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GAZA/008: Das Massaker von Gaza und der Kampf um Gerechtigkeit (EI)

The Electronic Intifada - 27. Dezember 2010

Das Massaker von Gaza und der Kampf um Gerechtigkeit

Von Ali Abunimah

Das Gaza-Massaker, das Israel heute vor zwei Jahren begann, endete keineswegs am 18.
Januar 2009, sondern dauert weiter an. Dem Massaker fielen nicht nur Menschen zum Opfer,
sondern auch die Wahrheit und die Gerechtigkeit. Allein unsere Taten können dem ein Ende
bereiten.

Der von den Vereinten Nationen in Auftrag gegebene Goldstone-Bericht dokumentiert


Beweise für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Verlauf
eines Angriffs begangen wurden, der sich gegen die "Grundfesten des zivilen Lebens" selbst -
Schulen, Industrieinfrastruktur, Wasser, Abwasser, Getreidemühlen, Moscheen,
Universitäten, Polizeistationen, Ministerien, die Landwirtschaft [1] und Tausende
Wohnhäuser - richtete. Wie so viele andere Untersuchungen, die israelische Verbrechen
dokumentieren, liegt der Goldstone-Bericht jedoch bei den Vereinten Nationen und sammelt
Staub an, da die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, die Palästinensische
Autonomiebehörde [2] und gewisse arabische Regierungen in heimlichem Einverständnis
dafür sorgten, daß keine Taten folgen.

Israel startete den Überfall unter Bruch des Waffenstillstands, den es im Juni davor mit der
Hamas ausgehandelt hatte, und unter dem fadenscheinigen Vorwand, Raketenbeschuß aus
Gaza beenden zu wollen.[3]

In diesen entsetzlichen Wochen vom 27. Dezember 2008 bis zum 18. Januar 2009 tötete
Israels gnadenloses Bombardement dem Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte in
Gaza zufolge 1.417 Menschen.

Es waren Kinder wie Farah Ammar al-Helu, ein Jahr alt, getötet in al-Zaytoun. Es waren
Schülerinnen oder Schüler wie Islam Khalil Abu Amsha, 12, Shajaiyeh und Mahmoud Khaled
al-Mashharawi, 13, aus al-Daraj. Es waren alte Menschen wie Kamla Ali al-Attar, 82, aus
Beit Lahiya und Madallah Ahmed Abu Rukba, 81, aus Jabaliya. Es waren Väter und
Ehemänner wie Dr. Ehab Jasir al-Shaer [4]. Es waren Polizeibeamte wie Younis Muhammad
al-Ghandour, 24 Jahre alt. Es waren Krankenwagenfahrer [5] und Mitarbeiter des
Zivilschutzes. Es waren Hausfrauen, Lehrer, Bauern, Arbeiter aus dem Sanitätsbereich und
Bauhandwerker. Und ja, einige von ihnen waren Kämpfer, die sich wie andere Menschen es
auch tun würden, mit leichten und primitiven Waffen gegen Israels Ansturm zur Wehr
setzten, der mit den modernsten Waffen stattfand, die die USA und die Europäische Union
liefern konnten.

Die Namen der Toten füllen 100 Seiten, und nichts kann die Leere ersetzen, die sie in ihren
Familien und Gemeinden hinterlassen haben ("The Dead in the course of the Israeli recent
military offensive on the Gaza strip between 27 December 2008 and 18 January 2009," [PDF]
Palestinian Centre for Human Rights, 18 March 2009).[6](1)

Es waren nicht die ersten, die in einem israelischen Massaker starben, und es waren nicht die
letzten. Dutzende Menschen wurden seit dem Ende von Israels "Operation Gegossenes Blei"
getötet, als letztes in der vergangenen Woche Salameh Abu Hashish, ein 20jähriger Schäfer,
der von der israelischen Besatzungsarmee erschossen wurde, als er in Nordgaza seine Tiere
versorgte.(2)

Aber die Tragödie endet nicht bei den Getöteten. Abgesehen von jenen Menschen, die
bleibende Schäden zurückbehalten, gibt es den auf keine Weise berechenbaren
psychologischen Preis [7], den die Kinder zahlen, die ohne Eltern aufwachsen, die Eltern, die
ihre Kinder begraben, und des mentalen Traumas, das die israelische Offensive und die
anhaltende Belagerung bei fast jedem in Gaza hervorgerufen haben. Da sind zudem die
bislang noch nicht bekannten Folgen der Tatsache, daß die 700.000 Kinder Gazas über Jahre
hinweg mit vergiftetem Wasser [8] versorgt wurden.

