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Herbert Huber

Kleines Handbuch
für Ministranten
und Gottesdienstbesucher

Türkheim 2004
In praeceptoris venerabilis
Sacerdotisque

Vinzenz Irger
18. 7. 1898 – 14. 6. 1986

memoriam
grato animo dedicatum

2
Inhalt
Zur Einleitung (4)

Erster Teil: Was es bedeutet, zu ministrieren (6)

Zweiter Teil: Liturgische Geräte und Priesterliche Gewänder (9)


I. Die heiligen Geräte (9)
Warum haben die Geräte lateinische Namen? (9)
Warum nennen wir die Geräte heilig? (9)
II. Einige der heiligen Gewänder (11)
Was bedeuten Kleider? (11)
Das Gewand Christi (12)
Die einzelnen priesterlichen Gewänder in der Reihenfolge ihres Anlegens (13)

Dritter Teil: Gott, Gebet, Opfer. Vorüberlegungen zum tieferen Verständnis der Heiligen Messe (15)
I. Gott (15)
II. Kult (16)
Gebet (17)
Opfer (18)
III. Was ist die Heilige Messe? (21)
IV. Was in der Heiligen Messe geschieht, kann man nicht erklären,
aber man muss sich doch um ein Verständnis bemühen (21)

Vierter Teil: Über das Sühnopfer Christi (23)


I. Schuld und Sühne (23)
II. Das stellvertretende Opfer der Gottheit (25)
III. Gottes Liebesopfer: Menschwerdung (28)
An unserer Statt: Gottes Liebe (28)
Einer und alle: Freiheit als Feld von Wechselwirkungen (29)
„Abgestiegen zu der Hölle“: Christi Sieg über den Satan (29)
Wie werden wir der Kraft Christi teilhaftig und dieser Teilhabe würdig? (31)
IV. Christus, der ewige Hohepriester (31)

Fünfter Teil: Vorläufer Christi (32)


I. Abel (32)
II. Abraham (32)
III. Melchisedech (34)

Sechster Teil: Das Opfermahl Christi (37)


I. Mahl und Opfer (37)
II. Der Gral (37)
Die Sage (37)
Die Wirklichkeit (38)
Das Opfermahl (38)
III. Ministrantendienst ist Gralsritterdienst (39)

Siebenter Teil: Feste im Kirchenjahr (40)


I. Advent (40)
II. Weihnachten (41)
III. Erscheinung des Herrn: „Heilig drei König“ (42)
IV. Mariae Reinigung: „Lichtmess“ (43)
V. Mariae Verkündigung (44)
Wunder (44)
„Bei Gott ist kein Ding unmöglich“ (45)
„Geboren aus Maria, der Jungfrau“ (46)
VI. Palmsonntag: Zweiter Passionssonntag (46)
VII. Gründonnerstag (47)
VIII. Ostersonntag (48)
IX. Christi Himmelfahrt (49)
X. Pfingsten (51)
XI. Dreifaltigkeitssonntag (52)
XII. Fronleichnam (53)

3
Zur Einleitung

Das hier vorgelegte Handbüchlein will keine äußeren und technischen Hi nweise auf den Ministrantendienst
geben (also etwa wie man eine Kniebeuge macht, wie man das Weihrauchfass schwingt, wie man richtig inzen-
siert und dergleichen mehr), sondern es will – vor allem Ministranten, aber auch anderen Gottesdienstbesuchern
– zu einem besseren Verständnis der Heiligen Messe behilflich sein.

Erste Fassungen der folgenden Blätter sind anlässlich der Ausbildung neuer Ministranten entstanden. Mancher
mag sich fragen, ob nicht vieles darin für Ministranten, die, wenn sie ihren Dienst beginnen, meist gerade die
Erstkommunion hinter sich haben, zu schwierig ist. Das ist zweifellos bei manchen Abschnitten der Fall. Aber
zum einen versehen Ministranten ihren Dienst in der Regel über viele Jahre hinweg, und mit zunehmendem
Alter wird das Verständnis auch für die schwierigeren Teile wachsen. Ab dem elften oder zwölften Lebensjahr
wird es normalerweise kaum mehr Verstehensprobleme geben. Zum anderen ist das Büchlein nicht nur für das
selbstständige Lesen gedacht, sondern vor allem auch als Grundlage für Ministrantenstunden, in denen die ange-
sprochenen Themen von Mesner, Kaplan, oder wer immer mit den Ministranten arbeitet, behandelt und zusam-
men mit den Ministranten erschlossen werden. Dabei sind ganz unterschiedliche Ansatzpunkte, Perspektiven
und Methoden denkbar, je nach der persönlichen Zugangsweise des Verantwortlichen und der konkreten Situa-
tion der Ministrantengruppe. Auf diese Weise kann man die Sachen ganz unabhängig von den gegenwärtigen
Blättern präsentieren: Diese dienen dabei dann lediglich als Leitfaden, Zusammenfassung und Er-
innerungsstütze. Außerdem ist auch daran gedacht (und es ist tatsächlich geschehen), dass ältere Geschwister,
Eltern oder sonstige Gottesdienstbesucher sich einmal die Blätter ansehen und so etwas mehr über den Hinter-
grund dessen erfahren, was die Ministranten tun. Das gegenwärtige Büchlein ist jedenfalls der Versuch, den
Kindern etwas an die Hand zu geben, das sie auch in späteren Jahren als älter und reifer gewordene Menschen
noch mit Gewinn lesen können. Es gibt nichts Nutzloseres als Texte, die man nur im Augenblick gebrauchen
kann, weil man in zwei Wochen oder Jahren schon über sie hinausgewachsen ist. Über wichtige Dinge braucht
man Texte, mit denen man nicht auf Anhieb „fertig“ ist, sondern die auch dann noch Gehalt besitzen, wenn man
sie mit mehr Wissen, mit weiter gewordenen Kenntnissen und mit größerer Lebenserfahrung wiederliest.

Derzeit gibt es innerhalb der katholischen Kirche mancherorts Verständigungsprobleme hinsichtlich der Heil i-
gen Messe. Die einen möchten die „alte“ tridentinische Messe, wie sie vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil
war, weiterhin gelesen wissen, die anderen halten die Liturgiereform des genannten Konzils, den sogenannten
Novus Ordo für eine große Errungenschaft, die sie gegen „vorkonziliare“ konservative Katholiken durch ein
Verbot der tridentinischen Messe verteidigen zu müssen glauben. Das vorliegende Büchlein geht davon aus,
dass die tridentinische Messe wie auch die Messe nach dem Novus Ordo, sofern er nach den römischen Vor-
schriften vollzogen wird, auf gleich legitime Weise dasselbe katholische Messopfer feiern. Man mag darüber
streiten, in welchem der beiden Riten der sakramentale Inhalt sowie die ihm geschuldete Ehrfurcht deutlicher
und durchdachter zum Ausdruck kommen. Diesen Streit möchte ich hier jedoch in keiner Weise führen. Ich
halte mich vielmehr daran, dass in beiden Riten dasselbe Kreuzesopfer Christi unblutig vergegenwärtigt wird.
Den Opfercharakter der Heiligen Messe hat nicht allein die gesamte Überlieferung bis zum Konzil von Trient1
ganz deutlich festgehalten, sondern auch das Zweite Vatikanische Konzil2, das Messbuch des Novus Ordo3 und
besonders eindringlich der Katechismus der Katholischen Kirche4 bekennen sich eindeutig dazu. Man soll die
beiden Riten nicht vermischen, denn das würde zu Brüchen und Missverständnissen führen. Aber man sollte
sich immer darüber klar bleiben, dass Christus durch den Priester in der tridentinischen Messe dieselbe Wand-
lung von Brot und Wein in sein göttliches Fleisch und Blut vollzieht wie im Novus Ordo. Deshalb müssen alle
Messdiener – die Ministranten der tridentinischen Messe genauso wie die Ministrantinnen und Ministranten des
Novus Ordo – zu einem Verständnis dieses Opfers hingeführt werden. Dazu möchte dieses Büchlein ein wenig
helfen. Da der Opfercharakter der Heiligen Messe seit längerem weder im Religionsunterricht noch in der Erst-
kommunion- und Firmvorbereitung in angemessener Weise behandelt wird, wäre vielleicht auch daran zu den-
ken, die gegenwärtigen Blätter für den Religionsunterricht und zur Vorbereitung der Betreuer von Erstkommu-
nionkindern zu verwenden. Denn in diesen Bereichen ist es genauso wichtig wie für Ministranten, zu verstehen,
worum es beim Messopfer geht.

1 Konzil von Trient, XXII. Sitzung, 17. September 1562 ( Heinrich Denzinger / Adolf Schönmetzer (Hg): Enchi-
ridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum [34Freiburg im Breisgau: Herder
1967, Nr. 1740])
2 Sacrosanctum Concilium Nr. 7
3 Institutio generalis 2000, Nr. 1 und 2
4 Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 1362-1372

4
Die Heilige Schrift führe ich nach dem Text des hl. Hieronymos, der sogenannten Vulgata (der „Weitverbre i-
teten“), an, weil das der klassische katholische Text der Bibel ist, der seit dem fünften Jahrhundert in allen Mes-
sen gelesen wurde, auf den sich alle Konzilien bezogen, und der bis heute im tridentinischen Ritus verwendet
wird. Die gegenwärtig üblichen Bibelausgaben, wie etwa die Einheitsübersetzung, weichen in der Zählung der
Psalmen zwischen Psalm 10 und Psalm 145 (inclusive) von derjenigen der Vulgata ab. Das hängt damit zu-
sammen, dass die Vulgata die in der hebräischen Vorlage getrennten Psalmen 9 und 10 zu einem Psalm 9 ver-
bindet, wodurch in der weiteren Zählung dem Hebräischen gegenüber eine Nummer fehlt. Den hebräischen
Psalm 147 aber zerlegt die Vulgata in zwei Psalmen 146 und 147, wodurch die fehlende Nummer wieder ausge-
glichen ist und ab 148 die Zählung wieder gleich ist. Die unter Papst Pius XII herausgegebene neuere Version
des Bibeltextes folgt in beiden Fällen dem Hebräischen. Dem schließt sich die deutsche Einheitsübersetzung an.
Das hat zur Folge, dass sich die Nummern der Psalmen von Psalm 10 ab mit einschließlich Psalm 146 um plus
eins verschieben (Ps 10 der Vulgata entspricht Ps 11 der Einheitsübersetzung und so fort).

Auch im Titel alttest amentlicher Bücher weichen gegenwärtige Bibelausgaben von der Vulgata hie und da ab.
Das hängt damit zusammen, dass die Texte schon in der Antike bei ihrer Übersetzung in’s Griechische teils neu
abgeteilt, teils neu betitelt wurden. So bildeten beispielsweise die beiden Samuelbücher ursprünglich nur ein
Werk, das man aber auf zwei Schriftrollen verteilt hatte, was dann Anlass gab, sie als zwei Bücher zu zählen. Ihr
Name rührt daher, dass die jüdische Überlieferung sie für ein Werk des Propheten Samuel hielt. Da das jedoch
nicht stimmt und außerdem die Samuelbücher mit den Königsbüchern darin übereinkommen, dass sie einen
Abschnitt der Geschichte des jüdischen Reiches darstellen, hat man in der griechischen Fassung des Alten Tes-
tamentes die beiden Samuelbücher mit den zwei Königsbüchern zusammengestellt und damit vier „Bücher der
Könige“ erhalten. Diese Namen und Zählweise hat der hl. Hieronymus deshalb auch aus der griechischen Bibel
übernommen. Für den Text seiner lateinischen Übersetzung hat er aber das hebräische Original zugrunde gelegt.
Die heutigen Ausgaben gehen hingegen auch auf den alten hebräischen Namen der Samuelbücher zurück, der
eine (falsche) Verbindung mit dem Propheten Samuel andeutet. Ich folge hier, wie gesagt, dem hl. Hieronymus
und vermerke an den wenigen Stellen, wo das nötig ist, die Abweichung zu anderen Bibelausgaben in eckigen
Klammern (bei den Psalmen) oder in einer Fußnote (bei den Buchnamen).

Das Verständnis dessen, worum es in der Heiligen Messe geht, lässt sich nur durch eine Verschränkung phil o-
sophischer, religionsgeschichtlicher und theologischer Gesichtspunkte erschließen. Ich habe mich bemüht, diese
Dinge möglichst einfach und leicht nachvollziehbar darzustellen. Damit man sich beim persönlichen Nachden-
ken wie auch bei Gesprächen über diese recht vielschichtige Materie leichter orientieren kann, habe ich meine
Überlegungen in Paragraphen eingeteilt, die durch das ganze Büchlein hin fortlaufend numeriert sind.

Türkheim, im Frühjahr 2004 Herbert Huber

5
Erster Teil:
Was es bedeutet, zu ministrieren
§ 1: Zu Beginn stellen wir fest, was wir eigentlich meinen, wenn wir von einem „Ministran-
ten“ sprechen. Danach erzähle ich eine kleine Geschichte, die uns lebhaft vor Augen führt,
wie bedeutsam das Amt eines Ministranten ist.
Was heißt „Ministrant“? Das Wort „Ministrant“ kommt aus der lateinischen Sprache. Es
heißt so viel als „Diener“. In unserem Wort „Minister“ steckt es: Der Minister ist ein Staats-
diener. Auch der Ministrant ist ein Diener.
Wo dient der Ministrant? Er dient am Altare Gottes.
Wem dient der Ministrant? Er dient dem Priester, der als Stellvertreter des ewigen Hohen-
priesters, Jesus Christus, bei der Heiligen Messe am Altar das Opfer darbringt.
Wer ist Christus? Christus ist der eingeborene Sohn Gottes, des Vaters, das ewige Wort,
durch welches alles geschaffen wurde, das Lamm Gottes, das uns am Kreuz erlöst hat, der
von den Toten Auferstandene, der Richter der Lebenden und der Toten, der Herrscher über
das All.
Die folgende Geschichte zeigt etwas von der Bedeutung des Dienstes für das allerheiligste Altarsakrament.

Der Graf von Habsburg.


Ein Begebnis nach dem Gedicht von Friedrich von Schiller
I.
Zum fröhlichen Waidwerk, auf eine lustige Jagd zog einst ein edler Ritter, der ein mächt i-
ger Graf aus dem Hause Habsburg war, von seiner Burg herunter hinaus in das Gebirge.
Ihm folgte ein Knappe, der die Armbrust trug, mit welcher der Graf einen Gemsbock schie-
ßen wollte. Der gräfliche Ritter saß auf einem starken, feurigen Ross, das prächtig aufge-
schirrt war. Die Zügel und Gurte waren mit schwerem Silber beschlagen, die Satteldecke aus
feinster Seide funkelte nur so von Stickereien aus reinem Gold. Der Knappe freilich musste
sich mit einem kleinen, mageren und hässlichen Pferd begnügen, das nicht viel wert war und
Mühe hatte, hinter dem Tier des Ritters nicht allzu weit zurück zu bleiben. Kein Ritter und
kein Graf hätte je so ein Tier auch nur im Notfall geritten, aber ein Knappe konnte schließ-
lich keine Ansprüche stellen.
Als die beiden Reiter gerade über eine wunderbar frische Aue voll blühendem Löwenzahn
und schönen Kleeblumen ritten, hörten sie plötzlich ein Glöcklein leise aus der Ferne erklin-
gen. Nach geraumer Zeit sahen sie einen Priester daherkommen, in einen Talar gekleidet,
angetan mit einem weißen Chorrock und einer schwarzen Stola darüber. In den Händen hielt
er ein Gefäß, das den Leib des Herrn barg. Vor dem Priester kam der Mesner im Ministran-
tengewand geschritten.
II.
Der Graf, im Sattel sitzend, neigte sich tief und entblößte sein Haupt in Demut, um mit
gläubigem Christensinn zu verehren, was alle Menschen erlöst. Der Priester hielt kurz an,
denn ein Wasserlauf hemmte seinen Weg. Zwar war es eigentlich nur ein kleines Bächlein,
doch da es in den letzten Wochen endlos lang geregnet hatte, und zudem die Schneeschmelze
oben im Gebirge die weißen Hauben der Gipfel in strömendes Wasser verwandelte, war der
Gießbach droben in der felsigen Schlucht zu reißenden Fluten angeschwellt, und hier herun-
ten in der Wiese floss das Wasser immer noch so heftig, dass die kleine Brücke, die sonst die

6
beiden Ufer verbunden hatte, schon vor Tagen hinweg gerissen worden war. Der Wanderer
Tritte waren also gehemmt. Wie sollten sie hinüber gelangen? Der Priester jedoch zögerte
nicht. Er legte behutsam das Sakrament auf die Erde nieder und begann sogleich, eilig von
seinen Füßen die Schuhe zu ziehen, auf dass er so den Bach durchwaten könne.
III.
„Was schaffst Du da, Priester?“, redete der Graf den Hochwürdigen an. Der Priester sah
verwundert auf: „Herr, ich bin auf dem Weg zu einem sterbenden Mann, der nach dem Him-
melsmahl verlangt. Und da ich jetzt hier an den Bach her komme, hat das Wasser den Steg in
den Strudel der Wellen hinabgerissen. Damit aber dem Sterbenden doch noch das Sakrament
zuteil werde, darum will ich das Wasser jetzt in Eile mit bloßen Füßen durchwaten.“
IV.
Da sprang der Graf geschwind von seinem Pferd herab und hieß den Priester aufsteigen.
Der Priester war verlegen. Ein so ritterliches Ross zu reiten, hatte doch kein einfacher Pfar-
rer das Recht. Ja, wenn er noch ein Bischof gewesen wäre! Allein, der Ritter ließ nicht nach.
Der Priester musste aufsteigen, der Mesner ihm das Sakrament in den Sattel hinauf reichen.
„Reite hin“, rief der Ritter dem Priester noch zu, während er vor dem Allerheiligsten nieder-
kniete, „und labe den Kranken, der unseres Herrn Jesu Christi Leib begehrt; versäume nicht
Deine heilige Pflicht!“
Da ritt der Priester zu. Der Knappe brachte indessen auf seinem Pferd auch noch den Me s-
ner durch die strudelnden Gewässer hinüber und kehrte darauf zu seinem Herrn zurück. Der
Ritter hieß jetzt den Knappen nach Hause gehen. Dort könne er sich ausruhen. Der mächtige
und stolze Graf aber bestieg das hässliche Tier des Knappen und machte sich zu seinem
Jagdgang fort, die steilen Pfade hinauf in die Reviere der Gemsen und Steinböcke.
Der Priester unterdessen vollführte die Reise zu jener Menschenseele. Und am nächsten
Morgen, sogleich in aller Frühe, um es nur ja nicht zu lange zu behalten, brachte er dem
Grafen das Ross zurück. Aber er saß nicht mehr reitend darauf, sondern führte es bescheiden
am Zügel.
V.
Als der Graf den Priester und sein ritterliches Ross gewahrte, rief er abwehrend: „Nicht
wolle das Gott, dass zum Streiten und Jagen ich fürderhin dieses Ross besteige, das meinen
Schöpfer getragen hat!“ Darauf wandte er sich dem Priester zu und sagte: „Magst Du das
Pferd nicht für Dich selber haben, so lass es dem göttlichen Dienste gewidmet bleiben. Be-
halte es samt dem kostbaren Zaum, nimm es mit Dir und benütze es, wenn Dich weite Wege
zu den Armen und Kranken führen. Ich nehme das Tier nicht wieder zurück, denn gestern
habe ich es ja Dem gegeben, von dem ich selbst Ehre und irdisches Gut, ja Leib und Blut,
Seele, Atem und Leben nur zu Lehen empfangen habe.“
Hinweise zur Geschichte:
[a] In dieser Geschichte dienen Knappe und Ritter, Priester und Mesner dem „ Sakrament“,
d. h. dem Leib des Herrn Jesus Christus in der Hostie. Sie stehen also im Dienste Gottes, und
somit sind sie alle zusammen gewissermaßen Ministranten. Selbst der Priester leistet so etwas
wie Ministrantendienst. Er bleibt als geweihter Priester zwar immer und jederzeit der Stell-
vertreter des ewigen Hohenpriesters, Jesus Christus, aber diese priesterliche Vollmacht aus-
zuüben, ist selbst wiederum ein Dienst an Christus. Das Konzil von Trient sagt deshalb, in
der Heiligen Messe opfere Christus selbst „durch den Dienst der Priester“: ministerio sa-
cerdotum5.

5 Denzinger/Schönmetzer [Anmerkung 1] Nr. 1743)

7
[b] Eines ist besonders auffällig an unserer Geschichte: Der Dienst des Menschen g enügt
nicht. Die Menschen bedürfen der Hilfe der Pferde. Das stolze Ross des Ritters wie der elen-
de Klepper des Knappen, sie beide stehen ebenfalls im Dienste Gottes. Wer hat es aber so
gefügt, dass die Hilfe der Pferde notwendig geworden ist? Wer hat den Bach so anschwellen
lassen, dass er die Brücke zerstört hat? Der Regen und die Schneeschmelze. Aber wer hat es
regnen lassen und wer die Sonne scheinen, so dass die Eiskuppen der Gipfel schmelzen? Der
Herr aller Natur, Gott. Gott selbst also hat eine Lage herbeigeführt, in welcher der Dienst der
Pferde erforderlich wird. Das zeigt uns: Gott will auch den Dienst der Tiere. Die ganze
Schöpfung steht im Dienste Gottes: Und darunter besonders auch Du als Ministrant.
[c] Andere Tiere, die den Absichten Gottes dienen: Ein Wal ist es, der den Propheten Jonas
verschlungen und nach drei Tagen wieder an Land gespieen hat (Jon 2). Einen Widder
schickte Gott dem Abraham zur Opferung anstelle seines Sohnes Isaak (Gen 22,13). An den
ägyptischen Plagen waren Frösche, Stechmücken, Bremsen und Heuschrecken ursächlich
beteiligt (Ex 7,26-29; 8,12-20; 10,1-15). Der Prophet Bileam hatte einen sprechenden Esel.
Den Propheten Elias entrücken feuerflammende Rosse in den Himmel (4 Könige 2,11)6. An
der Krippe Jesu stehen der Überlieferung zufolge Ochs’ und Esel (§ 62). Und wiederum ist es
ein Esel, der als „Ross Gottes“ am Palmsonntag den Herrn bei seinem Einzug in Jerusalem
trägt (Lk 19,29-38).

6 Entspricht: 2 Könige

8
Zweiter Teil:
Liturgische Geräte und Priesterliche Gewänder
I. Die heiligen Geräte
Beim heiligen Messopfer benötigt der Priester Gefäße, Tücher und andere Gerätscha ften.
Der Ministrant reicht diese Gegenstände dem Priester zur rechten Zeit. Dazu muss der Mi-
nistrant wissen, wozu die Sachen dienen. Und er muss wissen, wie sie heißen, damit sich der
Priester oder der Mesner mit ihm darüber leicht verständigen können. Ich setze die Kenntnis
der Geräte und ihrer Namen voraus, möchte aber auf zweierlei hinweisen: Viele der liturgi-
schen Gerätschaften haben lateinische Namen. Was hat es für eine Bewandtnis mit dem La-
tein in der Kirche? Was meinen wir, wenn wir von „heiligen“ Geräten sprechen?

Warum haben die Geräte lateinische Namen?

§ 2: Alle großen Religionen haben ihre heilige Sprache. In dieser Sprache sind die göttlichen
Offenbarungen niedergeschrieben, und diese Sprache wird in den Gottesdiensten benutzt. Sie
ist eine ganz andere Sprache als die Alltagssprache. Wenn auch wir Christen unsere heilige
Sprache kaum mehr verwenden, so pflegen andere Religionen die ihrigen umso stärker:
Die Sprache der römisch-katholischen Kirche ist seit jeher und auch heute das Lateini-
sche. Von dieser Regel macht man zwar seit längerer Zeit eine Ausnahme, und deshalb wird
die Messe heute in der Landessprache gelesen, also bei uns auf Deutsch. Aber das zweite
Vatikanische Konzil, das diese Ausnahme genehmigt hat, stellt ganz eindeutig fest, dass nach
wie vor die eigentliche Sprache der Kirche das Lateinische ist.7 Deshalb haben auch die Di n-
ge, welche bei der heiligen Messe gebraucht werden, lateinische Bezeichnungen.
Die Muslime (oder Mohammedaner) lesen und beten den Koran (ihre „ Bibel“) auf Ara-
bisch. In einer Moschee sind goldene arabische Schriftzüge, die den Namen „Allah“, d. h.
„Gott“, aussagen, an den Wänden zu lesen. Ein junger deutscher Muslim versteht zwar ge-
nauso wenig Arabisch wie Du Lateinisch verstehst, aber wenn er zum Freitagsgebet in die
Moschee kommt, hört er Arabisch und betet vielleicht sogar in dieser ihm fremden, aber e-
ben heiligen Sprache mit.
Die Juden beten und lesen die Heilige Schrift (das Alte Testament) in altem Hebräisch,
einer Sprache, die im Alltag nicht mehr gesprochen wird. Es ist die heilige Sprache der Bibel,
die in der Synagoge verwendet wird. Die Synagoge ist der gottesdienstliche Versammlungs-
raum der Juden, in dem die Offenbarung Gottes aus der Heiligen Schrift gelesen, in dem ge-
betet wird und in dem Psalmen gesungen werden (die Synagoge ist also eine Art Kirche).

Warum nennen wir die Geräte heilig?

§ 3: Was bedeutet „heilig“? Das lateinische Wort für „heilig“ lautet „sanctus“. Das meint so
viel als vom gewöhnlichen Alltagsgebrauch abgeschnitten. Das Heilige ist das, was wir nicht
für unsere Bedürfnisse hernehmen, sondern nur dem Dienste Gottes weihen. So stellen wir
den Kelch nicht auf unseren Mittagstisch, und von der Patene essen wir kein Schnitzel. Kelch
und Patene dienen eben nur und ausschließlich dem gottesdienstlichen Mahle. Für die ver-
schiedenen Opfer gab es schon im Tempel des Alten Testamentes solche heiligen Gefäße. Als

7 „Der Gebrauch der lateinischen Sprache soll in den lateinischen Riten erhalten bleiben“ ( Sacrosanctum conci-
lium Artikel 36 § 1). „Es soll ... Vorsorge getroffen werden, dass die Christgläubigen die ihnen zukommenden
Teile des Mess-Ordinariums auch lateinisch miteinander sprechen oder singen können“ (ebd. Artikel 54).

9
der König Nebukadnezar Jerusalem eroberte und die Juden in die Babylonische Gefangen-
schaft führte (um 600 v. Chr.), nahm er aus dem Tempel die goldenen Schalen und Kelche als
Beute mit sich. Sein Enkel, der König Belsazar, feierte im Jahre 539 v. Chr.8 ein großes
Festmahl, in dessen Verlauf er zeigen wollte, dass er als der von den babylonischen Göttern
beschirmte König den Gott der Juden nicht zu fürchten bräuchte:

König Belsazar und der Prophet Daniel


Das Festmahl war ein Gelage, auf dem schlemmend gegessen worden war. Jetzt tra nken
der König und seine Minister starken Wein, bis sie immer berauschter wurden. Ihre Frauen
und Geliebten tranken mit ihnen. Tanzende Mädchen unterhielten die Gäste und den König.
Wir können uns den Saal vorstellen, in dem lautes Geschrei herrschte. Lachen, Lustigkeit und
Übermut hatten alle erfasst. Betrunkene wankten umher, einige haben gewürfelt, einige ha-
ben gestritten, andere werden in Weinlaune Lieder gesungen haben.
Der König war über die Maßen stolz. Selbst seine Minister galten ihm nur als Knec hte, die
er jederzeit hinrichten lassen oder als Sklaven verkaufen konnte. In der Hitze des Getriebes,
als ihm der Wein und sein Stolz immer mehr zu Kopfe stiegen, verfiel er auf die Idee, nicht
nur den Menschen, sondern Gott selbst zu zeigen, dass er der Größte sei. Und so befahl er
jetzt einem Diener, die aus dem Tempel von Jerusalem geraubten heiligen Gefäße zu bringen,
ließ Wein in sie gießen und trank mitsamt all seinen Gästen aus den Gott geweihten Kelchen.
Den siebenarmigen Leuchter - das Sinnbild des Allmächtigen, des Schöpfers des Himmels
und der Erde - befahl er anzuzünden, um damit die Speisereste und Weinflecken auf seinem
Tische zu beleuchten.
Mit solchem Frevel wollte Belsazar zum Ausdruck bringen, wie mächtig er sei: Alles müsse
ihm dienen, ja, er habe ein Recht sogar auf das, was Gott selbst und dem heiligen Tempel-
dienst vorbehalten war. Damit stellte sich Belsazar mit Gott auf eine Stufe. Ebenso hatte es
am Anfang der Welt Luzifer getan.
Da ließen sich Finger, gleich einer schreibenden Menschenhand, an der Wand sehen und
schrieben mit Flammenschrift etwas, das kein Weiser zu deuten vermochte. In derselben
Nacht wurde Belsazar ermordet.
Diese Geschichte kann man im Alten Testament im Buche Daniel (Kapitel 5) nachlesen. Der deutsche Dichter
Heinrich Heine hat ein packendes Gedicht darüber geschrieben:

Belsazar.
von Heinrich Heine

Die Mitternacht zog näher schon; Des Königs Wangen leuchten Glut;
in stummer Ruh' lag Babylon. im Wein erwuchs ihm kecker Mut.

