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NS 6 - 45-63 - Verwegene Kunststücke - B. Braütigam PDF
NS 6 - 45-63 - Verwegene Kunststücke - B. Braütigam PDF
VERWEGENE KUNSTSTÜCKE
Nietzsches ironisdier Perspektivismus als schriftstellerisches Verfahren
7
Die Auswirkungen des Umschlags einer Theorie des Schönen in eine schöne Theorie
auf die Prosa der „Geburt der Tragödie" habe ich analysiert in: Reflexion des Schö-
nen — Schöne Reflexion. Bonn 1975. S. 98—188.
8
KGW III/l, S. 83 (Geburt der Tragödie).
9
Ebd., S. 81.
10
Ebd., S. 83.
11
Ebd., S. 81. ., '
12
Ebd., S. 90.
13
Ebd., S. 91.
Verwegene Kunststücke 47
* Ebd., S. IM.
» Ebd.
48 Bernd Bräutigam
18
J. Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 1968. S. 364,
19
Vgl. ebd., S. 357.
20
KGW III/l, S. 275 (Vom Nutzen und Naditeü der Historie).
21
Ebd., S. 298.
22
Ebd. , ;
23
Ebd., S. 299.
24
Vgl. KGW HI/1, S. 97 (Geburt der Tragödie).
Verwegene Kunststücke 49
Flexion gegen sich selbst, so ist ihre Negation zugleich schon wieder ihre
Anerkennung. Dieser dialektische Sachverhalt ist Nietzsches Problem. Un-
befriedigend bleibt, gerade für den Literaturwissenschaftler, in diesem Zu-
sammenhang der bekannte Topos in der Nietzsche-Kritik heutiger Hege-
lianer, nach dem Nietzsche in starker Abhängigkeit von Schopenhauer
dialektische Strukturen undialektisch, d. h. ohne das Instrumentarium der
vom deutschen Idealismus ausgebildeten philosophischen Dialektik denke.
Neben der kritisierten auktorialen Ironie kennt Nietzsche noch eine andere
ironische Redeweise, und in ihr will er sein Problem, Reflexion ebenso an-
zuerkennen wie aufzuheben, austragen. Diese Ironie unterscheidet sich auch
in einem wesentlichen Punkte von der romantischen Ironie, die Stroh-
sdmeider-Kohrs auf dem Hintergrund der spekulativen Dialektik des
deutschen Idealismus in Anlehnung an Solger als „künstlerische Dialektik"35
bestimmen konnte. Diese Ironie, die zwischen Bedingtem und Unbedingtem
vermitteln wollte, indem sie einerseits allegorisch aufs Unendliche verwies,
andererseits aber sich selbst als ein endliches, ästhetisches Gebilde eigens
thematisierte86, wird vom Kritiker der Hinterwelt um ihres deiktischen
Moments verkürzt, übrig bleibt nurmehr ihre limitierende Funktion. Schon
in der »Geburt der Tragödie" hatte sich Nietzsche ausdrücklich vom
„ o p t i m i s t i s c h e ( n ) Element im Wesen der Dialektik" abgewandt.87
Auf den dieser Dialektik strukturell affinen Ironiebegriff88 bezieht er sich
mißtrauisch, wenn er schon 1873 in einer Liste von guten stilistischen Vor-
sätzen ein Ironieverbot ausspricht oder später sich selbst die vorsichtigste
Mäßigung im Gebrauch ironischer Kunstmittel anrät, während die berühmte
Selbstcharakterisierung seiner Philosophie als einer „Philosophie der ,Gän-
sefüßcben*"** die positive Schätzung verrät.
40
Die bisher weitgehend übersehene Bedeutung Nietzsches für die „Kritische Theorie"
untersucht P. Pütz: Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie. — In: Nietzsche-Stu-
dien 3 (1974). S. 175—191. Als Summe seiner Überlegungen formuliert er: „Die kriti-
sche Theorie gleicht Nietzsche sowohl in der Radikalität des Fragens als auch in
der Verweigerung der Antwort." (S. 191) — J. Habermas hat in seinem »Nachwort zu:
Nietzsche. Erkenntnistheoretische Schriften. Frankfurt/M. 1968. S. 237—261, bei-
läufig darauf hingewiesen, daß Nietzsche in „Über Wahrheit und Lüge im äußer-
moralischen Sinn" „eine Art negative Dialektik" andeutet, „die auf der Ebene wissen-
schaftlicher Einsicht die Kategorien der Wissenschaft selber sprengt und von Intuitionen
sich leiten läßt" (S. 251).
