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BERND BRÄUTIGAM, BERLIN

VERWEGENE KUNSTSTÜCKE
Nietzsches ironisdier Perspektivismus als schriftstellerisches Verfahren

Nietzsches Kritik am Erkenntnisanspruch der Wissenschaften gehört


zu den frühesten Motiven seines Denkens und hat schon in der „Geburt der
Tragödie" auf die dort praktizierte essayistische Prosa einen nicht zu un-
terschätzenden Einfluß ausgeübt. Wenn es ihm in seiner Frühschrift primär
nicht darum ging, einen altphilologischen Beitrag zu liefern, sondern er sich
„unter die Kapuze des Gelehrten"1 nur versteckte, um die Ästhetik auf dem
Boden der Unmittelbarkeit neu zu begründen2, dann ist der eigentliche
Gegensatz und das eigentliche Thema der „Geburt der Tragödie" nicht das
Dionysische und das Apollinische, sondern das Dionysische und das So-
kratische. Schon Ernst Bertram meinte, daß die Frühschrift „um Sokrates
den Mörder der Tragödie herum komponiert*** sei. Diesem Gegensatz, mit
dem das Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft für „Blutsverwandte
in artibus*4 veranschaulicht wird, spricht Nietzsche einen gerade für die kri-
tisierte Moderne signifikanten geschichtsphilosophisdien Gehalt zu. Da die
Kunst im Dienste des Lebens steht, sind von ihrem geschichtlichen Stand
aus jeweils Einblicke in die Geschichte möglich, die sie hervorbrachte. Zu-
grunde liegt ein dialektisches Geschichtsverständnis, und Nietzsche selbst
hat in „Ecce homo** dann von der „Geburt der Tragödie** auch gesagt: „sie
riecht anstössig Hegelisch**. Die griechische Tragödie wird als das Resultat
einer dialektischen Bewegung zwischen dem Dionysischen und Apollini-
schen verstanden. Diese Synthese findet ihren neuen Gegensatz im Sokra-
tischen- Mit Sokrates treten Theorie und Wissenschaft0 der Kunst entgegen,
und dieser nodi die Moderne bestimmende Gegensatz soll seine Versöhnung
1
Nietzsches Werke* Kritische Gesamtausgabe, Hrsg. von G, Colli und M. Montinari.
(Siglc: KGW) . Abu, l. Bd., S. S (Versuch einer Selbstkritik).
* VgL ebd., S, 2t (Geburt der Tragödie).
* E. Bertram: Nietzsche, Vmudh einer Mythologie. Berlin 1918* S. 309«
4
KGW m/l, S. 8 (VersuA einer Selbstkritik).
* KGW VI/3, SL 308.
4
Fink weist auf Niemdbei bedenkiidke Gleichstellung den platonischen Begriffs der
t h e o r i a mit der allgemeinen Tendenz fcur WU«rmdhäftf und zwar Wi$$enKhaft im
Sinn, hin. Vg;L E. Fink; Nietfcicbrf Philosophie* Stuttgart 1960, S» 29*
46 Bernd Bräutigam

finden in der bevorstehenden Wiedergeburt der Tragödie, die ausdrücklich


nicht als Restitution der äschyleischen Tragödie, sondern unter dem Sym-
bol des musiktreibenden Sokrates begriffen wird. In diesem geschichtsphilo-
sophischen Schema steht Nietzsche selbst auf dem Scheitelpunkt des Um-
schlags. Die Intention der Frühschrift und die Wahl der Artikulationsmög-
lichkeiten zu ihrer Realisierung werden von diesem gesdiiditsphilosophi-
schen Selbstverständnis her einsehbar.7
Das „mörderische Princip"8 des , ; a e s t h e t i s c h e n S o k r a t i s -
m u s*9, das Euripides praktiziert, lautet: „alles muss bewusst sein, um
schön zu sein"10. Mit Sokrates gelangt der rationale Verstand zur Herr-
schaft. Von nun an wird sogar die Kunst zum Produkt eines „eindringen-
den kritischen Prozesses, jener verwegenen Yerständigkeit"11. So wirkungs-
voll der zunächst siegreiche ästhetische Sokratismus auch war, so zeigt doch
sein Kampf gegen die Poesie schon bei Platon die Macht des Gegners. Denn
Platon, der seine Dichtungen verbrannte, um ein Schüler des Sokrates zu
werden, schafft aus künstlerischer Notwendigkeit in seiner Kritik der Kunst
die Kunstform des philosophischen Dialogs, die mit den von ihm kritisier-
ten Kunstformen innerlich verwandt ist. Damit überlebt das Kritisierte,
wenn auch entstellt, in der Kritik. Für die Nachwelt kann der platonische
Dialog zum Vorbild einer neuen Kunstform werden: des Romans. In ihm
ist die Poesie die ancilla der dialektischen Philosophie, wie diese einst die
ancilla der Theologie war. „Hier überwächst der p h i l o s o p h i s c h e
G e d a n k e die Kunst und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern
an den Stamm der Dialektik."12 In der dialektischen Rede des platonischen
Dialogs entdeckt Nietzsche eine apollinische Tendenz, die aber nach dem
Verlust ihrer dionysischen Basis, auf die sie korrelativ bezogen bleiben
müßte, in einen flachen Optimismus ausartet. Wichtig daran ist, daß Nietz-
sche offensichtlich die Dialektik kritisiert, um das optimistische Element in
ihr zu treffen, und damit zumindest einen Ansatz ermöglicht, sie als eine
negative zu fassen. „Die optimistische Dialektik", so heißt es, „treibt mit
der Geissel ihrer Syllogismen die M u s i k aus der Tragödie"18. Der Dia-
lektik-Gegner Nietzsche erfüllt eine wichtige Brückenfunktion beim Über-
gang von der spekulativen zur negativen Dialektik, und es scheint dieser

7
Die Auswirkungen des Umschlags einer Theorie des Schönen in eine schöne Theorie
auf die Prosa der „Geburt der Tragödie" habe ich analysiert in: Reflexion des Schö-
nen — Schöne Reflexion. Bonn 1975. S. 98—188.
8
KGW III/l, S. 83 (Geburt der Tragödie).
9
Ebd., S. 81.
10
Ebd., S. 83.
11
Ebd., S. 81. ., '
12
Ebd., S. 90.
13
Ebd., S. 91.
Verwegene Kunststücke 47

