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Briefwechsel deutsch-jüdischen
Geschichte aus dem
Seite 9 Seite 16 Salomon Ludwig
Kleiderwechsel Ortswechsel Steinheim-Institut
an der Universität
Duisburg-Essen
immer wieder fest, dass diese eng mit dem Be- ert (Lukas 22,1 u. 7ff) oder auch zu Beginn seines Darmstädter Haggada
kenntnis zu dem einen Gott verbunden sind. Aufs Wirkens als Zwölfjähriger im Tempel (Lk 2,41-52) (um 1480)
eindrücklichste zeigen das wohl die beiden Einlei- den Hinweis darauf, dass
tungen („erstes Gebot“) zum Zehnwort, Exodus dies „zu Pessach“ geschah.
20,2f und Deuteronomium 5,6f: „Ich bin der Ewi- Was wie eine nebensächliche
ge, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Zeitangabe erscheint, ist hier
Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus. Du sollst kei- ganz bewusst gesetzt, denn
ne anderen Götter haben neben mir.“ Und auch das das Bekenntnis zu dem einen
Schema' Jisrael wird als Bekenntnis Israels zu dem Gott, der sein Volk aus Ägyp-
einen Gott in Beziehung gesetzt zu jener großen Be- ten befreit hat, soll gerade
freiungstat des Exodus (vgl. Dtn 6,1-25). Des wei- auch in letztgenanntem Text
teren spiegelt sich der Zusammenhang von Gottes- unbedingt mitanklingen.
bekenntnis und Auszug im Dank Israels für die Be- Dem wollen wir anhand
freiung aus Ägypten wider (vgl. z.B. Psalm 136,1-3 künstlerischer Darstellungen
u. 10ff), aber noch viel häufiger in der Klage Gottes von Lk 2,41-52 näher nach-
über sein Volk, das ihn, den Befreier aus Ägyptens gehen.
Knechtschaft, vergaß und sich anderen Göttern zu-
wandte ( z.B. Ps 78 oder Micha 6). So verweisen Bildliche Darstellungen der
auch Warnungen vor Götzendienst immer wieder Erzählung Lukas 2,41-52
auf die Treue zu dem einen Gott, der sein Volk aus Frank Crüsemann eröffnet
der Knechtschaft Ägyptens herausführte. Ein mar- sein kürzlich im Güterloher
kantes Textbeispiel dafür ist Dtn 13, eine ernste Verlagshaus erschienenes
Forderung, die uns in ihrer Brisanz und problema- Buch Das Alte Testament als
tischen Wirkungsgeschichte im Folgenden noch nä- Wahrheitsraum des Neuen
her beschäftigen wird. Die Befreiung aus Ägypten mit einigen bemerkens-
gehört zum Namen des Gottes Israels, ja, ist we- werten Gedanken zu bild-
sentlicher Inhalt des göttlichen Namens, der als lichen Darstellungen der Er-
Rettender und Befreiender seines Bundes gedenkt zählung des zwölfjährigen Je-
und der darum immer neu um die Bundestreue sei- sus im Tempel. So weist er
nes Volkes wirbt. darauf hin, dass sozusagen
Im Neuen Testament fehlt fast jegliche Erwäh- auf allen Bildern Jesus als
nung Gottes als Befreier aus Ägypten. Doch gibt es Lehrender hervorgehoben
wird, und nicht, gemäß der lukanischen Vorlage, werden: An der Darstellung des zwölfjährigen Jesus
als ein durch Zuhören und Fragen Lernender. Das im Tempel auf dem Göttinger Barfüßer-Altar von
ist selbst der Fall bei Max Liebermanns Jesus im 1424.
Tempel von 1879, ein Gemälde, das damals einen
Skandal auslöste. Liebermann hatte den Knaben Die Darstellung des zwölfjährigen Jesus
mit rötlich-braunem Haar und einfachem, kurzen auf dem Barfüßer-Altar
Gewand als barfüßiges Handwerkerkind von der Ursprünglich hatte der Barfüßer-Altar seinen Platz
Straße gemalt, dessen Worten die Umstehenden als Hochaltar in der Göttinger Franziskanerkirche.
und vor ihm Sitzenden aufmerksam lauschen. Dieser mächtige Flügelaltar des sogen. weichen
Münchener Theologen und Berliner Politikern war oder internationalen Stils der Spätgotik ist der
es unerträglich, Jesus „realistisch“, einem „herge- größte gemalte Altar Norddeutschlands – heute ein
laufenen Judenjungen“ gleich, dargestellt zu sehen. Prunkstück des Niedersächsischen Landesmuse-
Lautstarke Proteste veranlassten den Künstler, die ums Hannovers und vor wenigen Jahren umfassend
Figur zu übermalen, gewissermaßen zu verchristli- restauriert.
chen, die Haare aufzuhellen, den Rock zu verlän- Fast acht Meter breit und drei Meter hoch,
gern, die Füße mit Sandalen zu beschuhen. Die bringt das fünfteilige Retabel auf gut 60 m² ein ei-
massive Polemik, die auch ein Adolf Stoecker in genwilliges theologisches Programm zum Aus-
Berlin anfachte, richtete sich nicht zuletzt gegen druck, das Beachtung verdient und ihm eine Bedeu-
den jüdischen Maler selbst, der sich eines neutesta- tung verleiht, die der kunsthistorischen nicht nach-
mentlichen Sujets mit reicher ikonographischer Ge- steht. Der Altar zeigt sowohl vertraute christolo-
schichte bemächtigt hatte. gische als auch mariologische Thematik. Maria ist
Wenn Liebermann den Knaben zwar als Lehrer als Fürsprecherin und Beschützerin gegenwärtig.
