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ISBN: 978-3-941404-53-3 www.acabus-verlag.

de
344 Seiten Acabus Verlag 2009
14,8 x 21 cm info@acabus.de
Preis: 24,90 EUR 040 - 6559920
Hardcover
Das Buch

Die Skulptur
Und Karl, immer wieder Karl ...
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gestanden und auf das Klingelschild gestarrt
hatte. In sich eine Empfindung von Einsamkeit und Verlorenheit, die etwas
Endgültiges hatte und schon jenseits der Verzweiflung lag. Verzweiflung hieß immer
noch an etwas zu hängen, hieß immer noch, wenn auch verzweifelt, zu hoffen.
Warin hing noch an Karl, aber das hatte nichts mehr mit Hoffnung zu tun. Nur mit
ihr. Es gab nichts, worauf sie hoffte, was sie wollte.

Warin trennt sich von Karl, zwei Menschen und eine gescheiterte Beziehung. Eine
ganz alltägliche Geschichte. Hinter dem äußeren Anschein jedoch verliert sich die
Alltäglichkeit und es entfalten sich die ganz persönlichen Abgründe der Existenz.

Der Roman beschreibt in kraftvollen und poetischen Bilder Warins inneren


Verzweiflungskampf um ihre große, unmögliche Liebe. Schritt für Schritt unterspülen
die Untiefen ihrer Gefühle ihre gesamte Existenz – bis zum Zusammenbruch. Wir
tauchen ein in Warins Gedankenwelt und erfahren ihren Schmerz und ihre Liebe
hautnah mit, erleben wie weder Freunde noch ihre berufliche Karriere ihr Halt bieten
angesichts ihres Verlustes, der sie gefangen hält.

Während Warin noch kämpft, hat ein tragisches Ereignis in Karls Kindheit dessen
Schicksal bereits besiegelt, auch wenn es noch über 30 Jahre dauern wird, bis es sich
erfüllt. Was ist damals passiert, dass es Karl unmöglich macht die Grenze zum Leben
zu überschreiten? Welche Gefühle verbirgt er hinter seinem Schweigen und seinen
undeutbaren Blicken? Nur beim Klavierspielen scheint er sich zu öffnen, doch in
welche Abgründe seiner Vergangenheit führt dieser Weg ...
Gefühl und Poesie – Ipek Demirtas führt mit ihrer bildreichen Sprache
durch die verschlungenen Pfade der Gedanken und Emotionen, an deren
Ende man auf eine einfache, endgültige Wahrheit trifft, mag sie Erlösung
oder Verderben bringen.

Das Grenzland der Gefühle, ihre Ränder, dort, wo sie von Hoffnung in Verzweiflung
umschlagen, in die Tiefe drücken, zu Schatten im eigenen Seelenlabyrinth werden, an
der Oberfläche verborgen von den Kulissen des ganz normalen, alltäglichen Lebens,
auf diesem Territorium entfaltet sich der psychologische Roman Die Skulptur.

In beinahe akribisch jede Tiefe seiner beiden Protagonisten auslotenden


Empfindungsprotokollen entfaltet sich die beklemmende Herrschaft verborgener
innerer Wahrheiten über zwei Menschen, die aufeinander getroffen sind, ohne je eine
wirkliche Chance gehabt zu haben, sich zu erreichen.

Liebe und Selbstaufgabe, äußerer Anschein und innere Wahrheit, das folgenreiche
Ineinandergreifen von Schicksalen, das Gefängnis eigener Gefühle und die Fesseln
der Vergangenheit, schließlich die unentrinnbare, wenn auch nie ganz einlösbare
Verantwortung von Menschen füreinander – das sind die Motive des Romans.

Ipek Demirtas schildert diese großen Gefühle mit einer Intensität und Klarheit, dass
man erschauernd auf den Grund der eigenen Seele blickt. Diese Geschichte lässt
einen nicht mehr los.

