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Hans Castorp Ein Fragment
Hans Castorp Ein Fragment
769-770
»Ich bitte darum«, sagte Peeperkorn höflich, worauf Hans Castorp fortfuhr:
»Ich bin seit langer Zeit hier oben, Mynheer Peeperkorn, seit Jahren und Tagen, - genau weiß ich es nicht, wie
lange, aber es sind Lebensjahre, darum sprach ich von ›Leben‹, und auch auf das › Schicksal‹ werde ich im rechten
Augenblick noch zurück- kommen. Mein Vetter, den ich etwas zu besuchen dachte, ein Militär, der es redlich und
brav im Sinne hatte, aber das half ihm nichts, ist mir hier weggestorben, und ich bin immer noch da. Ich war nicht
Militär, ich hatte einen Zivilberuf, wie Sie vielleicht gehört haben, einen handfesten und vernünftigen Beruf, der
angeblich sogar in völkerverbindender Richtung wirkt, aber ich war ihm nie sonderlich verbunden, das gebe ich zu,
und zwar aus Gründen, von denen ich nur sagen will, daß sie im dunklen liegen: Sie liegen da zusammen mit den
Ursprüngen meiner Empfindungen für Ihre Reisebegleiterin - ich nenne sie ausdrücklich so, um zu bekunden, daß es
mir nicht einfällt, an der positiven Rechtslage rütteln zu wollen -, meiner Empfindungen für Clawdia Chauchat und
meines Duzverhältnisses zu ihr, das ich nie verleugnet habe, seit ihre Augen mir zuerst begegneten und es mir
antaten, - es mir in unvernünftigem Sinne antaten, verstehen Sie. Ihr zuliebe und Herrn Settembrini zum Trotz habe
ich mich dem Prinzip der Unvernunft, dem genialen Prinzip der Krankheit unterstellt, dem ich freilich wohl von
langer Hand und jeher schon unterstand, und bin hier oben geblieben, - ich weiß nicht mehr genau, wie lange, ich
habe alles vergessen und mit allem gebrochen, mit meinen Verwandten und meinem flachländischen Beruf und allen
meinen Aussichten. Und als Clawdia abreiste, habe ich auf sie gewartet, immer hier oben gewartet, so daß ich nun
dem Flachland völlig abhanden gekommen und in seinen Augen so gut wie tot bin. Das hatte ich im Sinn, als ich von
›Schicksal‹ sprach und mir anzudeuten erlaubte, daß es mir allenfalls zustände, mich über die gegenwärtige
Rechtslage zu beklagen. Ich habe einmal eine Geschichte gelesen, - nein, ich habe sie im Theater gesehen, wie ein
gutmütiger Junge - er war übrigens Militär, wie mein Vetter - es mit einer reizenden Zigeunerin zu tun bekommt, -
sie war reizend, mit einer Blume hinter dem Ohr, ein wildes, fatales Frauenzimmer, und sie tat es ihm dermaßen an,
daß er vollständig entgleiste, ihr alles opferte, fahnenflüchtig wurde, mit ihr zu den Schmugglern ging und sich in
jeder Richtung entehrte. Als er soweit war, hatte sie genug von ihm und kam mit einem Matador daher, einer
zwingenden Persönlichkeit mit prachtvollem Bariton. Es endete damit, daß der kleine Soldat, kreideweiß im Gesicht
und in offenem Hemd, sie vor dem Zirkus mit seinem Messer erstach, worauf sie es übrigens geradezu angelegt hatte.
Es ist eine ziemlich beziehungslose Geschichte, auf die ich komme. Aber schließlich, warum fällt sie mir ein?«