auftreten lässt, so unterscheidet sich seine Darstel- Die zahlreichen Szenen des Marienlebens rahmen
lung der Szene doch von den meisten anderen inso- die ihres Sohnes ein. Denn nach der Kreuzigung
fern, als er Jesus weder in die Mitte seines Bildes fällt Maria die Aufgabe zu, Christi Heilsbedeutung
positioniert noch ihn erhöht auf einem Podest thro- zu vermitteln und zu verkündigen. Ferner zeigt der
nen lässt. Und noch etwas ist anders bei Lieber- Altar die zwölf Apostel, deren offene Bücher die
mann: Wenn hier, im Gegensatz zu Lukas, auch Sätze des Credo unter sich aufteilen, von 24 Halb-
kein Gespräch erkennbar wird, so drückt sein Ge- figuren mit ebensovielen Schriftbändern überfan-
mälde doch keinerlei Feindschaft zwischen Jesus gen. Ist aber der Altar geschlossen (sogen. Werk-
und den Lehrern aus, sondern Interesse und Bereit- tagsseite), so überraschen seine Außenflügel: Vier
schaft zum Zuhören, was – wie wir im Vergleich aussagestarke Tafeln mit gleichfarbig rotem Hinter-
mit anderen Darstellungen sehen werden – durch- grund, der von goldgelben Sternen übersät ist.
aus nicht selbstverständlich sondern eher die Aus- Links unten beginnend sieht man eine sogen. „mys-
nahme ist. tische Mühle“ oder „Hostienmühle“. Darüber der
Die hier genannten Interpretationsvariationen „Zwölfjährige Jesus im Tempel“, die uns im fol-
und Widersprüchlichkeiten zum biblischen Text lie- genden beschäftigende Szene; rechts daneben ein
gen jedoch nicht allein in der Frage von Jesu Lehr- seltenes „Pestbild“ mit der Fürsprecherin vor dem
autorität begründet, sondern führen uns tiefer in die himmlischen Richter Christus; schließlich rechts
lukanische Erzählung und ihre theologische Aussage unten, eine Pietà, welche Jesu Leichnam im offenen
hinein: Das (wenn auch indirekte) Bekenntnis Jesu Sarkophag auf dem Schoß trägt und den Gekreu-
zu seiner Gottessohnschaft (Lk 2,49) war – wie auch zigten wie den Auferstandenen, kleinfigurig, in ih-
immer man es verstanden hat – wohl der Haupt- ren Händen hält – eigenwillig auch diese, Leiden,
grund dafür, diese Szene nicht nur in der sich durch Tod und Auferstehung Jesu summierende Marien-
Text und Wort artikulierenden christlichen Theolo- darstellung. Insgesamt ist hier ein komplexes, be-
gie, sondern auch in deren kunstgeschichtlichem lehrend-dogmatisches Bildprogramm des frühen
Widerhall als entscheidenden Bruch zwischen Kir- 15. Jahrhunderts zu interpretieren.
che und Judentum zu interpretieren. Während Max Liebermanns Jesus im Tempel
Das soll im Folgenden an einem kunsthistorisch „nur“ biblische Erzählung wiedergibt, will die glei-
2 einzigartigen (negativen) Beispiel näher ausgeführt che Szene auf der Tafel des Barfüßermeisters unver-
Tafel des Barfüßer-Altars
(Landesmuseum Hannover,
Landesgalerie)
kennbar theologische Interpretation sein, erzählt Aggressivität rechts außen in ihrem direkten Ge-
also weit weniger, als dass sie auslegt und sich da- genüber am stärksten zum Ausdruck. Überaus grob
mit weit von der lukanischen Vorlage entfernt. und abfällig zeigt die Figur ihre Missachtung: Sie
Am linken Bildrand steht Maria, versehen mit streckt Jesus die Zunge heraus und setzt an, ein
einem Nimbus und leicht erhobenen Händen, eine Buch nach ihm zu werfen.
Haltung, die sich unterschiedlich interpretieren Solch geballte Drastik ist zwar eher selten, lässt
lässt. Sie blickt auf den Sohn, hier bereits ein Jüng- sich aber gerade zeitgenössisch, Ende des 14./An-
ling, der in der Bildmitte auf einem mehrstufigen fang des 15. Jh., mindestens noch drei- oder vier-
Podest thronend, ohne Buch(!) mit erhobener mal beobachten. Der Barfüßermeister ist u.a. beein-
Rechten lehrt. Er trägt den Kreuzesnimbus und flusst von Meister Bertram: Dessen „Buxtehuder
blickt über die sitzenden und stehenden, zum Teil Altar“ von 1400/1410 zeigt ebenfalls einen Buch-
durch ihre Kopfbedeckungen wie durch ihre Phy- werfer, auch dieser die anderen Gelehrten überra-
siognomie als Juden gekennzeichneten Personen gend. (Doch streckt er nicht die Zunge heraus.
hinweg. Diese, in zwei Gruppen um die Mitte ver- Derart Abschätziges findet sich sonst nur bei Scher-
teilt, schwingen Bücher oder halten sie geöffnet auf gen auf Passionsdarstellungen.) Ein weiteres Bei-
den Knien. Ihre heftige Gestik – vor allem in der spiel bietet ein ebenfalls ungefähr zeitgenössisches
rechten Bildhälfte – strahlt Unruhe aus, die die ent- Fresko der „biblia pauperum“ im Kirchlein Sogn
hobene Ruhe des Lehrenden kontrastiert. Der aber Gieri (St. Georg) in Rhäzüns, Graubünden. Neben
ist es, der die Unruhe erzeugt, und gegen ihn rich- zahlreichen anderen Figuren, die mit Büchern und
tet sich der Unmut jener, die ihm fast alle den Rü- Tafeln ausgestattet sind, lässt sich auch hier ein alle
cken kehren. überragender „Werfer“ mit offenem Mund, vermut-
So auch der rechts vorn Sitzende, der zornig ei- lich schimpfend, erkennen. Hinzuweisen wäre
ne Seite aus seinem geöffneten Buch reißt. Daneben noch auf eine Göttinger Darstellung aus der Werk-
eine kräftig gestikulierende, dunkelbärtige Gestalt, statt des St. Jacobi-Meisters: Mittig vor der Ka-
die das Obergewand zerreißt, bekanntlich eine Re- thedra Jesu sitzt eine hell gewandete Figur, mit der
aktion auf Gotteslästerung (vgl. Mt 26,65, Jesus Rechten ein geschlossenes Buch hoch hinaufre-
vor dem Hohepriester). Mit der Rechten scheint er ckend, wohl zum Wurf bereit, wobei der abge-
die Rede Jesu, dem auch er den Rücken kehrt, ab- wandte Kopf, anders als beim Barfüßer-Altar, nicht
zuwehren. Im Vordergrund disputieren zwei Ge- das Ziel seines Unmuts im Blick hat.