Nur oben in des Königs Schloss, Und blindlings reißt der Mut ihn fort;
das flackert's, da lärmt des Königs Tross.

Dort oben in dem Königssaal Und er brüstet sich frech, und lästert wild;
Belsazar hielt sein Königsmahl. die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.

Die Knechte saßen in schimmernden Reih’n; Der König rief mit stolzem Blick;
und leerten die Becher mit funkelndem Wein der Diener eilt und kehrt zurück.

Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht’; Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt
so klang es dem störrigen Könige recht. das war aus dem Tempel Jehovas geraubt.

8 David u. Pat Alexander: Handbuch zur Bibel ([1973] dt. Wuppertal 1975) 432

10
Und der König ergriff mit frevler Hand Und sieh'! und sieh'! an weißer Wand
einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand. da kam's hervor wie Menschenhand;

Und er leert ihn hastig bis auf den Grund Und schrieb und schrieb an weißer Wand
und rufet laut mit schäumendem Mund:

„Jehova! dir künd' ich auf ewig Hohn - Der König stieren Blicks da saß,
Ich bin der König von Babylon!“ mit schlotternden Knien und totenblass.

Doch kaum das grause Wort verklang, Die Knechtenschar saß kalt durchgraut,
dem König ward's heimlich im Busen bang. und saß gar still, gab keinen Laut.

Das gellende Lachen verstummte zumal; Die Magier kamen, doch keiner verstand
es wurde leichenstill im Saal. zu deuten die Flammenschrift an der Wand.

Belsazar aber ward in selbiger Nacht


von seinen Knechten umgebracht.

„Etwas stimmt nicht bei dem, was der Dichter erzählt“, so wirst Du sagen, wenn Du die
Bibel kennst. „Einer“, so sagst Du, „einer hat die Schrift doch zu lesen verstanden, nämlich
der Prophet Daniel“. Das ist richtig. Und doch hat der Dichter nicht Unrecht. Was sagt er
denn genau? „Die Magier kamen, doch keiner verstand zu deuten die Flammenschrift an der
Wand“. Die Magier konnten es nicht. Magier sind Zauberer, also Leute, die glauben, dass sie
durch dunkle Beschwörungsformeln und geheimnisvolle Bewegungen die göttlichen Mächte
zwingen könnten, ihnen zu Willen zu sein. Die Magier glauben sich auf ihre Weise Gott ge-
nau so gleichgestellt wie Belsazar: Zwar können sie das nicht machen, was Gott machen
kann, aber da sie Gott durch Magie zwingen können, das zu machen, was sie wollen, ist das
so gut, als könnten sie es selbst machen. Diese Magier - da hat Heine ganz Recht - konnten
tatsächlich die Schrift nicht lesen und nicht verstehen. Warum nicht? Magier wollen nicht
Gott gehorchen, sondern sie wollen, dass Gott ihnen gehorcht. Genau das ist der Grund, wa-
rum sie die Schrift Gottes an der Wand nicht „hören“, d. h. verstehen können: Sie wollen im
Grunde gar nicht verstehen, was Gott ihnen sagt, weil sie nicht auf ihn, sondern nur auf sich
selbst hören wollen.
Ein Prophet dagegen will ganz und gar nur Gott gehorchen. Und genau deshalb, weil er ein
solcher Prophet ist, kann Daniel „hören“ bzw. verstehen, was Gott sagen will. Und Daniel
erklärt dem König: Die Schrift heißt „Mane“, das heißt gezählt sind die Tage Deines Rei-
ches; „Tekel“, das heißt gewogen wurdest Du und zu leicht befunden; „Phares“, das heißt
geteilt wird Dein Reich und den Medern und Persern gegeben (Daniel 5,26-28).

II. Einige der heiligen Gewänder


§ 4: Hast Du Dich nicht auch schon einmal gefragt: Warum zieht der Priester besondere
Kleider an? Noch dazu festliche Kleider, farbenprächtige Kleider, kostbar gestickte Kleider?
Warum feiert er die Messe nicht in seinem Alltagsgewand? Die Antwort auf diese Frage lau-
tet: Der Priester zieht etwas anderes an, als was er sonst alle Tage und auf der Straße trägt,
weil nicht er selbst, sondern Christus durch ihn zelebriert: In der Wandlung handelt nicht
der Priester, sondern Gott selbst. Um diese actio divina geht es in der Heiligen Messe. Die
Heilige Messe ist göttliches Handeln, nicht menschliches „Gestalten“.

Was bedeuten Kleider?

§ 5: Kleider dienen zum Schutz vor Hitze und Kälte. Aber sie dienen auch dazu, nach aussen

11
auszudrücken, wer und was man ist. Ein Anhänger des „F.C. Bayern“ wird kein „Sechziger“-
Trikot anziehen, weil er kein „Sechziger“ ist. Der König kleidet sich anders als ein Knecht,
und darin kommt zum Ausdruck, dass der König richterliche Gewalt und Herrschermacht hat,
der Knecht aber nicht. Die Messgewänder drücken aus, dass der Priester am Altar nicht
er selbst ist, sondern Stellvertreter Christi. Zu einem solchen Christus-Stellvertreter wurde
der Priester durch die Priesterweihe gemacht. Die von Christus erwählten Apostel waren die
ersten Priester und Bischöfe. Sie haben ihren Nachfolgern durch Handauflegung die Priester-
vollmacht übertragen. Seit jener Zeit wird die Weihe zum Priester immer durch Handaufle-
gung weitergegeben. So steht bis heute jeder katholische Priester durch eine unsichtbare
Kette aufgelegter Hände mit den Aposteln und so mit Jesus Christus selbst in Verbindung.
Vermöge dieser Weihe ist der Priester, wenn er sein Priesteramt ausübt, mehr als ein ge-
wöhnlicher Gläubiger, denn in ihm wirkt Christi Vollmacht. Und das sagen die Messgewän-
der. Mit ihnen legt der Priester in gewisser Weise sich selbst ab und zieht Christus an.

Das Gewand Christi

§ 6: Bevor wir uns die einzelnen Gewänder des Priesters näher ansehen, wollen wir die
Schriftstelle betrachten, in welcher der Evangelist Johannes ausdrücklich über das Gewand
Jesu Christi spricht. Es ist während der Kreuzigung: Die Soldaten verteilen die Kleider des
Gekreuzigten als Beute unter sich und werfen das Los über Jesu Leibrock, das weißleinene
Untergewand, das vom Hals bis zu den Knöcheln reicht. Als er dies sieht, muss der Evange-
list – er ist ja der Lieblingsjünger, der unter dem Kreuze steht und alles mit ansieht (vgl. Joh
19,35) – an einen alten Psalmvers denken, der von einem Menschen spricht, dessen Kleider
verteilt werden und über dessen Gewand das Los geworfen wird. Und jetzt geht ihm auf: Der
Psalm ist eine Weissagung über ein Zeichen, an dem man den Messias erkennen wird. Und
bei Christus geschieht eben dieses Zeichen. Damit ist wiederum erwiesen, was Christus von
sich selbst gesagt und was er durch viele Wunder bezeugt hat: Er ist der Messias.
„Als nun die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider (und machten vier
Teile daraus, für jeden Soldaten einen Teil) und den Leibrock. Der Rock aber war ohne Naht,
von oben an durchaus gewebt. Deshalb sagten sie zueinander: Wir wollen diesen nicht zer-
schneiden, sondern darüber losen, wessen er sein soll. Damit die Schrift erfüllt würde, wel-
che sagt: Sie haben meine Kleider unter sich geteilt, und über mein Gewand warfen sie das
Los.“ (Joh 19,23f; vgl. Ps 21[22],19)
Erläuterungen:

Der Leibrock ist „ohne Naht“ er ist ganz. So ist er ein Sinnbild dafür, dass in Jesus Christus Gott und Mensch
zu ungetrennter Ganzheit vereinigt sind. Christus ist das leidende, gedemütigte Lamm Gottes (Joh 1,29), er wird
sogar geohrfeigt (Joh 18,22; 19,3). Aber gleichzeitig ist er der Allherrscher, der Sieger über den Tod, Gottes
Sohn selbst, der mehr als zwölf Legionen Engel zu seiner Verteidigung aufbieten könnte (Mt 26,53), der von
sich sagen kann: „Ehe Abraham ward, bin ich“ (Joh 8,58), und dass er mehr sei als Jonas und Salomo (Mt
12,41f), ja sogar mehr als der Tempel (Mt 12,6), und dass er eins sei mit Gott, dem Vater (Joh 10,30). Christus
muss sich am Kreuz wegen seiner Ohnmacht verspotten lassen (Mt 27,39-44; Mk 15,29-32; Lk 23,35-39), und
doch ist er es, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden (Mt 28,18).
Wir Menschen sind sozusagen bloß „ halb“, weil das an uns, was in die Ewigkeit und Göt tlichkeit reicht, auf
dieser Erde nur Sehnsucht, Hoffnung und Glaube (aber noch nicht erfüllte Wirklichkeit) ist. Christus hingegen
ist „ganz“, denn er ist wirklich Mensch und Gott zugleich, er leidet auf Golgotha und sitzt ineins damit zur
Rechten des Vaters. Christus erfüllt das Ganze des Menschseins: Er ist nicht nur irdischer, sondern vollkomme-
ner Mensch; er ist nicht nur himmlischer, sondern menschgewordener Gott. Er ist nicht nur ein Mensch, sondern
in ihm sind alle Menschen geschaffen (Joh 1,3 und 10; 1 Kor 8,6; Kol 1,16f) und erlöst. Für diese Ganzheit Jesu
Christi ist sein ungenähtes, aus einem Stück gewebtes Gewand ein Sinnbild.

12
Die einzelnen priesterlichen Gewänder in der Reihenfolge ihres Anlegens

§ 7: Durch die Messgewänder zieht der Priester Christus an. Hauptsächlich wird diese Chri-
stus-Vollmacht des Priesters durch die Stola angezeigt. Diese ist das wichtigste der heiligen
Gewänder. Indem der Priester die Stola anlegt, wird er zum Stellvertreter Christi. Warum gibt
es aber dann mehrere Gewänder, statt dass man sich auf die Stola beschränken würde?
Christus ähnlich zu sein, erfordert bestimmte Haltungen von Seiten des Menschen. Diese
verschiedenen Haltungen finden jede für sich eine sinnbildliche Darstellung in den übrigen
liturgischen Gewändern, die zur Messe vom Priester getragen werden. Die übrigen Kleider
legen sozusagen die Stola aus, sie drücken anschaulich aus, was in der Stola alles auf einmal
eingeschlossen ist. Die Stola ist der Inbegriff, die Zusammenfassung und die Seele der übri-
gen Gewänder bei der Heiligen Messe. – Zuerst zieht der Priester normalerweise einen
schwarzen Talar – eine Soutane – an. Über diesen legt er dann das Schultertuch. Mit diesem
beginnen wir:
[a] Das Schultertuch (amictum, humerale) küsst der Priester am oberen Rand dort, wo ein
kleines Kreuz eingestickt ist, dann legt er es sich zuerst kurz auf den Kopf, anschließend auf
die Schultern. Er betet dabei, Gott möge ihm, so wie die alten römischen Soldaten eine leder-
ne Sturmkappe zum Schutz des Hauptes in der Schlacht trugen, den „Helm des Heiles aufset-
zen, um damit alle teuflischen Angriffe abzuwehren“. Von einem „Helm des Heiles“, den der
Christ nehmen soll, spricht der Apostel Paulus (Eph 6,17). Im Mittelalter wurde das Schulter-
tuch zeitweise tatsächlich helmartig, nämlich als Kapuze getragen. Die bösen Geister richten
ihre Angriffe vor allem gegen den Kopf: Sie wollen unsere Gedanken vergiften, damit
schließlich auch unser Herz von Gott abfalle.
[b] Die Albe (alba, „die Weiße“) ist das, was der Römer als Untergewand trug, die tunica.
Eine solche Tunika ist auch Christi „Leibrock“, über den die Soldaten das Los werfen. Durch
ihre Weiße versinnbildlicht die Albe die Reinheit des Herzens und der Gesinnung. Der
Priester betet beim Anlegen der Albe: „Wasch weiß mich, o Herr, und reinige mein Herz, auf
dass ich, im Blute des Lammes abgewaschen, die ewigen Freuden genießen möge“ (vgl.
Geh. Offb 7,14f).
[c] Mit dem Cingulum (eigentlich der Kriegsgürtel der römischen Soldaten) bindet der
Priester die Albe zusammen. So versinnbildlicht er, dass er, wie ein Soldat, wachsam und
unter Anstrengungen seinen Dienst für Gott verrichtet. Der Priester betet dabei um Reinheit
und Mäßigung. Dabei ist nicht nur das Maßhalten im Essen und Trinken gemeint, sondern
die Fähigkeit, sich vor Übertreibung jeder Art zu hüten und so immer das zu tun, was der
jeweiligen Aufgabe im Leben gerecht wird. Wer zu viel tut oder gibt, kann genauso un-
gerecht handeln wie einer, der zu wenig tut oder gibt. Das Cingulum versinnbildlicht also die
rechte innere Haltung, die innere Stärke der Seele, des Geistes und des Herzens.
[d] Die Stola war ursprünglich ein besonderes Gewand, das die Flötenspieler am Feste der
römischen Göttin Minerva ebenso wie Priester verschiedener anderer Götter in Rom als Zei-
chen ihrer priesterlichen Vollmacht trugen. Sie ist auch in der römisch-katholischen Kirche
das Abzeichen priesterlicher Amtsgewalt, das der Priester immer dann tragen muss, wenn er
ein Sakrament spendet. Der Priester betet beim Anlegen der Stola: „Gib mir, o Herr, zurück
das Gewand der Unsterblichkeit, das ich bei der Sünde des Urvaters verloren habe: und ob-
gleich ich unwürdig zu Deinem heiligen Mysterium hintrete, möge ich doch die ewige Freude
erlangen“.
[e] Die Kasel (casula, „kleine Hütte“) oder Planeta (entweder von planeta, „Wandelstern“
oder planita, „glatt, eben“) ist das, was im Deutschen das „Messgewand“ heißt. Ursprünglich

13
war es das Übergewand des Römers, die toga, das er über der tunica (sh. Albe) trug. Mess-
gewänder sind oft wundervoll bestickt, vor allem auf der Rückseite, weil die dort angebrach-
ten Bilder von den Gläubigen bei der Messe betrachtet werden können, wenn der Priester am
Hochaltar mit dem Rücken zum Volke zelebriert. Das Messgewand, das sich der Priester um
den Hals legt, wie man einem Lasttier das Joch umgelegt hat, versinnbildlicht, dass der
Priester Christus im Kreuztragen nachfolgen und so mit Christus leben, sterben und auferste-
hen möchte. Das Gebet beim Anziehen des Messgewandes lautet deswegen: „O Herr, der Du
gesagt hast: Mein Joch ist süß, und meine Last leicht: mach, dass ich beides so zu tragen
vermag, dass ich Deine Gnade erlangen möge“.
[f] Ein wichtiges liturgisches Gewand ist auch der Rauchmantel oder das Pluviale (von
lateinisch pluvialis „den Regen betreffend“, also eigentlich „das für Regen passende Ge-
wand“): Der Rauchmantel wird vor allem bei Andachten und Prozessionen getragen. Ins-
besondere von der Fronleichnamsprozession oder von Maiandachten her kennen wir alle den
Rauchmantel. Er versinnbildlicht den Königsmantel Jesu Christi.
[g] Über den Rauchmantel wird gegebenenfalls das Velum gelegt. Bei den Römern wird
mit diesem Wort ein Segel bezeichnet, dann aber auch jede Verhüllung oder ein Vorhang.
Der Priester trägt das Velum um die Schultern, wenn er die Monstranz zum Segen oder bei
Prozessionen führt. Das Velum hat an der Innenseite zwei kleine Taschen, in welche der
Priester seine Hände steckt, so dass er aus Ehrfurcht die Monstranz mit verhüllten Händen
nur berührt.
[h] In der tridentinischen Messe trägt der Priester weiteres Gewandstück am linken Arm,
den sogenannten Manipel. Manipulum heißt „eine Handvoll“. Aus dem Gebet, das der Pries-
ter beim Anlegen des Manipels spricht, geht hervor, was das Stück Stoff versinnbildlicht:
„Möge ich es verdienen, o Herr, meinen 'Manipel' an Tränen und Schmerz so zu tragen, dass
ich einst mit Jubel den Lohn der Mühe empfangen darf“. Der Manipel bedeutet also, die dem
Einzelnen zugeteilte Last an Schmerz und Leid. Indem der Priester den Manipel selbst sich an
den Arm legt, drückt er den Vorsatz aus, nach dem Willen Christi, „sein Kreuz auf sich zu
nehmen“. Gemäß jener Stelle im Evangelium, wo es heißt: „Dann sprach Jesus zu seinen Jün-
gern: Wenn einer mir nachkommen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich
und folge mir nach“ (Mt 16,24; vgl. Mt 10,38; Mk 8,34).

14
Dritter Teil:
Gott, Gebet, Opfer
Vorüberlegungen zum tieferen Verständnis der Heiligen Messe

I. Gott
7. Und es saß zu Lystra ein Mann, schwach an den Füßen, lahm von seiner Mutter Leibe an,
der noch nie gegangen war.
8. Dieser hörte den Paulus reden; und da dieser ihn anblickte, und sah, daß er Glauben hätte,
geheilt werden zu können,
9. sprach er mit lauter Stimme: Stelle dich aufrecht auf deine Füße! Und dieser sprang auf
und wandelte umher.
10. Da nun das Volk sah, was Paulus getan hatte, erhob es seine Stimme, und sprach auf ly-
caonisch: Götter sind menschenähnlich geworden, und zu uns herabgekommen!
11. Und sie nannten den Barnabas Jupiter, und den Paulus Mercurius, weil dieser der Wort-
führer war.
12. Auch brachte der Priester Jupiters, der vor der Stadt war, Stiere und Kränze vor das Tor,
und wollte opfern samt dem Volke.
13. Da das die Apostel Barnabas und Paulus hörten, rissen sie in ihre Kleider, sprangen un-
ter das Volk, riefen,
14. und sprachen: Ihr Männer, warum tut ihr das? Auch wir sind Sterbliche, Menschen wie
ihr. Wir verkündigen euch, dass ihr euch von diesen scheinbaren Gottheiten zu dem lebendi-
gen Gott bekehren sollt, der Himmel und Erde erschaffen hat und die Erde und das Meer und
alles, was darin existiert;
15. der in der Vergangenheit alle Völker auseinandergeschickt hat, ihre eigenen Wege zu be-
schreiten;
16. und dennoch sich selbst nicht unbezeugt gelassen hat, da er doch Wohltat spendet vom
Himmel her, indem er etwa Regen gibt und fruchtbringende Zeiten, unsere Herzen mit Speise
erfüllend und mit Freude.
17. Und als sie dieses sagten, konnten sie die aufgeregte Menge kaum beruhigen, dass sie
ihnen nicht opferte.
Apostelgeschichte, Kapitel 14

§ 8: All das Schöne und Gute, das uns im Leben und in der Welt begegnet, haben ursprüng-
lich nicht die Menschen gemacht. Es war vor uns da und ist uns einfach geschenkt. Nie-
mand von uns kann es regnen, die Sonne scheinen oder eine Blume blühen lassen, ein Tier
oder einen Menschen erschaffen. Darin zeigt sich eine andere als die menschliche Macht.
Wie der hl. Apostel Paulus im Vers 16 des vorstehenden Textes sagt: Gott hat „sich selbst
nicht unbezeugt gelassen ..., da er doch Wohltat spendet vom Himmel her, indem er etwa Re-
gen gibt und fruchtbare Zeiten, unsere Herzen mit Speise erfüllend und mit Freude“.
Paulus sagt dies in der Stadt Lystra. Dort hatten er und Barnabas eben einen Gelähmten
geheilt, und das Volk lief daraufhin zusammen. Es schrie, dass Paulus und Barnabas Götter
sein müssten, die auf Erden gekommen wären. Schließlich hatten sie einen Lahmen wieder
gehen gemacht. Barnabas wäre wohl Jupiter und Paulus Merkur, weil er gar so gut reden
könne (Merkur war der Schutzgott der Redner und Dichter). Der Priester des Jupiter kam
herzu und brachte Stiere, um sie den vermeintlichen Göttern zu opfern und Kränze, um die
Opfertiere damit zu schmücken. Paulus aber sagt: „Nein, wir sind keine Götter, sondern
sterbliche Menschen, aber wir verkünden euch den einzigen Gott, den, der Himmel und Erde
geschaffen hat. Freilich (so fährt er fort), habt ihr von Gott auch schon vor unserer Verkündi-
gung gewusst. Er hat sich euch beispielsweise im Regen bezeugt.“ Dazu muss man wissen,

15
dass die Römer den Jupiter als Regenspender verehrt haben: Iupiter pluvialis. Auch Jupiter,
sagt Paulus also, ist eine Selbstbezeugung Gottes, kein böser Dämon. Jedoch zeigt sich in
ihm nur ein kleiner Ausschnitt der wahren Macht Gottes. Erst Jesus Christus hat uns Gott
ganz ohne Verfälschung offenbart.
Freilich gibt es auch Dinge, die uns Freude machen und die doch von Menschen gemacht
sind: ein Eis zum Beispiel oder ein Fahrrad oder ein Game-Boy. Aber, wenn man genau
nachdenkt, muss man sagen, dass die Menschen den Verstand und die Geschicklichkeit, wo-
durch ihnen gestattet ist, solche Sachen zu erfinden, sich nicht selbst gegeben haben. Auch
die Dinge also, die der Mensch selber macht, kann er nur in der Kraft von Fähigkeiten tun,
die er nicht selber machen kann. Wie wiederum der hl. Paulus sagt: Gott ist es, „der allem
Leben und Geist und überhaupt alles gibt“ (Apg 17,25).

§ 9: In der Welt gibt es aber auch Widriges und Schlechtes. Krankheiten, Seuchen, Erdbeben,
Lawinen, Hungersnöte, boshafte Menschen, ungerechte Lehrer, verräterische Freunde und all
das, was wir selber an Dingen tun, von denen wir, ganz im Innersten, uns selber gestehen,
dass sie nicht schön sind. Gegen das Übel, das uns begegnet, können wir uns meist nicht
wehren. Es begegnet uns unverhofft, wie das bei Krankheiten oder Unfällen geschieht. Das
Schlechte, das wir selber tun, könnten wir eigentlich unterlassen. Aber selbst hier merken wir
oft, dass wir zwar guten Willen haben, aber dann doch nichts Entsprechendes fertig bringen.
Wenn uns eine gute Stimmung oder das Ausbleiben einer Versuchung zu Hilfe kommt, dann
geht es schon eher. Diese Hilfe können wir aber nicht nach Belieben kommandieren. Sie wird
unverhofft von Mächten geschickt, über die der Mensch nicht zu herrschen vermag. Unter
dem Namen und dem Bild des Gottes Merkur, für den die Leute in Lystra den Apostel Bar-
nabas hielten, haben die Alten die göttliche Hilfe in der Not, den göttlichen Segen und die
Macht zur Abwendung des Unheils verehrt.

§ 10: Solche zwiespältigen Erfahrungen von Gutem und Schönem, aber auch Schlechtem und
Bösem, das wir Menschen selbst nicht recht beherrschen können, sind religöse Erfahrungen,
denn sie zeigen uns Bereiche, in die menschliche Macht und menschliches Können nicht hin-
einreichen. Wenn wir darüber nachdenken, was diese Erfahrungen bedeuten, gelangen wir
ungefähr auf folgenden Grundgedanken:
[a] Es muss – so haben die Menschen seit den ältesten Zeiten überlegt – eine Macht geben,
die alles hervorgebracht, d. h. erschaffen hat, samt uns selbst und unserer Fähigkeit, selbst
etwas zu tun. Diese Macht, die alles erschaffen hat und die Geschehnisse in der Welt lenkt,
können wir nicht sehen, wir erblicken nur das, was sie gemacht hat. Die Menschen nennen
diese unergründliche und unsichtbare, aber höchst wirkkräftige Macht Gott.
[b] Und diese Macht meint es gut mit uns Menschen, sonst hätte sie die Welt nicht so le-
benskräftig, schön und staunenswert gemacht. Weil es auf der Welt aber auch Bedrohliches
und Übles gibt, ist diese Macht, gerade weil sie so stark ist, auch gefährlich für die Men-
schen. Also ist die Macht Gottes für den Menschen ein Rätsel, das er nicht lösen kann: Die
Menschen wissen nicht, welche Absichten die göttliche Macht sie im Letzten mit der Welt
und uns Menschen hat.
[c] Aber selbstverständlich könnte die göttliche Macht selbst uns etwas über ihre Absichten
mitteilen. Deshalb warteten, horchten und hofften die Menschen seit jeher darauf, dass eine
Offenbarung von Seiten Gottes an sie ergehen möge.

II. Kult
§ 11: Wenn uns etwas bewegt, so spüren wir den Drang, der inneren Bewegung nach außen
Ausdruck zu verleihen. J. G. Herder hat es als allgemeines Gesetz auf der Welt bezeichnet:

16
„Empfinde nicht für dich allein, sondern dein Gefühl töne!“9 Ein heftiger Schmerz macht uns
schreien, eine große Freude jauchzen. Wenn einen großer Zorn umtreibt, kann es sein, dass er
„wutschnaubend“ umherläuft. Sind wir fröhlich, lachen wir, bei großer Trauer weinen wir,
überfällt uns die Angst, rufen wir um Hilfe. Nicht nur Gefühle, auch Gedanken muss man
ausdrücken. Dazu dienen uns tönende Worte oder sichtbare Buchstaben.

§ 12: Alles, was der Mensch erlebt, löst in ihm Gefühle und Gedanken aus. Jeder Gegenstand
– die aufgehende Sonne, ein mächtiger Bär, eine blühende Aue, der silberne Mond, ein im
Abendlicht schimmernder Fels – ruft eine Bewegung im Inneren des Menschen hervor. Ins-
besondere haben die religiösen Erfahrungen der Menschheit von Anfang an im Menschen
Gefühle und Gedanken ausgelöst, die nach Ausdruck drängten. Schon in den frühesten Zeug-
nissen menschlicher Siedlungen finden wir Bestattungsriten und Grabbeigaben als Ausdruck
für die Hoffnung des Menschen darauf, dass das Grab nicht das letzte Wort über die Toten
ist. Höhlenmalereien, geschnitzte oder in Stein gehauene Götterbilder wollen dauerhaft das
Wirken der göttlichen Macht anzeigen. In allen Kulturen und zu allen Zeiten finden sich Op-
ferstätten oder feste Tempel, errichtet für die Götter. Offenbarungen der Gottheit wurden auf-
geschrieben und über Jahrtausende hin überliefert. Heilige Orte, an denen Menschen beson-
ders stark das Walten hilfreicher Mächte erfahren haben (und vielleicht noch erfahren), wer-
den von alters her bis heute verehrt. Unsere Wallfahrtskirchen sind an solchen Stellen errich-
tet. Die Bauwerke drücken aus, dass Menschen hier göttliche Kräfte erfahren und dass sie
dafür dankbar sind. Solche Bauwerke haben oft Tausende von Jahren überstanden, und die
Menschen fahren etwa nach Ägypten oder nach Griechenland, um die alten Tempel zu sehen.

§ 13: Den Ausdruck der Gedanken, Gefühle und Haltungen im Umgang mit göttlichen
Mächten nennt man Kult. Kultischer Ausdruck geschieht in Sprache, Bauwerken, Gewän-
dern, Gefäßen, Bewegungen (z. B. Prozessionen), Gesten (Knien, Verbeugen, Bekreuzigen).
Das Wort „Kult“ stammt aus der lateinischen Sprache und heißt soviel wie „etwas sorgfältig
pflegen“. Gefühle und Gedanken über eine Sache werden besonders dadurch gepflegt, dass
man sie ausdrückt. Dabei spricht die Sache selbst, um welche die Gedanken und Gefühle
kreisen, klarer und deutlicher zu uns. Wir meinen oft, etwas gut verstanden zu haben. Wenn
wir aber den Versuch anstellen, uns über die Sache zu äußern (sie etwa einem anderen zu
erklären), merken wir sehr schnell, dass es mit unserem Verstehen doch nicht so weit her ist.
Es ist aber andererseits auch oft der Fall, dass wir zu einer Sache eher nur eine unbestimmt
Meinung haben. Wenn wir dann aber mit anderen darüber reden, wird uns im Laufe des Ge-
spräches wie durch Zauberei immer klarer, was wir von der Sache zu denken haben. Heinrich
von Kleist hat dies die „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ genannt: Eine
Sache ist undeutlich in uns gegenwärtig, aber indem wir ihr Einwirken auf unser Gefühl und
unser Denken aussprechen, zeigt sie uns die erst verschwommenen Einzelheiten genauer und
deutlicher und so klärt sich nach und nach der ganze Zusammenhang der Sache.

