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I.

Der zweite Merseburger Zauberspruch

Heil- und Segenswunsch oder Ausdruck des Rechtsgedankens der Talion?

Von

Alfred Söllner t

I. D i e A u s g a n g s l a g e

1. D i e T e x t e a l s G e g e n s t a n d d e r W i s s e n s c h a f t :
Im Jahre 1841 machte der Historiker Georg Waitz in der Bibliothek des
Merseburger Domkapitels während eines Studienaufenthalts einen be-
sonderen Fund. In einer theologischen Sammelschrift des 9./10. Jahrhun-
derts entdeckte er zwei uralte germanische Texte, die vermutlich in der
Zeit zwischen 750 und 800 n. Chr. aufgeschrieben worden sind. Waitz
war damit auf die bis heute weltweit einzigen Schriftstücke vorchristli-
chen Inhalts in althochdeutscher Sprache gestoßen. Er übergab den Fund
an Jakob Grimm, der ihn 1842 unter dem Titel „Über zwei entdeckte
Gedichte aus der Zeit des deutschen Heidentums" herausgab. Im gleichen
Jahr bewertete Jakob Grimm diesen Fund in einem Vortrag vor der König-
lichen Akademie der Wissenschaften in Berlin wie folgt:
„Gelegen zwischen Leipzig, Halle, Jena ist die reichhaltige Bibliothek des
Domkapitels zu Merseburg von Gelehrten oft besucht und genutzt worden.
Alle sind an einem Codex vorbeigegangen, der ihnen, falls sie ihn näher zur
Hand nahmen, nur bekannte kirchliche Stücke zu gewähren schien, jetzt aber,
nach seinem ganzen Inhalt gewürdigt, ein Kleinod bleiben wird, welchem die
berühmten Bibliotheken nichts an die Seite zu setzen haben ..."
Seitdem sind diese beiden Texte als „Merseburger Zaubersprüche" in aller
Welt bekannt. Der erste Spruch bezieht sich auf die Befreiung von Gefange-
nen, der zweite - wie man meint - auf die Heilung eines Pferdes durch ger-

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Zeitschrift flir Rechtsgeschichte. CXXV. to you
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2 Alfred Söllner t

manische Götter. Seit ihrer Entdeckung sind die Merseburger Zaubersprüche


Gegenstand von Forschungsbemühungen der deutschen Philologie (Germa-
nistik), aber auch der indogermanischen Sprachwissenschaft, der Geschichts-
wissenschaft (Religionsgeschichte) und manch anderer Wissenschaftszweige
- soweit ersichtlich jedoch mit Ausnahme der Rechtsgeschichte.
Die Literatur über die Merseburger Zaubersprüche hat mittlerweile einen
schier unübersehbaren Umfang angenommen, ohne dass die Rätsel, die die-
se beiden Texte bieten, als gelöst gelten können. Hiervon vermittelt einen
hervorragenden Eindruck die im Jahre 2003 erschienene Monographie von
Wolfgang Beck, Die Merseburger Zaubersprüche 1 ). Auf diese Schrift, in wel-
cher der gegenwärtige Forschungsstand umfassend dargestellt ist2), wird im
Folgenden mehrfach Bezug genommen.
Wenden wir uns aber zunächst dem Text der Merseburger Zaubersprüche
selbst zu.
2. D i e T e x t g e s t a l t :
Die beiden Zaubersprüche sind in der im Merseburger Domkapitel aufbe-
wahrten Handschrift (Cod. 136 S. 85a) in karolingischen Minuskeln geschrie-
ben und haben folgenden Wortlaut3):
Eiris sazun idisi, sazun hera duoder.
suma hapt heptidun, suma heri lezidun,
suma clubodun umbi cuoniouuidi:
insprinc haptbandun, inuar uigandun
5 Phol ende uuodan uuorun zi holza.
du uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkict.
thu biguol en sinhtgunt, sunna era suister;
thu biguol en friia, uolla era suister;
thu biguol en uuodan, so he uuola conda:
10 sose benrenki, sose bluotrenki,
sose lidirenki:
ben zi bena, bluot zi bluoda,
lid zi geliden, sose gelimida sin.
Der zweite „Zauberspruch" (ab Zeile 5), dem allein unsere Aufmerksam-
keit gilt, wird in der heutigen Literatur zumeist wie folgt wiedergegeben:

') W o l f g a n g B e c k , Die Merseburger Zaubersprüche, Imagines Medii Aevi, Bd.


16, Reichert, Wiesbaden 2003, XV, 454 S. und 20 Abbildungen.
2
) Das dortige Literaturverzeichnis umfasst mehr als 50 Druckseiten.
3
) Eine fotografische Ablichtung des handschriftlichen Textes findet sich bei Β e c k
(o. Anm. 1) als Abbildung 1. - Fotografische Ablichtungen sind aber auch im Internet
vielfach zu finden, ζ. B. unter www.prix-online.de/ber03a.htm.

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Der zweite Merseburger Zauberspruch 3

Phol ende Wuodan vuorun zi holza.


du wart demo Balderes volon sin vuoz birenkit.
thu biguol en Sinthgunt, Sunna era swister;
thu biguol en Friia, Volla era swister,
thu biguol en Wuodan, so he wola conda:
sose benrenki, sose bluotrenki,
sose lidirenki:
ben zi bena bluot zi bluoda,
lid zi geliden, sose gelimida sin.
und etwa wie folgt gedeutet:
Phol und Wotan ritten durch den Wald.
Dabei wurde Baldurs Fohlen der Fuß verletzt.
Deshalb besprachen ihn Singunth (und) Sunna, deren Schwester.
Deshalb besprachen ihn Freia (und) Volla, deren Schwester.
Deshalb besprach ihn (schließlich) Wotan, da er es gut konnte:
Bei einem Rnochenbruch, bei einer Blutwunde,
bei Verlust eines Gliedes,
füge sich Knochen zu Knochen, Blut zu Blut,
Glied zu Glied. Damit soll alles wieder geheilt (geleimt) sein.
3. D i e F r a g e s t e l l u n g :
Sicherlich ist in diesen Texten altes germanisches Gedankengut erhalten
geblieben, vielleicht auf Grund der Weisung Karls des Großen, die alten
Schriften und das alte Wissen zu dokumentieren. An der Deutung, welche
die Sprachwissenschaftler dem zweiten dieser Texte gegeben haben, dass
es sich hierbei nämlich um einen Zauberspruch handele, dessen Gebrauch
zur Heilung eines verletzten Pferdes fuhren sollte, bestehen im Einzelnen
jedoch viele Zweifel 4 ). Dem Rechtshistoriker gibt dies Anlass zu der Frage,
ob der zweite Merseburger „Zauberspruch" vielleicht gar kein Zauberspruch
mit Heil- und Segenswünschen ist, sondern ein auf die Götter projizierter
und damit religiös fundierter Rechtsetzungsakt, welcher die Rechtsfolgen bei
derartigen Verletzungen in dem Sinne beschreibt und festlegt, dass in den ge-
schilderten Fällen Gleiches mit Gleichem vergolten werden kann, dass inso-
weit also das Prinzip der Talion5) gelten soll.
Um diese Frage zu beantworten, muss man in methodischer Hinsicht

