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Heiner Weidmann

FLANERIE, SAMMLUNG, SPIEL

Die Erinnerung des 19. Jahrhunderts


bei Walter Benjamin

Wilhelm Fink Verlag • München


Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der
wissenschaftlichen Forschung

Umschlagabbildung:
Paris: Galerie d'Orleans - Passage Choiseui. Passageraum, Blickrichtung Rue Saint
Augustin (1825-1827)

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Weidmann, Heiner:
Flanerie, Sammlung, Spiel: die Erinnerung des
19. Jahrhundens bei Walter Benjamin / Heiner Weidmann.
München: Fink, 1992
ISBN 3-7705-2744-5

ISBN 3-7705-2744-5
© 1992 Wilhelm Fink Verlag. München
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn

Bayerisch«

4
Staatsbibliothek
München
Inhaltsverzeichnis

Vorwort 9

Erster Teil

I. BAROCK, MINIATURMODELL DER MODERNE


1. Anlage des Trauerspielbuchs
Vorrede und Schluß 16
Der Hauptteil im Verhältnis zu Vorrede und Schluß 19
2. Darstellung der Allegorie
Experimentum crucis 25
Melancholie, Lektüre und Tod 27
Barocke Immanenz 29
Transzendenz durch Übertreibung der Immanenz 31
Katastrophenmodell 34
Schluß-Apotheose 36

II. DAS 19. JAHRHUNDERT: GROSSES MODELL


1. Lektüre-Strategie
Der moderne Allegoriker: Baudelaire 40
Gegen den Mythos 45
2. Anlage der Passagenarbeit
Erinnerung des 19. Jahrhunderts am Beispiel der
Architektur 49
Das Erwachen aus dem Traum des 19. Jahrhunderts -
und die Kindheit 55
„Politik" 57
Begriff der praktischen Erinnerung' 61
Erinnerungstheorie 65

Zweiter Teil

I. DER FLANEUR
Architektur und Flanerie, Sammlung, Spiel 71
Methode der Erinnerung 73
Anachronismus 75
6 Inhaltsverzeichnis

Der Schleier der Masse 77


„Kolportage-Phänomen des Raumes" 80
Die Stadt als Landschaft - und die Entstehung der
Detektivgeschichte 85
Die Straße als Interieur 90

II. DER SAMMLER


Lesen, Sammeln 93
Das sammelnde Kind 94
Der „destruktive Charakter" 97
Der Sammler als Historiker 99

III. DER SAMMLER, DER FLANEUR U N D


DIE ARCHITEKTUR
Wohnen im Gehäuse 102
Spuren hinterlassen 104
Spuren verwischen 107
Mobiliar und Kriminalistik 109

IV. DER SPIELER U N D DIE POLITIK


Politik als Spiel 114
Ein Wissen vom Kommenden 116
„Geistesgegenwart" 119
Geistesabwesenheit 124
Apologie und Kritik des Spiels 127

Dritter Teil

I. MODE U N D REVOLUTION
Aktuelle, praktische, kollektive Erinnerung 131
Revolutionsmode 134
Die ewige Wiederkehr des Gleichen - und das „Glück" . . . 137
Einmaligkeit 141

IL DIALEKTIK, ZWEIDEUTIGKEIT
Das „dialektische Bild" 144
„Goethes Wahlverwandtschaften" 147
Die Surrealismus-Kritik 153
Inhaltsverzeichnis 7

Abkürzungen 157

Anmerkungen 159

Literaturverzeichnis 173
Vorwort

Walter Benjamins „Passagenarbeit", 1927 aufgenommen und bei seinem Tod


1940 nicht abgeschlossen, ist der großangelegte Versuch einer Erinnerung
oder einer Lektüre des 19. Jahrhunderts, durchgeführt an der „Hauptstadt
des 19. Jahrhunderts", Paris. An der Wirklichkeit des Geschehenen sollte hier
erwiesen werden, „daß man das Wirkliche wie einen Text lesen kann" (V
580).' Die Form dieser Lektüre und Erinnerung wird in der folgenden Unter-
suchung dargestellt, und zwar im Aufriß der Sprach- und Erfahrungstheorie,
die man durchgehend in Benjamins Texten exponiert finden kann. Daß sich
die Theorie der Erfahrung mit der Theorie der Sprache bei Benjamin deckt,
wird die Untersuchung zeigen. In ihrem Zentrum steht erwartungsgemäß,
aber problematisch genug, das „Passagenwerk", dessen Status wie dessen
Umfang nicht leicht zu bestimmen ist. - „Das Passagenwerk" nannten die
Herausgeber den 1982 publizierten Band V der Gesammelten Schriften; von
der „Passagenarbeit" ist dagegen in Benjamins Briefen die Rede. Aber der
Band sollte das aller Voraussicht nach letzte von Benjamin Überlieferte
enthalten und mußte als das lange und vielversprechend angekündigte opus
magnum auf die höchsten Erwartungen treffen. Nun glaubte man das große
Werk über das 19. Jahrhundert, wenn auch in rohem, unfertigem Zustand,
endlich in Händen zu halten. Und im gewählten mißverständlichen Titel
drückt sich ein Wunschdenken aus; so werden die hier publizierten „Auf-
zeichnungen und Materialien" zum Passagenwerk von den Herausgebern
gelegentlich selbst schon als „Passagenwerk" bezeichnet.2 Adorno, der die
erste Richtung der Rezeption angibt, gesteht zwar zu: „Das Ganze jedoch
läßt sich kaum rekonstruieren", doch insinuiert er gleichzeitig, Benjamins
Verfahren sei Montage gewesen, gar nicht Konstruktion, - so daß es also auch
gar nichts zu rekonstruieren gäbe.3 Und er äußert als erster die Vermutung,
daß die Arbeit nicht nur wegen widriger äußerer Umstände, sondern not-
wendigerweise fragmentarisch geblieben sei.4
Was derart als ein unvollendetes und dennoch gültiges Werk präsentiert
war, das scheint heute durch die Entdeckung weiterer Handschriften, welche
Giorgio Agamben bereits 1981 in der Bibliotheque Nationale gelungen ist,
ziemlich entwertet.5 Und man hat nun den Eindruck, unermeßlichen Scha-
den habe Adornos berühmter Brief vom 10. November 1938 angerichtet,
worin „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire" einer vernichtenden
Kritik gewürdigt wird. Dieses Expose, das Benjamin in der Hoffnung auf die
allernötigste finanzielle Unterstützung dem Institut für Sozialforschung ein-
reichte, stellt den mittleren von drei Teilen eines Werks dar, das er als „ein
10 Vorwon

sehr genaues Modell der Passagenarbeit" (BS 279) aus den gesammelten
Notizen zu verfertigen begonnen hatte. Dieses führte er aber nach Adornos
faktischer Zurückweisung nicht weiter aus, sondern erstellte aus dem Kapitel
„Der Flaneur", wiederum dem mittleren der drei Teile des eingesandten Teils,
den Text „Über einige Motive bei Baudelaire", der nun allerdings in New
York begeistert aufgenommen wurde.6 Doch ungerechtfertigt findet man
heute Adornos Kritik: Wenn Benjamin gegenüber dem schweren Vorwurf
des Theorie-Defizits nur erst fast flehentlich auf die ausstehende Konstruk-
tion des ganzen Buches verwies, so zeichnet sich nun diese in den aufgefun-
denen Skizzen und Plänen ab, und man kann erkennen, wie gewaltsam kühn
und präzis berechnet die „Aufzeichnungen und Materialien" im weiteren
noch hätten verwendet werden sollen.
Aber ebenso wie diese „Aufzeichnungen und Materialien" bisher als un-
vollendetes, vielleicht sogar unvollendbares Werk überschätzt worden sind,
drohen sie nun unterschätzt zu werden als bloßer „Dokumentationsfundus" 7
für ein Werk, das daraus einmal hätte geschrieben werden können, aber leider
nie geschrieben worden ist und das auch noch nicht einmal im entferntesten
Gestalt angenommen hat. Beiden Auffassungen gemeinsam ist die fixe Idee
des endgültigen ,Werks', auch wenn sich dieses im zweiten Fall nun so weit
entzieht, daß das Interesse daran bald schwinden muß. 8 Dagegen wird im
folgenden darauf insistiert, daß die „Passagenwerk"-Notizen auch noch an-
ders lesbar sind: nämlich eben als „Passagenarbeit". Zwar kann ,Arbeit' das
Resultat eines Arbeitsprozesses bedeuten, aber auch und vor allem diesen
selbst, wie er sich nicht erst im Ergebnis erfüllt. Eine so verstandene Arbeit
kann man nur in der Weise beschreiben, wie man eine Bewegung .beschreibt',
indem man sie nämlich nach- und mitvollzieht; und dann wird es tatsächlich,
wie Susan Buck-Morss für ihre Darstellung des „Arcades Project" zugibt, nur
noch schwer zu unterscheiden sein, ob dieses nun entdeckt wird oder erfun-
den.9
Der Arbeitsprozeß löst sich nicht im Ergebnis auf: Denn das überlieferte
Material ist keineswegs nur tauber, amorpher sprachlicher Werkstoff, der
seiner definitiven gedanklichen Bemächtigung harrt. Es besteht aus Meta-
phern, die mehr und anderes sind als bloß brauchbare Mittel zur Darstellung
von Theorie: Sie bringen erst zur Evidenz und lassen erst denken, was dann
als theoretische Einsicht unablösbar von ihnen bleibt. Darum hält man sich
auf der Spur einer ,Theorie' bei Benjamin besser an Worte und Wörter denn
an Begriffe und Konzepte.10 Die Einsicht in die literarische Qualität philoso-
phischer Texte bewährt sich hier.11 Erfahren wird die Unersetzlichkeit der
Metaphorik im Zwang, wortwörtlich zu zitieren, dem sich die Benjamin-In-
terpreten ausgesetzt finden und dem sie oft nur allzu bereitwillig erliegen.
Und in Benjamins Texten schon häufen sich Selbstzitate, - wobei dieses
.Selbst' aber nicht einen Autor meinen kann, welcher souverän gestaltend
über sein Material verfügt. Immer wieder tun sich in der Sprache unvorherge-
sehen die Widersprüche auf und beginnen die Ambivalenzen zu spielen,
welche die Theorie niemals wie eine Rechnung aufgehen lassen und sie
Vorwort 11

letztlich erst lesenswert machen: „c'est le theätre de tous mes combats et de


toutes mes idees" (B 506).
Die theoretische Anlage der Passagenarbeit soll hier dargestellt werden.
Dabei wird unter /Theorie' nicht etwas verstanden, was sich dem Sprachma-
terial noch von außen hätte einprägen müssen, damit es lesbar geworden
wäre; ,Theorie' heißen die Denkfiguren und begrifflichen Muster, die sich
sprachlich bilden, doch auch auflösen, die klar und zugleich, wegen der
untilgbaren Uneindeutigkeit der Sprache, wieder unklar werden. Eine solche
Darstellung ist einzig durch das Lesen vorliegender Texte zu leisten; aber
welcher? Es trägt zur Schwierigkeit dieser Arbeit bei, daß ein Korpus der in
Frage kommenden Texte kaum eingrenzbar ist. Zu den „Aufzeichnungen
und Materialien", Entwürfen und Exposes im Band V der Gesammelten
Schriften kommt zweifellos noch alles hinzu, was zum Projekt des Baude-
laire-Buches gehört. Dieses stelle ein „Miniaturmodell" (B 750) der Passagen-
arbeit dar; und „Der Surrealismus" sei „ein Paravent vor den >Pariser Passa-
gen^' (B 491); und „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-
zierbarkeit" stehe zwar „stofflich in keinem Zusammenhang mit dem großen
Buch, [...] methodisch aber im engsten" (B 700). So müssen immer weitere
Texte, bis zum spätesten, „Über den Begriff der Geschichte", mitgelesen sein.
Und nicht einmal ein ,Frühwerk' kann man bequem - mithilfe einer ange-
nommenen ,Wende' im Werk, nach dem Muster „From Messianism to Mate-
rialism"12 - zurücklassen, weil auch Frühes noch ganz spät herangezogen
und zitiert wird.
Wenn in dieser Untersuchung nun bestimmten Wörtern und Sätzen, wie
sie in verschiedenen Texten und Kontexten wörtlich wiederkehren, nachge-
gangen wird, so geschieht das nicht in der Meinung, diese Wiederholung sei
per se Bestätigung und es verfestigten sich so nur die zentralen Begriffe einer
durchgehend kohärenten Theorie. Vielmehr ändert das im Wortlaut Wieder-
holte oft genug seinen Sinn, evident scheinende Unterscheidungen fallen
zusammen oder verkehren sich, und das interessiert hier schließlich: was der
Theorie unversehens durch das sprachliche .Material', welches ihr nur ver-
meintlich zur Verfügung steht, widerfährt. Was bisher zum Passagenwerk
erschienene Sekundärliteratur häufig schwer lesbar macht, ist ein mimeti-
sches Einverständnis mit Benjamins Text, dem sie sich elegant und gestaltlos
anschmiegt, zitierend auch dann noch, wenn die Anführungszeichen einmal
fehlen; da ist alles längst verstanden und auch das Bemerkenswerteste schon
irgend einmal flüchtig gesagt. Die Zitate häufen sich allerdings auch hier,
aber sie sollen dazu dienen, begriffsstutziger auf den entstehenden Wider-
sprüchen solange zu beharren, bis sie vielleicht plötzlich verschwinden in
einer Dialektik, der man einen guten Dienst erweist, wenn man sie - nach
Benjamins Beispiel - nicht sofort als .Dialektik' etikettiert.13 Denn Dialektik
ist bei Benjamin weniger eine Technik, die der Denkende anwenden kann, als
vielmehr die Art und Weise, wie ihm das Denken oft genug gegen seinen
eigenen Willen mitspielt.
Diese Darstellung der Passagenarbeit setzt, ohne auf einen linearen werk-
12 Vorwort

geschichtlichen Progreß abzustellen, im weiteren Kontext an. Ihre Haupt-


linien werden am „Ursprung des deutschen Trauerspiels" gewonnen und
abschließend noch einmal auf „Goethes Wahlverwandtschaften" zurück-
geführt. Und solcher großer Linien bedarf es angesichts der Sogwirkung
des Materials. Denn sich „in die Exzerpte einlesen und von fast jedem
angeben können, was Benjamin daran jeweils fasziniert haben muß", 14 ist
das eine, was man leisten muß, aber auch wieder daraus herausfinden, das
andere.
Gegen die Überwältigung durch das Material hilft nur seine reduktive
Bewältigung. Schon bei Benjamin findet sich diese Unterscheidung eines
gewaltlosen Lesens und eines gewaltsamen, das jenes auffangen muß, und
dieses letztere heißt oft „Konstruktion". Nur eine riskante und zweckmäßig
reduktive Konstruktion kann diese Untersuchung vor nach-schöpferischer
Beliebigkeit schützen. Und sie sei hier vorweg skizziert:
In Benjamins Texten wird eine Theorie der Erfahrung exponiert, deren
sprachlicher Charakter niemals vergessen geht, und zwar exponiert in einer
Differenz: Zwei völlig gegensätzliche Arten von Sprache und Erfahrung
werden unterschieden, was sich immer wieder in der Form einer Geschichte
so darstellt, als habe Sprache, Erfahrung irgend einmal - im 19. Jahrhundert -
eine radikale strukturelle Veränderung durchgemacht; es handelt sich um die
diskontinuierliche Geschichte der .Moderne'. So steht denn Benjamin auch
hinter den vielen heute beliebten Erfahrungs-Geschichten, in denen regelmä-
ßig mit einem Erfahrungsbruch im 19. Jahrhundert gerechnet wird.15 Der
Benjamin-Leser kennt eine ganze Liste einschlägiger Oppositionen: Die „Er-
fahrung" verschwindet, und nur das „Erlebnis" bleibt übrig; mit dem „Er-
zählen" geht es zu Ende, und an seine Stelle tritt die „Information"; die
„Aura" verkümmert, stattdessen wird die Wahrnehmung durch den
„Chock" geformt... Das sind offensichtlich lauter Varianten einer altbe-
kannten und tief vertrauten Differenz: Das Natürliche wird dem Technischen
entgegengesetzt, das Kontinuierliche dem Abrupten, das Notwendige dem
Arbiträren, das Totale dem Fragmentarischen.16 Und das Erstere gilt in der
Tradition dieser Unterscheidung regelmäßig als das Ursprüngliche, auch
zeitlich Erste, und behauptet Priorität. In dieser Untersuchung wird das
Differente beziffert mit I und II; beziffert, nicht benannt, weil jede Benen-
nung nur wieder eine einzelne Variante dieser Differenz sein könnte. Und die
Bezifferung macht offensichtlich und läßt keinen Augenblick vergessen, daß
sie nun allerdings eine massive Simplifikation ist, die aber ihren bestimmten
heuristischen Wert haben kann, wenn sie weit tiefer, als es unbefangenes
Zusehen vermag, in die Schwierigkeiten hineinführt und diese darstellbar
macht. Wenn man sich nicht schon im voraus vor der Vereinfachung scheut,
sondern an der klaren Unterscheidung von I und II festzuhalten versucht,
dann kann man sehen, wie sie sich untergräbt und grundlos wird, weil die
Gegensätze umschlagen, umkippen und zur Deckung gelangen. Wenn sich
die Simplifikation zuletzt nicht festgesetzt, sondern erhellend wieder aufge-
löst hat, hat sie den Zweck erfüllt.
Vorwort 13

Simplifiziert wird vorerst auch die Annahme erscheinen, daß der Begriff
der sprachlich verfaßten .Erfahrung' bei Benjamin gleichzusetzen ist mit
.Lektüre' und mit .Erinnerung'. Sie muß sich bewähren, zum Beispiel da-
durch, daß sie bequeme und irreführende Ansichten verhindert wie die, in
der Passagenarbeit werde das 19. Jahrhundert als eine vergangene, als die
jüngstvergangene Epoche beschrieben und in dieser habe sich eine grundle-
gende Veränderung der Erfahrung, nämlich der Wechsel von I zu II, unwi-
derruflich vollzogen. ,19. Jahrhundert' bezeichnet bei Benjamin, wie schon
,Barock', keineswegs den Zeitraum, in dem eine defiziente moderne Erfah-
rung die ursprüngliche, totale und komplette abgelöst hat, sondern den
Spielraum, in dem der Widerstreit von beiden noch ausgetragen wird und
längst nicht entschieden ist. Dieses 19. Jahrhundert ist mögliche, aber nicht
realisierte Moderne. Hätte die Erfahrung I nur einfach der Erfahrung II
nachgegeben, dann könnte man ihr nostalgisch nachhängen, aber sie droht
im Gegenteil im 20. Jahrhundert Benjamins endgültig - im Faschismus - zu
siegen. Den Faschismus faßt Benjamin als die Durchsetzung des ,Mythos'
auf; und .mythisch' heißt die ambivalent trostlos-vollkommene Erfahrung I.
Darum ist die Passagenarbeit auch der Versuch, nicht das 19. Jahrhundert nur
als vergangenes zu erinnern, sondern es erst einmal vergangen zu machen.
Das kann nicht durch Vergessen geschehen, nur durch Erinnerung. Weil
das 19. Jahrhundert in der Illusion, man habe es fortschrittlich hinter sich
gelassen, erst recht weitergeht, erscheint als letzter Ausweg nur noch eine
tiefste Versenkung in es, welche oft genug wie seine bloße Perpetuierung
aussieht. Die Passagenarbeit vergegenwärtigt das 19. Jahrhundert nicht bloß
in seinen eigenartigen Gegenständen, sondern in seinen spezifischen Formen
von Erfahrung, das heißt von Lektüre und Erinnerung, und zwar so, daß
diese Formen dabei selbst noch einmal zur Anwendung kommen. So findet
man die Darstellung im Dargestellten präformiert. Als exemplarische Erfah-
rungen des 19. Jahrhunderts, welche die Gestalt von Erinnerung und Lektüre
haben, erscheinen in der Passagenarbeit Flanerie, Sammlung, Glücksspiel;
und zugleich ist diese selbst als Flanerie, als Sammlung, als Spiel angelegt.
Immer handelt es sich hier um die ,alte' Erfahrung I, die aber die entgegenge-
setzte, sie ausschließende ,neue' Erfahrung II erstaunlicherweise in sich ent-
hält. Denn nur als plötzlicher dialektischer Umschlag ist der Anfang der
Moderne bei Benjamin denkbar: nur als .Revolution'.
Die Architekturmoderne erscheint in der Passagenarbeit als eine solche
mögliche Revolution, die - in einer wichtigen Metapher Benjamins - das
Bestehende durch die Sprengung der in ihm seit langem enthaltenen Ladung
auf einmal zerstörend verändern kann. Denn so entschieden die Architektur
des 20. Jahrhunderts mit der des 19. bricht, sie realisiert dabei doch nur deren
eigenste Möglichkeiten. So steckt etwa in der Passage, dieser typischen und
zu Benjamins Zeit altmodisch gewordenen und überholten Bauform des 19.
Jahrhunderts, schon das Prinzip der modernen, im größten Gegensatz dazu
stehenden Bauweise eines Le Corbusier; und sie wird zum Bild für das 19.
Jahrhundert, welches selbst passagenförmig ist, weil es sich an seiner inner-
14 Vorwort

sten, ausweglosesten Stelle doch schon als Durchgang und Ausgang aus ihm
hinaus aufgetan hat. Diese Geschichte der Architektur wird - als Geschichte
nicht nur architektonischer Gegenstände, sondern der an sie gebundenen
Erfahrung also - zu einem beherrschenden Thema der Passagenarbeit, wie im
folgenden deutlich wird. Was sich an der Architektur erweist: daß eine
Revolution als Erinnerung zu denken ist, daß Einmaligkeit Wiederholung
sein muß und ein tatsächlicher neuer Anfang nicht in der entschiedensten
Abkehr, wohl aber vielleicht in der kompromißlosen Hinwendung zum
Vergangenen gewonnen werden kann, das läßt sich auch an der Mode zeigen.
Obwohl dieses Thema die Passagenarbeit nur in vielen Anspielungen durch-
zieht, kann sein theoretischer Ort hier genau bestimmt werden: Die Mode,
ein Phänomen des 19. Jahrhunderts, ist Wiederholung in Form von Einmalig-
keit, Erinnerung von äußerster Aktualität, und sie wird bei Benjamin aufge-
wertet zum Modell einer immerzu, wenn auch niemals wirklich sich vollzie-
henden Revolution.
Daß Lektüre und Erinnerung, nach dem Beispiel des Wahrnehmens von
Architektur und des Mitmachens von Mode, revolutionär sei nicht nur in
einem übertragenen Sinn, das vermag Benjamin als immerhin nicht ausge-
schlossen zu erweisen, indem er das Lesen aus seinem Gegensatz zum Han-
deln befreit und auf Formen einer nicht-kontemplativen Wahrnehmung re-
kurriert. Der Begriff einer .praktischen Erinnerung' und eines Lesens, das
sich unmittelbar als Handlung realisiert, wird in dieser Untersuchung ausge-
arbeitet. Dadurch werden lange diskreditierte Formen moderner Erfahrung
neu einschätzbar, und was man für das Gegenteil von Wahrnehmung genom-
men hat, erweist sich als ein eigenes, leistungsfähiges Bemerken - im Modus
der Unaufmerksamkeit. Einschlägige Beispiele für handlungsförmige Erin-
nerung und Lektüre sind wiederum Architekturwahrnehmung und Mode-
verhalten oder Flanerie, Sammlung, Spiel. So führt die Darstellung dieser
Lesepraktiken ein in Benjamins Lektüre-Theorie und -Praxis, die die Span-
nungen einer beginnenden, aber nicht begonnenen Moderne aushält.
Diese Untersuchung konnte ich dank einem Nachwuchsstipendium des Schweizeri-
schen Nationalfonds durchführen, das mir die Forschungskommission der Hoch-
schule St. Gallen zugesprochen hat. Es ermöglichte mir Studienaufenthalte an der
Yale University, New Haven, und in Paris; mein wissenschaftlicher Betreuer war Prof.
Johannes Anderegg. Ich danke ihm, und ich danke allen, die mich während dieser
Arbeit gefördert haben, namentlich Prof. Hans-Jost Frey, Prof. Christiaan L. Hart
Nibbrig, Prof. Peter Hughes und Prof. Anselm Haverkamp. In die Literaturwissen-
schaft ein- und bis heute weitergeführt haben mich Dr. Guido Schmidlin und Prof.
Eleonore Frey. Am meisten habe ich den direkt von dieser Arbeit Betroffenen, Dr. Pia
Holenstein und unserer Laura, zu danken.
Erster Teil