Gebet

§ 14: Wenn nun der Menschen Herz und Gemüt erfüllt ist von der Schönheit der Welt, dann
wollen sie dem auch Ausdruck verleihen, wie wir eingangs gesehen haben. Sie wollen sagen,
was sie empfinden, und so rufen sie die verborgene und geheimnisvoll waltende Macht an:
sie loben und preisen sie im Lobgebet; sie danken ihr im Dankgebet. Bedrohungen, gegen
die Menschen und ihre ganze Technik nicht mehr helfen können, kann die Macht, welche

9 Über den Ursprung der Sprache (1770), in: Herder's Werke, Bd. IV (Hg. Heinrich Kurz, Leipzig und Wien o.
J.) 549-644, 553

17
alles geschaffen hat und alles lenkt, abwenden. Oder sie kann uns Mut und Erfindergeist ge-
ben und wecken, damit wir Gefahren durchstehen und selbst etwas zu unserer Sicherung und
Rettung ersinnen können, wie Deiche gegen Strumfluten oder Medizinen gegen Krankheiten.
Deshalb rufen Menschen in ihrer Angst nach Gott um Hilfe: sie flehen im Bittgebet.

Opfer

§ 15: Ihrer Bewunderung, ihrem Dank und ihrer Furcht verschaffen Menschen aber nicht nur
in Worten Ausdruck, sondern auch in Taten: Sie opfern der Gottheit.
Zusatz: Vor jedem Opfer im heidnischen Rom fand eine sogenannte „praefatio“ statt, eine Vorrede, die alle
unheilig Gesinnten vertreiben sollte: „Fern o fern seid, Unheilige“10. Die Präfation als Ankündigung der he i-
ligsten Zeit und Zone findet sich auch in der Heiligen Messe: Das Vere dignum et iustum est, aequum et salutare
eröffnet die göttliche Handlung (actio), die Wandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi. Das anti-
ke Opfer kennt auch die Händewaschung, sowie die Stille während der Opferhandlung und der sie begleitenden
Gebete (in der tridentinischen Messe die sogenannte „Kanon-Stille“).
Von „Opfern“ spricht man in verschiedenem Sinn, je nach dem Zweck, den die opfernden Menschen damit
verfolgen: Lob-Opfer, Dank-Opfer, Erhaltungs-Opfer und Sühn-Opfer. Sonstige bekannte Opferformen11
lassen sich diesen Gruppen leicht zuordnen: So ist das Totenopfer ein Opfer zum Lob der Toten oder auch zur
Sühne für sie; oder es ist ein Beschwichtigungsopfer, um Unheil durch Wiedergänger (spukende Tote) abzu-
wenden. Die römischen Gladiatorenkämpfe haben sich aus solchen etruskischen Totenopfern, munera genannt,
entwickelt. Auch Christi Leib und Blut werden im tridentinischen Kanon der Hl. Messe munera genannt.12
Die Art und Weise, wie Opfer gebracht werden, ist verschieden. So gibt es Brandopfer, Rauchopfer, Speise-
opfer, Trankopfer, Tieropfer, Menschenopfer. Opfer werden in eigens dafür errichteten Tempeln dargebracht,
aber auch in Wäldern (wie bei den Germanen) oder auf freiem Feld, wie es die Griechen vor Troja taten, als sie
den Göttern opferten. Das Brandopfer ist nicht zu verwechseln mit dem Rauchopfer. Beim Rauchopfer wird
Weihrauch verbrannt. Der Rauch selbst ist hier die Opfergabe. Beim Brandopfer hingegen verbrennen die Op-
fernden ein zuvor getötetes Tier. Opfergabe ist hier nicht der Rauch selbst, sondern das „in Rauch aufgelöste“
Tier.

[a] Lob-Opfer: Die Welt ist groß und schön. Nicht wir haben sie so eingerichtet, sondern
eine höhere Macht. Wir staunen immer auf's Neue, wenn wir die Natur anschauen, den Him-
mel mit der Sonne am Tage und den Sternen in der Nacht, die Wälder und Fluren, die Fische
und die Vögel. Und wenn Menschen das Schöne sehen, denken sie an die Macht, die es
schaffen konnte. Diesem Gedanken geben sie anschaulichen Ausdruck, indem sie Weihrauch
verbrennen, der gut riecht und schön in die Höhe steigt (lateinisch: incensum, daher „inzen-
sieren“). So leicht und duftig, so schön und wohlgefällig wie der Rauch durch die Luft zieht
Gottes Wirken durch die ganze Schöpfung. Und der Rauch steigt nach oben bis dahin, wohin
wir gar nicht mehr sehen, also in die Regionen, die unseren menschlichen Horizont überstei-
gen und deshalb auf die Regionen Gottes verweisen.
[b] Dank-Opfer: Was so schön ist und was ihnen auch so segensreich hilft auf der Welt -
der Regen, die Sonne, das Wachsen des Getreides - ist den Menschen geschenkt, eigentlich
gehört es ihnen nicht. Es gehört der Macht, die es geschaffen hat. Dies drückten die Men-
schen in früheren Zeiten dadurch aus, dass sie einen Teil dieser guten Gaben an die unsicht-
bare Macht zurückgaben: Sie gossen den ersten Schluck Wein auf den Boden (libatio), sie
verbrannten die ersten Halme der Ernte, sie töteten die Erstgeburt der Tiere, ja manchmal
sogar eines ihrer Kinder oder einen Erwachsenen als Dankopfer: Sie haben etwas erhalten
und geben dafür eine Gegengabe. Durch das Ausgießen, Verbrennen und Töten gehen die

10 procul o procul este, profani (Vergil: Aeneis VI 258)


11 Der kleine Pauly IV (1972) 307-310
12 supplices rogamus, ac petimus, uti accepta habeas et benedicas haec dona, haec munera, haec sancta sacri-
ficia illibata

18
Opfer aus unserer bekannten Welt hinaus: Wir haben sie nicht mehr zur Verfügung, wir se-
hen sie nicht mehr. Dadurch – so stellten sich die Menschen vor – sind die geopferten Wesen
selber Teil des unsichtbaren Reiches der unsichtbaren Gottheit geworden.
[c] Erhaltungsopfer: Menschen nehmen ihre Nahrung von der Erde. Damit die Natur
weiterhin Pflanzen und Tiere hervorbringen kann, glauben die Menschen, sie müssten der
Natur Lebenskraft zuführen. Dies tun sie durch Opfer. Dabei geschieht dasselbe wie beim
Dankopfer: Etwas, was den Menschen wichtig ist, wird zerstört, um so aus der Menschenwelt
in die Götterwelt zu gelangen. Die Absicht ist aber hier nicht, den Göttern zu danken, sondern
sie zu stärken. Den Göttern wird geopfert, um sich ihre Gunst zu erhalten.
Zusatz: Die Azteken beispielsweise glaubten, sie müssten der Sonne, die wegen ihrer Selbstverausgabung als
leuchtendes Licht jeden Abend zur Ruhe geht und im Winter trotz der täglichen Nachtruhe dennoch immer
schwächer wird, neue Kraft durch Menschenopfer zuführen: „die Gestirne leuchten den Menschen ohne Unter-
laß, aber es ist nirgends gesagt, daß sie ihnen immer leuchten werden: um ihre wohlwollende Mitarbeit zu er-
mutigen, müssen sie genährt und ... mit Opfern versorgt werden – es braucht Opfer noch und noch“. – In Indien
glauben die Brahmanen: „die Sonne würde nicht aufgehen, brächte nicht der Priester beim Anbruch der Mor-
genröte das Feueropfer dar“.13
Besonders deutlich wird die erhaltende Wirkung des Opfers in dem Opfer, das Odysseus den abgeschiedenen
Seelen bietet. Zuerst werden die Toten durch ein Opfer von Honig, Milch, süßem Wein, Wasser und weißem
Mehl „gesühnt“. Damit ist jedoch keine Sühne für Sünden gemeint, sondern das Opfer will den Göttern der
Unterwelt eine Art Buße oder Ersatz dafür bieten, dass sie die Abgeschiedenen für eine kurze Zeit an die Ober-
welt entlassen, den Odysseus zu besuchen. Ein zweites Opfer – nunmehr von Blut – dient dazu, den Toten, in-
dem sie das Blut trinken, Kraft zu geben. Sie wohnen ja in der Unterwelt ohne „die spannende Kraft und die
Schnelle, / Welche die biegsamen Glieder des Helden vormals belebte“ (Odyssee XI 393f), körperlos „wie ein
Schatten oder ein Traumbild“ (Odyssee XI 207). Um mit ihm reden zu können, bedürfen sie auf's Neue eines
Stückchens jener Lebenskraft, die ihnen bei ihrem Eintritt in den Hades (das Todesreich) entflohen war.
Die Römer verehrten die Göttin Vesta, die als die Hüterin des häuslichen Feuers, d. h. der Reinheit, sowie der
seelischen und auch körperlichen Wärme innerhalb des Hauses und der Familie, galt. Jungfrauen mussten in
diesem Tempel ein ewiges Feuer am Brennen halten. Verlöschte einmal die Flamme, so galt der Friede und das
Auskommen der Familien Roms als gefährdet, und die schuldige Priesterin wurde zur Strafe getötet. Der Vesta-
Dienst, der in eheloser Jungfräulichkeit und Wachsamkeit auf das Tempelfeuer bestand, war daher ein Erhal-
tungsopfer.

[d] Sühn-Opfer: Menschen handeln nicht immer gut. Sie sind oft böse. Dafür trifft sie
manchmal Strafe. Kinder werden von Eltern oder Lehrern bestraft, Erwachsene von den Ge-
richten. Wer böse handelt, tut, was Gott missfällt. Deshalb haben Menschen, die wussten,
dass sie Schlechtes getan hatten, Schicksalsschläge und Naturkatastrophen oft als Strafen
Gottes angesehen. Sie glaubten, wenn sie sich selbst etwas, was ihnen lieb und teuer ist,
wegnehmen, dann würden sie sich selbst bestrafen und Gott dadurch veranlassen, mit seinen
Strafen aufzuhören. Solche Opfer dienen der Sühne, sie sind Sühnopfer.
Zusatz: So sagt die griechische Tragödie: „Pflicht ist’s, daß stumm bleibt, wer die Hand in Blut getaucht, /
Bis daß ein andrer, Blutessühne kundiger / Ein saugend Thier ihm opfertödtend bluten läßt“. Und: „Nun schläft
die Blutschuld meiner Hand und trocknet auf; / Hinweggewaschen ist des Muttermordes Greul; / Auf Phöbos
Altar ward das Blut, noch war es frisch, / Von mir genommen durch der Opferferkel Blut“14.

[e] Stellvertretende Opfer: Der Mensch lässt für seine Sünden oft andere Wesen bluten,
insbesondere Tiere, die zur Sühne geopfert werden. Menschen machen aber auch die Erfah-
rung, dass es Schuld gibt, die sie weder durch das Blut von Tieren, noch durch ihr eigenes
Blut wieder gut machen können. Ein ermordeter Mensch beispielsweise wird nicht wieder
lebendig, weder indem man für ihn Tiere opfert, noch indem man seinen Mörder hinrichtet.

13 René Girard: Der Sündenbock (Paris 1982, dt. Zürich 1988) 91. – Mircea Eliade: Geschichte der rel igiösen
Ideen, Bd. I ([Paris 1976] dt. 4Freiburg1978) 214
14 Aischylos: Die Eumeniden, 425-427 und 270-273 übertragen von J. G. Droysen (Berlin 1884)

19
Daher haben die Menschen zu allen Zeiten und in vielen Kulturen auf eine Person – einen
besonders starken Menschen (einen Heros, d. h. Helden) oder gar eine Gottheit – gehofft, die
freiwillig ihre Lebenskraft (ihr Blut) stellvertretend für die schuldigen Menschen opfert,
um damit der Welt neue, heilmachende Kräfte zuzuführen.
Zusatz: Im Judentum des Alten Testaments ist vor allem beim Propheten Isaias vom stellvertretenden Lei-
den und Sterben des Messias für die Schuld der Menschen die Rede. Der Messias ist der nicht aus den Men-
schen kommende, sondern von Gott selbst gesandte Erlöser. Von ihm heißt es: „er ist verwundet um unserer
Missetaten willen, zerschlagen um unserer Sünden willen; unseres Friedens wegen liegt die Züchtigung auf
ihm, und durch seine Wunden werden wir geheilt. ... unser aller Missetat hat der Herr auf ihn gelegt. Er wird
geopfert, weil er selbst wollte, und öffnet seinen Mund nicht; wie ein Schaf wird er zur Schlachtbank geführt,
und verstummet wie ein Lamm vor dem, der es schert, und tut seinen Mund nicht auf. ... denn er wird wegge-
schnitten von der Lebenden Land, um der Sünde meines Volkes willen schlug ich ihn“ (Is 53,5 und 7 und 8). –
Eine Erzählung vom sich selbst opfernden Gott finden wir aber auch anderswo. Etwa in der germanischen
Mythologie. Odin hängt sich selbst als Opfer für Odin an einen Baum und berichtet dann: „Ich weiß, daß ich
hing / am windigen Baum / neun Nächte lang, / mit dem Ger [d. h. Speer] verwundet, / geweiht dem Odin, / ich
selbst mir selbst / an jenem Baum, / da jedem fremd, / aus welcher Wurzel er wächst“15. Durch dieses Opfer
gewann Odin die Kraft, die Erde weise zu lenken. Nicht nur das Hängen am Holz des Baumes erinnert an des
Holz des Kreuzes Christi, sondern auch die Speerwunde gemahnt an den Lanzenstich, mit dem Christi Seite am
Kreuz geöffnet wurde (Joh 19,34). Der Baum, dessen Wurzel niemand kennt, ist die den ganzen Kosmos hal-
tende Weltesche. Sie ist ein Symbol für die Weisheit Gottes, die tatsächlich „jedem Menschen fremd“, weil
unbegreiflich ist. Und es ist die Weisheit Gottes, die im Verein mit seiner Liebe die aus den Fugen geratene
Welt durch das Opfer des Gottessohnes wieder in's Lot bringt. – Der griechische Gott Dionysos ließ sich von
Titanen in Stücke reißen und verschlingen. Weil aus der Asche der Titanen später die Menschen entstanden
sein sollen, wirkt in den Menschen neben der titanischen Wildheit auch ein Strahl des göttlichen Wesens.16 – In
der indischen Religion der Veden opfert sich der Gott Prajapati bis zur vollständigen Erschöpfung auf, um so
den Kosmos zu schaffen: Seine Glieder sind ausgerenkt und er ist nicht mehr in der Lage, sich zu erheben. Die
Schöpfung selbst wird so zu einem stellvertretenden Opfer: Der Gott opfert sich selbst, um daraus die Men-
schenwelt zu errichten.17 – In Rom finden wir Berichte über zwei Menschen, die ihr eigenes Leben als stel l-
vertretendes Opfer dargebracht haben. Hier opfern sich zwar keine Götter, aber doch Menschen, die in ihrem
Opfermut den Göttern näher stehen als ihresgleichen. In der heidnischen Zeit tat sich in Rom einmal ein riesiger
Krater mitten auf dem Forum auf, der sich durch nichts schließen ließ. Die Sage erzählt, dass sich der Schlund
erst schloss, als ein junger Mann, namens Marcus Curtius sich den Göttern als Opfer anbot und samt seinem
Pferd in den Abgrund sprang. Und von dem Römer Publius Decius Mus wird berichtet, dass er eine große Nie-
derlage des römischen Heeres dadurch abwendete, dass er vor der Schlacht in einer grausigen Weiheformel sein
Leben den „unteren Göttern“ weihte. Er fiel in der Schlacht, diese aber ward schließlich von den Römern ge-
wonnen.18 – Eine Erinnerung an solche Opfertaten um anderer willen finden wir noch im Aberglauben, wie er
etwa in Theodor Storm's „Schimmelreiter“ geschildert ist. Der Deichgraf Hauke Haien ist kein Gott, aber er
hat doch eine besondere Verbindung mit der numinosen Sphäre durch seinen Schimmel, der einer Sphäre ange-
hört, die das irdisch Gewohnte geheimnisvoll übersteigt. Hauke Haien stürzt sich mit diesem gespenstischen
Schimmel am Ende in die den Deich durchbrechende Sturmflut: „Er richtete sich hoch auf und stieß dem
Schimmel die Sporen in die Weichen; das Thier bäumte sich, es hätte sich fast überschlagen; aber die Kraft des
Mannes drückte es herunter. 'Vorwärts!’ rief er noch einmal, wie er es so oft zum festen Ritt gerufen hatte:
'Herr Gott, nimm mich; verschon die Anderen!'“19

15 Edda, Band II (hgg. von Felix Genzmer, 4Düsseldorf: Diederichs 1975) 171f
16 Eckart Peterich / Pierre Grimal: Götter und Helden. Die klassischen Mythen und Sagen der Griechen, R ö-
mer und Germanen (2Freiburg im Breisgau 1973) 41. – Vgl. Mircea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen,
Bd. I ([Paris 1976] dt. 4Freiburg 1978) 327-340, besonders 337f
4
17 Mircea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen, Bd. I ([Paris 1976] dt. Freiburg 1978) 209-214, b esonders
210 und 213.
18 Gustav Schalk: Römische Götter- und Heldensagen (Wien 1954) 221-223 (Marcus Curtius) und 235f ( Decius
Mus). – Vgl. Livius: Ab urbe condita, Buch VII, Kapitel VI und Buch VIII, Kapitel IX. Deutscher Text in Mir-
cea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen, Bd. IV Quellentexte (hgg. von Günter Lanczkowski [1967], dt.
Freiburg 1981) 195-197
19 Theodor Storm: Sämtliche Werke, Bd. VII (Braunschweig 1906) 278; zum Schimmel ebd. 215-226

20
III. Was ist die Heilige Messe?
§ 16: Wir Christen glauben nun, dass in Jesus Christus genau das geschehen ist, wovon die
Menschen in den Mythen der heidnischen Religionen geträumt und was sie erahnt haben:
Gott hat sich auf Golgotha tatsächlich selbst für das Heil der Welt geopfert. Der Kreuzestod
Jesu Christi ist das wahre und vollkommene „stellvertretende Opfer“, denn Christi Tod ist
keine Vision und Erdichtung der Menschen (wie etwa im Falle Odins), sondern wirkliches,
historisch greifbares Geschehen. Wir sind jetzt im Stande, ziemlich genau anzugeben, was
die Heilige Messe ist. Christi Selbstopfer am Kreuz war ein Sühnopfer für uns und unse-
re Sünden, und die Heilige Messe der römisch-katholischen Kirche ist die unblutige
Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Christi.20 Was in der Heiligen Messe immer wieder
neu wirksam gemacht wird, ist, kurz gesagt, dies, „daß Christus für uns getötet wurde, daß
sein Tod unsere Sünden weggewaschen und den Tod selbst zunichte gemacht hat.“21 Aber
wie soll das möglich sein? Das ist nicht leicht zu verstehen. Die Menschen aller Zeiten waren
sich zwar seit jeher darüber einig, dass man sühnen muss, und dass ein anderer für jemanden
Schulden bezahlen kann. Aber wie es funktioniert, dass durch Sühne eine Tat gleichsam un-
geschehen gemacht wird, und wie einer die Tat eines anderen auf sich nehmen kann, das
vermag im Grunde genommen niemand zu erklären. Aber muss man es überhaupt erklären
können?

IV. Was in der Heiligen Messe geschieht,


kann man nicht erklären,
aber man muss sich doch um ein Verständnis bemühen
§ 17: Die wenigsten Menschen könnten erklären, wie ihre Verdauung funktioniert, und doch
sind sie ohne Weiteres in der Lage, mit bestem Appetit zu essen.22 Man kann auch erlöst
werden, ohne zu verstehen, wie das geschieht. Dennoch geht es nicht ganz ohne Einsicht.
Wenn wir Näheres über die Verdauung wissen wollen (aus Neugier oder weil wir Bauchweh
haben), erwarten wir, dass unsere Eltern oder mindestens unser Arzt etwas darüber wissen.
Aber auch von jemandem, der Mitglied ist in einem Verein zur Pflege gesunder Ernährung,
wäre es doch seltsam, wenn er nicht wenigstens ungefähr erklären könnte, was gesunde Er-
nährung ist und wie sie funktioniert. Nun ist die Kirche nicht mit einem solchen Verein ver-
gleichbar, denn sie ist nicht von Menschen, sondern von Gott selbst gegründet, und sie hat es
mit dem ewigen Heil, nicht nur mit irdischer Gesundheit zu tun. Trotzdem haben die Mitglie-
der eines Schachklubs und die Gläubigen der Kirche etwas gemeinsam: Es wirft kein gutes
Licht auf das Mitglied des Schachvereins, wenn er nicht weiß, wie Schach funktioniert, und
genauso macht sich ein Christ lächerlich, wenn er sagt, er wisse ganz und gar nicht, was beim
Erlösungsopfer Christi geschehe, das in der Heiligen Messe vergegenwärtigt wird.
Wie sollten Menschen an Jesus Christus und die Erlösung durch ihn glauben, wenn man
ihnen nicht wenigstens ansatzweise erklären könnte, auf welche Weise Christi Tod uns und

20 sacrificium, quo cruentum illud semel in cruce peragendum repraesenteretur [d. h.: die Messe ist „ein Opfer,
durch welches jenes Opfer wieder vergegenwärtigt werden soll, das einmal blutig am Kreuze dargebracht wer-
den musste“] (Konzil von Trient, XXII. Sitzung, 17. September 1562 [Denzinger Nr. 1740]). Vgl. Katechismus
der Katholischen Kirche Nr. 1330; 1357; 1362; 1365-1367
21 Clive Staples Lewis : Christentum schlechthin (Glasgow 1955, dt. Basel, Freiburg, Wien: Herder 1959) 56
(Dieses Werk ist wieder erschienen unter dem Titel „Pardon, ich bin Christ. Meine Argumente für den Glau-
ben“, 9Basel: Brunnen 1977, hier 60)
22 C. S. Lewis [Anmerkung 21]: Christentum, S. 55 (Pardon, S. 58f)

21
die ganze Welt erlöst? Für die Glaubwürdigkeit des Christentums hängt viel von solcher Er-
klärung ab, wenn man auch als Christ immer zugeben wird, dass hier jede Erklärung hinter
dem, was sie erklären will, zurückbleiben muss, denn die Erklärung ist menschlich, das Er-
klärte aber göttlich. Es leuchtet auch nicht jede Erklärung jedem gleich gut ein. Der eine fin-
det etwas überzeugend, was der andere überhaupt nicht versteht. Deshalb müssen wir immer
verschiedene Erklärungen versuchen. Das macht die Theologie. Was im folgenden Vierten
Teil steht, ist auch nichts anderes als ein solcher Erklärungsversuch, der mangelhaft bleiben
muss, und der nicht jedem einleuchten wird.
Christus hat sich geopfert. Sein Tod war ein Sühnopfer. Deshalb kommt der Frage große
Bedeutung zu, was es mit Sühne überhaupt auf sich hat. Wenn es nicht gelingt, den Sinn und
die Notwendigkeit von Sühne zu verstehen, dann wird unverständlich, warum das Sühnopfer
Jesu Christi in jeder Hl. Messe erneut vergegenwärtigt werden muss. Der christliche Glaube
an Christi Erlösungstat und an die erlösende sakramentale Macht der Hl. Messe steht
und fällt mit dem Sühne-Begriff. Deshalb müssen wir mit einer gewissen Sorgfalt über
Sühne nachdenken. Das mag streckenweise nicht ganz leicht sein. Diese Mühe müssen wir
auf uns nehmen. Das Christentum ist nun einmal von einem Gehalt, der selbst die größten
Geister und Denker beschäftigt hat, ohne dass sie ihn freilich je erschöpfend zu Ende hätten
denken können.
Zwei Fragen müssen wir zu beantworten versuchen: Warum soll man überhaupt sühnen,
statt eine Schuld auf sich beruhen zu lassen? Wie kann jemand für einen anderen stellver-
tretend sühnen? Diese Fragen versucht der folgende Teil „Das Sühnopfer Christi“ kurz zu
beantworten. Zur ersten Frage gibt das Kapitel I ein paar Hinweis, zur zweiten findet sich
einiges in den Kapiteln II und III bemerkt.

22
Vierter Teil:
Über das Sühnopfer Christi
§ 18: Was die Kirche zu glauben verlangt, ist, dass Jesus Christus durch sein Blut die Welt
erlöst hat. Das ist das eigentliche Bekenntnis des Christentums – und zwar aller christlichen
Bekenntnisse, wenn sie in anderen Fragen auch noch so uneins sein mögen: „Herr Jesus
Christus, Sohn des lebendigen Gottes, der Du nach dem Willen des Vaters unter der Mitwir-
kung des Heiligen Geistes durch Deinen Tod die Welt lebendig gemacht hast: befreie mich
durch diesen hochheiligen Leib und Dein Blut von all meinen Sünden und von allen Ü-
beln“23. Dieses Gebet können alle Christen sprechen. Wenn auch manche von ihnen bestre i-
ten, dass die Hostie auf dem Altar wirklich Christi Leib ist, glauben sie doch alle, dass es
Christi wirkliches Fleisch und Blut ist, wodurch der Welt das Heil gekommen ist. Niemand
vermag allerdings genau zu erklären, wie das Blut Jesu Christi Schuld ausgleichen kann, auch
die folgenden Bemerkungen nicht, die lediglich ein Versuch sind, einen kleinen Blick auf das
Geheimnis zu richten.

I. Schuld und Sühne


§ 19: Schuld besteht darin, dass wir anderen oder uns selbst einen körperlichen, seelischen
oder geistigen Verlust zufügen: Man schadet einem anderen, indem man ihm Geld stiehlt,
seine Ehre abschneidet, seine körperliche Unversehrtheit verletzt, ihn des Seelenfriedens be-
raubt; oder aber man schadet sich selbst, indem man seine Zeit vergeudet, die eigene Ge-
sundheit untergräbt oder die eigenen Talente brach liegen lässt. Wenn uns ein solcher Scha-
den widerfährt, streben wir nach seiner Wiedergutmachung. Schaden drängt zum Ausgleich:
Ein Tier leckt sich die Wunden, damit sie heilen, wir halten einen verbrannten Finger unter
kaltes Wasser, damit der Schmerz vergehe. In ähnlicher Weise verlangen wir, wenn wir be-
leidigt, verleumdet, verraten werden, nach Genugtuung oder Sühne. Ein altes Mittel dazu ist
die Wiedervergeltung: Was der Täter angerichtet hat, wird ihm selbst zugefügt. Aber das
führt meist nicht zum Ausgleich des Schadens. Gestohlenes Geld kann man dem Dieb wieder
abnehmen. Ein ausgeschlagenes Auge aber kann man nicht dadurch ersetzen, dass man dem
Täter auch ein Auge ausschlägt. Das ist der Grund, warum es im Alten Testament heißt:
„Unmöglich nämlich ist es, durch das Blut von Stieren und Böcken Sünden zu tilgen“ (Hebr
10,4). Rache funktioniert nicht, weil sie den Schaden nicht behebt. Und: Rache ist
schlecht, weil sie den Schaden vermehrt: Folgt man dem Satz „Aug’ um Auge“ (Exod 21,24;
Levit 24,20; Deut 19,21), dann ist am Ende nicht ein Auge ersetzt, sondern zwei sind zerstört.

§ 20: Wenn man Schuld nicht vergelten kann, kann man doch auch nicht einfach über sie
hinweggehen, als wäre sie nicht geschehen. Denn das hieße, so zu tun, als wäre Böses genau-
so gültig wie Gutes. Ein ausgeschlagenes Auge stellt keinen Zustand dar, der genauso gut und
gültig wäre, wie ein gesundes Auge, und deshalb müssen wir wollen, dass das ausgeschlage-
ne Auge ersetzt werde, selbst wenn wir wissen, dass das unmöglich ist. Wo wir diesen Drang
nach Ersatz und Ausgleich nicht verspüren, bringt das nur zum Ausdruck, dass uns das be-
einträchtigte Wesen nichts bedeutet. Deshalb müssen wir uns zwangsläufig je mehr wir ein
Wesen lieben, desto heftiger den Ausgleich wünschen. Nicht einmal Gott kann über die
Schuld einfach hinweggehen, sondern er muss wegen seiner Liebe zu jedem einzelnen Ge-
schöpf höchstes Interesse an der Wiederherstellung von dessen Unversehrtheit haben. Das ist

23 Domine Jesu Christe, Fili Dei vivi, qui ex voluntate Patris, cooperante Spiritu Sancto, per mortem tuam
mundum vivificasti: libera me per hoc sacrosanctum Corpus et Sanguinem tuum ab omnibus iniquitatibus meis,
et universis malis

23
die unerbittliche, aber aus Liebe geborene Gerechtigkeit Gottes. Es ist, wie wenn dein Vater
im Zorn deine Mutter mit ungerechten und bösen Worten verletzt hat, und dann, während die
Mutter weinend am Tisch sitzt, mit dir, so als wäre nichts gewesen, in das versprochene Kino
gehen will. Wirst du gerne mitgehen? Wohl kaum, denn du liebst deinen Vater, aber du liebst
auch deine Mutter, und deshalb würde es dir wahrscheinlich wie ein Verrat an der Mutter
vorkommen, wenn du mit deinem Vater in’s Kino gingst als wäre nichts gewesen. Du könn-
test erst dann richtig froh mit deinem Vater gehen, wenn er zuerst die Sache in Ordnung brin-
gen, d. h. den Schmerz, den er der Mutter zugefügt hat, irgendwie wieder gut machen würde.

