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EUROPÄISCHE

MEHRSPRACHIGKElT
Festschrift zum 70. Geburtstag von
Maria Wandruszka

Herausgegeben von
Wolfgang Pöckl

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN


Inhal tsverzeichnis

VORWORT DES HERAUSGEBERS . . . . XI

I. "MEHRSPRACHIGKElT"

NORMAN DENISON, Graz


English in Europe, with particular reference to the German-speaking
area .. 3

UDO FRIES, Zürich


Zur Kongruenz bei Kollektiven 19

eARL THEODOR GOSSEN, Basel


Tendenzen der Wortschöpfung im heutigen Französisch 29

GEROLD HILTY, Zürich


Die zweisprachige Alba 43

FELIX KARLINGER, Salzburg


CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Miszellen zur Mehrsprachigkeit des sardischen Theaters und des ru-
mänischen Kultes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 53
Europäische Mehrsprachigkeit:
Festschr. zum 70. Geburtstag von Mario Wandruszka / hrsg. von Wolfgang Pöckl. - REINHOLD KONTZI, Tübingen
Tübingen : Niemeyer, 1981. Gibt es reines Maltesisch? 63
ISBN 3-484-50168-5
NE: Pöckl, Wolfgang [Hrsg.]; Wandruszka, Mario: Festschrift
KLAUS LICHEM, Graz
ISBN 3-484-50168-5 Innersprachliche Mehrsprachigkeit und deren Übersetzungspro-
bleme in Zazie dans le metro von Raymond Queneau . . . . . . .. 73
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1981
Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Ver-
lages ist es auch nicht gestattet, diesen Band oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege ULRICH MÜLLER, Salzburg
zu vervielfältigen. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH Kempten/Allgäu. Ein- Mehrsprachigkeit und Sprachmischung als poetische Technik: Bar-
band von Heinr. Koch Tübingen barolexis in den Carmina Burana . . . . . . . . . . . . . . . . .. 83
VI Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis VII

ELS OKSAAR, Hamburg HERBERT E. BREKLE, Regensburg


Situation ale Interferenzen und Kommunikationskonflikte 105 Zur Integration eines speziellen Typs ikonischer Elemente in primär
schriftsprachlichen Wortbildungen einiger europäischer Sprachen 197
OSWALD P ANAGL, Salzburg
Wortbildungstypen in der Sprache der Anzeigenwerbung (anhand WOLFGANG U. DREssLER, Wien
deutscher Beispiele) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 115 Kontrastive Wortbildungslehre. Ein polyzentristischer Ansatz 209

ALWIN FILL, Graz


Korpusuntersuchung und Informantenbefragung - Methodisches zur
II. SPRACHEN IN KONTAKT Kontrastiven Sprachwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .. 215

RUDoLF FILIPOVIC, Zagreb HANs-MARTIN GAUGER, Freiburg


Transphonemization: Substitution on the Phonological Level Re- Das Spanische - eine leichte Sprache . . . . . . . . . . . . . . .. 225
interpreted . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 125
GUDRUN HELD, Salzburg
GÜNTHER HAENSCH, Augsburg Die Abtönungspartikel halt in der österreichischen Komödienspra-
EI vocabulario econ6mico espafiol, un problema de lenguas en con- che. Versuch einer kontrastiven Mikroanalyse .. . . . . . . . .. 249
tacto . . . . . . . . . . . . 135
HARTMUT KÖHLER; Freiburg
MANFRED HÖFLER, Düsseldorf «Histoire d'idiomes» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 265
Für eine Ausgliederung der Kategorie "Lehnschöpfung" aus dem Be-
reich sprachlicher Entlehnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 149 FRANZ RAUHUT , Würz burg
Giambattista Vicos "Kultur" im ideologisch-linguistischen Kontrast 275
GUSTA V INEICHEN, Göttingen
Zum Begriff des Sprach bewußtseins . 155 GERHARD ROHLFs, Tübingen
Romanische Haustiernamen aus affektiver romanischer U rschöp-
ZARKO MULJACIc, Berlin fung. (De cochon a truie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
Un nuovo tipo di trasferenza? 163
HENRI VERNAY, Klagenfurt
JOSEPH M. PIEL, Lissabon Überlegungen zu Onomasiologie und "Sprachsystem" . . . . . .. 293
Zu port. Peniche, span. Pefdscola 167

HELMUT STIMM, München


Über ja und schon im Rätoromanischen Graubündens 171 IV. ÜBERSETZUNG

LEIF LUDWIG ALBERTSEN , Aarhus


III. SPRACHEN IM VERGLEICH Probleme der übersetzten Weltliteratur . . . . . . . . . . . . . .. 303

WERNER BETZ (t), München JÖRN ALBRECHT , Tübingen/Würzburg


Semantische Schichtungen als Mehrsprachigkeit des Übersetzers und Zazie dans le metro italienisch und deutsch. Zum Problem der
der Sprachen - an dänischen und deutschen Beispielen . . . . . .. 185 Übersetzung von Texten großer sozio-stilistischer Variabilität 311
VIII Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis IX

RUDOLF BAEHR, Salzburg V. DIDAKTIK DER MEHRSPRACHIGKElT


Rolle und Bild der Übersetzung im Spiegel literarischer Texte des 12.
und 13. Jahrhunderts in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 FRITZ ABEL, Augsburg
Wandruszkas "Interlinguistik" und die Sprachbetrachtung im Fremd-
KURT BALDINGER, Heidelberg sprachenunterricht: Bemerkungen zur Weltbildthese . . . . . . .. 471
Stupide bei Rabelais: faux amis in der Übersetzung 349
GABRIELE HOHENWART , Salzburg
WILHELM THEODOR ELwERT, Mainz Aussprache und Theaterspielen. Eine "Reservemethode" " . .. 493
Das Übersetzen der Vita nuova. (Zur Interpretation der Kanzone:
«Donne ch'avete intelletto d'amore») . . . . . . . . . . . . . . . . 359 HANS-J OACHIM SIMON, Graz
Disiecta membra poetae. Lateinlernen als Sonderfall der Mehrspra-
WERNER KOLLER, Bergen chigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
Zum Stand der Übersetzungswissenschaft . 367
VERZEICHNIS DER VERÖFFENTLICHUNGEN VON MARIO WANDRUSZKA 513
JEAN-RENE LADMIRAL, Paris
La traduction comme linguistique d'intervention 375 T ABULA GRATULATORIA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519

WOLFGANG PÖCKL, Salzburg


Fehlleistung und acte manque 401

KATHARINA REIss, Würzburg/Mainz-Germersheim


Elend und Glanz der Übersetzung oder Was hat das Übersetzen
mit den kleinen grünen Männchen vom Mars zu tun? 409

RUPPRECHT ROHR, Mannheim


Zur Wahl der temps verbaux in der Übersetzung 421

EDGAR SALLAGER, Klagenfurt


Sprachzweifel und Sprache des Zweifels in Sartres Les mots: ver-
gleichbar und unvergleichlich? Ein Beitrag zur Theorie der litera-
rischen Übersetzung aus literaturhistorisch-komparatistischer Sicht. 433

ELMAR TOPHOVEN, Paris


Vorlektüre - Spontanglossar - Nachlese . 449

WOLFRAM WILSS, Saarbrücken


Handlungstheoretische Aspekte des Übersetzungsprozesses 455
ULRICH MÜLLER

Mehrsprachigkeit und Sprachmischung als poetische Technik:


Barbarolexis in den Carmina Burana

I
Die folgenden Beobachtungen und Überlegungen beziehen sich auf eine
mittelalterliche Textsammlung, wo Sprachmischung und Mehrsprachigkeit1
in besonders auffälliger Weise vorkommen und auch immer wieder Gegen-
stand von Erörterungen waren, nämlich die wahrscheinlich zu Beginn des 13.
Jahrhunderts im deutsch-italienischen Grenzbereich geschriebene Sammlung
vorwiegend mittellateinischer Gedichte, die seit Joh. And. Schmeller nach
ihrem Fundort Benediktbeuren den Namen Carmina Burana (CB) = Ge-
dichte aus Beuren trägt. 2 Das Interesse der germanistischen Forschung kon-
zentrierte sich dabei auf das Problem der dort enthaltenen mittelhochdeut-
schen Strophen, ohne daß man aber bislang zu einer allgemeinen anerkann-
ten Erklärung gekommen wäre. 3 Bei der Mitarbeit an einer erstmaligen Edi-