Albrecht Dürer, Melencolia I (1514) Paul Klee, Angelus Novus (1920)


I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

1. ANLAGE DES TRAUERSPIELBUCHS

Vorrede und Schluß

In Walter Benjamins „Ursprung des deutschen Trauerspiels"17 kann man


stark vereinfachend zwei Textebenen unterscheiden. Auf einer Ebene (1) liegt
die wegen ihrer Schwierigkeit berühmte „Erkenntniskritische Vorrede". Auf
der anderen Ebene (2) der zentrale Teil, die Abhandlung über das deutsche
Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. Deren Schluß aber springt auf die Ebene der
Vorrede zurück, nachdem ausdrücklich wieder eine andere, die frühere theo-
logische Redeweise angekündigt worden ist.18 Oft wörtlich nimmt der
Schluß den Aufsatz von 1916 „Über Sprache überhaupt und über die Sprache
des Menschen" auf; und die Vorrede bezeichnet Benjamin in einem Brief an
Scholem einmal salopp als „so eine Art zweites, ich weiß nicht, ob besseres,
Stadium der frühen Spracharbeit, die Du kennst, als Ideenlehre frisiert"
(B 372).
Auf der Ebene (1), der Ebene der frühen, theologisch verfaßten Sprach-
theorie, auf welche neben dem genannten Aufsatz auch „Die Aufgabe des
Übersetzers" gehört, geht es immer um die Unterscheidung von intentional-
instrumenteller und nichtintentional-medialer Sprache, von Sprache, die et-
was, nämlich etwas anderes, außer ihr, mitteilt, die etwas bedeutet, bezeich-
net und mittelbarer Erkenntnis dient, und Sprache, die unmittelbar Erkennt-
nis, die reine Selbstmitteilung wäre. Der Versuch, diese Unterscheidung zu
treffen, nimmt in (1) wie von selbst die Form einer Geschichte an, der
Geschichte vom Anfang und der nicht zu verhindernden Entfernung vom
Anfang, vom Heiligen und seiner Profanierung, vom Paradies und vom
Sündenfall: Es ist paradigmatisch die biblische Genesis-Erzählung, mit der
hier eine reine Sprache behauptet wird, ganz in der Tradition der Lehre von
der adamitischen Sprache, die Benjamin über Hamann, von Baader, Molitor
aufnimmt.19
Im frühen Sprachaufsatz erscheint die problematische Unterscheidung an
zwei Stellen. Erstens wird die Verstoßung aus dem Paradies als das Äußer-
lich- und Mittelbarwerden der Sprache aufgefaßt: Daß das Wort etwas, etwas
anderes und ihm Äußerliches mitteilen soll, das sei der Sündenfall. Zweitens
wird diese Auffassung, daß das Wort etwas mitteile, als eine bestimmte,
nämlich die herrschende Sprachtheorie bezeichnet und diffamiert. Aber wie
1. Anlage des Trauerspielbuchs 17

kann man sie denn widerlegen, wenn es doch diejenige Theorie darstellt, die
auf die Sprache nach dem Sündenfall, auf unsere Sprache also, ganz genau
paßt? In der forschen Redeweise, die für (1) bezeichnend ist, heißt es einmal
souverän und wie abschließend: „Damit kann die Vorstellung nicht mehr
aufkommen, die der bürgerlichen Ansicht der Sprache entspricht, daß das
Wort zur Sache sich zufällig verhalte, daß es ein durch irgendwelche Konven-
tion gesetztes Zeichen der Dinge (oder ihrer Erkenntnis) sei. Die Sprache gibt
niemals bloße Zeichen." (II 150) Kurz darauf wird der Sündenfall so darge-
stellt: „Indem der Mensch aus der reinen Sprache des Namens heraustritt,
macht er die Sprache zum Mittel (nämlich einer ihm unangemessenen Er-
kenntnis), damit auch an einem Teile jedenfalls zum bloßen Zeichen" (II 153).
Damit ist der Satz, daß die Sprache niemals nur „bloße" Zeichen sei, wider-
rufen: Sie ist also immer auch Zeichen, und zwar bloße Zeichen, immer
auch - da hilft die bemühte Abschwächung „auch an einem Teile jedenfalls"
nicht mehr viel - nichts als Zeichen. Jene bürgerlich genannte Sprachauffas-
sung kommt also sofort wieder auf. Sie ist nicht durch eine bessere schlicht-
weg zu ersetzen: „Die Sprache gibt niemals bloße Zeichen. Mißverständlich
ist aber auch die Ablehnung der bürgerlichen durch die mystische Sprach-
theorie. Nach ihr nämlich ist das Wort schlechthin das Wesen der Sache" (II
150).
Genau das wird im Sprachaufsatz allerdings behauptet: daß das Wort das
Wesen der Sache sei. Aber beides soll doch wieder nicht so geradewegs, wie
behauptet, und nicht „schlechthin" dasselbe sein. Es kommt zu sonderbaren
methodischen Veranstaltungen. Schnell und unvermittelt wird aufs Ganze
und Letzte gegangen, und es soll doch künstlich noch ,Methode', ein Umweg
und eine Verzögerung, eingeschaltet sein. Ob aber dieses tiefsinnige Reden
damit dem Abgrund, auf den es zuhält, noch entgehen kann? „Die Ansicht,
daß das geistige Wesen eines Dinges eben in seiner Sprache besteht - diese
Ansicht als Hypothesis verstanden, ist der große Abgrund, dem alle Sprach-
theorie zu verfallen droht, und über, gerade über ihm sich schwebend zu
erhalten ist ihre Aufgabe." (II 141) Denn ein Unterschied zwischen sprachli-
chem und geistigem Wesen sei nicht bloß trivial, sondern auch für eine
Sprachtheorie überhaupt konstitutiv, und „die oft behauptete Identität" von
beidem - Hamanns „Vernunft ist Sprache, lögos"20 - sei deshalb eine Parado-
xie, die ganz unlösbar bleibe am Anfang einer Sprachtheorie, in ihrem Zen-
trum aber Lösung sei. Nachdem so am Anfang schon gesagt ist, was im
Zentrum und erst dort gesagt sein soll, läßt sich diese mystische Sprachtheo-
rie nun herab, mit der Differenz von sprachlichem und geistigem Wesen zu
beginnen: „Das geistige Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, nur sofern
es mitteilbar ist" (II 142), - und schon geht, oder eher springt und stürzt der
Aufsatz in direktester Linie auf den Satz zu: „Es wird das geistige Wesen also
von vornherein als mitteilbar gesetzt" - tatsächlich von vornherein gesetzt:
als Hypothesis - „und die Thesis: das sprachliche Wesen der Dinge ist mit
ihrem geistigen, sofern letzteres mitteilbar ist, identisch, wird in ihrem > so-
fern < zu einer Tautologie" (II 145).
IS I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

Das Tauerspielbuch, in dessen Vorrede und Schluß der Sprachaufsatz wie-


der aufgenommen wird, ist dagegen ein ganz anderer, groß angelegter und
nicht so kurzgeschlossener Versuch, Sprache als medial und nicht-instru-
mentell geltend zu machen. Die programmatische „Vorrede"21 soll klar ma-
chen, „wie unterschieden Wahrheit von dem Gegenstande der Erkenntnis,
den man ihr gleichzusetzen sich gewöhnt hat, ist" (I 211). Das Trauerspiel-
buch wird als ein philosophisches Unternehmen präsentiert, denn: „Immer
wieder wird als eine der tiefsten Intentionen der Philosophie in ihrem Ur-
sprung, der Platonischen Ideenlehre, sich der Satz erweisen, daß der Gegen-
stand der Erkenntnis sich nicht deckt mit der Wahrheit" (I 209); darum bietet
die Vorrede auch eine Ideenlehre en miniature. Erkenntnis ist ein Haben,
Wahrheit wäre ein Sein. Die Erkenntnis hat ihren Gegenstand durch den
„Begriff", die Wahrheit ist in der „Idee" gegeben. Dem eigenmächtigen
Erkennen gegenüber steht als das nicht-intentionale, der Wahrheit gemäße -
aber nicht im Sinn einer adaequatio gemäße - Verhalten die philosophische
„Kontemplation", die unwillkürlich die Idee sich geben läßt.22 „Wahrheit
tritt nie in eine Relation und insbesondere in keine intentionale.23 Der Ge-
genstand der Erkenntnis als ein in der Begriffsintention bestimmter ist nicht
die Wahrheit. Die Wahrheit ist ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein.
Das ihr gemäße Verhalten ist demnach nicht ein Meinen im Erkennen,
sondern ein in sie Eingehen und Verschwinden. Die Wahrheit ist der Tod der
Intention." (I 216)
Die „Ideenlehre" der Vorrede ist lediglich schulmäßige Wiederholung,
reichlich simplifiziert, jedoch unter dem neuen Vorzeichen des „sprachlichen
Charakters" der Wahrheit (I 218). Sie stellt jetzt eine Sprachtheorie vor. Es
gehe um „den Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen" (I 207). Die
„Idee" ist nämlich nichts anderes als ein Wort; so sei es in der Philosophie seit
jeher „um die Darstellung von einigen wenigen, immer wieder denselben
Worten - von Ideen" gegangen (I 217). Die Idee ist sprachlich, ein Wort -
doch muß man präzisieren: ein Wort, insofern es nicht etwas bezeichnet,
bedeutet, mitteilt, meint, insofern es nicht intentional ist; denn offenkundig
hat ein Wort doch Mitteilungs- und Bedeutungscharakter: „Die Idee ist ein
Sprachliches, und zwar im Wesen des Wortes jeweils dasjenige Moment, in
welchem es Symbol ist. Im empirischen Vernehmen, in welchem die Worte
sich zersetzt haben, eignet nun neben ihrer mehr oder weniger verborgenen
symbolischen Seite ihnen eine offenkundige profane Bedeutung. Sache des
Philosophen ist es, den symbolischen Charakter des Wortes, in welchem die
Idee zur Selbstverständigung kommt, die das Gegenteil aller nach außen
gerichteten Mitteilung ist, durch Darstellung in seinen Primat wieder einzu-
setzen." (I 216f.)
Die Idee ist ein Wort. Aber das kann nur ein „Moment", eine „Seite", ein
„Charakter" des Wortes sein, denn dieses ist auch, und vor allem, Begriff.
Das Wort als nicht-zeichenhaftes, als ,Symbol', muß unterschieden werden
von demselben, aber zeichenhaften Wort - wie man leicht erraten kann: von
der Allegorie. (Aber die Ebene (1) bleibt im Trauerspielbuch von der Ebene
1. Anlage des Trauerspielbuchs 19

(2), welche der Allegorie reserviert ist, so strikt getrennt, daß in der Vorrede
nicht einmal dieser Begriff vorkommt.) Die Unterscheidung nimmt auch in
dieser Passage die wohlbekannte Form einer Profanierungsgeschichte an: Die
Zersetzung des Wortes als Begriff ist geschehen, nötig wäre nun die Wieder-
einsetzung des Wortes als Idee in seinen „Primat"; das Erste nach Wert und
Rang erscheint auch als das Früheste, Anfängliche.
Das Wort als Idee ist „Name". Als Namen, im Sinn des Sprachaufsatzes,
seien die Ideen gegeben; und Namen sind dabei nicht eine bestimmte Klasse
von Worten - das wäre eine „Ursprache", die es aber nicht gibt, Sprache der
Offenbarung -, sondern die Worte selbst, so wird erzählt, waren einmal, ganz
am Anfang, Namen - in einem „Urvernehmen" (I 216). Darum kann die
Philosophie - im Sinn der Vorrede - kein schöpferisches Benennen sein, und
sie erreicht nichts mit neuen Terminologien, sondern restaurativ soll sie
Erneuerung des Namens im Wort, Erinnerung an jenes Vernehmen des Wor-
tes im Namen sein, das ursprünglich genannt wird, weil man sich denken
kann, daß jedes Wort das allererste Mal, da es ausgesprochen wurde, noch ein
Name gewesen sein muß; wobei aber schon dieses erste, adamitische Benen-
nen auch schon vernehmend war und nicht rein schöpferisch. So setzt die
Vorrede Adam an die Stelle von Piaton ein, weil die eigentlich philosophische
Aufgabe, die Ideen sich geben zu lassen, im Vernehmen des Namens im Wort
besteht; gelöst werde sie in der „Betrachtung", in der „Kontemplation": so
„löst in der philosophischen Kontemplation aus dem Innersten der Wirk-
lichkeit die Idee als das Wort sich los, das von neuem seine benennenden
Rechte beansprucht" (I 217). Auf der Textebene (1) wird eine eingeweihte
Sicherheit demonstriert, die aber Zweifel daran, ob die Aufgabe gelöst werde
oder auch nur lösbar sei, doch nicht verhindern kann. An großartigen Wen-
dungen fehlt es nicht. Wie im Sprachaufsatz ganz zuversichtlich behauptet
wird, keineswegs brauche man „in der Perspektive des Unaussprechlichen
zugleich das letzte geistige Wesen" zu sehen, im Gegenteil, weil das geistige
gleich dem sprachlichen Wesen sei, gelte: je geistiger, desto ausgesprochener,
und: „das Ausgesprochenste zugleich das reine Geistige" (II 146), ebenso
erstaunlich unbekümmert heißt es in der Vorrede: „Eine Wissenschaft, die
sich im Protest gegen die Sprache ihrer Untersuchungen ergeht, ist ein Un-
ding. Worte sind, neben den Zeichen der Mathematik, das einzige Darstel-
lungsmedium der Wissenschaft und sie selber sind keine Zeichen. Denn im
Begriff, als welchem freilich das Zeichen entspräche, depotenziert sich eben
dasselbe Wort, das als Idee sein Wesenhaftes besitzt" (I 222). Also: Worte
„selber sind keine Zeichen", obwohl „freilich" ein Wort, und „eben dasselbe
Wort", Zeichen ist . . .

Der Hauptteil im Verhältnis zu Vorrede und Schluß


Zu bestimmen ist jetzt die Relation der Textebenen (1) und (2). Die Bestim-
mung durchläuft drei Stufen: Zuerst wird das Verhältnis als das gegenseitiger
20 I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

Ausschließung (a) gefaßt, dann als Identität (b), schließlich als ein Verhältnis,
das am besten zu vergleichen ist mit dem von Rahmen und Bild (c).

a.

Das allegorisierende Lesen, dessen Darstellung die Ebene (2) einnimmt, ist
das genaue Gegenteil der auf der Ebene (1) exponierten Lektüre. Das ist
leicht zu zeigen, zum Beispiel am Begriff des „Wissens". Der Allegoriker
geht auf „-Wissen" aus. Vom Melancholiker - und als solcher wird der Alle-
goriker charakterisiert - heißt es wiederholt, er verrate die Welt um des
Wissens willen. Ihm, dem Lesenden, werden nämlich alle seine Gegenstände
zu bloßen Zeichen, die etwas anderes, und zwar ganz nach seiner Willkür
irgend etwas anderes bezeichnen, und die derart entwerteten Gegenstände
kommen ihm bedeutungsvoll, bedeutsam, bedeutend vor, weil sie für irgend
etwas stehen außer sich selbst, welche Bedeutung ihm sein subjektives kost-
bares Wissen wird. - Und darin, in Zeichenhaftigkeit und „Wissen", besteht
nach dem Sprachaufsatz genau der Sündenfall. Dort stellt sich als ein
sprachtheoretisches das theologische Problem, warum denn mitten im Para-
dies der vollkommen erkennenden Sprache noch der Baum der Erkenntnis
stand und wie er die Erkenntnis, was gut und böse sei, worin der Sündenfall
ja besteht, noch geben konnte, wo Gott doch alles schon als gut erkannt
hatte. Des Rätsels Lösung lautet: Diese Erkenntnis war, auch wenn alles gut
war, doch möglich, weil sie selbst das einzige Böse ist. Darum „im tiefsten
Sinne nichtig" (II 152) ist das Wissen. Es ist - zugleich Versuchung, Sünden-
fall und Bestrafung - die aus der Wahrheit herausgetretene Erkenntnis, der
zum Wort gewordene Name, „Geschwätz" in Kierkegaards Sinn. - Diese
Lesung der Sündenfallgeschichte steht fast genau wie im Sprachaufsatz auch
am Schluß des Trauerspielbuchs. Nur ist dort vom „Namen" nicht mehr die
Rede; und was im Sprachaufsatz „Wort" heißt, ist nunmehr: „Allegorie". Das
Wissen des Allegorikers ist das von der Schlange versprochene: „Als der
Triumph der Subjektivität und Anbruch einer Willkürherrschaft über Dinge
ist Ursprung aller allegorischen Betrachtung jenes Wissen" (I 407). „Allego-
rie" steht für die Sprache, in der es Subjektivität und Herrschaft gibt. Aber
wie im Sprachaufsatz das Wissen um gut und böse nichtig heißt, weil nur es
selbst böse ist, so taucht am Schluß des Trauerspielbuchs die Hoffnung auf,
daß die Subjektivität der Sprache selbst nur die größte und letzte subjektive
Illusion gewesen sein könnte: „Leer aus geht die Allegorie. Das schlechthin
Böse, das als bleibende Tiefe sie hegte, existiert nur in ihr" (I 406).
Wenn also auf der Ebene (1) eine Paradiesessprache geltend gemacht wird
gegenüber der Sprache nach dem Sündenfall, Name gegenüber Wort, Idee
gegenüber Begriff - und dabei sei die Idee „im Wesen des Wortes jeweils
dasjenige Moment, in welchem es Symbol ist" (I 216) -, dann wird dagegen
auf der Ebene (2) unter dem Titel „Allegorie" einzig die hier verächtlich
gemachte ,zweite' Sprache, aber als die einzige, denn es gibt nur diese, als
unsere, als die Sprache dargestellt. Die Textebene (1) präsentiert eine Alterna-
1. Anlage des Trauerspielbuchs 21

tive, die die Wahl zu einfach macht; die Textebene (2) ist dagegen ganz der
zeichenhaft-intentionalen Sprache, der Sprache im Sinn der „bürgerlichen"
Sprachtheorie gewidmet.

b.
So wünschbar klar die Unterscheidung von (1) und (2) erscheint, es zeigt sich
doch beim genaueren Hinsehen etwas Verwirrendes: Im Allegoriker ist der
philosophisch Kontemplierende, in der vollkommenen Sprache die defi-
ziente zu erkennen. - Die Vorrede gibt sich programmatisch. Was in ihr als
philosophische Kontemplation bestimmt wird, soll das in der Abhandlung
über das barocke Trauerspiel praktizierte Verfahren sein. Es sei eine philoso-
phische Abhandlung, keine literaturgeschichtliche. Denn es gehe nicht um
das „Trauerspiel als Begriff", sondern als Idee: „Das Trauerspiel im Sinn der
kunstphilosophischen Abhandlung ist eine Idee" (I 218). /Trauerspiel' soll
also verstanden werden als nicht-zeichenhaftes Wort. Von dieser Lektüre
handelt der Brief vom 13. Januar 1924 an Hofmannsthal, den frühen Bewun-
derer des Trauerspielbuchs. Mit ihm glaube er, schreibt Benjamin, die ihn
leitende Überzeugung zu teilen:
Jene Überzeugung nämlich, daß jede Wahrheit ihr Haus, ihren angestammten Palast,
in der Sprache hat, daß er aus den ältesten logoi errichtet ist und daß der so gegründe-
ten Wahrheit gegenüber die Einsichten der Einzelwissenschaften subaltern bleiben,
solange sie gleichsam nomadisierend, bald hier bald da im Sprachbereiche sich behel-
fen, befangen in jener Anschauung vom Zeichencharakter der Sprache, der ihrer
Terminologie die verantwortungslose Willkür aufprägt. Demgegenüber erfährt die
Philosophie die segensreiche Wirksamkeit einer Ordnung, kraft welcher ihre Einsich-
ten jeweils ganz bestimmten Worten zustreben, deren im Begriff verkrustete Oberflä-
che unter ihrer magnetischen Berührung sich löst und die Formen des in ihr ver-
schlossenen sprachlichen Lebens verrät. Für den Schriftsteller aber bedeutet dieses
Verhältnis das Glück, an der Sprache, welche dergestalt vor seinen Augen sich entfal-
tet, den Prüfstein seiner Denkkraft zu besitzen. So versuchte ich Vorjahren, die alten
Worte Schicksal und Charakter aus der terminologischen Fron zu befreien und ihres
ursprünglichen Lebens im deutschen Sprachgeiste aktual habhaft zu werden.24 Aber
gerade dieser Versuch verrrät mir heute auf das klarste, welchen, unbewältigt in ihm
verbliebnen, Schwierigkeiten jeder derartige Vorstoß begegnet. Dort nämlich wo die
Einsicht sich unzureichend erweist, den erstarrten Begriffspanzer wirklich zu lösen,
wird sie, um in die Barbarei der Formelsprache nicht zurückzufallen, sich versucht
finden, die sprachliche und gedankliche Tiefe, die in der Intention solcher Untersu-
chungen liegt, nicht sowohl auszuschachten als zu erbohren. (B 329)
Was nach dieser Briefstelle im Aufsatz „Schicksal und Charakter" durchge-
führt worden ist, entspricht genau der in der Vorrede zum Trauerspielbuch
dargelegten Methode, der Spracherfahrung I. Aber nun gilt jener Versuch als
nicht gelungen, nämlich wegen Schwierigkeiten, die, trotz allem behaupteten
„Glück" und „Segen" dabei, keineswegs zufällige sind, sondern solche, de-
nen „jeder derartige Vorstoß" begegne.
22 I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

