz: Die Spruchform in der Lyrik des alten Goethe (1952) 20. -
tio) um wohlwollende Beurteilung wird anstelle von
8Metzler Lit. Lex., hg. von G. u. J. Schweikle (1984) 91. - 9 vgl.
Kanzog [4] 153. - 10 Goethes Werke Bd. III, hg. von E.Trunz Gründen verwendet und oftmals mit dem Hinweis auf
("1981) 348. - 11 Kanzog[4] 153. - 12Jolles[l] 158. - 13Kan- frühere Verdienste oder Reuebezeigungen verbunden.
zog[4] 155. - 14vgl. Meyers großes Konversations-Lex. Bd.4 Die Anrufung des Publikums (apostrophe) dient dabei
( 6 1903) 641. -15vgl. Kanzog [4] 156. -16Arist. Rhet. II, 21,1. - zur Intensivierung des Ersuchens. [4] Als flehentliche
17 G. Ueding: Schillers Rhet. (1971) 182. - 1 8 Auct. ad Her. IV, Bitte um Mitgefühl in einer schwierigen Lage ist die D .
24, übers, von K. Kuchtner (1911) UOf. - 19ebd. 111. - eine «Figur des gehobenen Pathos». [5]
20W. Wattenbach: Magister Onulf von Speier, in: Sber. der
Königl. Preuss. Akad. der Wiss., l.Halbbd. (1984) 365. - B . Obwohl innerhalb der refutatio dieselben logischen
21 Onulf von Speyer, Colores rhetorici (um 1050); abgedruckt und rhetorischen Mittel zum Einsatz kommen wie in der

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