Übergang zu sein, der dialektisches Denken aus der diskursiven Philoso-


phie hinaus — und in ästhetisch-literarische Ausdrucksformen hineintreibt.
Mit der universalen Herrschaft des Sokratismus verschwindet aus der
Kunst das Dionysische. Alles was sich nicht in begrifflich faßbare Sach-
verhalte überführen läßt, wird aus der Kunst verbannt. Bedeutsam in die-
sem Zusammenhang, weil stilistische Konsequenzen nach sich ziehend, ist
nun, daß Nietzsche die eigene Gegenwart in ihrer Entfremdung von der
dionysisch erlebten Wirklichkeit vollständig dem Bann des Sokratismus
unterworfen sieht. Der „ Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur"14
gehört derjenige an, der durch seine Kritik sie zu überwinden sucht. Die
Radikalität der Kulturkritik verhindert aber eine andere denn utopisch-
ästhetische Aufhebung des Kritisierten. In der „Geburt der Tragödie" be-
gegnet eine Geschichtsphilosophie, die, im ausgezeichneten Sinn anti-hege-
lisch, die Geschichte nicht mehr als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit
versteht, sondern sie nurmehr als die Geschichte des progressiven Verfalls
zu denken vermag. Nietzsche läßt die Verfallsgesdüchte beginnen mit der
Destruktion des tragischen Mythos durch den theoretischen Menschen. Hö-
hepunkt des Verfalls ist der Sieg der Wissenschaft über die dionysische
Weisheit der Kunst, ein Sieg, zu dem maßgeblich beigetragen hat, daß die
Wissenschaft in der Technik einen erfolgreichen deus ex machina, „den Gott
der Maschinen und Schmelztiegel"15, beibringen konnte, d. h. einsetzbar
war in die dem Egoismus des Menschen dienende Naturbeherrschung. So
konnte es ihr gelingen, »den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis
von lösbaren Aufgaben zu bannen*1*.
Die zentrale Aussage des jungen Nietzsche: »denn nur als a e s t h e -
t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t -
f e r t i g t*17, oft zitiert, will dem Leser nicht nur bedeuten, daß er sich
selbst und die gesamte Welt der Erscheinung als Kunstwerk begreifen muß,
wenn er das Leben transmoralisch rechtfertigen will, sondern es liegt in der
Radikalität dieser Aussage beschlossen, gerade den Begriff als illegitim ab-
zulehnen. Die Welt als ästhetisches Phänomen zu legitimieren bedeutet
auch, eine Zugangsart zu finden, die in sich selbst ästhetisch ist. Die Unzu-
ständigkeit des reflektierenden Bewußtseins wird von Nietzsche ausdrück-
lich betont, wenn er davon spricht, daß es von der Welt als einem ästheti-
schen Phänomen so wenig weiß, wie die auf der Leinwand gemalten Krie-
ger von der auf ihr dargestellten Schlacht wissen» Begreifen läßt die Welt
sidt nidit im Begriff.

* Ebd., S. IM.
» Ebd.
48 Bernd Bräutigam

Der Frage, wie angesichts der totalen Herrschaft sokratischer Kultur


ein „Wissen" jenseits der Reflexion überhaupt möglich ist, weicht Nietzsche
aus, denn diese Frage ist selbst schon Signum des kritisierten Sokratismus,
und eine Antwort müßte sich seinen Bedingungen fügen. Die immer wieder
kritisch gestellte Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer intuiti-
ven Kritik im Banne sokratischer Kultur, einer Selbstverleugnung der Re-
flexion, muß aus dem Selbstverständnis Nietzsches heraus unbeantwortet
bleiben. Was der Sokratiker als Aporie denunziert, trägt Nietzsche in im-
mer neuen Anläufen als „ V i r t u o s e e i n e r s i c h s e l b s t v e r -
l e u g n e n d e n R e f l e x i o n"18 in artistischer Prosa aus.
Die Kritik an der genetisch auf Sokrates zurückgeführten Kultur der
Moderne wird in der Auseinandersetzung mit den historischen Geisteswis-
senschaften weitergeführt. Als Ergebnis hält Nietzsche fest: Die Konstella-
tion von Leben und Historie wird in dem Augenblick entscheidend verän-
dert, in dem Historie zur Wissenschaft wird. Die in der fiktiven Gleich-
zeitigkeit eines kontemplativen wissenschaftlichen Bewußtseins objektivier-
ten historischen Sachverhalte werden für das erkennende Subjekt folgen-
los.19 Durch das Übermaß an historischem Bewußtsein „geräth eine Zeit in
die gefährliche Stimmung der Ironie über sich selbst und aus ihr in die
noch gefährlichere des Cynismus: in dieser aber reift sie immer mehr einer
klugen egoistischen Praxis entgegen"20. Der Fortschrittsoptimismus der Auf-
klärung wird abgelöst durch eine „ i r o n i s c h e Existenz"21, „einer Art
von i r o n i s c h e m S e l b s t b e w u s s t s e i n"22 und eine „gewisse iro-,
nische Uebersidit"2*. Zur Logik des Wissenschaftsfortschritts gehört die Des-
illusionierung. In der „Geburt der Tragödie" hatte Nietzsche diesen dialek-
tischen Sachverhalt metaphorisch dargestellt und in der Logik die Schlange
gesehen, die sich um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz
beißt.24 „Die historische Krankheit", so der zunächst ins Auge gefaßte Titel
der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung", heißt Ironie. Sie stellt sich ein,
wenn das Leben über sich selbst aufgeklärt wird, wenn der Objektivitäts-
schein der überlieferten wissenschaftlichen Interpretationen durch die Re-
duktion der Wahrheit auf Lebensdienlichkeit zerrinnt und die Leerstellen
jener destruierten Interpretationen vom aufgeklärten Subjekt'auf Grund
des selbst gesetzten theoretisch-methodischen Anspruchs nicht wieder auf-

18
J. Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 1968. S. 364,
19
Vgl. ebd., S. 357.
20
KGW III/l, S. 275 (Vom Nutzen und Naditeü der Historie).
21
Ebd., S. 298.
22
Ebd. , ;
23
Ebd., S. 299.
24
Vgl. KGW HI/1, S. 97 (Geburt der Tragödie).
Verwegene Kunststücke 49

gefüllt werden können. „ I r o n i e über sich selbst"25, „ironisch-schmerz-


liche Bescheidung**6 ist die Weise, in der intellektuelle Redlichkeit im Aus-
gang des Historismus noch möglich ist. Von ihr wird jene Philosophie pole-
misch abgesetzt, die in der Geschichte eine „allgemeine Ironie der Welt"
und die „List der Vernunft* erkennt. „Wahrhaftig, lähmend und verstim-
mend ist der Glaube, ein Spätling der Zeiten zu sein: furchtbar und zerstö-
rend muss es aber erscheinen, wenn ein solcher Glaube eines Tages mit
kecker Umstülpung diesen Spätling als den wahren Sinn und Zweck alles
früher Geschehenen vergöttert, wenn sein wissendes Elend einer Vollen-
dung der Weltgeschichte gleichgesetzt wird."27 Deshalb glaubt Nietzsche,
„dass es keine gefährliche Schwankung oder Wendung der deutschen Bildung
in diesem Jahrhundert gegeben hat, die nicht durch die ungeheure bis
diesen Augenblick fortströmende Einwirkung dieser Philosophie, der He-
gelischen, gefährlicher geworden ist*28.
Nachdem Nietzsche im Gesundungsbad des Positivismus seine frühe
Vision, der zerrissenen, durch den Sokratismus bestimmten modernen Welt
in der Vermittlung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks den Weg zur ver-
lorenen mythischen Einheit weisen zu können, als einen romantischen
Traum durchschaut hat2*, erhält der Ironiebegriff im Zusammenhang der
Erkenntnisproblematik eine ambivalente Geltung. Wissenschaft und Er-
kenntnis werden ihres objektivistischen Scheins entkleidet und auf das In-
teresse an Selbsterhaltung zurückgeführt. Diese Rückführung des Erken-
nens auf ein zugrunde liegendes Interesse dient nun nicht, wie heute bei
Habermas, der transzendentallogischen Bestimmung von Erkenntnis, son-
dern der Negation von Erkenntnis überhaupt. Wenn das Interesse die
Möglichkeit von Erkenntnis prinzipiell negativ affiziert, dann sind auch
Wissenschaft, Philosophie und Kunst im Hinblick auf ihre Bindung an die
Interessen der Lebenswelt menschlich, allzumenschlich, und sie erscheinen
deshalb wie alles Menschliche auf Grund begriffener Genesis unter ironi-
scher Perspektive. »A l i e s Menschliche verdient in Hinsicht auf seine
E n t s t e h u n g die ironische Betrachtung: desshalb ist die Ironie in der