„Die Skulptur geht einer Frage nach, die wir uns selbst kaum zu stellen wagen: Was
passiert wenn unser Leben durch ein plötzliches Ereignis von nur noch einem
übermächtigen Gefühl beherrscht wird, das durch seine unbedingte Absolutheit
unser ganzes vordergründiges Sein zum Einsturz bringt? Dieser Roman ist
wunderschön und ‚Furcht’-bar zugleich, weil er Emotionen hervorruft, die wir alle
kennen, doch noch nie zuvor in einem solchen, fast ins Unerträgliche reichenden
Ausmaß erlebt haben.“ (Daniela Sechtig, Programmleitung ACABUS)
Die Autorin

Die Autorin kam 1967 im kurdischen Bergland Ostanatoliens zur Welt, verbrachte die
ersten sieben Lebensjahre dort bei Verwandten der Eltern in einem kleinen Dorf,
bevor sie dann von ihren Eltern in die Bundesrepublik nachgeholt und hier im
einfachen Gastarbeitermilieu groß wurde. Erst im Verlauf der Grundschulzeit
erlernte sie die deutsche Sprache.
Nach der schwierigen Trennung von ihrer Familie und später mehr oder weniger
auf sich allein gestellt, machte sie über den zweiten Bildungsweg Abitur. Von 1974 bis
1994 studierte (BWL) und arbeitete sie in Koblenz. Heute ist sie bei
einer der großen Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaften tätig, als Spitzenmanagerin
eines internationalen Konzerns und unterrichtet als freie Dozentin an der Universität
Dortmund.

„Als Kind kannte ich weder Elektrizität noch


fließendes Wasser und heute verbringe ich
einen Großteil meiner Zeit auf Geschäftsreisen
in Flugzeugen. Vielleicht ist die niemals zu
schließende Lücke dazwischen der Raum für
mein künstlerisches Interesse und eine nie
endende Suche nach dem Sinn“, sagt Ipek
Demirtas.

„Die Skulptur“ ist ihr Debütroman.


Ipek Demirtas beim Vortrag im Logenhaus, Hamburg, 06.01.2010
Ipek Demirtas – „Schreiben als Heimat“
Albert Camus sagte einst, „Wer seine Jugend und Heimat verloren hat, sucht
vergebens, wo er bleiben soll und wo er seiner Schwermut entfliehen kann.“

Und heute, weil ich den Sinn seiner Worte verstehe, weil ich selber und aus eigener
Erfahrung heraus fühle, was Camus damit gemeint und vielleicht selber gefühlt hat,
füge ich heute seinen Worten meine hinzu und sage: „Wenn es den Ort nicht mehr
gibt, den man als Heimat fühlen kann, dann gibt es nur die Chance, diesen Ort in sich
selbst zu finden ...“

Dieser Ort ist für mich heute das Schreiben geworden. Beim Schreiben wird eine Art
„Heimat-Gefühl“ in mir erweckt, das mir im wirklichen Leben und als bestimmter
Ort und Raum verwehrt geblieben ist.

Erst heute erkenne ich, dass schon immer zwei Wahrheiten und zwei Welten in mir
existiert haben: die äußere Welt und Wirklichkeit, die viel verlangten, um sie
aufzubauen und viel verlangen, um erhalten zu werden; und die innere Welt und
Wirklichkeit, die immer schon in mir waren, ohne dass ich sie früher schon
verstanden, überhaupt erkannt und erst recht in meinem Leben berücksichtigt hätte.

Aus heutiger Rückschau und Reflektion gab es bereits sehr früh Indizien für das
Vorhandensein jener Welten, die in mir leben und in mir sind:

Bereits als Kind habe ich oft meiner Familie angekündigt, dass ich schlafen ginge,
und habe mich eigentlich nur deshalb früh ins Bett gelegt, um dort in Ruhe
Geschichten zu phantasieren, und sie mir selbst zu erzählen.
Es war für mich zu einem Raum geworden, der einzige Raum, der allein mir gehörte,
in dem ich ungestört war und in der ich all das fand, was mir in der wirklichen Welt
fehlte: Liebe, Geborgenheit und Wärme ...