Wenn als Gefahr die Versuchung erkannt wird, „die sprachliche und ge-
dankliche Tiefe, die in der Intention solcher Untersuchungen liegt, nicht
sowohl auszuschachten als zu erbohren": zeichnet sich damit nicht die Figur
im Zentrum der Trauerspielarbeit ab, der grüblerische Melancholiker, der
den Blick als Leser nach unten gewandt hält, in bohrendem, verbohrtem
Tiefsinn? „Die Eingebungen der Muttererde dämmern aus der Grübelnacht
dem Melancholischen auf wie Schätze aus dem Erdinnern" (I 330). Das ist die
Metaphorik, in die .ausschachten' ebenso wie .erbohren' gehört.25 Der Me-
lancholiker ist möglicherweise nur die Figur dessen, der sich genau im Sinn
der Vorrede verhält, der anfängt auszuschachten und am Ende doch bloß
erbohrt hat, der das, was er empfänglich aus den Gegenständen lesen wollte,
nur gewaltsam selbst in sie hineingelesen hat. Wie die Sprachen I und II nur
eine einzige, nur die Sprache sind, so könnten die gegensätzlichen Leserty-
pen auch nur ein einziger Leser, nur der Leser sein.
Das in der Vorrede exponierte Sprachverhalten heißt „Kontemplation",
und kontemplativ ist doch auch die Haltung des Melancholikers. Er ist auf
den philosophisch Betrachtenden der Vorrede gleichsam die Parodie. Der
Satz, es sei „gerade das Sinnen, dem, wenn es nicht sowohl geduldig auf
Wahrheit, denn unbedingt und zwangshaft mit unmittelbarem Tiefsinn aufs
absolute Wissen geht, Dinge nach ihrem schlichten Wesen sich entziehen,
um als rätselhafte allegorische Verweisungen und weiterhin als Staub vor ihm
zu liegen" (I 403), trifft ganz die Ebene (1), Benjamins frühe .mystische'
Sprachtheorie. Da wird unvermittelt und unverzüglich, im Stil angemaßter
Offenbarung aufs Letzte und Unmittelbare mit einem Tiefsinn gegangen, der
sich wirklich so grotesk ausnehmen kann, wie er auf der Ebene (2), als der
Tiefsinn des Allegorikers, durchaus gezeichnet wird: leere Prätention, lächer-
liche Gravität, eitle Ostentation. Auf der Ebene (1), kann man sagen, wird die
schlechte' Sprache, eben jenes „Geschwätz", als welches auf der Ebene (2)
die Sprache überhaupt und ohne Alternative dargestellt wird, nicht nur
denunziert, sondern immer auch zugleich vorgeführt. Gerade die tiefste
Intention, die Intention auf eine Wahrheit nämlich, die gar nicht, wie eine
Erkenntnis, intendierbar sein soll, mag selbst nur zur nichtigsten Erkenntnis
führen und bloß zum subjektivsten „Wissen" der Versuch, den subjektiven
Anteil im Wissen gewaltsam auszuschalten.
Die beiden Möglichkeiten der heiligen und profanen Sprache, des Symbols
und der Allegorie, sind also nicht so einfach entgegengesetzt, wie es auf der
Ebene (1) vorgemacht wird. Aber da schon gibt es - wie Samuel Weber
gezeigt hat26 - Stellen, die einer geradlinigen Erzählung von der Paradieses-
sprache und dem Sündenfall in ihr zuwiderlaufen. Eine solche Stelle ist der
Exkurs über die Traurigkeit der Natur - nach Schellings: „Auch das Tiefste
der Natur ist Schwermut"27 -, der fast wörtlich wie im Sprachaufsatz auch am
Schluß des Trauerspielbuchs steht. „Weil sie stumm ist, trauert die Natur.
Doch noch tiefer führt in das Wesen der Natur die Umkehrung dieses Satzes
ein: die Traurigkeit der Natur macht sie verstummen." (II 155; cf. I 398) Der
Mangel der Sprache ist vorerst der Grund für die Traurigkeit, doch dann wird
1. Anlage des Trauerspielbuchs 23

dafür etwas anderes eingesetzt: Die Sprache ist der Grund. Darum verstummt
Traurigkeit. Der Satz, die Natur würde klagen, wenn sie Sprache hätte,
bedeute nämlich: „sie würde über die Sprache selbst klagen", und das heißt
zugleich - insofern Klage „der undifferenzierteste, ohnmächtige Ausdruck
der Sprache" ist -, sie würde, wenn sie Sprache hätte, möglichst sprachlos
bleiben; und wenn, wie es heißt, in jedem Pflanzenrauschen immer Klage
mitklingt, dann klagt die Natur also schon, hat schon, sie verweigernd,
Sprache (II 155). Überall ist schon die Sprachtrauer da, und die Unterschiede
verwischen sich als bloß noch graduell. - Schon in der Seligkeit des Paradie-
ses war Traurigkeit: „Benannt zu sein - selbst wenn der Nennende ein
Göttergleicher und Seliger ist - bleibt vielleicht immer eine Ahnung von
Trauer." In dieser Geschichte kann der Sündenfall kein Einschnitt mehr sein,
und der nächste Satz bringt nichts wirklich Neues, ob er nun wie im Sprach-
aufsatz lautet: „Wieviel mehr aber benannt zu sein, nicht aus der einen
seligen Paradiesessprache der Namen, sondern aus den hunderten Menschen-
sprachen, in denen der Namen schon welkte, und die dennoch nach Gottes
Spruch die Dinge erkennen" (II 155), oder wie im Trauerspielbuch: „Wie viel
mehr aber, nicht benannt, sondern nur gelesen, unsicher durch den Allegori-
ker gelesen und hochbedeutend nur durch ihn geworden zu sein" (I 398). Das
Reich der Trauer, das auf der Ebene (1) den Bereich der Allegorie ausmacht,
beginnt sich grenzenlos auszudehnen: Vor dem Sündenfall war irgendwie
schon Trauer, wie die Sprache zugegebenermaßen auch nachher noch irgend-
wie benennend-erkennend ist.
Erst wenn man die beiden - nun mit I und II bezeichneten - gegensätzli-
chen Lektüreweisen, die „philosophische Kontemplation" der Vorrede zum
Trauerspielbuch und die „Allegorie" des Hauptteils, als dieselbe Lektüre
erkennt, löst sich ein offensichtlicher Widerspruch auf: Zum einen soll näm-
lich die Vorrede das im Hauptteil angewandte Verfahren angeben; und der
programmatische Anspruch ist klar, wenn es etwa heißt, „Trauerspiel" werde
nun nicht als Begriff, sondern als Idee aufgefaßt. Zum andern spricht aber
vieles dafür, daß in der Darstellung der Allegorie-Lektüre diese selbst zur
Anwendung kommt. (Man sieht dann Benjamin, wenn er als Betrachter von
Dürers „Melencolia I" diese allegorische Darstellung als Darstellung des
Allegorischen liest, ebenso kontemplativ in das Bild versenkt und versunken
wie die Melancholie dort in die Gegenstände um sie herum und in sich
selbst.28) Zum Beispiel: Der Leser-Typ des Allegorikers hat Sinn für das
Mißlungene und Unvollkommene, für das Unzeitige und Zerstreute; und am
deutschen Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, auf welches - immer nach dem
Trauerspielbuch - all dies zutrifft, muß sich solches Lesen bewähren. Oder:
Das deutsche Barockdrama wird im ganzen als Ruine aufgefaßt. „Im Geiste
der Allegorie ist es als Trümmer, als Bruchstück konzipiert von Anfang an."
(I 409) Die Ruine aber sei der adäquate Gegenstand des Allegorikers. - Ob
auf der Ebene (2) die Lektüre I oder II zur Durchführung kommt, das muß
allerdings unentscheidbar bleiben, wenn es sich gar nicht um eine Alternative
handelt, sondern wenn es nur ein einziges Lesen gibt.29
24 I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

C.

Der Hauptteil ist ausschließlich dem Lesen II gewidmet, das sich aber jetzt
nicht mehr wie in der Vorrede als eine Art von Lektüre neben einer anderen
möglichen präsentiert: Allegorie wird überhaupt als Schrift-, der Allegoriker
als der Lesende bestimmt. Die Sprache nach dem Sündenfall ist unsere
Sprache jetzt und die einzige. Oder insofern der barocke Allegoriker als
Figur moderner Subjektivität auftritt, handelt es sich um unsere moderne
Sprache, die zwar die Erinnerung an eine andere, nicht-defiziente weckt, aber
diese .Erinnerung' ist auch modern. Den naiven Glauben, daß es vor der
Sprache des industriellen Zeitalters eine handwerklich geprägte, daß es vor
der Erwachsenensprache eine des Kindes schlicht gegeben habe, braucht man
Benjamin nicht zu unterstellen; er beruft sich auf Erzähler, die nach dem
Ende des Erzählens tätig gewesen sind, auf Kindheitserfahrungen, wie sie erst
dem Erwachsenen aufgehen können.
Lektüre I oder II: das ist also keine Alternative, und dieser Unterschied
besteht nicht einfach. Aber er wird ununterbrochen, in einem großen Effort,
hergestellt. Auf der Ebene (1) wird die Differenz auf fragwürdige Art, in
einem sich offenbarend gebärdenden Reden von der Offenbarungssprache,
nur behauptet, auf der Ebene (2) aber gespannt ausgehalten. Hier wird keine
andere, bessere Sprache gegen die zeichenhaft-intentionale ausgespielt, und
die Darstellung „vergräbt", um einen Satz in ihr auf sie anzuwenden, „sich
ganz in die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung" (I 260). Doch eben so
wird das Differente in die größte Unvermittelbarkeit auseinandergesprengt:
Das, was nicht in die Darstellung eingehen kann, soll auch nicht einmal als
das, was ihr entgeht, von ihr erfaßt sein, sondern wird tatsächlich jenseits von
ihr geltend gemacht. - Aber diese Resignation auf die irdische oder moderne,
auf unsere Sprache, die ohne bequemen Hintergedanken total sein will, hat
die Pointe, daß gerade in dieser Geste vollkommener Beschränkung Be-
schränktheit demonstriert werden soll, und eine extreme Differenz wird
erzeugt, in der eine andere Sprache zwar gänzlich unerreichbar erscheint,
aber so doch erscheint. Wenn Wahrheit nicht intendierbar ist und sich der
intentionalen Sprache genau in dem Maße, wie diese sie anstrebt, entzieht,
dann bleiben nur zwei Möglichkeiten, sie doch zu erreichen: Entweder - wie
es auf der Ebene (1) in Betracht gezogen wird - ist die Intention auf einmal
und ohne daß man angeben kann, wie das zu bewerkstelligen wäre, ver-
schwunden und gnadenhaft schon am Ziel. Oder - und das wird auf der
Ebene (2) versucht - sie intendiert die Wahrheit, wie sie auch nicht anders
kann, und entfernt sich von ihr, zeugt aber so im gegenläufigen Sinn von der
Wahrheit und bleibt, von ihr ausgeschlossen, gehalten an sie.
Auf der Ebene (2) wird nur die Lektüre II, und zwar in ihrer extremen
Form, dargestellt. Der Allegoriker ist der Leser II, der seine Möglichkeiten
ganz ausschöpft, um ein anderes Lesen, als seines ist, geltend zu machen. Die
Beziehung zu jener anderen Sprache I, die von der Sprache II her aufgenom-
men wird, hat aber nur noch den Charakter völliger Abscheidung. Darum ist
2. Darstellung der Allegorie 25

diese Darstellung leicht zu mißverstehen. Ihre eigensinnige Beschränkung


auf sich muß als demonstrativ ohnmächtige Resignation erkannt werden,
ihre Entfernung von der Wahrheit als paradoxe Annäherung, gerade weil sie
nicht halbherzig, sondern übereifrig ins Werk gesetzt wird. Zum Verständnis
bedarf es, abgesehen von ständigen Signalen auf der Ebene (2), der Ebene (1)
als eines Rahmens. Dieser Rahmen klammert das Bild ein, zeigt es, ohne sich
mit ihm zu vermischen. Nur im Horizont der in Vorrede und Schluß fast
plump angesprochenen Sprache I kann die Pointe des Hauptteils verstanden
werden: daß die Sprache II gerade im Nicht-Aufnehmen einer Beziehung zur
Sprache I darauf bezogen sein kann.

2. DARSTELLUNG DER ALLEGORIE

Experimentum crucis
Auf der Ebene (2) wird - in der Ausdrucksweise von (1) - die Sprache nach
dem Sündenfall dargestellt, möglichst ohne sie gegen eine andere, paradiesi-
sche Sprache auszuspielen, aber doch so, daß sie sich dem ungeheuren An-
spruch jener anderen Sprache stellt. Dem Anspruch des Symbols stellt sich
die Allegorie. - Vorerst irritiert es einmal, daß Benjamin die in Allegorietheo-
rien30 durchwegs gängige „Annahme, Allegorie sei ein konventionelles Ver-
hältnis zwischen einem bezeichnenden Bilde und seiner Bedeutung" (I 339),
scheinbar abweist. (Scheinbar, denn genau genommen kritisiert er nur, daß
man bei dieser Annahme ,bleibt'.) Und erstaunlich ist ein Satz wie der: „Die
Allegorie tritt in Gegensatz zum Symbol und zwar nicht in den des konven-
tionellen Sprachgebrauchs" (I 951). Denn die Rehabilitierung der Allegorie,
die seither in der Literaturwissenschaft nur immer wichtiger geworden ist
und für die das Trauerspielbuch einen klassischen Text darstellt, ist doch
sonst niemals darauf verfallen, die Allegorie von dem freizusprechen, was im
19. Jahrhundert als ihr Mangel gegenüber dem Symbol erschien: vom Cha-
rakter des Technischen, Zufälligen, Fragmentarischen und Konventionellen,
- im Gegenteil wird durch die Aufwertung der Allegorie eben der behauptete
Vorrang des Organischen, Notwendigen, Totalen und Natürlichen bestritten.
Und Benjamin wollte die Allegorie ausgerechnet mit dem Nachweis ihres
symbolischen' Charakters retten?
„Allegorie - das zu erweisen dienen die folgenden Blätter - ist nicht
spielerische Bildertechnik, sondern Ausdruck, so wie Sprache Ausdruck ist,
ja so wie Schrift. Hier eben lag das experimentum crucis. Gerade die Schrift
erschien als konventionelles Zeichensystem vor allen andern." (I 339) - „Aus-
druck" versus „Konvention": Das führt auf die Textebene (1). Im Sprachauf-
satz wird die Ansicht von der Sprache, „daß das Wort zur Sache sich zufällig
verhalte, daß es ein durch irgendwelche Konvention gesetztes Zeichen der
26 I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

Dinge (oder ihrer Erkenntnis) sei" (II 150), als die bürgerliche denunziert,
und was dagegen „Ausdruck"31 heißt, macht eine Stelle wie diese deutlich:
„die deutsche Sprache z. B. ist keineswegs der Ausdruck für alles, was wir
durch sie - vermeintlich - ausdrücken können, sondern sie ist der unmittel-
bare Ausdruck dessen, was sieb in ihr mitteilt" (II 141). Die Differenz von
Sprache I - „Ausdruck" - und Sprache II - „Konvention" - wird nun auf der
Ebene (2) problematisch: Allegorie ist Ausdruck, - aber ohne daß ihr kon-
ventioneller Charakter geleugnet wird. Das experimentum crucis nimmt den
Weg des größten Widerstands. Es wird einmal zugestanden, daß die Allego-
rie mit ebensoviel Recht für ein konventionelles Zeichensystem gilt wie die
Schrift - und weiter kann man kaum gehen, denn in der Tradition der
Sprachtheorie stand die Schrift auch dann noch, wenn die .Sprache' nicht nur
Konvention war, als solche fest -, um dieses Recht dort, wo es am unbestrit-
tensten und am schwersten zu bestreiten ist, anzufechten. Allegorie ist im
Trauerspielbuch mit Schrift gleichgesetzt; sie soll nicht weniger Konvention
sein als Schrift, was aber schließlich nur heißt: genausowenig.
Zuerst ist also Allegorie wirklich nichts anderes als Konvention. „Jede
Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeu-
ten." (I 350) Seine Bedeutung ist dem allegorischen Gegenstand kontingent,
ohne den Rest einer natürlichen oder irgendwie sachlich gegründeten Bezie-
hung. Damit ist er ganz instrumentell verfügbar und der subjektiven Willkür
des Allegorikers ausgeliefert, der ihm tiefsinnig entnimmt, was nur er selber
in ihn hineingelegt hat. So wird der konventionelle Charakter der Allegorie
bei Benjamin wie in keiner anderen Allegorietheorie, schon fast karikierend,
betont. Beim Lesen gehe mit dem Gegenstand folgendes vor: „eine Bedeu-
tung, einen Sinn auszustrahlen, ist er von nun an ganz unfähig; an Bedeutung
kommt ihm das zu, was der Allegoriker ihm verleiht. Er legt's in ihn hinein
und langt hinunter: das ist nicht psychologisch sondern ontologisch hier der
Sachverhalt. In seiner Hand wird das Ding zu etwas anderem, er redet
dadurch von etwas anderem und es wird ihm ein Schlüssel zum Bereiche
verborgenen Wissens, als dessen Emblem er es verehrt. Das macht den
Schriftcharakter der Allegorie." (I 359)
Der Allegoriker ist der Lesende, und was er liest, ist Schrift. Lesen heißt,
etwas irgend etwas anderes bedeuten lassen; „die Bedeutung ist in der Schrift
zu Hause" (I 383). Und das ist nicht nur schon Geschriebenes: Fortwährend
„verwandelt mit einem Schlage der allegorische Tiefblick Dinge und Werke
in erregende Schrift" (I 352). Allegorie oder Schrift heißt die Sprache, deren
Zeichenhaftigkeit und Bedeutsamkeit ins Extrem gesteigert ist. - Und nur als
die konventionelle Zeichensprache par excellence könnte jetzt noch die Alle-
gorie vielleicht nicht-konventionell und nicht-zeichenhaft sein. Das ist höch-
stens so denkbar, daß die Schrift als solche schon Bild, die Konvention selbst
schon Ausdruck wäre, wie im berühmten Satz: „Die Allegorie des XVII.
Jahrhunderts ist nicht Konvention des Ausdrucks sondern Ausdruck der
Konvention" (I 351). Dieser Zusammenfall der Extreme wird aber durch
keinerlei Kompromiß, lediglich in scharfer Entgegensetzung erreicht, wie
2. Darstellung der Allegorie 27

ein voraufgehender Satz es betont: „Allegorie ist beides, Konvention und


Ausdruck; und beide sind von Haus aus widerstreitend" (I 351).

Melancholie, Lektüre und Tod


Die Darstellung des Allegorischen ist eine Szene, die Dürers Stich „Melenco-
lia I"32 vor Augen führt. Darin sind immer zugleich die Allegorie, der Allego-
riker und die Allegorese gegeben. Der Melancholiker ist also nicht einer, der
in einer speziellen Verfassung möglicherweise unter anderem auch noch liest,
sondern er ist der Lesende und Melancholie die Lese-Disposition, und das zu
Lesende liegt nicht vorgängig als Schrift schon vor, sondern es ist das, was
erst dem melancholischen Blick lesbar wird. So ist die Szene immer in ihrer
Totalität und jedes ihrer Momente mit allen andern präsent. Der Topos von
der ,toten Schrift' wird bei Benjamin nicht in Frage gestellt, aber er wird
beim Wort genommen wie wohl noch nie. Der Allegoriker ist der Melancho-
liker, weil sein Blick auf lauter Totes fällt. Denn der Tod markiert den
Moment, wo etwas, da es nun unmöglich noch spontan und lebendig eigenen
Sinn ausstrahlt, irgendetwas anderes äußerlich bedeuten kann und als Zei-
chen verfügbar und verwendbar wird. Darum kann es heißen: „Bedeutung
begegnet hier und wird noch weiterhin begegnen als der Grund der Traurig-
keit" (I 383). Und darum ist Trauer - die Benjamin nicht wie Freud abgrenzt
von der Melancholie33 - die Verfassung des Lesenden: jene .Trauer' im Wort
.Trauerspiel'. „Soviel Bedeutung, soviel Todverfallenheit, weil am tiefsten der
Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung eingräbt.
Ist aber die Natur von jeher todverfallen, so ist sie auch allegorisch von
jeher." (I 343) Insofern etwas vergänglich und vom Tod betroffen ist, und das
gilt für alles im Bereich der „Natur", ist es auch gleichsam von sich aus lesbar,
und der Allegoriker wird beliefert mit Schrift. Aber wegen der Kopräsenz
aller Momente in der Szene des Lesens - „soviel Bedeutung, soviel Todverfal-
lenheit": das erste braucht nicht die Folge des zweiten zu sein - kann sich das
auch anders darstellen: „Wird der Gegenstand unterm Blick der Melancholie
allegorisch, läßt sie das Leben von ihm abfließen, bleibt er als toter, doch in
Ewigkeit gesicherter zurück, so liegt er vor dem Allegoriker, auf Gnade und
Ungnade ihm überliefert" (I 359). Der Leser hilft mindestens nach, wenn er
nicht sogar selbst das Werk des Todes verrichtet. Der lesende Blick ist der
melancholisch-traurige, doch auch der tödliche Blick, dem alles zur Schrift
erstarrt. So ist das Lesen nicht bloß rezeptiv, sondern produktiv, aber über-
haupt nicht schöpferisch: Herstellung von Totem und „Mortifikation"
(I 357).
„Die Melancholie verrät die Welt um des Wissens willen. Aber ihre aus-
dauernde Versunkenheit nimmt die toten Dinge in ihre Kontemplation auf,
um sie zu retten." (I 334) Einen Gegenstand als Zeichen verwenden, ihn
übergehen auf etwas anderes, seine Bedeutung hin, ist ein Verrat an ihm, der
zugleich seine Rettung sein soll. „Ist doch die Einsicht ins Vergängliche der
28 I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