** KG W III/l, S, 3C3 (Vom Nutzen und NaAteil der Hfaorie).


** Ebd., S. 303 f.
*< Ebi, S. 304.
Ober die Wandlung von Hegels »allgemeiner Ironie der Welt* fcu Heine* „Welt·"
bzw. *Gotre$ironie* und Nietzsches *We!t- und Da&cm&komödic* informiert E. Bch-
ler: NictzsAcs Auffassung der Ironie. — In: Nietzsche-Studien 4 (1975). S. 1—35,
v. a. S, 27—32.
» KGW /1, S, 304 (Vom Nutzen und Nadueii der Historie).
** Cbcr die Funktion der zeitlich befristeten Hinwendung Nimuhes zum Posiüvismus
handelt G. Rohnnoser: Nietrwlic und da* Ende der Emanzipation* Frciburg 1971.
S. 26 f.
50 Bernd Bräutigam

Welt so ü b e r f l ü s s i g / 8 0 Die Universalisierung der Ironie macht sie


zugleich entbehrlich, denn sie selbst ist eine menschliche Reaktionsfonn,
und fordert als solche nun ihrerseits die ironische Betrachtung heraus. Iro-
nie richtet sich gegen sich selbst und hebt sich deshalb auf.
Es ist das der Ironie inhärierende Überlegenheitsmoment, das Nietz-
sches Mißtrauen weckt. Der Abschnitt 372 über Ironie in „Menschliches,
Allzumenschliches" läßt sie deshalb nicht mehr als ein schriftstellerisches
Verfahren, sondern nur noch als ein pädagogisches Mittel gelten. Die so-
kratisdie Ironie, einst von Hegel als „die subjektive Gestalt der Dialektik"31
erkannt, ist hier eine pädagogische Methode zur Beschämung und Demüti-
gung des dreisten Schülers im Rahmen eines mäeutisdien Programms: „Wo
ein solches Verhältniss, wie zwischen Lehrer/und Schüler, nicht stattfindet,
ist sie eine Unart, ein gemeiner Affect. Alle ironischen Schriftsteller redinen
auf die alberne Gattung von Menschen, welche sich gerne allen Anderen mit
dem Autor zusammen überlegen fühlen wollen,, als welchen sie für das
Mundstück ihrer Anmaassung ansehen. — Die Gewöhnung an Ironie, eben-
so wie die an Sarkasmus, verdirbt übrigens den Charakter, sie verleiht
allmählich die Eigenschaft einer schadenfrohen Ueberlegenheit: man ist zu-
letzt einem bissigen Hunde gleich, der noch das Lachen gelernt hat, ausser
dem Beissen."82 Nietzsches Kritik der Ironie trifft also einen Ironiebegriff,
für den das Moment der Überlegenheit konsumtiv ist. Deshalb kann Nietz-
sche später auch die zunächst unter pädagogischem Aspekt noch positiv ge-
sehene sokratische Ironie in den Zusammenhang der bekämpften Sklaven-
moral bringen. Ironie ist dort eine Form, mit der sich „ N i e d e r g a n g s -
Typen" 3 3 an ihren Unterdrückern rächen. Sie ist ein „Pöbel-Ressen-
timent"34. Der ironische Dialektiker depotenziert den Intellekt seines Geg-
ners.
Unter welch verschiedenen Hinsichten Nietzsche die Ironie auch zum
kritikbedürftigen Thema erhebt, überall entdeckt er schließlich eine ange-
maßte Überlegenheit. Das gilt nicht nur für den sokratisdien Ironiker und
für jene von der historischen Krankheit Befallenen, die ihre Bescheidenheit
aufgeben und in Ironie und Zynismus eine bestimmte geistige Einstellung
und existentielle Haltung kultivieren, sondern das zielt auch und vor allem
auf das literarische Phänomen der auktorialen Ironie. Welches schriftstelle-
rische Verfahren steht ihm selbst aber dann noch zur Verfügung, wenn die
Reflexion im Medium der Reflexion verleugnet wird? Richtet sich Re-
80
KGW.IV/2, S. 214 (Mensdilidies, Allzumensdilidies 252).
31
Hegel, Jub. Ausg. 18, S. 60 (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie).
32
KGW IV/2, S. 265 f. (Mensdilidies, Allzumenschliches 372). -
33
KGW VI/3, S. 61 (Götzendämmerung).
34
Ebd., S. 64.
Verwegene Kunststücke 51

Flexion gegen sich selbst, so ist ihre Negation zugleich schon wieder ihre
Anerkennung. Dieser dialektische Sachverhalt ist Nietzsches Problem. Un-
befriedigend bleibt, gerade für den Literaturwissenschaftler, in diesem Zu-
sammenhang der bekannte Topos in der Nietzsche-Kritik heutiger Hege-
lianer, nach dem Nietzsche in starker Abhängigkeit von Schopenhauer
dialektische Strukturen undialektisch, d. h. ohne das Instrumentarium der
vom deutschen Idealismus ausgebildeten philosophischen Dialektik denke.
Neben der kritisierten auktorialen Ironie kennt Nietzsche noch eine andere
ironische Redeweise, und in ihr will er sein Problem, Reflexion ebenso an-
zuerkennen wie aufzuheben, austragen. Diese Ironie unterscheidet sich auch
in einem wesentlichen Punkte von der romantischen Ironie, die Stroh-
sdmeider-Kohrs auf dem Hintergrund der spekulativen Dialektik des
deutschen Idealismus in Anlehnung an Solger als „künstlerische Dialektik"35
bestimmen konnte. Diese Ironie, die zwischen Bedingtem und Unbedingtem
vermitteln wollte, indem sie einerseits allegorisch aufs Unendliche verwies,
andererseits aber sich selbst als ein endliches, ästhetisches Gebilde eigens
thematisierte86, wird vom Kritiker der Hinterwelt um ihres deiktischen
Moments verkürzt, übrig bleibt nurmehr ihre limitierende Funktion. Schon
in der »Geburt der Tragödie" hatte sich Nietzsche ausdrücklich vom
„ o p t i m i s t i s c h e ( n ) Element im Wesen der Dialektik" abgewandt.87
Auf den dieser Dialektik strukturell affinen Ironiebegriff88 bezieht er sich
mißtrauisch, wenn er schon 1873 in einer Liste von guten stilistischen Vor-
sätzen ein Ironieverbot ausspricht oder später sich selbst die vorsichtigste
Mäßigung im Gebrauch ironischer Kunstmittel anrät, während die berühmte
Selbstcharakterisierung seiner Philosophie als einer „Philosophie der ,Gän-
sefüßcben*"** die positive Schätzung verrät.