§ 21: Auch wenn wir Schuld verzeihen, tun wir nicht einfach so, als sei nichts gewesen.
Vielmehr ist die Voraussetzung der Verzeihung, dass es dem Täter Leid tut, und das bedeu-
tet, dass er sich selbst einen seelischen oder geistigen Schmerz – den Schmerz der Reue –
zufügt. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er dem Geschädigten zum Ausgleich für das, was
er ihm genommen hat, gerne etwas von sich selbst geben würde, obgleich er weiß, dass die
Reue keinen zugefügten Schmerz ungeschehen, keinen Ermordeten wieder lebendig macht.
Das beste Beispiel für das Bedürfnis des Schuldigen nach Reueschmerz ist Judas Ischariot:
Er erhängt sich aus Reue über seinen Verrat an Christus (Mt 27,3-5). Gerade weil Judas weiß,
dass er seine Schuld nicht wieder gut machen kann, erlebt er die Notwendigkeit eines Aus-
gleichs, einer Sühne umso heftiger. Im kleineren Maßstab erleben wir das Sühnebedürfnis an
uns selbst. Wenn wir bemerken, dass wir unsere Mutter durch ein freches Wort im Zorn ver-
letzt haben, dann tut uns das normalerweise bald leid. Da empfinden wir Schmerz über den
Schmerz, den wir der Mutter zugefügt haben. Diesen Schmerz fügt uns unser eigenes Gewis-
sen zu. Solange die Mutter nicht wieder versöhnt ist, hört das Gewissen nicht auf, uns diesen
Schmerz weiter zu bereiten.

§ 22: Und doch kann es sein, dass die Reue eines Täters etwas bewirkt. Nimm an, Du hast
jemanden mit dem Fahrrad über den Haufen gefahren und der Betreffende muss für längere
Zeit im Krankenhaus liegen. Und da kann jetzt etwas Eigenartiges geschehen: Wenn der
Verletzte weiß, dass es Dir leid tut, oder wenn Du ihm einen Strauß Blumen in’s Kranken-
haus bringst und ihm ein paar gute Worte gibst, kann es sein, dass dadurch der Heilungspro-
zess beschleunigt wird. Die Blumen bleiben zwar Blumen und lösen sich nicht plötzlich in
Gesundheit auf. Aber es ist doch so, dass die Blumen tatsächlich an der Rückkehr der Ge-
sundheit mitgewirkt haben. Was wir verloren haben, bleibt zwar verloren, aber die Lebens-
kraft, die der Täter sich selbst versagt, indem er sie für seine Reue aufwendet, wird sozusagen
dem Geschädigten anverwandelt, indem sie neue Lebenskräfte in ihm weckt.
Nun gibt es sogar eine Erfahrung von Ausgleich, der geschieht, ohne dass irgendetwas g e-
geben würde: Dolor lenitur tempore, das Leid wird durch die Zeit gelindert. Wohlgemerkt:
Es geht hierbei nicht um das Vergessen von Unrecht, sondern um das Leichterwerden eines
weiter zehrenden Schmerzes. Wenn uns Leid geschieht, verlieren wir an Kraft unserer See-
lensubstanz. Wenn mit der Zeit das Leid leichter wird, kehrt neue Kraft in uns ein: Die See-
lensubstanz wird sozusagen „nachgefüllt“. Sie wird in diesem Fall nicht vom Täter gegeben,
sondern strömt von irgendwoher aus dem Universum in uns ein. Es steht jedoch nicht in der
Macht des Menschen, seine Reue und seine Geschenke in neue Kraft für den Geschädigten
umzuwandeln, und auch das bloße Dahinfließen der Zeit kann nicht bewirken, dass sich neue
Kräfte einstellen. Vielmehr zeigt sich in diesen Phänomenen ein Wirkprinzip, eine Macht, die
der menschlichen überlegen ist. Linderung bewirkt letztlich die Macht Gottes.

§ 23: Aus dem Vertrauen auf die Macht der Götter oder Gottes erwächst in nahezu allen
Kulturen die Idee, dass Menschen, zum Ausgleich für Schuld, die sie nicht wieder gut machen
können, etwas von ihrer Lebenskraft in Gestalt von körperlichen, seelischen oder geistigen

24
Opfern direkt an Gott geben, damit er mittels dieser Opfergaben die Unversehrtheit der durch
Schuld beeinträchtigten Wesen wiederherstelle. Im Blutopfer, Trankopfer, Rauchopfer, Geld-
opfer, Kerzenopfer, oder aber auch durch Wallfahrten, Reue, Verzicht, Gebet und so fort,
geben wir Kräfte und Güter von uns weg. Weil nichts aber zu Nichts zerfallen kann, bleibt das
verblutete Opfertier, die verbrannte Kerze, der verglühte Weihrauch in anderer Form doch
bestehen, und so kann die in diesen Opfergaben verkörperte Lebenskraft durch Gott anderen
Wesen anverwandelt werden. Solche neue Kraft wächst uns etwa in den Erfahrungen von
Linderung eines Schmerzes zu. Aber dies ist nur eine sehr bruchstückhafte Wiedergutma-
chung. Die Hoffnung der Menschen geht aber dahin, dass sie von der Schuld und ihren Folgen
vollständig erlöst werden, wenn sie im Tod in die Sphäre des Göttlichen eintreten.

§ 24: Wenn nun aber Gott alles, was die Menschen in der Welt an Blut vergossen, Leben
gemordet, Seelen vergiftet, Leid, Qual und Schmerz bereitet haben, aus der Lebenskraft der
Schuldigen ersetzen wollte, so würde diese doch nicht ausreichen, um die Zerstörung, welche
die Schuld in der Welt anrichtet, wieder gut zu machen. Ein böses Wort, eine böse Tat eines
Einzelnen zieht meist mehrere andere Menschen in Mitleidenschaft. Wenn es ihm hernach
auch leid tut, wie heftig müsste der Reueschmerz des Einzelnen sein, um den Schmerz von
zwei, drei oder vier anderen aufzuwiegen? Wenn Gott das vergossene Blut vom Mörder zu-
rückfordern und es dem Ermordeten als Lebenskraft anverwandeln wollte, wie könnte z. B.
das Leben des einen Hitler das Leben der Millionen Gemordeten ausgleichen? Eine Arithme-
tik des Ausgleichs zwischen Tätern und Opfern kann nicht funktionieren.

II. Das stellvertretende Opfer der Gottheit


§ 25: Der hl. Bonaventura spricht aus, was verschiedene Religionen ähnlich erkannt haben:
„Kein bloßes Geschöpf konnte als Ausgleich genügen, weil kein Mensch die ganze Menge
dessen hätte aufwiegen können, was zu erlösen war“.24 Gott selbst müsste sich für die Wi e-
derherstellung der Unversehrtheit seiner Geschöpfe hingeben, wenn die Welt von der
Schuld erlöst werden soll. Das ist eine Einsicht die viele Religionen haben, und deshalb gibt
es in vielen Religionen die Hoffnung, dass irgendwann einmal die Gottheit selber sich der
Gottheit opfern möchte für die unversehrte Wiederherstellung von Welt und Mensch (§ 15
[e]). Der Prophet Isaias spricht diese Hoffnung so aus: „Gott selbst wird kommen und euch
erlösen“ (Is 35,4; vgl. Jer 31,31ff).

§ 26: Hat Gott diese Hoffnung der Menschen – diesen Traum des Mythos – tatsächlich er-
füllt? Genau dies und nichts anderes ist die Botschaft des Christentums, dass Gott in
Jesus Christus sich selbst als Opfer zur Erlösung der Welt wirklich dargebracht hat.
Der von vielen Religionen erhoffte Erlöser erscheint, als die von Gott bestimmte Zeit erfüllt
ist, wirklich in der Welt: Jesus von Nazareth, der zur Zeit des Kaisers Augustus in Bethle-
hem geboren wurde und dreißig Jahre später unter Pontius Pilatus am Kreuze starb, ist die
Erfüllung der Erlösungshoffnung. Dieser ist der vom Himmel herabgestiegene Gott, der ge-
kommen ist, alle Schuld der Welt auf sich zu nehmen und durch sein göttliches Blut aus-
zugleichen. Er ist der Christus, der Messias, in dem Gott selbst sich für das Heil der Welt
hinopfert. Für alles je von Geschöpfen verursachte Leid, für alles vergossene Blut, für alle
erlittenen Tode, hat Gott in Jesus Christus gelitten, sein Blut vergossen und sein Leben gelas-
sen. Das Blut dieses Einen vermag alle Schuld auszugleichen, weil er nicht nur ein Mensch,
sondern der ewige Gott selbst ist.

24 De verbo incarnato VIII, 27

25
Pie pellicane, Jesu Domine, Treuer Pelikan, o Herr Jesus,
Me immundum munda tuo Sanguine, Mich Unreinen reinige durch Dein Blut,
Cujus una stilla salvum facere von dem ein einziger Tropfen heil machen
Totum mundum quit ab omni scelere. kann die ganze Welt von aller Schuld.25

Zusatz: Woher wissen wir, dass Christus Gott ist? Manchmal wird behauptet, Jesus von Nazareth sei zwar
ein besonderer Mensch und ein großer Morallehrer gewesen, keineswegs aber sei er Gott. Nun hat Christus von
sich behauptet: „Ehe Abraham ward, bin ich“ (Joh 8,58), „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh
14,6), „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,18) und er hat dementsprechend für sich
in Anspruch genommen (und danach gehandelt), dass er Sünden vergeben könne (Mt 9,2; Lk 5,20; 7,48; Mk
2,5). Jemand, der solche Dinge sagt, wäre – wenn sie nicht stimmten – kein großer Morallehrer, sondern einfach
nicht zurechnungsfähig. Deshalb stehen wir vor einer Alternative: Entweder Christus ist wirklich Gott und das,
was er über sich behauptet hat, ist wahr, oder wir können ihn auch nicht einmal als Morallehrer ernst nehmen.
Dieses (wie ich finde, sehr überzeugende) Argument stammt von C. S. Lewis.26 Natürlich hat Christus seinen
Göttlichkeitsanspruch beglaubigt. Dies geschah während seines irdischen Lebens durch die vielen Zeichen und
Wunder, nach seinem Tode jedoch durch die Auferweckung von den Toten. Wunder und Auferstehung hat
niemand von uns selbst miterlebt, aber sie sind durch die Apostel glaubwürdig bezeugt und deren Zeugnis ist
uns in den Evangelien überliefert. Ein solches Glauben auf ein sicheres Zeugnis hin sollten wir nicht gering
schätzen, denn das meiste von dem, was wir zu wissen meinen, wissen wir in Wahrheit nicht aus eigener An-
schauung, sondern wir glauben es lediglich auf das Zeugnis anderer hin, die wir für glaubwürdig halten. So z.
B. das meiste, was wir jeden Tag in den Nachrichten hören, oder die Tatsache, dass Menschen auf dem Mond
waren. Und auch, wer noch nicht selber in New York war (wie ich), kann nur auf das Zeugnis anderer hin glau-
ben, dass es New York gibt. Ob die Zeugen, die uns derartiges versichern, wirklich glaubwürdig sind, wissen
wir freilich niemals ganz sicher. Manche Nachrichten, die mit dem Anspruch auf Tatsächlichkeit aufgetreten
sind, haben sich schließlich als Propagandalügen erwiesen. Die Apostel jedoch haben die Glaubwürdigkeit ihres
Zeugnisses selbst noch einmal bezeugt: Sie haben alle für die Wahrheit des von ihnen Überlieferten den Märty-
rertod erlitten. Beweise aus Zeugenaussagen sind historische Beweise, keine Beweise aus reiner Vernunftein-
sicht. Sie sind nicht von logischer Evidenz allein getragen, sondern – wie man sagen könnte – von personaler
Evidenz, denn sie haben vor allem mit der Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit der Zeugen zu tun. Hierbei
aber gibt eben nicht bloß die logische Stimmigkeit den Ausschlag, sondern es geht um die Stimmigkeit des
gesamten Charakterbildes des Zeugen.

§ 27: In der Heiligen Schrift scheint es einen großen Widerspruch zu geben. Auf der einen
Seite heißt es: „Ohne Blutvergießen geschieht kein gerechter Ausgleich“ (Hebr 9,22)27. Und:
„Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch vergossen werden“ (Gen 9,6). Auf der
anderen Seite aber soll kein Blut vergossen werden: „Wer immer Kain töten wird, der soll es
siebenfach büßen“ (Gen 4,15). Wie passt das nun zusammen? Der Widerspruch löst sich,
wenn man einen anderen Satz der Schrift im Lichte des Kreuzesopfers Jesu Christi liest:
„Mein ist die Rache und ich will vergelten zu seiner Zeit“ (Deut 32,35). Damit ist nicht ge-
meint, dass Gott beim Jüngsten Gericht die Rache von den Menschen einfordern wird, indem
er ihnen Blut und Leben nimmt. Von Golgotha her wissen wir: Gott hat vergolten, aber
nicht indem er das Blut der Schuldigen vergossen hätte, sondern indem er sein eigenes
Blut dahingab: „der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen werden wird“ (Lk
22,20; vgl. Mk 14,24; Mt 26,28).
Zusatz 1: Wenn Gott sagt, er wolle keine Opfer (Osea 6,6), so ist damit gemeint, er wolle keine Opfer von

25 St. Thomas von Aquin : Hymnus „Adoro te devote, latens Deitas“. – Der Pelikan ist das Sinnbild des Selbs t-
opfers Christi, weil er sich die Brust aufreißt, um seine hungernden Jungen mit seinem eigenen Fleisch und Blut
zu speisen. So lehren es die Sage und der „Physiologus“, ein aus der Antike auf uns gekommenes Büchlein von
Naturgleichnissen.
26 Vgl. Lewis [Anmerkung 21]: Christentum, S. 52-54 (Pardon, S. 56f)
27 Die Schrift spricht von remissio. Das wird gewöhnlich mit „Vergebung“ übersetzt. Tatsächlich b edeutet das
Wort „Zurückschickung“, also die ausgleichende Rückgabe dessen, was man ungerechterweise genommen hat.
In der griechischen Tragödie heißt es: „Ja es ist ein Gesetz, daß sterbend der Strom / Des vergossenen Bluts
Blut wieder verlangt“ (Aischylos: Die Grabesspenderinnen 399f [übertragen von J. G. Droysen, Berlin 1888]).

26
den Menschen, falls sie meinen, damit sei ihre Schuld ausgeglichen. Damit ist aber erstens nicht gesagt, dass es
dieses gerechten Ausgleichs der Schuld nicht bedürfe. Gott will tatsächlich ein Opfer: Aber das, welches er sich
selbst wählt, nämlich Jesus Christus, in dem er selbst das Blut opfert, das alle Schuld ausgleicht (vgl. § 43). Die
kultischen Opfer der Religionen sind überflüssig wegen des Opfers Jesus Christi. Und zweitens ist damit
nicht gesagt, dass Opfer generell sinnlos seien. Allerdings liegt der Sinn der Opfer nicht darin, zum gerechten
Ausgleich beizutragen, sondern darin, Reue zum Ausdruck zu bringen. Wie der Psalmist sagt: „an Brandopfern
wirst du kein Gefallen haben. Ein Opfer vor Gott ist ein betrübter Geist: ein zerknirschtes und gedemütigtes
Herz wirst du, o Gott, nicht verachten“ (Ps 50[51],18f). Freilich darf man die Zerknirschung nicht so weit trei-
ben, dass man sich leiblich, seelisch oder geistig über die Maßen schwächt, denn damit würde man es sich un-
möglich machen, das Gute, das man noch tun könnte, tatsächlich zu tun. Damit würde man erneut schuldig.

Zusatz 2: Was immer Böses geschieht, es ist durch Christi Kreuz schon gesühnt. Deswegen ließ sich durch
das Christentum im Abendland das zerstörerische Rasen der Blutrache bändigen. Auf blutige Wiederver-
geltung konnte man verzichten, weil man wusste: Nicht wir Menschen müssen die Gerechtigkeit wiederherstel-
len (damit wären wir ohnehin überfordert), sondern Gott selbst hat in Christus schon alle Sühne bezahlt. Wenn
uns einer Lebenskraft nimmt, brauchen wir sie ihm nicht wieder abzujagen, denn Christus hat seine göttliche
Kraft der Welt überreich gegeben. Daher versteht man die berühmte Sequenz „Dies irae“, die im tridentinischen
Requiem gebetet wird, völlig falsch, wenn man glaubt, damit solle die Angst vor der göttlichen Rache geschürt
werden. Es heißt in dieser Sequenz zwar, dass „nichts Ungerächtes übrigbleiben wird“ (nil inultum remanebit),
weil Gott der „gerechte Richter der Rache“ (juste judex ultionis) sei. Dieser Rache aber hat Gott nicht die Men-
schen, sondern sich selbst ausgesetzt in Jesus Christus. Der Mensch muss nur zusehen, dass er nicht aus dem
alten Adamsstolz heraus es ablehnt, dass ein anderer für ihn bezahlt. Dass er nicht weiterhin „sein möchte wie
Gott“ (Gen 3,5) und sich nicht helfen lassen will. Vor diesem verblendeten Stolz müssen wir Angst haben, nicht
vor der Rache Gottes. Gott nimmt an uns keine Rache. Das, was er nehmen musste, um die Welt wieder in die
rechte Ordnung und Unversehrtheit zu versetzen, hat er selbst in Christus gegeben. Die Racheschrecken malt
das „Dies irae“ aus, um uns zu der Bitte zu veranlassen, dass Christus uns trotz unserer Neigung zu selbstsüch-
tigem Stolz zu sich rufe und nicht zulasse, dass wir seine Sühne für unsere Schuld hochmütig ablehnen.

Zusatz 3: Christus erlöst durch sein Opfer nicht nur den Menschen, sondern die gesamte Schöpfung . Auch
ohne moralische Schuld beeinträchtigen und zerstören die Wesen in der Welt einander: Die einen leben davon,
dass sie die anderen verspeisen. Und blinde Naturkräfte, wie eine zu Tale donnernde Steinlawine, richten un-
schuldig Verwüstungen an. Die ganze Schöpfung seufzt daher nach Erlösung (Röm 8,22), und Christus erlöst
uns von den natürlichen Übeln ebenso wie von der Schuld (dem moralischen Übel): „Siehe, ich mache alles
neu“ (Geh. Offb 21,5). Deshalb sagt er auch zu den Aposteln, sie sollten das Evangelium der Erlösung „jeder
Kreatur“ predigen (Mk 16,15). So kennt das Alte Testament die Vorstellung, dass auch die Tiere möglicherwei-
se wie der Mensch nach ihrem Tode zu Gott emporsteigen (Prediger 3,21), und der Prophet Isaias verheißt als
Frucht der Erlösung, dass die dürre Erde getränkt sein und erblühen werde (Is, 35,1-2 und 6b-7). Diese Natur-
erlösung hat Richard Wagner im „Karfreitagszauber“ des Parsifal in Versen ausgesprochen und in Musik ge-
setzt. An anderer Stelle schreibt er über Christus: „sein eigenes Fleisch und Blut gab er, als letztes und höchstes
Sühnungsopfer für alles sündhaft vergossene Blut und geschlachtete Fleisch dahin“28. So teilt Wagner (o bgleich
er Protestant ist) die Ansicht, dass das Opfer von Golgotha die Welt „von allen Übeln, den vergangenen, den
gegenwärtigen und den zukünftigen“ befreit hat (wie es im tridentinischen Kanon heißt). Es ist nicht richtig,
wenn man die letzte Bitte des „Vater unser“ auf das moralische Übel einschränkt: „erlöse uns von dem Bösen“.
Tatsächlich geht es um die Erlösung von allen Übeln überhaupt, also auch von außermoralischen Übeln wie
Leid, Krankheiten und Naturkatastrophen. Dem entsprechend verheißt ja auch der Prophet Isaias die Heilung
der Blinden, Tauben und Lahmen, sowie die Befreiung von der Gefahr durch wilde Tiere und vom Schmerz (Is
35,3-6a). Und so war die frühere Form der Bitte korrekter: „erlöse uns von dem Übel“.

§ 28: Letztlich verstehen wir nicht, wie es funktionieren soll, dass Gott aus dem Blut Christi
„alles neu“ macht. Wir sehen hier einen „tiefen Urzauber“29 herrschen. Aber schon einmal
ist alles aus Christus entstanden: „denn in ihm ist alles gegründet in den Himmeln und auf
Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, seien es Throne, seien es Herrschaften, seien es
Fürsten, seien es Mächte: alles ist durch ihn und in ihm geschaffen: und er selbst ist vor al-
len, und alles hat sein Bestehen in ihm“ (Kol 1,16; vgl. Röm 11,36; 1 Kor 8,6; Joh 1,3 und

28 Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. X (Leipzig: Fritzsch 1888, Nachdruck Hilde s-
heim: Olms 1976) 230 [Religion und Kunst]
29 Clive Staples Lewis: Der König von Narnia (1950, dt. München: dtv 1987) 105f und 120f

27
10). In Christi Blut, d. h. im Blute des ewigen Logos selbst, ist nicht nur seine eigene Le-
benskraft, sondern zugleich auch die jedes einzelnen Wesens in allen Räumen und Zeiten
des Alls enthalten (auch wenn wir nicht verstehen, wie das sein kann).

Zusatz: Was ist Zauberei? „Ein Wunder ist nichts anderes als die plötzliche Beherrschung der Materie durch
den Geist“30. Diese Definition gilt auch für die Zauberei. Der Zauberer ist derjenige, der die Materie allein durch
Geisteskraft beherrschen kann. So gesehen, ist Gott der einzige Zauberer: Er bringt die Materie allein durch die
Kraft seines Geistes – dieser kraftvolle Geist ist sein logos (Joh 1,1-3) – hervor und regelt die Kräfte und Bewe-
gungen des gesamten Kosmos durch höchst fein abgestimmte Naturgesetze, die er einrichtet (§§ 68-72).

III. Gottes Liebesopfer: Menschwerdung


§ 29: Gott opfert sich aus Liebe, damit die Geschöpfe nicht wegen ihrer Sündenschuld das
Leben verlieren. Gott tritt an die Stelle der Geschöpfe: Er nimmt Menschennatur an, und so
gibt es ein Geschöpf, in dessen Blut sich unendliche (d. h. unerschöpfliche) und heilige (d. h.
körperlich und sittlich vollkommen gesunde) Lebenskraft verkörpert. Indem er dieses Blut
zum Ausgleich für allen je von Geschöpfen verursachten Schaden, für alles von Geschöpfen
je einander zugefügte Leid hingibt, macht er das Universum wieder heil.

An unserer Statt: Gottes Liebe

§ 30: Warum aber kann Gott unsere Schuld nicht ausgleichen, ohne selber Mensch zu wer-
den, zu leiden und sich aufzuopfern? Machen wir es uns an einem Beispiel klar: Stelle Dir
vor, Du seiest aus Unachtsamkeit mit dem Fahrrad in das geparkte Auto des Nachbarn gefah-
ren und habest den Lack so schwer beschädigt, dass Du die Reparatur nicht bezahlen kannst.
Du müsstest neben Deiner Schule her eine Wochenendarbeit aufnehmen, um genug Geld
zusammen zu bekommen. Nimm nun weiter an, der Nachbar habe in der Lotterie Geld ge-
wonnen. Kannst Du dann sagen, sein Autoschaden sei damit ausgeglichen und Du seiest ihm
nichts mehr schuldig? Nein, das kann man gerade nicht sagen. Der Nachbar mag Millionen
gewonnen haben – Du bist ihm die Reparatur seines Autos solange schuldig, bis Du selbst
oder ein anderer an Deiner Stelle ihm ihren Wert ersetzt. Das ist der Haken: Die Lotterie
zahlt zwar, aber sie zahlt nicht in Deinem Namen. Und so ist es mit dem Ausgleich von
Schuld und anderem Übel: Ein gerechter Ausgleich kommt nur zustande, wenn der Täter
selbst oder jemand im Namen des Täters den Ausgleich leistet, nicht jedoch wenn es ein voll-
kommen Unbeteiligter vollbringt. Weil der Ausgleich vom Täter selbst kommen muss,
muss Gott, wenn er stellvertretend für seine Geschöpfe den Schuldausgleich leisten will,
selber Geschöpfesgestalt annehmen.

§ 31: Warum aber sollte jemand an Deiner Statt den Ausgleich leisten? Jemand würde derar-
tiges für Dich wohl nur tun, wenn er Dich liebt (wie z. B. Dein Vater oder Deine Mutter).
Gott will nicht, dass die Schöpfung durch unausgeglichene Schuld, die nach und nach die
Unversehrtheit aller Geschöpfe beeinträchtigt, sich selbst zerstöre, weil er die Welt und alle
Geschöpfe in ihr liebt (§ 20). So ist es aus Liebe, dass Gott Mensch wird und das Kreuz auf
sich nimmt. Christi Opfer auf Golgotha ist – wie Richard Wagner im Parsifal treffend sagt –
„Gottes Liebesopfer“31 für Welt und Mensch.

30 Gilbert Keith Chesterton: Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen (London 1908, dt. Frankfurt
am Main: Eichborn 2000) 240
31 Wagner, Bd. X [Anmerkung 28] S. 371

28
Einer und alle: Freiheit als Feld von Wechselwirkungen
§ 32: Aber könnte Gott nicht irgendein anderes Geschöpf werden, als gerade ein Mensch?
Ein Stein z. B., der seine Opferung nicht so schmerzlich fühlen würde? Die teuflische Selbst-
sucht hat durch die Freiheit Einlass in die Welt gefunden. Adam hat über das Schicksal der
Schöpfung entschieden. Ein Stein aber kann nichts entscheiden. Wenn Adams Entscheidung
zurückgenommen werden soll, kann dies nur ein „neuer Adam“ (1 Kor 15,45; vgl. 15,21f)
leisten. Weil das Böse, die Wurzel aller Übel, durch die menschliche Freiheit in die Welt
kommt, muss Gott Mensch werden, wenn er das Böse besiegen will.

§ 33: Wie ein Einzelner sich entscheidet, kann im Bösen wie im Guten Auswirkungen auf die
Entscheidungen vieler haben, ohne dass dadurch deren Freiheit aufgehoben würde. So haben
wir beispielsweise beim Fußball die Freiheit, in der „Bayern“-Kurve für die „Sechziger“ zu
schreien. Aber wer bringt es schon leicht fertig, sich gegen die Stimmung Hunderter anderer
zu stellen? Zwischen den einzelnen freien Seelen gibt es geheime Wechselwirkungen. Die
einzelne Seele ist nicht isoliert von allen anderen, sondern ist mit ihnen auf ähnliche
Weise verbunden, wie die Elementarteilchen im physikalischen Energiefeld. Das Bei-
spiel, die Worte anderer, zwingen uns daher zwar nicht, zu tun, was wir nicht wollen, aber sie
können uns geneigt machen. Und das in so starkem Maße, dass es über unsere Kräfte gehen
kann, unsere Freiheit wirklich unabhängig zu gebrauchen.
Zusatz: Es ist, wie wenn uns wohlige Müdigkeit umfängt: Wir sind noch nicht eingeschlafen und wir spüren,
dass es an uns liegt, ob wir uns weiter in den Schlaf gleiten lassen oder zur Wachheit durchringen. Wir sind in
solchen Situationen nicht etwa körperlich gezwungen, einzuschlafen, so als hätten wir eine Schlaftablette ge-
schluckt, deren chemische Wirkstoffe den Schlaf unausweichlich und notwendig machen. Dennoch fällt es un-
geheuer schwer, sich dem Schlaf zu entwinden, der uns zwar nicht zwingt, wohl aber geneigt macht. Wir sehen
in solchen Lagen die zu erledigenden Aufgaben nicht mehr oder wollen sie nicht mehr sehen, wir reden uns
selber ein, wir könnten das ja alles später machen.