4
) Diese Zweifel begegnen bei Β e c k (o. Anm. 1 ) auf Schritt und Tritt. Sie werden
dort eingehend dargestellt und behandelt.
5
) „Talion" vom Lateinischen talis - qualis (so beschaffen - wie beschaffen). Vgl.
Zwölftafeln 8,2; dazu sogleich im Text unter II 3.

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4 Alfred Söllner t

zunächst vorausschicken, dass in der Entwicklung der Rechtsordnungen


unterschiedlicher Völker und Gesellschaften sich verblüffende Gemeinsam-
keiten feststellen lassen, selbst wenn sich die Entwicklung von primitiven
Anfangen zu höheren Stufen an sehr verschiedenen geographischen Orten
und zu höchst unterschiedlichen historischen Zeiten vollzieht. Es ist dies
übrigens eine Erscheinung, die sich nicht nur hinsichtlich der Entwicklung
von Rechtsordnungen zeigt, sondern die in ähnlicher Weise bei vielen an-
deren Kulturgütern anzutreffen ist. Aus der Sicht des Indogermanisten hat
Bernfried Schlerath diese Erkenntnis 1962 in einer Abhandlung „Zu den
Merseburger Zaubersprüchen" wie folgt beschrieben 6 ): „Die Völkerkun-
de hat uns mit einer unübersehbaren Fülle von Material bekannt gemacht,
das zwar von einer faszinierenden Buntheit ist, das uns aber an den ver-
schiedensten Enden der Welt immer wieder die erstaunlichsten Parallelen
zeigt. Mir ist es noch nicht begegnet, dass ein Völkerkundler, dem ich eine
Einzelheit aus der Vorstellungswelt der Indogermanen vortrug, nicht sofort
eine Reihe von engen Parallelen aus naturvölkischem Bereich zur Hand
hatte."
Diese methodischen Erkenntnisse veranlassen und berechtigen uns, auf
dem Wege zur Antwort auf die gestellte Frage zunächst strukturelle Gemein-
samkeiten und Parallelen in der Entwicklung von Rechtsordnungen heraus-
zuarbeiten und dabei den Blick auch über die germanische Kultur und den
indogermanischen Kulturkreis hinaus zu lenken.

II. Der g ö t t l i c h e U r s p r u n g von G e s e t z e n

Am Anfang der Rechtsentwicklung in frühen Staatsgebilden stehen viel-


fach Gesetzgebungsakte, deren Geltungskraft nicht auf der Satzungsgewalt
eines Herrschers oder Staatsgebildes beruht, sondern auf Gott oder die Götter
zurückgeführt wird. Das bekannteste und markanteste Beispiel hierfür ist die
mosaische Gesetzgebung: Moses erhält am Berge Sinai von Gott die Geset-
zestafeln (2. Mose, Exodus, 19-22; 32, 15f.; 34).
Man muss nicht mit Jan Assmann geradezu von einer „Geburt der Religion
aus dem Geiste des Politischen" (d. h. von einer Entstehung der Religion aus
Gründen der Staatsraison) sprechen 7 )). Aber man kommt nicht umhin fest-
zustellen, dass bei den verschiedensten Völkern zu unterschiedlichen Zeiten
6
) B e r n f r i e d S c h l e r a t h , Zu den Merseburger Zaubersprüchen, in: II. Fachta-
gung für indogermanische und allgemeine Sprachwissenschaft, Innsbruck, 10.-15.
Oktober 1961, Vorträge und Veranstaltungen, Innsbruck 1962 (Innsbrucker Beiträge
zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 15), S. 139-143 (S. 140).
7
) J a n A s s m a n n , Herrschaft und Heil, 2000, S. 29.

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Der zweite Merseburger Zauberspruch 5