Die Belagerung raubt 1,5 Millionen Menschen nicht allein die Basisversorgung, das Material
für den Wiederaufbau (nahezu nichts wurde in Gaza wieder aufgebaut) [9], und den Zugang
zur Gesundheitsversorgung, sondern ihr grundlegendes Recht zu reisen, zu studieren, an der
Welt teilzuhaben. Sie beraubt vielversprechende junge Menschen [10] ihrer Ziele und ihrer
Zukunft. Sie raubt dem Planeten all das, was diese schaffen und anbieten könnten. Indem es
Gaza von der Außenwelt abriegelt [11], hofft Israel uns vergessen zu lassen, daß es sich dort
drinnen um Menschen handelt.

Zwei Jahre nach dem Verbrechen bleibt Gaza ein riesiges Gefängnis für eine Bevölkerung,
deren unverzeihliche Sünde es in den Augen Israels und seiner Verbündeten ist, von dem
Land geflohen zu sein, das Israel sich durch ethnische Säuberung [12] angeeignet hat.

Israels Gewalt gegen Gaza, wie seine Gewalt gegen Palästinenser überall ist die logische
Folge eines Rassismus, der den untrennbaren Kern der zionistischen Ideologie und Praxis
bildet: Palästinenser sind nichts als ein Ärgernis wie ein Gebüsch oder wie Steine, die bei der
unentwegten, zionistischen Eroberung des Landes aus dem Weg geschafft werden müssen.
Dagegen kämpfen alle Palästinenser an, wie ein Offener Brief [13](3) von Dutzenden
Organisationen der Zivilgesellschaft in Gaza uns heute erinnert:

Wir Palästinenser von Gaza wollen mit der Freiheit leben, palästinensische Freunde oder
Familienmitglieder aus Tulkarem, Jerusalem oder Nazareth zu treffen; wir wollen das Recht
haben, zu reisen und uns frei zu bewegen. Wir wollen ohne Angst vor einem weiteren
Bombenkrieg leben, der Hunderte unserer Kinder tötet und viele weitere verletzt oder durch
die Verpestung mit Israels weißem Phosphor und Chemiewaffen Krebs bei ihnen auslöst. Wir
wollen ohne die Demütigungen an israelischen Checkpoints und die Schande leben, unsere
Familien aufgrund der durch die Kontrolle über die Wirtschaft und die illegale Blockade
verursachten Arbeitslosigkeit nicht versorgen zu können. Wir fordern ein Ende des
Rassismus, der diese Unterdrückung zementiert.
Jene von uns, die außerhalb Gazas leben, können beim Blick auf diese Menschen Inspiration
und Kraft schöpfen; sogar nach all der willentlich zugefügten Grausamkeit haben sie nicht
aufgegeben. Aber wir können von ihnen nicht erwarten, diese Last allein zu tragen, oder die
schrecklichen Auswirkungen, die die unnachgiebige Verfolgung durch Israel für das
Bewußtsein und die Körper der Menschen in Gaza oder für die Gesellschaft selbst hat,
ignorieren. Wir müssen auch ihrem Aufruf zum Handeln folgen.

Vor einem Jahr war ich zusammen mit über tausend Menschen aus Dutzenden Ländern beim
'Gaza Freedom March', der versuchte nach Gaza zu gelangen, um am ersten Jahrestag an das
Massaker zu erinnern. Der Weg wurde uns von der ägyptischen Regierung versperrt [14], die
unter US-Rückendeckung [15] gemeinsame Sache mit der israelischen Belagerungspolitik
macht. Und auch wenn wir nicht in Gaza angekommen sind, schafften es andere Konvois vor
uns und nach uns, wie es Viva Palestina, allerdings nach deutlicher Behinderung und
Einschränkung durch die Ägypter, gelungen ist [16].

Gestern ist die Mavi Marmara nach Istanbul zurückgekehrt, wo sie im Hafen von Tausenden
von Menschen begrüßt wurde. Im Mai war das Schiff Teil der 'Gaza Freedom Flotilla' [17],
die losfuhr, um die Blockade auf dem Seewege zu brechen, und in internationalen Gewässern
von israelischen Kommandoeinheiten überfallen und gekapert [18] wurde, die neun
Menschen töteten und Dutzende verletzten. Auch dieses Massaker hat die noch zahlreicheren
Menschen nicht abgehalten, den Versuch zu unternehmen, die Blockade zu brechen: Der
'Asiatische Konvoi nach Gaza' (4) ist unterwegs und weitere andere Unternehmungen sind in
Planung.