§ 34: Unsere Freiheit ist in solchen Fällen nicht aufgehoben, aber sie ist umgeben von Verlo-
ckungen, die an unsere Selbstsucht appellieren: Wenn wir im Grunde unseres Herzens nicht
immer schon dazu bereit wären, unsere Interessen auch einmal rücksichtslos gegen andere
Wesen durchzusetzen, könnte uns nichts zum Bösen verleiten. Das gilt auch umgekehrt:
Wenn wir nicht immer auch schon bereit wären, hin und wieder einmal gegen unsere Selbst-
sucht anzukämpfen, könnte uns nichts zum Guten bringen. Deshalb hebt die Tatsache, dass
unser Handeln oft einem schwer zu überwindenden Einfluss anderer unterliegt, keines-
wegs unsere Freiheit auf.
Zusatz: Erbsünde? Es ist nicht so, dass Adam für uns die Entscheidung zum Bösen getroffen hätte und wir
sie unschuldig erben würden. Wer keine Bereitschaft zum Bösen hätte, der könnte nie etwas Böses tun. Wir tun
Böses, nicht ein anderer in uns, und wir tun schon als Kinder hin und wieder Böses. Wir bringen die Bereit-
schaft dazu also zwar mit auf die Welt, als ob wir sie geerbt hätten. Aber wir tun das Böse nicht gezwungen,
sondern freiwillig. Wir müssen uns daher schon bevor wir auf die Welt kamen selbst dafür entschieden haben,
das Böse als eine Möglichkeit neben dem Guten zu akzeptieren, auch wenn wir davon nichts mehr wissen. Wir
haben uns gleichzeitig mit Adam entschieden, auch das Böse in uns aufzunehmen. Adams Tat findet ja in der
Ewigkeit (bei Gott) statt, und dort ist alles gleichzeitig: Als Adam im Paradies dem Bösen sein Ohr lieh, war
mit ihm ein jeder von uns Späteren mit seiner eigenen Entscheidung vor Gott gegenwärtig. Dass tatsächlich
jeder diese Entscheidung getroffen hat, zeigt sich daran, dass jeder schon einmal etwas Böses getan hat.

„Abgestiegen zu der Hölle“: Christi Sieg über den Satan


§ 35: Durch Adams Entscheidung wurde dem Teufel die Macht über die irdische Schöpfung
eingeräumt. Er hätte seinen verderblichen Einfluss auch auf die gut gesinnten Menschen so
weit ausdehnen können, dass auf’s Ganze gesehen am Ende das Böse allein die Welt be-
herrscht hätte. Niemand von den Menschen ist eine so starke und reine Persönlichkeit, dass er

29
die teuflischen Einflüsterungen aus sich allein heraus überwinden könnte. Einzig der
menschgewordene Gottessohn besitzt diese Stärke und Reinheit der Gesinnung (Hebr 7,26):
Christus bleibt ein ganzes menschliches Leben lang gegen alle Versuchungen des Teufels
standhaft. Er harrt aus im Gehorsam und in der Liebe gegenüber dem Vater. Als Adam
sich an die Stelle Gottes setzte, bedeutete das, dass der Mensch sich aus der alles harmonisie-
renden Herrschaft Gottes herausstellte und sein Interesse gegen die anderen und das Ganze
setzte. Indem Christus Mensch und doch selber Gott ist, gibt in ihm der Mensch der göttli-
chen Weltherrschaft wieder Raum im Leben. Die Herrschaft über die Welt, die der Teufel als
Strippenzieher des Weltgeschehens ausübt, entreißt ihm Christus im Tode: Während der drei
Tage des Verweilens im Grabe steigt der Gottessohn zur Hölle (§§ 58f) hinab, verkündet den
Toten das Evangelium (1 Petr 3,18ff und 4,6) und kämpft mit dem Satan und seinem Heer um
die Vorherrschaft über die Welt (Hebr 2,14). Die Knechtschaft, in die Adams Entscheidung
die gesamte Schöpfung gebracht hat, ist aufgehoben, weil Christus „mit dem Fürsten des
Todes kämpfen und sterbend über ihn triumphieren sollte“32.
Zusatz 1: Christus hat aber (daran erinnere ich nochmals) nicht nur die gottesfeindliche innere Gesinnung
der endlichen Freiheit durch seine Heiligkeit überwunden, sondern er hat auch den in der Welt angerichteten
äußeren Schaden durch sein Blut ausgeglichen (§§ 26f). Christus ist nicht bloß ein Morallehrer, sondern der
Welt und Mensch erlösende Gott. Wenn Christus uns nur Vorbild gewesen wäre, wie ein guter Mensch zu
leben, dann wäre die Welt noch immer unerlöst, denn selbst wenn durch Christi Beispiel alle danach lebenden
Menschen zu guten Menschen geworden wären, die nichts Böses mehr verbrochen hätten (wie anders ist es
gekommen!), dann wären doch die zuvor durch die Bösen angerichteten Zerstörungen dadurch nicht ausgegli-
chen gewesen. Immanuel Kant hat das genau auf den Punkt gebracht: Dass jemand „nach seiner Herzensände-
rung keine neuen Schulden mehr macht, kann er nicht dafür ansehen, als ob er dadurch die alten bezahlt habe“33.

Zusatz 2: Der Glaubensartikel vom Höllenabstieg (Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 632-637) spielt
heute in Unterricht und Predigt kaum mehr eine Rolle. Ein lebendiges Bild aber erhält man, wenn man Goethes
Gedicht „Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi“ liest. Man muss das lange Gedicht vollständig
lesen, hier nur ein kleiner Auszug: „Gott ward ein Mensch, Er kam auf Erden, / ‚Auch dieser soll mein Opfer
werden!’ / Sprach Satanas und freute sich. / Er suchte Christum zu verderben, / Der Welten Schöpfer sollte
sterben; / Doch weh dir, Satan, ewiglich! / Du glaubtest Ihn zu überwinden, / Du freutest dich bei seiner Not; /
Doch siegreich kommt Er, dich zu binden: / Wo ist dein Stachel hin, o Tod?“ (Hamburger Ausgabe I, 11).

§ 36: Allerdings: Christus hat den Satan nicht vernichtet. Auch die gefallenen Engel sind
nämlich Geschöpfe Gottes und dürfen deswegen nicht einfach aus der Schöpfung entfernt
werden, so wie man auch unartige Kinder weiter liebt und sie nicht verhungern lässt. So gibt
es auch fernerhin in der Welt das Böse und die Versuchung. Ja, Christi Sieg über den Satan
reizt sogar diejenigen, die böse sein wollen, zu umso stärkerem Dagegenhalten: Hitler und
Stalin haben ihre Verbrechen nicht umsonst in der von Christus erlösten Welt begangen. Aber
der endgültige Sieg liegt nicht mehr beim Bösen: Auf’s Ganze gesehen wird durch die Kraft
und Reinheit Jesu Christi das Gute siegen. Denn indem Christus Mensch wurde, trat er ein in
das Wechselwirkungsfeld menschlicher Freiheiten: Durch die Macht seiner vollkommen
reinen Gesinnung, die sich ein ganzes Menschenleben hindurch als Gehorsam gegen
Gott verwirklicht, taucht er unsere menschliche Freiheit, die Adam der Einfluss-Sphäre
des Bösen ausgeliefert hat, in eine neue, dem Guten wieder zugewandte Atmosphäre.
Zusatz: Das ist ähnlich, wie wenn eine Horde Jugendlicher randalierend durch die Straßen zieht, Passanten
belästigt, Autos und Fensterscheiben beschädigt, Mädchen anpöbelt und sonst alles mögliche Schlimme anrich-
tet. Einige in der Gruppe wollen nicht so recht mitmachen, aber der Einfluss der lautesten Schreier ist doch
größer als die Energie ihrer Freiheit, „Nein“ zu sagen, und so machen sie mit. Plötzlich jedoch kommt der An-

32 cum mortis principe esset pugnaturus, ac moriendo triumphaturus ( Tridentinisches Missale Romanum: Ora-
tio von der Palmweihe am Palmsonntag)
33 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [1793] (Akademieausgabe VI) 72

30
führer der Bande, einer, der zu ihnen gehört, der aber einen stärkeren Willen als alle anderen hat und größeren
Einfluss auf sie als irgend ein anderer. Wenn dieser sagt: „Was macht ihr da? Hört doch auf mit dem Unfug!“,
dann werden die Wilden gehemmt werden, und die Besonneneren, die sich bisher nichts zu sagen trauten, wer-
den ihm beistimmen und jetzt auf einmal auch den Mut haben, zu sagen, dass sie die geschehenen Ausschrei-
tungen eigentlich gar nicht selber gewollt hätten.

Wie werden wir der Kraft Christi teilhaftig und dieser Teilhabe würdig?
§ 37: Durch Christi Leben und Leiden kommt neue Lebenskraft in die Welt, welche denen,
die gut sein wollen, ebenso sehr seelische Stärke verleiht, wie Adams Lebensentscheidung
die schwächenden teuflischen Einflüsse entfesselt hat. Wie gewinnen wir Anteil an Christi
Kraft? Lebenskraft liegt im Blut und im Leib des Menschen. Auch die Kraft der heiligen
Persönlichkeit und des heiligen Lebens Jesu Christi ist verkörpert in seinem Leib und in sei-
nem Blut. Deshalb gewinnen wir Anteil an Christi Kraft, indem wir seinen Leib essen
und sein Blut trinken (Joh 6,54). Dieser Teilhabe an Christi Erlösungswerk aber werden wir
nur dadurch würdig, dass wir einen sittlich guten Lebenswandel führen.

IV. Christus, der ewige Hohepriester


§ 38: Menschliche Priester, wie der jüdische Hohepriester, der die letzte Erscheinungsweise
des Priestertums vor dem Kommen des Heilandes war, bringen für sich selbst und für andere
Menschen Gott Opfer dar. Dies sind die wesentlichen Elemente eines jeden Opfers: Opfer-
priester, Opfergabe und Opferempfänger (Gott). Beim Opfer Christi fallen diese drei
(sonst verschiedenen Ämter) in der einen Person des Gottmenschen zusammen:
[a] Die Gottheit gibt sich selbst hin als Ausgleich für all das, was die einzelnen Wesen in
der Welt einander zu Unrecht genommen haben: So ist Gott selbst die Opfergabe.
[b] Niemand freilich könnte Gott zwingen, sich opfern zu lassen. Nur in eigener Tat kann
Gott sich zur Opfergabe machen, indem er sich freiwillig ausliefert und töten lässt. So ist
Gott zugleich der Darbringer der Gabe (die er selbst ist), also der Opferpriester.
[c] Weil das Opfer alle Übel des gesamten Universums ausgle ichen soll, kann es nur Gott
selbst dargebracht werden, da kein Geschöpf die ungeheuere Gabe in vollkommener Gerech-
tigkeit verwalten könnte. So ist Gott selbst auch der Opferempfänger.

§ 39: Da Christus der Sohn des Vaters ist, lebt er in der Ewigkeit Gottes. Ewigkeit bedeutet,
dass es kein Vorher und Nachher gibt, sondern dass alles gleichzeitig gegenwärtig ist, das
Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige. Gott schaut alles gleichzeitig und des-
halb ist sowohl das Opfer Christi (sein Tod), wie auch seine Auferstehung, Himmelfahrt und
einstige Wiederkunft für Gott in ewig gegenwärtiges Geschehen. Für Gott geschieht die ge-
samte Heilsgeschichte in jedem Augenblick und ist in jedem Augenblick auch vollendet. Das
bedeutet, dass die ganze Geschichte der Welt vom Sündenfall bis zur Erlösung und zur
Vollendung dort in ewiger Gleichzeitigkeit gegenwärtig ist. Deshalb kann die Heilige
Schrift sagen, das Lamm sei geschlachtet „vom Ursprung der Welt an“ (Geh. Offb 13,8).
Allerdings ist sein unendliches Leid immer auch gleichzeitig schon vollendet in die unendli-
che leidlose Freude des Himmelreiches hinein. Christus hat sein Opfer zwar nur einmal im
Laufe der Zeiten vollbracht (Hebr 9,25-28), weil er aber in der Ewigkeit Gottes lebt, ist sein
zeitliches Opfer zu allen Zeiten gleichzeitig: Es findet vor dem Angesichte Gottes jederzeit
statt, so als würde es zu jedem Zeitpunkt vollzogen. Jeden Tag werden überall auf der Welt
viele Heilige Messen gelesen. Sie alle sind Strahlen des einen ewigen Opfers Jesu Christi in
die Zeit herein. So sagt die Heilige Schrift zurecht von Jesus Christus: „dieser aber, weil er
in Ewigkeit lebt, hat ein ewiges Priestertum“ (Hebr 7,24). Und: „Du bist Priester in Ewigkeit
nach der Ordnung des Melchisedech“ (Hebr 7,17; vgl. §§ 44-49).

31
Fünfter Teil:
Vorläufer Christi
§ 40: Christus leistet das vollendete Sühnopfer. So gesehen, sind alle Opfer in allen Religio-
nen Vorläufer des Opfers Christi. Sie sind aber Vorläufer nur in dem Sinn, dass sie etwas
erreichen wollen, was sie nicht erreichen, sondern was erst Christi Opfer erreicht: gerechten
Ausgleich aller Schuld. Ihre Opfer nimmt Gott nicht an, weil diese Opfer nicht Schuld süh-
nen, sondern selber neue Schuld begehen, indem Unschuldige als Sündenböcke für Taten
geopfert werden, die nicht sie, sondern die begangen haben, von denen sie geschlachtet wer-
den. Deshalb will Gott nicht, dass die Menschen derartige Opfer darbringen (§ 27 Zusatz 1).
Drei Opfer des Alten Testamentes jedoch – die Opfer Abels, Abrahams und Melchise-
dechs34 – nennt der römische Messkanon, die von Gott angenommen wurden. Gott nimmt
diese Opfer nicht deswegen an, weil sie zur Sühne für die Schuld der Welt beigetragen hät-
ten. Zu diesem Zweck waren sie unnötig, denn dazu ist das Blut Christi ganz allein überge-
nug. Gott bezeigt diesen Opfern Wohlgefallen, weil sie wie Verheißungen vorausweisen auf
das Opfer Christi.

I. Abel
§ 41: Abel opfert ein Lamm. Das ist zwar ein fremdes, unschuldiges Leben. Aber es ist auch
ein Verweis auf das Lamm Gottes, auf Christus, der ebenso unschuldig geopfert werden
wird. So ist das Opfer Abels eine Vorahnung des vollkommenen Opfers Jesu Christi. Warum
Gott Kains Opfer nicht annimmt, wird nicht gesagt. Da der allwissende Gott jedoch um die
Bosheit Kains weiß, der aus Eifersucht heraus Abel erschlagen wird, nimmt er wohl deswe-
gen das Opfer Kains nicht an (Gen 4,1-16).

II. Abraham
§ 42: Abraham ist bereit, seinen Sohn zu opfern. In Wirklichkeit aber will ihn Gott nicht als
Opfer, denn der Sohn Gottes selbst soll einst das vollkommene Opfer darstellen. Es heißt,
Gott habe den Abraham mit dem Befehl zur Opferung Isaaks „in Versuchung geführt“ (Gen
22,1). Das Menschenopfer ist eine Versuchung zum Bösen. So wird zwar dem Abraham sein
Gehorsam von Gott angerechnet. Der Engel sagt: „Nun weiß ich, dass Du Gott fürchtest, und
meinetwegen Deinen Sohn nicht verschont hättest“ (Gen 22,12; man beachte, dass der Engel
Gott selbst ist: er sagt „meinetwegen“, wenn er Gott meint). Dennoch wird Abrahams Gehor-
sam entscheidend korrigiert: Gott weist das Sohnesopfer zurück: „Strecke Deine Hand nicht
aus wider den Knaben und tue ihm nichts an“ (Gen 22,12). Gott lobt zwar den Gehorsam
Abrahams, tadelt aber die Art und Weise, in welcher sich der Gehorsam zeigt. Gott gibt
die Kinder nicht zum Opfern, sondern damit sie leben. Menschenopfer sind bei den falschen
Götzen üblich, wie bei Baal. Es ist ein falsches Bild von Gott, wenn der Mensch meint, er
könne seine Schuld bei Gott ausgleichen, indem er unschuldige Andere opfert. Abrahams
Versuchung ist es, sich Gott wie einen Götzen vorzustellen. Gott aber korrigiert ihn durch
den Engel, der Gott selbst ist. Und Abraham gehorcht wiederum: Er lässt von dem Knaben
ab. Gott selbst lehrt also die Menschen, dass Menschenopfer unsittlich sind.
Zusatz 1: Worin bestand der Glaube Abrahams, der so stark war, dass er ihm zur Rechtfertigung angerechnet

34 Weitere Vorbilder des Opfers Christi im Alten Testament bilden Noah (Gen 8,20-22), Aaron ( Exod 29),
Phineas (Num 25) und das Paschalamm (Exod 12). Vgl. hierzu A. Reiners: Das Hl. Meßopfer in seinen Ge-
heimnissen und Wundern, 5Stuttgart 1913, 31-42.

32
wurde (Röm 4,9)? Hat er geglaubt, dass alles, was Gott verlangt, gut und richtig sein muss, und deswegen nicht
gezögert, seinen Sohn zu opfern? Nein, Abraham hat es wohl keine Sekunde für gut und richtig gehalten, den
Isaak zu opfern. Was wäre er sonst für ein Vater gewesen? Abrahams Glaube bestand vielmehr darin, dass er
überzeugt war, Gott würde ihm den Isaak nicht nehmen, selbst wenn er das Messer gegen ihn zückte: „Er dach-
te, daß Gott mächtig sei, auch von Toten zu erwecken; weshalb er ihn auch als ein Vorbild wieder erhielt“ (Hebr
11,19). Hier steht es also ausdrücklich: Abraham hat geglaubt, dass Gott Isaak trotz des Opferungsbefehls nicht
sterben lassen, oder ihn doch dann wieder auferwecken werde. Aus dem drohenden Tod hat Gott den Isaak
tatsächlich dem Abraham zurückgegeben, wie er Jesus Christus später aus dem wirklichen Tode herausholen
wird. Deshalb ist Isaak ein Hinweis auf Christus (ein „Vorbild“, wie es im Hebräerbrief heißt). Der dänische
Christ und Denker Sören Kierkegaard hat diesen Punkt genau erfasst: „Er bestieg den Berg, und noch in dem
Augenblick, als das Messer blitzte, glaubte er – daß Gott Isaak nicht fordern werde“35. – Wenn Abraham jedoch
so sehr davon überzeugt war, dass Gott den Isaak nicht sterben lassen werde, wie konnte er dann meinen, Gott
würde ihn durch die Forderung des Sohnesmordes zum Ungehorsam versuchen? Gott versucht niemanden, sagt
die Heilige Schrift selbst (Jakobusbrief 1,13). Abraham täuscht sich, wenn er meint, Gott versuche ihn. Seine
Versuchung besteht vielmehr gerade darin, zu meinen, Gott könne ihn versuchen, indem er etwas Unsittliches
verlange, also etwas, was Gott gar nicht verlangen kann, ohne seine Gottheit aufzuheben. Abraham ist in Versu-
chung, seiner sittlichen Vernunft nicht zu trauen, die ihm sagt, dass der nicht Gott sein kann, der ein Verbrechen
fordert. Abraham ist versucht, Gott für einen Götzen zu halten, der Menschenopfer will. Aber obgleich er des-
wegen mit dem Messer auf Isaak losgeht, vertraut er doch gleichzeitig felsenfest darauf, dass Gott den Isaak
nicht sterben lassen werde. Das tut Gott tatsächlich und zeigt auf diese Weise, dass der Mensch sich auf seine
sittliche Vernunft, deren Licht ihm ja schließlich von Gott verliehen wurde, verlassen kann und im Lichte dieser
Vernunft prüfen soll, ob Gott von ihm das wirklich will, was der Mensch meint, dass Gott will. Das blinde Ver-
trauen in Gott ist Abrahams Verdienst (vgl. auch Röm 4,18-22), sein Misstrauen gegenüber der Vernunft jedoch
ist sein Fehler.

Zusatz 2: Nicht nur den Abraham belehrt Gott über die Unsittlichkeit der Menschenopfer. Im alten heidn i-
schen Rom zweifelte einst König Numa Pompilius an der Richtigkeit der Menschenopfer. Die Nymphe Egeria
zeigte ihm daraufhin eine List, wie er den Zeus vom Verlangen nach Menschenopfern abbringen könne. Eine
Nymphe gehört, ähnlich wie ein Engel, selber dem göttlichen Bereich an. So ist es also auch hier in Rom die
Gottheit selbst, welche den Menschen die Zuverlässigkeit ihrer sittlichen Vernunft bestätigt.36

§ 43: Abraham opfert an Stelle seines Sohnes einen Widder. Darauf geht die Opferung des
Sündenbockes in Israel zurück: Keine Menschen sühnten die Sünden, sondern Tiere, Böcke.
Nirgendwo in der Abrahamsgeschichte steht jedoch, dass Gott oder sein Engel die Opferung
des Widders befohlen hätten. Es heißt nur, dass der Widder sich mit seinen Hörnern im Ge-
strüpp verfangen hatte (Gen 22,13). Und weil Abraham irgendein Opfer bringen wollte, nahm
er eben den Bock. Wir neigen vielleicht zu der Annahme, dass Gottes Hand selbst durch den
Engel dem Abraham den Widder zum Zwecke der Opferung zugeführt habe. Es scheint so,
als hätte Abraham es selbst auch so verstanden. Denn als auf dem Wege zum Opferberg Isaac
seinen Vater fragt, wo denn das Opfertier sei, da hatte Abraham (der noch meinte, den Isaac
opfern zu sollen) ausweichend geantwortet, Gott werde sich schon selbst ein Opfer suchen
(Gen 22,6-8). Und so liegt es nahe, zu vermuten, dass er dann, als er den Widder sah, glaubte,
das sei das von Gott ausersehene Opfer. Tatsächlich will Gott solche Opfer wie die von Söh-
nen oder Tieren gar nicht: „Und es sprach Samuel: Will Gott etwa Brandopfer und Schlacht-
opfer, und nicht eher, dass der Stimme des Herrn gehorcht werde?“ (1 Könige 15,2237; vgl. §
27, Zusatz [1]) Deshalb muss der jüdische Tempel mit seinen Brandopfern überwunden wer-
den durch Jesus Christus, der das eine und einzige genügende Opfer bringt. Insofern hat Ab-
raham ganz richtig gesprochen: Gott wird sich selbst ein Opfer aussuchen. Das war aber
nicht jener Widder, sondern es wird Jesus Christus sein. Das freilich konnte Abraham
noch nicht wissen. Dem heiligen Paulus ist es dann, als Christus tatsächlich gekommen war,
offenbar: „Dem Abraham sind die Verheißungen gegeben worden und seinem Nachkommen.

35 Sören Kierkegaard: Furcht und Zittern (In: Werke, Band III, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1998) 31
36 Gustav Schalk: Römische Götter- und Heldensagen (Wien: Ueberreuter 1954) 105-107
37 Entspricht: 1 Samuel

33
Er [Gott] sagt nicht: ‚und deinen Nachkommen’, gleich wie auf viele bezogen, sondern auf
einen bezogen: ‚Und deinem Nachkommen’, welcher Christus ist“ (Gal 3,16). Nur durch den
Einen – Jesus Christus – und nur in ihm und mit ihm erhalten alle die vielen das Heil und die
Erlösung, welche Gott dem Abraham versprochen hatte. Christus steht stellvertretend für alle.

III. Melchisedech
§ 44: Über Melchisedech hören wir in der Heiligen Schrift ganz wenig. Nur drei Bibelverse
im Alten Testament sagen uns etwas über ihn. Nachdem Abram (das ist ab Gen 17,5: Abra-
ham) Feinde besiegt hat, begegnet er dem Melchisedech, als er vom Schlachtfeld zurück-
kommt: „Melchisedech aber, der König von Salem, brachte Brot und Wein herbei, er war
nämlich der Priester des höchsten Gottes. Er segnete und sagte: Geweiht seiest Du Abram
dem Gott in der Höhe, der Himmel und Erde geschaffen hat: und gepriesen sei der Gott in
der Höhe, durch dessen Schutz die Feinde in Deinen Händen sind. Und er [Abram] gab ihm
den Zehnten von allem“ (Gen 14,18-20). Melchisedech ist König und Priester zugleich (§§
45f). Trotz der sehr spärlichen Nachrichten über ihn ist er für Judentum und Christentum eine
überaus wichtige Gestalt (§ 47), denn er ist eine himmlische Erscheinung (§ 48).

§ 45: Melchisedech ist König von Salem. Das „heilige Salem“ ist Jerusalem. Außerdem ist er
Priester. Was bedeutet das Priesterkönigtum? Der König ist zuständig dafür, dass das Leben
des Volkes und Staates funktioniert. Der König ist für das Ganze verantwortlich, und muss
dieser Sorge das verständnisvolle Eingehen auf den Einzelnen unterordnen. So muss er z. B.
bei Gefahr Kriege führen, ohne auf die Klagen der Mütter und Gattinnen der Soldaten zu
achten. Die Angst und die Leiden der Krieger dürfen ihm nicht so wichtig sein, wie der
Schutz des Landes. Andere Völker dürfen dem König nicht so wichtig sein, wie das eigene.
Ganz anders der Priester. Er sorgt für jede einzelne Seele. Ihr Heil ist ihm wichtig, nicht
das Funktionieren politischer Systeme. Der Priester will Gerechtigkeit für jeden Einzelnen
und von jedem Einzelnen. Die Erfordernisse der „Staatsraison“, der man den Einzelnen op-
fert, dürfen den Priester nicht interessieren. Der Priester hat es mit dem zu tun, was man po-
litisch nicht organisieren kann: mit den persönlichen Sinnerfahrungen der Menschen. Diese
Erfahrungen stehen oft im Widerstreit mit den Erfordernissen der Wirtschaft, der Justiz, der
Politik. Der Priester muss darauf achten, dass die Frage nach der Wahrheit von Sinnerfah-
rungen (gemessen am Maßstab der göttlichen Offenbarung) nicht verdrängt wird von der
Frage nach ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit. Der Priester weiß, dass alle Menschen und
Völker vor Gott gleich sind, und dass die politische Bevorzugung des eigenen Volkes und
seines Vorteils ungerecht ist. Der Priester kann kein glühender Patriot sein, weil er weiß,
dass alle Menschen Gottes Kinder sind. Der Priester hat das wahre Ganze im Auge, das alle
Menschen umfasst und keinen ausschließt. Das „Ganze“ des Königs – der einzelne Staat, das
einzelne Volk unter den vielen, die es davon unter Gottes Sonne gibt – ist in Wahrheit nicht
das Ganze, sondern selbst bloß ein Teil.

§ 46: Melchisedech vereinigt das Königtum und das Priestertum in sich. Zwei an sich unver-
einbare Haltungen verbindet er in einer Person. Wie soll jemand als König ein Volk lenken
und gleichzeitig nach innen jedem Einzelnen seines Volkes, aber auch nach außen allen ande-
ren Völkern wirklich gerecht werden? Das vermag kein endlicher Mensch. Eine solche Har-
monie konnte nur im Paradiese vor dem Sündenfall herrschen: Damals konnte zwar ein ein-
zelner Mensch genauso wenig das Ganze in seiner Harmonie sichern, aber seine Handlungen
waren immer schon umfangen von der durch Gott gewahrten Harmonie des Ganzen, die der
Einzelne gar nicht zu durchblicken brauchte, mit der er aber immer schon im Einklang war:
Denn damals lebten alle Einzelwesen unmittelbar aus Gott, und in Gott sind die Unterschiede

34
der Einzelwesen harmonisch versöhnt, sie treten nicht in Kampf und Streit auseinander, wie
es dann hernach geschah, als die einzelnen Wesen (vermöge Adams Sündenfall) sich selbst
statt Gott zum Zentrum des Lebens machten. Damit zerfiel das eine wahre Ganze in viele
Teile, von denen jeder fälschlicherweise beanspruchte, selbst das Ganze zu sein. Seither ste-
hen die vielen unterschiedlichen Teilerfassungen des wahren Ganzen einander feindlich ge-
genüber. Nur in der Person des Melchisedech war die paradiesische Einheit noch ge-
genwärtig: Er vereinigte Königtum und Priestertum auf vollkommene Weise. Er war König
für sein Volk, aber nicht gegen andere. Er war König „König der Gerechtigkeit und des Frie-
dens“ (Hebr 7,2) – d. h. König von (Jeru-)„Salem“ oder „Shalom“, was eben „Friede“ heißt –
er war kein König des Krieges. Von Jerusalem heißt es beim Propheten Isaias, dass einst alle
Völker der Erde dorthin ziehen werden, und dass Gott selbst sie seine Wege lehren wird, so
dass kein Volk mehr gegen das andere das Schwert erheben wird (Is 2,1-4). Melchisedech ist
König und Priester an dem Ort, an welchem das paradiesische Friedensreich des wahren, d. h.
gottverbundenen „Ganzen“ der Schöpfung einmal war und einst wieder erscheinen wird. So
ist er der Vorschein des himmlischen Reiches, dass die gesamte Schöpfung in den göttlichen
Frieden heimholt.