lehrte miteinander. Sie ignorieren den lehrenden Erstaunlich ist schließlich, dass bislang niemand
Jesus. Anders der links außen Sitzende, der ihm auf den noch an Ort und Stelle existenten Altar der
zwar auch den Rücken kehrt, aber auf die Rede ehemals franziskanischen(!) Braunschweiger Brü-
acht zu haben scheint. Doch zeigt sein aufs Buch dern-Kirche aus der Zeit zwischen 1383 und 1390
weisender Finger, dass er Jesus mit der Schrift zu verwiesen hat. Er verlagert die Heimholung des
widerlegen versucht. Während sich die größere Ru- Zwölfjährigen durch die Eltern in eine getrennte
he der linken Bildhälfte der Präsenz der am Rand Szene, sodass Jesus mit ebenfalls neun Lehrern al-
hochaufgerichteten Maria verdankt, kommt die lein ist. Von deren neun Büchern könnten immer- 3
Fresko in Sogn Gieri
in Rhäzüns, Graubünden
hin vier für den Betrachter potentiell lesbar sein. mitteln. Maria steht für sich allein. Das aber ist
Jesus, mit Kreuzesnimbus, hält auch hier kein Buch höchst selten nur zu sehen, denn die Darstellungen
in Händen. Und auch hier ist das gesamte Ensem- (der „Auffindung“) des Zwölfjährigen lassen beide
ble der Gelehrten anwesend: zu Jesu Rechten Ge- stets gemeinsam auftreten und zeigen sie nah bei-
wand- wie Buchzerreißer und wiederum ein, wenn einander. Alternativ ließe sich dieser Ausschnitt in
nicht gar zwei, Buchwerfer. Ebenso ist die rechte eine eigene Szene versetzen (vgl. etwa Braun-
Hälfte mit ihren fünf Figuren nicht ohne Erregung. schweig und Rhäzüns), wenn vor allem die erzäh-
Dass sich um den oberen Absatz der Kathedra heb- lende Abfolge von Stationen des Lebens Jesu inten-
räische und hebraisierende Buchstaben ziehen, ist diert war. Zu erzählen aber ist nicht Absicht dieses
ebenfalls bezeichnend. Insgesamt betrachtet, ist die Bildes.
Ähnlichkeit der Komposition mit der des gut 30 Wie auf den anderen drei Tafeln, so spielt Maria
Jahre jüngeren Barfüßermeisters frappierend. So auch auf dieser die zweite Hauptrolle. Bei Lukas ist
darf man feststellen, dass in Braunschweig das al- sie es, die das Wort ergreift, Josef dagegen bleibt
lernächste Vorbild für die Szenerie des Barfüßer- stumm. Zwar verstanden sie ihn nicht, doch „seine
Altars zu sehen ist, wenn auch das ikonographisch- Mutter bewahrte all diese Worte in ihrem Herzen“
theologische Programm des letztgenannten in sei- (Lk 2,51). Sie würde sie nicht bewahren, hätte sie
nem Anspruch weit über jenen und die anderen nicht ihre Bedeutung erkannt.
Vorläufer hinausstrebt. Blicken wir nun in die geöffneten Bücher – eine
Zwar fußt das auf dem Barfüßer-Altar darge- Besonderheit dieses Altarbildes – um mit ihnen tie-
stellte Szenario unverkennbar auf der Erzählung fer in dessen Problematik einzudringen.
des Lukas, aber es ignoriert wesentliche Züge der
Erzählung, ja, widerspricht ihr sogar, wie auch Doppelte Polemik: Deuteronomium 13
Crüsemann herausstellt. So hebt Lukas Staunen und Lukas 2, 41–52
und Bewunderung für den Knaben hervor, „mitten Vielleicht erinnert sich der eine oder andere un-
unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie serer Leser an einen kleinen Kalonymosbeitrag zu
fragte“ (Lk 2,46f). Rede und Antwort eines Ge- dem Altar, speziell zu seiner Tafel des zwölfjährigen
sprächs aber will der Barfüßer-Altar nicht abbilden, Jesus im Tempel, vor nunmehr fast acht Jahren.