Wir könnten mit Blick auf diese ganzen Initiativen mit Recht sagen, daß die Blockade trotz
des horrenden Tributs - einschließlich der Menschenleben - noch immer nicht gebrochen ist,
weil die Regierungen der Welt - die sogenannte "internationale Gemeinschaft" - weiterhin
Israels Straffreiheit garantieren. Zwei Jahre später liegt Gaza noch immer in Schutt und
Asche, und Israel hält die Bevölkerung fortwährend am Rande einer absichtlich
herbeigeführten humanitären Katastrophe, indem es nur so viele Versorgungsgüter hineinläßt
wie nötig sind, um die internationale Meinung zu besänftigen. Es wäre leicht, die Zuversicht
zu verlieren.

Auch wenn es so ist, sollten wir uns daran erinnern, daß die Palästinenser in Gaza nicht
Objekt und kein isolierter humanitärer Anlaß sind, sondern Partner im Kampf für
Gerechtigkeit und Freiheit in ganz Palästina. Die Blockade von Gaza zu brechen, wäre ein
Meilenstein auf diesem Marsch.

Haneen Zoabi, ein palästinensisches Mitglied des israelischen Parlaments und Passagier der
Mavi Marmara, erklärte im vergangenen Oktober in einem Interview [19] mit 'The Electronic
Intifada', daß die israelische Gesellschaft und Regierung ihren Konflikt mit den Palästinensern
nicht als Problem sehen, das gelöst werden muß, um Opfern Gerechtigkeit und
Gleichberechtigung zu bringen, sondern ausschließlich als "Sicherheitsproblem". Zoabi
bemerkte, daß die breite Mehrzahl der Israelis glaubt, daß Israel das Sicherheitsproblem im
Großen und Ganzen "gelöst" habe: in der Westbank durch die Apartheidsmauer und die
"Sicherheitskoordination" der israelischen Besatzungskräfte mit der kollaborierenden
Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah und in Gaza durch die Blockade.

Die israelische Gesellschaft, meinte Zoabi abschließend "sieht keine Notwendigkeit für einen
Frieden. Sie nehmen die Besatzung nicht als Problem wahr. Sie sehen die Belagerung nicht
als ein Problem. Sie nehmen die Unterdrückung der Palästinenser nicht als Problem wahr, und
sie zahlen nicht den Preis für die Besetzung oder den Preis für [die] Blockade [von Gaza]."
Aus dem Grund sind die Konvois und die Flottillen wichtiger Teil einer größeren
Anstrengung, Israel zu verstehen zu geben, daß es in der Tat ein Problem hat und niemals als
normaler Staat behandelt werden kann, solange es nicht seine Unterdrückungs- und
Besatzungspolitik gegenüber den Palästinensern in der Westbank und im Gazastreifen
beendet und die Rechte der palästinensischen Bürger Israels und der palästinensischen
Flüchtlinge in vollem Umfang respektiert. Und auch wenn die Regierungen weiterhin
danebenstehen und nichts unternehmen, weist die Zivilgesellschaft mit diesen Bemühungen,
die Blockade zu brechen, und mit der breiteren, von den Palästinensern geführten Kampagne
von Boykott, Investitionsstop und Sanktionen (BDS) den Weg.

Bei all ihrem Leid konnten die Palästinenser in den zwei Jahren seit dem Gaza-Massaker
nicht viele Siege feiern. Aber es gibt Anzeichen, daß sich die Dinge in die richtige Richtung
bewegen. Israel bittet genau deshalb um US-unterstützte "Friedensverhandlungen" [20], weil
es weiß, daß der "Friedensprozeß" den Deckmantel für seine fortwährenden Verbrechen
liefert und daß ein solcher "Prozeß" es nie erforderlich machen wird, irgendetwas aufzugeben
oder den Palästinensern irgendwelche Rechte zuzugestehen.

Dennoch mobilisiert Israel alle seine Kräfte, um die globale Bewegung für Gerechtigkeit [21]
und insbesondere BDS zu bekämpfen, das seit dem Gaza-Massaker soviel Fahrt
aufgenommen hat [22]. Es könnte keine größere Bestätigung dafür geben, daß diese
Bewegung Gerechtigkeit in Griffweite rückt. Unsere Erinnerung an all die Opfer darf sich
nicht auf einen jährlichen Gedenktag beschränken, sondern sollte die Arbeit sein, die wir
täglich dafür leisten, daß die Reihen dieser Bewegung anwachsen.