** L Strohschneider-Kohl?: Zur Poetik der deutschen Romantik II: Die romantische


Ironie. — IG: Die deutsdie Romantik« Hrsg. v. H. Steifen. Göttingen 1967. S. 79.
** Strohschneider ~Kohrs faßt dies in die prägnante Formel zusammen: „Die Ironie (...)
ist Mittel der Sclbstrepräsentation von Kunst* (op. cit. S. 87).
" KG W III/l, S. 90.
** Der innere Zusammenhang von spekulativer Dialektik und romantischer Ironie harrt
immer noch der Entschlüsselung. Es war Hegel selbst» der unerbittliche Kritiker der
romantischen Ironie, der am Ende seiner historischen Deduktion des Kunstbegriffs
anläßlich Solgcrs die Kampfposition gegen die Ironie aufgab und eine „Verwandt-
schaft* zwischen dem „dialektische(n) Moment der Idee" und dem «»ironischen Auf*
losen <5« Bestimmten wie des in sich Substantiellen* konstatierte. (Vorlesungen über
die Ästhetik. — In: Job. Ausg. 12, S* 105 f.) Solgers Ironie ist kein „vornehm scyn
sollender Spuk*, sondern ein „Pru*cip*. Bei ihm tei das „ s p e k u l a t i v e Be-
dürfnis der Vernunft lebendig» da» Interesse und Bewußtsein der höchsten Gegen-
sätze und der Wjdersprikhe, die daraus entspringen* (Hegel: Ober Solgers naAgc-
t&sscr&e Schriften und BriefwccbsdL jub, Ausg. 20, S. 182 f., 163 f.).
*f Nachgeladene Werke, Unveröffentlichtes aus der Umwcrthungszcit 1882/S3—1888- ~~
In: Nicttsdie'ft Werke, Zweite Abteilung, Bd. 14. Leipzig 1904. S. 355.
52 Bernd Bräutigam

Eine eingehende Interpretation von Nietzsches früher erkenntnistheo-


retischer Schrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn"
würde zeigen können, daß es keine willkürliche Modernisierung ist, wenn
man die von Nietzsche geschätzte Ironie auf eine negative Dialektik be-
zieht.40 Hier müssen einige kurze Hinweise genügen. Schon bei Nietzsche
sucht philosophische Reflexion sich des Nichtbegrifflicheii im Begriff zu
versichern, denn: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-
Gleichen."41 In seiner kleinen Abhandlung nimmt er ansatzweise ein zen-
trales Motiv der „Negativen Dialektik" Adornos vorweg. Deren Programm
umschreibt Nietzsches Intention: „Diese Richtung der Begrifflidikeit zu
ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das Scharnier negativer
Dialektik. Vor der Einsicht in den konstitutiven Charakter des Nichtbe-
grifflichen im Begriff zerginge der Identitätszwang, den der Begriff ohne
solche aufhaltende Reflexion mit sich führt. Aus dem Schein des Ansidi-
seins des Begriffs als einer Einheit des Sinns hinaus führt seine Selbstbe-
sinnung auf den eigenen Sinn."42 Denken ermöglicht nach Adorno Herr-
schaft des Menschen über die Natur und implizit damit Herrschaft über
den Menschen; es wird bezahlt mit der Entfremdung von der Natur, die
wiederum die menschliche Selbstentfremdung impliziert. Denken bedeutet
Zwang, der sich mit fortschreitender Methodisierung respektive Verwis-
senschaftlichung verstärkt und schließlich in „diskursiver Barbarei"43, wie
es mit Anklang an Vico heißt, endet. Er basiert auf dem für das Denken
konstitutiven Identifikationsprinzip, auf Grund dessen das zu Denkende
dem Denken gleichgemacht und dadurch unterdrückt wird. Identität wird
als Urform von Ideologie verstanden, der ein Zug von Sadismus eignet,
weil im identifizierenden Denken die Adäquanz an die unterdrückte Sache
genossen wird.44 Ideologiekritik bedeutet für Adorno deshalb „Kritik des
konstitutiven Bewußtseins selbst"45. Dadurch aber, daß der Ideologiever-

40
Die bisher weitgehend übersehene Bedeutung Nietzsches für die „Kritische Theorie"
untersucht P. Pütz: Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie. — In: Nietzsche-Stu-
dien 3 (1974). S. 175—191. Als Summe seiner Überlegungen formuliert er: „Die kriti-
sche Theorie gleicht Nietzsche sowohl in der Radikalität des Fragens als auch in
der Verweigerung der Antwort." (S. 191) — J. Habermas hat in seinem »Nachwort zu:
Nietzsche. Erkenntnistheoretische Schriften. Frankfurt/M. 1968. S. 237—261, bei-
läufig darauf hingewiesen, daß Nietzsche in „Über Wahrheit und Lüge im äußer-
moralischen Sinn" „eine Art negative Dialektik" andeutet, „die auf der Ebene wissen-
schaftlicher Einsicht die Kategorien der Wissenschaft selber sprengt und von Intuitionen
sich leiten läßt" (S. 251).
41
KGWIII/2, S. 374 (Ober Wahrheit und Lüge).
42
Th. W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/M. 1966. S. 22.
43
Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg. v. G. Adorno und R. Tiedemann. Frank-
furt/M. 1970. S. 55. ,
44
Vgl. Negative Dialektik. S. 149.
45
Ebd.
Verwegene Kunststücke 53

dacht das Denken selbst trifft, fällt er auch auf das Denken zurück, das ihn
äußert. Wo Nietzsche von der Herrschaft des Sokratismus spricht, dort fin-
den sich bei Adorno Formulierungen wie der »universale Zwangsapparat"46,
der „universale Verblendungszusammenhang*47, das ^radikal Böse"48,
„Bann und Ideologie*, von denen versichert wird, sie seien dasselbe49. Auch
nach Nietzsche ist im Begriff das Unterschiedene vergessen, das Ungleiche
gleichgesetzt, das Individualisierte verallgemeinert und die Form gegenüber
dem Inhalt hypostasiert, „Das Uebersehen des Individuellen und Wirk-
lichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen
die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt*50.
Die destruktive Herrschaft des Begriffs — Nietzsche spricht ausdrücklich
von der „Herrschaft der Abstractionen*51, von dem Regulierenden und
Imperativischen der Begriffe gegenüber der „anderen anschaulichen Welt
der ersten Eindrücke*52 — löst die anschaulichen Metaphern auf und ver-
flüchtigt sie zu einem Schema. Solange der Begriff nicht als das Residuum
einer Metapher erkannt wird, solange die originalen Anschauungsmeta-
phern als Metaphern vergessen und als die Dinge selbst verkannt sind,
solange wird auch die Wahrheit über die Wahrheit, daß sie nämlich eine
allerdings notwendige, der Selbstbehauptung dienende Illusion ist, nicht
erfahren. Auf den beweglichen Fundamenten der individuellen Anschau-
ungsmetaphern gelingt der Wissenschaft gemäß grammatischer Urformen
„das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes"58, Rubriken
werden gebildet, eine Kastenordnung und die Reihenfolge der Rangklassen
entworfen, eine Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen und
Grenzbestimmungen geschaffen. Der approbierte Wahrheitsbegriff der Ge-
sellschaft54 stellt sich als „Gefühl* von Wahrheit ein, wenn die ursprüng-

<* £bd„ S. 148.


<r
EbdU S> 395.
41
Ebd., S. 336.
* VgL ebd., S. 340.
50
KCW HI/2, S, 374 (Ober Wahrheit und Lüge). — Bei der Wendung gegen die Herr-
schaft des Begriffs gibt es eine wichtige Differenz zwischen Nietzsche und Adorno,
auf die P. Putz, S* 187 f. ($.0. Anm. 40) aufmerksam gemacht hat. Für Adorno liegt
eine undialcktische Trennung darin beschlossen* daß Nietzsche das Bleibende als eigen-
mächtig Gesetztes nur dem Begriff zuschreibt und die Natur ein sich fortwälzendes
Chaos sein laßt, eine Trennung zwischen der Natur als Veränderung und dem Be-
griff als Verfestigung. Adorno betont deshalb das Moment des Festen an der vom
Begriff bchemdhtet! Natur, (Vgl. Th. W* Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnis-
theorie. — In: Thu W» AM Gesammelte S&riften. Bd, 5. Hrsg. v. G. Adorno und R.
TlcdemanBu Frankfurt/M, 1971. S. 25 ff.).
*' KGW HI/2. S, 375 (Ober Wahrheit und Luge),
« Ebd.
» Ebd., S. 376.
** Nach Barth kündigt sich hier bereits »die radikale Wendung zur polmtdx-gcscll-
54 Bernd Bräutigam