Dinge und jene Sorge, sie ins Ewige zu retten, im Allegorischen eins der
stärksten Motive." (I 397) Diese im Lesen vollzogene Rettung des Vergängli-
chen kann natürlich nicht die Rettung vor dem Tod, sondern erst des Toten
sein. Aber wie? Bedenklich einfach: Unvergänglich ist eben erst Totes, und
nur durch den Tod ist etwas für die Ewigkeit präpariert. Der Zeitpunkt dieser
Rettung ist das ,Zu spät', und man sieht diesen Leser trauernd dem Tod
zustimmen und ihm Vorschub leisten, das Vergängliche fast noch tot machen
im Eifer, es zu retten vor der Vergänglichkeit.
Aber da der Tod unausweichlich feststeht, erscheint „allegorische Interpre-
tierung als die denn doch allein noch absehbare Rettung. Denn mitten in
jener wissentlichen Entwürdigung des Gegenstandes bewahrt ja die melan-
cholische Intention auf unvergleichliche Art seinem Dingsein die Treue" (I
398). (Die „wissentliche Entwürdigung" ist hier wieder jener Verrat „um des
Wissens willen" (I 334), in dem der Gegenstand an sich selbst bedeutungslos,
dafür zeichenhaft bedeutend wird.) Treue wird in der Trauer allerdings be-
wahrt. Der melancholische Blick beharrt auf seinem toten Gegenstand und
bleibt an ihn fixiert, obwohl er doch bei ihm nicht innehält, sondern ihn
tiefsinnig starrend durchschaut und übersieht. Das wird einmal gewagt so
dargestellt: Trauer sei wie Liebe sehr intensive Intention auf ihren Gegen-
stand, so intensive sogar, daß sie auch bei ihm nicht anhält, auf ihn geht und
in ihm weitergeht; zur Trauer gehöre „die erstaunliche Beharrlichkeit der
Intention", und sie erscheine sogar „zur besondern Steigerung, kontinuierli-
chen Vertiefung ihrer Intention befähigt" (I 318). So besteht der Verrat
allerdings nur in höchster Treue.
Dieses Konzept des Lesens als einer Rettung vor dem Tod durch den Tod
wäre zynisch ohne die Einschränkung, daß die Treue zum Gegenstand allein
„seinem Dingsein" (I 398) gilt. Denn nur Dingen werde die Treue gerecht
„als ihren eigensten, sie nicht überfordernden Gegenständen" (I 334), und
anderem, vor allem einem Menschen gegenüber sei sie unangemessen.34 Im
Barock allerdings wird das allegorische Verfahren in ganz anstößiger Weise
auch auf den Menschen angewandt. Und Benjamins Darstellung bewährt
sich darin, daß sie die Grausamkeitsexzesse des Barockdramas, das bekannte
Schwelgen in Greueln, als Konsequenz des Lesens auffassen kann: „der
menschliche Körper durfte keine Ausnahme von dem Gebote machen, das
das Organische zerschlagen hieß, um in seinen Scherben die wahre, die
fixierte und schriftgemäße Bedeutung aufzulesen" (I 391). Die Zerstückelung
des Körpers, die Ausstellung der Leiche, wie sie im Barock drastisch auf der
Bühne, aber auch schon im Reden vom Körper, veranstaltet wird, ist Allego-
rese. Auch die Person muß totes Ding werden, um lesbar zu sein: Bezeich-
nenderweise fertigt Benjamin die Personifikation, offensichtlich ein wichti-
ges Verfahren in allegorischen Texten, kurzerhand so ab, „daß nicht Dinghaf-
tes zu personifizieren, vielmehr durch Ausstaffierung als Person das Dingli-
che nur imposanter zu gestalten ihr oblag" (I 362f.).
Die Allegorie hält den Gegenstand fest, aber nur seine Trümmer sind es,
woran sie festhalten kann. So heißt es an ganz anderer Stelle: „Das von der
2. Darstellung der Allegorie 29

allegorischen Intention Betroffene wird aus den Zusammenhängen des Le-


bens ausgesondert: es wird zerschlagen und konserviert zugleich. Die Alle-
gorie hält an den Trümmern fest. Der destruktive Impuls Baudelaires ist
nirgends an der Abschaffung dessen interessiert, was ihm verfällt." (V 414f.;
cf. I 666) Bewahren ist ein Zerschlagen: Das ist das bekannte Benjaminsche
Motiv der ,Rettung durch Zerstörung', beispielsweise in diesem Satz: „So
stark wie der destruktive Impuls, so stark ist in der echten Geschichtsschrei-
bung der Impuls der Rettung" (I 1242).

Barocke Immanenz
Lesen, das melancholische Verhalten, ist keine effektive ,Trauerarbeit', son-
dern vergeblich-repetitiv. Es entspricht durchaus dem klinischen Krank-
heitsbild, daß das unverhältnismäßige Interesse des Melancholikers an dem,
was er aufliest, sogleich wieder schwindet.35 Denn allegorische Betrachtung
erschöpft ihren Gegenstand sofort, da er, indem er Bedeutung erhält, bedeu-
tungslos wird. Das Lesen fängt immer wieder von vorne an. Stereotypie,
ziellose Häufung, Exzeß und Übermaß kennzeichnen die barocke Allegorie.
Aber die Häufung der Trümmer wird mit einem Eifer vorangetrieben, als sei
doch irgend eine Hoffnung dabei und als sei doch zu fragen: Worauf geht
zuletzt die so oft genannte „allegorische Intention"? - Hier wird diese Ant-
wort vorgeschlagen: Die Intention geht auf Wahrheit, wie sie in der Vorrede
vom Gegenstand der Erkenntnis als nicht-intendierbar unterschieden wird.
„Die Intention der Allegorie ist", heißt es am Schluß, „der auf Wahrheit
widerstreitend" (I 403) - aber ihr widerstreitend nur als Intention überhaupt.
Die unmögliche Intention auf Wahrheit, die, sobald sie als Intention auch
nur ein wenig erfolgreich wäre, schon nicht mehr die auf Wahrheit sein
könnte, ist genau die allegorische. Diese Paradoxie wird im Trauerspielbuch
durchgespielt: „Allegorie" steht für die Sprache, die zeichenhaft etwas, ir-
gendetwas mitteilt oder meint oder bedeutet, allerdings ,in Wahrheit' nur
das, was nicht mitgeteilt, gemeint, bedeutet werden kann - und darum nur
irgendetwas. Erkenntnis und Wahrheit schließen sich aus; aber Erkenntnis
hat doch nicht nichts mit Wahrheit zu tun, und vor dem Nicht-Intendierba-
ren steht der Intention nur sie selbst: „Die Wahrheit ist der Tod der Inten-
tion" (I 216). So besteht in der Sprache eine Hoffnung, Aussicht oder Absicht
- oder was man noch für „Intention" einsetzen kann -, die keine sein darf.
Wenn das Reden auf der Ebene (1) im Widerspruch befangen bleibt, das, was
nicht erreichbar sein soll, erreicht zu haben, dann wird auf der Ebene (2) ein
hoffnungsloseres Reden erprobt, das in eben dem Maße aussichtsreicher sein
könnte.
Benjamins,Barock' ist die Konstruktion einer Sprache, die ihre Beziehung
zur reinen Sprache höchstens so, daß sie sie abbricht, aufnehmen kann.
,Barock' bietet sich als vollkommen abgeschlossenes und auf sich reduziertes
Universum dar, aus dem kein Weg auch nur zum Schein hinausführen soll:
30 I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

eine Welt, „der der unmittelbare Weg ins Jenseits versagt war" (I 258f.). So
wird - nach bekanntem Muster36 - die Moderne durch Säkularisation be-
stimmt. Wie eine andere als diese Epoche des Verlusts aussehen könnte, wird
dabei nicht lange untersucht. Ganz klischeehaft stand dem Mittelalter der
Weg aus der Welt hinaus noch offen, und auch die Renaissance, so wird
versichert, war noch keineswegs ein weltliches, irreligiöses Zeitalter. Daß es
die Allegorie auch dort schon gibt, wird nur flüchtig zugestanden;37 nun gilt
einfach Barock als Epoche der Allegorie.
„Wo das Mittelalter die Hinfälligkeit des Weltgeschehens und die Ver-
gänglichkeit der Kreatur als Stationen des Heilswegs zur Schau stellt, ver-
gräbt das deutsche Trauerspiel sich ganz in die Trostlosigkeit der irdischen
Verfassung. Kennt es eine Erlösung, so liegt sie mehr in der Tiefe dieser
Verhängnisse selbst als im Vollzuge eines göttlichen Heilsplans. Die Ab-
kehr von der Eschatologie der geistlichen Spiele kennzeichnet das neue
Drama" (I 260). Barock ist der „Ausfall aller Eschatologie" (I 259). Das
neue Drama stellt nichts Neues dar, nichts anderes als die Hinfälligkeit des
Weltgeschehens und die Vergänglichkeit der Kreatur, aber es gibt keinen
Weg, der aus dieser Welt hinausführt, und keine Heilsgeschichte mehr: Das
Heilsdrama präsentiert „das Ganze des Geschichtsverlaufs, den welthistori-
schen als einen heilsgeschichtlichen", das barocke Trauerspiel aber nur
noch einen Teil pragmatischen Geschehens (I 257). Und die Heilswegstatio-
nen erscheinen nur noch, hoffnungslos, in der Rede von der „allegorischen
Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Lei-
densgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Ver-
falls" (I 343). Nach dem Ausfall der Eschatologie präsentiert sich noch
dieselbe Welt, aber ,weltlich'.
Barock ist gezeichnet durch totale Immanenz - dies die „gänzlich neue
und bis heute heftig umstrittene These"38 Benjamins. („Gebannt aber blieben
diese Versuche von vornherein in eine strenge Immanenz und ohne Ausblick
auf das Jenseits der Mysterien" (I 259). Das muß natürlich gerade an heilsge-
schichtlichen Motiven, die sich erhalten haben, erst gezeigt werden. Zum
Beispiel erleidet der barocke Fürst im Trauerspiel als Märtyrer seine Passion;
aber dieses Bild täusche, es handle sich bloß um einen Stoiker: „Mit religiö-
sen Konzeptionen hat es nichts gemein, der Immanenz entzieht sich der
vollkommene Märtyrer sowenig wie das Idealbild des Monarchen" (I 253).
Denn auch die Vergottung und Glorifikation des Souveräns „bleibt heid-
nisch. Monarch und Märtyrer entgehen nicht im Trauerspiel der Immanenz"
(I 247).) Jmmanenz' versus /Transzendenz': Dabei werden theologischer und
philosophischer Gebrauch von ,Transzendenz' geschickt vermischt. Sie ist
„Transzendenz des Glaubenslebens" (I 263) und zugleich Transzendenz im
kantischen Sinn der Stelle: „Erkenntnis ist ein Haben. Ihr Gegenstand selbst
bestimmt sich dadurch, daß er im Bewußtsein - und sei es transzendental -
innegehabt werden muß" (I 209). So ist gründlich und fast leichtsinnig rasch
in der Vorrede die Erkenntnis von der Wahrheit abgeschnitten worden, damit
diese ihr zu einem Jenseits wird, worauf sie sich nicht einmal als auf ihr
2. Darstellung der Allegorie 31

Jenseits beziehen kann: und genau diese Situation wird im Hauptteil - das
Jenseits' religiös getönt - unter dem Titel ,Barock' inszeniert.
Die Immanenz des barocken, des säkularisierten christlichen Dramas soll
vollkommen sein. Es ist keine Beziehung zu einem Jenseits oder Himmel
mehr aufzunehmen von dem aus, was jenem gegenüber das Diesseitige,
Weltliche und Irdische wäre, sondern nur die ,Welt' gibt es jetzt und nichts
als das. Aber wie kann sie dann weltlich sein, irdisch oder profan? Nur ein
Diesseits soll es geben, das aber doch, auch ohne Jenseits, ein ,Diesseits' noch
ist: so als wäre das, was nach dem Zusammenbruch einer polaren Beziehung
zu etwas anderem übrigbleibt, noch immer ein Pol. - Das, was einzig da ist,
kann allerdings nicht schon von allein ein Pol sein. Aber es läßt sich als Pol
darstellen, um den andern, fehlenden, auf diese verrückte und doch viel-
leicht, weil jene polare Beziehung ja nicht besteht und niemals - höchstens in
der plumpen Hilfskonstruktion ,Mittelalter' - bestand, auf letztmögliche
Weise geltend zu machen. Die Verweltlichung der Welt ist kein Faktum und
nicht das Resultat einer Geschichte, sondern eine verzweifelte sprachliche
Aktion: der Versuch, Transzendenz herzustellen durch Übertreibung der Im-
manenz.

Transzendenz durch Übertreibung der Immanenz


Barock heißt: radikale Hinwendung zur Welt, heftige Hingabe an sie, aus-
schließliche Beschränkung auf sie. So wird Barock ganz traditionell als
Epoche der Säkularisation aufgefaßt und zugleich ihr Hang zum Exaltierten
und Exzessiven erklärt. Exzessiv ist nämlich jene Beschränkung. Die Zuwen-
dung zu dem, was man einzig hat und was auch alles ist, dem man sich
zuwenden kann, ist nicht nur folgerichtig und unumgänglich, sondern in
ihrer demonstrativen Heftigkeit gerade die Nicht-Anerkennung der Situa-
tion. Es ist das Programm der ,Verweltlichung der Welt', in der einzig mögli-
chen, nämlich in der verkehrten Richtung auf ein Jenseits hinzuarbeiten und
das, was da ist, in seiner Totalität - denn es gibt nichts anderes - darzustellen
als defizient, um so ein Jenseits allein durch die Präsentation des Gegebenen
als Diesseits zu provozieren. Dieses Verfahren - „die verzögernde Überspan-
nung der Transzendenz, die all den provokatorischen Diesseitsakzenten des
Barock zugrundeliegt" (I 246) - sieht Benjamin in der barocken Formgebung
angewandt; beispielsweise sei in gemalten Apotheosen der Vordergrund
übertrieben realistisch, zur Beglaubigung der entfernten Vision, und das
wird so interpretiert: „Der drastische Vordergrund sucht in sich alles Weltge-
schehen zu sammeln, nicht nur um die Spannweite von Immanenz und
Transzendenz zu steigern sondern auch um die denkbar größte Strenge,
Ausschließlichkeit und Unerbittlichkeit für diese zu erwirken" (I 359). Be-
glaubigen bedeutet aiso nicht, irgendwelche Brücken zu schlagen, sondern
den Abgrund möglichst aufzutun.
32 I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

Das wirft ein Licht auf das theologische Reden bei Benjamin.39 Heiliges ist
nicht Profanem gegenüber gegeben, höchstens kann eine Profanierung des
Gegebenen geleistet werden - wie, das zeigt eben das Trauerspielbuch am
Barock-Modell -, um dadurch das, dem gegenüber es erst so etwas wie
Profanes geben kann, wenn auch nicht zu produzieren, so doch zu provozie-
ren. Die Beziehung aufs Heilige, die für das Profane ,Erlösung' wäre, ist von
diesem aus höchstens so herzustellen, daß es sich ganz erlösungsbedürftig
gibt und sich damit für sein Teil, soweit es sich überhaupt machen läßt, in
eine solche Beziehung setzt. Das wäre die .weltliche' Lösung des .religiösen'
Problems. („Denn wenn die Verweltlichung der Gegenreformation in beiden
Konfessionen sich durchsetzte, so verloren darum nirgends die religiösen
Anliegen ihr Gewicht: nur die religiöse Lösung war es, die das Jahrhundert
ihnen versagte, um an deren Stelle eine weltliche ihnen abzufordern oder
aufzuzwingen." (I 258) Mit .Barock' bezeichnet also Benjamin die Situation
einer übernommenen religiösen Fragestellung, die jedoch ohne religöse Ant-
wort bleibt.) Ganz übereinstimmend damit besteht nach dem unbetitelten -
von Adorno als spät, von Scholem als früh datierten40 - Text „Theologisch-
politisches Fragment" die messianische Erlösungstat darin, daß sie die Bezie-
hung auf das Messianische überhaupt herstellt. „Erst der Messias selbst voll-
endet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen
Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum
kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wol-
len." (II 203) (Wobei aber gerade dies dann auf paradoxe Art, durch den
Abbruch aller Beziehung, versucht werden soll.) Benjamin nimmt hier ein zu
seiner Zeit ganz gängiges theologisch-politisches Reden so auf, daß er das
Politische scharf vom Religiösen abtrennt. Ganz im Sinne des Trauerspiel-
buchs heißt es hymnisch in jenem Fragment: „Der geistlichen restitutio in
integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt, entspricht eine weltliche,
die in die Ewigkeit eines Unterganges führt und der Rhythmus dieses ewig
vergehenden, in seiner Totalität vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch
zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen, der Rhythmus der messiani-
schen Natur, ist Glück. Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und
totalen Vergängnis." (II 204)
Immanenz und Weltlichkeit bedeutet Tod; die Erlösung wäre Auferste-
hung. Das Werk des Todes wird nicht resignierend hingenommen, sondern
heftig noch gefördert, und die Trümmer werden - allegorisch - gehäuft: Das
ist die Übertreibung der Immanenz. Trümmerhäufung ist das demonstrative
Leerlaufenlassen der notwendig zielgerichteten Intention, die so ein Ziel
reklamiert, das niemals ihr Ziel sein kann, indem sie in der falschen Richtung
anstrebt, was gar nicht angestrebt werden darf. Stereotypie und Häufung ist
der ziellos gemachte Gang der Intention. „Denn jenen Dichtungen ist es
gemein, ohne strenge Vorstellung eines Ziels Bruchstücke ganz unausgesetzt
zu häufen und in der unablässigen Erwartung eines Wunders Stereotypien für
Steigerung zu nehmen." (I 354) Das Wunder ist das, was nicht herbeigeführt
werden kann, weil es nicht auf der Linie der Intention liegen wird, sondern
2. Darstellung der Allegorie 33

diese abbricht. Aber doch kann die Intention auf das, was für sie „nicht Ziel,
sondern Ende" (II 203) wäre, so zugehen, wie es Benjamins barocke Allego-
rie vorführt. Allegorie ist hier die intentionale Sprache, die sich in ihrer
Funktion nicht erfüllt und sich eben aus diesem Grund gebärdenhaft-provo-
kativ darin nicht genugtun kann.
So ist das Konzept einer barocken Natur-Geschichte zu verstehen. Die
Strategie, die Situation des Ausfalls aller Eschatologie nicht nur als gegeben
hinzunehmen, sondern noch verschärfend herzustellen und den gerichteten
Lauf der Intention repetitiv leerlaufen zu lassen, bedeutet für die Geschichte:
Simultaneisierung, Synchronisierung, Verräumlichung der Zeit. Die Ge-
schichte wird in ihren Gegensatz, die Natur, hinein verlegt: „Denn nicht die
Antithese von Geschichte und Natur, sondern restlose Säkularisierung des
Historischen im Schöpfungsstande hat in der Weltflucht des Barock das
letzte Wort. Dem trostlosen Laufe der Weltchronik tritt nicht Ewigkeit son-
dern die Restauration paradiesischer Zeitlosigkeit entgegen. Die Geschichte
wandert in den Schauplatz hinein." (I 270f.) Das berühmte ,Hineinwandern
der Geschichte in den Schauplatz'41 ist die Formel für die „Projektion des
zeitlichen Verlaufes in den Raum" (I 273), der Geschichte in die Natur - und
nur das meint der Begriff der „Naturgeschichte" hier. So wird Geschichte
abgeschnitten von einer in ihr und durch sie jemals möglichen Erlösung
zugunsten einer vielleicht möglichen Erlösung von ihr. Diese Erlösung
müßte nun freilich auch alles das betreffen, was sonst von der ,Geschichte' als
bloße ,Natur' zurückgelassen wird.
(Hier eine Bemerkung zur Gegenüberstellung von ,Tragödie' und .Trau-
erspiel'. Der Unterschied besteht nicht einfach darin, daß der Stoff der
Tragödie der Mythos, der Stoff des Trauerspiels die Geschichte ist. Genauer
vollzieht sich nach Benjamin in der Tragödie der Ausgang aus heillos repeti-
tiver, mythischer Natur in Geschichte, umgekehrt aber im Trauerspiel die
Rückkehr von Geschichte in repetitive Natur. Das ist ein Rückfall: So wird
etwa Ethisch-Moralisches im Barock „durch eine Metaphorik, die Ge-
schichtliches mit dem Naturgeschehen analogisiert" (I 268), in die Natur
projiziert; und Benjamin insistiert immer wieder auf der völligen kategoria-
len Verschiedenheit von beidem. Aber dieser Rückfall ist provokant insze-
niert.)
„Mit einer sonderbaren Verschränkung von Natur und Geschichte tritt der
allegorische Ausdruck selbst in die Welt." (I 344) Die Projektion von Ge-
schichte in Natur ist mit dem allegorischen Verfahren identisch. Zur Natur
gehört Vergänglichkeit, und nur so stellt sich allegorisch die Geschichte noch
dar, als unaufhaltsamer Fortschritt des Todes. „Natur schwebt ihnen vor als
ewige Vergängnis, in der allein der saturnische Blick jener Generationen die
Geschichte erkannte", wird von den barocken Dichtern gesagt. „Mit dem
Verfall, und einzig und allein mit ihm, schrumpft das historische Geschehen
und geht ein in den Schauplatz." (I 355) Jener Blick ist der lesende, der ja
nicht nebenbei auf Totes fälit, sondern vor dem es sich endlos häuft. „Wenn
mit dem Trauerspiel die Geschichte in den Schauplatz hineinwandert, so tut
34 I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

sie es als Schrift. Auf dem Antlitz der Natur steht > Geschichte < in der
Zeichenschrift der Vergängnis." (I 353)

Katastrophenmodell

Der religiöse Mensch des Barock hält an der Welt so fest, weil er mit ihr sich einem
Katarakt entgegentreiben fühlt. Es gibt keine barocke Eschatologie; und eben darum
einen Mechanismus, der alles Erdgeborne häuft und exaltiert, bevor es sich dem Ende
überliefert. Das Jenseits wird entleert von alledem, worin auch nur der leiseste Atem
von Welt webt und eine Fülle von Dingen, welche jeder Darstellung sich zu entziehen
pflegten, gewinnt das Barock ihm ab und fördert sie auf seinem Höhepunkt in
drastischer Gestalt zu Tag, um einen letzten Himmel zu räumen und als Vakuum ihn
in den Stand zu setzen, mit katastrophaler Gewalt dereinst die Erde in sich zu
vernichten. (I 246)
In so verrückten Sätzen wie diesen bekannten wird die Möglichkeit einer
Transzendenz durch exzessive Immanenz behauptet. Dabei werden zwei
Metaphern ausgespielt, denen man bei Benjamin oft begegnet: erstens der
,Wasserfair, welcher der bekannten Metaphorik vom fluxus temporis, vom
Strom der Zeit abgewonnen und zugleich entgegengehalten wird42, und
zweitens die ,Sprengung'. In beiden Metaphern wird ein kontinuierlicher
Verlauf, eine lineare Entwicklung bestritten.
„Der religiöse Mensch des Barock hält an der Welt so fest, weil er mit ihr
sich einem Katarakt entgegentreiben fühlt." Das Klischee vom barocken
Festhalten und Hangen an der Welt wird so zum Bild gemacht, daß man
versteht: Dieses übertriebene Interesse an der Welt, diese heftige Liebe zu ihr
meint zuletzt, obwohl auch nicht irgend etwas anderes, doch nicht sie. In
Todesgefahr klammert sich der Schiffbrüchige an die Trümmer, die zur Hand
sind, wie an Rettendes auch dann noch, wenn diese Aktion aussichtslos und
nichts als bloße Gebärde ist. Das ist im Bild der Fall: Über Wasser bleiben
heißt nur, einem Katarakt entgegenzutreiben. Die Gebärde des Festhaltens -
„Die Allegorie hält an den Trümmern fest" (V 415) -, womit die Rettung des
Festhaltenden und des Festgehaltenen, dieses ,Menschen' und dieser ,Welt',
nur markiert wird, stellt aber etwas dar, was nicht im Bild ist: die nahende
Katastrophe.
In dem, was die Intention für das Nicht-Intendierbare leisten kann, geht
die zweite Metapher noch weiter. Nach der Entwertung und Entleerung der
Welt durch die Reformation - „Etwas Neues entstand: eine leere Welt" (I
317) - sei Barock deren Wiederauffüllung: „Trauer ist die Gesinnung, in der
das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt" (I 318), und zwar so,
daß diese Wiederauffüllung wiederum Entleerung sein soll - eines Jenseits,
das es ohne diese Aktion nicht mehr gibt. Ein Himmel ist zu räumen so, daß
er, unbetretbar, nur durch Überladung der Welt ausgespart wird. Die maß-
2. Darstellung der Allegorie 35

lose Akkumulation möglicher Gegenstände soll Aufladung einer Spannung


gegenüber einem X sein, das unmöglich ein Gegenstand werden kann, und
die Beziehung zu einem anderen Pol soll annähernd dadurch aufgenommen
werden, daß alles Gegebene als nur ein Pol sich gibt. Diese Beziehung kann
offengehalten, aber nicht gänzlich hergestellt werden; das geschähe erst als
Explosion ins erzeugte Vakuum, katastrophal.
„Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention" (I 208) hat die Vor-
rede programmatisch verkündet. Aber eine Alternative zum intentionalen
Lauf - der Sprache, der Geschichte - gibt es nicht. Im Barock wird dieser
notwendig zielgerichtete und wie von selbst hoffnungsvolle Lauf möglichst
ziel- und hoffnungslos gemacht, um so ein Ziel zu erreichen, das für die
Intention kein Ziel, nur ihr Ende sein kann: Das wäre ein Ereignis, das in der
Geschichte nur noch als ihre Zerstörung, in katastrophaler Form, eintreten
könnte. - Weil die Geschichte des Barocks kein Ziel hat, ist sie nicht einmal
apokalyptisch verfaßt. Geschichtsphilosophisches Ideal der Gegenreforma-
tion war ein goldenes Zeitalter, ein für die Geschichte unerreichbarer Natur-
zustand: „Nichts war ihr ferner als Erwartung einer Endzeit, ja auch nur
eines Zeitenumschwungs" (I 259). Nirgends begegne „ein Hauch revolutio-
närer Überzeugung", bloß „Mißvergnügen" (I 267). Aber es gibt da die
hoffnungslose Katastrophenhoffnung: „Denn antithetisch zum Geschichts-
ideal der Restauration steht vor ihm die Idee der Katastrophe" (I 246).