41
KGWIII/2, S. 374 (Ober Wahrheit und Lüge).
42
Th. W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/M. 1966. S. 22.
43
Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg. v. G. Adorno und R. Tiedemann. Frank-
furt/M. 1970. S. 55. ,
44
Vgl. Negative Dialektik. S. 149.
45
Ebd.
Verwegene Kunststücke 53
dacht das Denken selbst trifft, fällt er auch auf das Denken zurück, das ihn
äußert. Wo Nietzsche von der Herrschaft des Sokratismus spricht, dort fin-
den sich bei Adorno Formulierungen wie der »universale Zwangsapparat"46,
der „universale Verblendungszusammenhang*47, das ^radikal Böse"48,
„Bann und Ideologie*, von denen versichert wird, sie seien dasselbe49. Auch
nach Nietzsche ist im Begriff das Unterschiedene vergessen, das Ungleiche
gleichgesetzt, das Individualisierte verallgemeinert und die Form gegenüber
dem Inhalt hypostasiert, „Das Uebersehen des Individuellen und Wirk-
lichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen
die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt*50.
Die destruktive Herrschaft des Begriffs — Nietzsche spricht ausdrücklich
von der „Herrschaft der Abstractionen*51, von dem Regulierenden und
Imperativischen der Begriffe gegenüber der „anderen anschaulichen Welt
der ersten Eindrücke*52 — löst die anschaulichen Metaphern auf und ver-
flüchtigt sie zu einem Schema. Solange der Begriff nicht als das Residuum
einer Metapher erkannt wird, solange die originalen Anschauungsmeta-
phern als Metaphern vergessen und als die Dinge selbst verkannt sind,
solange wird auch die Wahrheit über die Wahrheit, daß sie nämlich eine
allerdings notwendige, der Selbstbehauptung dienende Illusion ist, nicht
erfahren. Auf den beweglichen Fundamenten der individuellen Anschau-
ungsmetaphern gelingt der Wissenschaft gemäß grammatischer Urformen
„das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes"58, Rubriken
werden gebildet, eine Kastenordnung und die Reihenfolge der Rangklassen
entworfen, eine Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen und
Grenzbestimmungen geschaffen. Der approbierte Wahrheitsbegriff der Ge-
sellschaft54 stellt sich als „Gefühl* von Wahrheit ein, wenn die ursprüng-
schaftlichen Ausdeutung des Wahrheitsbegriffs an". (H. Barth: Wahrheit und Ideologie.
2. Aufl. Zürich/Stuttgart 1961. S. 220).
55
KGW II1/2, S. 376 (Ober Wahrheit und Lüge).
56
Ebd., S. 377.
57
Zu dieser Umkehrung des traditionellen, auf Aristoteles zurückgehenden Verhältnis-
ses von Begriff und Metapher vgl. S. Kofmann: Nietzsche et la me'taphore. — In:
Poetique 2 (1971). Heft 5. S. 77—98; v. a. S. 77 ff. . '
58
KGW HI/2, S. 378 (Ober Wahrheit und Lüge).
59
Ebd., S. 383.
Verwegene Kunststücke 55
boundary areas where concepts and categories no longer provide conceptual and
logical secürity." (Some reflections on irony in Nietzsche. — In: Nietzsche-Studien 4
(1975). S. 36—51; hier S. 41.)·
Verwegene Kunststücke 57
entbehren? — Und so lange ihr euch noch irgendwie vor euch selber
s c h ä m t , gehört ihr noch nicht zu uns!**65
Der erste Halbsatz bestimmt die Kunst als einen Kultus des Unwah-
ren. Diese Bestimmung ist eine okurrente Variante, die erst auf der Basis
eines wissenschaftsgeschichtlich rekurrenten ästhetischen Theorems einseh-
bar wird. Sie leugnet nämlich den überlieferten Zusammenhang von Kunst
und Erkenntnis, einen Zusammenhang, dem sich die Ausbildung der euro-
päischen Ästhetik zu einer philosophischen Disziplin verdankt.66 Selbst dort,
wo Kunst heftig ihrer Wirkungen wegen kritisiert und als Lüge gebrand-
markt wird, also bei Platon, bleibt sie im Rahmen eines ontologisdien Fun-
dierungszusammenhangs mit Erkenntnis verknüpft, wenn sie freilich auch
nur auf den dritten Rang hinter dem eigentlich Seienden verwiesen wird
und dort gleichsam einen phänomenalen Defekt darstellt.67 Der Erkenntnis-
zusammenhang wird nicht in Frage gestellt, ja Kunst wird in Enthusias-
mustheorie, Genietheorie und in der Romantik in ihrer erkenntnisaufschlie-
ßenden Funktion dem diskursiven Begriff übergeordnet, kann schließlich
sogar zum Organon der Philosophie erklärt werden68 und erfährt von da-
her ihre positive Schätzung (Dankbarkeit!). Nietzsche schätzt sie ebenfalls,
aber erst nachdem er das „Nächste trennt", nämlich Kunst und Erkenntnis,
und das „Fremdeste paart*, nämlich Kunst und Adoration der Unwahr-
heit. Die Durchbrechung der gewohnten Bedeutungserfüllung finden wir
audi im zweiten Halbsatz, der nun die Wissenschaft selbst thematisiert.