von Zuhören und Fragen kann keine Rede sein. Ei- Was uns damals bewog, uns ausgerechnet dieser
ner immerhin scheint Jesus zuzuhören. Links, et- Darstellung näher zu widmen, lag in der kunsthis-
was versteckt hinter dem Podest, ist das Gesicht torisch seltenen Tatsache begründet, dass auf die-
eines bärtigen Mannes zu erkennen, der hinauf- sem Gemälde mit der Abbildung einer neutesta-
schaut. Auffällig die Stirnfalten, die dem Blick we- mentlichen Erzählung vier geöffnete Bücher mit
niger den Ausdruck von Unmut als vielmehr des hebräischen Buchstaben zu sehen waren. Diese we-
Unverständnisses verleihen. Lk 2,50 heißt es: „Sie nigen hebräischen Inschriften des Altars – die ein-
verstanden das Wort nicht“, nachdem Jesus den El- zige Tafel mit Hebraica – galten bis vor kurzem, im
tern geantwortet hatte, dass er in dem sein müsse, Gegensatz zu seinen zahlreichen, sämtlich edierten
was seines Vaters ist. Einen Augenblick lang fragt lateinischen Texten, für den einen als nicht lesbar
man sich: Könnte dieser Zuhörer Josef sein? Maria und ohne Sinn, für den anderen als pseudohebrä-
nennt Josef „Vater“ Jesu (Lk 2,48), Jesus jedoch be- isch. Doch konnten sie, obwohl erwiesenermaßen
zeichnet „Gott“ als seinen Vater (Lk 2,49), womit von Hebräisch unkundiger Hand geschrieben, in-
das zentrale Problem der Textvorlage und der auf zwischen von uns entziffert und eingeordnet wer-
unsrer Darstellung ablesbaren Kontroverse ange- den: Während keine der lateinischen Inschriften
sprochen ist. Aber hätte denn dieses Bild, das den dem Pentateuch entnommen ist, so stammen die
lehrenden Jüngling als den erhöhten Christus und hebräischen Texte aus dem 13. Kapitel des Deute-
Gottessohn darstellt, überhaupt noch einen Ort für ronomium (5. Buch Mose).1
Josef, den „Nährvater“? Auch wenn eine der Rollen Deuteronomium 13 war und bleibt eine bri-
Josefs als des „Mittlers zwischen altem und neuem sante Forderung, die in nachbiblischer und spätan-
Bund“ nicht die unwichtigste in der Kunst war, so tiker Zeit zur Warnung vor Häresien und somit
ginge es in diesem Fall nicht an, Josef in die Szene auch in antichristlicher Apologetik und Polemik
4 mit hinein zu nehmen, denn hier ist nichts zu ver- eingesetzt wurde.
Leider wird man kaum mehr feststellen können,
auf welchen Wegen jene Franziskaner, die das Bild-
programm des Altars entworfen und bis ins kleinste
Detail festgelegt haben, an ihr Wissen zur Funktion
von Dtn 13 in jüdischer Apologetik und Polemik
gelangt sind. Wenn sie nicht mit der eignen, kirch-
lichen oder spezifisch franziskanischen „Contra-
Judaeos“-Literatur vertraut gewesen sein sollten, so
hatten sie doch höchstwahrscheinlich Kontakt mit
jüdischen Konvertiten. Aber gewiss wäre es von In-
teresse zu erfahren, ob in der damaligen christli-
chen Exegese Lk 2 jemals mit Dtn 13, Dtn 13 mit
Lk 2 in Verbindung gebracht worden ist.
Mindestens einer der polemischen Jesus-Texte
im Talmud nimmt konkret Bezug auf Dtn 13,9f (!):
die christlich zensurierte Passage zur Hinrichtung
Jesu in bSanhedrin 43a. Und das „im Untergrund“
kursierende volkstümliche „Anti-Evangelium“, die
Toldot Jeschu, verlieren das Thema Zauberei, von
Jesus in Ägypten erlernt, nicht aus dem Blick. Sie das sichere Todesurteil bedeutet. Denn indem sich Braunschweiger Brüdernkirche
rekurrieren dabei mehrfach auf Dtn 13, beziehen die „Hand des Volkes“ dazu verpflichtet, ihn zu tö- (Niedersächsisches Landes-
Dtn 13,2ff ausdrücklich auf ihn und seine breit und ten, will sie Gottes Gebot gehorchen. Dies entfaltet denkmalamt Hannover)
unterhaltsam ausgemalten seltsamen Wunder und eine unter zahlreichen Quellen jüdischer Apologe-
Zeichen. Damit aber, so wurde behauptet, verfüh- tik und Polemik, das anonyme Sammelwerk „Niz-
re er Israel zu Gotteslästerung und Götzendienst zachon (jaschan)“ – auch „Nizzachon Vetus“ – des-
und mache sich des Todes schuldig. Toldot Jeschu sen Entstehen in Nordfrankreich oder Deutschland
ist eine durchaus auch für Göttinger Franziskaner im frühen 14. Jh. gesehen wird. „Einige der Gegen-
in Frage kommende Quelle. argumente sind die des anonymen Autors, andere
Dtn 13,2ff ist dreifach gegliedert: Verführung gründen auf Kritik und Polemik, die in jüdischen
zum Götzendienst als Verstoß gegen das erste Ge- Kreisen Frankreichs und Deutschlands im 12. und
bot durch einen Propheten, einen Familienangehö- 13. Jahrhundert wohlbekannt waren.“3
rigen und drittens durch eine Gruppe, die eine gan- Bemerkenswert, dass die auf unseren Buchsei-
ze Stadt ins Verderben reißt. Für das Altarbild und ten angesprochenen Verse sich mit den Zitaten aus
Lk 2,41-52 sind nur die ersten beiden Abschnitte Dtn 13 im Nizzachon Vetus (NV) decken: „Und
über einen Propheten oder 'Träumer' (Vv. 2-6) und sagt nicht Mosche oben (Dtn 13,2-3): ‚Wenn ein
einen Familienangehörigen (Vv. 7-12) relevant. Prophet oder Träumer unter euch aufsteht und dir
Daraus wurden vier Versfragmente für die Bücher ein Zeichen oder Wunder ankündigt und das Zei-
der Tempel-Szene entnommen, die die wesentli- chen oder Wunder trifft ein, usw.’ – Nun sagte aber
chen Aussagen des Textes zusammenfassen: 1) ein Jesus nicht nur, dass er Prophet sei, sondern machte
Prophet aus deiner Mitte (13,2-6) oder 2) ein Fami- sich selbst zu Gott und verführte seine Brüder, und
lienangehöriger bzw. Freund 3) verführt zum Göt- darum sagt Mosche über ihn: ,... so willige nicht
zendienst. 4) Todesstrafe, Beseitigung „des Bösen ein und gehorche ihm nicht usw., sondern zum Tod
aus deiner Mitte“ (Vv. 6 u. 12). sollst du ihn bringen.’ (13,9f). Und so tat man, und
Worin aber liegt die Verführung zum Götzen- sie hängten ihn ans Holz.“4
dienst, die Jesus vorgeworfen wird: In der Erzäh- NV betont immer wieder, dass Jesus „keinen
lung vom Zwölfjährigen im Tempel stellt der Kna- Vater hatte“ bzw. ihn (ver)leugnete – wohingegen
be die Gegenfrage: „Muss ich nicht sein in dem, der Prophet, der so wie Mosche sein wird, Vater
was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49) Hier bekennt sich und Mutter haben wird.