Anmerkung zur „KATASTROPHE". Wenn Geschichte mit jedem in ihr noch mögli-
chen .Fortschritt' hoffnungslos erscheint, kann die Angst vor der Katastrophe um-
schlagen in eine Hoffnung auf sie. Wie nahe da verzweifelte Auflehnung bei zyni-
schem Einverständnis ist, zeigt sich an Benjamins Nähe zu Carl Schmitt.43 Aber die
expressionistisch gefärbte Katastrophentheorie des Trauerspielbuchs ist im Blick auf
andere Texte Benjamins zu präzisieren. Der populäre Gedanke des ,So kann es nicht
weitergehen' - oder es müsse zur Katastrophe kommen - wird im „Kaiserpanorama",
das die „Einbahnstraße" eröffnet, als dumm und feige denunziert. Er verkenne, daß
die Katastrophe nicht bevorstehe und schlaff staunend abgewartet werden müsse,
sondern daß sich das Unglück ununterbrochen ereigne und das Wunder, das allein
noch retten könne, durch einen „Zustand angespanntester klagloser Aufmerksam-
keit" herbeizuführen sei (IV 95). - Denn: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee
der Katastrophe zu fundieren. Daß es > so weiter < geht, ist die Katastrophe. Sie ist
nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene." (I 683, V 592) Beides
ist identisch: „Die Katastrophe ist der Fortschritt, der Fortschritt ist die Katastrophe"
(I 1244).
Das enthüllt sich einem bestimmten Blick, jenem des „Engels der Geschichte", von
dem noch die Rede sein wird: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da
sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie
ihm vor die Füße schleudert" (I 697). Es ist offensichtlich der allegorisch lesende
Blick, dem sich aller Fortgang als immer dasselbe, Tod und Vergänglichkeit, zeigt, so
daß nichts Schlimmeres mehr zu erwarten ist. Zugleich aber leuchtet durch die vielen
Bruchstellen der Trümmerfragmente etwas hindurch, was jedes Ganze nur verstellte.
Daß der Fortschritt die Katastrophe ist, heißt nämlich nicht nur, der Fortschritt sei
schon das Unglück, zu dem er vermeintlich erst führt. Es heißt auch, die Rettung,
36 I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

welche die Form der Katastrophe haben muß, warte nicht erst am Ende der Zukunft
der Geschichte, sondern sei schon gegenwärtig in ihr - so wie in der .Erkenntnis' die
,Wahrheit'; denn wenn die Erkenntnis intentional wohl in die falsche Richtung, weil
überhaupt in eine Richtung geht, so grenzt sie selbst doch immer, weil sie nur deren
Verhinderung ist, an die nicht-intendierbare Wahrheit an. Diese ist jederzeit ganz nah.
In den „Notizen über den destruktiven Charakter" steht, dieser Charakter sei „im-
stande, dem Leben jeden Augenblick es anzusehen, daß es > so nicht mehr weiter
geht < - denn wirklich, im Innersten, Verborgnen geht es nicht so weiter sondern
von einem Extrem ins andere" (IV 1001).
„Definition der Gegenwart als Katastrophe; Definition von der messianischen Zeit
aus./ Der Messias bricht die Geschichte ab; der Messias tritt nicht am Ende einer
Entwicklung auf." (I 1243) Denn es gibt „einen Begriff der Gegenwart als der > Jetzt-
zeit < , in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind" (I 704; cf. I 1248).
Die Kontinuität ist von Unterbrüchen, wie die allegorische Sprache mit Brüchen,
völlig durchsetzt, und die Katastrophe ist im negativen wie im positiven Sinn schon
im Gang.

Schluß-Apotheose
Die trostlose Verworrenheit der Schädelstätte, wie sie als Schema allegorischer Figu-
ren aus tausend Kupfern und Beschreibungen der Zeit herauszulesen ist, ist nicht
allein das Sinnbild von der Öde aller Menschenexistenz. Vergänglichkeit ist in ihr
nicht sowohl bedeutet, allegorisch dargestellt, denn, selbst bedeutend, dargeboten als
Allegorie. Als die Allegorie der Auferstehung. (I 405f.)
So überstürzen sich am Schluß rhetorisch die Ereignisse. - Allegorische
Bilder, auf denen Totes sich häuft, häufen sich selbst im Barock. Als Allego-
rien bedeuten sie etwas: .Vergänglichkeit'. Aber weil Häufung des Toten das
allegorische Verfahren ist, präsentiert sich in solchen Bildern nicht nur ir-
gendeine, sondern die Allegorie; und nun wird suggeriert, ,die Allegorie'
müsse, wie jede bestimmte Allegorie, auch noch etwas anderes bedeuten:
nämlich .Auferstehung" - die Erlösung also genau von dem, was sie in
diesem Falle auch schon bedeutet, von Vergänglichkeit'. Und das erscheint
einleuchtend, weil die „Schädelstätte", Golgatha, der Ort der Erlösung ist.
Damit sieht es so aus, als sei die letzte Pointe der Allegorie, deren Gebiet das
Trümmerfeld des Vergänglichen ist, die Erlösung von ihr selbst. . .44
„In Gottes Welt erwacht der Allegoriker. > Ja/ wenn der Höchste wird
vom Kirch-Hof erndten ein/ So werd ich Todten-Kopff ein Englisch Antlitz
seyn. < Das löst die Chiffer des Zerstückeltsten, Erstorbensten, Zerstreute-
sten. Damit freilich geht der Allegorie alles verloren, was ihr als Eigenstes
zugehörte: das geheime, privilegierte Wissen, die Willkürherrschaft im Be-
reich der toten Dinge, die vermeintliche Unendlichkeit der Hoffnungsleere.
All das zerstiebt mit jenem einen Umschwung, in dem die allegorische Ver-
senkung die letzte Phantasmagorie des Objektiven räumen muß und, gänz-
lich auf sich selbst gestellt, nicht mehr spielerisch in erdhafter Dingwelt
sondern ernsthaft unterm Himmel sich wiederfindet." (I 406) Das ist nun
2. Darstellung der Allegorie 37

zuletzt der große „Umschwung" der Allegorie, der ihr Ende wäre. Daß sie
mit ihren eigenen Mitteln überwunden werden kann, wird fast glaubhaft
gemacht durch eine Logik wie diese: daß die Allegorie letztlich selbst nur
allegorisch, daß die ganze moderne Subjektivität einmal selbst nur subjektiv
gewesen sein könnte und nichtige Illusion. So „gänzlich auf sich selbst
gestellt" löst sich die Allegorie auf wie ein Spuk; und der Totenkopf - das
Lohenstein-Zitat ist auch das Motto des Schlußteils - erscheint, ohne ver-
wandelt worden zu sein, als Engelsantlitz. - Einen solchen Moment hält am
Ende die Anekdote eines barocken Wunders fest: „Die heilige Therese sieht
in einer Halluzination, wie die Madonna Rosen auf ihr Bett legt; sie teilt es
ihrem Beichtvater mit. > Ich sehe keine < , erwidert der. - > Die Madonna
hat sie ja mir gebracht < , gibt die Heilige zur Antwort. In diesem Sinn wird
die zur Schau getragene eingestandne Subjektivität zum förmlichen Garan-
ten des Wunders, weil sie die göttliche Aktion selbst ankündigt." (I 408)
Nicht durch Objektivität wird das Wunder glaubwürdig, weil mit einem
Ausgang aus der Subjektivität schon gar nicht mehr gerechnet wird; diese ist
so mächtig, daß sie nur noch im Wunder zerstört werden kann, und die nicht
herbeizuführende, nur gnadenhaft zu gewärtigende Katastrophe ist dort na-
he, wo die Grundlosigkeit, das in sich selbst Verbohrte der Subjektivität
unhaltbar extrem erscheint.
Ihr Ende kann also die Allegorie, auch wenn sie einzig darauf hinarbeitet,
von sich aus nicht erreichen, da sie sich dabei immer noch selbst im Weg
steht. Darum ist der Schluß gewaltsam und künstlich, als ein Bruch im Text
präsentiert. Nun werde „ohne Umschweife" in theologischen Begriffen
geredet: „Denn kritisch kann die allegorische Grenzform des Trauerspiels
einzig vom höheren Bereiche aus, dem theologischen, sich lösen, während
innerhalb einer rein ästhetischen Betrachtung Paradoxie das letzte Wort
behalten muß" (I 390). So geht es also doch nicht ohne Eschatologie, und
der Versuch, Transzendenz allein durch Immanenz herbeizuführen, scheint
mißlungen. Aber auch das liegt noch im Sinn des Trauerspielbuchs, daß
dieses theologische Reden am Schluß nur ein letzter Triumph der Subjekti-
vität sein könnte. Barocke Bilder zeigen nämlich nicht allein die Schädel-
stätte der Welt, sondern oft genug auch visionär den erlösenden Einfall in
sie. Wie eine solche Apotheose ins Bild ist nun der Schluß ins Trauerspiel-
buch eingesetzt, und auch hier gilt, wie bei der Aufführung des Trauer-
spiels: „Da nun die Auflösung der Situation nicht tunlich ohne die Apo-
theose des Schlußes war, so konnten sich die Verwicklungen im beschränk-
ten Räume der Vorderbühne nur schürzen, die Lösung fand in der allegori-
schen Fülle statt" (I 371). Die barocke Apotheose scheint nicht ganz ins
Konzept zu passen, daß das Jenseits extrem auch das Jenseits der Darstel-
lung sein muß und nur negativ, durch die Diesseitigkeit alles Dargestellten,
in ihr sich einprägen kann. Aber andererseits besteht doch keine Gefahr,
daß die allegorische Intention aufs Nicht-Intendierbare dieses unerlaubter-
weise plötzlich erreicht.
Die Allegorie überspannt die Differenzen, in denen sie spielt, nur um
38 I. Barock, Miniaturmodell der Moderne

einen letzten Schluß nahezulegen auf eine ebenso tiefe und unvermittelbare
Differenz von ihr, der Allegorie selbst, zu einem X, das ihr als ihre ganz
andere Bedeutung ebenso unvermutet, äußerlich zukäme, wie innerhalb ih-
rer dem Zeichen seine Bedeutung zukommt. So wird vor allem die konstitu-
tive „Zweiheit von Bedeutung und von Wirklichkeit" (I 370) radikalisiert.
Und eine ganze Serie bekannter barocker Antithesen erscheint in Benjamins
Interpretation als die provokative Inszenierung der Überwindung der allego-
rischen Darstellungsform durch diese selbst: die Diskrepanz von Vorder- und
Hintergrund, von Trauerspielhandlung und Reyen, von Wort und Laut. In
diesem Sinn bleibt auch die Apotheose eine letzte Überspanntheit der Alle-
gorie. - Die Allegorie schlachtet die profane Welt aus, um ohnmächtig vor
dem Göttlichen sozusagen himmelweit zurückzubleiben, wodurch dieses
aber als das Göttliche erhalten wird. Im Symbol dagegen ist das Göttliche,
allerdings um den Preis seiner Profanierung, erreicht; dort sei die religiöse
Figur zu einer ästhetischen geworden. Die symbolische „Apotheose des Da-
seins" in der Klassik habe die Romantik bloß noch korrigieren, nicht mehr
rückgängig machen können: „Demgegenüber ist die barocke Apotheose dia-
lektisch. Sie vollzieht sich im Umschlagen von Extremen" (I 337). Durch
dieses Umschlagen der Extreme in ihr suggeriert sie ein mögliches Extrem
ihr gegenüber, in das auch sie umschlagen könnte. Das Symbol präsentiert
sich vollkommen, die Allegorie aber betont defizient. Hier gibt es keine
Verklärung von innen wie im symbolisch verfaßten Kunstwerk, nur äußer-
lich den „Widerschein eines fernen Lichtes" (I 334): „Die Neigung des
Barock zur Apotheose ist Widerspiel von der ihm eigenen Betrachtungsart
der Dinge. Sie tragen auf der Vollmacht ihres allegorischen Bedeutens das
Siegelbild des Allzu-Irdischen. Niemals verklären sie sich von innen. Daher
ihre Bestrahlung im Rampenlicht der Apotheose" (I 356).
Benjamins Barock ist als Alternative zur Klassik, damit aber auch als
Alternative zu einer anderen, früheren und bekannteren Alternative zur Klas-
sik: zur Romantik konzipiert. „In beiden: in Romantik wie Barock handelt es
sich nicht sowohl um ein Korrektiv der Klassik als um eines der Kunst selbst"
(I 352), und Barock erhält den Vorrang. Das Trauerspielbuch liegt damit ganz
im wissenschaftlichen Trend einer Aufwertung des Barocks, dieser erst Ende
des 19. Jahrhunderts erfundenen .Epoche', der mit dem Expressionismus
eingesetzt hat.45 Originell ist Benjamins Unterfangen nicht, aber einzigartig
die Konsequenz, mit der er hier und für immer seine Betrachtung aus dem
Ästhetischen, aus dem eingeschränkten Bereich von ,Kunst' und ,Dichtung' -
im Sinn der Klassik und Romantik - hinausgeführt hat. Die Allegorie sei
keine ästhetische Form; darum faßt Benjamin seine Arbeit auch als eine
Abrechnung mit dem Expressionismus auf, der im ,Kunst'-Bereich verblie-
ben ist.46 - Das romantische Verfahren der Herstellung von Transzendenz
mitten in der Immanenz geht im Trauerspielbuch nicht vergessen: Spiel im
Spiel, mise en abime, Ironie, den „indirekten gleichsam Spiegel-, kristall-
oder marionettenhaften Einschluß der Transzendenz" (I 260) findet man
auch schon im Barock, „im idealen romantischen Trauerspiel des Calderon"
2. Darstellung der Allegorie 39

(I 261), das die Romantiker für sich entdeckt haben. Auf Calderon muß sich
Benjamin berufen als auf die Vollendung dessen, was das deutsche Barock-
drama nur in quälend unvollendeter, mißlungener Form realisiert habe. Aber
das Nicht-Gelungensein gehört zur Allegorie.
Dem romantischen Entwurf des Lesens, der .Kritik', den Benjamin in
seiner Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik"
exponiert hat, wonach Kritik nicht erst an das zu Lesende herangehen oder
noch über es hinausgehen muß, sondern so schon darin angelegt ist, daß sie
die Realisierung, das Leben des Textes ausmacht, wird ein anderes Lesen
entgegengehalten: „Kritik ist Mortifikation der Werke. Dem kommt das
Wesen dieser mehr als jeder andern Produktion entgegen. Mortifikation der
Werke: nicht also - romantisch - Erweckung des Bewußtseins in den lebendi-
gen, sondern Ansiedlung des Wissens, in ihnen, den abgestorbenen." (I 357).
- Das ist auch der Begriff der Kritik in „Goethes Wahlverwandtschaften".
Nach ihm ist ein zeitgenössischer Text keineswegs leichter zugänglich als ein
veralteter, im Gegenteil wird ein Text lesbar dadurch, daß er zum Relikt
erstarrt und das Stoffliche an ihm, antiquiert und unverständlich geworden,
als „Sachgehalt" sich löst von einem „Wahrheitsgehalt". Ähnlich wird in
„Die Aufgabe des Übersetzers" behauptet, ein Text sei lesbarer in der
Übersetzung denn im Original: Erst in der Konkurrenz der verschiedenen
Sprachen komme ,die Sprache' - die reine, die keine bestimmte Sprache sein
kann - zur Geltung, so wie durch die gehäuften Gegenstände der Erkenntnis
doch die unerkennbare Wahrheit zur Geltung kommt: „die des Dichters ist
naive, erste, anschauliche, die des Übersetzers abgeleitete, letzte, ideenhafte
Intention" (IV 16). ,Die Sprache' kann nicht noch eine andere als die wirkli-
chen Sprachen sein, sondern erscheint in ihnen fast, wenn sich diese nämlich
nicht total, sondern als Stückwerk und Trümmer geben: in den Brüchen und
Unterbrüchen dazwischen. „In dieser reinen Sprache, die nichts mehr meint
und nichts mehr ausdrückt, sondern als ausdrucksloses und schöpferisches
Wort das in allen Sprachen Gemeinte ist, trifft endlich alle Mitteilung, aller
Sinn und alle Intention auf eine Schicht, in der sie zu erlöschen bestimmt
sind" (IV 19). Mit dieser Stelle im Übersetzer-Aufsatz korrespondiert die
Wendung in der Vorrede von der „Natur der Wahrheit, vor welcher auch das
reinste Feuer des Suchens wie unter Wassern verlischt" (I 216).
II. Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