Gesetzgeber auftraten, die jeweils einem bestimmten Volk Gesetze gaben und
sich dabei, um den Gesetzen größere Autorität zu geben, auf eine bestimmte
Gottheit als Quelle der Gesetzgebung beriefen. Diese Erkenntnis ist nicht neu.
Schon Diodor (1, 94, 1-2) kennt sechs solche Gesetzgeber, die es verstan-
den hätten, ihren Gesetzeswerken zeitüberdauernde Stabilität und Autorität
zu verschaffen, indem sie diese als göttliche Weisungen ausgaben. Und zwar
war es der erste ägyptische König und Kulturstifter Mnevis (von Diodor auch
Mnenas oder Menes genannt), der sich als erster dieses Prinzips bediente, in-
dem er behauptete, Hermes habe ihm die Gesetze gegeben. In gleicher Weise
beriefen sich Minos in Kreta auf Zeus, Lykurg in Sparta auf Apollo, Zarathus-
tra bei den Iranern auf Ahura Mazda, Zalmoxis bei den Getern auf Hestia und
Moses bei den Juden auf Jahwe 8 ).
Hinzuzufügen ist, dass auch Hammurapi, der König von Babylon, seinen
berühmten um 1700 v. Chr. entstandenen „Codex Hammurapi" auf göttli-
che Eingebung zurückfuhrt. Dieses Gesetzgebungswerk Hammurapis mit
den Gesetzen seines Reiches und den Strafen fur ihre Übertretung sind auf
einer Steinstele eingemeißelt, die den König in Gebetshaltung vor dem Gott
Schamasch, dem Garanten der Gesetze, zeigt.
Und selbst für das römische Recht, das sich durch einen hohen Grad von
Rationalität auszeichnet, ist ein solcher religiöser Ursprung der Gesetze zu
vermuten. Dafür gibt es einige Anhaltepunkte: So berichtet Tacitus in seinem
Werk über die Geschichte Roms {ab urbe condita 3,26f.), der erste König
Roms, Romulus, habe Regelungen nach seinem Gutdünken getroffen (ut li-
bitum imperitaverat), während der zweite König, Numa Pompilius, mit sei-
nen Gesetzen das Volk an religiöse Regeln und göttliches Recht gebunden
habe (religionibus et divino iurepopulum devinxit). Die Bindung an göttliches
Recht in Rom scheint auch in den Begriffen fas und nefas auf, mit denen sak-
rale Gebote und Verbote gekennzeichnet werden. Dabei sind aberfas und ius
keineswegs streng von einander getrennt oder gar Gegensätze. Wie schon die
Floskel iusfasque bezeugt, greift das eine durchaus in das andere über 9 ). Einen
weiteren Hinweis auf den religiösen Ursprung auch des römischen Rechts fin-
den wir in dem Phänomen, dass wichtige Funktionen der Rechtspflege in Rom
seit alters der Priesterschaft der pontífices anvertraut war 10 ). Die pontífices
hatten als Hüter des römischen Staatsarchivs Kenntnis von den Staatsverträ-
gen, Gesetzen, Prozessentscheidungen und Rechtsgutachten. Ihnen fiel daher
8
) A s s m a n n (o. Anm. 7), S. 256, 272f.
9
) Vgl. Franz W i e a c k e r , Römische Rechtsgeschichte, München 1988, § 13 14d,
S. 275f.
,0
) W i e a c k e r (o. Anm. 9), § 15, S. 31 Off.

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6 Alfred Söllner f

als Aufgabe sowohl die Auslegung der Gesetze als auch die konkrete Fassung
der rechtserheblichen Spruchformeln und Geschäftsformulare zu, „die unver-
kennbar vom Stil der Opfer- und Gebetsformeln geprägt sind"").

III. Das Recht der Talion

Eine wichtige Aufgabe der Rechtsordnungen auf früher Stufe ist es, den
Rechtsfrieden aufrecht zu erhalten und die Verfolgung von Unrechtstaten
(Delikten) in geordnete Bahnen zu lenken. So steht am Anfang des Delikts-
rechts fast überall die Blutrache, deren schädliche Folgen für das Gemeinwe-
sen der sich entwickelnde Staat einzudämmen versucht. Dieser kann es nicht
dulden, dass sich das Staatsvolk durch ungezügelte Blutrache (Sippenfehde)
nach und nach selbst ausrottet. So wird der Blutrache bisweilen ein Verfah-
ren vor einem Staatsorgan (Richter, Gericht) vorgeschaltet, wo zunächst der
Sachverhalt untersucht und auf eine gütliche Einigung hingewirkt wird. Erst
beim Scheitern des Einigungsversuchs wird die Rache freigegeben. An die
Seite dieser verfahrensrechtlichen Vorkehrung tritt dann zumeist auch eine
materiellrechtliche Einschränkung der Blutrache durch das Gebot der Talion,
also durch den Grundsatz, dass der Verletzte „Gleiches (nur) mit Gleichem"
vergelten darf. Die Talion war aber weit davon entfernt, eine grausame Neue-
rung zu sein, wie das uns heutzutage erscheinen könnte. Ihre Einführung
bedeutete vielmehr eine spürbare Einschränkung der alten unbeschränkten,
tendenziell maßlosen Blutrache12).
Ihren Ursprung hatte die Talion sicherlich bei den Tötungsdelikten. Denn
bei Mord und Totschlag galt in Gesellschaften auf einer frühen Entwick-
lungsstufe wie selbstverständlich der Grundsatz, dass eine solche Tat nur
durch die Vollstreckung der Todesstrafe an der Person des Täters gesühnt
werden konnte13). Im nächsten Schritt wurde der Rechtsgedanke der Talion
auf Körperverletzungen ausgedehnt. Hier galt dann der Grundsatz „Wie du
mir, so ich dir!" Viele Rechtsordnungen kennen bereits auf einer frühen Ent-
wicklungsstufe das Prinzip der Talion für Körperverletzungen und behalten
es lange Zeit bei. Bei Körperverletzungen Gleiches mit Gleichem zu vergel-
ten, ist Sache des Verletzten oder seiner Sippe, während Tötungsdelikte auf
jener frühen Stufe oft schon von der Allgemeinheit verfolgt und geahndet
wurden.

") W i e a c k e r (o. Anm. 9), § 15 I 1, S. 310.


12
) Vgl. dazu nur R o m a n H e r z o g , Staaten der Frühzeit, 1988, S. 81.
13
) Vgl. etwa B u r k a r d W i l h e l m L e i s t , Alt-arisches Jus gentium, 1889, Nach-
druck Innsbruck 1978, hg. von W o l f g a n g M e i d , mit einem Vorwort von B e r n -
f r i e d S c h l e r a t h , S. 426f.

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Der zweite Merseburger Zauberspruch 7