1 Zu den beiden Termini vgl. unten Abschnitt IH.


2 Die Handschrift, die nicht vollständig erhalten und außerdem teilweise falsch gebunden ist,
wird heute unter der Signatur c1m 4660 und 4660a in der Bayerischen Staats bibliothek
München aufbewahrt; ein Farbfaksimile, mit einem Kommentarband von Bernhard Bi-
schoff, erschien 1967 (München-Brooklyn, N.Y.; 2. Aufl. München 1970. Die erste Edition
hatte Joh. And. Schmeller 1847 veranstaltet; die heute gültige Edition, nach der hier zitiert
wird, ist: Alfons Hilka/Otto Schumann/Bernhard Bischoff, Carmina Burana. 3 Bde, Heidel-
berg 1930-1970. - Zum Forschungsstand vgl. den erwähnten Kommentarband zum Faksimi-
le sowie Alois Bernt, Carmina Burana. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfas-
serlexikon. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin-New York 1978, Sp. 1179-1186. Eine erneute Untersu-
chung der Herkunftsfrage hat 1979 Georg Steer in einem Vortrag vorgenommen und dabei
Kloster Neustift bei Brixen als Schreibort in Erwägung gezogen (wird demnächst veröffent-
licht).
3 Vgl. dazu besonders: Bernhard Lundius, Deutsche Vagantenlieder in den Carmina Burana.
In: Zeitschrift für deutsche Philologie 39,1907, S. 330-493 (dort S. 330-334 ein Forschungs-
bericht zum Problem der mhd. Strophen); Otto Schumann, Die deutschen Strophen der
Carmina Burana. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 14, 1926, S.418-437; ders., im
Kommentarband zur Edition (Bd. 1. 2. Aufl. Heidelberg 1961, S. 91 *-93*) - Die derzeitige
communis opinio ist etwa, daß "die deutschen Zusatzstrophen als formale Parallelen und
eventuell als Melodieweiser fungieren"; so bei: Joachim Heinzle, Mittelhochdeutsche Diet-
richepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsge-
schichte später Heldendichtung. München 1978 (Münchener Texte und Untersuchungen
88 Ulrich Müller Mehrsprachigkeit in den Carmina Burana 89
tion aller rekonstruierbaren und erschließbaren Melodien zu den Liedern der 94 Tanz- u. Liebeslied 3 lat. Str. mit lat. - im Refr. syntaktisch inte-
CB-Sammlung4 (Lieder dabei im weitesten Sinn als Bezeichnung für lyrische afrz. Refr. griert
Texte verstanden, die gesungen wurden oder sangbar waren) hatte ich unter 95 Liebeslied (gegen Homo- 5 lat. Str. mit afrz. Refr. syntaktisch selbständig, aber
anderem Gelegenheit, solche mehrsprachigen Texte immer wieder in ihrem sexualität) (Hilarius-Zitat) als Refr. mit der Str. ver-
ursprünglichen Kontext anzutreffen, nämlich im Gesangsvortrag; und das bunden
Verhalten der SängerS sowie die Reaktionen der hinsichtlich Sprachenkennt- 112 klagende Liebeswerbung 3 lat. + 1 mhd. Str. selbständige mhd. Str.
nis unterschiedlichen Zuhörer gaben den Anstoß, das Problem erneut zu 113 klagende Liebeswerbung 5 lat. Str. (Mann) + selbst. mhd. Str.
überdenken. Aus diesem Grund, aber auch wegen der notwendigen Einheit- 1 mhd. Frauenstr. (Diet-
lichkeit der zu untersuchenden Textsorte, handelt das Folgende ausschließ- mar von Eist)
lich von den lyrischen Gesangsstücken der CB-Sammlung (nicht den anderen 114 Frühlingslied mit 4 lat. Str. + 1 mhd. selbst. mhd. Str.
Texten). klagender Liebeswerbung Str. (Gruß u. Dank)
115 klagende Liebeswerbung 4 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
II
118 Abschied und Liebesklage 7 lat. Str., mit afrz. syntaktisch verbunden, ohne
Als Voraussetzung für weitere Überlegungen ist es notwendig, sich einen (okzit.?) Partien strenge Regelmäßigkeit
Überblick über diejenigen CB-Lieder (im oben erwähnten Sinn) zu verschaf- 135 Frühlingslied 4 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
fen, in denen Sprachmischung und Mehrsprachigkeit zu finden sind. Die 136 Frühlings- und Werbelied 3 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
folgende Aufstellung gibt an, in welchen Liedern diese vorkommen (geord- 137 Frühlingstanzlied 2 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
net nach der rekonstruierten Reihenfolge der Handschrift), in welchem the-
138 Frühlingslied 4 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
matischen Zusammenhang, in welchem Ausmaß und in welcher syntakti-
139 Frühlingslied mit 6 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
scher Verbindung. Dabei fasse ich als Lied diejenig~ Texteinheit auf, die in
Liebesklage
der CB-Handschrift eindeutig als zusammengehängte Strophengruppe ge-
140 Frühlings- und Werbelied 5 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
kennzeichnet ist,6 folge also nicht den Atethesen und ,Zerlegungen' der mo-
dernen Editionen; Lied bedeutet also die in der Hs. fixierte, vielleicht oft nur 141 Sequenzform: Frühling 8 lat. Versikel + selbst. mhd. Str.
okkasionelle Einheit einer Strophengruppe. und Werbung 1 mhd. Str. 8
142 Pastourelle (virgo/ 3 lat. Str. + selbst. mhd. Str.
42 Zeitkritik (gg. Rom) lat. Str.;7 afrz. in Str. 13, 4 integrierte direkte Rede clericus) 1 mhd. Str.
48 Kreuzzugsaufruf und 5 lat. Str. + 1 mhd. Str. selbständige mhd. Str. 143 Frühlingslied 3 lat. Str. (Frühling, selbst. mhd. Str.
Tagelied-Abschied (0. v. Botenlauben) + Klage) / 1 mhd. Frauen-
51 Zeitklage (1-4), Kreuz- lat. Kreuzzugsbericht mit im Refr. syntaktisch inte- str. (Reimar)
zugsbericht (5-7) lat.-griech. Refr. griert 144 Frühlingslied 3 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
145 Frühlingslied 6 lat. Str. (Frühling) selbst. mhd. Str.
62), S.160 (vgl. dort auch S.74). - Vgl. ferner die in Anm. 13 angeführte kurze Untersu- + 1 mhd. Werbestr.
chung von Bruce A. Beatie. (wechselnde Rolle infolge
4 Carmina Burana. Gesamtausgabe der mittelalterlichen Melodien mit den dazugehörigen hs. Korrektur!)9
Texten. Übertragen, kommentiert und erprobt von Rene Clemencic. Textkommentar von 146 Frühlings- und Werbelied 5 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
Ulrich Müller. Übersetzung von Rene Clemencic und Michael Korth. Herausgegeben von
Michael Korth. München 1979.
5 Rene Clemencic, Johannes Heimrath und besonders Michael Korth bin ich daher für viele
(teilweise sogar unbewußte!) Anregungen zu Dank verpflichtet; ohne die Arbeit mit ihnen
und ohne unsere vielen Gespräche wäre der vorliegende Artikel nicht entstanden! - Vgl. 8 Vgl. Abschnitt VII/VIII und Anm. 44 und 49.
auch unten Anm. 54. 9 Vgl. dazu Otto Schumann in: Historische Vierteljahresschrift 29, 1934/35, S.297-301 und
6 Vgl. dazu unten Abschnitt IV. Hugo Moser/Helmut Tervooren. Des Minnesangs Frühling. Bd. 2. 36. Aufl. Stuttgart 1977,
7 Die Strophen anzahl schwankt in den Hss., vgl. Anm. 19. S.65
90 Ulrich Müller Mehrsprachigkeit in den Carmina Burana 91
147 Liebesklage lO
4 (I) lat. Str. (Mann) selbst. mhd. Str. 174 Werbelied 3 lat. + 2 mhd. Str. 2 selbst. mhd. Str.
+ 1 mhd. Str. (Dame-Bote) 175 Werbelied 5 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
(Reimar)
(,taugen minne')
148 Frühlingslied 6 lat. + 2 mhd. Str. 2 selbst. mhd. Str. 177 Frauenpreis (Anfang 3 inhaltl. fast identische feste syntakt. Verbindung
(Waffen der Venus) einer Pastourelle?) Str.: 2 lat., 1 lat. mhd. von lat. und mhd.
149 Frühlingslied und je 1 lat. u. mhd. Str. Refr. lat.-mhd. ; mhd. Str.
178 Werbelied 5 lat. Str; + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
Liebesklage = Übersetzung d. lat. Str. (Frühling)12
150 Frühlingslied 3 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
179 Frühlings- und Werbelied 8 lat. Str. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
mit Frauenpreis (Heinrich v. Morungen)
(Briefbotschaft)
151 Frühlings- und Werbelied 5 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
180 Werbelied (Brief) 7 lat. Str. (Mann) + mhd. Refrain in lat. Str.;
(Walther v. d. Vogelweide)
2 mhd. Str. (Frau) 2 selbst. mhd. Str.
152 Frühlingslied 4 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
181 Werbelied mit Winterklage 4 lat. + 2 mhd. Str. 2 selbst. mhd. Str.
153 Frühlings- und Werbelied 4 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str. (Winterklage )
155 Liebeswerbung mit 3 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str. 182 Frühlings- und Werbelied 5 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
Preis der Dame (Frühling)
161 Frühlingslied 2 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str. 183 Liebeslied 2 lat. Str. (Liebesszene) + selbst. mhd. Str.
162 Frühlingstanzlied 5 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str. 1 mhd. Str. (Tagelied-
(Venus + Bacchus) (Werbung) strophe/Abschied)

