Sie sind auf Seite 1von 4

III.

Kleists dramatischer Stil.

Von

Wilhelm Waetzoldt.

1.

Das Problem des Tragischen findet seine Lösung im Allgemein-


Menschlichen, auf dem Felde der Ethik, das Wesen des Dramas er-
klärt sich rein künstlerisch: als rhythmisches Erlebnis. Die Auffüh-
rung eines Dramas stellt sich dar als eine Folge seelischer Erlebnisse,
die durch ihre formalen Verhältnisse, durch die bloße Art ihres Ab-
laufes, uns den charakteristischen Genuß eines dramatischen Kunst-
werkes verschaffen. Der Inhalt der übermittelten Vorstellungen mag
tragischer oder nicht tragischer Natur sein, zum Drama wird die
Bühnendichtung nur durch die bewegte Entwicklung eines Themas,
durch den Rhythmus, der sie durchwaltet von der Aufeinanderfolge
und Gliederung der Hauptteile an, über die Akzentsetzung in den ein-
zelnen Szenen hinweg bis in den inneren Fluß der Sprache, des
Verses und Satzes. Als rhythmisches Kunstwerk ist das Drama am
nächsten musikalischen Gebilden, wie der Fuge, verwandt, wo — ähn-
lich wie in Spiel und Gegenspiel — Themen entwickelt werden in
ihrem Kampfe mit Zwischen- und Gegensätzen. Die unmittelbare
Gefühlswirkung des Rhythmus gestaltet den Genuß dramatischer
Kunstwerke zu einer Art seelischer Gymnastik, erzeugt jenes bekannte
Auf und Ab von gegensätzlichen, sich steigernden, wiederholenden
und begegnenden Empfindungen. Wir werden zwischen Erregung
und Beruhigung, Verlangsamung und Beschleunigung, Spannung und
Lösung hin und her getrieben und empfinden diese Regelung unseres
Gefühlsverlaufes als eigenartigen Genuß. Wie jede künstlerische Form
ist auch die dramatische — auf ihre Beziehung zum Künstler hin be-
trachtet — Ausdruck eines persönlichen Lebensrhythmus, und so
sprechen wir von spezifisch dramatischen Begabungen.

Als eine solche unter den deutschen Dichtern nennt man an erster
Stelle Kleist. Wie seine Formsprache alle Merkmale des dramatischen
Stiles in der angegebenen Bedeutung aufweist, soll im folgenden zu
zeigen versucht werden. —

Die Gesamtbewegung des Dramas ist abhängig von dem Verhältnis


der großen Teile, wie die Gesamtbewegung eines Körpers von den
Verschiebungen und Beziehungen der wichtigsten Glieder gegen-
einander. Das Setzen der großen Einschnitte dort, wie die Betonung
der Hauptgelenke hier, ist also entscheidend für die klare zeitliche
oder räumliche Entwickelung des künstlerischen Themas. Das Zer-
legen des Dramas großen Stiles in Akte ist eine herkömmliche Gliede-
rung, die doch nur dann sachlich berechtigt ist, wenn sie die äußere
Spiegelung innerlicher Formverhältnisse, d. h. der natürlichen Struktur
des Stoffes, darstellt. Ein allgemein gültiger, weil stets wirksamer
Teilungsgrundsatz läßt sich nur insofern aufstellen, als der Ablauf der
dramatischen Geschehnisse den großen und bleibenden Verhältnissen
des Gefühlsverlaufes entsprechen muß. Geschichtlich ist eine soge-
nannte Technik des Dramas nicht festzulegen, höchstens psycho-
logisch: aus den Aufbaubedingungen heraus, denen jedes verwickelte
Nacheinander von Ereignissen genügen muß, will es überhaupt wirken.
Das fühlte auch Gustav Freytag, als er in seiner »Technik des Dramas«
die fünfaktige Form psychologisch zu rechtfertigen suchte. Im Grunde
konnte er aber über die natürliche Dreiteilung nach den Hauptakzenten:
Einleitung — Höhepunkt — Katastrophe, die durch die beiden Grund-
bewegungen einer steigenden und einer sinkenden Handlung gefordert
werden, nur mit Künsteleien zu einer Fünfteilung gelangen. Werden
doch das »erregende Moment« und das »Moment der letzten Span-
nung« psychologisch keineswegs so gebieterisch verlangt, wie die
Stufen einer Steigerung seelischer Erregung, ihres Gipfelpunktes und
der endlichen Beruhigung; denn diese Momente kennzeichnen den
Ablauf jedes natürlichen Erlebnisses, nicht bloß des dramatischen,
gelten aber darum natürlich auch für dieses.