§ 47: Woher wissen wir aber, dass Melchisedech Königsamt und Priesterwürde auf paradiesi-
sche, also vollkommene Weise vereinigt? Es gibt vielerorts in der Menschheitsgeschichte
Könige, die gleichzeitig priesterliche Aufgaben haben. In Rom z. B. hatten Staatsbeamte auch
priesterliche Funktion und umgekehrt. In solchen Fällen kann man sicherlich nicht von einer
vollkommenen, gar himmlisch-paradiesischen Harmonie zwischen beiden Funktionen spre-
chen. Viel eher wird durch eine solche Ämterverbindung oft das Priesteramt zu politischen
Zwecken missbraucht, und das Königsamt durch die Sakralität mit dem Schein der Rechtmä-
ßigkeit versehen. Wieso sollte es bei Melchisedech anders gewesen sein? Weil er kein
Mensch unter Menschen, sondern Himmelerscheinung war. Dazu muss man Folgendes
wissen: Von Melchisedech wird in der Heiligen Schrift nicht berichtet, ob und wann er gebo-
ren wurde, ob und wann er starb, ob er Eltern hatte und ein Geschlecht von Vorfahren und
Nachkommen. Über all das ist nichts gesagt. Ist er also auf der Welt, ohne auf menschliche
Weise geboren worden zu sein? Wird er nie sterben? Gehört er gar nicht der Verwandtschaft
der Menschen an? Die alten jüdischen Ausleger der Bibel wussten schon: Es ist nicht nur von
Bedeutung, was die Bibel sagt, sondern auch, was sie nicht sagt. Alles in ihr ist Offenbarung.
Wenn sie etwas nicht erwähnt, dessen Erwähnung man aus menschlicher Vernunft heraus
erwarten würde, dann kann das nur heißen, dass auch dieses Schweigen Träger göttlichen
Sinnes ist. Nun wäre es wichtig und zu erwarten, von der Abstammung des Melchisedech zu
hören, denn für einen König oder Priester ist in der Heiligen Schrift gerade die Abstammung
wichtig, weil sie die rechtmäßige Amtsinhabe bezeugt. Es gibt keinen König oder Priester
von einiger Wichtigkeit in der Bibel, dessen Abstammung nicht vermerkt würde – außer
Melchisedech. Und dennoch: Obwohl über ihn nichts Näheres gesagt wird, als wäre er völlig
unwichtig, scheint es, dass Melchisedech bedeutender als Abraham ist, der doch eigent-
lich der wichtigste Mann der Heilsgeschichte vor Christus ist: Abraham ist immerhin der
Stammvater des auserwählten Volkes und damit auch der Stammvater Jesu Christi (seiner
Familie nach); außerdem hat Gott selbst dem Abraham Verheißungen gemacht (Gen 12,1-3;
13,14-18; 17,15f) und ihn höchstpersönlich in Begleitung zweier Engel auf Erden besucht
(Gen 18). Und dieser Abraham, von Gott selbst begünstigt und geehrt, ist dem Melchisedech
tributpflichtig! Melchisedech steht also noch über Abraham.38 Und er steht sogar Gott näher,

38 „Seht aber, wie viel dieser doch gelten muss, dem der Patriarch Abraham den Zehnten vom Vorzüglichsten
gibt“ (Hebr 7,4)

35
denn nicht Abraham segnet den Melchisedech, sondern dieser den Abraham!39

§ 48: Man muss jetzt zweierlei zusammennehmen. Zur Zeit als Abraham und Melchisedech
sich treffen, gibt es auf Erden keinen wichtigeren Menschen als Abraham, den Stammvater
des Volkes, in dem Gott selbst einst Mensch werden wird. Wenn Melchisedech trotzdem
mehr ist als Abraham, dann kann das nur bedeuten, dass er gar keine irdische, sondern eine
himmlische Person ist. Und damit passt ausgezeichnet zusammen, dass von Melchisedech
keine Vorfahren genannt, keine Geburt und kein Tod berichtet werden: Er ist eine himmli-
sche Erscheinung, kein Mensch, verflochten in die Generationenkette.40 Und deswegen kann
er weder menschliche Abstammung und Verwandtschaft haben, noch ist sein Leben in die
engen Grenzen zwischen Geburt und Tod eingesperrt. Aber sogar von Jesus Christus, welcher
doch als Sohn Gottes noch weitaus mehr eine „himmlische Erscheinung“ ist als Melchise-
dech, gibt die Heilige Schrift die Abstammung im Einzelnen an (Mt 1,1-25). Das kann sie
jedoch nur deswegen, weil Christus Menschennatur „aus dem Hause und Geschlechte Da-
vids“ (Lk 2,4) angenommen hat. Melchisedech erscheint ohne dergleichen Geschlechterver-
flechtung, weil er nicht der Retter selbst ist, der freilich Gott und Mensch zugleich sein
musste (§§ 24f), sondern nur ein auf den Heiland vorausweisendes göttliches Zeichen.41 Und
so heißt es von Melchisedech im Hebräerbrief: „Der ohne Vater, ohne Mutter, ohne Ahnen-
tafel, weder Anfang seiner Tage, noch Ende des Lebens hat, ward dem Sohne Gottes ähnlich
gemacht, und bleibt Priester in Ewigkeit“ (Hebr 7,3).

§ 49: Aufgabe des Priesters ist es, die Geschöpfe mit Gott zu verbinden. Wer aber sollte dazu
die Macht haben, außer Gott selbst? Der Mensch kann daher nur priesterlich wirken, insoweit
er innerhalb der Vollmacht und Wirkungskraft Gottes selbst steht (Hebr 5,4). Das zeigt sich
an Melchisedech deutlicher als an allen anderen Priestern, eben weil er nicht wie diese aus
Menschengeschlecht stammt. Gott hat ihn ohne Menschenabstammung als Priester gesandt,
so dass gar nicht der Verdacht besteht, er könnte seine himmlische Vollmacht sich zu Un-
recht anmaßen: Jeder menschliche Priester kann unwürdig sein, der vom Himmel selbst ge-
sandte nicht. Weil Priestertum nur in der Kraft Gottes möglich ist, diese Kraft aber urbildlich
in Melchisedech ein für alle Mal verkörpert ist, kann jeder wahre Priester ein solcher nur
„nach der Ordnung des Melchisedech“ sein, wie es von König David (Ps 109[110],4) und
dann vor allem von Christus geschrieben steht (Hebr 5,6). Abel opferte ein Lamm, Abra-
ham wollte den Sohn opfern, Melchisedech brachte Wein und Brot dar. So weisen sie
alle auf Christus voraus, Melchisedech aber am meisten, weil er nicht von dieser Welt
ist und weil er die endgültige äußere Gestalt des Opfers – Brot und Wein – offenbart.
Zusatz: Gott sagt, das Priestertum des Melchisedech sei ewig (Ps 109[110],4). Es findet also sogar in Gottes
Ewigkeit noch Priestertum statt. Priestertum besteht darin, durch Opfer die Einheit der Geschöpfe mit Gott her-
zustellen. Muss in der Ewigkeit Gottes, wo alle Geschöpfe nicht aus ihrer Selbstsucht, sondern aus Gott und
seiner Liebe, die jedem das Rechte zuteilt, leben, noch geopfert – und das heißt gesühnt – werden? Im ewigen
Paradiese ist die Welt nicht rückgängig gemacht, sondern erlöst, weil Ewigkeit bedeutet, dass die Unterschiede
der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – aufgehoben sind: Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünfti-
ges sind gleichzeitig gegenwärtig. Was irgendwann einmal auf Erden geschah und durch sein Vergehen in die
Ewigkeit Gottes eingegangen ist, geschieht gewissermaßen in jedem Augenblick der Zeit neu, weil es zu allen
Zeiten gleichzeitig ist (§ 39).

39 „Man kann nicht widersprechen: das, was geringer ist, wird vom Besseren gesegnet” (Hebr 7,7)
40 Auch andere Priester nahmen den Zehnten, aber sie waren im Unterschied zu Melchisedech sterbliche Me n-
schen: „Und hier nehmen sterbliche Menschen den Zehnten: dort aber wird bezeugt, dass er lebt“ (Hebr 7,8)
41 Die Juden haben Melchisedech immer als Vorbild des Messias angesehen ( Georg Benedict Winer: Biblisches
Realwörterbuch [Leipzig 1848] 78f; Alexander [Anmerkung 8] S. 137), wenn sie ihn freilich auch nicht auf
Jesus deuten, an den sie ja nicht als den Messias glauben.

36
Sechster Teil:
Das Opfermahl Christi
§ 50: Die Heilige Messe ist auch ein Mahl. Das wird heutzutage stark betont, oft so stark,
dass man darüber ihren Opfercharakter vergisst. Man tut manchmal so, als säßen wir in der
Messe unter Vorsitz des Pfarrers um einen gemeinsamen Tisch zum Essen, und als ginge es
in der Messe darum, dass die Gemeinde ihre eigene Fröhlichkeit und Einigkeit feiere. In
Wahrheit feiert die Gemeinde in der Messe nicht sich selbst, sondern den Opfertod des Herrn
und das dadurch bewirkte Reich Gottes, das aber erst am Jüngsten Tag anbrechen wird und
deshalb von der jetzigen Gemeinde noch himmelweit entfernt ist. Deshalb zelebriert der
Priester im tridentinischen Ritus nach Osten zur am Himmel aufgehenden Sonne hin statt auf
die Gemeinde zu. Die Heilige Messe ist kein gruppendynamisches Spektakel, sondern unblu-
tige Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Jesu Christi, das sich in Gottes Ewigkeit jeden
Augenblick wieder vollzieht, wenngleich dort die Passion Christi jederzeit auch zusammen-
fällt mit der verklärten Freude des zurückgewonnenen Paradieses (§ 40). Das mag nicht be-
sonders leicht zu verstehen sein. Aber wer hat je behauptet, dass das Christentum eine simple
Religion sei?

I. Mahl und Opfer


§ 51: Die Heilige Messe ist auch ein Mahl. Aber sie ist nicht irgendein Mahl (vgl. 1 Kor
11,29), sondern Opfermahl: Verzehrt wird Fleisch und Blut des Opfers. Wie das Menschen
in verschiedenen Religionen oft gemacht haben. Freilich vollzieht sich das Opfermahl in der
Heiligen Messe auf unblutige Weise. Fleisch und Blut sind zwar wirklich gegenwärtig, aber
unter den Gestalten von Brot und Wein. Jedoch muss man ganz klar festhalten: Brot und
Wein in der Heiligen Messe sind nicht Brot und Wein. Unsere Augen und unsere Ge-
schmacksnerven werden getäuscht: Es ist nicht Brot und Wein, was wir essen, sondern
es ist Christi Fleisch und Christi Blut:
Visus, tactus, gustus in te fallitur, In Cruce latebat sola Deitas,
Sed auditu solo tuto creditur: At hic latet simul et humanitas;
Credo, quidquid dixit Dei Filius, Ambo tamen credens atque confitens,
Nil hoc verbo veritatis verius. Peto, quod petivit latro poenitens.

(St. Thomas Aquinas: Hymnus „Adoro te devote, latens Deitas”)

„Gesicht, Gefühl, Geschmack werden getäuscht in dir, / Aber durch das einzig sichere Hören wird geglaubt: /
Ich glaube, was Gottes Sohn sagte, / Nichts ist wahrer als dieses Wort der Wahrheit. / Am Kreuze war nur die
Gottheit verborgen, / Hier aber ist zugleich die Menschheit verborgen; / Beide jedoch glaube und bekenne ich, /
Und flehe, worum der büßende Schächer flehte.“42

II. Der Gral


Die Sage

§ 52: Die Verbindung von Opfer und Mahl wird besonders deutlich in den Sagen um den
„Heiligen Gral“, denen Richard Wagner in seinem Parsifal die klarste Form gegeben und
deren eucharistischen Mittelpunkt er am hellsten beleuchtet hat. Die sonst überlieferten

42 Der Schächer bat: „Herr, gedenke meiner, wenn Du in Dein Reich kommst“ (Lk 23,42). Das Hören ist ei n-
zigartig sicher, weil in Christus das menschgewordene ewige Wort Gottes selbst zu uns spricht.

37
Gralsgeschichten vereinigen auf oft verwirrende Weise Bilder, Erzählungen und Erinnerun-
gen, die mit der Sehnsucht und Suche des Menschen nach Heil und Erlösung zu tun haben.
Im Legendengut vom Gral mögen sich heidnische, rechtgläubig christliche und irrgläubig
christliche Strömungen verbinden43, die Hauptlinie bleibt doch die christliche. Das ist auch
nicht zum Verwundern: Wenn in Jesus Christus das Heil wirklich für alle Menschen gekom-
men ist, dann wird es zu dem, was in Christus geschieht, auch in außerchristlichen und au-
ßerkirchlichen religiösen Vorstellungen Anklänge geben müssen.
Der Gral ist der Abendmahlskelch, in welchem Joseph von Arimathäa das Blut Chris-
ti am Kreuz aufgefangen, bzw. in welchem er es von den Engeln, die es auffingen, über-
reicht bekommen haben soll. Dieser Kelch wurde an einem geheimen Orte – in einer Burg,
der Gralsburg – aufbewahrt. Viele Ritter, vor allem die Ritter der Tafelrunde des Königs Ar-
thus, suchten unter vielen Mühen und Gefahren nach Burg und Gral. Niemand kann zum
Gral gelangen, als wer vom Gral selbst erwählt ist. Das ist nicht erstaunlich: Der Gral ist das
göttliche Blut Jesu Christi, also Gott selbst. Und Gott finden kann nur der, von dem Gott sich
finden lässt.

Die Wirklichkeit

§ 53: Der Gral ist also die Gegenwart des heilenden Blutes Jesu Christi unter den Men-
schen. Es ist sicherlich nur eine Sage, dass das am Kreuz aufgefangene Blut Jesu Christi im
Gralskelch über die Jahrhunderte hin in einer Burg aufbewahrt worden sein soll. Keine Sage
ist, dass dieses Blut existiert. Es ist auch in keiner Burg verborgen. Vielmehr ist Christi Blut
– sein am Kreuz geflossenes Blut – nahezu überall auf der Welt gegenwärtig und leicht zu-
gänglich: Jeden Tag können wir es in Hunderttausenden katholischer Kirchen auf der ganzen
Welt antreffen, wenn es durch die Wandlungsworte des Priesters im Kelch auf dem Altare
gegenwärtig wird. Der wahre Gral ist das eucharistische Brot und der eucharistische Wein.
Die wahre Gralsenthüllung ist die Erhebung von Leib und Blut Christi nach der hl. Wand-
lung in der Messe, das Öffnen des Tabernakels (die Sichtbarwerdung des Ciboriums, das die
Hostien birgt) und das Aussetzen des Allerheiligsten in der Monstranz.
Zusatz: Den geistlich-himmlischen Wesenskern des Grales hat erst Richard Wagner, der ein Dichter im
Worte wie in der Musik war, zum Mittelpunkt seines Weihefestspieles Parsifal gemacht. Hier ist der Gral der
Kelch, der das wirkliche Blut Christi enthält. Engel haben diesen Kelch dem Gralskönig Titurel einst überge-
ben, damit er ihn in der Gralsburg beschirme und so die Heilskraft des göttlichen Blutes unentheiligt in der
Welt und für die Welt bewahre. Es ist ein erstaunlicher Beweis für die Macht des allerheiligsten Altarsakra-
mentes, dass es sich gerade den Protestanten Richard Wagner auserwählt hat, die dauernde Gegenwart des
göttlichen Blutes – das eucharistische Zentralgeheimnis der katholischen Kirche – in der gewaltig bewegenden
Parsifal-Dichtung und -Musik bis auf den heutigen Tag in aller Welt zu verehren und verkünden. Vom Grals-
könig Titurel hören wir: „Denn ihm, da wilder Feinde List und Macht / Des reinen Glaubens Reich bedrohten, /
ihm neigten sich in heilig ernster Nacht / dereinst des Heilands sel’ge Boten: / daraus der trank beim letzten
Liebesmahle, / das Weihgefäß, die heilig edle Schale, / darein am Kreuz sein göttlich Blut auch floss, / dazu den
Lanzenspeer, der dieß vergoß, – / der Zeugengüter höchstes Wundergut, – / das gaben sie in unsres Königs
Hut. / Dem Heilthum baute er das Heiligthum“44.

Das Opfermahl

§ 54: Der Gral bietet seinen Rittern Speise und Trank. Dabei handelt es sich jedoch nicht um
irdische Genüsse, sondern um seelische Stärkung durch das Blut und den Leib Jesu Christi.

43 Vgl. Malcolm Godwin: Der Heilige Gral. Ursprung, Geheimnis und Deutung einer Legende (1994, dt. Mü n-
chen: Heyne 1994)
44 Wagner, Bd. X [Anmerkung 28] S. 332

38
Zwar essen und trinken in Richard Wagners Dichtung die Ritter nicht das Blut und den Leib
des Herrn selbst, aber Brot und Wein, das der Gral, also Gott selbst, ihnen spendet. Nach der
Enthüllung des Grales liegt – wunderbar und geheimnisvoll – das Brot neben dem ebenso
geheimnisvoll mit Wein gefüllten Becher eines jeden Ritters: „Blut und Leib der heil’gen
Gabe / wandelt heut’ zu eurer Labe / sel’ger Tröstung Liebesgeist, in den Wein, der nun euch
floß, / in das Brod, das heut’ euch speis’t“45. Dies ist kein menschliches Mahl, denn in di e-
sem Grals-Mahl wirkt das sakramentale Blut Christi selbst. So ist das Gralsrittermahl zwar
nicht selbst die Kommunion wie in der Hl. Messe, aber es weist auf diese hin.
Zusatz: So wie Gott im Alten Testament die Israeliten mit dem irdischen Manna speist, ebenso speist im
Parsifal das Blut Christi die Gralsritter mit wunderbar erscheinendem Brot und Wein. Beide Speisungen weisen
auf die Kommunion in der Messe, in der sie ihre wahre und volle Erfüllung finden.

III. Ministrantendienst ist Gralsritterdienst


§ 55: Ministranten sind gewissermaßen Gralsritter. Sie sind wie diese ausgesandt, zu voll-
bringen „des Heilands Werke“ (wie es in Wagner’s Parsifal heißt). Eigentlich sind alle Ge-
firmten solche Ritter. Die Firmung ist der Ritterschlag durch den Heiligen Geist. Aber Mi-
nistranten erhalten schon vor der Firmung eine Art Ritterschlag, wenn sie nämlich aufge-
nommen werden in die Schar derer, die ganz nah am Altare dienen.
Zusatz: Die weltlichen Ritter haben Königinnen gedient und sind von Königinnen so gut wie von Königen
zum Ritter geschlagen worden. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuiten-Ordens, war vor seiner Berufung
Ritter in den Diensten einer schönen Königin. Bis ihm klar wurde, dass es eine Herrin gab, die ein höheres Rit-
tertum verlangte, als das der starken Arme und scharfen Waffen: das geistige Rittertum im Dienste der heiligen
katholischen und apostolischen Kirche.

§ 56: Zu solchem Rittertum des Grales und Altares sind nicht nur Buben, sondern auch Mäd-
chen berufen. Mädchen sind nicht weniger tapfer als Buben. Sind nicht auf Golgotha die A-
postel bis auf einen geflohen, während die Frauen geblieben sind (Joh 19,25)46? Christus
selbst hat Frauen zu den ersten Zeugen seiner Auferstehung gemacht (Mt 28,1-8; Mk 16,1-8;
Lk 23,55-24,11; Joh 20,1f). Sie stehen damit im besonderen Dienst des Grales, d. h. des gött-
lichen Blutes, dessen Annahme als gültiges Sühnopfer Gott durch die Auferweckung Jesu
bestätigt hat.
Zusatz: Im tridentinischen Ritus sagt man, dass nur Buben ministrieren dürften, weil das Ministrantentum
eine erste Stufe des Priestertums sei, und eben nur Männer Priester werden könnten. Christus hat ja tatsächlich
im Saal des Letzten Abendmahles nur Männern – nämlich den Aposteln – die Vollmacht übertragen, die Verge-
genwärtigung seines Blutopfers zu vollziehen. Freilich lässt man aber im tridentinischen Ritus auch Buben mi-
nistrieren, die gar nicht Priester werden wollen. Außerdem versteht man die Ministranten hier als Repräsentan-
ten des Volkes, und das Volk Gottes (die Kirche) ist die Braut des Messias. Von diesem Gesichtspunkt aus ließe
sich vielleicht doch auch vom tridentinischen Ritus her ein Verständnis für das weibliche Element im Minist-
rantentum erreichen. Im Novus Ordo geht man davon aus, dass der Ministrant nicht so sehr schon die erste,
sondern allenfalls eine Vorstufe des Priestertums ist. Daher ist die Klasse der Ministranten über diejenigen, die
Priester werden können, hinaus erweitert worden und schließt auch Mädchen ein.

45 Wagner, Bd. X [Anmerkung 28] S. 343f


46 Es heißt im lateinischen Text des Matthäus-Evangeliums: Erant autem ibi mulieres multae a longe, quae
secutae erant Jesum a Galilaea, ministrantes ei (Mt 27,55: „Es waren aber viele Frauen von ferne, die Jesus
von Galiläa gefolgt waren und ihm dienten“). Zwar ist mit diesem „Ministrieren” nicht die Assistenz am Altare
gemeint, sondern die tägliche Versorgung, aber es ist doch erwähnenswert, dass das Wort ministrare hier auch
im Zusammenhang mit Frauen Verwendung findet.

39
Siebenter Teil:
Feste im Kirchenjahr
I. Advent
§ 57: Advent heißt „Ankunft“. Um wessen Ankunft geht es? Um die Ankunft des Erlösers
der Welt, Jesus Christus. „Advent“ nennen wir aber weniger die Ankunft Christi selbst, als
vielmehr die Zeit des Wartens auf ihn. Auf den Erlöser wartet die Schöpfung seit dem Sün-
denfall Adams im Paradies. So müssen wir vier verschiedene „Advente“ unterscheiden: [a]
Die ganze Zeit vom Sündenfall über die Propheten bis zur ersten Ankunft Jesu Christi bei
seiner Geburt im Stall von Bethlehem. [b] Die ganze Zeit, in der die Christen seit Jesu Him-
melfahrt auf seine zweite Ankunft warten, nämlich auf seine Wiederkunft, die am Jüngsten
Tag stattfinden wird, „zu richten die Lebenden und die Toten“. [c] Unser alljährliches Warten
auf das Fest der ersten Ankunft Christi: die vier Adventswochen vor Weihnachten. [d] Unser
Warten auf unsere Ankunft bei Christus in unserem Tode.

§ 58: Christus wird ankommen als Weltenrichter. Er schafft das Leben, aber er entscheidet
auch nach der Gerechtigkeit über den ewigen Tod: Wer beim Jüngsten Gericht von ihm weg-
gewiesen wird, verliert sein ewiges Heil und kommt in die Hölle. Nirgendwo steht zwar ge-
schrieben, dass tatsächlich jemand verdammt werden und in der Hölle sein wird, aber die
Freiheit des Menschen kann sich immer in Stolz von Gott abwenden und so das wahre Leben
verlieren. Was ist eigentlich die Hölle? Die Hölle ist nicht die Vernichtung des Lebens, aber
seine Entleertheit vom göttlichen Sinn. Die Hölle ist das Leben in schrankenloser Selbstsucht.
Was bedeutet das? Ein schrankenlos Selbstsüchtiger will mit nichts mehr etwas zu tun haben,
was er nicht selbst ist oder selbst gemacht hat. Das war die Sünde Luzifers, des Teufels: Er
wollte ganz nur aus sich leben, nicht von Gott sein Leben und dessen Inhalt erhalten. So kann
aber außer Gott selbst niemand leben. Was wären wir denn, wenn wir nur „wir selbst“ sein
und alles von „uns selbst“ Verschiedene abscheiden wollten? Wir wären ein leeres „Ich =
Ich“ ohne Inhalt, ja sogar ohne Leben: Es gäbe uns gar nicht. Denn nicht aus uns selbst, son-
dern aus etwas anderem – nämlich aus unseren Eltern – stammt unsere Existenz; nicht aus
uns selbst, sondern aus etwas anderem – aus Sonne und Regen, Luft und Erde, Speise und
Trank – erhält sich unser Leben; nicht aus uns selbst, sondern aus etwas anderem – nämlich
aus den Menschen, mit denen wir leben, und aus den Dingen, für die wir uns interessieren
und die uns Freude machen – gewinnt unser Leben seinen Inhalt und seinen Sinn.

§ 59: Der Teufel aber sagt: Ich will sein wie Gott, d. h. ganz aus mir allein leben. Aber nur
Gott braucht nichts außer sich, weil er der Urgrund von allem ist. Wer zu stolz ist, Dinge in
Anspruch zu nehmen und zu schätzen, die ein Größerer als er selbst gemacht hat, der verur-
teilt sich selbst zu einem völlig leeren Leben ohne Inhalt und Sinn. Nichts anderes als das ist
die Hölle. Ein derartig leeres Leben gleicht dem Tod. Es unterscheidet sich aber von ihm da-
durch, dass der Teufel um die Leere seines Daseins weiß. Es ist nicht so, dass die Hölle eine
Strafe wäre, die Gott für irgendeine andere Sünde verhängt, sondern die Sünde, die zur Hölle
führt, besteht gerade darin, sich die Hölle zu wünschen, nämlich das gottgleiche Existieren
ganz allein aus sich und ganz allein für sich. Der übermäßig Stolze verurteilt durch seinen
Stolz sich selbst zu der höllischen Leere. Keiner ist deshalb in der Hölle, außer dem, der es
partout nicht anders haben will. So gesehen, ist auch die Hölle noch ein Ausdruck der Liebe
Gottes: Gott lässt denjenigen Menschen, der das unbedingt will, ganz für sich allein sein.
Zusatz: Dass Menschen sein wollen wie Gott, ist allerdings eine durchaus reale Gefahr. Menschen tun gerne
so, als wären sie die Herren über die Natur und über andere Menschen. Wenn Kinder abgetrieben und in Krie-

40
gen Tausende von Menschen in den Tod geschickt werden, wenn die Natur zerstört wird, um den Luxus weni-
ger reicher Länder aufrechtzuerhalten, wenn Menschen ein Wirtschaftssystem errichten, in dem sie so erbittert
um Geld und Macht kämpfen, dass sie dabei körperlich und seelisch krank werden – was sind das anderes als
Versuche, die Dinge (sozusagen) selbst in die Hand zu nehmen, statt nach den Ordnungen zu leben, die Gott in
seiner Schöpfung zum Wohle von Natur und Mensch angelegt hat? Wenn der Mensch über die Welt herrscht,
als könne er nach seinem Belieben schalten und walten (eben so, als wäre er Gott), dann hat das bloß zur Folge,
dass die wenigen Menschen, welche die Macht und das Geld haben, über die vielen anderen herrschen. Dabei
geht es diesen „Herrschern“ dann freilich nicht um das Wohl der Beherrschten (so wie es Gott um das Wohl
seiner Schöpfung geht), sondern nur um ihren eigenen Profit und Vorteil. Das zeigt ein Blick auf die Geschichte
und die großen Leiden, die der Kampf der Menschen um die Herrschaft und ihre Ausübung über jedes Volk
schon gebracht haben.

II. Weihnachten
§ 60: Weihnachten ist die der Geburt des Herrn geweihte Nacht. In dieser Nacht wird die
allumfassende göttliche Macht, die das ganze Universum geschaffen hat und es am Leben
erhält, ein Mensch: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh
1,14). Der Welt-Logos, das ewige Wort, das die Welt hervorgebracht und geordnet hat, das
alle Geschehnisse im Kosmos lenkt, liegt als Säugling in der Krippe und lebt ein ganzes
Menschenleben einschließlich des Todes.

§ 61: Warum ist das Wort so wichtig, dass es als Urgrund der Welt gilt, wie es Johannes am
Beginn seines Evangeliums sagt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und
Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch dasselbe gemacht worden,
und ohne dasselbe wurde nichts gemacht, was gemacht worden ist“ (Joh 1,1)? Worüber wir
sprechen können, das haben wir verstanden, dessen Bedeutung ist uns klar. Warst Du jemals
in der Lage, einem anderen eine Mathematikaufgabe erklären zu sollen, die Du selbst nicht
recht verstanden hattest? Was passiert in einem solchen Fall? Entweder können wir gar nichts
sagen oder wir reden hin und her, sagen aber nicht wirklich etwas zur Sache: Die rechten
Worte fehlen, wenn wir die Sache nicht begriffen haben. Und wenn wir handeln, dann kön-
nen wir – vorausgesetzt wir wissen, was wir tun – sagen, welche Absichten unser Tun leiten.
Wer nicht sagen kann, was er eigentlich will und tut, der handelt planlos und wirr, auf gut
Glück. Er überlässt, was geschieht dem blinden Zufall. Dass das Wort am Anfang von allem
war, heißt, dass alles verstehbar ist, dass alles einen Sinn hat und einer wohlerogenen Ab-
sicht entspricht. Diesen Sinn können zwar wir nicht immer erkennen und verstehen, trotzdem
ist er da. Jedenfalls Gott weiß und versteht den Sinn von allem und jedem. Für ihn gibt es
nichts Unverständliches, da er alles selbst gemacht und geschaffen hat und weiß, was er da-
mit wollte und will. Das ist die tiefste Bedeutung des „Wortes“: Was immer in der Welt ge-
schieht, nichts ist planlos blinder Zufall, sondern hinter jedem Geschehen steht eine Absicht,
und zwar eine Absicht Gottes. Dass die Welt und unser Leben nicht Spielball des Zufalls
sind, sondern dass sich in ihnen Absichten Gottes ausdrücken: genau das sagt der Satz
„Im Anfang war das Wort“.