163 Liebeslied: Klage (Mann) 10 (I) lat. StrY (Mann) selbst. mhd. Str. 184 Pastourelle 4 Str. und Refr. jeweils syntaktisch integriert
+ Pastourelle (Frau) + 1 mhd. Frauenstrophe lat.-mhd.
(Pastourelle) 185 Pastourelle 10 Str. versweise lat.-mhd., syntaktisch integriert
164 Liebesklage 5 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str. Refr. jeweils lat.

165 Tanz- und Werbelied 3 (I) lat. + 1 mhd. selbst. mhd. Str. 195 Leich: Wein und Spiel Versikel 13a mit je einem syntaktisch integriert
Strophe afrz. u. mhd. Vers, sonst lat.
(7,1 : Ausruf?)
166 Liebesklage 4 la t. Str. (militia selbst. mhd. Str.
Amaris) + 1 mhd. Str. 203 winterliches Trinklied 3 lat. Str. (Wein u. Spiel) + selbst. mhd. Str.
(Klage) (Reim ar ) (Wein stadt Trier) 1 mhd. Str. (Eckenlied)

167 Werbelied 6 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str. 204 Preislied 5 lat. Str. mit afrz. Ausruf syntaktisch selbst., aber in
und mhd. Refr. die Str. integriert
168 Tanz- und Werbelied 4 lat. + 1 mhd. Strophe selbst. mhd. Str.
(Neidhart) 205 Trinklied 11 lat. Str.; am Refr.- syntaktisch integriert
Anfang jeweils afrz.
169 Liebesklage (Mund) 4 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
(Walther v. d. Vogelweide) 211 Freß- und Sauflied 5 lat. Str. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str.
(Walther v. d. Vogelweide:
170 Frauenpreis 3 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str. Palästina-Lied 1)
171 Liebeslied 4 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str. 218 Zeitklage 4 Str., zumeist versweise syntaktisch integriert
172 Liebeslied 3 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str. lat. -mhd.; ,Refrain'
(Winter- u. Liebesklage ) III 8 afrz.
173 Liebeslied 2 lat. + 1 mhd. Str. selbst. mhd. Str. 222 Trinklied 1 lat. Str. mit mhd. Ausruf syntaktisch integriert
225 Zeitklage 5 lat. Str.; in Str. 5,2 syntaktisch integriert
10 ein mhd. Wort
Vgl. Anm. 43 und 50.
11
Vgl. Abschnitt VI. 12 Die Version einer Basler Hs. enthält nur 41at. Str.; vgl. Anm. 44.
92 Ulrich Müller Mehrsprachigkeit in den Carmina Burana 93
III mittelalterlichen Literatur eine besondere Beliebtheit erlangte. Dieser als
Überblickt man die aufgeführten 62 lateinischen Lieder der Carmina-Bura- Barbarolexis 16 bezeichnete Kunstgriff ist dort vielerorts zu beobachten, er hat
na-Sammlung, in denen sich noch andere Sprachen finden, so lassen sich aber bislang noch keine übergreifende und zusammenfassende Untersuchung
nach der sprachlichen Konstruktion zwei Grundtypen unterscheiden: 1. Lie- erfahren. 17 Betrachtet man die lyrischen Dichtungen mit Barbarolexis , so
der, in denen mehrere Sprachen syntaktisch integriert (CB 42,118,177,184, zeigen die bisherigen Einzeluntersuchungen dennoch deutliche Tendenzen
185, 195, 218, 222, 225) oder aber doch zumindest in einer Stropheneinheit der Verwendung: Hinsichtlich der zur Mischung verwendeten Sprachen do-
verbunden sind, letzteres zumeist in der Kombination mit einem teilweise miniert die Kombination von Latein und Volkssprache, also von überregio-
oder gänzlich nichtlateinischen Refrain (CB 51, 94, 95, 149, 180,204,205).2. naler Gelehrtensprache ("Vatersprache") und von regionaler Mutterspra-
Lieder, und das ist die Hauptmasse, in denen auf lateinische Strophen eine che; seltener ist die Kombination verschiedener Volkssprachen oder gar von
oder (selten) zwei in mittelhochdeutscher Sprache folgen. Die häufigste Dialekten untereinander . Vom Inhalt ist die Neigung festzustellen, Barbaro-
Sprachkombination ist die von Latein und Mittelhochdeutsch; gelegentlich lexis im Zusammenhang mit Pastourellen- und Zechthematik sowie in geist-
erscheint Altfranzösisches (CB 95, 118, 195, 204, 218), einmal Griechisches lich-religiösen Liedern zu verwenden. Als die wichtigsten Funktionen hat
(CB 51). Die Lieder des ersten Types bezeichne ich als solche mit Sprachmi- man festgestellt: Verwendung als bloßes Zitat; Kommentierung und Glossie-
schung, diejenigen des zweiten Types als solche mit Mehrsprachigkeit; dabei rung; emotionelle Steigerung; Charakterisierung von Personen und Orten;
ist es für die folgenden Überlegungen nicht notwendig, die Lieder des ersten Satire und Parodie. 18
Types nach der Art der Sprachmischung noch weiter zu differenzieren. 13
Aufgrund der verschiedenen sprachlichen Konstruktionsweise besteht 16 ,,[Barbarolexis] est quaedam figura grammaticalis et fit cum oratio componitur ex diversis
zwischen den Liedern mit Sprachmischung und denen mit Mehrsprachigkeit idiomatibus velut ex gallico et latino vel ex tautunico et latino" (Kommentar zu Eberhard
ein ganz grundsätzlicher Unterschied: Bei den Liedern mit Sprachmischung von Bethune, Graecismus VIII 199 [um 1200]; zitiert bei: Emil Henrici, Sprachmischung in
ist es eindeutig, daß diese Mischung vom Autor jeweils von vorneherein älterer Dichtung Deutschlands. Berlin 1913, S.l). Vgl. auch Heinrich Lausberg, Handbuch
beabsichtigt war; die fremde Sprache ist ein integrierter Teil des lateinischen der literarischen Rhetorik, München 1960, §§ 470, 476ff. sowie die in § 8 zitierte Victorinus-
Stelle (H. Keil, Grammatici Latini VI, fragm. p. 37,3) aus der Mitte des 4. Jahrhunderts n.
Textes. Anders bei den Liedern mit Mehrsprachigkeit: Es ist nicht von vor- Chr.: "barbarismus nullo modo excusari potest: si a nobis per imprudentiam fiat, vitium est;
neherein klar, daß diese Lieder als Kombination von lateinischen und deut- si a poetis vel oratoribus, virtus locutionis et appellatur Graece !-.IEWJtAUO!tO<;."
schen Strophen geplant waren, und es ist auch nicht sicher, daß die mhd. 17 Zum Mittelalter vgl. vor allem, neben Henrici (Anm. 16) und Zumthor (Anm. 13): W. P.
Strophen einen integrierten Teil eines Liedes (d. h.: der CB-Liedversion)14 Gerritsen/Brigitte Schludermann, Deutsch-niederländische Literaturbeziehungen im Mittel-
bilden - die bisherige Forschung geht davon aus, daß es sich hier eher um alter. Sprachmischung als Kommunikationsweise und als poetisches Mittel. In: Akten des V.
Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Hrsg. von Leonard Forster und
Zusätze, Anhänge ("Zusatzstrophen") handelt, und alle Ausgaben spiegeln Hans-Gert Roloff. Heft 2. Bern-Frankfurt 1976 (Jahrbuch für Internationale Germanistik
diese Meinung in Anordnung und Zählung der Strophen wider. 15 A 2),S.329-339 (die dort erwähnte Diss. von B. Schludermann ist jetzt abgeschlossen und
Die bewußte Sprachmischung (wie sie in den Liedern des 1. Grundtypes wird wohl 1981 in der Reihe" Göppinger Arbeiten zur Germanistik" erscheinen); W. Theodor
vorliegt) ist eine rhetorische Technik, die sich als licentia gegenüber der Elwert, Zur Motiviertheit fremdsprachiger Einsprengsel in mittelalterlichen Dichtungen. In:
normalen Sprachrichtigkeit schon in der Antike findet und die dann in der Philologica Romanica, Erhard Lommatzsch gewidmet. München 1975, S. 89-95 (vgl. dersel-
be vorher schon in: Revue de Litterature Comparee 34, 1960, S. 409-437 und in: Festschrift
Wilhelm Giese. Hamburg 1972, S. 513-545.). Burghart Wachinger, Sprach mischung bei
13 Eine solche hat Paul Zumthor vorgenommen, von dem die bisher grundsätzlichste Darstel- Oswald von Wolkenstein. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 106, 1977, S. 277-296. Aus