1. A l t o r i e n t a l i s c h e s , ä g y p t i s c h e s u n d h e b r ä i s c h e s R e c h t :
Das Recht der Talion ist bereits in den altorientalischen Rechten zu finden.
In besonderer Weise ragt hier der bereits erwähnte Codex Hamurapi hervor 14 ).
Ebenso ist die Talion im alten Ägypten anzutreffen 15 )· Sehr gut lässt sich die
Talion im Alten Testament fur das hebräische Recht nachweisen, wo es im 2.
Buch Mose, dem Buch Exodus, 21,24, heißt:
Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand
um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule.
So grausam uns dieses „Gesetz der Wüste", wie man es auch nennt, er-
scheinen mag; es stellt einen Fortschritt gegenüber der ungezügelten Rache
dar, indem eben für ein Auge nur ein Auge und für einen Zahn auch nur
ein Zahn geschuldet wird. Dennoch scheinen die Hebräer bald schon zu der
Erkenntnis gelangt zu sein, dass ein gedeihliches Zusammenleben in einem
Volke nicht möglich ist, wenn seine Angehörigen untereinander nach diesem
Gesetz der Talion verfahren. So heißt es denn schon im 3. Buch Mose, dem
Buch Leviticus, 19,18:
„Du sollst nicht rachgierig sein, noch Zorn haben gegen die Kinder deines Volkes. Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."
Hieran knüpft, wie dem Matthäus-Evangelium 5,38-48 zu entnehmen ist,
das christliche Gebot der Nächsten- und Feindesliebe an.
2. I s l a m i s c h e s R e c h t :
Das islamische Recht wird ebenfalls vom Gedanken der Talion beherrscht,
wie sich aus verschiedenen Stellen des Korans ergibt. Fast immer wird aber
hinzugefügt, dass eine gütliche Einigung besser sei als der Vollzug der Talion.
So heißt es in der 2. Sure 173 (179):
Ihr Gläubigen! Für Tötung ist euch die Vergeltung mit Gleichem vorgeschrieben: ein
freier Mann für einen freien Mann, ein Sklave für einen Sklaven und ein Weib für ein
Weib! Verzeiht aber der Bruder dem Mörder, so ist doch ein angemessenes Sühnegeld
zu erheben. Der Schuldige soll bereitwillig zahlen.
In Sure 5,46 (149) wird das den Juden von Gott offenbarte mosaische Ge-
setz wie folgt zitiert:
Leben für Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr für Ohr, Zahn um Zahn. Auch
Wunden sollen mit Gleichem vergolten werden. Dem aber, der ein Sühnegeld an-
nimmt, werden seine Sünden verziehen. Es soll zur Versöhnung angenommen wer-
den.
In Sure 16,127 (128) wird den Gläubigen eingeschärft:

14
) Vgl. H e r z o g (o. Anm. 12), S. 289, 290ff.
15
) Vgl. R e n a t e M ü l l e r - W o l l e r m a n n , Zur Sanktionierung abweichenden Ver-
haltens im alten Ägypten, 2004, unter 5.1.9.

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8 Alfred Söllner t

Wenn ihr Rache an jemandem nehmt, so nehmt sie nur im Verhältnis des Bösen, wel-
ches er euch zugefügt hat. Doch wenn ihr das Böse mit Geduld hinnehmt, so ist das
noch besser für euch, die ihr geduldig ertragt.
Und nach Sure 42,40ff. darf die Wiedervergeltung fur Beleidigungen nur in
einem dem zugefugten Übel gleichkommenden Übel bestehen. Wer so han-
delt, kann nicht bestraft werden. Wer aber vergibt und sich aussöhnt, der wird
von Allah belohnt.
3. A n t i k e s r ö m i s c h e s R e c h t :
Im römischen Recht haben wir das Recht eines indogermanischen Volkes
vor uns, das, obwohl wir den Blick nach dem oben Gesagten primär auf struk-
turelle Gemeinsamkeiten von Rechtsordnungen richten wollen, in gewisser
Weise dem germanischen Rechtsdenken näher stehen dürfte als die bisher
erwähnten Rechte. Aber es zeigt sich hier kein gravierender Unterschied,
denn auch im antiken Rom wurde die ursprünglich unbeschränkte Blutrache
durch das Recht der Talion abgelöst. Ausdrücklich wird im Zwölftafelgesetz
(451/450 v. Chr.) die Talion angeordnet für eine schwere Körperverletzung,
welche die Zerstörung eines Gliedes zur Folge hat. Hier taucht auch der Be-
griff „Talion" erstmals auf. Vgl.
tab. 8,2: Si membrum rupsit, ni cum eopacit, talio esto.
(Wenn jemand einem anderen ein Glied zerstört hat, dann soll mit ihm, falls er sich
mit dem Verletzten nicht friedlich einigt, das Gleiche geschehen.)

IV. Von der T a l i o n zum K o m p o s i t i o n e n s y s t e m


1. Vom „ A b k a u f d e r R a c h e " zu g e n o r m t e n B u ß s u m m e n :
Wie der Blick auf die frühen Rechtsordnungen gezeigt hat, ruft das Recht
der Talion das Verlangen zu einem gütlichen Ausgleich auf den Plan. Der von
der Strafe der Talion bedrohte Übeltäter ist daran interessiert, dieser Sanktion
zu entgehen. Das kann er, indem er dem Geschädigten oder seiner Sippe eine
Sach- oder Geldleistung anbietet, die so hoch ist, dass deren Rachegelüste
damit besänftigt werden. Wo das Recht der Talion gilt, wird diese also nicht
immer vollzogen, sondern es kommt zunehmend zu einem „Abkauf des
Racherechts". Der jeweilige (religiöse oder staatliche) Gesetzgeber sieht das
im Allgemeinen nicht ungern, denn auf diese Weise werden körperliche Ver-
stümmelungen der Bürger vermieden.
Dies zeigt sich nicht nur sehr deutlich an den oben wiedergegebenen Stel-
len aus dem Koran, sondern auch aus dem genannten Rechtssatz der Zwölf-
tafeln (tab. 8,2). Danach setzt die Vollstreckung der Talion den Versuch einer
gütlichen Einigung zur Herstellung des Rechtsfriedens - wahrscheinlich vor
dem als Gerichtsmagistrat fungierenden Prätor - voraus („... nipacunt ...").

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Der zweite Merseburger Zauberspruch 9

Aber auch die Möglichkeit, die Talion durch eine zwischen Täter und Opfer
auszuhandelnde Bußzahlung oder Sachleistung abzuwenden, hat ihre Schat-
tenseiten: Der Reiche kann sich freikaufen, der Arme nicht. Das ruft dann
oft wieder den Gesetzgeber auf den Plan, der die einzelnen Bußsummen, mit
denen die Rache abgekauft werden kann, ein für allemal festsetzt.
2. D i e E n t w i c k l u n g d e s r ö m i s c h e n R e c h t s im B e s o n d e r e n :
Das römische Zwölftafelgesetz von 451/450 v. Chr. markiert in dieser Hin-
sicht eine Umbruchsituation. Während für den Verlust eines Gliedes - freilich
erst nach einem Friedensversuch - die Talion möglich ist, sieht das Gesetz für
geringere Grade der Verletzung, nämlich bei Knochenbruch und Blutwunde,
jeweils eine feste Buße (poena) vor, und zwar in unterschiedlicher Höhe fur
einen Freien und einen Sklaven.
tab. 8,2: Si membrum rupsit, Wenn jemand einem anderen ein Glied
zerstört hat, soll mit ihm,
ni cum eo pacit, falls er sich mit dem Verletzten nicht
friedlich einigt,
talio esto. das Gleiche geschehen.