§ 62: Welche Absichten aber hat Gott mit uns? Gute oder schlechte? Das haben sich die
Menschen immer schon gefragt. Und Gott hat geantwortet. Im Alten Testament durch den
Bund mit Noah (Gen 9,8-17), mit Abraham (Gen 12,1; 13,14-18; 15; 17), mit Moses (Exod
3,1-10) und durch seine Verheißungen an die Propheten, wie z. B. an Isaias: „Deswegen
wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen
Sohn gebären“ (Is 7,14). Dieser wird die Welt von allem Übel erlösen. Diese Verheißung
Gottes geht an Weihnachten in Erfüllung. Die Engel beziehen sich ausdrücklich auf die Ver-
heißung des Propheten, wenn sie den Hirten verkünden: „Und dies soll euch zum Zeichen
sein: Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln eingewickelt und in einer Krippe liegend“ (Lk

41
2,12). Schließlich stehen Ochs und Esel an der Krippe des Kindes. Auch sie sind ein beson-
deres Zeichen dafür, dass der Heiland es ist, der in der Krippe liegt. Denn ebenfalls beim
Propheten Isaias lesen wir, dass Gott ihm gesagt habe: „Es hat der Ochse seinen Besitzer
erkannt, und der Esel die Krippe seines Herrn“ (Is 1,3). Gott schickt die unvernünftige Kre-
atur an die Krippe seines Sohnes, damit sie stummes Zeugnis für ihn gäbe. So wirkt auch in
den stummen Tieren das vernünftige „Wort“, die Absicht Gottes.
Die Hirten sagen zueinander: „Lasset uns nach Bethlehem gehen und das Wort schauen,
das uns geworden ist, das Gott uns gezeigt hat“ (Lk 2,15). Dieses Wort ist der Sohn Gottes in
der Krippe. Was das Wort – der Sohn – bedeutet und sagt, teilen uns die Engel mit: „Ehre sei
Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden“ (Lk 2,14). Jesus Christus verherrlicht
den Vater (vgl. Joh 17,1), indem er der Welt Rettung und göttliches Heil bringt. Er verherr-
licht Gott, indem er das Schöpfungswerk in seiner ursprünglichen Schönheit und Gerechtig-
keit wieder herstellt, die durch das Böse verdorben worden waren (restitutio in integrum).

III. Erscheinung des Herrn


„Heilig Drei König“

§ 63: Die „Erscheinung“ des Herrn ist keine Erscheinung, wie eine Gespenstererscheinung.
Das griechische Wort Epiphanie bedeutet soviel wie „Sichtbarwerdung“. An diesem Fest
wird die Göttlichkeit Jesu sichtbar. Die Welt sieht heute, dass Jesus der Christus, der Ge-
salbte des Herrn, der Messias, der König der Völker ist. Sichtbar wird die göttliche Macht
Jesu Christi öfter: bei seiner Taufe, als Gottes Stimme selbst ihn als Gottessohn bestätigt (Lk
3,21f); bei seinen Wundern, als er sich als den Herrn über die Elemente erweist, indem er
den Sturm beruhigt (Mt 8,23-27) und Wasser in Wein verwandelt (Joh 2,1-12), über die
Krankheiten, die er heilt (z. B. Mt 9,27-31), über den Tod, von dem er erweckt (z. B. Mt
9,23-26), über die Sünden, die er vergibt (z. B. Mt 9,1-8), und über die bösen Geister, die er
austreibt (z. B. Mt 8,16-18); bei seiner Verklärung (Mt 17,1-13); bei seiner machtvollen
Lehre (Mt 7,29); bei seiner Auferstehung. Zuallererst jedoch wurde die göttliche Königs-
würde Jesu Christi sichtbar, als die drei Weisen aus dem Morgenland die armselige Krippe
aufsuchten, „um den neugeborenen König anzubeten“ (Mt 2,2).

§ 64: Drei „Magier“ kommen aus dem Land der aufgehenden Sonne, aus dem „Oriente“, also
aus dem Osten, um den neugeborenen „König der Juden“ anzubeten. Magier sind Leute, die
sich mit den Sternen auskennen und deren Botschaften zu verstehen vermögen. So sind sie
gelehrt, denn sie wissen viel über die Vorgänge am Himmel. Aber zudem sind sie weise,
denn sie wissen nicht nur, wie die Sterne zu jeder Jahreszeit anders stehen, sondern vor allem
wissen sie, was die Sterne für das menschliche Leben bedeuten. Wer wie die Israeliten in der
Wüste lebte, war sicherlich angezogen von der Pracht des nächtlichen Sternenhimmels. Ster-
ne, Sonne und Mond sind unentbehrlich, um die Tages- und Jahreszeit zu bestimmen (Gen
1,14), Sterne helfen, die Himmelsrichtung zu finden. So haben Gestirne in der Tat große Be-
deutung für den Menschen.
Manche alte Völker, wie die Ägypter, Chaldäer, Assyrer und die alten (vormohammeda-
nischen) Araber haben die Sterne aber darüber hinaus für Gottheiten gehalten und sie verehrt,
ihnen Opfer dargebracht. Sie glaubten daran, dass die Sterne uns sagen, wie wir unser Leben
führen müssen, was wir tun und lassen sollen. Das haben die Propheten der Juden immer be-
kämpft. So warnt Gott durch Moses: „dass du nicht etwa deine Augen zum Himmel erhebest,
und die Sonne schauest und den Mond, und alle Sterne des Himmels, und dich irrest und be-
trügest, und sie anbetest und sie verehrest, welche der Herr, dein Gott, geschaffen, dass sie
allen Völkern dienen, die unter dem Himmel sind“ (Deut 4,19; vgl. 17,3). Die Sterne haben
keine Macht, über unser und der Welt Schicksal zu bestimmen, sondern Gott allein hat diese

42
Macht. Nicht an den Sternen können wir ablesen, wie wir leben müssen, um anständig und
glücklich zu werden, sondern an Gottes Geboten. Gott spricht zu uns nicht durch die Stellung
der Sterne, sondern durch die Propheten und Jesus Christus.
Die Warnung Moses' vor dem Sterndienst zeigt aber doch eine wichtige Botschaft, welche
die Sterne für den Menschen enthalten, die über die reine Nützlichkeit der Zeit- und Orts-
bestimmung hinausgeht: Das unübersehbar zahlreiche Heer der Sterne weist auf die Macht
dessen hin, der sie geschaffen hat. Ihre Botschaft ist: Es gibt einen Gott, der Welt und alle
Himmelsräume geschaffen und weise geordnet hat. Die Sterne sagen uns also wohl, dass
Gott ist, nicht aber, was er im einzelnen von uns will. Im Neuen Testament ist es zweimal
der Fall, dass Himmelskörper die Gegenwart Gottes anzeigen. Der Stern von Bethlehem
zeigt den weisen Männern aus dem Osten die Geburt des Gottessohnes an; und die sich bei
der Kreuzigung Christi verfinsternde Sonne (Lk 23,44f; Mk 15,33; Mt 27,45) zeigt den Tod
des Gottessohnes an.

§ 65: Die drei weisen „Magier“ sind keine Juden. Es sind Heiden. Aber sie haben erkannt,
dass der neugeborene „König der Juden“ nicht nur für die Juden, sondern auch für die
fernste Welt Bedeutung hat. Sie konnten nicht genau wissen, dass und wie Jesus die Welt
erlösen würde, aber sie hatten durch das Auftreten des Sternes begriffen, dass die Geburt die-
ses Kindes ein weltbewegendes Ereignis sei. Eben das heißt „Erscheinung des Herrn“: Die
Sichtbarwerdung dessen, dass Jesus Christus für alle Völker der anzubetende König ist. In
den drei „Magiern“ haben die fernen Völker selbst dies bekannt. Sie haben ihr Knie gebeugt
vor ihm, wie es einst alle Wesen im Himmel, auf der Erde und unter der Erde tun werden
(Philipp 2,10). Schon der Prophet Isaias hatte geweissagt, dass fremde Könige in dem göttli-
chen Licht, das Jerusalem einst erscheinen wird, einhergehen werden: „Und die Völker wer-
den in deinem Lichte wandeln, und Könige im Glanze deines Aufganges ... eine Über-
schwemmung von Kamelen wird dich bedecken, Dromedare aus Madian und Epha; alle aus
Saba werden kommen, Gold und Weihrauch zu bringen und das Lob des Herrn zu vermel-
den“ (Is 60,3 und 6).

IV. Mariae Reinigung


„Lichtmess“

§ 66: Mit dem Feste Mariae Lichtmess am 2. Februar endet die Weihnachtszeit. In der römi-
schen Liturgie findet an diesem Tage die Kerzenweihe und eine Lichterprozession statt. Es
sind zwei Geheimnisse, die heute gefeiert werden: die Darstellung des neugeborenen Gottes-
sohnes Jesus Christus im Tempel und die Reinigung Mariens. Wie bei vielen Völkern galt
auch im Judentum eine Mutter für eine gewisse Zeit nach der Geburt als „unrein“. Damit
sollte nicht ausgedrückt werden, dass die Geburt etwas „Schmutziges“ sei, wovor man sich
besser hüten sollte. Vielmehr steckt eine andere Überlegung dahinter. Bei einer Geburt ver-
liert die Mutter Blut. Im Blut aber ist die leibliche wie die seelische Lebenskraft verkörpert.47
Die Schwächung der Lebenskraft durch Blutverlust eröffnet die Möglichkeit von „Unrein-
heit“, weil die bösen Dämonen in eine geschwächte Menschenseele leichter ihren verderbli-
chen Einfluss hineintragen können, als in eine starke. Um nun das, was die Dämonen mögli-
cherweise an bösem Einfluss in der Seele hinerlassen haben, wieder auszugleichen, muss man
nach dem Gesetz, das Gott dem Moses gab, am Ende der „Unreinheit“ – d. h. wenn man sich
vom Verlust der Lebenskraft wieder erholt hat, also im Falle einer Geburt am Ende der Zeit
des Wochenbettes – etwas aufopfern (Lev 12,6). Dieses Opfer, das Maria bringt, feiert die

47 So gibt Odysseus den abgeschiedenen Schatten der Toten ein wenig Lebenskraft zurück, indem er ihnen Blut
von Schafen zu trinken reicht (Odyssee XI). Vgl. § 15 [c]

43
Kirche am heutigen Tage. Freilich hätte Maria das Opfer nicht nötig gehabt: Über sie als die
unbefleckt (d. h. frei von der Erbsünde) Empfangene haben die Dämonen der Hölle keine
Macht. Dennoch befolgt sie das Gesetz, um ganz Mensch mit Menschen zu sein.

V. Mariae Verkündigung
§ 67: An diesem Festtag feiert die Kirche die Ankündigung, die durch den Erzengel Gabriel
an Maria erging, dass sie nämlich als Jungfrau den Heiland der Welt, Jesus Christus, empfan-
gen und gebären werde. Der Engel verkündet, dass die „Kraft des Heiligen Geistes“ Maria
überkommen werde: „Der Heilige Geist wird über Dich kommen und die Kraft des Aller-
höchsten wird Dich überschatten. Deshalb wird auch das Heilige, das aus Dir geboren wird,
Sohn Gottes genannt werden“ (Lk 1,35). Maria antwortet: „Siehe, ich bin eine Magd des
Herrn, mir geschehe nach Deinem Worte“ (Lk 1,38).48

Wunder

§ 68: Die jungfräuliche Empfängnis des Kindes ist ein Wunder. Gott selbst greift in den na-
türlichen Gang der Dinge ein. Was sonst auf natürlichem Wege geschieht, lässt Gott hier auf
übernatürliche Weise geschehen. Der technikgläubige Mensch des zwanzigsten und einund-
zwanzigsten Jahrhunderts hat oft Schwierigkeiten mit Wundern. Wir neigen mitunter dazu,
alles das, was wissenschaftlich nicht erklärbar ist, für nicht existent zu halten. Wunder wie
die Jungfrauengeburt, die Verwandlung von Wasser in Wein (Joh 2,1-11), die wunderbare
Vermehrung des Brotes (Joh 6,1-13), die Beruhigung von Sturm und Wogen (Mt 8,23-27),
oder die Erweckung eines Toten (Joh 11,1-46) durch Jesus werden dann schnell als fromme
Erfindungen abgetan: Der Schriftsteller, der solches berichtet, wollte (so sagt der historisch-
kritische Bibelerklärer) nur zum Ausdruck bringen, wie hoch er Jesus schätzte, und deshalb
habe er ihm Dinge zugeschrieben, die gar nicht passiert sein können. Aber wieso wäre der
Schriftsteller dazu gekommen, Jesus so über die Maßen hochzuschätzen, wenn dieser
nie etwas über die Maßen Erstaunliches getan hätte?

§ 69: Woher will der Bibelerklärer wissen, was überhaupt passieren kann und was nicht?
Wenn wir nicht erfahren und erleben würden, dass Kinder empfangen und geboren werden,
so hätten wir uns ein solches Geschehen ebenso wenig ausdenken können, wie dass aus ei-
nem hölzernen Ast plötzlich ein rotleuchtender Apfel wachsen könnte. Wir sehen, dass diese
Entwicklungen vor sich gehen, und wir sehen, welche Schritte dabei aufeinander folgen, aber
wir wissen und sehen nicht, wie es möglich ist, das sich z. B. Zellen vereinigen, dass sie sich
teilen und so fort. Wenn wir wüssten, wie es die Natur anstellt, Kräfte, die solches bewirken,
hervorzubringen, könnten wir selber ein System solcher Kräfte – eine Natur – schaffen. Es ist
ein Wunder, dass Christus Wasser zu Wein verwandelt. Aber es ist ebenfalls ein Wunder,
dass am Apfelbaum Äpfel wachsen. Nicht deswegen ist es ein Wunder, weil wir eigentlich
erwarten würden, dass am Apfelbaum Pfirsiche wachsen, sondern es ist deswegen ein Wun-
der, weil wir selber weder einen Baum erfinden und erschaffen könnten, aus dem Äpfel, noch
einen, aus dem Pfirsiche wachsen. Wenn es einmal einen Apfelbaum gibt, dann können wir
ihn dazu bringen, verschiedene Sorten zu geben; oder wir können vielleicht Äpfel und Birnen
kreuzen und so eine „neue“ Frucht hervorgehen lassen. Tatsächlich freilich ist es keine neue
Frucht, sondern nur eine neue Kombination der alten Früchte. Und genau genommen haben
auch nicht wir die neue Frucht gemacht, sondern der Baum und seine Kräfte selber haben sie

48 Die Geburt Jesu Christi aus der Jungfrau Maria bekennt auch der Koran, Sure 3, 37-42 (in Vers 40 ist au s-
drücklich vom „Messias Jesus“ die Rede).

44
gemacht. Wir können zwar die Natur, so wie sie ist und wirkt, zu unseren Zwecken benützen.
Wir können das, was die Naturkräfte normalerweise hervorbringen, verändern, aber doch nur
mittels der vorgegebenen Naturkräfte selbst. Wir können keine neuen Naturkräfte herstel-
len: Wir können nicht selbst eine andere Natur erschaffen.

§ 70: Warum sollte nun diejenige Macht, welche die uns bekannte Natur erschaffen hat, nicht
auch einmal eine andere, uns noch nicht bekannte Natur schaffen und diese etwas bewir-
ken lassen, was wir dann selbstverständlich nicht auf die Wirkungsweise der uns bekannten
Natur zurückführen können? Wunder sind eine solche andere Natur. Ich sagte eingangs zu
diesem Abschnitt, bei einem Wunder lasse Gott auf übernatürlichem Wege etwas geschehen,
was sonst die Natur erledigt. Nun ist aber auch die Natur Gottes Erfindung und Werk. Die
Quelle von Natur und Übernatur ist dieselbe, nämlich Gott. Für uns mag das Übernatürliche
so wirken, als sei es unvereinbar mit der Natur – so unvereinbar wie die Regeln von Schach
mit denen von Fußball. Für Gott hingegen ist beides gleich „natürlich“, so wie für viele
Menschen beides „natürlich“ ist, nämlich Schach zu spielen und Fußball. Gott handhabt Na-
tur und Übernatur mit gleicher Souveränität, da er für beide der Urheber und beherrschende
Geist ist (§ 28 Zusatz). Der Mensch jedoch vermag nur bestimmte Teile der Natur zu hand-
haben: Unsere Technik ist ein Wirken mit den Kräften derjenigen Natur, die eine uns be-
kannte Erfindung und Schöpfung Gottes ist. Göttliche Wunder sind ein Wirken mit Kräften
einer anderen, uns unbekannten Erfindung Gottes.
Zusatz: So sagt der hl. Thomas von Aquin in seinem Fronleichnams-Hymnus „Lauda, Sion, Salvatorem“,
dass bei dem unbegreiflichen Vorgang der Transsubstantiation von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi
etwas praeter rerum ordinem geschehe, also außerhalb der gewöhnlichen Ordnung der Dinge. Es könnte auch
sein, dass, wie der hl. Athanasius meint, in manchen Wundern dieselben bekannten Naturkräfte am Werk sind,
wie sonst in der Natur auch, dass sich ihr Wirken aber sehr viel schneller vollzieht als sonst. So verwandelt
beispielsweise die Natur, wie wir sie kennen, Wasser in Wein. Dies geschieht mittels der Traube: Das Wasser,
das die Traube aufnimmt, verwandelt sich in ihr in fruchtigen Saft und Wein. Die Traube ist also ein Gerät zur
Verwandlung von Wasser in Wein. Wir könnten ein solches Gerät nicht erfinden, Gott konnte es. Warum sollte
er dann nicht bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-11) das Wasser direkt (d. h. ohne Zwischenschaltung einer
Traube) zu Wein machen können? Dabei geschah ja nichts anderes, als was in jedem Weinberg millionenfach
geschieht. Aber es passierte zu Kana rasend schnell: Kein langsames Aufnehmen des Wassers durch die Traube,
kein langes Reifen, kein Auspressen und Vergären, das die inneren Kräfte des Traubenwassers freisetzt, sondern
eine schlagartige Offenbarung der Fähigkeit des Wassers, zu Wein zu werden.49

„Bei Gott ist kein Ding unmöglich“

§ 71: Maria selbst fragt den Engel, ob sie denn dazu auserwählt sei, dass an ihr ein Wunder
sich ereigne: „Wie wird das geschehen, da ich doch keinen Mann erkenne?“ (Lk 1,34) – Sei-
nen Mann oder sein Weib „erkennen“ ist ein biblischer Ausdruck für den leiblichen Vollzug
der Liebe. Tiere schauen einander beim Geschlechtsverkehr nicht an. Einzig die Menschen
tun das: Sie sehen liebend einander in’s Antlitz. So „erkennen“ sie einander: es geht bei der
körperlichen Liebe, wenn sie menschenwürdig geschieht, nicht um die Abfuhr von Trieb-
energie, sondern um die innigst mögliche Verbindung mit der anderen Person, mit dem ge-
liebten Du. Es ist nicht gleichgültig, mit wem man schläft, weil in der Sexualität sich unsere
Persönlichkeit verwirklicht. Deshalb ist der Geschlechtspartner nicht etwa hauptsächlich ein
Mittel der Triebbefriedigung oder der Fortpflanzung, sondern in erster Linie ist er die uns
ergänzende und antwortende, liebende und geliebte andere Person.

§ 72: Maria fragt also genau das, was sich auch uns als Frage aufdrängt: Wie kann etwas ge-
2
49 Vgl. Clive Staples Lewis : Wunder (1942, in: Gott auf der Anklagebank, Glasgow 1979, dt. Basel: Brunnen
1982) 15-32, hier 20f

45
schehen, wenn es keine natürliche Ursache hat? Der Engel sagt ihr, dass die Kraft des Aller-
höchsten und der Heilige Geist ursächlich wirken werden, und er fasst seine Antwort in dem
berühmten Satz zusammen: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich“ (Lk 1,37). Gewöhnlich ver-
stehen wir dies so, als sollte damit gesagt sein, dass für Gott nichts unmöglich ist. Genau das
aber ist mit dem Satz nicht gesagt. Denn wie sollte Gott etwas Unvernünftiges oder etwas
sittlich Schlechtes machen können, da er doch die höchste Vernunft und der vollkom-
men Gute ist? Er würde damit seine Gottheit aufheben. Wenn Gott z. B. einen Berg ohne Tal
machen wollte, oder einen Kreis, dessen Punkte vom Mittelpunkt nicht alle denselben Ab-
stand haben, dann würde er einen Berg machen, der gar kein Berg ist, und einen Kreis, der
gar kein Kreis ist. Er würde also etwas machen und es gleichzeitig nicht machen. Das aber
geht nicht. Genauso wenig steht es Gott frei, etwa einen Mord zu etwas sittlich Gutem zu
machen. Der Mord ist nicht schlecht, weil Gott ihn dazu erklärt, sondern Gott erklärt ihn da-
zu, weil er in sich schlecht ist. Es steht Gott nicht frei, seine eigene Weisheit zu missachten.
Tatsächlich sagt der Engel im Evangelium auch gar nicht, dass für Gott „nichts unmöglich“
sei. Sondern er sagt: „quia non erit impossibile apud Deum omne verbum“ (Lk 1,37). Das
heißt zu deutsch: „denn bei Gott ist kein Wort unmöglich“50. Das bedeutet, dass für Gott alles
das – aber auch nur das – möglich ist, was sich als sinnvolles, d. h. als vernünftiges und sitt-
lich-gutes Wort denken und aussprechen lässt.

„Geboren aus Maria, der Jungfrau“

§ 73: Was bedeutet das Wunder der Jungfrauengeburt? Warum wird Gott gerade auf diesem
Wege Mensch? Der von einer Jungfrau Geborene hat eine menschliche Mutter, jedoch keinen
menschlichen Vater. So ist er einerseits Mensch, ein Angehöriger der menschlichen Genera-
tionenfolge. Andererseits aber fällt er aus der gewöhnlichen Reihe der Menschen und ihrer
Geschlechterfolge heraus. So wird in dem von der Jungfrau Geborenen die Menschheits-
geschichte fortgesetzt und doch auch ganz neu begonnen. Die Vergangenheit sammelt
sich durch die menschliche Abstammung von der Mutter in ihm. Sie setzt sich aber in einer
ganz neuen Perspektive fort: in der Perspektive der Erlösung durch Gott.51

VI. Palmsonntag
Zweiter Passionssonntag

§ 74: Heute feiert die Kirche den Einzug Jesu in Jerusalem. Christus zieht ein wie ein König.
Dies steht ihm zu, denn er ist der Messias. Das Volk freilich sieht im Messias einen König,
der für das irdische Brot sorgt, nicht den Erlöser der Welt aus Sündenschuld: nach der wun-
derbaren Brotvermehrung hat Jesus schon vorausgesehen, dass sie „kommen würden, um ihn
fortzuschleppen und zum König zu machen“ (Joh 6,15). Dies ist es, was die Menschen heute
am Palmsonntag versuchen. Aber der Messias ist kein irdischer König, sondern der Schmer-
zensmann, der leidende Gottesknecht, der die Schöpfung durch sein Blut erlösen wird (Is 53).
Deshalb ist der Messias-König kein König nach irdischem Maß. Seine Königsherrschaft ist
„nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Die ewige Herrlichkeit des Gottessohnes ist verborgen
unter der Schmach des Kreuzes, und die Herrschergewalt des Pantokrators (All-Herrschers)

50 Eigentlich mit doppelter Verneinung: „denn bei Gott ist alles Wort nicht unmöglich“.
51 Vgl. Karl Rahner / Herbert Vorgrimler: Kleines theologisches Wörterbuch ( 10Freiburg: Herder 1976) 219. –
Herbert Vorgrimler: Neues theologisches Wörterbuch (Freiburg: Herder 2000) 333 betont, dass durch die Jung-
frauengeburt keineswegs „Gott als biologischer Vater verstanden wäre“. Wenn Gott die biologischen Vorgänge,
die zur Geburt Jesu führten, auf andere Weise in Gang gesetzt hat, als es sonst geschieht, wirkt Gott aber eben
doch gerade auch in der biologischen Sphäre.

46
ist verborgen unter der Ohnmacht des leidenden Heilands.

§ 75: Im Herrn, der auf einer Eselin reitet, haben wir wiederum die Erfüllung einer alttesta-
mentarischen Weissagung auf den Messias vor uns: „Freue dich genug, Tochter Sion, juble,
Tochter Jerusalem: Siehe, dein König wird zu dir kommen als Gerechter und Heiland; er ist
arm und reitet auf einer Eselin, auf dem Füllen einer Eselin“ (Zach 9,9). Dass der Einzug auf
der Eselin, die Jesus sich samt ihrem Füllen, am Morgen des Palmsonntags eigens holen lässt
(Mt 21,2), ihn als Messias offenbart, ging den Jüngern erst nach der Auferstehung (der „Ver-
herrlichung“) Jesu Christi auf (Joh 12,16). Im Alten Testament heißt es: „Sie setzten Salomon
auf das Maultier des Königs David“ (4 Könige 1,38)52. Dies tat man, um zu zeigen: Er ist der
wahre König, der rechtmäßige Nachfolger seines Vaters David. Nötig geworden war diese
Demonstration dadurch, dass sich Adonias, der Sohn der Haggith anstelle des greisen und
kranken David zum König ausgerufen hatte. David jedoch hatte längst schon Salomon, den
Sohn der Bethsabee zum Erben seiner Herrschaft bestimmt (3 Könige 1,17; 30)53. König Sa-
lomon aber ist ein weiser und gerechter König, und als solcher ein Mann, der auf den wahren
König aller Weisheit und Gerechtigkeit vorausweist: auf Jesus Christus, den Logos – das ist
die Weisheit, welche die ganze Welt schafft und ordnet – und Sohn des ewigen Gottes. Das
Maultier – Abkömmling einer Eselin – wurde so zum Zeichen für die Königswürde des Da-
vid und des Salomon. Indem Christus am Palmsonntag auf einer Eselin in Jerusalem einzieht,
zeigt er seinen Herrschaftsanspruch an: Er ist König wie David und Salomon, ja weitaus
mehr als sie beide (Mt 12,42). An der Eselin erkennen ihn die Juden als „Sohn Davids“, und
deshalb rufen sie ihm diesen Titel zu: „Hosanna dem Sohne Davids“ (Mt 21,9). Auf der Ese-
lin Jesu Christi saß noch niemand (Mk 11,2; Lk 19,30), denn er ist nicht der Nachfolger eines
anderen Königs, sondern der eine und einzige König des Alls von Ewigkeit her.
Als einst der Prophet Eliseus dem Jehu durch einen Boten ausrichten ließ, er – Jehu – sei
vom Herrn zum König über Israel gesalbt worden, da nahmen die anwesenden Offiziere des
Heeres ihre Obergewänder ab und legten sie Jehu unter die Füße (4 Könige 9,13)54, um d a-
durch anzuzeigen, dass er als Inhaber des Königsamtes mit den anderen Leuten nicht auf der-
selben Art von Boden steht. Ebenso legen die Menschen ihre Kleider (d. h. Obergewänder)
auf die Straße, als Jesus in Jerusalem einzieht (Mt 21,8): Der König reitet nicht auf demsel-
ben Boden, auf dem gewöhnliche Menschen gehen. Die Palmzweige, mit denen sie dem
Herrn zuwinken, bedeuten, dass sie im Frieden grüßen und die Herrschaft des Königs eine
Friedensherrschaft sein solle.

VII. Gründonnerstag
§ 76: Am Gründonnerstag hat Christus die Heilige Messe – die Wandlung von Brot und
Wein in seinen Leib und sein Blut – eingesetzt. Heute feiert Christus selbst zum ersten Male
die Heilige Messe und trägt seinen Jüngern auf, dies weiterhin an seiner Stelle und in seiner
Vollmacht zu tun. Die Vollmacht der Jünger besteht darin, dem göttlichen Wirken (actio)
durch die von ihnen gesprochenen Wandlungsworte Raum zu geben: Durch die von geweih-
ten Menschen (Priestern) nachgesprochenen Worte des Gottessohnes vollzieht sich das göttli-
che Handeln an den Opfergaben. Der Wein des Letzten Abendmahles ist (wie der Wein in
jeder Hl. Messe) nach der Wandlung das Blut Christi. Auf diesen erlösenden Wein weist
gleich das erste der Zeichen und Wunder Jesu voraus: Bei der Hochzeit zu Kana sagen die

52 Entspricht: 2 Könige
53 Entspricht: 1 Könige
54 Entspricht: 2 Könige

47
Diener zum Hausherrn: „Jeder Mann setzt zuerst den guten Wein vor, und erst wenn sie an-
getrunken sind, den weniger guten. Du aber hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt“ (Joh
2,10). Dies ist das „Zeichen“, mit dem Jesus seine Wunder beginnt (Joh 2,11): Der eigentlich
gute – der beste – Wein ist das erlösende Blut seines Kreuzesopfers. Gott hat diesen Wein des
ewigen Heiles nicht gleich nach dem Sündenfall gesandt, sondern erst „als die Fülle der Zeit
kam“ (Gal 4,4), – genauso wie auch bei der Hochzeit zu Kana der vorzüglichste Wein erst zu
späterer Stunde erscheint.