Kleists Biographen behaupten nun, seine fünfaktigen Dramen (von


dem dreiaktigen »Amphitryon« sehe ich hier ab) seien formal den ein-
aktigen: Guiskard, Penthesilea, Zerbrochener Krug weit überlegen.
Der ununterbrochene rhythmische Fluß der Ereignisse in den ge-
nannten Stücken ohne Akteinteilung soll eine Auflösung der festen
dramatischen Form, ein Sichgehenlassen des Dichters gegenüber der
straffen Gliederung der fünfaktigen Werke bedeuten. Bühnengerechter,
d. h. den Gewohnheiten eines Theaterpublikums angepaßter und zweck-
mäßiger für Darstellungsverhältnisse komponiert mögen der Prinz von
Homburg, Käthchen von Heilbronn und Die Schroffensteiner sein als
jene anderen Dramen, — ob sie innerlich wirklich geschlossener, organi-
sierter sind, scheint mir sehr fraglich; ja, ich möchte in der einaktigen
Form Penthesileas und des Zerbrochenen Kruges der fünfaktigen
gegenüber etwas künstlerisch Ebenbürtiges, vielleicht sogar Über-

legenes sehen. Der pausenlose Ansturm auf den Gipfel dramatischer


Wirkungsmöglichkeit in einem atemraubenden Tempo ist dem leiden-
schaftlichen, »dramatischen« Lebensrhythmus Kleists viel entsprechen-
der als der beruhigte Pulsschlag des in Akte zerfallenden klassischen
Dramas. Die Notwendigkeit der Akteinteilung und ihre höhere formale
Berechtigung dem aktlosen Drama gegenüber ist doch erst dann für
Kleist nachweisbar, wenn z. B. die Aktanlage seines angeblich reifsten
Werkes, des Prinzen von Homburg, wirklich organisch den Gliede-
rungsbedingungen des Stoffes entspricht. Das tut sie aber nicht.
Man kann die Akteinschnitte beseitigen oder an andere Stellen setzen,
ohne dem Zusammenhange des Stückes dadurch ernstlich zu schaden;
bedeuten diese Zäsuren doch nicht Pausen im Sinne der musika-
lischen Pause, keine »Zwischenakte«, die wirklich Handlungsintervalle
markieren sollen, sondern nur Unterbrechungen äußerlichster Art, Seh-
und Hörpausen für den Zuschauer. Die sogenannten Akte schließen
sich sachlich so eng, so unmittelbar aneinander, sind zeitlich so un-
trennbar miteinander verknüpft, daß Unterbrechungen der fortlaufen-
den Handlung an diesen Stellen nur als Störung, nicht aber als künst-
lerische Notwendigkeit empfunden werden müssen. Ebenso wenig,
wie mit den natürlichen Teilen der Handlung, gehen die Akteinschnitte
mit den Veränderungen des Schauplatzes parallel; das Stück zählt
zwölf Verwandlungen. Wie man die Akteinteilung des Prinzen von
Homburg beiseite lassen oder anders verteilen kann, so ist anderseits
Penthesilea leicht in Akte zu zerlegen. Der erste würde die Szenen
1—5, der zweite 6—18, der dritte schließlich die Auftritte 19—24 um-
fassen. Eine solche Gliederung wäre möglich, weil sie der stofflichen
Struktur des Stückes entspräche, sie ist aber unnötig hier wie dort,
da sie keinen formalen Rechtsgrund hat; in ein Drama, das wie ein
Sturmwind vorüberbrausen soll, gehören keine Zwischenakte. Diese
drei einaktigen Dramen entsprechen aber nicht nur der eigentümlichen
rhythmischen Veranlagung Kleists, die ja auch einer künstlerischen
Geschlossenheit ungünstig sein könnte, sie sind sogar streng kompo-
nierte Dichtungen.