Wissenschaft vermittelt nicht Einsicht in die Wahrheit, so der Konsens der
Wissenschaftler, sondern in die allgemeine Unwahrheit, in den Wahn und
in den Irrtum, und dies nicht etwa in der Weise, daß Wahrheit von Un-
wahrheit zu scheiden wäre, sondern der Wahn ist unauflöslich an Erkennt-
nis gebunden, sofern er die nicht mehr hintersdireitbare Bedingung der er-
kennenden und empfindenden Subjektivität selbst ist. Nietzsche schätzt
die Wissenschaft, nicht weil sie Einsicht in die Wahrheit, sondern weil sie
Einsteht £n ihren eigenen Wahncharakter vermittelt- Auch hier also wieder
zuerst Trennung des Nächsten: wissenschaftliche Erkenntnis von Wahrheit,
dann Paarung des Fremdesten: wissenschaftliche Erkenntnis mit Wahn. Die
Denotationsleistung des Wortes (hier: Kunst, Wissenschaft, Erkenntnis),
die ja immer auf relativ hohe, durch Rekurrenz in der überkommenen
Tradition von Philosophie, Ästhetik und Wissenschaft abgesicherte begriff-
liche Eindeutigkeit abzielt, wird durch ironische Zusammenfuhrung dessen,
, . .
** VgL A* G. Bainsgarccn: Acstberixuu Frankfurt 1750, Nachdruck Hildethcim 1961- $ 1-
* VgL Politcu 597a—599 b,
** VgL F. W, J, Scbclliag: SämtJi&c Werke. Ht*&. v. K. F. A. SAdlutg. Stuttgart/Äug**
bcrg 1856—1861. 1. Abt,, B<L X S. 351, 627 f.
58 Bernd Bräutigam
09
Vgl. W. Ingendahl: Sprachliche Grundlagen und poetische Formen der Ironie. — In:
Sprachkunst 2 (1971). S. 228—242; hier: S. 236.
70
Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 2. Bd. Hrsg. v. H. Eichner. Mündien/Paderborn/
Wien 1967. S. 324.
Verwegene Kunststücke 59
74
Ich folge hier P. Pütz: „Die Pole sind daher keine absoluten Gegensätze, sondern
eher extreme Korrelate, die auf eine — wenn auch nicht fixierbare — Ganzheit be-
zogen bleiben/ (Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann. Bonn
1963. S. 9).
75
„Es bliebe in jedem Fall der sdilichte Sachverhalt bestehen, daß der Grad des in
einem Text erreichten ironischen Effekts umgekehrt proportional zu dem für das
Erreichen des Effektes benötigten Signalaufwand ist. Der ideale ironische Text wird
der sein, dessen Ironie völlig signallos vorausgesetzt wenden · kann. (B. Allemann:
Ironie als literarisches Prinzip. — In: Ironie und Dichtung. Hrsg. von A. Sdiaefer.
München 1970. S. 24).