tab. 8,3: Manu fustive si os fregit Wenn jemand mit der Hand oder mit
libero, einem Knüppel einem Freien einen
Knochen gebrochen hat,
CCC, si servo hat er 300 As, wenn einem Sklaven,
CL poenam subito. 150 As, als Buße auf sich zu nehmen.

tab. 8,4: Si iniuriam faxsit, Wenn er einem ein Unrecht (leichtere


Körperverletzung, blutende Wunde)
zugefügt hat,
viginti quinqué poenae sunto. sollen 25 As die Buße sein.
Sicherlich galt aber bei allen drei hier geregelten Tatbeständen auf der dem
Zwölftafelgesetz vorausgehenden Entwicklungsstufe ursprünglich das Recht
der Talion. Hierzu bemerkt Dieter Flach treffend 16 ): „Mit einem Wort, das
Zwölftafelgesetz hob die Talion nicht auf, schränkte aber ihre Geltung ein.
In den Fällen, in denen die Höhe der Strafe genormt war, musste der Kläger
auf Rache und Vergeltung verzichten, wenn sein Gegner die vorgeschriebene
Buße zahlte; in allen anderen war es ihm freigestellt, nach dem Grundsatz
,Auge um Auge, Zahn um Zahn' zu verfahren, sollte er sich mit dem Täter
nicht auf eine Entschädigung einigen."
Die gesetzliche Festlegung von Bußsummen fur einzelne Delikte, wie sie
in tab. 8,3 und 8,4 erfolgt ist, sollte in den beschriebenen Fällen die Talion
verdrängen. Feste Bußen haben jedoch den Nachteil, dass sie im Laufe der

l6
) D i e t e r F l a c h , Die Gesetze der frühen römischen Republik, 1994, S. 169.

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10 Alfred Söllner f

Zeit durch die - offenbar allenthalben unvermeidliche - Geldentwertung


wirkungslos werden können. So wurde in Rom schon in der frühen Repub-
lik der Kupfer-As durch eine neue Gewichtsfestsetzung und das Vordringen
von Gold- und Silbermünzen fast völlig entwertet. Welche Folgen das hatte,
zeigt die folgende Anekdote, die dem Zwölftafelkommentar des Juristen La-
beo, eines Zeitgenossen von Augustus, entstammt und uns von Aulus Gellius
(Noctes Atticae 20,1,13) überliefert worden ist: Der Römer L. Veratius mach-
te sich ein Vergnügen daraus, in der Öffentlichkeit Ohrfeigen auszuteilen.
Wenn die so Misshandelten aufbegehrten, wies der Übeltäter hohnlachend
auf den ihn begleitenden Sklaven, der bereitwillig die für Injurien im Zwölf-
tafelgesetz vorgeschriebene Buße von 25 As auszahlte - eine Summe, die in-
zwischen nur noch einen lächerlich geringen Wert hatte. Dieses Vorkommnis
hat offenbar dazu Anlass gegeben, die Injurienklage zur sog. actio iniuriarum
aestimatoria umzugestalten, bei welcher der Richter die Buße nach pflicht-
gemäßem Ermessen in einer Höhe festzusetzen hatte, welche geeignet war,
die Rachegelüste des Verletzten zu besänftigen („bonum aequum"). Die nach
Theodor Mommsen dem Rechtsgedanken der Talion zugrunde liegende „Auf-
fassung des Verbrechens und der Strafe als Rechnung und Gegenrechnung" 17 )
hatte sich damit wieder durchgesetzt.
3. R e l i k t e d e r T a l i o n i m g e r m a n i s c h e n R e c h t :
Tacitus berichtet in seiner Germania (De origine et situ Germanorum liber,
12), dass bei den Germanen Verräter und Überläufer gehängt, dass Feiglinge,
Kriegsscheue und Unzüchtige im Moor versenkt wurden, dass jedoch bei
leichteren Delikten, wie sie Körperverletzungen darstellen, die Strafe dem
Maß des Vergehens entsprach („pro modo poena"). In diesen Fällen musste
nach Tacitus der Täter mit einer Anzahl von Pferden und Rindern büßen, von
denen ein Teil dem König oder dem Stamm zukam, der andere Teil aber dem
Geschädigten oder seiner Sippe. In den in lateinischer Sprache verfassten
germanischen Volksrechten der Völkerwanderungszeit (Lex Salica, Lex Sa-
xonum usw.) findet man dann bereits ganze Kataloge solcher nach Schwere
der Verletzung und dem Stand des Geschädigten differenzierter Bußgelder
(sog. Wergeld-Kataloge). Da hier die Schwere der Verletzung mit der Höhe
der zu zahlenden Buße „ausgeglichen" wird, spricht man auch von einem
„Kompositionensystem".
Gerade dieses Kompositionensystem und das zeitlich vorhergehende
System von Bußen in Naturalien nach dem „Maß" der Verletzung („pro mo-
do"), wovon Tacitus berichtet, sind untrügliche Zeichen dafür, dass für Kör-

17
) T h e o d o r M o m m s e n , Römisches Strafrecht, 1899, Neudruck 1961, S. 4.

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Der zweite Merseburger Zauberspruch 11

perverletzungen auf einer noch früheren Stufe der Rechtsentwicklung auch


bei den Germanen das Recht der Talion galt.