liehen Anschauungsmetaphern verdrängt und vergessen sind. Jetzt han-


delt der Mensch als vernünftiges Wesen unter der Herrschaft der Abstrak-
tionen. Unter einem „mathematisch zertheilten Begriffshimmel"55 hat
jeder Begriff seine Stelle, das Springen aus einer Sphäre in die andere ist
länger nicht erlaubt. Indem die Wissenschaft die Metapher eliminiert und
die spontanen Verbindungen zwischen ihnen unterbindet, wird der Mensch
„als Subjekt und zwar als k ü n s t l e r i s c h s c h a f f e n d e s Subjekt"50
vergessen. Die Verlogenheit der Wissenschaft besteht für Nietzsche darin,
daß ihre Sprache eine Objektivität fingiert, die in Wahrheit nur ein Pro-
dukt der phantastischen Subjektivität ist. Diese Sprache besteht aus Meta-
pherresiduen, jeder rationale Begriff ist ursprünglich ein vom Menschen
zur Lebensbewältigung aus dem Vermögender Phantasie heraus geschaf-
fenes Bild.57 Quintilians „paene quidquid loquimur figura est" wird von
Nietzsche nun ohne jegliche Einschränkung behauptet. Jedes Wort enthält
eine Metapher. Wahrheit im emphatischen Sinn, das ist zu folgern, bestände
darin, das Fundierungsverhältnis von Phantasie und Rationalität auch in
wissenschaftlicher Sprache nicht länger um Willen einer vermeintlichen Ob-
jektivität der Erkenntnis zu leugnen, sondern der Subjektivität als der Be-
dingung der Objektivität zum ästhetischen Ausdruck zu verhelfen. Eben
darauf zielt Nietzsche: „Ueberhaupt aber scheint mir die richtige Percep-
tion — das würde heissen der adäquate Ausdruck eines Objekts im Sub-
jekt — ein widerspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei absolut ver-
schiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causa-
lität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ä s t h e -
t i s c h e s Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nach-
stammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber je-
denfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mit-
telkraft bedarf."58
Hier finden wir die Antwort auf die Frage, wie im Banne sokratischer
Kultur ein Wissen noch möglich ist, das nicht gänzlich von ihr determiniert
wäre. Und auch hier überrascht die merkwürdige Übereinstimmung der
Auskünfte bei Nietzsche und Adorno. Denn dem „ästhetischen Verhalten",
das sich in „der mächtigen gegenwärtigen Intuition"59 äußert, entspricht bei

schaftlichen Ausdeutung des Wahrheitsbegriffs an". (H. Barth: Wahrheit und Ideologie.
2. Aufl. Zürich/Stuttgart 1961. S. 220).
55
KGW II1/2, S. 376 (Ober Wahrheit und Lüge).
56
Ebd., S. 377.
57
Zu dieser Umkehrung des traditionellen, auf Aristoteles zurückgehenden Verhältnis-
ses von Begriff und Metapher vgl. S. Kofmann: Nietzsche et la me'taphore. — In:
Poetique 2 (1971). Heft 5. S. 77—98; v. a. S. 77 ff. . '
58
KGW HI/2, S. 378 (Ober Wahrheit und Lüge).
59
Ebd., S. 383.
Verwegene Kunststücke 55

Adorno eine „ästhetische Verhaltensweise"00, die es einer in sich ausdiffe-


renzierten und sensibilisierten Individualität ermöglicht, trotz: der erfolg-
reichen Herrschaft identifizierenden Denkens das in der Unterdrückung
gehaltene Besondere und Andere erfahren zu können. In ihr haben sich jene
archaischen mimetischen Impulse modifiziert erhalten, die über die Bewußt-
seinssphäre hinaustreiben und auf einen vor-idilichen Zustand verweisen.61
In diesem Zusammenhang wird dann auch konsequent die Kategorie der
Spontaneität affirmativ eingeführt.62
Für Nietzsche kennzeichnet dies ästhetische Verhalten den von der
Herrschaft des Begriffs sich emanzipierenden „freigewordenen Intellekt",
als den er sich selbst verstand: »Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk
der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das
Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spiel-
zeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durch-
einanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und
das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürf-
tigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen sondern von In-
tuitionen geleitet wird. Von diesen Intuitionen aus führt kein regelmässiger
Weg in das Land der gespenstischen Schemata, der Abstraktionen: für sie
ist das Wort nicht gemacht, der Mensch verstummt, wenn er sie sieht, oder
redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen,
um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffs-
schranken dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpfe-
risch zu entsprechen. *w
Das verwegene Kunststück einer ironischen Zusammensetzung von
Begriffen, deren überlieferter Zusammenhang zuvor zerstört wird, und der
Einsatz einer künstlerisch-metaphorischen Sprache, das sind die Verfahren,
denen Nietzsche seine Zustimmung gibt. Um sich überhaupt mitteilen zu
können, muß der Freigeist die begriffliche Sprache so verwenden, daß sie
in jedem Satz immer auch etwas aussagt, das gegen ihr eigenes imperativi-
sdies Wesen gerichtet ist und damit zugleich dem allgemeinen durch die
Herrsaiaft des Begriffs konstituierten Bewußtsein opponiert,*4

** Ästhetische Theoriet S. 490.


« Vgl Negative Dialektik, S. 51 r^ 20D, 219, 226.
« EbcL, S, 219.
« KGW HI/2, S. 382 f. (Cbcr Wahrheit und Uage).
* Vgt H. Krüger: Studien über den Aphorismus als philosophische Form. Frankftirt/M.
1956, S, 85, Vgl. tbf. A> SAmidt: Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnis-
theorie, — In: Zeugnisse. Theodor W, Adorno zum sedttjg&ten Geburtstag. Hr$g, v.
M. Horkheuncr. Fnuikfust/M» 1969, S. 115—132- ~ ILL. Howey schreibt über Nietz-
sda« »phikföophital irony*: JPhilo&ophkal languagc must Jure the reader into tbosc
56 Bernd Bräutigam

Einige interpretatorische Anmerkungen zum Abschnitt 107 der „Fröh-


lichen Wissenschaft" sollen Nietzsches Verfahren an einem Beispiel erläu-
tern.
„Unsere l e t z t e D a n k b a r k e i t gegen die Kunst. —
Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des
Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit
und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird — die
Einsicht in den Wahn und Irrthum als "in eine Bedingung des erkennenden
und empfindenden Daseins —, gar nicht auszuhalten. Die R e d l i c h -
k e i t würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber
hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen aus-
weichen hilft: die Kunst, als den g u t e n .Willen zum Scheine. Wir ver-
wehren es unserm Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu dichten:
und dann ist es nicht mehr die ewige Unvollkommenheit, die wir über den
Fluss des Werdens tragen — dann meinen wir, eine G ö t t i n zu tragen
und sind stolz und kindlich in dieser Dienstleistung. Als ästhetisches Phä-
nomen ist uns das Dasein immer noch e r t r ä g l i c h , und durch die
Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu ge-
geben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu k ö n n e n . Wir
müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hin-
ab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, ü b e r uns lachen oder
ü b e r uns weinen; wir müssen den H e l d e n und ebenso den N a r r e n
entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntniss. steckt, wir müssen
unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu
können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte
Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut
als die S c h e l m e n k a p p e : wir brauchen sie vor uns selber — wir
brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und
selige Kunst, um jener F r e i h e i t ü b e r den D i n g e n nicht verlu-
stig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert. Es wäre ein R ü c k f a 11
für uns, gerade mit unsrer reizbaren Redlichkeit ganz in die Moral zu ge-
rathen und um der überstrengen Anforderungen willen, die wir hierin an
uns stellen, gar noch selber zu tugendhaften Ungeheuern und Vogelscheu-
chen zu werden. Wir sollen auch ü b e r der Moral stehen k ö n n e n :
und nicht nur stehen, mit der ängstlidhen Steifigkeit eines Solchen, der je-
den Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr
schweben und spielen! Wie könnten wir dazu der Kunst, wie des Narren.