Jesus als „Sohn“ Gottes und verstößt damit nach Mit der Frage nach Vater und Mutter Jesu ist
jüdischem Verständnis gegen das erste Gebot2, was man mitten im zweiten Abschnitt von Dtn 13, dort, 5
wo sich die Verführung im Familienkreis abspielt
(13,7-12). Warum zeigt eines der Bücher auch diese
Stelle? Die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus ist
auch eine Geschichte familiärer Konflikte. Und der
Altar, der so großen Wert auf die Bedeutung Mari-
ens legt, kann hier nicht umhin, auch auf das Ver-
hältnis Jesu zu seiner Mutter einzugehen. Wenn in
Dtn 13,7 vom „Sohn deiner Mutter“ die Rede ist,
so assoziiert das für Lk 2,41-52 das darin proble-
matische Verhältnis zwischen Jesus und seiner Mut-
ter bzw. seinen Eltern. Maria ergreift das Wort und
spricht von Josef als Vater Jesu (Lk 2,48). Dass Je-
sus hingegen Gott seinen Vater nennt, „bewahrt“
Maria „in ihrem Herzen“, sodass man geradezu sa-
gen könnte, sie lasse sich nun dazu verführen, Jesus
für den Sohn Gottes zu halten. Dtn 13 aber ver-
langt, keine Rücksicht zu nehmen, nicht auf die
liebsten und nächsten Angehörigen, nicht auf den
Freund.
R. Jakob ben Ascher (geb. Köln ca. 1269), be-
kannt als der Halachist und Kommentator Ba'al ha-
Turim, sucht die Beziehung von Dtn 13 auf Jesus
und seine Mutter mittels der Methoden der „ge-
matria“5 herzustellen: Israel wird gewarnt vor
einem falschen Propheten „in deiner Mitte“ (bekir- Schärfer noch als in Dtn 13,6 fällt in diesem
becha). Er schreibt: „Dies weist, bei Anwendung zweiten Abschnitt der Aufruf zur Tötung des Ver-
von gematria, hin auf: „jene Frau“ (su ischa) – bei- führers und Gotteslästerers (13,9f) aus. Nach der
de Male ergibt die Summe des Zahlenwerts der Aufforderung, auch nächsten Angehörigen kein Er-
Buchstaben 324.“ Damit verweist dieser, nur zu barmen zu zeigen, sondern allein dem Befreier aus
gern gematria einsetzende Exeget, auf die Mutter dem Sklavenhaus Ägyptens (vgl. Dtn 13,6 u.12 und
Jesu. Und erneut wendet er gematria an: „... in dei- den Hinweis auf Pessach Lk 2) treu zu bleiben, er-
ner Mitte ein Prophet“ (bekirbecha nawi') und ge- folgt der Tötungsaufruf vierfach, an den Angespro-
langt abzählend zu: „(Dies ist) jene Frau und ihr chenen und das ganze Volk. Dass gerade diese Stel-
Sohn“ (su ha'ischa uw'nah) – für beide ergibt sich le für das Altarbild ausgewählt wurde, ist gewiss
die Zahl 387“.6 kein Zufall.
Wer Jesu Vater sei, ist eine zentrale Frage jü- Die Situation der Juden hatte sich im 15. Jahr-
discher Apologetik: Warum heißt es wohl in Dtn hundert unübersehbar weiter verschlechtert. Der
13,7 „deiner Mutter Sohn“ – und nicht „deines Va- Niedergang seit den Beschlüssen des IV. Lateran-
ters Sohn“? Auch NV greift dies erneut auf, wenn konzils von 1215 war zunächst schleichend, be-
Dtn 13,6 fordert: „‚dieser Prophet soll sterben‘, um schleunigte sich dann mehr und mehr nach den
wieviel mehr der, der sich selbst zu Gott macht. Pogromen von 1298 und dem ‚Schwarzen Tod‘,
Über ihn sagte Mosche (Dtn 13,7): ‚Wenn dich dein den Pestepidemien der Jahre 1348-50 mit dem Vor-
Bruder, deiner Mutter Sohn ...‘ – das ist Jesus, der wurf, die Brunnen zu vergiften, wobei auch die
seinen Vater leugnete und sagte, er habe eine Mut- Göttinger jüdische Gemeinde wie 300 andere Ge-
ter, keinen Vater, (sei) Sohn Gottes, und machte meinden vernichtet und vertrieben wurde. Zehn-
sich selbst zu Gott – von ihm sagte Mosche: ‚Nicht tausende sind in jenen Jahren ums Leben gebracht
sollst du ihm willfahren ..., sondern sollst ihn zu worden. Wohl wurden bald Juden wieder zugelas-
Tode bringen. Deine Hand soll die erste wider ihn sen (in Göttingen 1370), doch die hohen finanziel-
sein, ihn zu töten ... ihn zu Tode zu steinigen.‘“ len Erwartungen, die auf sie gerichtet waren, konn-
6 (13,9-11)7 ten sie nicht mehr erfüllen. Die Zünfte, damals
ZU HÖREN
che Polemik – vor aller Augen offengelegt, schwarz Nizzachon Vetus, jüdische Po-
auf weiß. Kann es bildliche Darstellungen der Sze- lemik gegen das Christentum,
ne geben, die diese Schärfe erreichen oder noch anonymes Sammelwerk aus
übertreffen? dem 14. Jh.