1. LEKTÜRE-STRATEGIE

Der moderne Allegoriker: Baudelaire


Benjamins Beschäftigung mit dem 17. Jahrhundert ist mit dem Trauerspiel-
buch zu Ende; die im ,Barock'-Modell exponierte Problematik der Moderne
wird fortan am ,19. Jahrhundert' im großen Maßstab durchgespielt. War die
Barock-Arbeit von Dürers „Melencolia" beherrscht, so überlagert dieses Bild
nun ein anderes, das ebenfalls einen Engel, aber einen neuen zeigt: Paul Klees
„Angelus Novus", der Benjamin gehörte und den er, so lange es ging, fest-
hielt als letzten Besitz.47 Die Ähnlichkeit beider Figuren ist unübersehbar:
Auch der neue Engel stehe, wie der alte, mit Saturn im Bund, er starrt als
„Engel der Geschichte" auf lauter Zerschlagenes und sieht nur die Trümmer
sich häufen. Aber der Hang zum Bewahren scheint in ihm dem Hang zum
Zerstören gewichen, die trübsinnige Versunkenheit umgeschlagen in zornige
Aggressivität; er habe „Klauen" und „spitze, ja messerscharfe Schwingen"
(VI 523), sei unmenschlich, „ein Geschöpf aus Kind und Menschenfresser"
(II 367). Doch der inhumane Zug könnte täuschen: Man müsse schon „Klees
> Neuen Engel < , welcher die Menschen lieber befreite, indem er ihnen
nähme, als beglückte, indem er ihnen gäbe, gesichtet haben, um eine Huma-
nität zu fassen, die sich an der Zerstörung bewährt" (II 367), steht im Essay
„Karl Kraus". Dort wird das Werk von Kraus als nicht-schöpferisches gewür-
digt, und überhaupt setzt Benjamin auf die zeitgenössische Moderne des 20.
Jahrhunderts, weil er in ihr die Chance einer befreienden Verarmung ent-
deckt; und ein Repräsentant dieser Moderne ist Paul Klee.
Beide Bilder sind komplementär, sie zeigen dieselbe janusköpfige Leserfi-
gur in regressiver und in progressiver Tendenz. Diese beiden Tendenzen sind
durchgehend in Benjamins Texten am Werk, ohne sich zu neutralisieren:
Nostalgie die eine, die andere Flucht nach vorn. Um zwei extreme Beispiele
zu nennen: Scheint „Der Erzähler" hemmungslos Vergangenem nachzuhän-
gen, so gibt sich „Der Autor als Produzent" kompromißlos agitatorisch.
Naheliegend ist zwar der Verdacht, daß Benjamin sich immer wieder, viel-
leicht immerhin aus politischer Einsicht, mit Selbstverleugnung - wie ein
Schwimmer, nach Adornos böser Bemerkung, „der mit mächtiger Gänse-
haut ins kalte Wasser sich stürzt" (B 785) - die Flucht nach vorn angetreten
habe, dabei aber als der ins 19. Jahrhundert gehörige bürgerliche Privatmann,
1. Lektüre-Strategie 41

der er trotz allem blieb, ebenso regelmäßig wieder seiner unüberwindlichen


Nostalgie zum Opfer gefallen sei. Doch gilt es zu verstehen, daß beide
gegensätzliche Gesten nur ein einziges Gebaren sind. Im Lektüreverhalten
des Allegorikers treffen die konservativ-regressive und die destruktiv-
progressive Tendenz zusammen.
Wie im Barock, so sind im 19. Jahrhundert zwei verschiedene Arten von
Lektüre - oder wie es auch heißt: von Wahrnehmung, von Erkenntnis, von
Erfahrung - miteinander in Beziehung gesetzt. Die Beziehung zwischen I
und II ist keine einfache; der Allegoriker hält sie auf irritierende Weise aus.
Sie ist jedenfalls nicht als eine chronologische Abfolge aufzufassen. Nichts
verstellt so gründlich wie dieses Mißverständnis den Zugang zur Passagenar-
beit. ,19. Jahrhundert' bezeichnet keineswegs den Zeitraum, in dem I unwi-
derruflich von II abgelöst wird, in dem II auf I unaufhaltsam folgt, so daß
man diese Entwicklung nur noch konstatieren und beklagen kann. Vielmehr
kommen das ,Alte' und das ,Neue' so ins Spiel, daß jenes noch nicht über-
wunden und also nicht sicher das Alte wie auch dieses noch nicht siegreich
und also nicht wirklich das Neue ist: Dieses 19. Jahrhundert ist ein Schwel-
len-Raum, verzögerte, aufgeschobene Moderne, und deshalb nicht um 1900
von selbst schon abgelaufen und vorbei, auch wenn diese Epochenbezeich-
nung wie andere bequem manchmal als typologischer, dann wieder als tem-
poraler Begriff gebraucht werden kann.48
Die Beziehung von I und II hält der Allegoriker so aus, daß sein Lektüre-
verhalten ganz ausgeprägt II ist, jedoch im Rahmen von I. Das ergibt die
eigenartige Strategie der verkehrten, leerlaufenden Intention, die hier noch
einmal in drei kurzen Schritten zusammengefaßt werden soll:
(a) Unbedingt vorzuziehen ist I; II erscheint demgegenüber defizient. Und
doch findet der Allegoriker den naheliegenden Ausweg, einen Weg, der von
II zu I hin führt, nicht, und er weigert sich auch schon, ihn zu suchen. So
wenig die Unvermittelbarkeit von I und II schon feststeht, so dringend
besteht der Allegoriker nun darauf und bekämpft jede Hoffnung auf Vermitt-
lung, wo immer er sie antreffen mag. Mit seinem ganzen Verhalten sorgt er
dafür, daß das Verschiedene, wenn es auch noch nicht hoffnungslos verschie-
den wäre, doch nun so erscheint. Statt die Differenz, wie es naheliegend
wäre, möglichst einzuebnen, vertieft er sie noch im höchsten Grad. Alles
verabscheut er, was wie Weg und Übergang aussieht, was nach Fortschritt
und Entwicklung klingt; Einschnitte, Unterbrüche liegen ihm.49 - (b) Die
Intention wird umgewendet, vom nach wie vor Intendierten weg. Die Sehn-
sucht oder - weil I vergangen scheint - die Nostalgie gibt ihr Ziel scheinbar
auf, ohne zu verschwinden oder sich auch nur abzuschwächen: Sie geht in der
verkehrten Richtung weiter. Der Allegoriker wendet sich vom Erstrebten in
einer Art finsterer Verzweiflung ab, die es erst so strahlend macht. Dabei
wendet er sich aber dem, was ihm bleibt, auch wirklich zu. Die Be-
schränkung auf II sieht nicht aus wie Resignation. Nachdem die vollkom-
mene Sprache aufgehört hat, irgendwie erreichbar zu sein, praktiziert der
Allegoriker die defiziente mit größtem Engagement, und er resigniert mit
42 II. Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

einer Vehemenz und Begeisterung, die leicht mißverstanden werden kann.


Denn die Abkehr vom Ersehnten ist weniger der Abbruch einer Beziehung zu
ihm, die vielleicht gar nie bestand, als vielmehr der Versuch, diese Beziehung
auszuspannen und ex negativo zu gestalten. (Dem Vollkommenen wird das
Mangelhafte - dem Symbol die Allegorie, dem Original die Übersetzung -
vorgezogen, ohne daß es den Platz mit ihm tauscht. Denn es gibt tatsächlich
einen Mangel des Vollkommenen selbst. Das wird erst im 19. Jahrhundert
offensichtlich, wo I nicht einfach, wie es im Barock-Modell noch vorgemacht
wird, endgültig verloren ist, sondern gegenüber II im Gegenteil erst recht
aufkommt. Hier muß die bessere Erfahrung und Sprache mit einem großen
Aufwand kritisiert werden: als die .mythische'. Im .Mythos' liegt die Trostlo-
sigkeit des Mangellosen, der Terror des Vollkommenen. II ist von der Erlösung
willentlich und ganz abgeschnitten, aber dabei doch erlösungsbedürftig auf sie
bezogen; in I aber ist ,Erlösung' gar keine mögliche Kategorie.50) - (c) Den
Allegoriker mißversteht man nur allzu leicht. Denn die Intention in ihrer
trotzigen Beschränkung auf II, die intentionale Sprache, intendiert letztlich
doch nicht das viele, was intendierbar ist, sondern statt aller möglichen Gegen-
stände der,Erkenntnis' nur die ,Wahrheit'. Die Beschränkung auf II hat unge-
schmälert und ohne spekulierenden Hintergedanken perfekt zu sein, und doch
geschieht sie nur im Hinblick auf I.
Der ins 19. Jahrhundert versetzte Allegoriker heißt Baudelaire.51 Und mit
Allegorien wird er versorgt, - wobei nun aber nicht an die Masse jener
allegorischen Darstellungen zu denken ist, mit denen im 19. Jahrhundert die
,Kunst' der ,Technik' standzuhalten versucht, an jene Allegorien des Kunst-
schaffens, aber auch der ,Industrie' oder der ,Elektrizität', die als Dekoration
öffentlicher Architektur noch ganz präsent sind.52 Auf sie geht Benjamin
erstaunlicherweise gar nicht ein. Der allegorische Gegenstand im 19. Jahr-
hundert sei die „Ware": „Die allegorische Anschauungsweise ist immer auf
einer entwerteten Erscheinungswelt aufgebaut. Die spezifische Entwertung
der Dingwelt, die in der Ware darliegt, ist das Fundament der allegorischen
Intention bei Baudelaire" (I 1151). Indem sich der Tauschwert auf Kosten des
Gebrauchswerts, die fremde, kontingente Bedeutung statt einer Eigenbedeu-
tung des Dinges durchsetzt, erhält es Warencharakter. Der ,Preis' ist so
zufällig und ungegründet an die Ware geknüpft wie die Bedeutung an den
allegorischen Gegenstand.53
Die ,Ware' existiert erst in der modernen, defizienten Erfahrung II, wie sie
sich zuerst in der Großstadt des 19. Jahrhunderts machen läßt, und dieser
überliefert sich nun der Allegoriker Baudelaire rückhaltlos. Er wendet ihr
sein ungeteiltes Interesse zu; aber dieses gilt der Erfahrung I, die er sich
verbietet dadurch. Er verbietet sie sich, während sie ihm überall noch ange-
boten wird, so daß ihm das 19. Jahrhundert nicht einmal die kleine Bequem-
lichkeit verschafft, ihr nachzutrauern. Von zwei unvereinbaren Positionen
nimmt der Allegoriker also die ein, die ihm nicht liegt. Es gilt darum, „seinen
Machenschaften dort nachzugehen, wo er ohne Frage zu Hause ist: im gegne-
rischen Lager" (I 1167). Ganz Ähnliches ist auch an Benjamin aufgefallen:
1. Lektüre-Strategie 43

„manchmal will es scheinen, als verfiele er dem, was Anna Freud die Identifi-
kation mit dem Angreifer genannt hat"54. Was aber Adorno nur befremdet als
eine eigentümliche „Naivität", die ihn „zuweilen mit machtpolitischen Ten-
denzen sympathisieren" ließ55, bei Benjamin konstatiert, das hat dieser bei
Baudelaire als Strategie aufgewiesen.
Benjamins Baudelaire-Interpretation kann in manchen Punkten gezwun-
gen und widersprüchlich erscheinen. An einigen solchen Punkten wird sie
hier aufgenommen, denn gerade sie erhalten im Bild des Allegorikers ihren
Sinn. Da die Äußerungen des Allegorikers mißverständlich sind, kann sein
Werk nicht ohne ihn und er selbst nicht aus dem Werk allein verstanden
werden. Ebenso aufschlußreich wie Baudelaires literarische Arbeiten können
seine Kommentare dazu sein, - wobei aber diesen ebensowenig wie jenen zu
trauen ist. Auch Erinnerungen an Baudelaire, Urteile über Baudelaire - und
nicht etwa nur verständnisvolle - bezieht Benjamin in seine Darstellung ein,
um ein Portrait zu zeichnen, zu dem auch die Stimme und der Blick, der
Gang und die Kleidung gehören. Denn die komplizierte Strategie des Allego-
rikers, der ganz an dem genug hat, was ihm doch nicht genügt, der im Sinn
hat, was er nicht im Sinn haben darf, kann ihm nicht einfach nachgewiesen
werden, sondern wird höchstens im Ganzen seines Gebarens und vom ge-
samten Komplex seiner Verfassung her einsichtig. Diese ist im Trauerspiel-
buch die Melancholie. Und Benjamin sammelt ständig Belege dafür, daß
Baudelaire Melancholiker war. Nur ein Beispiel ist die Anekdote, daß Baude-
laire seinen Namen etymologisch auf „badelaire" zurückgeführt habe, einen
kurzen, breiten, gebogenen Säbel, wie er im Musee de Cluny als altes Exeku-
tionsinstrument aufbewahrt sei. ,Je fremis en pensant que le profil de mon
visage se rapproche du profil de ce badelaire." Man hält ihm entgegen, in
seinem Namen stecke „baud",,fröhlich': „Vous etes bon et gai. - Non, non, je
suis mechant et triste." (V 315) Böse ist die Traurigkeit des Melancholikers.
Seine Trauerarbeit erschöpft sich in Destruktion, die sadistisch erscheint,
weil er das, was er zerstört, ja keineswegs haßt, aber auch gar nicht an etwas
anderem interessiert ist, das an dessen Stelle treten soll; Beispiele für Baude-
laires Sadismus werden angeführt.56 „Der destruktive Impuls Baudelaires ist
nirgends an der Abschaffung dessen interessiert, was ihm verfällt." (V 415; cf.
I 666)
Baudelaire bewährt sich als Allegoriker, indem er sich der neuen, doch
keineswegs schon herrschenden Erfahrung II dort, wo sie sich zuerst machen
läßt, in der großen Metropole des 19. Jahrhunderts mit ihren neuen Phäno-
menen wie der ,Ware' und der ,Masse' aussetzt und die unzähligen Flucht-
möglichkeiten in die Erfahrung I, die sich kompensatorisch mit dem Auf-
kommen von II eröffnen, nicht ergreift. Daß er sich doch an I orientiert,
wenn er sich kompromißlos II verschreibt, das bleibt nur an einzelnen Signa-
len knapp ablesbar. Ein solches Signal sind die Sterne, die in der neuen
öffentlichen Großstadtbeleuchtung verschwinden und die dennoch in Bau-
delaires Gedichten unvergessen sind. Sie stehen für die Erfahrung einer
,Ferne', welche es in der aus nächster ,Nähe' zu machenden modernen Erfah-
44 II. Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

rung nicht mehr gibt. Ohne daß sie noch Sehnsucht erwecken dürfen,
stecken die Sterne bei Baudelaire den Rahmen für das Bild der Moderne
ab.
Durch keine Überzeugung, nur durch Taktik ist die Position des Allegori-
kers bestimmt. Denn ,seine' Position ist für ihn schon besetzt, und er vertritt
sie, indem er die entgegengesetzte einnimmt. Nur durch Abgrenzungen und
Distanzierungen bestimmt sich in der aktuellen Situation sein Platz. Benja-
min sieht Baudelaires Werk ganz mit taktischem Kalkül organisiert, und er
führt als erster ein Interpretieren vor, dem jedes Bekenntnis Irreführung und
jede Schlüsselstelle Mystifikation sein könnte, indem er sich dabei selbst
ebenfalls ganz von strategischen Erfordernissen leiten läßt. Denn wie schon
seine frühe Baudelaire-Übersetzung eine Entgegnung auf die Übertragung
von Stefan George darstellt, so ist seine Interpretation Baudelaires ganz als
Abrechnung mit der Sekundärliteratur angelegt.57
Bei all seinem Sinn für Revolte bringt Baudelaire kein Verständnis auf für
die Revolution. Er ist alles andere als ein politisches Genie, und man findet
ihn immer wieder in kompromittierenden Lagen; zum Beispiel hindert ihn
seine Solidarität mit den untersten Schichten nicht daran, auf den Pöbel zu
schimpfen. So bringt es auch der barocke Allegoriker nur zu vagem Unmut,
nie zu politisch ein- und umsetzbarer Empörung, weil ihm innerhalb der
Geschichte keine wirkliche Verbesserung jemals denkbar erscheint. Baude-
laire tritt als vehementer Gegner der Idee des Fortschritts auf. Und er greift
sogar auf die Lehre von der Erbsünde zurück, um mit theologischen Mitteln
die geschichtliche Ausweglosigkeit zu radikalisieren. Durch den Erbsünde-
Begriff bleibt er aber auch davor geschützt, Hoffnungen statt in die Ge-
schichte nun in die Natur zu setzen: „Aussi la nature entiere participe du
peche originel" (V 315). Er verabscheut die Natur. Mithilfe des Artfiziellen
geht er gegen das Organische vor. Die Destruktion findet bei ihm die Form
der technischen Konstruktion: Die Armatur und Apparatur - „L'appareil
sanglant de la destruction" (V 330) - ist das Ende des Natürlichen. Nicht
mehr ,geschaffen' wie .Dichtung' und .Poesie', sondern kalkuliert und ganz
technisch ,gemacht' sei Baudelaires Werk.
So gibt sich Baudelaire in allen seinen entschiedenen Abneigungen - gegen
die Revolution, gegen den Fortschritt, gegen die Natur und gegen die Poesie -
als der Allegoriker zu erkennen. ,Je ne suis pas dupe, je n'ai jamais ete dupe!
Je dis > Vive la Revolution! < comme je dirais: > Vive la
Destruction! < > Vive l'Expiation! < > Vive le Chätiment! < > Vive la
Mort! < " (V 318) Weil der Mangel an Einsicht, das Fehlen jeder Überzeu-
gung bezeichnend ist für diese Figur, zeichnet auch eine kohärente Darstel-
lung wie „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire" nur ein unklares und
verwirrendes Bild von ihr: Extrem verschiedene Verhaltensweisen treffen in
ihr zusammen, ohne deswegen auch schon in einer Person ,vereinigt' zu sein.
Wenn Benjamin aus der Sekundärliteratur zitiert: „das spezifisch Baudelaire-
sche besteht darin, immer zwei entgegengesetzte Arten der Reaktion zu
vereinigen..., man könnte sagen, eine vergangene und eine gegenwärtige.
1. Lektüre-Strategie 45

Ein Meisterstück des Willens...", dann stimmt er dem durchaus bei, er


verwahrt sich nur dagegen, daß dies eine Willensleistung gewesen sei. „Ei-
nem jähen, chockartigen Wechsel war Baudelaire in allen seinen Regungen
ausgesetzt." (I 598) Ebensowenig sind wohl die Widersprüche in Benjamins
Werk kontrolliert. - Und man kann, indem man seine Lektüre Baudelaires an
ihm selbst übt, die bekannte abschätzige Bemerkung Brechts für treffender
halten als alle freundschaftlichen Würdigungen: „alles mystik, bei einer hal-
tung gegen mystik. in solcher form wird die materialistische geschichtsauf-
fassung adaptiert! es ist ziemlich grauenhaft"58. Ein genauere Formel für
Benjamins Werk, an dessen Anfang die „mystische Sprachtheorie" (II 150)
steht, läßt sich kaum finden.

Gegen den Mythos


Der Allegoriker läßt sich wie ein von der Moderne Begeisterter auf die
Erfahrung II ein, indem er sich damit aber das für ihn weit Wünschenswerte-
re, die Erfahrung I, versagt. Baudelaires Interesse an der Großstadt des 19.
Jahrhunderts unterscheidet sich von der Großstadtbegeisterung so vieler
Zeitgenossen eben dadurch, daß seine Modernität .heroisch' ist. Die Geste
der Bevorzugung des Schlechteren wird von daher verständlich, daß die
Erfahrung I bei Benjamin die ,mythische' heißt. „Es ist in der Allegorie das
Antidoton gegen den Mythos zu zeigen. Der Mythos war der bequeme
Gang, den Baudelaire sich versagt hat." (I 677) Und: „Es ist die Antithese
zwischen Allegorie und Mythos klar zu entwickeln. Baudelaire dankt es dem
Genius der Allegorie, wenn er dem Abgrund des Mythos, der seinen Weg
ständig begleitete, nicht anheimfiel." (V 344)
Im 19. Jahrhundert wird gegen die neuen, eine veränderte Wahrnehmung
II verlangenden Phänomene kompensatorisch eine alte Wahrnehmung I auf-
geboten; ,alt' ist diese, wie gesagt, nun nicht im zeitlichen Sinn, im Gegenteil
kommt ihre Zeit eben jetzt. Dem Modell einer linear ablaufenden beschich-
te' - dieser Kollektivsingular tritt, wie Reinhart Koselleck gezeigt hat, erst im
19. Jahrhundert auf59 - mit ihrem unaufhaltsamen .Fortschritt', den man
exemplarisch im Bereich der Technik realisiert sieht, wird ein anderes, zykli-
sches Modell entgegengesetzt: die ,ewige Wiederkunft des Gleichen'. Benja-
min erkennt in der Lehre von der ewigen Wiederkunft nicht nur einen im 19.
Jahrhundert wiederholt und an entscheidenden Stellen - bei Baudelaire,
Blanqui und Nietzsche - auftauchenden Mythos, sondern das Paradigma des
Mythischen selbst60: „Die > ewige Wiederkehr < ist die Grundiorm des
urgeschichtlichen, mythischen Bewußtseins" (V 177). „Die Essenz des my-
thischen Geschehens ist Wiederkehr." (V 178) Das ganz Neue, Erstmalige
wird im 19. Jahrhundert immer wieder als das Uralte und immer schon
Dagewesene wahrgenommen, und das heißt: Geschichtliches wird als prä-hi-
storische „Urgeschichte" in die Natur projiziert. Natur ist der mythische
Bereich; in ihm läuft die Zeit nicht ab, da alles nur als Wiederholung ge-
46 II. Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

schieht. Und hier bleibt kein Raum für menschliches Handeln wie in der
Geschichte, sondern übermächtig herrscht das .Schicksal'.
Benjamin hat nicht aufgehört, die Idee des Fortschritts' zu denunzieren.
Dem Konzept der Geschichte als eines linearen, kontinuierlichen Zeitver-
laufs setzt er aber niemals, wie es naheliegend wäre, das Konzept des Mythos
entgegen, sondern ein radikal theologisches, nach welchem das Ziel der
Geschichte nicht in dieser und durch diese selbst erreichbar ist, sondern nur
ihr Ende bedeuten kann; die Lösung müßte Erlösung sein. Das theologische
Konzept erlaubt die doppelte Frontstellung des Allegorikers gegen die li-
neare Geschichte und gegen die zirkuläre Natur. Der Mythos ist der Ausweg,
der sich Benjamins geschichtsfeindlichem Diskurs immerfort anbietet und
den nicht zu nehmen immerfort der größte Aufwand geleistet wird. (Aktuell
ist Benjamins Werk heute nicht nur darum, weil auch unsere historische
Situation bei aller Verschiedenheit gegenüber seiner ebenfalls wieder daran
zweifeln läßt, ob ihr eigenes Lösungspotential grundsätzlich genügt und ob
irgend eine in ihr mögliche Entwicklung die Bedrohung der Zukunft abwen-
den kann. Aktuell ist dieses Werk vor allem, weil es das auch heute noch
beliebteste und erfolgreichste piece de resistance einer anderen, ungeschmä-
lerten und kompletten Erfahrung, eben den Mythos, abweist. Es ist bezeich-
nend, daß bei Mircea Eliade der „Mythos der ewigen Wiederkehr" - ohne
Bezugnahme auf Benjamin - als echte Alternative zur geschichtlichen Zeit
erneut gefeiert wird; das sei der Eingang in eine volle Zeit-Erfahrung, die
Versetzung „in illud tempus".61)
Statt verloren zu gehen, behauptet sich die Erfahrung I im 19. Jahrhundert
nicht nur sehr beharrlich gegenüber II, sie droht sich sogar zu Benjamins Zeit
endgültig durchzusetzen: im Faschismus. Das Projekt einer Restitution des
Mythos, welches das 19. Jahrhundert im Gegenzug gegen die Moderne, ge-
gen Industrialisierung und Technisierung, verfolgt hat, geht im 20. Jahrhun-
dert seiner verheerenden Realisierung entgegen, und das philosophische Pro-
gramm einer ,Neuen Mythologie', die die Mängel gegenwärtiger Erfahrung
beheben sollte, steht - mit den Mythen des ,Volkes' und des,Bluts' - unmit-
telbar vor seiner trivialen Einlösung. Ein theoretischer Höhepunkt ist mit der
Diffamierung des .Geistes' bei Ludwig Klages erreicht, der als Denker des
George-Kreises gilt. „Goethes Wahlverwandtschaften", das Buch, das Benja-
min dem Mythos widmet und das also das genau und scharf abgetrennte
Gegenstück zum Trauerspielbuch, nach der Exposition von II die Exposition
von I, darstellt, ist nicht nur nebenbei, sondern ganz und gar gegen die
damals führende Literaturbetrachtung des George-Kreises, gegen Gundolfs
monumentalen „Goethe", gerichtet. - Das ist die politische, aber deshalb
nicht notwendig äußerliche Erklärung für die seltsame Strategie des Allego-
rikers, das Schlechtere vorzuziehen. Die Sensibilität für den Terror im Mythi-
schen blieb Benjamin durch seine jüdische Abkunft gewährleistet.
Die Erfahrung I büßt für den Allegoriker, der sie sich verbietet, ihre
Faszination deswegen nicht ein. In Benjamins Werk bleibt ihr Reiz bei aller
Kritik daran unvermindert mächtig: oft fast unwiderstehlich dort, wo sie als
1. Lektüre-Strategie 47