boundary areas where concepts and categories no longer provide conceptual and
logical secürity." (Some reflections on irony in Nietzsche. — In: Nietzsche-Studien 4
(1975). S. 36—51; hier S. 41.)·
Verwegene Kunststücke 57

entbehren? — Und so lange ihr euch noch irgendwie vor euch selber
s c h ä m t , gehört ihr noch nicht zu uns!**65
Der erste Halbsatz bestimmt die Kunst als einen Kultus des Unwah-
ren. Diese Bestimmung ist eine okurrente Variante, die erst auf der Basis
eines wissenschaftsgeschichtlich rekurrenten ästhetischen Theorems einseh-
bar wird. Sie leugnet nämlich den überlieferten Zusammenhang von Kunst
und Erkenntnis, einen Zusammenhang, dem sich die Ausbildung der euro-
päischen Ästhetik zu einer philosophischen Disziplin verdankt.66 Selbst dort,
wo Kunst heftig ihrer Wirkungen wegen kritisiert und als Lüge gebrand-
markt wird, also bei Platon, bleibt sie im Rahmen eines ontologisdien Fun-
dierungszusammenhangs mit Erkenntnis verknüpft, wenn sie freilich auch
nur auf den dritten Rang hinter dem eigentlich Seienden verwiesen wird
und dort gleichsam einen phänomenalen Defekt darstellt.67 Der Erkenntnis-
zusammenhang wird nicht in Frage gestellt, ja Kunst wird in Enthusias-
mustheorie, Genietheorie und in der Romantik in ihrer erkenntnisaufschlie-
ßenden Funktion dem diskursiven Begriff übergeordnet, kann schließlich
sogar zum Organon der Philosophie erklärt werden68 und erfährt von da-
her ihre positive Schätzung (Dankbarkeit!). Nietzsche schätzt sie ebenfalls,
aber erst nachdem er das „Nächste trennt", nämlich Kunst und Erkenntnis,
und das „Fremdeste paart*, nämlich Kunst und Adoration der Unwahr-
heit. Die Durchbrechung der gewohnten Bedeutungserfüllung finden wir
audi im zweiten Halbsatz, der nun die Wissenschaft selbst thematisiert.
Wissenschaft vermittelt nicht Einsicht in die Wahrheit, so der Konsens der
Wissenschaftler, sondern in die allgemeine Unwahrheit, in den Wahn und
in den Irrtum, und dies nicht etwa in der Weise, daß Wahrheit von Un-
wahrheit zu scheiden wäre, sondern der Wahn ist unauflöslich an Erkennt-
nis gebunden, sofern er die nicht mehr hintersdireitbare Bedingung der er-
kennenden und empfindenden Subjektivität selbst ist. Nietzsche schätzt
die Wissenschaft, nicht weil sie Einsicht in die Wahrheit, sondern weil sie
Einsteht £n ihren eigenen Wahncharakter vermittelt- Auch hier also wieder
zuerst Trennung des Nächsten: wissenschaftliche Erkenntnis von Wahrheit,
dann Paarung des Fremdesten: wissenschaftliche Erkenntnis mit Wahn. Die
Denotationsleistung des Wortes (hier: Kunst, Wissenschaft, Erkenntnis),
die ja immer auf relativ hohe, durch Rekurrenz in der überkommenen
Tradition von Philosophie, Ästhetik und Wissenschaft abgesicherte begriff-
liche Eindeutigkeit abzielt, wird durch ironische Zusammenfuhrung dessen,

, . .
** VgL A* G. Bainsgarccn: Acstberixuu Frankfurt 1750, Nachdruck Hildethcim 1961- $ 1-
* VgL Politcu 597a—599 b,
** VgL F. W, J, Scbclliag: SämtJi&c Werke. Ht*&. v. K. F. A. SAdlutg. Stuttgart/Äug**
bcrg 1856—1861. 1. Abt,, B<L X S. 351, 627 f.
58 Bernd Bräutigam

was sich auf der Sinnebene des Erwartungshomontes ausschließt, im Leser


verunsichert. Wie sieht diese Zusammensetzung im ersten Satz aus? Nietz-
sche trennt zunächst Kunst und Erkenntnis dadurch, daß er einen auf Wahr-
heit bezogenen Erkenntnisbegriff voraussetzt, denn nur von diesem her
kann die Kunst als Kultus des Unwahren bestimmt werden* Dann aber
trennt er wissenschaftliche Erkenntnis von Wahrheit, negiert also den eben
vorausgesetzten Erkenntnisbegriff, indem er ihn konsumtiv auf „Wahn"
bezieht. Der erste Satz dieses Textes kann schon bei linearer Analyse als
ironisch verstanden werden, weil er die für die Ironie notwendige Mindest-
forderung nach zwei konterdeterminierenden Aussagen einlöst.00 Auf der
Gesamtsyntaxebene wird dann das zunächst Getrennte (Kunst und Er-
kenntnis) in eine neue, nun ironische Konfiguration gebracht. Die Kompen-
sationstheorie — Kunst als Ausweg der die letalen Konsequenzen scheuen-
den intellektuellen Redlichkeit — als solche ist ironisch noch nicht. Wenn
die Kunst die Bedingung wissenschaftlicher Erkenntnis insofern ist, als sich
mit ihr nur durch die Kunst leben läßt, so liegt die Ironie darin, daß hier
ein Wahn den anderen zu seiner Bedingung hat. Die kritische Einsicht in
die Unwahrheit erfordert die Adoration der Unwahrheit. Es handelt sich
um den Sachverhalt einer Negation und Affirmation der Unwahrheit zu-
gleich. Die Negation von „wahr" ist ironischer Sprachgebrauch ohne aus-
drückliches Ironiesignal, wobei „wahr" und „unwahr" durch ihre gegen-
seitige Konterdetermination semantisch kongruent werden. Um diesen dia-
lektischen Sachverhalt zu vermitteln, ohne in der Sprache diskursiver Re-
flexion den der Logik immanenten Wahn zu reproduzieren, schreibt Nietz-
sche eine „Philosophie der ,Gänsefüßchen'" und trägt in ihr die Selbstkritik
der Rationalität aus.
Mit der Kunst läßt sich leben; sie vermittelt, wenn auch als Wahn, jene
„Ferne", aus deren Perspektive die Welt als Welttheater, das Dasein als
Kunstkomödie, der Mensch als Held und Narr auf der Bühne erscheint.
Das Wort von der „Freiheit über den Dingen" läßt, einmal aus der entfal-
teten Begriffskonstellation entlassen, an jene Ironie der Überlegenheit
denken, die in „Menschliches, Allzumenschliches" entlarvt wurde. Aber
Nietzsches „Freiheit über den Dingen" supponiert keine Hinterwelt, ist
auch nicht mit Friedrich Schlegels Allegorie von „dem unendlichen Spiele
der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk"70 zu verwechseln,
besitzt nicht wie die auktoriale Ironie einen festen Bezugspunkt, sondern
es ist die Freiheit der „Schelmenkappe", die Narrenfreiheit des Künstlers.