V. D e r z w e i t e M e r s e b u r g e r Z a u b e r s p r u c h im V e r g l e i c h m i t
d e r R e g e l u n g d e r Z w ö l f t a f e l n in t a b . 8,2-8,4

Ruth Klüger schrieb 1999 in der „Frankfurter Anthologie" unter der Über-
schrift „So fing es an" über den zweiten Merseburger Zauberspruch das Fol-
gende 18 ): „Unter den verschiedenen ,Verrenkungen' (Knochen-, Blut- und
Gliederverrenkungen) können wir uns im heutigen Deutsch nichts Rechtes
vorstellen, doch im Original weisen sie auf Verletzungen hin, von denen wir
gar nicht so genau wissen wollen, was es damit auf sich hat." Aber diese
Verletzungstatbestände, nämlich benrenki, bluotrenki und lidirenki, erhal-
ten überraschend Konturen, wenn man sie mit den im Zwölftafelgesetz tab.
8,2-8,4 genannten Tatbeständen vergleicht, denen sie auffallend ähneln,
nämlich Verlust eines Gliedes, Knochenbruch und Blutwunde. Bei diesem
Vergleich ist zu berücksichtigen, dass das Zwölftafelgesetz nur in Form von
Fragmenten in Berichten antiker Schriftsteller überliefert ist19). Daher ist die
Abfolge der einzelnen Fragmente nicht gesichert. Es kann durchaus sein, dass
im Zwölftafelgesetz die Regelung über die festen Bußsätze bei Knochenbruch
und Blutwunde (tab. 8,3 und 8,4) der Freigabe der Talion bei Verlust eines
Gliedes vorausging, dass also im Gesetzestext die Tatbestände in der Reihen-
folge Knochenbruch - Blutwunde - Verlust eines Gliedes genannt waren, d. h.
in derselben Reihenfolge wie im zweiten Merseburger Zauberspruch. Hinzu
kommt gegen Ende des Zauberspruchs die stabreimförmige Gegenüberstel-
lung ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi gelideη, die doch unwillkürlich an das
alte Gesetz der Talion „Auge um Auge, Zahn um Zahn" denken lässt.
So ist vielleicht die Vermutung erlaubt, dass ein Germane, der augenschein-
lich die Funktionen eines Priesters, Sehers und Dichters in sich vereinigte,
unseren Text verfasst hat, um den Rechtsgedanken der Talion zu formulieren,
und dass er diesen Rechtsgedanken, um ihm größere Autorität zu verleihen, in
eine im germanischen Götterhimmel spielende Geschichte einbettete. Unter
dieser Annahme ist die Quintessenz dieser Geschichte, dass die genannten
Unrechtstaten in folgender Weise gesühnt werden:
benrenki - ben zi bena Knochenbruch - Knochen um Knochen
bluotrenki - bluot zi bluoda Blutwunde - Blut um Blut
lidirenki - lid zi geliden Gliedverlust - Glied um Glied.

18
) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 2. 1999.
19
) Im Einzelnen wiedergegeben von D i e t e r F l a c h (o. Anm. 16), S. 165-169.

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12 Alfred Söllner f

Dabei ist keineswegs daran zu denken, dass der Verfasser unseres Textes
die römischen Zwölftafeln gekannt hätte, oder dass hier indogermanisches
Erbe treu bewahrt worden sei20). Man darf aus der „typologischen Verwandt-
schaft" der Texte nicht auf eine „historische Verwandtschaft" schließen. Es
handelt sich vielmehr um ethnologische Parallelen21).
Gegen die hier angenommene Parallelität mit der Regelung im römischen
Zwölftafelgesetz könnte man einwenden, dass in unserer Geschichte ein Foh-
len („volon") verletzt worden sei, während die Rechtssätze des Zwölftafel-
gesetzes die Verletzung von Menschen betreffen22). Aber die in unserem Text
erzählte Geschichte bezieht sich bei näherer Betrachtung gar nicht auf die
Verletzung eines Pferdes, sondern ist insgesamt anders zu verstehen.

VI. N e u e D e u t u n g des Z a u b e r s p r u c h s
1. „ P h o l " :
Der an erster Stelle unseres Textes genannte „Phol" bereitet der Wissen-
schaft bis heute Kopfzerbrechen, weil dieser Name nur hier und sonst nir-
gends auftaucht. So hat man Phol teils mit dem in der zweiten Zeile genannten
Gott Balder in eins setzen, teils ihn als das „Fohlen", auf dem Wotan geritten
sei, ansehen wollen23). Bei all dieser Ungewissheit bleibt jedoch der „Ansatz,
in Phol eine göttliche Figur zu sehen, ... unter Beachtung der anderen Prota-
gonisten des Zweiten Merseburger Zauberspruchs am „einleuchtendsten"24).
In diesem Zusammenhang ist besonders bedeutsam, dass der Schreiber der
Merseburger Handschrift zunächst „Pol" geschrieben hatte, dann aber augen-
scheinlich über das „o" noch ein hochgestelltes „h" hinzufügte, so dass nun
eindeutig „Phol" zu lesen ist. Sicherlich tat der Schreiber dies, um zu verdeut-
lichen, dass der Name mit einem „f'-Laut begann. „Also rasch ein kleines h
übergeschrieben, um das ρ als f-Laut kenntlich zu machen; und das verrenkte
Wort war schneller geheilt als der verrenkte Fuß"25).
Aus der Tatsache, dass in unserem Text ansonsten f-Laute durch ein u wie-
dergegeben werden (uuodan, uuorun, uuart usw.), hat man zu Recht gefolgert,
dass das Wort Phol auch Uol oder Vol geschrieben werden kann26). Hieraus

20
) S c h l e r a t h (o. Anm. 6), S. 141.
21
) S c h l e r a t h (o. Anm. 6). - Weitere Nachweise bei B e c k (o. Anm. 1), S. 256.
22
) Wie sich eindeutig aus der unterschiedlichen Behandlung von Freien und Skla-
ven in tab. 8,2 ergibt.
23
) Vgl. B e c k (o. Anm. 1), S. 91-120.
24
) B e c k (o. Anm. 1), S. 120.
25
) So Felix Genzmer, zitiert nach B e c k (o. Anm. 1), S. 98 Fußnote 54.
26
) B e c k (o. Anm. 1), S. 97-100.