In jenen Geschichten wollte ich aus meiner so ganz anderen wirklichen Welt durch
den berühmten Prinzen gerettet werden. Aber irgendwann gefiel es mir nicht mehr,
dass ich von einem anderen gerettet wurde und bis zur Rettung nichts tun konnte, als
eben darauf zu warten. Ich habe also meine inneren Drehbücher umgeschrieben und
mich selber zur „Prinzessin sui generis“ gemacht.

Mit meinen Träumen und in meiner Phantasiewelt begann ein anderer Weg, der Weg
in eine andere fremde Welt, zu der ich hin wollte und die nicht meine eigene Welt
war. Nicht meine, nicht die meiner Familie, nicht die der weitaus meisten Menschen
meiner Herkunft. Zumal damals, vor fast 30 Jahren. Diese andere Welt war mir so
fern und schien so unerreichbar wie die Sterne. Aber weil ich diese Sterne sehen
konnte, wollte ich meinen Weg wenigstens in ihre Richtung lenken.

Mein Ziel war es, mich selber und aus eigener Kraft zur Prinzessin zu machen. Denn
frühe Erfahrungen haben mir schmerzhaft klar gemacht, dass man sich dabei nicht
auf andere verlassen oder stützen sollte. Und so habe ich dann als Kind meine Kräfte
gesammelt und ganz auf die Wirklichkeit gesetzt und konzentriert – und nicht mehr
auf die Phantasie. Mein Weg zu dieser anderen Welt begann mit dem Lernen und
Arbeiten, der einzigen Möglichkeit, die ich aus mir selbst schöpfen konnte.

Denn all das Phantasieren und auch mein damals noch kindlicher Glaube hatten
schließlich nicht geholfen. Lange Zeit hatte ich jeden Morgen gebetet, wenn ich zur
Schule ging und mittags, wenn ich von ihr kam und abends vor dem Schlafengehen:
„Lieber Gott, bitte mach mich schlau…“. Aber meine Schulleistungen in der
Grundschule blieben schlecht, ich stand außerhalb und wollte doch so gerne dazu
gehören, was auch kaum möglich war, denn ich sprach doch nicht einmal die Sprache
des Landes, in dem ich lebte. Ich fühlte mich abseits, verstand nichts von dem, dass
im Unterricht gesagt wurde, stand in den Pausen irgendwo allein und beobachtete die
anderen Kinder, wie sie spielten und lachten. Oft kam ich mir wie unsichtbar vor. Da
kein Zeichen von Gott oder Allah kam, nahm ich mein Schicksal nun selbst in die
Hand und begann zu lernen. Und im Grunde lerne ich heute noch ...

Das Lernen trug Frucht, und ich lernte nicht nur die Sprache. Ich wollte, wie ich es
nannte, „auf die andere Seite“, auf die Seite der Gebildeten und Wissenden. Und ich
wollte weg von dort, wo ich war. Und das bedeutete bereits damals, dass ich mich von
meiner Herkunftswelt, von meiner Familie, von meinen Wurzeln, zu entfernen
begann. Das geschah zunächst unauffällig, still, leise und langsam in mir, aber es war
der Beginn des dann vor allem durch meinen Beruf bestimmten Weges, der später
mein ganzes Leben prägen sollte.

Da mein Gefühl aber das war, dass ich so unendlich viel aufholen musste, weil ich so
lange abseits gestanden und so vieles versäumt hatte, lernte und arbeitete ich mehr
als andere. So funktionierte ich über Jahrzehnte, die Karriere kam, ohne dass ich sie
als solche angestrebt hätte. Eigentlich wollte ich nur dazugehören, zu dieser anderen,
einstmals so unendlich fernen, so unerreichbar erschienenen Welt auf „der anderen
Seite“.
Diese ganze Entwicklung, einst aus Sehnsucht und Angst geboren, der Sehnsucht,
woanders und ‚weranders’ zu sein; der Angst, in die Unsicherheit abzustürzen und
ohne Boden zu sein, diese ganze Entwicklung hat sich irgendwann verselbstständigt.
Längst war ich im übertragenen Sinne die „Prinzessin meiner Kinder-Träume“
geworden, aber die einmal in Gang gesetzte Maschine lief auf Hochtouren weiter, und
es war, als hätte ich vergessen, wo der Schalter war, um die einst selbst in Gang
gesetzte Maschine zumindest soweit herunterzufahren, dass ich nach allem zu mir
selbst kommen konnte.