lung des poetischen Bilinguismus im Mittelalter stammt: P.Z., Un probleme d'esthethique der dort genannten, reichhaltigen Literatur ist hier wichtig: Kurt Gärtner, Zechparodien auf
medievale: l'utilisation poetique du bilinguisme. In: Le moyen äge 66, 1960, S. 301-366 und den Invitatoriumspsalm (Psalm 94). In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hambur-
561-594; zusammenfassend auch in: P. Z., Langues et techniques poetiques a l'epoque roma- ger Colloquium. Hrsg. von Wolfgang Harms und L. Peter Johnson. Berlin 1975, S. 164-186.
ne (XIe-XIIIe siec1es). Paris 1963 (Bibliotheque fran<;aise et romane C IV), S.82-111 (da- Vgl. ergänzend zu Wachinger noch: Heinrich Kuen, Rätoromanisches bei Oswald von Wol-
nach die folgenden Zitate). Einen kurzen Überblick über die CB-Lieder mit Sprach mi- kenstein. In: Ladinia 3,1979, S. 101-124. - Eine kurze Überblicksskizze bei: Wilhelm Giese,
schung (nicht diejenigen mit Mehrsprachigkeit!o) gab Bruce A. Beatie, Macaronic Poetry in EI empleo de lenguas extranjeras en la obra literaria. In: Studia Philologica. Homenaje
the Carmina Burana. In: Vivarium 5, 1967, S.16-24. - Vgl. auch Anm. 17. ofrecido aDamaso Alonso. Vol. 2. Madrid 1961, S. 79-90.
14 Vgl. oben die Einleitung zu Abschnitt 11. 18 Zumthor (Anm. 13) unterscheidet etwa «un effet ornementaire, un effet ironique et un effet
15 Vgl. Anm. 3. psychologique» (S. 104); vgl. auch Gerritsen und Wachinger, Abschnitt II (Anm. 17).
94 Ulrich Müller Mehrsprachigkeit in den Carmina Burana 95
Betrachtet man die Lieder der CB-Sammlung, die nach dem Prinzip der risch verbundenen Strophen variieren die Mädchenbeschreibung eines pa-
Sprachmischung, also der ,bewußten' Barbarolexis konstruiert sind, so läßt stourellenartigen Liedanfangs, wobei die beiden lateinischen Strophen sich
sich dort durchaus Ähnliches finden. Die Funktionen der jeweiligen, Spra- mit der Beschreibung begnügen; die abschließende Strophe, gekennzeichnet
chenmischungen sind unterschiedlich, sie sind aber mit hinlänglicher Sicher- durch Erläuterungen und Erweiterungen in mhd. Sprache, deutet die Liebes-
heit festzustellen oder zu vermuten. handlung dann soweit an, daß es für einen Hörer mit literarischer Pastourel-
In den Gedichten CB 51 und CB 218, zwei zeitkritischen Liedern, haben len-Erfahrung genügt, um sich sein Teil dazuzudenken.
die fremdsprachlichen Teile wie auch Zumthor vermutet 19 - satirisch-paro-
distischen Zweck; im Kreuzzugs-Teil von 51 auch den des realistischen Lo- IV
kalkolorits. 2o Die afrz. Partien in CB 94 und CB 118 haben die Funktion der
Es liegt nun nahe, die Beobachtungen an den CB-Liedern mit Barbarolexis
emotionellen Steigerung,21 sind aber gleichzeitig wohl auch höfisch-vorneh-
(Sprachmischung) auf die große Zahl derjenigen CB-Lieder zu übertragen,
mes bzw. gelehrtes Kolorit, in 118 vielleicht sogar mit einer leichten Tendenz
die nach dem Prinzip der Mehrsprachigkeit gebaut sind. Dabei folge ich bei
zur Komik. Einen interessanten Einzelfall stellt Lied CB 95 dar: Der Sänger
meiner Lektüre der CB-Texte den eindeutigen ,Spielregeln', die die Samm-
wehrt sich seiner "domina" gegenüber gegen den Verdacht, er würde sich aus
ler bzw. Schreiber für die Rezeption gesetzt haben: Die Setzung der Initialen
finanziellen Gründen auf homosexuelle Beziehungen einlassen; dabei zitiert
und die gliedernden Zwischenbemerkungen/6 die die Sammler bzw. Schrei-
er ganz offensichtlich sowohl die Form (also wohl die Melodie) als auch den
ber der Handschrift (wohl schon der Vorlagen) vorgenommen haben, zeigen
Refrain eines gleichfalls sprachrnischenden Liedes, in dem der Überlieferung
nämlich mit unbestreitbarer Klarheit an, daß diese die mittelhochdeut-
zufolge Hilarius seinen Freund und Lehrer Abelard kritisiert; aus dem Hila-
sche(n) Schlußstrophe(n) nicht als Zusatz zu den lateinischen Texten/7 son-
rius-Refrain «Tort a vers nos li mestre!» wird dabei - in parodistischer Verän-
dern beides als zusammengehörige Einheit angesehen haben bzw. als solche
derung - beim Verfasser des CB-Liedes: «Tort avers mei ma dama!»22 Der
gelesen haben wollten. Das bedeutet keineswegs,daß es sich bei diesen
bildungsbefrachtete Witz funktionierte allerdings nur, wenn der Hörer das
Liedern28 um genetische Einheiten handelt, daß die lateinischen und deut-
Form- und Refrain-Zitat als solches erkannte, also die Melodie-Kontrafaktur
schen Textteile also von vorneherein nach dem Prinzip der Barbarolexis
und Text-Parodie durchschaute. Die Sprachmischung in den Pastourellen CB
konzipiert waren und von ein und demselben Verfasser zusammen erfun-
184 und 185 (hier genau versweise abwechselnd) und in den Trinkliedern CB
den wurden; es bedeutet aber, daß Sammler und Schreiber der Handschrift
204 und 205 hat eindeutig komischen Effekf23 - dies läßt sich im Falle von
die Absicht hatten, daß der Leser die deutlich markierten Einheiten nach
185, bei Aufführungen mithilfe der von Rene Clemencic vorgeschlagenen
dem Prinzip der Barbarolexis rezipiert, sie also als zusammenhängende
Melodie, noch heute jederzeit nachkontrollieren. 24 Eine Art kommentieren-
Lieder bzw. Liedversionen auffaßt (deren Teile durchaus von verschiedenen
de Glossierung scheint mir bei Lied CB 177 vorzuliegen25 : die drei anapho-
Verfassern und aus unterschiedlichen Zeiten stammen können). Wiewohl ein
19 Zumthor S. 96; zu CB 218 anders Wachinger S. 292; ohne Überlegungen zur Funktion: moderner Leser andere Vorstellungen von Einheitlichkeit und Zusammen-
Beatie S. 22. - Ähnlich auch das wortspielende afrz. «paie» in CB 42, Str. 13,4 sowie CB 225, gehörigkeit haben wird als ein mittelalterlicher, 29 so ist es doch nach meiner
Str. 5,2.
Meinung ohne Probleme und ohne allzu große interpretatorische Kunst-
20 Zu dieser Funktion vgl. Wachinger S. 287 f. (mit Anm. 23).
21 Vgl. zu ähnlichen Fällen Zumthor S. 108; er spricht dort davon, daß die fremdsprachigen stückehen noch heute möglich, diesen Rezeptions-Signalen der Handschrift
Wörter «une sorte de cri de coeur» seien. zu folgen.
22 Das Hilarius-Zitat ist bei Hilka-Schumann (Anm. 2), Bd. 2, S. 123f. angemerkt. Der Text
steht bei: F. Raby, A history of latin poetry. Vol. II. Oxford 1934, S. 265. Vgl. auch das 26 Z.B.: "Item de eodem, Unde supra" u. ä. - all dies ist im Faksimile an jeder beliebigen Stelle
Hilarius-Lied bei Raby II, S. 115. - Die Interpretation bei Zumthor S. 87 (im Zusammen- auf einen Blick nachzukontrollieren! - Nicht in den hier behandelten Zusammenhang gehö-
hang der «glose») erscheint mir unzutreffend. ren die metrischen Zitate und Sentenzen, die ohne spezielle Initialenmarkierung an einige
23 Vgl. Zumthor S. 99 sowie Gärtner (Anm. 17); entsprechend auch in CB 222,7. Lieder angefügt sind (z. B. bei CB 104, 120--123).
24 Etwa auf folgenden 2 Schallplatten: Harmonia Mundi, Frankreich, HMU 335; Pläne-Verlag, 27 Vgl. Anm. 3.
Dortmund, 88170; die Melodie findet sich erstmals publiziert in der in Anm. 4 genannten 28 Lieder hier - wie bisher - stets im Sinn von: Okkasionelle Liedeinheiten der CB-Hs.; vgl.
Edition (S.123). oben Einleitung zu Abschnitt II.
25 Die Interpretation von Zumthor S.100 überzeugt mich auch hier nicht; als spätere "imita- 29 Grundsätzliches dazu findet sich bei: Helmut Tervooren, Einzelstrophe oder Strophenbin-
tion" bezeichnet Beatie S.21 die 3. Strophe. dung? Untersuchungen zur Lyrik der Jenaer Handschrift. Diss. Bonn 1967, S.4Hf.
96 Ulrich Müller Mehrsprachigkeit in den Carmina Burana 97