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Der zweite Merseburger Zauberspruch 13

wiederum ergibt sich, dass in der Passage demo balderes uolon in der zweiten
Zeile des Textes das Wort uolon sowohl die Dativform von volo = Fohlen als
auch von uol = Phol sein kann. Weit verbreitet ist die Auffassung, dass Phol
aus diesem Grunde nichts anderes sei als das von Wotan gerittene „Fohlen" 27 ).
„Identisch sind nicht Phol und Balder, sondern Phol und Balderes volo"28).
Aber einen germanischen Gott setzt man wohl kaum auf ein Fohlen, worunter
doch nur ein sehr junges Pferd zu verstehen ist29). Folglich ist „volon" nicht
als Fohlen, sondern als Dativform des Gottes „Phol" zu begreifen 30 ). Diese
Annahme vermag viele Rätsel des Textes zu lösen. Denn wenn volon der bis-
lang missverstandene Dativ des Namens Phol ist, dann wurde bei dem Ritt
von Phol und Wotan kein Pferd verletzt, sondern „dem Phol(en)", also dem
Gott Phol selbst, „sein Fuß verrenkt". Mit dieser Deutung entfällt auch ein oh-
nehin zweifelhaftes Argument, das man bisher fur die Qualifizierung unseres
Textes als „Zauberspruch" ins Feld gefuhrt hat, nämlich dass auf Brakteaten
(Goldschmuckstücken) aus dem 5./6. Jahrhundert Wotan abgebildet ist, wie
er ein Pferd heilt, das ein krankes Bein hat 31 ).
2. „ B a l d e r " :
Es bleibt zu klären, was es mit der Erwähnung Balders in der Passage demo
balderes volon auf sich hat. Längst vermutet man, dass es sich bei der Geni-
tivform balderes um ein Epitheton oder Appellativum handelt, wobei diejeni-
gen, die Phol als Fohlen verstehen, der Ansicht sind, damit solle verdeutlicht
werden, dass es sich um Wotans Pferd gehandelt habe32). Aber Balder ist in
der germanischen Mythologie eine eigenständige Götterfigur. So liegt die
Annahme nahe, dass mit der Erwähnung Balders in unmittelbarem Zusam-
menhang mit Phol dessen Zugehörigkeit zur Sippe Balders gekennzeichnet
werden sollte. Vermutlich war Phol der Sohn Balders. Denn ein Sohn Balders
ist in der nordischen Mythologie unter dem Namen Forseti bekannt, und zwar

27
) H e r m a n n G o e l l , Illustrierte Mythologie der Hellenen, Römer, Germanen,
Iranier und Inder, 8. Aufl. 1905, S. 268. Weitere Nachweise bei B e c k (o. Anm. 1),
S. 104-106.
28
) So A r n o S c h i r o k a u e r , Der Zweite Merseburger Zauberspruch, in: Corona,
Studies (in Philology) in Celebration of the 80th Birthday of Samuel Singer, Durham
1941, S. 117-141, 122; zitiert nach B e c k (o. Anm. 1), S. 106.
29
) Vgl. B e c k (o. Anm. 1), S. 155, 156 mit Fußnote 436.
30
) N a c h B e c k (o.Anm. 1),S. 155 Fußnote 435 hat diese Auffassung Achim Mas-
ser bereits 1972 vertreten. Er hat darin aber offenbar keine Gefolgschaft gefunden.
31
) Erhebliche Zweifel an dieser Argumentation äußert Β eck (o.Anm. l),S.267ff.,
273. - Die in Frage kommenden Brakteaten sind bei B e c k (o.Anm. 1) als Abbildun-
gen Nr. 2-15 wiedergegeben.
32
) Nachweise bei B e c k (o. Anm. 1), S. 147.

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14 Alfred Söllner f

als Gott des Rechts und der Gesetze33). Es spricht viel dafür, dass Forseti mit
Phol identisch ist. Dann aber bedeutet demo balderes volon sinngemäß „dem
(Gott) Phol, dem Sohne von (Gott) Balder".
3. „ t h u b i g u o l e n " :
Der in unserem Text an erster Stelle noch vor Wotan genannte Phol ist der
persönlich Geschädigte und als solcher ist er auch das Subjekt des weiteren
Geschehensablaufs. Phol wendet sich nämlich an die Sippe des Schädigers Wo-
tan, um für das erlittene Unrecht Genugtuung zu erlangen. Dreimal hebt er in
unserem Text an, um seine Rache anzudrohen, jedes Mal eingeleitet mit dem
Wort jhu \ das doch sehr dem Wort „thus" im heutigen Englisch ähnelt. Thu
kann auch hier als „deswegen" verstanden werden. „Deswegen", d. h. wegen
der zuvor geschilderten erlittenen Unbill, wendet sich Phol nacheinander an
die Göttinnen und an Wotan.
Die Verbform biguol bedeutet, dass jemand „eine Zauberformel aufsagt"
oder „zauberische Wünsche ausspricht"34). Aber „Zauber" ist zu jener Zeit
vorwiegend kein guter, sondern ein böser Zauber35). So sind es nicht Sinth-
gunt, Freia und Wotan, die „Heil- und Segenswünsche" über den verletzten
Pferdefuß aussprechen, sondern es ist Phol, der „Verwünschungen" äußert
oder „Flüche" von sich gibt, und zwar zunächst gegenüber Sinthgunt, der
Schwester der Sunna, dann gegenüber Freia, der Schwester der Volla36), und
schließlich auch gegenüber Wotan, dem Göttervater selbst. Das Wort biguol
ist im modernen Englisch als to beguile im Sinne von „täuschen, betrügen" -
also mit einem anderen, aber nach wie vor negativen Sinngehalt - erhalten
geblieben37); und zwar in Wendungen wie to beguile in a person oder to a
person oder at a person. Es handelt sich also um ein Verbum, das seiner Natur
nach stets ein Präpositionalobjekt erfordert. Auf diese Weise erklärt sich auch
das Wort „en" in unserem Text, das jeweils auf das dreimalige biguol folgt. Es
ist als die vom Verb biguol geforderte Präposition „in" (oder „an") und nicht
als „ihn" (nämlich den Pferdefuß im Sinne eines Akkusativobjektes) zu ver-
stehen.
33
) W i l h e l m G r ö n b e c h , Kultur und Religion der Germanen, Sonderausgabe der
Wiss. Buchgesellschaft 2004, II S. 253; G o e l l (o. Anm. 27), S. 288, 294.
34
) Vgl. B e c k (o. Anm. 1), S. 162f.
35
) Zu dieser bösen Seite der Zauberei vgl. G r ö n b e c h (o. Anm. 33), S. 340ff.
36
) Für unsere Betrachtung ist es unwesentlich, ob es sich um vier Göttinnen han-
delt, deren Namen asyndetisch angeordnet sind (vgl. B e c k (o. Anm. 1), S. 284-286),
oder ob - was wahrscheinlicher ist - mit dem Hinzufugen der Schwesternamen Sunna
und Volla die Zugehörigkeit von Sinthgunt und Freia zur Sippe Wotans verdeutlicht
werden sollte.
37
) Vgl. Ruth K l ü g e r (o. Anm. 18).