Wenn Lukas die Erzählung vom zwölfjährigen
Jesus im Tempel sich zu Pessach ereignen lässt, so
will er damit zum Ausdruck bringen, dass das Be-
kenntnis Jesu als Sohn Gottes im Zentrum der Ge-
schichte nicht im Widerspruch steht zu dem Be-
kenntnis der Einzigkeit des Gottes Israels, der sein
Volk aus dem Sklavenhaus Ägyptens befreit hat.
Und wenn Jesus am Vorabend seines Todes mit den
Jüngern das Sedermahl feiert (Lk 22), dann zeigt
das, dass er bis zum Schluss der Tradition seines
Volkes und dem Bekenntnis zu dem einen Gott,
dem Befreier aus der Knechtschaft Ägyptens, treu
geblieben ist.
Die Darstellung des Barfüßer-Altars hingegen
lässt erkennen, wie sehr man sich darum bemüht
hat, Jesus dieser Tradition zu entreißen und ihn
zum Feind seines Volkes zu machen.
Wie auch immer man das Bekenntnis Jesu zu
seiner Gottessohnschaft verstanden hat und mit
ihm umgegangen ist, zustimmend, ablehnend oder
stark religiös bestimmt, vermochten ihre wirt- zweifelnd – wäre man bei dem lukanischen Ge-
schaftliche Stellung zu stärken, denn die Juden spräch von gegenseitigem Zuhören und Fragen ge-
wurden auf diesem Gebiet allmählich überflüssig, blieben, die Entwicklung wäre eine andere gewe-
ihre Schutzbriefe darum nicht verlängert. Mehr sen. Dann wäre es nicht zu dem ungleichen Macht-
und mehr Städte vertrieben ihre Mitbürger (so kampf mit Judenverfolgungen und -vertreibungen
Mainz 1420, Wien 1421, Köln 1423). Die Kirche gekommen, die zwangsläufig antichristliche Pole-
verstärkte über die Jahrhunderte ihre Auseinander- mik hervorriefen, die sich dann zu doppelter und
setzung mit den Juden bis zur Dämonisierung und doppelt verschärfter antijüdischer Polemik zuspitz-
intensivierte u.a. die Zwangspredigten; hier tat sich te, wie es die Tafel des Barfüßer-Altars durch die
unter den Franziskanern besonders Johannes von bildliche Gestaltung in Kombination mit den heb-
Capistran (1386-1456) in den 40er und 50er Jah- räischen Texten in kunsthistorisch einmaliger und
ren hervor. So war die Auseinandersetzung zwar ei- theologisch einmalig erschreckender Weise sichtbar
ne höchst ungleich geführte, aber die Juden macht. Vielleicht können andere Darstellungen der
wehrten sich nicht zuletzt mit Mitteln der Apologe- gleichen Szene wie beispielsweise Liebermanns „Je-
tik und Polemik, der Selbstkritik und der Klage. sus im Tempel“, trotz seines Missverständnisses, Je-
Doch wie selbstsicher und überlegen erscheint sus als Lehrenden zu malen, die überlaute Polemik
demgegenüber die Tafel des Barfüßer-Altars mit ih- und ihre zahllosen Echos dämpfen, auf dass Pessach
rer doppelten Polemik, durch die geöffneten Bü- und sein christliches Pendant Ostern, wenn auch als
cher zum Ausdruck gebracht. In Verbindung mit eigene Feste begangen, nicht mehr als trennend er-
Lk 2,4ff, worin Jesu Gottessohnschaft bekannt fahren werden müssen, sondern darin Gemeinsam-
wird, erzielen die deuteronomischen Sätze höchste keit finden, dass sie den einen Gott Israels als Be-
Brisanz: die Juden entlarven sich als für Jesu Tod freier aus Knechtschaft und Tod feiern.
verantwortlich, ja als „Gottesmörder“. Sie sind es, Um zu solch einem Bekenntnis zu gelangen, ist
die den „in der Mitte“ des Bildes Erhöhten beseiti- gegenseitiges „Zuhören“ und „Fragen“, Gespräch
gen, „auf dass du das Böse aus deiner Mitte weg- also, unverzichtbar. Vor allem die Erkenntnis, dass
tust“ (vgl. Dtn 13,6 u. 12). So will es die christli- nach Lukas 2,41ff Jesus derjenige ist, der zuhört, 7
ZUHÖREN
einem solchen Ausdruck der Verwunderung und rer, zu wiederholen. Er erzählte sie einfach, rück-
Entrücktheit auf dem Gesicht, als wäre er nicht ein haltlos, wie ein Kind ein Erlebnis berichtet. Es gab
Teil der ihn umgebenden Welt. aber einige, die nicht lachten. Sie fragten sich: wer
Eben diesem Ascher Pakess wurde die hohe mag wissen, wer die Ziege war? Wer mag wissen,
Auszeichnung zuteil, Elia, den Propheten, zweimal wer sich hinter dem Gast in dem langen Gewande
in Person zu schauen. Während des Osterfestes war verbarg – was auch immer Israel, der Sohn Joseph
die Gratisherberge leer, denn selbst die Bettler fan- Bärs, behauptet? Und wer konnte am Ende wissen,
den während dieses Festes irgendwo Aufnahme. wer Ascher Pakess, der Einfältige, selber war? War
Ascher und seine Frau waren also ganz allein im es nicht schon oft vorgekommen, daß der Holz-
Hause, und sie begingen den Sederabend zu zweit. hacker gar kein Holzhacker, der Wasserträger kein
Aschers Frau, die etwas geweckter war als er, kann- Wasserträger war? Und muß man nicht an die
te alle Einzelheiten der Sederfeier. Sie wußte also sechsunddreißig verborgenen Heiligen denken, die-
auch, daß man den größten und hübschesten Be- se bescheidenen, stillen Geister, die in niedriger
cher auf dem Tische für Elia den Propheten bereit- Gestalt über die Erde wandeln, und durch deren
Shmarya Levin (1867 Swis- zustellen hatte. Sie wußte auch, daß bei der Stelle Tugenden die Welt besteht? Wer könnte sagen, daß
lotsch/Russland – 9. Juni 1935 „Ergieße deinen Zorn“, die Tür weit geöffnet wer- er nicht einem dieser Heiligen in der Gestalt eines
Haifa) hat 1929–1932 drei Bü- den mußte. Im richtigen Augenblick riß Pakitscha frommen ehrlichen Geistesarmen begegnet wäre?