Verwegene Kunststücke 61
Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge zu ziehen und insofern zu den
Festordnern des Daseins gehört, und dass die erhabene Consequenz und
Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das höchste Mitjtel ist und sein
wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlidikeit aller
dieser Träumenden unter einander und eben damit die D a u e r des
T r a u m e s a u f r e c h t zu e r h a l t e . ? Der archimedische Punkt
ist diesem Ironiker unerreichbar geworden. Habermas hat diesen Sachver-
halt in hermeneutischen Kategorien so ausgedrückt: „es gibt nur noch
Interpretationen und keinen Text mehr"77. Ironischer Perspektivismus ist
bei Nietzsche ein Verfahren, sich in der Verlegenheit dieser Aporie zu be-
haupten.
Nachdem der Aphoristiker in der sachlichen Begriffssprache der Re-
flexion den rekurrenten Kunst- und Wissenschaftsbegriff depotenziert hat,
bleibt als Ergebnis der Perspektivenkonfrontation: das Verstricktsein eben
dieser Reflexion in Widersprüche. Nietzsche, der meinte, daß die Wissen-
schaft auf der Höhe ihres Anspruchs in Kunst umschlagen muß und dafür
das Symbol des musiktreibenden Sokrates erfand, bespricht nicht nur die
Kunst als Gegenmacht, sondern er verläßt die Aporie, in die er die Be-
griff ssprache hineintrieb und beteiligt sich selbst nun am „Cultus des Un-
wahren": in der Thematisierung der Kunst wird seine Sprache selbst zum
künstlerischen Phänomen, Die Kunst wird nun eine „G ö 11 i na genannt,
und die Metapher vom „Fluss des Werdens** soll das unbestimmte „Leben"
anschaulich einfangen. Diskursive Reflexion wird arretiert, die Wider-
sprüche, in die sie sich verwickelt, machen ihre Unvollkommenheit aus, die
der, der sie denkt, nicht mehr erträgt; deshalb rundet er nun selbst aus,
dichtet zu Ende: dichterische Sprache ist seine Göttin. Der Autor zeigt
sich plötzlich leidenschaftlich bewegt. Rhetorische Frage, appellative Syntax
und affektische exclamatio haben suasorisdie Funktion und dienen der Re-
zeptionslenkung. Der Leser soll die bei der Aneignung von theoretischen
Texten übliche Haltung der Distanz, die einen sachgemäßen Nachvoüzug
ermöglicht, verlassen und nun selbst jene spielerische Einstellung einüben,
die der Autor, der die Begriffe tanzen läßt, im Text demonstriert. Heiter-
keit als adäquater Rezeptionsmodus von Kunst scheint eine Bedingung zu
sein, die mit eingelöst werden muß, will der Leser dem nachkommen, was
die Leseradresse am Schluß des Aphorismus implizit von ihm fordert. Die
Sprache Nietzsches wird also zum ästhetischen Phänomen, als welches, laut
eigener theoretischer Aussage, das Dasein erträglich ist. Das heißt: das auf
der theoretischen Ebene Explizierte wird auf der Ebene stilistisch-sdmft-
w
KG W V/2, S. 90 f. (Fröhti Ae Wif$en«haf 154).
n
VgL das Nachwort 7«; Nietzsche. ErkenntrmthcorcusAc Schriften, Frankfurt/M.
1963. S. 259.
62 Bernd Bräutigam
78
Vgl. J. L. Austin: How to do Things with Words. Ed. by J. O. Ürmson. Cambridge/
Mass. 1962. S. l f f.
Verwegene Kunststücke 63
und Antithese stehen sich in einem für die Thematik signifikanten Verhält-
nis gegenüber. Der These, dem Inhalt des Aphorismus — also der Kompen-
sationstheorie —, steht ihre eigene Darstellungsweise als Antithese gegen-
über. Damit wird, wie bei aller Ironie, dem Leser die Möglichkeit angebo-
ten, das Gewicht vom Dargestellten auf die Darstellung zu verlagern und
nicht, wie bei der Rezeption wissenschaftlicher Texte, über dem informato-
rischen Gehalt das Wie seiner Vermittlung zu vergessen, sondern das Wie
als dominant gegenüber dem Was zu setzen und dadurch den Text zu ent-
pragmatisieren.79 In der Ironie gerät Reflexion in die Unverbindlichkeit
des Ästhetischen. Sie teilt sich nurmehr künstlerisch mit. Erkenntnis, so will
es Nietzsche, ist auch stilistisch an den Kultus des Unwahren gebunden. Das
aber hat Konsequenzen für die Schätzung Nietzsches: Als ästhetisch wahr-
genommenes Phänomen ist dem Leser Nietzsches Prosa immer noch erträg-
lidi.