2.
Die Normannentragödie »Robert Guiskard« war Kleists Schmerzens-
kind. Mit ihr wollte er seinen größten Wurf tun, »Goethe den Kranz
von der Stirne reißen«. Nicht um Bewältigung eines besonders ge-
waltigen und weitschichtigen Stoffes handelte es sich für ihn, son-
dern um die Lösung eines Formproblems, in der er seine künstlerische
Lebensaufgabe sah. Dies Problem der Form, an dem Kleist scheiterte,
lautet: Wie läßt sich in einer neuen großen dramatischen Form Shake-
speare und die Antike vereinigen? Das erste Beispiel für die Durch-
führbarkeit dieses Stilprinzipes sollte der Guiskard werden. Aus der
Antike übernahm Kleist die Verlegung der, den zermalmenden Stein
des tragischen Geschickes ins Rollen bringenden Handlung vor das
Stück und damit als dramatischen Einsatzpunkt die beginnende Kata-
strophe, die alles Vergangene nur in seinen Nachwirkungen und den
Reaktionen der Handelnden darauf bringt. Von Einzelformen dankte
er der griechischen Dichtung gewisse sprachliche Bestandteile und
den Chor, der mit Shakespeares »Volk« zu einem großen musikalischen
Ganzen verschmilzt. Der Reichtum bunter Handlung, die Bewegtheit
und Lebendigkeit des Dialoges und die Naturnähe des Empfindens
sollten ebenfalls auf das britische Vorbild hinweisen.

Nur die Exposition der Tragödie, der erste Akt, ist uns auf unbe-
kannte Weise erhalten. Vielleicht, weil der Dichter selbst nicht mehr
auf die Nachwelt kommen lassen wollte, denn, so gewaltig, so ge-
schlossen (als eine kleine Tragödie für sich) diese Handvoll Szenen
wirkt, so wirkt sie eben zu geschlossen, d. h. mir scheint dieses Bruch-
stück zu beweisen, daß das ganze Gebilde verfehlt war. Die Lösung
des gestellten formalen Problems war eine Unmöglichkeit, wie es auch
die des ähnlichen malerischen Problems ist: Michelangelos Zeichnung
mit Tizians Farbe zu vereinigen. Im Euphorion hat Goethe das Ge-
schick einer Verschmelzung antiken und germanischen Geistes sym-
bolisiert; auch ihm war der Gedanke, zwei Hauptströmungen des
menschlichen Geisteslebens in einen einzigen gewaltigen Strom der
Kultur zusammenzuleiten, ans Herz gewachsen; hatte doch seine
künstlerische Entwickelung den Weg zurückgelegt von der einen
Empfindungs- und Ausdruckswelt zur anderen.

Die Gründe für Kleists Scheitern liegen aber nicht nur in der un-
möglichen ästhetischen Fundamentierung des Guiskardplanes, sondern
auch in der eigenartigen Form seines ersten Aktes. Man denke sich
das Guiskardfragment als plastisches Gebilde, derart, daß den Stellen
stärkster Wirkung, also den Höhen dramatischer Eindruckskraft, die
Höhen des gedachten Körpers entsprechen, und daß das Wachsen
der Spannung durch den schwächeren bezw. stärkeren Anstieg zu
diesen Wirkungsgipfeln dargestellt wird. Ein Längsabschnitt durch
dieses, einer Gebirgskette ähnliche Raumgebilde zeigt dann graphisch
wiedergegeben eine derartig steile Erregungskurve, daß einem eine
Steigerung der Wirkung, wie sie die folgenden Akte doch verlangt
haben, fast unmöglich erscheint. Schon dieser erste Akt reißt den
Zuschauer auf die überhaupt erreichbare Höhe ästhetischen Anteils.
Aber auch ein stoffliches Thema wird in diesem Bruchstück schon
völlig erschöpft: das Ringen Guiskards mit der Pest. Die Tragödie
des Kampfes zwischen dem Genie und der rohen Urkraft der Natur