§ 77: Christus drückt dadurch, dass er seinen Jüngern die Füße wäscht, seine Demut aus: Er
ist der Meister und Herr und leistet ihnen doch Knechtesdienste (Joh 13,12-16). Aber gleich-
zeitig drückt er damit auch seine göttliche Majestät aus: Er – Christus – allein ist es, der
wirklich rein machen kann, und wer nicht von ihm rein gewaschen worden ist, der hat
keinen Teil an ihm und der Erlösung (Joh 13,8). So weist die Füßewaschung sinnbildlich
voraus auf das Kreuzesopfer, das Jesus Christus am nächsten Tag, dem Karfreitag, bringen
wird: Dort wird das Blut des Lammes vergossen, in welchem die Seelenkleider der Erlös-
ten weiß gewaschen werden (Geh. Offb 7,14-17). Im Alten Testament wird berichtet, dass
sich vor dem Offenbarungszelt, in welchem die Bundeslade stand, der Rauchopferaltar be-
fand. Zwischen Zelt und Altar musste Moses auf Geheiß des Herrn ein Becken, mit Wasser
gefüllt, aufstellen, in dem Aaron und seine Söhne (die Priester) sich Hände und Füße wa-
schen sollten, bevor sie an den Alter oder in das Heiligtum (das Zelt) traten (Exod 30,19).
Denn sie mussten rein sein, wie auch die Apostel und ihre Nachfolger, die katholischen
Priester, „ganz rein“ (Joh 13,10) sein müssen, bevor sie an den Altar des Messopfers
treten. Diese Reinheit ist es, welche Christus den Aposteln und ihren Nachfolgern im Pries-
teramt durch die Fußwaschung des heutigen Tages verleiht. Diese Reinheit bedeutet, dass
Gott durch das Wort der zum Priestertum berufenen Menschen sakramental wirkt, sogar
dann, wenn diese Menschen persönlich gesündigt haben: Eine heilige Messe wird dadurch
nicht ungültig, dass der zelebrierende Priester ein Sünder ist. Das ist wohl der Sinn dessen,
dass Christus auch dem Judas die Füße gewaschen und sogar ihn nicht aus dem priesterlichen
Auftrag „Tuet dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19) ausgeschlossen hat: Erst nach der Ein-
setzung der heiligen Messe und erst, nachdem der Heiland dem Judas das Brot gereicht und
dieser es gegessen hat, tritt der Satan bei Judas ein (Lk 22,19-23; Mt 26,20-29; Joh 13,21-27).

VIII. Ostersonntag
§ 78: Christus wusste, dass er der von Gott zum stellvertretenden Sühneleiden für alle Ge-
schöpfe bestimmte Gottesknecht war. In diesem Wissen ging er in sein Leiden und seinen
Tod.55 He ute ist er von den Toten auferstanden. Gott hat ihn auferweckt und damit vom
Himmel her bezeugt, dass Jesu Anspruch, der Messias zu sein, den die Juden und ihre Pries-
ter für falsch und gotteslästerlich hielten, zurecht und in Wahrheit besteht. Durch seinen Tod
und seine Auferstehung hat Christus den Geschöpfen das Himmelstor wieder geöffnet, das
nach dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies den Menschen verschlossen war.
Ein flammendes Schwert versperrte den Eingang zum Baum des Lebens (Gen 3,24).

§ 79: Karl Rahner hat einmal folgende Frage gestellt56, und zwar (wie er sich ausdrückt) g e-

55 Vgl. die ausgezeichnete Darstellung von Jesu Selbstverständnis als einzig angemessenes und Gott wohlg e-
fälliges Sühnopfer bei Peter Stuhlmacher: Was geschah auf Golgatha? In: Walter Brandmüller (Hg): Wer ist
Jesus Christus? Mythen, Glaube und Geschichte (Aachen: MM Verlag 1995) 171-193, hier 183-187.
56 Karl Rahner: Bemerkungen zur Bedeutung der Geschichte Jesu für die katholische Dogmatik. In: Schriften
zur Theologie, Bd. X (Zürich: Benziger 1972) 215-226, 216.

48
rade auch an „respektable Theologen“: „Glauben Sie, daß Jesus von den Toten auferstanden
ist, oder glauben Sie auch, weil er von den Toten auferstanden ist (wie sich Paulus trotz
Bultmann57 zu glauben erlaubte)?“ Und Rahner meint, man werde „auch von katholischen
Theologen heute nicht selten die Antwort erhalten: Selbstverständlich glaube ich nur, daß er
von den Toten auferstanden ist.“ Es bleibt wahr: Paulus glaubte, weil Jesus auferstanden war,
und heute gilt noch, was der große Völkerapostel schrieb: „Wenn aber Christus nicht aufer-
standen ist, ist nichtig unsere Predigt, nichtig euer Glaube“ (1 Kor 15,14). Nach dem Tode
Jesu waren die Jünger verzweifelt und zerstreut. Aber plötzlich nach wenigen Tagen begin-
nen sie zu predigen mit einer Sicherheit, die an’s Wunderbare grenzt, vor allem wenn man
bedenkt, dass sie alle sogar den Tod für die Wahrheit ihres Zeugnisses auf sich nahmen, und
dass die Nachwirkungen dieser Predigt nunmehr seit zweitausend Jahren sich auf der Welt
kräftig ausbreiten. Dieser plötzliche Umschlag in seiner Dauerhaftigkeit widerspricht jeder
menschlichen Psychologie. Er ist letztlich nur dadurch erklärbar, dass hier tatsächlich etwas
geschah, was keine „Halluzination“ der Jünger (die Jünger waren samt und sonders nüchterne
Leute, keine weltfremden Mystiker), sondern wirkliches Ereignis war – wenn auch von einer
Wirklichkeit, die alles hinter sich lässt, was wir gewöhnlich als Wirklichkeit kennen.

IX. Christi Himmelfahrt


§ 80: Christus hat den Tod überwunden, deshalb gehört er nicht mehr dem irdischen, sondern
dem ewigen Leben an. Er lebt nicht mehr in der Zeit, in der Augenblicke aufeinander folgen
und Ereignisse nacheinander ablaufen, und nicht mehr im Raum, in dem das Hier vom ent-
fernten Dort getrennt ist, sondern in ewiger Gleichzeitigkeit aller Zeiten (samt ihren Ge-
schehnissen) und in ewiger Allgegenwart aller Räume (samt ihrer Inhalte). Diese Sphäre der
Ewigkeit nennt man auch „Himmel“. Der Himmel ist kein „Ort“ unter anderen Örtern, weil er
alle Räume und ihre Örter umschließt. In der Ewigkeit oder im Himmel gibt es nicht die
Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es gibt auch nicht die Trennung
zwischen Hier und Dort. Vielmehr wird die ganze Fülle aller Geschehnisse gleichzeitig (d. h.
über alle Zeiten hinweg) und allgegenwärtig (d. h. über alle Räume hinweg) geschaut: kein
Fluss aufeinanderfolgender Ereignisse und Gegenden, sondern ein ruhiges Jetzt und Hier von
Allem.58 Das Weite und Ferne ist ganz nah, und das längst Vergangene wie das spätest Z u-
künftige ganz gegenwärtig.

§ 81: Dieser Sphäre gehört jeder Tote an, denn Sterben bedeutet, dass sich die unsterbliche
Seele aus der Bindung an einen bestimmten Ort und an eine bestimmte Zeit herauslöst und
eingeht in die allumspannende göttliche Ewigkeit – in den Himmel. Der Tote lebt nicht mehr
zu einer bestimmten Zeit, sondern immer; und er lebt nicht mehr in einer bestimmten Region,
sondern überall. Auch der auferstandene Christus gehört der Ewigkeit an, um so mehr als er
der menschgewordene Gott ist: Indem er der irdischen Existenz abstirbt, tritt die göttlich
himmlische Daseinsweise des ewigen Logos wieder in ihr Recht. Fallen dann aber nicht
Himmelfahrt und Tod zusammen? Zweierlei unterscheidet den Tod von der Himmelfahrt:

57 Rudolf Bultmann (1884-1976) war ein protesta ntischer Theologe, der das Evangelium „entmythologisieren“
wollte, d. h. er behauptete, alle Wunder und insbesondere die Auferstehung seien keineswegs übernatürliche
reale Geschehnisse, sondern bloße Sinnbilder. Das verbinde sie mit den Mythen, denn auch diese gäben als
wirkliche Ereignisse aus, was bloß Bilder für seelische Sachverhalte seien. Diese Pseudowirklichkeit müsse man
auch von allen biblischen Berichten abziehen, dann bleibe der symbolische Gehalt übrig. Außer der vagen all-
gemeinen Behauptung, dass Wunder einfach nicht geschehen könnten, gibt Bultmann aber keine Gründe dafür
an, dass die Geschehnisse, von denen die Bibel berichtet, nicht geschehen sein sollten (vgl. §§ 69f).
58 Nunc stans, „stehendes Jetzt“, nennt die abendländische Philosophie diese Sphäre.

49
[a] Zum einen muss eine menschliche Seele, bevor sie die Ewigkeit ertragen kann, von i h-
rer Sündhaftigkeit geläutert werden. Sündhaft ist, wem seine persönliche Interessenlage mehr
bedeutet als die göttliche Gesamtordnung der Dinge. Der Sünder ersetzt so die Perspektive
der Ewigkeit durch eine Perspektive der Endlichkeit: Er ist unwillig, die Ewigkeit zu ertra-
gen. Das Leben der Ewigkeit hat zur Voraussetzung die Befreiung von der Verstrickung in
endliche Perspektiven. Dies ist der schmerzhafte Prozess, dass eine Seele über das ihr Nahe-
liegende und Vertraute hinaus auch am Fernen und Fremden Anteil zu nehmen lernt. In sol-
che Erlebensweise wächst die Seele durch das hinein, was wir Fegefeuer nennen: Hier wird
ihre von Selbstsucht verkürzte Anteilnahme an der Welt aufgebrochen auf das Ganze – auf
das Ewige – hin.
Zusatz: Eine Seele, welche sich diesem Aufbrechen auf das größere Ganze hin verweigert und an ihrer selbst-
süchtigen Endlichkeit um jeden Preis festhält, realisiert in sich die Hölle, d. i. ein Dasein, welches sich grund-
sätzlich weigert, eine andere Orientierung anzuerkennen als die eigene Perspektive und Interessenlage. Damit
trennt sie sich selbst aus dem Zusammenhang des alles umfassenden göttlichen Lebens heraus und zieht sich auf
sich selbst zurück. Sie schneidet sich selbst von den Quellen des Lebens ab (§§ 58f).

[b] Jesus Christus bedarf keiner solchen Läuterung, weil er ohne Sünde ist. Er war nie
selbstsüchtig einer endlichen Perspektive verfallen, da er auch während seines irdischen Le-
bens immer der göttliche Logos geblieben ist. Dennoch fällt auch sein Tod nicht mit seiner
Himmelfahrt zusammen. Im Tod geht nämlich nur die Seele in Gottes Ewigkeit ein, nicht
jedoch auch schon der Leib des Menschen, der vielmehr auf Erden zurückbleibt und zerfällt,
weil er der von Raum- und Zeitbegrenzungen losgelösten Existenzweise der Ewigkeit nicht
entspricht. Es ist der Leib, wodurch die Seele an einen bestimmten Ort und eine bestimmte
Zeit gebunden ist: Körperlich können wir nur hier und jetzt existieren, während unsere Seele
im Geiste denkend sich in fernste Räume und Zeiten zu versetzen vermag. Himmelfahrt be-
deutet nun, dass der Leib mit der Seele wieder vereinigt wird. Dazu aber muss der Leib eine
Verwandlung durchmachen: Er muss über seine räumliche und zeitliche Beschränktheit hi-
nausgehoben werden. Er muss vom irdischen Leib zum himmlischen, ewigen Leib werden.
Diesen Vorgang nennen wir Himmelfahrt.

§ 82: Die Himmelfahrt steht für die meisten Menschen noch aus, selbst für diejenigen, wel-
che als Verstorbene schon in Gottes Ewigkeit weilen. Nur wenige sind es, von denen die Of-
fenbarung berichtet, dass sie bereits mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen sind:
Henoch (Gen 5,24; vgl. Hebr 11,5), der Prophet Elias (4 Könige 2,11)59, Jesus Christus und
die Jungfrau Maria60. Die Jünger sehen bei der Himmelfahrt Jesu daher nicht bloß eine Seele,
sondern sie sehen ihn in samt seinem Leib zu Gott eingehen. Aber dieser Leib entzieht sich
ihren irdischen Blicken, weil es kein irdischer Leib mehr ist, sondern ein ewiger. Was die
Zeugen der Himmelfahrt sehen, ist das Ewigwerden des irdischen Leibes. Einen ewigen Leib
wahrzunehmen, dazu sind irdische Augen jedoch nicht im Stande. Deshalb sehen die Jünger
zwar das „Entschweben“ des irdischen Leibes, nicht jedoch die Gestalt, die er als ewiger nun
hat: „Und als er dies gesagt hatte, entschwebte er vor ihren Augen: und die Wolke nahm ihn
auf von ihren Augen weg“ (Apg 1,9).

§ 83: Im lateinischen Text der Vulgata heißt es vom auffahrenden Christus: elevatus est. Nun
kommt elevare kommt von levis, d. i. „leicht“. Die Himmelfahrt wird als ein „Leichtwerden“
beschrieben: Der Körper verliert die Schwere, die ihn an seinen Ort bannt. Durch Leichtigkeit
wird der Raum überwunden, insofern sie die Erdenschwere aufhebt, die für das Beharren-

59 Entspricht: 2 Könige
60 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 966 und 974

50
müssen am Ort verantwortlich ist. Ist aber die Ortsbeharrung überwunden, so bleibt der Leib
selbst doch immer noch räumlich begrenzt. Allgegenwart scheint ein „Verfließen“ der wohl-
begrenzten individuellen Form des Leibes in’s Gestaltlose einzuschließen. Aber geht das, was
unseren Leib ausmacht, nicht immer schon über unsere Körpergrenzen hinaus? Unser Kör-
per hört mit der Haut auf, der Leib jedoch reicht viel weiter: Die Landschaft, die wir erleben,
die Luft, die wir atmen, die Menschen, mit denen wir Gemeinsamkeit haben, sind leibliche
Gestalten. Was wäre unsere Seele ohne sie? Sie kommt ohne solch Fremdleibliches genauso
wenig aus, wie ohne den eigenen Leib. Denn diese fremde Leiblichkeit ist es, was unserer
Seele Inhalt gibt und worin sie sich anschaut und wiederfindet. Letztlich ist die ganze Welt
der Leib, in dem unsere Seele lebt.
Zusatz 1: Die uns umgebende Welt wirkt auf uns ein: Die Luft, das Licht, was wir berühren, was wir riechen,
was wir hören – in allem macht sich die Welt als leiblicher Eindruck in uns fühlbar. In dem Wind, der unser
Haupt umweht, schlägt sich aber ein Luftzug nieder, der von weit, weit her kommt: Vielleicht ist es der Ausläu-
fer eines Sturmes, der gerade in der Südsee oder auf den Bergen Norwegens tobt. In den Häusern, die wir sehen,
ist die geistige und körperliche Tätigkeit der Architekten und Maurer, die diese Häuser gebaut haben, gegen-
wärtig. In den Bäumen unseres Gartens, in den Tieren im Zoo sammelt sich die lange, lange Geschlechterreihe
ihrer Vorfahren und Vorstufen in der Entwicklung des Lebens über die ganze Evolution hin zurück bis zum
ersten Schöpfungsaugenblick. In dem Felsengipfel, den wir beim Bergsteigen sehen, sammelt sich das Licht der
Sonne und aller Sterne, das ihn seit Jahrtausenden Tag und Nacht bestrahlt. Die Welt ist ein Gewebe, in dem
jedes Ding mit jedem anderen Ding direkt oder indirekt (vielleicht über viele tausend Zwischenglieder) ver-
flochten ist. Wenn wir diese Verflechtungen, die in jedem Ding angesammelt sind, das auf unsere leiblichen
Sinne wirkt, allesamt deutlich unterschieden wahrnehmen könnten, dann wäre unser Leib ein Spiegel des gan-
zen Universums. Wenn wir die Dinge so erleben könnten, würde unser Leib in seinen Sinneseindrücken gewis-
sermaßen mit der ganzen Welt erfüllt sein. Unser Leib würde sich gewissermaßen nahtlos in die ganze Welt
hinein fortsetzen. Hier liegt der wahre Kern, wenn asiatische Weisheit zur Welt sagt: „Das alles bin ich selbst“
(tat twam asi). Wenn wir am Meer die Brandung hören, setzt sich dieses Geräusch aus vielen Tausenden von
einzelnen Wellenschlägen zusammen. Sie alle wirken zu diesem Rauschen zusammen und sind darin gegenwär-
tig, ohne dass wir aber eine einzelne Welle heraushören und unterscheiden könnten. Ebenso vermögen wir in
Bezug auf unser Gesamterleben, das sich aus dem Einwirken des gesamten Universums auf uns ergibt, die ein-
zelnen Ereignisse zu unterscheiden, die darin mitwirken.

Zusatz 2: Der Vorstellung des Himmels als eines raum- und zeitübergreifenden Schauens begegnen wir in
Märchen, sowie in den Mythen verschiedener Religionen. Als Beispiele seien nur genannt das Märchen der
Gebrüder Grimm „Der Schneider im Himmel“61, „Die Geschichte vom zweimal bestohlenen Geldwechsler“ und
„Die Geschichte von der himmlischen Vergeltung“ (beide aus „Tausendundeiner Nacht“), „Der Gast des Toten“
(Bechstein). In der germanischen Mythologie zeigt der Urdbrunnen die fernste Zukunft bis nach der Götter-
dämmerung, und Odins Hochsitz erlaubt dem, der in ihm Platz nimmt, die ganze Welt zu überschauen: „ein
Platz, der heißt Hlidskjalf; wenn Allvater sich dort in den Hochsitz setzte, so schaute er über alle Welten und
jedermanns Hantierung, und er behielt alles, was er sah, im Gedächtnis“62. In der griechischen und römischen
Religion, aber auch Philosophie, war die göttliche Vorsehung wohlbekannt, ja dieser Begriff stammt aus dem
antiken Heidentum. Er konnte in das Christentum eingehen, weil er einen Zug der göttlichen Natur beschreibt,
von dem praktisch alle Religionen wissen. Der christliche Theologe und Philosoph Boethius (480-524 n. Chr.)
hat die Vorsehung mit dem göttlichen Logos selbst verbunden: „Denn die Vorsehung ist jene im höchsten Herr-
scher aller Dinge selber begründete göttliche Vernunft, die alles ordnet“63.

X. Pfingsten
§ 84: Fünfzig64 Tage nach Ostern feiert die Kirche das Pfingstfest. Am heutigen Tage wurde

61 Kinder- und Hausmärchen, Nr. 35


62 Die jüngere Edda (Thule Bd. XX, Jena: Diederichs 1925) 57
63 Boethius: De consolatione philosophiae IV 6 (dt. Text nach der Ausgabe von Olof Gigon, 3Zürich und Mü n-
chen: Artemis 1981, 205)
64 Griechisch: pentekoste hemera, der fünfzigste Tag (nämlich nach dem Pascha-Fest)

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der Heilige Geist über die Apostel und die Gottesmutter ausgegossen (Apg 2,1-13). Es sind
zwölf Apostel, denn nach dem Ausscheiden von Judas Ischariot wurde Matthias an dessen
Stelle zu den Elfen hinzugewählt (Apg 1,12-26). Der Heilige Geist tritt auf in Gestalt eines
heftigen Windhauches, der das ganze Haus durchbraust, und in Form von Feuerzungen, die
sich auf jeden einzelnen niederlassen. Der Geist bewirkt, dass die Apostel sogleich in den
verschiedensten Sprachen zu reden vermögen. Menschen fremder Zunge verstehen so, was
die Jünger über Christus Jesus predigen. In der Sprache drückt sich Verstehen aus: Der Geist
bewirkt also ein weiter ausgreifendes Verstehen der Menschen untereinander und ein tiefe-
res Verständnis der göttlichen Dinge (vgl. Joh 14,26; 15,26f; 16,13). Dreitausend Seelen
werden an diesem Tag aufgrund der vom Geiste Gottes eingegebenen Predigt des Petrus de-
nen hinzugefügt, die verstehen und glauben, dass Christus der Messias Gottes ist.

§ 85: Bei Feuer und Wind handelt es sich um alte Sinnbilder des Geistes.65 Denn der Geist
ist, anders als der Körper, nicht an einen bestimmten Ort und an keine bestimmte Zeit gebun-
den, sondern er vermag über Gott und das ganze All in Gedanken hin zu schweifen und die
Form eines jeden Gegenstands in sich aufzunehmen. In ähnlicher Weise sind Feuer und Wind
nicht an eine feste Gestalt gebunden, sondern nehmen wechselhaft viele Gestaltungen an und
sind höchst unterschiedlich formbar. Wie der Wind die Blätter der Bäume bewegt, bringt der
Geist unser Denken und Planen, unser Hoffen und Fürchten in lebendige Bewegung. Und wie
das Feuer erleuchtet und erwärmt, so schenkt der Geist Klarheit und Einsicht sowie innere
Anteilnahme an den erkannten Dingen. Im Feuer erscheint Gott Heiliger Geist den Aposteln
an Pfingsten. Wie er einst Moses aus dem Feuer des brennenden Dornbusches heraus belehrte
(Exod 3), so unterweist er an Pfingsten die Apostel über das, was in Christus geschehen ist.
Der Heilige Geist lehrt seither die Apostel und ihre Nachfolger, die Päpste und Bischöfe,
die Fülle dessen zu verstehen, was Jesus Christus gesagt und getan hat (Joh 14,26).

XI. Dreifaltigkeitssonntag
§ 86: Am ersten Sonntag nach Pfingsten feiert die Kirche das Fest der Allerheiligsten Drei-
faltigkeit. Judentum, Christentum und Islam bekennen gemeinsam, dass Gott einer ist. Nur
das Christentum jedoch weiß, dass Gott in seiner Einheit dreifaltig ist. Diese Lehre ist einer
der Hauptunterschiede zwischen dem Christentum und den beiden anderen Religionen. Der
Glaubenssatz von der Dreifaltigkeit Gottes ist nicht leicht zu verstehen. Die folgenden Sätze
versuchen, eine kleine Andeutung zu Verständnis zu geben. Ich bin mir aber sehr wohl dar-
über klar, dass in dieser Sache kein wirklich zufriedenstellendes Verstehen möglich ist. 66
[a] Gott ist Person. Das heißt, er hat Wissen, ist sich selbst gegeben, er hat Absichten. Das
alles ist darin zusammengefasst, dass die Schrift sagt, Gott sei Geist (Joh 4,24). Geist ist man
nur, wenn man von sich selbst weiß. Der Geist macht sich ein Bild, ein Gedanken, einen Beg-
riff von sich selbst (und allem anderen). Geist zu sein ist, wie wenn man sich selbst im Spie-
gel sieht.
[b] Auch Gott, weil er Person und Geist ist, weiß von sich, er „sieht sich im Spiegel“ sozu-
sagen. Unser Spiegelbild ist selber nicht lebendig. Es ist selber keine zweite Person. Denn in
unserem Spiegelbild lebt nicht unsere ganze Wirklichkeit, sondern nur der äußere Wider-
schein. Anders bei Gott: Sein „Spiegelbild“ ist von derselben Wirklichkeit wie er selbst, d. h.

65 Vgl. Herbert Huber: Menschen, Märchen, Mythen. Sinnbilder vom Leben (Asendorf 1990)
66 Ausführlicher gehe ich auf die Problematik der Dreifaltigkeit ein in meinem Buch Herbert Huber : Philos o-
phische Exempel (Donauwörth: Auer 2003) 181-191

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es ist eine eigene „zweite“ Person: sein ewiger Sohn. Es ist so ähnlich wie bei zwei
menschlichen Personen. Sie mögen genau dieselben Erlebnisse haben, dennoch erleben sie
alles aus ihrer je eigenen Perspektive: Wenn beide Hunger haben, wird doch keiner seinen
Hunger mit dem des anderen verwechseln.
[c] Haben wir mit zwei Personen nicht zwei Götter? Nein, denn beide Personen sind in ih-
rer je unterschiedlichen Perspektive gleichzeitig eins. Auch wenn zwei Menschen miteinan-
der zu tun haben, sind sie in gewisser Weise eins: Wenn sie miteinander reden, macht sich
jeder von beiden nicht nur seine persönliche Vorstellung von der Welt, sondern er kann sich
zudem noch vorstellen, in welchen Punkten der andere die Welt abweichend sehen mag. Al-
lein auf dieser Grundlage, dass jeder nicht nur die eigene Perspektive, sondern die Einheit der
eigenen Perspektive und der des anderen zu erfassen versucht, können sie sich verständigen.
Ähnlich ist es bei Gott: Indem der Vater die Einheit seiner selbst mit dem Sohne sieht, ist
eine neue Perspektive entstanden, die nicht mehr nur Perspektive des Vaters ist; und indem
der Sohn die Einheit seiner selbst mit dem Vater sieht, ist ebenfalls eine neue Perspektive
entstanden, die nicht mehr nur Perspektive des Sohnes ist. Weil aber in der Gottheit die Per-
son des Vaters und die des Sohnes nicht wie zwei Menschen sich über den anderen täuschen
können, ist die Einheit, in welcher der Vater sich mit dem Sohne sieht, identisch mit der Ein-
heit, in welcher der Sohn sich mit dem Vater sieht. Die „beiden“ Perspektiven sind in Wahr-
heit nur eine einzige. Diese ist aber nicht nur ein Vorstellungsbild (wie beim Menschen),
sondern eine „dritte“ eigene Person, weil, indem in Gott eine personale Perspektive abge-
bildet wird, sie in ihrer ganzen Wirklichkeit als Sich-selber-wissen gesetzt ist (wie wir in [2]
gesehen haben): der Heilige Geist.
Zusatz: In der Praefation der Heiligsten Dreifaltigkeit heißt es: Ut in confessione verae sempiternaeque Dei-
tatis et in personis proprietas, et in essentia unitas, et in majestate adoretur aequalitas, d. h.: „Auf dass beim
Bekenntnis der wahren und ewigen Gottheit in den Personen die Eigenheit, im Wesen die Einheit, in der Erha-
benheit die Gleichheit angebetet werde“.

XII. Fronleichnam
§ 87: Fronleichnam ist das Fest des Leibes („Leichnam“) des Herrn („Fron“). Im Mittelhoch-
deutschen bedeutet das Wort lich oder Leiche einfach nur den Leib. Erst später wurde dieses
Wort für den toten Leib reserviert. Dass Hostie und Wein wirklich und wahrhaftig Leib und
Blut Christi sind, das hat die katholische Kirche immer geglaubt. Genau in diesem Punkt aber
weichen viele protestantische Gruppen von ihr ab. Martin Luther lehrt, Christi Leib und Blut
seien nur im Augenblick des gläubigen Genusses in Brot und Wein gegenwärtig, aber weder
vorher noch nachher, so dass die in der Monstranz ausgestellte Hostie für ihn bloß ordinäres
Brot ist. Johann Zwingli geht noch weiter und behauptet, Brot und Wein bedeuteten bloß
Leib und Blut Christi, d. h. sie seien nur Sinnbilder für Fleisch und Blut, blieben in sich selbst
aber Brot und Wein. Katholische Lehre ist es, das festzuhalten, was Christus selbst gesagt
hat: „Das ist mein Leib“ (vgl. Mt 26,26-28; Mk 14,22-24; Lk 22,19-20). Ein berühmtes Bild
zeigt diese drei Sätze: „Das wird mein Leib“ (beim Genuss), „Das bedeutet meinen Leib“
und „Das ist mein Leib“. Darunter steht die Frage: „Wer hat recht?“. Die Antwort ist klar:
Weder Luther noch Zwingli, sondern einzig Christus selbst kann recht haben: „Das ist mein
Leib“.67

67 Vgl. Reiners [Anmerkung 34] S. 63. – Missverstanden als Ausdruck dafür, dass man alle drei Sätze gle i-
chermaßen vertreten könne, wird die Geschichte leider in dem sonst so vorzüglichen Buch von Georg Lohmeier:
Der Zorn eines Christenmenschen (München: Langen Müller 1999) 144

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