Ali Abunimah ist Mitbegründer von 'The Electronic Intifada', Autor von "One Country: A
Bold Proposal to End the Israeli-Palestinian Impasse" [23] und einer der beitragenden
Autoren von "Goldstone Report: The Legacy of the Landmark Investigation of the Gaza
Conflict" [24] (Nation Books).(5)

Anmerkungen:
[1] http://electronicintifada.net/v2/article11074.shtml
[2] http://electronicintifada.net/v2/article10807.shtml
[3] http://electronicintifada.net/v2/article10123.shtml
[4] http://electronicintifada.net/v2/article10138.shtml
[5] http://electronicintifada.net/v2/article11026.shtml
[6] http://www.pchrgaza.org/files/PressR/English/2008/list.pdf
[7] http://electronicintifada.net/v2/article10879.shtml
[8] http://electronicintifada.net/v2/article11455.shtml
[9] http://electronicintifada.net/v2/article11495.shtml
[10] http://electronicintifada.net/v2/article10676.shtml
[11] http://electronicintifada.net/v2/article11648.shtml
[12] http://electronicintifada.net/v2/article11594.shtml
[13] http://electronicintifada.net/v2/article11698.shtml
[14] http://electronicintifada.net/v2/article10972.shtml
[15] http://electronicintifada.net/v2/article10993.shtml
[16] http://electronicintifada.net/v2/article11653.shtml
[17] http://electronicintifada.net/v2/article11305.shtml
[18] http://electronicintifada.net/v2/article11327.shtml
[19] http://electronicintifada.net/v2/article11599.shtml
[20] http://electronicintifada.net/v2/article11686.shtml
[21] http://electronicintifada.net/v2/article11080.shtml
[22] http://electronicintifada.net/v2/article11683.shtml
[23] http://electronicintifada.net/bytopic/store/548.shtml
[24] http://www.amazon.com/exec/obidos/ASIN/1568586418/theelectronic-20

Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

(1) Tote im Verlauf der jüngsten israelischen Militäroffensive im Gazastreifen vom 27.
Dezember 2008 bis zum 18. Januar 2009, Palästinensisches Zentrum für Menschenrechte, 18.
März 2009

(2) www.schattenblick.de → Infopool → Politik → Brennpunkt


GAZA/001: Israelische Besatzungsarmee tötet Schäfer in Beit Lahya (ISM)
http://schattenblick.de/infopool/politik/brenn/p1ga0001.html
GAZA/002: Weihnachten in Gaza (Vera Macht, ISM)
http://schattenblick.de/infopool/politik/brenn/p1ga0002.html

(3) www.schattenblick.de → → Infopool Politik → Brennpunkt


GAZA/007: Offener Brief aus Gaza - Zwei Jahre nach dem Massaker (Palästinenser aus
Gaza)
http://schattenblick.de/infopool/politik/brenn/p1ga0007.html

(4) www.schattenblick.de → → Infopool Politik → Brennpunkt


GAZA/003: Asien nach Gaza - Abschiedsfeier für "Asien nach Gaza"- Karawane in
Damaskus (NTUI)
http://schattenblick.de/infopool/politik/brenn/p1ga0003.html
GAZA/006: Iranisch-ägyptische diplomatische Spannungen halten "Asien nach Gaza"-
Karawane auf (NTUI)
http://schattenblick.de/infopool/politik/brenn/p1ga0006.html

(5) "Ein Land: Ein beherzter Vorschlag für einen Ausweg aus der Israelisch-Palästinensischen
Sackgasse" und "Der Goldstone-Bericht: Das Vermächtnis der Untersuchung des Gaza-
Konflikts als ein Meilenstein"

Link zum englischen Original:


http://electronicintifada.net/v2/article11696.shtml
The Electronic Intifada (EI), unter electronicIntifada.net, veröffentlicht Nachrichten,
Kommentare, Analysen und Grundlagenmaterialien über den israelisch-palästinensischen
Konflikt aus einer palästinensischen Perspektive. EI ist das führende palästinensische Portal
für den israelisch-palästinensischen Konflikt und seine Darstellung in den Medien.

Quelle:
The Electronic Intifada, 27. Dezember 2010
MECCS/EI Project
1507 E. 53rd Street, #500
Chicago, IL 60615, USA
Fax: 001-(646) 403-3965
E-Mail: info@electronicIntifada.net
Internet: http://electronicintifada.net

veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2011

Quelle: http://www.schattenblick.de/infopool/politik/brenn/p1ga0008.html

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