Kindheitserfahrung dargestellt wird. Aber auch die „Berliner Kindheit um


Neunzehnhundert", die sich mit wenig Mühe hemmungslos nostalgisch le-
sen läßt, zeigt die mythische Erfahrung mit der Angst und dem Schrecken,
die zur Kindheit gehören, wenn deren Geborgenheit unentrinnbar, das Eins-
sein mit den Dingen quälend als Selbstverlust erscheint. Wie tief die Neigung
für das Abgelehnte geht, das machen schlagartig die frühen Heinle-Sonette
klar, die ganz in der Sprache des George-Kreises, wenn auch gegen das, was
dort in und mit dieser Sprache passiert, verfaßt sind. Und auch Benjamins
Baudelaire-Übersetzungen, welche doch polemisch gegen Stefan Georges
berühmte Nachdichtungen gewendet sind, stehen ganz in deren Bann. Dem
Kreis um George ist Benjamin nicht bloß nahe gestanden.62
Benjamins schwierige Position innerhalb der Begriffsgeschichte des „My-
thos" ist - im Anschluß an Winfried Menninghaus - deutlich zu bezeich-
nen.63 - Im 19. Jahrhundert setzt sich eine neue Mythoskonzeption, die in der
Begriffsgeschichte grob als die romantische bezeichnet wird, gegen die der
Aufklärung durch. Ist für diese der Mythos das bloß Irrationale und Noch-
nicht-Vernünftige, welches nur als frühere Phase der Entwicklungsgeschich-
te, die zum gegenwärtigen Zustand geführt hat, gerechtfertigt scheint, so
wird er Ende des 18. Jahrhunderts - durch Heyne, Herder, Carl Philipp
Moritz - als ein Bereich sui generis entdeckt, der den rationalen Bereich
tatsächlich konkurrenziert. Nun scheint der Mythos irreduzibel, und er wird
zu dem, was er bis heute geblieben ist: eine eigene Sicht der Welt, wie man
anfangs sagt, oder, wie es heute heißt, eine gänzlich andere Erfahrung, die
nicht unsere jetzige ist und sie wirklich relativieren kann. Die Aufklärung hat
den Mythos auf Vorstufen ihrer selbst, bei den ,Alten', den Wilden und den
Kindern vorgefunden; ganz entsprechend beruft sich die neue, gegenwarts-
kritische Würdigung des Mythos zuerst auf die ,Alten', nämlich die klassi-
schen antiken Mythen und später die indischen, dann folgt im 19. Jahrhun-
dert die Rehabilitierung der Kindheit und der primitiven Kulturen, die nun
nicht mehr nur als unerwachsene oder unzivilisierte Stadien zu verstehen
sind. Auf allen möglichen Gebieten - in Altphilologie, Theologie und Philo-
sophie, in Psychologie und Ethnologie - wird zu Benjamins Zeit dem My-
thos das genuine Recht einer eigenen „Begriffsform"64 zuerkannt.
Benjamins Versuch, zwei radikal verschiedene Arten von Erfahrung, von
Sprache geltend zu machen, steht also in der Tradition der romantischen
Rede vom Mythos. Und auch seine „Antithese zwischen Allegorie und My-
thos" (V 344) ist nicht originell. Denn gleichzeitig mit der romantischen
Rehabilitierung des Mythos bildete sich - allerdings viel langsamer und
terminologisch verworrener, als man sich das im Rückblick gern vorstellt -
die Opposition ,Symbol versus Allegorie', zugunsten des auf einmal hochge-
schätzten Symbols, heraus. Und dabei wurde oft das Symbol als die dem
Mythos zugehörige Sprachform aufgefaßt, die nur in der Form der ,Poesie'
noch in die Gegenwart herübergerettet war. Dagegen hatte die Aufklärung
ein allegorisches Verständnis des Mythos propagiert, erschien er doch als
bewußte und willkürliche Verschlüsselung zu bestenfalls pädagogischen,
48 II. Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

schlimmstenfalls priesterbetrügerischen Zwecken; erst die Romantik ver-


stand den Mythos als unwillkürlich und kollektiv, nach dem Muster der
,Volkspoesie', hervorgebracht.
Dennoch schließt Benjamin nicht explizit an die Tradition an, in der er
steht. Seine auffällige, „fast schon polemische Nicht-Rezeption des romanti-
schen Mythos-Begriffs" erklärt Menninghaus so: „Die romantische Apologie
des Mythos stellte sich seiner flachen rationalistischen Negation durch die
Aufklärung entgegen. Eine vergleichbare Frontstellung aber war für Benja-
min in keiner Weise gegeben. Er fand vielmehr in Politik und Theorie depra-
vierte Formen des romantischen Mythos-Begriffs vor."65 Weil Benjamin die
romantische Position schon auf der gegnerischen Seite, vom Faschismus
besetzt findet, kann man sich wohl manchmal fragen, ob er nicht auf die
Position der Aufklärung zurückfalle, etwa an dieser Stelle, die „geradezu wie
ein aufklärerischer Streitruf klingt"66: „Gebiete urbar zu machen, auf denen
bisher nur der Wahnsinn wuchert. Vordringen mit der geschliffenen Axt der
Vernunft und ohne rechts noch links zu sehen, um nicht dem Grauen an-
heimzufallen, das aus der Tiefe des Urwalds lockt. Aller Boden mußte einmal
von der Vernunft urbar gemacht, vom Gestrüpp des Wahns und des Mythos
gereinigt werden. Dies soll für den des 19wn Jahrhunderts hier geleistet wer-
den." (V 570f.) Diese Passage hat aber eine bisher übersehene Spitze gegen
Klages; nach ihm nämlich begann der „Weg des Unheils", als die Griechen
den „Urwald des Mythos mit den Beilhieben des Geistes" rodeten und so den
Prozeß „vom mythischen Schauen über die Verpersönlichung der wirkenden
Kräfte bis zum nackten Verstandeskult" einleiteten.67
Benjamins Kritik am Mythos wiederholt die Aufklärung nicht. Diese fand
im Mythos als einer vielleicht notwendigen, aber durch sie selbst überholten
Vorstufe nur einen Anteil an der Wahrheit, die im volleren Maß ihr selbst
zukam. Demgegenüber behält Benjamin nicht nur die romantische Konzep-
tion bei, wonach der Mythos seine eigene Wahrheit hat, so daß in seiner
nicht-rationalen, sinnlichen Form mehr als nur seine verzeihliche Schwäche,
nämlich gerade seine unnachahmliche Stärke liegt, er radikalisiert sogar die
Eigenständigkeit des Mythos im höchsten Grad. Der Mythos wird bei ihm so
sehr abgedichtet gegen den rationalen Bereich, daß ihm Wahrheit weder
- romantisch - zukommt noch auch - aufklärerisch - nicht zukommt: er sei
gänzlich indifferent gegen diese Kategorie. So wird die Identifizierung von
Mythos mit Wahrheit bei Gundolf mit dem denkbar stärksten Argument
bekämpft: das „Verhältnis von Mythos und Wahrheit" sei „das der gegensei-
tigen Ausschließung" (I 162). Damit ist die alte Differenz ,Logos' versus
,Mythos' extrem verschärft, und der Logos kann den Mythos, der ihm unver-
mittelbar lockend und bedrohlich gegenüber steht, nie mehr mit eigenen
Mitteln in sich überführen. Aber Benjamin entdeckt noch einen möglichen
Ausgang aus dem hermetisch abgedichteten mythischen Bereich: Mitten im
Mythos ist sein Ende angelegt, denn er drängt auf dieses - in einer Metapho-
rik, von der noch die Rede sein muß - wie der Traum auf das Erwachen von
sich aus hin.
2. ANLAGE DER PASSAGENARBEIT

Joseph Paxton, Crystal Palace (1851) Le Corbusier / Pierre Jeanneret,


Pavillon de l'Esprit Nouveau (1925)

Erinnerung des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Architektur

Die Passagenarbeit, eine aufwendige Erinnerung und Lektüre des 19. Jahr-
hunderts, wird geleistet in einer akut bedrohlichen politischen Situation: Es
sieht danach aus, als werde das fragwürdige Modell geschichtlichen Fort-
schritts durch sein verlockendes und noch fragwürdigeres Gegenmodell my-
thischen Wiederholungszwangs ein- für allemal widerlegt. Angesichts der
faschistischen Drohung ist die Passagenarbeit keine geschichtliche Betrach-
tung im historistischen Sinn, sondern ein vielleicht schon verzweifelter Ver-
such, in das aktuelle Geschehen irgendwie einzugreifen und das sich abzeich-
nende Scheitern der Moderne noch abzuwenden. Die Hoffnung wird notge-
drungen auf die defiziente Erfahrung II gesetzt. Aber II darf sich nun nicht
auf Kosten von I, das Neue nicht als Verdrängung des Alten durchsetzen.
Denn offensichtlich kippt eben der rücksichtslose Fortschritt in die ,ewige
Wiederkehr' um. Und das, was endgültig zurückgelassen sein sollte, kehrt
gerade zurück. Kein Vergessen, nur ein wiederholendes Erinnern kann wei-
terführen. Wie Benjamins eigenartiges Erinnerungswerk angelegt ist, das läßt
sich an einem darin ständig gegenwärtigen Beispiel zeigen: an der Architek-
tur. Diese ist für Epochendenken ja immer wieder, von der Erfindung von
,Renaissance' und ,Barock' im 19. Jahrhundert 68 bis zur Proklamation der
,Postmoderne', paradigmatisch gewesen.
50 IL Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

Benjamin hat sich bei seiner Auffassung der Architektur des 19. Jahrhun-
derts auf Alfred Gotthold Meyers „Eisenbauten" und Siegfried Giedions
„Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton" abgestützt.69
Meyer unternimmt eine kunstgeschichtliche Betrachtung des eben erst in
seinen Umrissen erkennbaren 19. Jahrhunderts mit all der Vorsicht, die ein so
gewagtes Unternehmen damals zu erfordern scheint. Denn noch gilt es nicht
als ausgemacht, daß das 19. Jahrhundert in der Kunstgeschichte, die in ihm
erfunden worden ist, auch selbst einen Platz beanspruchen kann. Zweifellos
hat das 19. Jahrhundert Eigenes, nie vorher Dagewesenes hervorgebracht,
aber auf technischem Gebiet, und das aktuelle Problem stellt sich damals so:
ob sich die Technik versöhnen lasse mit der,Kunst'. Ein Lösungsversuch war
das Bestreben, das Technische überall dort, wo es hervortrat, gewaltsam als
Künstlerisches auszustaffieren. War die Photographie noch eine Art von
Malerei70, war der Eisenbau noch eine Art von Architektur? Meyer formuliert
die Frage so: ob die Architektur des 19. Jahrhunderts, dieses Museum von
Stilen, auch ihren eigenen Stil besitze? (Heute, wo das 19. Jahrhundert selbst
definitiv museumswürdig geworden ist, scheint das nun keine Frage mehr zu
sein. Aber der verbissene Kampf, den noch ein Adolf Loos gegen den „Stil" -
jene beliebige künstlerische Ausstaffierung des rein Konstruktiven, welches
dieses goutierbar machen sollte - geführt hat, läßt erahnen, wie mühsam im
20. Jahrhundert die Kompromißlösung des 19. erst einmal abgewehrt werden
mußte: jene .angewandte Kunst', in welcher die in den Himmel erhobene,
.reine' Kunst ihren Frieden mit einer Technik geschlossen hatte, die noch im
Widerspruch zu jeder Ästhetik stand, und wie mühsam der Kunst-Begriff
selbst erst einmal für die Moderne zu verändern war.71)
Im 19. Jahrhundert steht der Architektur mit dem Eisen auf einmal ein
neuartiges Material zur Verfügung, das eine entsprechende Technik erfordert
und für bislang unbekannte Bauwerke verwendet werden kann. Die Wände
sind in ihrer Stützfunktion zum ersten Mal entbehrlich geworden und geben
dem Baustoff Glas weite Flächen frei. Eisen ist das Material der „Konstruk-
tion", ein Stoff, der bei seinem ersten Auftreten gar keiner mehr zu sein
scheint, der gleichsam immateriell wie der bloße Plan ein Bauwerk realisiert,
welches sich erstmals anscheinend überhaupt nicht mehr nach dem Material
ausrichten muß. Für Gestaltung bleibt da, wie man meint, gar kein Raum; die
schlanken Träger nehmen sich nur wie die Linien der statischen Berechnung
aus, welche - nach Meyer - erst jetzt, im 19. Jahrhundert, auf wissenschaftli-
cher Grundlage durchgeführt wird.72 Wie unvergleichbar neu diese Technik
vorkommen mußte, beweisen die von ihr hervorgerufenen theoretischen De-
batten: Die „Konstruktion" erscheint als der Gegensatz zur „Architektur",
der „Bauingenieur" stellt sich dem „Architekten" entgegen, der sich noch als
Künstler versteht, und die neugegründete Ecole Polytechnique - ihr wird im
Passagenwerk spät noch ein eigenes Konvolut eröffnet - tritt für das ganze 19.
Jahrhundert zur Ecole des Beaux Arts in Konkurrenz.73
Meyers Würdigung des 19. Jahrhunderts erfolgt nicht zufällig erst vom 20.
aus. Im 19. Jahrhundert wird nämlich das Neue, das sich eröffnet, nur
2. Anlage der Passagenarbeit 51

in einem Zurückweichen davor wahrgenommen, und seine eigensten Mög-


lichkeiten werden erst im 20. Jahrhundert ungebrochen realisiert: durch jene
moderne Architektur, welche heute durch die ,postmoderne' Theorie in
ihren Grenzen und Umrissen sichtbar geworden ist.74 Erst durch die Mo-
derne gewinnen jene inzwischen schon veralteten Glas- und Eisenbauten
ihren versteckten prophetischen Zug. Denn im 19. Jahrhundert werden mit
denselben Mitteln, mit denen progessiv Modernes herzustellen gewesen wä-
re, ganz andere, regressiv gestaltete Bauten errichtet, in denen das Neuste als
Ältestes - und das heißt: mythisch - erscheint. Benjamin nennt sie „Traum-
häuser". Die Technik räumt also keineswegs wie von selbst mit dem Mythos
auf; auch das Technische wird noch mythisch erfahren: „Es gibt keine seich-
tere, hilflosere Antithese als die reaktionäre Denker wie Klages zwischen
dem Symbolraum der Natur und der Technik sich aufzustellen bemühen" (V
493). Denn nur im Rückgriff auf ungeschichtlich Uraltes erweist sich das
zukunftsweisend Neue als assimilierbar, und das Erstmalige muß als natur-
haft-mythische Wiederholung auftreten: Die ersten Eisenkonstruktionen
wurden entweder dekorativ zugerichtet oder gnädig unter wuchtigem Stein,
der die Trag- und Stützfunktion nur noch mimte, verborgen. Die Baumeister
jener Zeit „bilden Träger der pompejanischen Säule, Fabriken den Wohnhäu-
sern nach, wie später die ersten Bahnhöfe an Chalets sich anlehnen" (V 46).
Oder die Passage wird einem Kirchenraum, einem orientalischen Bazar
nachgebildet.
Das Glas, dem die Wände plötzlich geräumt sind, dient keiner Klarheit,
sondern einer Verklärung, und die leichte, durchsichtige Konstruktion wird
durch funktionslos vorgeschobene, in einem bestimmten ,Stil' gehaltene Fas-
saden unkenntlich gemacht: „Man schuf neue Konstruktionsmöglichkeiten,
aber man hatte gleichsam Angst vor ihnen, man erdrückte sie haltlos in
Steinkulissen."75 Gepflegt wird die Dekoration. Exzessiv möblierte, drapierte
und mit Samt und Plüsch ausgeschlagene Interieurs erzeugen einen Rausch,
zu dem die Nüchternheit moderner Innenräume der Zwanziger- und Drei-
ßigerjahre des 20. Jahrhunderts im größten Gegensatz stehen wird. Diese
entstehen durch die transparente Bauweise, die im 19. Jahrhundert möglich
geworden ist und die schon jene dämmrigen, durch ein System von Vorhän-
gen und Draperien abgeblendeten Interieurs hervorgebracht hat.
Die Architekturmoderne, funktionalistisch und transparent, ist polemisch
gegen das 19. Jahrhundert gerichtet. Als Befreiung von diesem wird das
,Neue Bauen' in seiner asketischen Armut und puristischen Reinheit erfah-
ren, indem es doch nur die eigensten Möglichkeiten dieses 19. Jahrhunderts
realisiert. So stellt es der frühe Siegfried Giedion als avantgardistischer Theo-
retiker dar, indem er die Architekturgeschichte des 19. Jahrhunderts legiti-
mierend als Vorgeschichte der Moderne schreibt. Zu dieser Avantgarde be-
kennt sich Benjamin: Loos und Le Corbusier werden gerühmt, und immer
wieder Scheerbart als ein Vorkämpfer für die „Glasarchitektur" - auch in der
Sprache, wie denn Benjamin Prinzipien der Architekturmoderne beim Bau
seiner Texte übernimmt.76 Und doch unterscheidet sich Benjamin von der
52 IL Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

Avantgarde, in die er sich einreiht, durch eine bezeichnende ,nostalgische'


Geste, wie im Vergleich mit Giedion deutlich wird.
Auch Giedion ist kein so bornierter Avantgardist, daß er sich bloß pole-
misch gegen das 19. Jahrhundert richtete; er wendet sich ihm wie Benjamin
zu, um die Gegenwart, die mit der Vergangenheit brechen soll, doch aus
dieser zu schöpfen. Wie andere Revolutionen kommt auch die der Moderne
nicht ohne Berufung auf Vergangenes aus. „Das > neue < Bauen hat seinen
Ursprung im Augenblick der Industriebildung um 1830."77 Giedion legt im
19. das 20. Jahrhundert frei, das darin versteckt ist wie die Eisenkonstruktion
in der Steindekoration. So sucht er nach einer historischen Kontinuität, die
aus Benjamins Entwurf dann strikt verbannt ist: „Aufgabe des Historikers ist
es, vorab die Keime zu erkennen, und - über alle Verschüttungen hinweg -
die Kontinuität der Entwicklung aufzuzeigen."78 - Bei Benjamin wird näm-
lich das 19. Jahrhundert nicht nur als heimliches, unerlöstes 20. Jahrhundert
rehabilitiert, sondern gerade auch als jenes inzwischen altmodisch und un-
möglich gewordene 19. Jahrhundert, das nicht vorausweist oder weiterführt
und darum schon vergessen geht. Während im Zentrum von Giedions - wie
auch Meyers - Untersuchung solche Bautypen stehen, die ihre Funktion
behalten haben: Brücken, Ausstellungs- und Markthallen, Bibliotheken, Kir-
chen, Museen, Börsen und Warenhäuser, stellt Benjamin gerade eine Gebäu-
deform in den Mittelpunkt, deren Zeit damals abgelaufen scheint: die Passa-
ge. Und er erinnert an die schwere Stimmung des Interieurs, das den Zeitge-
nossen nur noch muffig und schummrig, von Trödel und Plunder verstellt
und überladen vorkommt. Ihn interessiert eben das, was nicht in die von
Giedion beschworene „Entwicklung" eingeht, sondern als geschichtlicher
Abfall liegenzubleiben droht, das 19. Jahrhundert in seiner regressiv mythi-
schen Gestalt. Statt der Hoffnung auf eine verborgene Kontinuität trotz aller
Gegensätzlichkeit von Altem und Neuem gibt es hier eine andere, nämlich
die Hoffnung, daß gerade in der radikalsten, bis zur Unvermittelbarkeit
getriebenen Trennung von Altem und Neuem sich das eine auf einen Schlag
- dialektisch - als das andere erweist, nicht prozeßhaft und allmählich, son-
dern plötzlich und revolutionär. Giedions Beobachtung, daß das 20. Jahr-
hundert in der Architektur einerseits das 19. aufnimmt und andererseits doch
entschieden mit ihm bricht, wird von Benjamin so interpretiert: Es geht
nichts, auch nicht ganz heimlich, weiter, sondern gerade indem das Neue
sich dagegen aufs entschiedenste absetzt, kann es zuletzt das Alte und nichts
anderes sein, nur in einer Nuance völlig verschieden davon.
Das Neue ist im Alten, mit dem es revolutionär bricht, präfiguriert. Der
Rausch, den die Architektur des 19. Jahrhunderts mit der Verschränkung von
Innen und Außen bewirkt hat, weicht in der modernen Architektur einer
Nüchternheit, die genau durch diese Verschränkung zustande kommt. Und
im neuen „Glashaus", wie es in den Utopien eines Scheerbart und Taut
erträumt worden ist, realisiert sich die Umstülpung des Interieurs ins Freie,
welche schon die Passage - jedoch die Straße zum bürgerlichen Salon verzau-
bernd, reaktionär - geleistet hat. Die Nüchternheit ist vom Rausch, das
2. Anlage der Passagenarbeit 53

Erwachen vom Traum nur in einer Nuance verschieden: Das ist das Geheim-
nis der Revolution der modernen Architektur, die, so Benjamins Hoffnung,
eine wirkliche, tiefgehende sein könnte, weil sich mit der Wohnform doch
auch die Form alltäglichen, gewohnten Verhaltens verändern muß. Die mo-
dernen Häuser scheinen einen Bewohner zu erfordern, der nicht mehr der
Privatmann des 19. Jahrhunderts sein kann, sondern notgedrungen sozialisti-
sche Tugenden entwickelt haben muß: Luxus und Anhäufung von Besitz, die
Kultivierung der Privatsphäre läßt das Glashaus nicht mehr zu, bürgerliche
Gemütlichkeit findet man darin nicht mehr. Das hat Giedion schon bemerkt,
aber daneben auch, daß die Technik des Glas- und Eisenbaus im 20. Jahrhun-
dert neuerdings auch für private Bauten verwendet wird, während sie im
19. Jahrhundert, in der Form von Brücken, Markthallen, Bahnhöfen noch
durchwegs kollektiven und „transitorischen" Zwecken dient.79 Und nur die-
ses letztere nimmt Benjamin auf, denn eine Revolution hätte allerdings kol-
lektive Erfahrungsveränderung zu sein.
„Das neue Glas-Milieu wird den Menschen vollkommen umwandeln"80,
heißt es in der utopischen Perspektive Scheerbarts. So offensichtlich der
Umsturz der modernen Architektur nicht nur Bauformen, auch Lebensfor-
men betreffen mußte, von heute aus erscheint doch der Gedanke einer sozia-
listischen' Wirkung der neuen asketischen, durchsichtigen und leeren Wohn-
räume nur naiv. Und wenn sich Benjamin wirklich der Hoffnung hingegeben
hätte, in der Architekturmoderne sei die von ihm anvisierte Revolution tat-
sächlich schon eingetreten, dann wäre er hier jedenfalls nicht mehr ernstzu-
nehmen. Viele Stellen lesen sich so, wie die betont einfache in der ,Jugend-
stunde"-Rundfunksendung „Die Mietskaserne": „Anstelle des Steins tritt ein
schmales Gerüst von Beton oder Stahl, anstelle der kompakten, undurch-
dringlichen Wände treten riesige Glasplatten, anstelle der gleichförmigen
vier Wände treten tief eingeschnittene, freiliegende Treppen, Plattformen,
Dachgärten. Die immer zahlreicheren Menschen, die in solchen Häusern
wohnen werden, werden allmählich durch sie verändert werden. Sie werden
freier, weniger ängstlich, aber auch weniger kriegerisch sein."81 Genau so
naiv wirkt Benjamins Hoffnung auf den Film als ein sozusagen per se revolu-
tionierendes Medium, zu einer Zeit, da der Film eben nicht mit seiner er-
nüchternden, sondern im Gegenteil berauschenden Wirkung vom Faschis-
mus bereits verwendet wird.82 Konnte Benjamin das wirklich entgangen sein;
konnte ihm auch entgangen sein, daß der Rundfunk, dem er sich - in ganz
aufklärerischer Absicht - zur Verfügung stellte, ein zu Kriegszwecken ent-
wickeltes und eingesetztes Medium war?83 Das ist zu bezweifeln. Und es wird
zu zeigen sein, wie genau Benjamin mit der zweideutigen Wirkung der
Technik gerechnet hat.