v 2 handeln vom Trinken und Spielen in der warmen Wirtsstube zur Winter-
zeit; einer der Zecher und Spieler verliert dabei sogar noch seine Kleider,
Zwei scheinbar besonders schwierige Fälle stellen die beiden Trinklieder CB
trifft in der Kälte vor dem Wirtshaus seinen "commilito", der offenbar den
203 und CB 211 dar. Hier konnte bislang nicht einmal ein inhaltlicher Zu-
Spitznamen ,der Chaldäer' trägt (Str. 3), und die beiden - in der letzten
sammenhang zwischen den lateinischen Teilen und den deutschen Schluß-
Strophe ironisch als die ,Recken E(rek)ke und Dietrich' bezeichnet - geraten
strophen festgestellt werden, geschweige denn irgendeine sinnvolle Zusam-
in einen fürchterlichen Streit (Str. 4). Der Witz funktioniert wie bei Lied 211:
mengehörigkeit; allgemeine Einigkeit besteht aber darüber, daß die lateini-
Der Verfasser von CB 203 verwendet Form und Melodie 35 des berühmten
schen und deutschen Strophen sich formal entsprechen, also auf dieselbe
Ecken liedes, einem der beliebten Heldenlieder über Dietrich von Bern, ver-
Melodie gesungen werden sollten. 3D Für "Alte clamat Epicurus" (CB 211), zu
faßt darauf 3 lateinische Strophen übers Saufen und Spielen und fügt zum
singen nach der sicher überlieferten Melodie von Walthers Palästinalied (14,
Schluß eine unveränderte Strophe des mhd. Eckenliedes an, wahrscheinlich
38),31 habe ich bereits anderswo ausgeführt, wie die insgesamt 6 Strophen des
die Anfangsstrophe einer nicht mehr erhaltenen Version;36 und im neuen
Liedes zusammenhängen. 32 Epikur, hier verstanden als Vertreter eines
Kontext erhält die mhd. Strophe wiederum einen neuen, und zwar wie im
schrankenlosen Lebensgenusses, ruft zum Trinken und Essen ohne Ende auf
Falle von CB 211 einen parodistisch-grotesken Sinn.
(Str. 1-5); die mhd. Schlußstrophe von CB 211, identisch mit der Anfangs-
Versteht man also CB 203 und 211 als Einheiten, dann kann man für beide
strophe von Walthers Palästinalied (14, 38), erweist sich im Kontext des
feststellen: Auf die bekannte Strophenform und Melodie eines weitverbreite-
Liedes als Preisstrophe eines trunkenen Säufers, der sich endlich im ,Gelob-
ten mhd. Liedes wurden durch Kontrafaktur lateinische Strophen zum The-
ten Land' seiner Wünsche, also im Schlaraffenland befindet. Das zeitlich-
ma Fressen, Saufen und Spielen verfaßt; an diese wurden zum Abschluß die
genetische Verhältnis ist hier schlechterdings nicht anders vorstellbar (wenn
Anfangsstrophen der verwendeten mhd. Lieder angefügt, die jetzt in diesem
natürlich auch theoretisch umgekehrt denkbar!), als daß der Verfasser des
Kontext eine eindeutig parodistisch-komische Funktion erhalten. Dadurch,
lateinischen Textes auf die Melodie von Walthers Lied, das nach Ausweis der
daß neuverfaßte lateinische Strophen und eine jeweils bekannte mhd. Stro-
Überlieferung tatsächlich außerordentlich berühmt war, fünf lateinische
phe (mit deren natürlich gleichfalls bekannter Melodie) durch Montage zu
Trinkstrophen verfaßte und diesen dann die Walther-Strophe beifügte. Dem-
einer neuen Einheit, zu einem durch Barbarolexis gekennzeichneten Text,
nach muß die mhd. Strophe die ältere sein, die nunmehr zu einem parodisti-
kombiniert werden, wird beim wissenden Hörer Komik erzeugt. Die mhd.
schen Zweck verwendet wird: Im neuen Kontext bekommen die Worte des
Strophen sind demnach hier nicht nur "formales Muster" und "Melodiean-
verzückten Pilgers, der in Walthers Lied überschwenglich das Heilige Land
zeiger" /7 sondern sie sind integraler Bestandteil eines fortlaufenden und
preist, einen neuen, grotesk-parodistischen Sinn. Spätestens wenn man CB
einheitlichen Sinnzusammenhangs, der sich aber nur bei einer zusammen-
211 nach dieser Weise auf ge f ü h r t hört, 33 wird klar, daß alles für eine solche
hängenden Lektüre oder Aufführung erweist, der die Rezeptionsanweisun-
Auffassung dieses Liedes spricht.
gen der Hs. ernst nimmt. Es findet sich also dieselbe parodistische Technik
Daß das andere Trinklied, "Hiemali tempore" (CB 203), in genau der
(Melodie-Kontrafaktur und Text-Zitat), die auch in dem mischsprachigen
gleichen Weise interpretiert werden kann, wurde mir erst durch die Auffüh-
Lied CB 95 festzustellen war. 38 Zu einem solchen Verfahren im Zusammen-
rungsversuche von J ohannes Heimrath und Michael Korth klar. 34 Faßt man
hang mit Zechthematik sei nur auf die von Kurt Gärtner untersuchten und
die 4 Strophen als Einheit auf, ergibt sich nämlich folgender Sinn: Str. 1 und
edierten "Zechparodien auf den Inivitatoriumspsalm (Psalm 94)"39 verwie-
30 Vgl. Anm. 3.
31 Zu dieser wohl berühmtesten Lied-Melodie des deutschsprachigen Mittelalters vgl. zuletzt: 35 Auf Vorschlag von Horst Brunner, der die Identität der Eckenlied-Melodie mit der von den
Horst Brunner, in: Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Meistersingern als Wolframs Flammenweise überlieferten Melodie nachgewiesen hat (in:
Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Göppingen 1977 (Litterae Festschrift für Siegfried Beyschlag. Göppingen 1970 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik
7), S.54* -56* u. Ö. 25]. S.149-178), dem lateinischen Text unterlegt in der in Anm. 4 genannten Ausgabe
32 In: Mittellateinisches Jahrbuch 1980 (im Druck); kurz referiert auch in der Edition (Anm. 4), S.135f.
dort S.139 die Melodie-Adaption. 36 Dazu zuletzt und grundsätzlich Heinzle (Anm. 3), S.157-162. - Vgl. Nachtrag.
33 Etwa auf der in Anm. 24 genannten Clemencic-Schallplatte. 37 Heinzle S.160; so auch noch in meinem eigenen Kommentar (Anm. 4), S.198.
34 So auch auf ihrer in Anm. 24 genannten Platte (Verlag Pläne). Bei Abfassung meines in 38 Vgl. oben Abschnitt IH.
Anm. 4 genannten Kommentars war mir der Zusammenhang noch nicht bewußt gewesen. 39 Vgl. Anm. 17.
98 Ulrich Müller , Mehrsprachigkeit in den Carmina Burana 99