Ich spürte immer intensiver, dass jene andere Welt, die andere Wahrheit in mir nach
Raum und Berücksichtigung verlangte. Es war eine Art unerträglichen Drucks, der
etwas immer deutlicher und lauter forderte: Endlich den Raum für die andere Welt,
die andere innere Wahrheit, die andere Seite, die ich ebenso bin und immer war.

Meine berufliche Wirklichkeit hat mit Zahlen zu tun, mit Daten, Fakten, geprägt von
immer höheren Anforderungen, von ständiger Zeitnot und zunehmender
Schnelligkeit, fast Atemlosigkeit… und zwischen all dem stellt sich in mir auch immer
wieder die Frage dem Sinn des Ganzen, und ich spüre wieder jene frühkindliche
Erfahrung der Vergänglichkeit, des plötzlichen Einbruchs des Absoluten, wenn der
Vorhang zerreißt und nur Schweigen übrig bleibt...

Heute bewege ich mich zwischen diesen zwei Welten auf meinem Weg, und irgendwie
ist immer nur ein Teil von mir anwesend, ist wirklich da, während ein anderer Teil
woanders ist… Nie bin ich ganz, nie irgendwo ganz ... und so bleibe ich stets
unterwegs und bin, egal wo ich bin, ein Fremder ...

Aber im Schreiben finde ich Trost, eine Art Erleichterung meiner Seele, die mich
erfüllt. Und damit begann sich jener andere Teil in mir wieder zu befreien.

Das Schreiben, das weiß ich heute, ist ein wesentlicher Teil meiner Bemühung,
anzukommen. Beruflich habe ich alles erreicht, was man erreichen kann. Ich habe
mir selbst bewiesen, dass ich aus eigener Kraft imstande war und bin, das einstmals
Unerreichbare zu erreichen und vielleicht noch mehr als das.