09
Vgl. W. Ingendahl: Sprachliche Grundlagen und poetische Formen der Ironie. — In:
Sprachkunst 2 (1971). S. 228—242; hier: S. 236.
70
Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 2. Bd. Hrsg. v. H. Eichner. Mündien/Paderborn/
Wien 1967. S. 324.
Verwegene Kunststücke 59

Ironie bei Nietzsche impliziert keine Positivität, auch keine, die in


einer abstrakten Utopie gründet. Wahrheit ist nicht etwas, das man schon
besitzt, auf das vertrauend der Ironiker falsches von richtigem Bewußtsein
abgrenzen könnte. Wo Nietzsche dies tut, d. h. wo die Vakanz an Positivi-
tät aufgefüllt wird, dort spricht er nicht ironisch, sondern dogmatisch-sug-
gestiv. Nietzsches hier erörterter Ironiebegriff impliziert einen sukzessiven,
niemals zu Ende kommenden Wahrheitsprozeß. Die rezeptionsästhetische
Konsequenz dieses in keine geschlossene Konsistenz zu überführenden vir-
tuellen Wahrheitsbegriffs liegt darin, daß die einmal begonnene Denkbe-
wegung ad infinitum an den Leser weitergegeben wird* Nietzsches Wir-
kungsgeschichte läßt sich zum Teil beschreiben als die einer rabiaten Auf-
füllung der Unbestimmtheitsstellen und komponierten Brüche, wodurch es
dann gelingt, Nietzsche in den geschlossenen Kontext einer Weltanschauung
zu überführen. Vor solchen eilfertigen Sinnzuweisungen hat Thomas Mann
gewarnt: „Was er bietet, ist nicht nur Kunst, — eine Kunst ist es auch, ihn
zu lesen, und keinerlei Plumpheit und Geradheit ist zulässig, jederlei Ver-
schlagenheit, Ironie, Reserve erforderlich bei seiner Lektüre. Wer Nietzsche
»eigentlich* nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren."71 Herme-
neutisch zu praktizieren wäre, was Nietzsche selbst seinen Exegeten ver-
schrieb: ironischer Widerstand. An Carl Fuchs, den Literaten und Musiker,
den er einmal zu einem Nietzsche-Essay aufforderte, schrieb er: „Es ist
durchaus n i c h t nötig, nicht einmal e r w ü n s c h t , Partei dabei für
mich zu nehmen: im Gegenteil, eine Dosis Neugierde» wie vor einem frem-
den Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unver-
gleichlich i n t e l l i g e n t e r e Stellung zu mir."72
Diese Ausführungen sollen zeigen, daß ironischer Widerstand nicht
etwas ist, das von außen an Nietzsche-Texte herangetragen, sondern von
ihnen selbst provoziert wird. Nietzsches ironisches Verfahren besteht in der
Konstellation von sich ausschließenden perspektivischen Betrachtungswei-
sen73, die verhindern soll, daß die Einzel aussagen, selbst bei ihrer dogmati-
schen Artikulation, als fixe Wahrheiten rezipiert werden können. Die Wi-
dersprüche, die daraus resultieren, daß Begriffe jeweils unter verschiede-
nen Hinsichten verwendet werden, haben im Dienste dieses ironischen Per-
spektivismus eine rezeptionsästhetische Funktion: der Leser wird in eine
antinomische Denkbewegung hineingezwungen, die zunächst die Extreme
n
Nietzsches Philosophie im Liditc unterer Erfahrung, — Im Th. Mann, Neue Studien.
Stockholm 1948. S. 103—159; hier S. 153-
75
Brief an Carl Fuch* (29. 7. l$88). — In: Nictzidie, Werke in drei Bänden. Hrsg, v.
K. Sdhledua- München 1956. BdL HL S. 1308,
n
Vgt R. L. Hou-ey, op. cit-, S. 47t der „the dialectics of irony äs a philosophicäl
seducuon* versteh* und in der Ironie die Konsequenz de* Pmpcktivlsmus erkennt«
60 Bernd Bräutigam

fixiert74: Kunst und Wissenschaft zwischen den Extrempolen Wahrheit und


Wahn. Diese verweisen auf die Varianz der Gesichtspunkte, die in fortlau-
fender Realisierung, die sich über den Text hinaus im Leser fortsetzt, durch-
gespielt werden müssen, um der Wahrheit den traditionellen objektivisti-
schen Schein zu nehmen und sie damit als einen offenen Prozeß fassen zu
können. Ironischer Perspektivismus, das meint: die Konstellation von Per-
spektiven innerhalb eines Textes verhindert, daß ein aus einer Blickrichtung
erfaßter Sachverhalt für das Ganze genommen werden kann, selbst wenn
das Ganze in dogmatischer Einzelaussage fingiert wird. In der Einzel-
perspektive spreizt ein Moment sich in der Tat zum Ganzen auf, als solche
ist sie ironisch, ist Verstellung. Aber erst in der Konstellation mit anderen
Perspektiven zeigt der Autor, daß er sich verstellt. Ironischer Perspektivis-
mus erlaubt das seltene Zusammenspiel von Dogmatik und Ironie. Dog-
matisch ist die Einzelaussage; als ironisch im Sinn einer transparenten Ver-
stellung gibt sie sich erst auf dem Hintergrund von Multiperspektivität zu
erkennen. Deshalb fehlen hier die typisch ironischen Sprechweisen, wie sie
mit Mitteln der Rhetorik faßbar sind. Diese Ironiesignale würden die Per-
spektive schon in sich selbst zerstören, bezögen sie sich doch auf einen posi-
tiven Bezugspunkt, in dessen Besitz der Autor zu sein vorgibt, gleich ob er
ihn expliziert oder nicht. Die Ironie, die Nietzsche meint, verbietet sich
solche ironische Sprechweisen. Als ironisch ist das Einzelne erst auf Grund
der Einsicht zu rezipieren, daß das Ganze mehr ist als die bloße Summe
seiner Teile. Von hier aus verstehen sich dann auch Allemanns Bemerkungen
zum Signalverbot als conditio sine quä non einer höchsten Ironiestufe.75 Die
von Nietzsche apostrophierte „Freiheit über den Dingen" ist als Wahn
transparent und deshalb zugleich eine Freiheit, die in die Dinge verstrickt
ist. „Wie wundervoll und neu und zugleich wie schauerlich und ironisch
fühle ich mich mit meiner Erkenntniss zum gesammten Dasein gestellt! (...)
Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das soweit in seiner
Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein und Irrlicht
und Geistertanz und nichts Mehr ist, — dass unter allen diesen Träumenden
auch ich, der ,Erkennende', meinen Tanz tanze, dass der Erkennende ein

74
Ich folge hier P. Pütz: „Die Pole sind daher keine absoluten Gegensätze, sondern
eher extreme Korrelate, die auf eine — wenn auch nicht fixierbare — Ganzheit be-
zogen bleiben/ (Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann. Bonn
1963. S. 9).
75
„Es bliebe in jedem Fall der sdilichte Sachverhalt bestehen, daß der Grad des in
einem Text erreichten ironischen Effekts umgekehrt proportional zu dem für das
Erreichen des Effektes benötigten Signalaufwand ist. Der ideale ironische Text wird
der sein, dessen Ironie völlig signallos vorausgesetzt wenden · kann. (B. Allemann:
Ironie als literarisches Prinzip. — In: Ironie und Dichtung. Hrsg. von A. Sdiaefer.
München 1970. S. 24).
Verwegene Kunststücke 61

Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge zu ziehen und insofern zu den
Festordnern des Daseins gehört, und dass die erhabene Consequenz und
Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das höchste Mitjtel ist und sein
wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlidikeit aller
dieser Träumenden unter einander und eben damit die D a u e r des
T r a u m e s a u f r e c h t zu e r h a l t e . ? Der archimedische Punkt
ist diesem Ironiker unerreichbar geworden. Habermas hat diesen Sachver-
halt in hermeneutischen Kategorien so ausgedrückt: „es gibt nur noch
Interpretationen und keinen Text mehr"77. Ironischer Perspektivismus ist
bei Nietzsche ein Verfahren, sich in der Verlegenheit dieser Aporie zu be-
haupten.
Nachdem der Aphoristiker in der sachlichen Begriffssprache der Re-
flexion den rekurrenten Kunst- und Wissenschaftsbegriff depotenziert hat,
bleibt als Ergebnis der Perspektivenkonfrontation: das Verstricktsein eben
dieser Reflexion in Widersprüche. Nietzsche, der meinte, daß die Wissen-
schaft auf der Höhe ihres Anspruchs in Kunst umschlagen muß und dafür
das Symbol des musiktreibenden Sokrates erfand, bespricht nicht nur die
Kunst als Gegenmacht, sondern er verläßt die Aporie, in die er die Be-
griff ssprache hineintrieb und beteiligt sich selbst nun am „Cultus des Un-
wahren": in der Thematisierung der Kunst wird seine Sprache selbst zum
künstlerischen Phänomen, Die Kunst wird nun eine „G ö 11 i na genannt,
und die Metapher vom „Fluss des Werdens** soll das unbestimmte „Leben"
anschaulich einfangen. Diskursive Reflexion wird arretiert, die Wider-
sprüche, in die sie sich verwickelt, machen ihre Unvollkommenheit aus, die
der, der sie denkt, nicht mehr erträgt; deshalb rundet er nun selbst aus,
dichtet zu Ende: dichterische Sprache ist seine Göttin. Der Autor zeigt
sich plötzlich leidenschaftlich bewegt. Rhetorische Frage, appellative Syntax
und affektische exclamatio haben suasorisdie Funktion und dienen der Re-
zeptionslenkung. Der Leser soll die bei der Aneignung von theoretischen
Texten übliche Haltung der Distanz, die einen sachgemäßen Nachvoüzug
ermöglicht, verlassen und nun selbst jene spielerische Einstellung einüben,
die der Autor, der die Begriffe tanzen läßt, im Text demonstriert. Heiter-
keit als adäquater Rezeptionsmodus von Kunst scheint eine Bedingung zu
sein, die mit eingelöst werden muß, will der Leser dem nachkommen, was
die Leseradresse am Schluß des Aphorismus implizit von ihm fordert. Die
Sprache Nietzsches wird also zum ästhetischen Phänomen, als welches, laut
eigener theoretischer Aussage, das Dasein erträglich ist. Das heißt: das auf
der theoretischen Ebene Explizierte wird auf der Ebene stilistisch-sdmft-
w
KG W V/2, S. 90 f. (Fröhti Ae Wif$en«haf 154).
n
VgL das Nachwort 7«; Nietzsche. ErkenntrmthcorcusAc Schriften, Frankfurt/M.
1963. S. 259.
62 Bernd Bräutigam

stellerischer Praxis immer schon vorgeführt. Unter dem Leitthema „Ironie"


müßte dazu folgendes bemerkt werden: der ironischen Konfiguration von
Perspektiven auf der Ebene begrifflicher Reflexion entspricht die Konfi-
guration von ästhetisch-polyfunktionaler Sprache und abstrakter Begriff-
lichkeit. Daraus ergibt sich in der Tat die für die Rezeption des Textes fol-
genschwere Entscheidung: Liegt hier Theorie vor oder ein ästhetisches Ge-
bilde? Das von Nietzsche perspektivisch explizierte Problem von Kunst
und Erkenntnis stellt sich nun für den interpretierenden Leser bei der Re-
zeption dieser Explikation. Von hier aus wird noch einmal deutlich: Wahr-
heit wird als infiniter Realisierungsprozeß in das Bewußtsein des Lesers
vermittelt. Spricht der Dichter-Narr, soll der Leser also den aphoristischen
Text als „übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und se-
lige Kunst" lesen, d. h. den Standpunkt eines serenen Kunstrezipienten
einnehmen? Oder spricht der Denker, soll er also den Text wie einen sich um
Eindeutigkeit bemühenden theoretischen Text lesen, der Anspruch auf einen
intersubjektiven Nadivollzug erhebt? Mit der „Schelmenkappe" oder als
„schwerer und ernsthafter Mensch"? Die durch die perspektivische Relati-
vierung herbeigeführte Unsicherheit des Lesers wird durch die Korrelation
von sinnlich-metaphorischer und abstrakt-begrif f lidier Sprache erhöht.
Nietzsche thematisiert im Abschnitt 107 der „Fröhlidie(n) Wissen-
schaft" das Verhältnis von Kunst und Erkenntnis. Zunächst bestimmt er es
als ein kompensatorisches Verhältnis. Auf den ersten Blick legt er also eine
Kompensationstheorie der Kunst vor, aber das Aufeinanderbezogensein
von Kunst und Erkenntnis ist so ausdrücklich, daß der Erkennende selbst
dieser konstitutiven Relation erliegt und die Erkenntnis nicht mehr in der
„language of Statement", d. h. im diskursiven systematischen Zusammen-
hang der Theorie, sondern in der „language of performance" artikuliert.78
Durch diese ästhetische Mutation verliert die Theorie an denotierbarer De-
terminiertheit. Damit öffnet sich der Rezeption ein Spielraum von Aktuali-
sierungsmöglichkeiten. Nietzsches destruktive Wendung gegen die erken-
nende Reflexion richtet sich in einem letzten Schritt noch gegen ihren eige-
nen apophantischen Charakter, indem er sie ästhetisch konditioniert. Die
Kompensationstheorie, die das Verhältnis von Kunst und Erkenntnis be-
stimmt, begibt sich bei ihrer ästhetischen Transposition der Möglichkeit des
intersubjektiven Überprüfens, auf die alle expositorischen Texte Anspruch
erheben. Die Theorie ist Vordergrund, der durch künstlerische Sprache hin-
tergründig wird. Nietzsches allerletzte Dankbarkeit gegen die Kunst be-
stände also darin, daß er seine Kunsttheorie künstlerisch artikuliert. These

78
Vgl. J. L. Austin: How to do Things with Words. Ed. by J. O. Ürmson. Cambridge/
Mass. 1962. S. l f f.
Verwegene Kunststücke 63

und Antithese stehen sich in einem für die Thematik signifikanten Verhält-
nis gegenüber. Der These, dem Inhalt des Aphorismus — also der Kompen-
sationstheorie —, steht ihre eigene Darstellungsweise als Antithese gegen-
über. Damit wird, wie bei aller Ironie, dem Leser die Möglichkeit angebo-
ten, das Gewicht vom Dargestellten auf die Darstellung zu verlagern und
nicht, wie bei der Rezeption wissenschaftlicher Texte, über dem informato-
rischen Gehalt das Wie seiner Vermittlung zu vergessen, sondern das Wie
als dominant gegenüber dem Was zu setzen und dadurch den Text zu ent-
pragmatisieren.79 In der Ironie gerät Reflexion in die Unverbindlichkeit
des Ästhetischen. Sie teilt sich nurmehr künstlerisch mit. Erkenntnis, so will
es Nietzsche, ist auch stilistisch an den Kultus des Unwahren gebunden. Das
aber hat Konsequenzen für die Schätzung Nietzsches: Als ästhetisch wahr-
genommenes Phänomen ist dem Leser Nietzsches Prosa immer noch erträg-
lidi.

folge hier W. lögcaddbl, op. dt*, S. 23$.

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