cher mit seinen Lebenserinne- die Tür weit auf und – eine Ziege trabte gerade- Zwischen den ersten beiden und den letzten
rungen in Englisch publiziert. wegs in die Stube. Weder Ascher noch seiner Frau beiden hohen Osterfesttagen liegen vier Halbfeier-
In deutscher Übersetzung er- kam es in den Sinn, die Ziege hinauszujagen. Sie tage. Es ist immerhin Pessach. Alle gesäuerten Spei-
schienen nur Jugend in Auf- wußten, wer die Ziege war. Das war Elia der Pro- sen sind verboten. Man darf aber arbeiten und darf
ruhr (1933) sowie der Band phet in einer jener Verwandlungen, von denen in seinem Beruf nachgehen. Während der ganzen
Kindheit im Exil (1935), aus den Volkssagen so oft erzählt wird. Die Ziege, die Festzeit, von Anfang bis zu Ende, lebten wir herr-
dem wir hier ein gekürztes Ka- so freundlichen Willkomm fand, ging bis zur Mitte lich und in Freuden. Nichts hatte man nach dem
pitel bringen. des Zimmers, sprang mit beiden Vorderfüßen auf Gottesdienst zu tun, als Besuche zu machen und zu
den Tisch, beschnupperte eine der Mazzen, als ob empfangen. Und die Bewirtung: Kuchen, Nasch-
sie ein Gebet darüber spräche, und warf den Wein- werk, kandierter Ingwer, delikate Spezialgerichte
becher Elias, des Propheten, um. Hier konnte aus Mazzenmehl, Eingemachtes aus Rettig und Rü-
Ascher Pakess sich nicht mehr halten. „Rabbi, Pro- ben ... Und gebratene und gefüllte Hühnerhälse
phet,“ rief er atemlos. „Sei nicht böse, bitte. Iß so- und Hühnerfleck, und Marmelade und Früchte al-
viel du willst. Trinke soviel du willst. Aber, bitte, ler Art! Und zu alledem bekamen wir Wein und
zerbrich nichts.“ Met zu schlürfen, soviel wir wollten. Und wir
Am zweiten Pessachabend, an dem dieselbe Ze- konnten recht viel davon trinken, da es zu Hause
remonie in jeder Einzelheit wiederholt wird, er- fabrizierter Rosinenwein war, an dem man sich
schien bei dieser Stelle ein zweiter Besuch. Ein schwerlich betrinken konnte.
Mann in langem weißen Gewande, die Mütze tief Am Nachmittag des achten Ostertages wurden
ins Gesicht gedrückt, erschien an der Tür, trat ein die verbogenen, rituell nicht ganz einwandfreien
und schritt auf den Tisch zu. Ascher war durch die- Mazzen verteilt, ein Symbol, daß Pessach zu Ende
sen Gast weit mehr erschreckt als durch die Ziege. ging. Und damit endete auch mein erstes Cheder-
Er schrie vor Entsetzen auf. Der Gast erhob aber jahr. Ich war noch ein Kind, hatte aber bereits et-
nur den Becher des Propheten, trank ihn leer und was vom Erwachsenen. Ich wußte schon viel über
verschwand. Unter den Juden von Swislowitz unser Volk und über die Lehre unseres Volkes. Ich
sprach es sich herum, daß der Gast Israel, der Sohn verstand ein wenig von dem Sinn des dunklen
Joseph Bärs, des Kantors, gewesen war. Ascher Pa- Wortes Galut, Exil, das in unseren Gesprächen im-
kess war jedoch fest überzeugt, daß kein anderer als mer wiederkehrt, und hatte bereits erfaßt, warum
Elia der Prophet in einer anderen Verkleidung aber- die Juden so oft für das Kommen des Messias be-
mals erschienen war, um den Weinbecher zu leeren. ten. Das Kind in mir war noch glücklich, sorglos
Diese beiden Geschichten waren in Swislowitz all- und frei; aber dann und wann entschlüpfte meinen
gemein bekannt, und Ascher war jederzeit bereit sie Lippen ein Seufzer – ein Seufzer, für den ich keinen
12 auf Verlangen, zum großen Gaudium seiner Zuhö- Grund angeben und den ich nicht erklären konnte.
Buchgestöber
Konfliktreiche Korrespondenz Jerusalem“ zum Abbruch der Korrespondenz. Zu
Mit dem Briefwechsel zwischen der politischen einer nicht mehr tragbaren Hypothek wird Arendts
Theoretikerin Hannah Arendt und dem Religions- Kritik an den „Judenräten“ während des Genozid
historiker Gershom Scholem wird Intellektuellen- und die These von der „Banalität des Bösen“. Scho-
Geschichte des 20. Jahrhunderts zugänglich ge- lem kommentiert dies: „Ich möchte nur sagen, dass
Ihre Darstellung Eichmanns als eines Konvertiten
Hannah Arendt/ Gershom Scholem: Der Brief- des Zionismus nur bei jemandem denkbar ist, der
wechsel, hrsg. von Marie-Luise Knott, Frank- ein so tiefes Ressentiment auf alles hat, was mit
furt/M: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag dem Zionismus zusammenhängt, wie Sie.“ (433)
2010. 695 Seiten. Ein Jahr später endet der Briefwechsel mit einem
39,90 Euro. ISBN 978-3633542345. von Scholem angedachten Treffen, das nicht zu-
stande kommt.