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Der zweite Merseburger Zauberspruch 15

4. D i e Z a u b e r f o r m e l :
So spricht denn auch Phol - und nicht, wie bisher falschlich angenommen,
Wotan - die Stabreimverse am Ende unseres Textes. Phol droht nämlich den
Göttinnen und Wotan, „so wie er" (als Gott des Rechts und der Gesetze) „es
gut konnte" (so he vola conda)38), seine Absicht an, Rache zu nehmen, jedoch
nicht unbeschränkt, sondern nach dem Maß der Talion, wie es für einen Kno-
chenbruch (benrenki), eine Blutwunde (bluotrenki) und für den Verlust eines
Gliedes (lidirenki) Rechtens sein sollte, nämlich Knochen um Knochen {ben
zi bena), Blut um Blut (bluot zi bluota), Glied um Glied (lid zi geliden).
5. „ s o s e g e l i m i d a s i n " :
Die Verbform gelimida ist als Partizip Perfekt Passiv Neutrum Plural zu
bestimmen, bezieht sich also auf alle drei der zuvor genannten Arten von Ver-
letzungen 39 ). Auf den ersten Blick scheint die Wortform gelimida am ehesten
unserem „geleimt" zu entsprechen. Aber damit würde man es sich zu leicht
machen. Selbst die bisher herrschende Meinung konnte nicht allzu eng an
der Bedeutung „geleimt" festhalten, denn eine Heilung durch „Zusammen-
kleben" ist nur schwer vorstellbar 40 ). Man muss daher an einen anderen Sinn
des althochdeutschen Verbs limen denken.
Und hier kommt uns in der Tat die Glosse Abrogans 138,1641) zu Hilfe:
,.fautor slitheo
quifavit der limit
ve/ consentit edo cahangit"
Danach ist der lateinische fautor im Althochdeutschen der „Schlichter"
oder „Besänftiger" 42 ), und dessen Tätigkeit, nämlich das Besänftigen von Zer-
strittenen, wird mit dem Verbum limen zum Ausdruck gebracht. Oder, so sagt
die Glosse weiter, fautor ist auch derjenige, der mit etwas „einverstanden"
ist43). In diesem und keinem anderen Sinne ist auch in unserem Kontext das

38
) Diese Deutung von „so he uuola conda" ist durch Parallelen in anderen Texten
gesichert. Vgl. B e c k (o. Anm. 1), S. 189f.
39
) Vgl. B e c k (o. Anm. 1), S. 200.
40
) Vgl. B e c k (o. Anm. 1), S. 201 mit Anm. 759, 760.
41
) Der „Abrogans" ist als das erste, bereits vor der Wende vom 8. zum 9. Jahrhun-
dert entstandene lateinisch-althochdeutsche Wörterbuch besonders aussagekräftig.
42
) Vgl. G e r h a r d K ö b l e r , Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes,
1993. s. v. slihten, slihto.
43
) In der St. Galler Handschrift der Glosse Abrogans (hg. von B . B i s c h o f f / J .
D u f t / S t . S o n d e r e g g e r , St. Gallen 1977) findet sich hier (120, 10) statt cahangit
die Form kihengit. Das Verbum gihengen hat nach G e r h a r d K ö b l e r (o. Anm. 42)
die Bedeutung von „erlauben, zulassen, zugestehen, zustimmen, einverstanden sein,
billigen". Weitere Belege hierfür finden sich in der St. Galler Handschrift der Glosse

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Wort gelimida zu verstehen: Wenn die geschilderten Missetaten durch die


Talion gesühnt worden sind, dann soll damit (sose) alles „geschlichtet" und
das allseitige „Einverständnis" wiederhergestellt sein.
Das ist im Ergebnis ein weiterer Beleg für unsere Annahme, dass es hier
nicht um Glück- und Segenswünsche für ein verletztes Pferd geht, sondern
um die Rechtsfolgen von Körperverletzungen: Wenn eine der drei geschil-
derten Körperverletzungen begangen worden ist, so ist mit der Talion, d. h.
mit der Vergeltung des Gleichen mit dem Gleichen, die Missetat vergolten
und der Rechtsfriede wiederhergestellt. Darüber hinausgehende Sanktionen
sind unzulässig.

VII. Schlussfolgerung
Phol, dem germanischen Gott der Gerechtigkeit und der Gesetze, wird im
zweiten Merseburger „Zauberspruch" das Recht der Talion für Körperverlet-
zungen in den Mund gelegt. Dahinter steht sicherlich unausgesprochen die
Vorstellung, dass das, was im Götterhimmel Rechtens ist, in gleicher Weise
auf Erden unter den Sterblichen zu gelten hat. Der Text ist demnach etwa wie
folgt ins heutige Deutsch zu übertragen:
Phol ende uuodan uuorun zi holza.
du uuart demo balderes uolon sin
uuoz birenkict.
thu biguol en sinthgunt, sunna era
suister;
thu biguol en friia, uolla era
suister;
thu biguol en uuodan, so he uuola
conda:

sose benrenki, sose bluotrenki,


sose lidirenki:
ben zi bena, bluot zi bluoda,
lid zi geliden,
sose gelimida sin.

Phol und Wotan ritten im Wald.


Da wurde dem Phol, dem Sohne Balders, sein
Fuß verletzt.

unter 16,17: consentit - cahangit und 29,14—15: adsentator - gihangando. Vgl. hier-
zu auch S c h l e r a t h (o. Anm. 6), S. 142f., der hieraus allerdings nur Folgerungen im
Sinne der herkömmlichen Auffassung zieht.

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Der zweite Merseburger Zaubersprach

Deswegen verwünschte er Sinthgunt,


die Schwester der Sunna,
Deswegen verwünschte er Freia,
die Schwester der Volla,
Deswegen verwünschte er Wotan
(und drohte ihnen Rache an),
so wie er es gut konnte:
„Bei Knochenbruch, Blutwunde und
Verlust eines Gliedes (gilt):
Knochen um Knochen, Blut um Blut,
Glied um Glied.
So sollen diese (Verletzungen) gesühnt sein."

5 Brought
Zeitschrift fiir Rechtsgeschichte. CXXV. to you
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