sen, zum Motiv des ortsverändernden Deliriums auf den Schwank von der Hilka-Schumann hatten hier eine Fortsetzung vermißt. 42 Die gesuchte Fort-
Wiener Meerfahrt. 40 setzung scheint mir die folgende mhd. Strophe zu geben: Jemand ruft am
Morgen den Mann zur Vorsicht und Trennung auf - der Kenner bemerkt
sofort, daß hier der Wächterruf eines mhd. Tageliedes vorliegt, der gemäß
VI
der poetischen Konvention dieses Genre morgens das heimlich in der Keme-
Lassen sich in ähnlicher oder gleicher Weise auch die in der CB-Sammlung nate der Frau weilende Paar weckt und warnt. Als Einheit betrachtet erzählt
überlieferten Liebeslieder mit Sprachmischung interpretieren? Schon bisher also Lied 183 zuerst in zwei lateinischen Strophen die Liebesnacht des Paares
bestand Einigkeit darüber, daß es bei diesen Liedern - anders als bei den in der Kemenate und deutet mit der folgenden mhd. Wächterstrophe den
vorher behandelten beiden Trinkliedern - inhaltliche Entsprechungen zwi- morgendlichen Abschied an.
schen den lateinischen und deutschen Strophen gebe; als Einheit wurden Einen sinnvollen Zusammenhang mit dem lateinischen Text vermag ich
aber auch diese Lieder nicht betrachtet. Das Fehlen einer eindeutigen Hand- auch bei anderen abschließenden Frauenstrophen in mhd. Sprache zu erken-
lung einerseits und die erwähnten thematischen Beziehungen andererseits nen: Lied CB 143 beginnt mit drei klagenden Werbestrophen eines Mannes
erschweren es, die gesuchte Zusammengehörigkeit dort überzeugend nach- in lateinischer Sprache; die abschließende mhd. Frauenstrophe, in der "ein
weisen zu können - sie machen umgekehrt aber auch den Gegenbeweis schone wip" dem ihr dienenden "ritter" ihre "huld" und "triwe" zusagt,
schwierig, wenn nicht unmöglich. bildet eine sinnvolle Ergänzung dazu, macht das Lied zum lateinisch-mittel-
Eine eindeutige formale Klammer besitzt Lied 163: Die Handschrift (fol. hochdeutschen Wechsel. Ähnliches gilt für Lied CB 147, wo auf eine jetzt
65v/66r) überliefert zuerst 10 Strophen, die die Liebesklage und Werbung vierstrophige lateinische Liebesklage des Mannes eine mhd. Dialogstrophe
eines Mannes enthalten; vor allem aus formalen Gründen haben Hilka-Schu- Dame-Bote folgt, vielleicht leichte Ironie enthaltend. Beide mhd. Strophen
mann davon 5(!!) Strophen als "unecht"41 ausgeschieden, und damit ein völlig sind auch in anderen Hss. überliefert, und zwar stets und eindeutig als An-
auf Klage gestimmtes Lied konstruiert - doch spielt das im vorliegenden fang (!) eines Liedes Reimars des Alten. 43 Im gleichen inhaltlichen Verhältnis
Zusammenhang keine große Rolle. Als 11. Strophe enthält die Hs. eine stehen in Lied CB 180 die 7 lateinischen Werbestrophen des Mannes und die
Frauenstrophe in mhd. Sprache. Sowohl die deutsche Strophe als auch die beiden abschließenden Frauenstrophen, die hier wiederum einen Erfolg der
lateinischen Strophen 3 und 5b (= Str. 9 bei durchgehender Zählung) haben Werbung andeuten; die Refrains der lateinischen und der deutschen Stro-
den refrainartigen Schlußvers "lodircundeia/e lodircundeia/e", ganz offen- phen sind dabei ausdrücklich komplementär aufeinander bezogen, verbinden
kundig mit onomatopoetischer Absicht. Diesen wiederkehrenden Schlußvers also die beiden Teile formal miteinander.
kann ich nicht anders denn als deutliches Zeichen der Zusammengehörigkeit Deutliche thematische Korrespondenzen, die über bloße Ähnlichkeiten
interpretieren, und die Atethese der Str. 5b erweist sich von daher als be- hinausgehen, finden sich in dem aus schlichten dreiversigen Strophen gebau-
denkliche Herausgeberwillkür , aus rein ästhetischen Erwägungen und gegen ten Lied CB 148 (tela Veneris - bolz), in dem preisenden Werbelied CB 155
die eindeutige und durchaus nicht sinnlose Überlieferung vorgenommen. (Helena, Pallas) sowie in der Liebesklage CB 169 (risus oris 1,3loris basia 3,5;
Denn auch inhaltlich paßt die mhd. Strophe gut an den Schluß des Liedes: munt, lachen). Die mhd. Strophe von CB 169 ist in Hs. C als Binnenstrophe
Während die vorherigen Strophen die Klage und Werbung des Mannes ent- (!) eines Frühlings- und Werbeliedes Walthers von der Vogelweide überlie-
halten, berichtet die mhd. Frauenstrophe - nach Art eines Pastourellen- fert (L 51,37); eine andere Binnenstrophe desselben Walther-Liedes (L
Anfangs - von ihrem Rendezvous mit dem Mann, also vom Erfolg der Wer- 51,29) bildet den Abschluß von CB 151, wiederum mit tadellosem inhaltli-
bung. So betrachtet hat die formal eindeutig integrierte mhd. Schlußstrophe chem Anschluß.
durchaus ihren inhaltlichen Sinn, ja gibt dem Lied sogar etwas wie eine Inhaltliche Verbindungen, die nicht schwächer, aber auch nicht stärker als
,Handlung'. Eine durchlaufende Handlung läßt sich in den 3 Strophen von die unter den vielen Strophen von anderen ,einsprachigen' Liebesliedern der
CB 183 erkennen: Strophe 1 und 2 erzählen ohne Umschweife die Liebessze-
ne zwischen einem "puer" und einer "p~ellula" in einer "cellula" , und schon 42 Ausgabe (Anm. 2), Bd.2, S.308, und zwar mit der Frage: "Nur der Anfang eines längeren
Textes?"
43 CB 143,4 = MF 203,10: Hs. E, Str. 360; CB 147,5 (!) = MF 177,10: Hs.B, b Str. 70 (auch
40 Hrsg. von Richard Newald. Heidelberg 1930 (Germanische Bibliothek II 30). ohne ausdrückliche Namensnennung durch den Kontext eindeutig als Reimar-Lied gekenn-
41 Ausgabe (Anm. 2), Bd.2, S.273f. zeichnet) Hs.C, Str. 113.
100 Ulrich Müller Mehrsprachigkeit in den Carmina Burana 101