Der größte Teil der Korrespondenz spiegelt eine
Lebenswelt wider, in der Verlagsverhandlungen,
macht, welche das beschwerliche Leben im poli- wissenschaftliches und politisches Publizieren so-
tischen Exil und die drängenden Fragen zweier wie die gemeinsame intensive Tätigkeit in der Je-
Denker unmittelbar nach der Shoa aufzeichnet. In- wish Cultural Reconstruction (JCR) im Fokus ste-
mitten der Wirren des Zweiten Weltkriegs setzt der hen. Abgerundet wird der Briefwechsel durch einen
archivierte Briefwechsel mit der Nachricht über lesenswerten Kommentar der Herausgeberin, ein
Walter Benjamins Tod 1940 ein. Die Freundschaft Personenverzeichnis und die field reports, die Han-
beider mit dem Philosophen und Literaturkritiker nah Arendt bei ihren Deutschlandaufenthalten in
Benjamin ist zu Beginn das einigende Band zwi- den Jahren 1949/50 für die JCR verfasste.
schen Arendt und Scholem, welches in der Folge Jens Zimmermann
immer wieder stärksten Belastungen ausgesetzt ist.
Zunächst verbindet beide die Sorge um gemein- Ein Tag im jüdischen Regensburg
same Freunde und Bekannte, die auf der Flucht vor Der elegante Begleitband zu einer Ausstellung von
den NS-Schergen sind und von deren Verbleib nie- 2009 entnimmt seinen Titel dem Roman des jid-
mand Kenntnis hat. Nach und nach berichtet Han- dischen Schriftstellers Joseph Opatoshu (1886–
nah Arendt über die „Neuankömmlinge“ in New 1954) „A tog in Regensburg“ (1932) – eine farbig
York und ihre alltäglichen Probleme des „Hei- fabulierende Reminiszenz an die Zeit kurz vor der
mischwerdens“. Gerade die Exilerfahrungen Vertreibung der Regensburger Juden im Jahr 1519.
Arendts machen die eindringlichsten Schilderungen Wir wussten nicht, dass Opatoshu mit Marc
des Briefwechsels aus. Intensive publizistische Akti- Chagall befreundet war, der dessen Begeisterung
vitäten Arendts kennzeichnen jene Zeit, aber auch für die jiddische Literatur teilte und Opatoshus Er- Sabine Koller(Hg.): Ein Tag im
die Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit, die sie im- zählung illustrierte, was uns hier sinnlich fassbar Jüdischen Regensburg mit
mer wieder in Beschlag nimmt. In diese Schaffens- vermittelt wird. So ist ein ganzer Aufsatz der jid- Joseph Opatoshu und Marc
phase gehört auch die gemeinsame Planung einer dischen Sprache und ihrer überraschenden Bezie- Chagall. Passau: Verlag Karl
Anthologie der Schriften Benjamins, welche aller- hungen zu Regensburg gewidmet. „Adversus Judae- Stutz 2009. 120 Seiten.
dings wegen ungeklärter Urheberrechte und quä- os“, das 3. Kapitel, untersucht die jüdische Kultur 19,80 Euro.
lender Suche nach einem Verlag immer wieder ins im Spiegel christlicher Kunst und politischer Ideo- ISBN 978-3-88849-963-0.
Stocken gerät. logien über mehrere Regensburger Jahrhunderte
Die Atmosphäre wird zunehmend gespannter. hin, was sich als faszinierend erweist. Der ihm fol-
Im Januar 1946 reagiert Scholem „erbittert“ und gende Beitrag schildert die Nachkriegssituation der
„fassungslos“ auf Arendts Artikel „Zionism recon- „displaced persons“. Da Jiddisch die Sprache dieser
sidered“. Ihrer Kritik der zionistischen Politik wirft Überlebenden war, geht es auch um deren 1946
er angesichts des antisemitischen NS-Wahns „Zy- erstmals erscheinende Regensburger Zeitung Der
nismus“ vor. Zwar kommen sie über diesen Kon- nayer moment.
flikt hinweg, doch wird das Einvernehmen beider Der Band zeichnet sich durch seine inhaltliche
spürbar brüchig. 1963 schließlich führen die Disso- Gestaltung aus: Die eine Stadt, das jüdisch/jiddische
nanzen um Arendts Prozessbericht „Eichmann in Regensburg, in literarischer, linguistischer, ge-
13
STUDIE
schichtlicher und kunstgeschichtlicher Hinsicht be- stellung des 2006 gegründeten „Bundes jüdischer
trachtet. Auch die künstlerische Aufmachung mit Soldaten“, dessen Gründungsvorsitzender der Au-
hervorragenden Abbildungen macht diese reichen tor ist, und seiner verdienstvollen Bemühungen, die
Regensburger Tage zu einer dauerhaft ansehn- lange Tradition jüdischer Soldaten in deutschen Ar-
lichen, einer wertvollen Zeit. Annette Sommer meen in ihren Höhen und Tiefen wachzuhalten. jr
des Steinheim-Instituts erwartet Sie eine Ausstel- ragend besetztes Podium. Politische Unterstützung
lung von Raritäten aus unseren Archiven und eine gab es seitens der Landesregierung Nordrhein-West-
Live-Präsentation unserer Forschungen. Einen Be- falen mit einem Geleitwort der Ministerin für Bun-
such wert ist sicher auch das attraktive Rahmen- desangelegenheiten, Europa und Medien, Dr. An-
programm und nicht zuletzt, dass die Messe in den gelica Schwall-Düren. Für die Förderer der Edition
Räumen der populären und auch an diesem Tag zu- sprach Prof. Andreas Schlüter, Generalsekretär des
gänglich bleibenden Arbeitswelt-Ausstellung statt- Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Die
findet. Alte Synagoge Essen - Haus jüdischer Kultur
Wissenswelten Metropole Ruhr. 15. Juli 2011. DASA. schließlich war der hervorragend geeignete Ort für
Friedrich-Henkel-Weg 1–25. 44149 Dortmund. die gelungene Veranstaltung. 15
Foto: Harald Lordick
PESSACH