Aber trotzdem mich diese berufliche Welt bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit
in Anspruch nimmt, trotzdem mir meine Arbeit immer noch Spaß macht, trotzdem
ist es mir unvorstellbar, ohne den anderen Teil in mir, der sich nun in dem Roman
„Die Skulptur“ manifestiert hat, zu leben.
Leseprobe
Aus Kapitel 1:
Immer noch kommt ihr alles unwirklich vor. Was tut sie hier, in dieser fremden Wohnung?
Vor etwa drei Wochen hatte Warin tatsächlich begonnen, nach einer Wohnung zu suchen,
widerwillig, halbherzig, vielleicht nur, um noch weiter aushalten zu können, was nicht mehr
auszuhalten war: Seine Gleichgültigkeit, seine Kälte, seine Härte, an denen alles abzuprallen
schien, an der sie sich bis zur Selbstaufgabe verzehrte. Die Scham kam immer erst hinterher,
ein verspäteter Reflex, bedeutungslos, denn Liebe ist schamlos. Warin hatte
Zeitungsanzeigen durchgesehen, hatte Wohnungen gefunden, die vielleicht in Frage kamen,
sie aber nicht angesehen. Sie war zu ausgeschriebenen Besichtigungsterminen gegangen,
ohne dann aber die Häuser zu betreten. Sie suchte nicht wirklich, denn sie wollte nicht weg
von ihm. Schließlich, es war die allerletzte Reserve, die ihr noch geblieben war, schließlich
hatte sie ihm gesagt, dass sie ausziehen würde, wenn ... Wenn er doch nur bereit gewesen
wäre, ihr das Zeichen zu geben, nur ein kleines Zeichen, dass nicht alles umsonst war und
immer umsonst bleiben würde, wenn er sich doch nur bemüht hätte, ein ganz klein wenig ...
Aber er hatte es nicht getan, er war passiv geblieben, wie immer, er hatte ihr kein Zeichen
gegeben, er war stumm geblieben, wie immer, war aggressiv geworden, fast als wollte er sein
Schweigen gegen sie, gegen ihre Liebe verteidigen. Bis zu dem Moment, als sie es
angekündigt hatte, weil es das Letzte blieb, was überhaupt noch von ihr zu sagen war, nach
allem:
„Karl, ich werde ausziehen. Ich verlasse dich. Du willst es doch, ich spreche es nur für dich
aus, für uns ... Es hat doch keinen Sinn mehr.“ Ein paar Sekunden Stille. Sich über einen
Abgrund neigen, immer mehr, immer mehr, jetzt müsste der Andere einen halten, wenn er
einen jetzt nicht hielte, dann würde man stürzen, unrettbar, in den Abgrund, dann wäre alles
vorbei. Ein paar Sekunden Stille. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, den ersten Zug
gemacht. Und dann hatte er geantwortet, auf seine Art, mit monotoner, abwesender Stimme
und ohne jeden Ausdruck eines Gefühls:
„Gut. Aber wenn du gehen willst, aber dann tu es bitte auch zügig. Es kann ja so schwer
nicht sein, eine Wohnung zu finden.“ Und sie war gestürzt. Er hatte sie nicht gehalten, hatte
dicht bei ihr gestanden, den Abgrund gesehen, ihn sehen müssen, aber er hielt sie nicht. Ihr
war, als ob er sie noch gestoßen hätte, im Vorübergehen, beiläufig, wie ein lästiges Hindernis.
Warin war sprachlos gewesen. Seine Worte waren schlimmer als alle Enttäuschung, alle
Zurückweisung, alle Demütigung. Es war ihm vollkommen egal. Sie war ihm egal. So sehr,
dass er selbst bei ihren schlimmsten Auseinandersetzungen, wenn sie sich aus Leibeskräften
angeschrieen hatten, nie ausgerufen hatte, sie solle doch gehen, er wolle sie nicht mehr
sehen, aber jetzt, wo sie ihm ankündigte, ihn zu verlassen, tat er, als ginge ihn das weiter gar
nichts an, hätte es überhaupt nichts mit ihm zu tun: Sie will gehen, gut, nur dann bitte
schnell. Als ob sie gehen WOLLTE! Hatte er überhaupt je auch nur das Geringste begriffen?
Was war sie für ihn? Mit einem enerviert resignierten Satz stopfte er alle Gefühle, alle
Verzweiflung, alles, was sie erfüllte und zerriss, einfach in sie zurück, so, als wäre er der
Letzte, der damit auch nur das Geringste zu tun hatte und deshalb nicht davon behelligt
werden wollte. Wenn sie gehen wollte, gut, kein Problem, aber bitte schnell und geräuschlos.
Sie hatte sich umgedreht und die Wohnung verlassen, so wie sie war, voller Worte, die ihr
nicht einfielen, voller Tränen, die ihr nicht kamen, voller Wut, die kein Ventil fand,
fassungslos, überwältigt, wie davon gescheucht.

Aus Kapitel „Karl 1“:


Karl und Paul empfinden eine Geborgenheit, wie sie nur Kinder empfinden können, die
Geborgenheit im Augenblick, das Glück, einfach nur dazusein, jetzt und hier. Das Leben ein
Abenteuer, eine Entdeckungsreise, die Welt voll von Schätzen, die gefunden und bestaunt
werden wollen. Es gibt soviel zu wissen und zu lernen, jeden Tag so viele Gründe zu staunen
und sich zu freuen. Karl wünscht sich, dass auch der drei Jahre jüngere Paul, den er so lieb
hat, all das entdeckt, was er selbst schon entdeckt hat und noch entdecken will. Karl möchte,
dass er sich so über jeden neuen Tag freut, wie er sich über jeden neuen Tag freuen kann ...
Nein, er wusste doch nichts und konnte nichts wissen, dass sich die Geborgenheit, die der
kleine Paul jetzt, in diesem Augenblick empfand, von der seinen unterschied. Er wusste
nicht, dass diese Geborgenheit, die für ihn wie ein Schiff auf einem freien, unbegrenzten und
ruhigen Meer dahinglitt, für seinen Bruder eine kleine wunderbare Insel inmitten eines
düsteren, bedrohlichen und aufgewühlten Ozeans war, eine Insel, die er schon bald wieder
verlassen musste. Aber die kindliche Phantasie kann stark sein, verhängnisvoll stark, und
der kleine Paul ließ sich wie immer nichts davon anmerken, um das Glück und den Frieden
dieser Augenblicke mit seinem bewunderten großen Bruder nicht zu trüben. Auch wollte er
nicht, dass Karl traurig würde. Und das würde er bestimmt werden, wenn er nur wüsste.
Und die Traurigkeit würde alles überschwemmen, die kleine Insel, die herrlichen Stunden,
die vielen wunderbaren Ideen und Pläne seines Bruders. Aber er wusste ja nichts ...

„Also, wie ist das bei dir mit den Schutzengeln, Paul? Du machst dir ja richtig Gedanken
dazu ...“
Paul erschreckt ein wenig. „Ja ... Ich meine nein ... Ich meine nur, ich glaube vielleicht,
dass sie manchmal schlafen, weil sie müde sind, weil sie so viel zu tun haben und auch ´mal
ausruhen müssen“, sagt Paul. „Und ich glaube, dass mein Schutzengel oft sehr müde ist und
sehr viel schlafen muss ...“, fügt er so leise hinzu, dass Karl es gar nicht mehr ganz hört.
Jetzt ist Karl verblüfft: „Paulchen, Paulchen, aus dir wird mal ein Filosof!“
Und Karl lacht laut, denn das gefällt ihm sehr. Paul lacht auch, aber nicht so laut und
nicht aus ganzem Herzen. Auch sein großer Bruder hat keine Antwort darauf gewusst, ob
die Engel oder wenigstens ein paar von ihnen nicht doch auch manchmal schliefen. Aber er
will ihn nicht weiter damit bedrängen, ist froh, dass sie zusammen sind und dass sie bald,
sehr bald schon Musiker sein und überall auf der Welt Konzerte geben würden. Über die
Sache mit den Engeln würde er weiter nachdenken, heimlich, ganz für sich. Das ist auch
deshalb besser, weil Karl sonst vielleicht doch noch darauf kommen würde, was ihn so
bedrückt, was ihm so große Angst macht und was er doch nie erfahren soll. Karl darf nie
traurig sein, auch nicht wegen ihm.
Und Karl läuft vor ihm her, gerade so schnell, dass Paul trotz seines Humpelns, mit ihm
mithalten kann. „Komm´, wer zuerst zuhause ist ...!“
Er spurtet los und Paul hinterher. Am Ende lässt Karl ihn manchmal doch an sich
vorbeiziehen, nicht immer, das wäre zu auffällig, und sein kleiner Bruder soll auf die Male
stolz sein, bei denen er es schafft. So laufen sie das letzte Stück durch die friedlich
daliegenden schmalen Straßen nach Hause, an den geparkten Autos der Väter vorbei, und
aus den offenen Fenstern der Häuser dringen Stimmen, das Geräusch klappernden
Geschirrs. Vor ihrem Haus steht der kleine rotweiße Wagen des Vaters. Heute ist der kleine
Paul kurz vor seinem Bruder am niedrigen Gatter, verschwitzt und völlig außer Atem, stolz.
In solchen Momenten vergisst er, dass er humpelt, und er vergisst, dass er eigentlich gar
nicht zu diesem Haus gehen, schon gar nicht rennen will.

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