damaligen Zeit sind, kann man in fast allen der noch nicht erwähnten CB- trag in die Handschrift anbetrifft; in allen erweist sich der rhetorische Trick
Liebesliedern mit deutschen Schlußstrophen feststellen. Sie lassen sich daher der Barbarolexis als zugrunde liegendes Prinzip. Und für die hier nicht wei-
weder in der einen noch in der anderen Hinsicht als Argument verw~nden. ters interpretierten CB-Liebeslieder gilt zumindest: das für die anderen Lie-
Baupläne, die vom bisher Festgestellten grundsätzlich abweichen,haben der nachgewiesene oder glaubhaft gemachte Bauprinzip der Barbarolexis,
eigentlich nur die Liebeslieder CB 142 und 149 sowie das Kreuzzugslied CB der bewußt geplanten Mehrsprachigkeit, läßt sich aus den Texten zwar
48. 44 In CB 142 wiederholt die deutsche Abschlußstrophe mehr oder minder nicht nachweisen, es läßt sich aber ebensowenig widerlegen; die gleiche Art
den pastourellenartigen Inhalt der lateinischen Strophen 2 und 3, und in CB der handschriftlichen Aufzeichnung spricht aber auch hier für bewußte Bar-
149 bildet die mhd. Strophe sogar eine Art Übersetzung der vorherigen barolexis, d. h. für Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit. Wendet man
lateinischen. Doch scheinen mir diese bei den vereinzelten Fälle keine beson- hier das von Wolfgang Mohr immer wieder empfohlene Verfahren der "Er-
dere Aussagekraft zu haben. Die in CB 48 vorliegende Kombination von satzprobe" an, und zwar so, daß man versuchsweise alle diese ,restlichen'
5 lateinischen Strophen mit Kreuzzugsaufruf und einer mhd. Tagelied-Ab- Liebeslieder so liest, als ob sie alle nur in einer Sprache geschrieben wären
schiedsstrophe, die in Hs. C unter dem Autornamen Otto von Botenlauben, (am besten mit Hilfe einer neuhochdeutschen Übersetzung), dann zeigt sich
in Hs. A unter demjenigen von Niune als Abschluß eines Tageliedes überlie- schnell, daß sie sich hinsichtlich ihres inneren Zusammenhanges nicht von
fert ist,45 wirkt nur auf den ersten Blick überraschend, hat aber Parallelen: vielen anderen Liebesliedern der damaligen Zeit unterscheiden.
Selbständige Kreuzzugsabschieds-Strophen finden sich auch am Schluß von Daß die CB-Lieder mit Mehrsprachigkeit sich nach dem Bauprinzip der
Albrecht von 10hansdorfs Lied MF 86,1 46 sowie im Tagelied (!) des Burggra- Barbarolexis rezipieren lassen, führt abschließend zur bisher bewußt ausge-
fen von Lienz,47 die Verbindung der Themen Tagelied-Abschied und Pilger- klammerten Frage nach der Gen e s e dieser Lieder bzw. - genauer gesagt
fahrt außerdem bei Oswald von Wolkenstein (KI 17); die Zusammenstellung - nach der Genese derjenigen Liedversionen, die in der CB-Handschrift
in CB 48 ist also nicht gänzlich ungewöhnlich und hat ihren Sinn. aufgezeichnet worden sind. Die Interpretation der Trinklieder ergab, daß
ganz offensichtlich beidesmal die Melodie eines bekannten volkssprachlichen
Liedes verwendet und überdies zum Abschluß ein Strophenzitat daraus mit
VII
dem neuen lateinischen Text kombiniert wurde; d.h.: die in der CB-Hand-
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß es möglich ist, die beiden mehr- schrift überlieferten bei den Liedversionen entstanden durch eine Kombina-
sprachigen Trinklieder CB 203 und 211, das mehrsprachige historische Lied tion von Kontrafaktur und Barbarolexis (also nach den genau gleichen Prinzi-
CB 48 sowie eine größere Anzahl mehrsprachiger Liebeslieder der CB so zu pien wie das gemischtsprachige Lied CB 95). Das zuhörende Publikum muß-
rezipieren, wie sie in der Handschrift eingetragen und gegliedert sind: näm- te sowohl die kontrafazierte Melodie erkennen als auch deutsch und latei-
lich als zusammenhängende Reihe von Strophen, die sich in diesem Fall als nisch verstehen, um das neu entstandene parodistische Trinklied rezipieren
bewußte Konstruktion nach dem Prinzip der Barbarolexis erweisen. Das zu können. Der ,Witz' dieser beiden Lieder war demnach für ein deutsch-
bedeutet: das Bauprinzip der CB-Lieder mit Sprachmischung und der er- sprachiges Publikum mit Lateinkenntnissen bestimmt, also für Zuhörer mit
wähnten Lieder mit Mehrsprachigkeit ist dasselbe, zumindest was den Ein- geistlicher Bildung (was nicht bedeutet, daß sie ausschließlich Kleriker oder
gar nur Mönche gewesen sein müssen).
Gilt dies alles auch für die mehrsprachigen Liebeslieder? Da es zumindest
44 Das Lied CB 142 bildet auch von der Überlieferung her einen gewissen Sonderfall: Seine 1.
sehr unwahrscheinlich ist, daß etwa Heinrich von Morungen, Reimar der
Strophe ist in einem Greifswalder Druck von 1582 als Anfang einer geistlichen Parodie
überliefert; CB 142 und außerdem CB 178 sind die einzigen (!) Liebeslieder der CB, zu Alte, Walther von der Vogelweide oder Neidhart (von denen sich Strophen
deren lateinischen (!) Strophen es irgendeine Parallelüberlieferung gibt. Vgl. dazu unten in den CB finden) die Nachahmer der jeweiligen lateinischen Liebeslieder
Abschnitt V. - Zu CB 149 vgl. Beatie (Anm. 13), S.22f. waren,48 scheint mir auch bei CB 143, 147, 150, 151, 166, 168, 169 die gleiche
45 Zuletzt ediert in: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl von Kraus. Kombination von Barbarolexis und Kontrafaktur vorzuliegen wie bei CB 203
Bd. I. 2. Auf}. durchgesehen von Gisela Kornrumpf. Tübingen 1978, S.314f.: Nr. XIII; die
und 211, und ich wage die These, daß dies für (fast?) alle CB-Lieder mit
Str. ist in bei den Hss. als Schluß eines dreistrophigen Tageliedes überliefert.
46 Allerdings nur in der Version der Hss. A und C, nicht in derjenigen von Hs.B. Ob es wohl
Zufall ist, daß die Abschiedsstrophe in C nachgetragen wurde? 48 Ich möchte allerdings einräumen, daß der umgekehrte Fall wenigstens theoretisch denkbar
47 Kraus, Liederdichter (Anm. 45), Bd. I, S. 250f.: Nr. I. ist.
102 Ulrich Müller Mehrsprachigkeit in den Carmina Burana 103

deutschen Strophen gilt - wenn mir natürlich auch klar ist, daß ein schlüssi- sem aber einen solchen Erfolg, daß sie dort sehr oft gebraucht wurde. Dabei
ger Beweis nicht möglich ist! Dennoch seien zum Abschluß einige vielleicht wurde folgendes musikalische und poetische Verfahren angewendet: Man
gewagte Spekulationen hinsichtlich der Entstehungsumstände der CB-1-jeder nahm die Form (d. h. die Melodie) eines möglichst bekannten volkssprachli-
mit Mehrsprachigkeit formuliert. chen Liedes und kontrafazierte diese mit einem neuen lateinischen Text, und
zwar so, daß eine Strophe der kontrafazierten Vorlage (möglichst die An-
fangsstrophe, die meist am geläufigsten ist?) den inhaltlich sinnvollen Ab-
VIII
schluß bildet, entweder im ursprünglichen thematischen Kontext oder in
Mein abschließendes Gedankenspiel basiert auf den bisherigen Beobachtun- einem neuen thematischen Kontext (also mit parodistischem Effekt). 52
gen und Überlegungen sowie auf den folgenden Tatsachen, die bislang noch Das Ganze war ein gelehrtes und geistreiches Spiel von zumindest zwei-
nicht herangezogen wurden: 1. CB-Lieder, die nach dem Prinzip der Mehr- sprachigen Literatur- und Musikkennern mit entsprechender Ausbildung
sprachigkeit gebaut sind, haben die deutschen Strophen ausnahmslos als und entsprechenden Kenntnissen. Die Anregung dazu könnte von der in der
Abschluß. 2. Sämtliche CB-Lieder, die nach dem Prinzip der Mehrsprachig- Schulrhetorik bekannten und dort gelehrten Technik der Barbarolexis ge-
keit gebaut sind, also deutsche Schlußstrophen aufweisen, sind so nur in kommen sein, ferner aus der Erfahrung, daß volkssprachliche Lieder, sowohl
dieser Handschrift überliefert, es gibt für sie keinerlei Parallelüberliefe-, im Mittelhochdeutschen als auch im Romanischen (man denke hier nur an
rung,49 ganz im Gegensatz zu einer großen Anzahl anderer CB-Lieder. 3. In die Form der tornadaf), häufig dazu neigen, eine relativ selbständige Ab-
den elf Fällen, wo die deutschen Schlußstrophen (nur diese!) auch anderswo schlußstrophe zu haben. Aufgrund dieser Voraussetzungen und Anregungen
(und meist mit Autorennennung) überliefert sind (48, 113, 143, 147, 150, wären dann die lateinischen Lieder der CB mit deutschen Abschlußstrophen
151, 166, 168, 169, 203, 211), kann man in 8 Fällen feststellen, daß sie in der entstanden53 durch bewußte Verwendung und Kombination der rhetorisch-
mhd. Parallelüberlieferung jeweils mindestens einmal als Anfangsstrophe poetischen Technik der Barbarolexis und der musikalischen Technik der
einer Liedversion stehen. 50 4. Die in der CB-Sammlung so häufige Art der Kontrafaktur. 54
Barbarolexis, nämlich die Kombination von lateinischen und mhd. Strophen
(und letztere immer als Abschluß) findet sich meines Wissens nach nur in
dieser Sammlung, zumindest aber dominiert sie dort wie sonst in keinem
anderen literarischen Bereich des Mittellateinischen und Mittelhochdeut-
schen.
Dies alles kombiniert, könnte nun ergeben: Die in den CB so besonders
häufige Kombination von lateinischen und mhd. Strophen war die Mode
eines geographisch eng begrenzten literarischen Kreises,51 sie hatte bei die-