wird zu Ende gespielt: die Naturgewalt siegt. Es scheint nicht recht


klar, wie Kleist das gewaltige Motiv der Pest im Verlaufe des ge-
planten Trauerspieles wieder in den dramatischen Hintergrund ge-
schoben hat und wie es ihm geglückt ist, eine Familientragödie aus
dem Kampf der Elemente, dem Ringen eines Volkes mit der Seuche,
erwachsen zu lassen. Es wird ihm eben auch die stoffliche Weiter-
führung der Motive unmöglich geworden sein, und so blieb der erste
Akt liegen, ein zyklopischer Block, den mit anderen zur Mauer zu
türmen ein »Werk der Giganten« gewesen wäre. Diesen Einwurf hat
sich wohl auch Kleist selbst gemacht, wie er ihn seiner Penthesilea
gegenüber, die den Ida auf den Ossa wälzen will, erheben läßt. Aber
auch er hatte mit Penthesileas Worten sich geantwortet:

»Nun ja, nun ja; worin denn weich ich ihnen?«

Und als ihm dann der Versuch, den Ida dramatischer Kunst auf den
Ossa zu wälzen »und auf die Spitze ruhig bloß« sich zu stellen, miß-
lungen ist, läßt er wieder Penthesilea für sich sprechen:

»Das Äußerste, das Menschenkräfte leisten,


Hab ich getan — Unmögliches versucht,
Mein Alles hab ich an den Wurf gesetzt,
Der Würfel, der entscheidet, liegt, er liegt;
Begreifen muß ich's, und daß ich verlor.«

Penthesilea ist eine einzige große Klage um Guiskard; und nicht nur
das Persönliche verbindet beide Tragödien, auch formal haben sie
unendlich viel Gemeinsames. —

Ein Bündel von 24 Szenen, auch hier nur ein Akt, in dessen engen
Rahmen das Bild eines tragischen, formal wie stofflich restlos auf-
gehenden Geschickes gespannt ist. Wie im Guiskard soll der Zu-
schauer nicht eher zur Besinnung kommen, als bis die Lawine der
Katastrophe beide Helden unter sich begraben hat. Durch die Er-
wähnung einer möglichen Teilung des Stückes in drei Akte wurde
sein streng symmetrischer Bau schon angedeutet. Eine mittlere Szenen-
gruppe (6—18) umfaßt die wichtigsten Auftritte: die Begegnungsszenen
zwischen Achill und Penthesilea und deren Erzählung vom Frauenstaat
in Themiscyra. Diesen Mittelakt leitet ein lyrisches Zwischenspiel ein:
das Winden der Rosenkränze — zugleich mit den Kampfszenen kon-
trastierend und als stimmender Akkord die große glänz- und glutvolle
Liebesszene vorbereitend. Dann geht es hinweg über die Szenen der
Amazonenniederlage zur Begegnung Achills und Penthesileas, die inner-
halb des Stückes künstlich so lange hingezögert worden ist, wie das
endliche Auftreten Guiskards in der letzten Szene des nach ihm be-
nannten Aktes. Ganz plötzlich, in jäher Kurve steigt dann die dra-
matische Welle am Schluß der 15. Szene auf den Gipfelpunkt: Pen-

thesilea muß über das Spiel aufgeklärt werden, das man mit ihr
getrieben hat. Umfaßt wird dieser Mittelakt von einem Expositions-
aufzuge und dem Akt der Katastrophe, die einander entsprechend
gebaut sind. Beide Szenengruppen (1—6 und IQ—24) zerfallen näm-
lich in je zwei Untergruppen gemäß den beiden Handlungssträngen: der
Griechen- und der Amazonenhandlung. Botenberichte und Schlachten-
schilderungen verknüpfen hier wie dort Auftritte und Geschehnisse
miteinander. Ähnlich klar gliedert Kleist die Exposition der Familie
Schroffenstein, indem er auch hier dem Spiel und dem Gegenspiel je
eine Hälfte des ersten Aktes anweist. Die Komposition der Penthesilea
läßt sich am leichtesten der eines Triptychons vergleichen: ein großes
Mittelbild: die Liebesszene, wird flankiert von zwei kleineren Seiten-
bildern: den Kampfszenen.

Das könnte Ihnen auch gefallen