49 VgI. Anm. 44: Von CB 142 ist die lat. Strophe 1, von CB 178 sind die lat. Strophen 1-4 auch
anderswo überliefert.
50 Es sind: CB 113,6 = MF 32,1: Dietmar von Eist 1 (!) BC; CB 143,4 (vgI. Anm. 43); CB 147
(v gI. Anm. 43); CB 150,4 = MF 142,19: Heinrich von Morungen 87 C; CB 166,5 (!) = MF
185,27: Gedrut 25 AI anonym Hs.x, BI. 56rl (Binnenstrophe: Reimar 152 Cl); CB 168,5
= Neidhart 11,8 (in allen 3 Hss.: R,C,c!); zu CB 203 und CB 211 vgI. oben Abschnitt V.
51 Nur scheinbar in die gleiche Richtung gehen die Überlegungen von Beatie (Anm. 13), 52 Es sei nochmals darauf verwiesen, daß sich das gleiche Bauprinzip auch in dem gemischtspra-
S.23f.: Er stellt sich zwar die Frage, ob die ,macaronischen' Gedichte der CB die "pro duc- chigen (!) Lied CB 95 findet!
tion of an unique poet or group of poets in upper Austria" seien, zielt dann aber auf das 53 Falls dies alles zutrifft, würden sich daraus auch Hinweise auf die Datierung der hier bespro-
Verfasserproblem, wenn er anschließend - mit aller Vorsicht! - den Marner als Autor dieser chenen CB-Lieder ergeben (was mich nicht interessiert hat): zumeist um 1200, im Falle von
Gedichte vorschlägt; dieser Autor, als Verfasser zweier lateinischer Gedichte ganz aus- CB 203 und CB 168 noch später (um 1217? um 1227?).
nahmsweise mit Namenszuweisung in der CB-Hs. überliefert (CB 6*; CB 9*; ohne namentli- 54 Für kritische Lektüre und bibliographische Hinweise danke ich meinen Kollegen Renate
che Zuweisung: CB 3*), hat ja sowohl mhd. als auch lateinische Lieder hinterlassen und wird Hausner und Dieter Messner (beide Salzburg) sehr herzlich. - Der Beitrag wurde im Som-
deswegen von Hugo von Trimberg (Renner V.1198-1201) ausdrücklich gepriesen. mer 1980 abgeschlossen.
104 Ulrich Müller

Nachtrag (1981): ELS ÜKSAAR

Anläßlich einer Diskussion zu den hier dargelegten Überlegungen am Seminar


für Mittellateinische Philologie der F. U. Berlin ergaben sich noch folgende Ge- Situationale Interferenzen und
sichtspunkte: Kommunikationskonflikte
1. Die Namensform ,Erek(k)e' in der Schlußstrophe von CB 203, abwei-,
chend von den übrigen Überlieferungen, könnte evtl. den Artushelden
(und nicht den Riesen) meinen und damit einen zusätzlichen ,Witz' bei-
steuern (Volker Mertens).
2. Ein analoges Konstruktionsprinzip zu den CB-Liedern mit deutschen Ab-
schlußstrophen findet sich in der Form der sog. ,Vagantenstrophe mit
Auctoritas', die offenbar von Walther von Chatillon erfunden wurde (vgl. In seinem neuen Werk ,Die Mehrsprachigkeit des Menschen' weist Mario
dort Nr. 4 und 6, ed. K. Strecker): die Strophen sind, ausgehend von Wandruszka nachdrücklich auf die Tatsache hin, daß jeder Mensch in einer
einem Klassikerzitat (Hexameter oder Pentameter), das den 4. Vers der muttersprachlichen Mehrsprachigkeit lebt und daß die Mehrsprachigkeit so-
Strophe bildet, sozusagen von rückwärts konstruiert, vermischen also in mit keineswegs nur an die Verwendung fremder Sprachen gebunden ist. Er
vergleichbarer Weise rhythmische Verse mit einem abschließenden metri- hebt hervor: "Schon in unserer Muttersprache lernen wir ein dynamisches
schen (Franeo Munari). - Vgl. auch oben Anm. 26. Polysystem kennen, in dem die Sprachen verschiedener Lebenskreise, denen
3. Eberhard Lämmert und Fritz Wagner verwiesen auf eine Möglichkeit, die wir angehören, ineinandergreifen und sich vermischen. "1
ich ursprünglich erwogen, dann aber wieder als zu spekulativ verworfen Dieses Paradigma kann man mit einem zweiten verbinden. Jeder Mensch,
hatte: daß nämlich die CB-Lieder mit deutschen Schlußstrophen, die nach wenn er verschiedenen Lebenskreisen angehört, ist nicht nur mehrsprachig,
meiner Interpretation mit der Schulrhetorik zusammenhängen, tatsächlich sondern auch mehrkulturell. Kontakte zwischen den Völkern und Bevölke-
eine Art von Schulübungen waren, die dann je nach Geschick der Verfas- rungsgruppen führen über ihre Einzelindividuen somit nicht nur zu Sprach-
ser qualitativ unterschiedlich ausfielen; die Herkunft aus dem Unterricht kontakten, sondern auch zu Kulturkontakten, mit Folgen für ihre sprachli-
einer bestimmten Schule (welcher?) könnte auch die Einmaligkeit der in chen und kulturellen Verhaltensweisen. Es können Interferenzen entstehen,
den CB vorliegenden Kombination von Kontrafaktur und Barbarolexis die man mit den herkömmlichen Mitteln der linguistischen Interferenzfor-
erklären. schung nicht erklären kann. 2 Ziel meines Aufsatzes ist es, eine derartige
Interferenzkategorie, die ich situationale Interferenzen nenne, zu analy-
sieren.
Als Kultur fassen wir in diesem Zusammenhang "ways of a people" auf,
d. h. alles, was einem Menschen und einer Gruppe eine besondere Prägung
gibt, nicht nur materielle Kultur, sondern auch Handlungs- und Verhaltens-
weisen. Diese Handlungs- und Verhaltensweisen bilden laut SofiettP Syste-
me; sie werden zu Gewohnheiten, wie Sprache, die ja ein Aspekt der Kultur
ist. Es gibt eine Reihe von anderen Kulturdefinitionen. Aus welcher kultur-
anthropologisehen Richtung man den Begriff "Kultur" auch sieht, von der
behavioristischen Schule von Kroeber bis zur funktionalistischen Kulturfor-

1 Mario Wandruszka, Die Mehrsprachigkeit des Menschen. München, Zürich 1979, S.314.
2 Näheres bei EIs Oksaar, Interference and BilingualInteraction. In: Proceedings of the 4th
International Conference of Applied Linguistics. Hrsg. von G. Nickel. Band 2. Stuttgart
1976, S.105ff.
3 James P. Sofietti, Bilingualism and Biculturalism. In: lourn. Educ. Psychol. 46, 1955,
S.222-227.

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