Anmerkung zur „KONSTRUKTION". „Konstruktion" kommt im 19. Jahrhundert


auf als Gegenbegriff zur „Architektur".84 Eisen und Glas machen das Bauen auf
einmal zu einer Sache des nüchternsten Kalküls, die überhaupt keine Ähnlichkeit
mehr mit Gestaltung zu haben scheint. Übernommen wird sie vom neuen Beruf des
54 IL Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

.Ingenieurs', der für das ganze 19. Jahrhundert in harte Konkurrenz zum ,Architek-
ten' tritt, der sich weiterhin und jetzt erst recht als Künstler versteht. Nur von dieser
Opposition her kann man verstehen, was es bedeutet, wenn - im Versuch des Jugend-
stils, den Gegensatz von Kunst und Technik zu überspielen - van de Velde dann die
„Ingenieure" die heutigen „Künstler" und „Schöpfer" nennt85 oder wenn - im Auf-
bruch der Moderne - Adolf Loos die „Architektur" erbittert diffamiert. Bezeichnend
für das 19. Jahrhundert aber ist die Tendenz, das Konstruktive als Schöpferisches zu
realisieren. Garniers Nouvelle Opera ist nur das grandioseste Beispiel dafür, wie das
tragende Eisengerüst verhüllt wird in einer Steinarchitektur, die nun tatsächlich nur
noch Fassade ist. Ebenso provoziert die neue Technik der Photographie sofort ein
photographisches Schöpfertum, und Benjamin zeichnet ihre Geschichte nach als
„Auseinandersetzung zwischen schöpferischer und konstruktiver Photographie"
(II 384).
Und er plädiert für das Konstruktive angesichts des ungebrochenen und wachsenden
Erfolgs einer .künstlerischen' Verwendung technischer Mittel zu gegen-rationalen
Zwecken, zu Zwecken der Werbung und der Propaganda. „Wegbereiter einer solchen
photographischen Konstruktion herangebildet zu haben, ist das Verdienst der Surrea-
listen." (II 384) Gegen das .Künstlerische' ist das .Künstliche' einzusetzen, und aufge-
baut werden muß, indem man zerstört. „Unter den großen Schöpfern hat es immer
die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten. Sie wollten näm-
lich einen Zeichentisch haben, sie sind Konstrukteure gewesen." (II 215) Auf solche
„Schöpfer", die aber gar keine waren, weil die konstruktive Arbeit nämlich nicht-
schöpferisch ist und destruktiv, beruft sich Benjamin ununterbrochen, auf Baudelaire
und Poe, und immer wieder auf Paul Valery: „ > Das Kunstwerk < , hat einer seiner
Interpreten gesagt, > ist keine Schöpfung: es ist eine Konstruktion, in der die Analy-
se, die Berechnung, die Planung die Hauptrolle spielen. < " (II 390) Damit löst sich
die Vorstellung vom organischen Kunstwerk auf, wie es im Begriff der Allegorie
geschehen ist; und wirklich tritt der Allegoriker mit seinem Haß auf das Lebendige
am Anfang der Moderne, in der Gestalt eines Adolf Loos oder Karl Kraus, wieder auf
- als destruktiver Charakter: „Der destruktive Charakter tut seine Arbeit, er vermei-
det nur schöpferische" (IV 397). Und er arbeitet konstruktiv. Denn immer gilt: „Die
> Konstruktion < setzt die > Destruktion < voraus" (V 587).
„Der materialistischen Geschichtsschreibung ihrerseits liegt ein konstruktives Prin-
zip zugrunde." (I 702; cf. 1251) Konstruktiv wie ein Eisenbau des 19. Jahrhunderts
müßte auch Benjamins Geschichtswerk sein: „Die Geschichte ist Gegenstand einer
Konstruktion" (I 701). Auf die Konstruktion des Ganzen hat sich Benjamin bis
zuletzt auch Adornos Vorwürfen gegenüber berufen, auch wenn es ihm selbst viel-
leicht nie „in dem stählernen weitgespannten Gerüst einer Theorie" (I 1241) ganz wie
der Eiffelturm vor Augen stand.86 Und der Mißgriff in der Metaphorik ist fatal, wenn
Tiedemann im Vorwort zum „Passagenwerk" dieses so mit einem zu bauenden Haus
vergleicht: „Neben der Baugrube findet man die Exzerpte aufgehäuft, aus denen die
Mauern errichtet worden wären. Benjamins eigene Reflexionen aber hätten den Mör-
tel abgegeben, durch den das Gebäude zusammenhalten sollte." (V 12f.) Denn dieses
Bauwerk war als Gegenteil von ,Architektur' geplant, und weder Steine noch Mörtel
hätte es dazu gebraucht.
2. Anlage der Passagenarbeit 55

Das Erwachen aus dem Traum des 19. Jahrhunderts -


und die Kindheit

Der Zustand des von Schlaf und Wachen vielfach gemusterten, gewürfelten Bewußt-
seins ist nur vom Individuum auf das Kollektiv zu übertragen. Ihm ist natürlich sehr
vieles innerlich, was dem Individuum äußerlich ist, Architekturen, Moden, ja selbst
das Wetter sind im Innern des Kollektivums was Organempfindungen, Gefühl der
Krankheit oder der Gesundheit im Innern des Individuums sind. Und sie sind,
solange sie in der unbewußten, ungeformten Traumgestalt verharren genau so gut
Naturvorgange, wie der Verdauungsprozeß, die Atmung etc. Sie stehen im Kreislauf
des ewig Selbigen, bis das Kollektivum sich ihrer in der Politik bemächtigt und
Geschichte aus ihnen wird. (V 492)
Die Traum-Metaphorik erlaubt eine so dichte Verknüpfung von verschiede-
nen wichtigen Motiven, daß eine Passage wie diese nur mühsam aufgelöst
werden kann. Festzuhalten ist vorerst dies: Das 19. Jahrhundert verbleibt in
einem großen kollektiven Traum. Und die Traum-Erfahrung ist die mythi-
sche: Das Geschehen spielt sich als Naturvorgang ab, und zyklisch, von sich
aus endlos ist die Traumzeit, kann höchstens so beendet werden, daß gewalt-
sam und zerstörend die andere, geschichtliche Zeit eintritt. Die Passagenar-
beit soll nun das Erwachen aus dem Traum des 19. Jahrhunderts leisten, und
dies als Erinnerung: „Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt"
(V 491). - Drei Momente dieses Erwachens werden im folgenden thesenhaft
aufgeführt:
(a) Erwachen ist die Bewahrung und die Zerstörung des Traums. Das Erwa-
chen ist ein Zum-Bewußtsein-Kommen, und zum Bewußtsein kommt hier
nichts anderes als der Traum.87 Indem es sich als Traumgeschehen aneignet,
bemächtigt sich das Bewußtsein seiner selbst - in einem Erkenntnisakt, der
zugleich ein Akt der Erinnerung ist, weil er den Traum zu etwas Vergange-
nem macht. So wird dieser aufgehoben, durch seine Zerstörung bewahrt. Das
Erwachen wirkt destruktiv-konservativ.
(b) Erwachen ist die Überführung des Traums in Wirklichkeit. Der Träu-
mende erwacht zur Wirklichkeit, und das heißt hier, zu der des Traums. Im
Erwachen soll das Vergangene, der Traum, erinnert und erkannt werden so,
daß es jetzt erst, wie noch niemals, wirklich ist; demnach wäre denkbar, daß
Vergangenes irgend einmal „einen höheren Aktualitätsgrad als im Augen-
blick seines Existierens erhalten kann" (V 495). - Die Wirklichkeit darf aber
keine andere sein als die geträumte. Denn der Traum ist Wunschtraum und
ein Traum von Glück, eine gegen die neue, arme und mangelhafte Realität des
19. Jahrhunderts aufgebotene Utopie.88 Er hat außer seinem Traumcharakter
keinen Fehler, und hinter das in ihm illusorisch gewährte Glück darf das
Erwachen nicht zurückfallen.
(c) Erwachen ist eine Nuance des Traums. Aus dem Traum führt kein Fort-
schritt und keine Entwicklung hinaus. Das Erwachen vollzieht sich nicht
kontinuierlich, sondern als harter, revolutionärer Bruch. Trotzdem bricht es
auch nicht zufällig und äußerlich wie ein Unglück über den Traum herein.
56 IL Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

Vielmehr hat es selbst noch dessen Form. Wenn sich schon in der traumhaf-
ten mythischen Wahrnehmung alles, auch das Erst- und Einmalige, als Wie-
derholung vollzieht, so ist auch das Erwachen nur eine erinnernde Wieder-
holung mehr, mit der kleinen, entscheidenden Differenz allerdings, daß das
Wiederholte, der Traum, eben dabei einmalig wird und endgültig vergangen.
Erwachen setzt den Traum, indem es ihn beendet, fort.
Es vollzieht sich dialektisch. Darin liegt für das Passagenwerk die Chance,
daß das Erwachen aus dem Traum des 19. Jahrhunderts nicht bloß als Kata-
strophe abgewartet werden muß, sondern aus dessen eigenen Kräften listig
vielleicht zu leisten wäre. „Dieser Epoche entstammen die Passagen und Inte-
rieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer
Traumwelt. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schul-
fall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ
des geschichtlichen Aufwachens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste
sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in sich
und entfaltet es - wie schon Hegel erkannt hat - mit List." (V 59) Michelets
„Chaque epoque reve la suivante" (V 46, 211) ist hier bezeichnend verschärft:
Der Traum wartet nicht nur und drängt aufs Erwachen, er nimmt es vorweg,
und als sein plötzliches Ende steckt es längst schon mitten in ihm.
Darum wird der Versuch, das 19. Jahrhundert zu beenden, nicht in der
Abkehr von ihm unternommen, sondern durch die intensivste Versenkung
darein. Es gilt, den Traum noch einmal zu träumen und nur so zu erwachen
aus ihm. „Die neue dialektische Methode der Historik präsentiert sich als die
Kunst, die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die sich jener Traum, den
wir Gewesenes nennen, in Wahrheit bezieht. Gewesenes in der Traumerinne-
rung durchzumachen!" (V 491, cf. 1006) Hier hat die „Berliner Kindheit um
Neunzehnhundert" ihren methodisch entscheidenden Platz. Nicht nur war
diese Kindheit wegen ihres Zeitpunkts eine letzte Gelegenheit, jenen Traum
noch einmal mitzumachen, so daß der Erwachsene erst die Möglichkeit hat,
daraus zu erwachen: Die Kindheitserfahrung wird überhaupt als die mythi-
sche, traumhafte bestimmt. Das Kind, so heißt es, vermöge das Neueste als
Ältestes, im Einmaligen die Wiederholung wahrzunehmen. Es macht also
individuell genau die Erfahrung, die im 19. Jahrhundert die kollektive war.
Beides trifft in der „Kindheit um Neunzehnhundert" zusammen. Zugleich
bezeichnet „um Neunzehnhundert" auch eine Schwelle. Denn die Kindheit
drängt von sich aus schon auf ihr Ende, und mitten in ihr ist der Ausgang aus
ihr angelegt - wie das überhaupt die Figur der mythischen Erfahrung ist.
Drei Belege dazu:
Das Erwachen als ein stufenweiser Prozeß, der im Leben des Einzelnen wie der Genera-
tionen sich durchsetzt. Schlaf deren Primärstadium. Die Jugenderfahrung einer Genera-
tion hat viel gemein mit der Traumerfahrung. Ihre geschichtliche Gestalt ist Traumgestalt.
Jede Epoche hat diese Träumen zugewandte Seite, die Kinderseite. Für das vorige Jahr-
hunden tritt sie in den Passagen sehr deutlich heraus. (V 490, cf. 1006)
Die Tatsache, daß wir in dieser Zeit Kinder gewesen sind, gehört mit in ihr objektives Bild
hinein. Sie mußte so sein, um diese Generation aus sich zu entlassen. Das heißt:
2. Anlage der Passagenarbeit 57

im Traumzusammenhange suchen wir ein teleologisches Moment. Dieses Moment ist


das Warten. Der Traum wartet heimlich auf das Erwachen, der Schlafende übergibt
sich dem Tod nur auf Widerruf, wartet auf die Sekunde, in der er mit List sich seinen
Fängen entwindet. So auch das träumende Kollektiv, dem seine Kinder der glückliche
Anlaß zum eignen Erwachen werden. (V 492)
Aufgabe der Kindheit: die neue Welt in den Symbolraum einzubringen. Das Kind
kann ja, was der Erwachsene durchaus nicht vermag, das Neue wiedererkennen. Uns
haben, weil wir sie in der Kindheit vorfanden, die Lokomotiven schon Symbolcharak-
ter. Unsern Kindern aber die Automobile, denen wir selber nur die neue, elegante,
moderne, kesse Seite abgewinnen. (V 493)
Der Widerstand gegen die Einführung der Eisenbahn, der oft groteske For-
men annimmt, ist ein Beispiel dafür, welche Zumutung die Technik im 19.
Jahrhundert für die gewohnte Erfahrung darstellt.89 Nicht weniger ist ihr
abgefordert als ihre völlige Veränderung, und abwehrend nimmt sie das
Neue als Altes wahr. Die technischen Neuerungen provozieren sofort eine
Mythologie, die sich nicht nur als blumiges Beiwerk um sie rankt, sondern
ihre Wahrnehmung kanalisiert und erträglich macht. Die Technik räumt also
keineswegs mit dem Mythos auf, sie mobilisiert ihn im Gegenteil; darum
eben sei die reaktionäre Opposition von ,Natur' und ,Technik' unbrauchbar.
Mythisch wahrgenommen erhält auch die Eisenbahn Symbolwert und entfal-
tet eine eigene ,Poesie', ohne die ihr Erfolg kaum denkbar gewesen wäre.
„Wie groß die natürliche Symbolgewalt technischer Neuerungen sein kann,
dafür sind die > Eisenbahnschienen < mit der durchaus eigenen und unver-
wechselbaren Traumwelt, die sich an sie anschließt, ein sehr eindrückliches
Beispiel. Volles Licht aber fällt darauf, wenn man von der erbitterten Polemik
erfährt, die in den dreißiger Jahren gegen die Schienen geführt wurde." (V
218) Was die Eisenbahn im 19. Jahrhundert bedeutet hat, ist aber nachvoll-
ziehbar: Auf dieselbe Art nehmen sich ihrer nämlich die Kinder an. Auch
ihnen wird der Fortschritt' der Geschichte von selbst zur ,ewigen Wieder-
kehr' der Natur; und sie hegen in diesem Traum die Hoffnung auf ein
Erwachen, in dem er nicht fremd zurückgelassen und vergessen, sondern
angeeignet und erinnert wäre. „Zunächst wirkt das technisch Neue freilich
allein als solches. Aber schon in der nächsten kindlichen Erinnerung ändert
es seine Züge. Jede Kindheit leistet etwas Großes, Unersetzliches für die
Menschheit. Jede Kindheit bindet in ihrem Interesse für die technischen
Phänomene, ihre Neugier für alle Art von Erfindungen und Maschinerien die
technischen Errungenschaften an die alten Symbolwelten." (V 576)

„Politik"
Es wird ein Begriff von Politik eingeführt, nach welchem es denkbar sein soll,
daß das Passagenwerk nicht nur in einem vage geistigen, sondern in einem
ganz politischen Sinn revolutionär wäre. Es sollte auch nicht erst Vorberei-
tung und Aufruf dazu, sondern die ins Werk gesetzte Revolution tatsächlich
58 IL Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

schon sein. Nun kann man es sich leicht als absurde Szene vorstellen, wie
Benjamin, während die weltpolitische Lage auch für ihn ganz persönlich
täglich bedrohlicher wird und sich die Zahl seiner Fluchtwege zusehends
verringert, bis er einen letzten dann doch noch antritt, in der Bibliotheque
Nationale sitzt und sich in einer zeitraubenden, leidenschaftlichen Lektüre
dem 19. Jahrhundert widmet, und dies nicht einmal als der versponnene
Privatgelehrte, dem eben verzeihlicherweise jeder Sinn für Politik abgeht,
sondern gerade im Namen von Politik.. . Die Hoffnung auf den revolutionä-
ren Charakter des Passagenwerks mutet verrückt an, aber man kann doch
einige Bedingungen nennen, unter denen sie so verrückt nicht wäre: wenn 1.
auch aktuellste Erfahrung die Form von Erinnerung haben kann, wenn 2.
Erinnerung sich auch in der Form von Handlung vollziehen kann, und wenn
3. auch ein Kollektiv, nicht nur ein Individuum, das Subjekt der Erinnerung
abgeben kann.
Zur ersten Bedingung:
Erfahrung - darin folgt Benjamin Bergson90 - ist anders denn erinnerungs-
förmig nicht zu denken. Und wenn auch gerade die als ,Erwachen' gedachte
aktuellste Erfahrung, mit der tatsächlich Neues anfängt, eine erinnernde
Wiederholung sein muß, dann gibt es umgekehrt also Erinnerung, durch die
nicht Vergangenheit restauriert, sondern Gegenwart hergestellt wird. Benja-
min attackiert die traditionelle Geschichtsbetrachtung, die historistische des
19. Jahrhunderts, und setzt ihr eine grundsätzlich andere, „echte", entgegen:
die „materialistische". An Marx und damit an die alternative Geschichtsbe-
trachtung desselben 19. Jahrhunderts anknüpfend, nimmt er den Titel histo-
rischer Materialismus' in Anspruch für eine Erinnerung, die als solche revo-
lutionär wäre, für ein Interesse an der Vergangenheit, das unmittelbar Inter-
esse für die Gegenwart ist, für ein Geschichte-Machen im Sinn von Historie,
das Geschichte-Machen wäre im ganz üblichen Sinn von Politik. Der Histo-
riker ist dann nicht mehr, wie man es sich seit der Entstehung der Ge-
schichtswissenschaft im 19. Jahrhundert zu meinen angewöhnt hat, ein so
ganz anderer Typ denn der Politiker und völlig von ihm verschieden, sondern
.Politik' wäre dann die Stelle, wo sich der Betrachtende als Handelnder und
der Konservative als Revolutionär erweist.91
Diese Verwandlung der Geschichtsbetrachtung in aktuellste Politik wird
gelegentlich ihre „kopernikanische Wendung" genannt. „Die kopernikani-
sche Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist diese: man hielt für den
fixen Punkt das > Gewesene < und sah die Gegenwart bemüht, an dieses
Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll sich dieses Verhältnis
umkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des
erwachten Bewußtseins werden. Die Politik erhält den Primat über die Ge-
schichte. Die Fakten werden etwas, was uns soeben erst zustieß, sie festzu-
stellen ist die Sache der Erinnerung. Und in der Tat ist Erwachen der exem-
plarische Fall des Erinnerns: der Fall, in welchem es uns glückt, des Näch-
sten, Banalsten, Naheliegendsten uns zu erinnern." (V 490f., cf. 1057) Statt
2. Anlage der Passagenarbeit 59

daß man also von der Gegenwart aus, so gut es - etwa mit der Methode der
,Einfühlung' - geht, an die Vergangenheit sich allmählich anzunähern versu-
chen muß, schlägt diese auf einmal in die Gegenwart ein, geht in sie ein
derart, daß sie sie überhaupt erst ausmacht. Und die Erkenntnis ist nicht von
ihrem Gegenstand, dem Vergangenen, vorerst ausgeschlossen, so daß sie erst
noch tastend zu ihm hin finden muß, sondern die Aktualisierung des Vergan-
genen ist eben genau der Erkenntnisakt. In Analogie zur kantischen ,koper-
nikanischen Wende' wird der Gegenstand eine Funktion des Erkennens, das
Vergangene eine Funktion des Gegenwartsgeschehens. Die Gegenwart be-
steht nämlich ganz aus Erinnerung, und die erinnerte Vergangenheit ist in ihr
so aktuell, wie sie noch niemals gewesen sein mag.

Zur zweiten Bedingung:


Der Historiker, wie er im 19. Jahrhundert auftritt, ist mit der Vergangenheit
ganz anders als der Politiker mit der Gegenwart befaßt: In müßiger, aufmerk-
samer und distanzierter Betrachtung widmet er sich der Erinnerung und
Erkenntnis seines Gegenstandes, die gerade durch seine Entfernung von ihm
erst möglich erscheint; der Politiker indessen handelt, tätig steht er, von
überall her abgelenkt und zerstreut, mitten im Geschehen drin, zu dessen
Erkenntnis er begreiflicherweise, wie man meint, gar nicht kommt, da ihm
die nötige Distanz abgeht. Dieser beliebte Gegensatz von Kontemplation
und Aktion, von Lesen und Handeln soll in Benjamins Politik-Begriff aufge-
hoben sein. Erinnerung kann das Gegenteil von einem Sich-Versetzen in
Vergangenes sein. Erinnernde Lektüre und Erkenntnis muß sich nicht als
konzentrierte Betrachtung abspielen, es ist denkbar, daß sie sich unmittelbar
als Praxis realisiert: Das liegt im Begriff eines „praktischen Erinnerns" (V
271, 1058), der im nächsten Kapitel eingeführt wird. Dort wird die Wahrneh-
mung von Architektur das Beispiel für eine Lektüre in der Form von Hand-
lung sein; ein anderes wäre die Mode. Ihre sprichwörtliche Gehetztheit und
Zerstreutheit sind ja zu ruhiger, konzentrierter Betrachtung der größte Ge-
gensatz; und doch ist Mode Erinnerung, dabei aber kein Bewußtseinsvor-
gang, nur ein Verhalten und Tun.

Zur dritten Bedingung:


Die ersten beiden Bedingungen einmal angenommen, bleibt es doch noch ein
grotesker Gedanke, daß Benjamin, als exzessiv lesendes Autor-Individuum,
tage- und nächtelang allein über Bücher gebückt, die allgemeine wie persön-
liche Bedrohung jemals hätte abwenden können. Das wäre höchstens einer
Erinnerung zuzutrauen, deren Subjekt ein „Kollektiv" ist.92 Aber die Erfül-
lung dieser Bedingung liegt natürlich niemals in der Macht eines Einzelnen;
dieser kann nur darauf setzen, daß sein Werk zuletzt nicht das eines zufälli-
gen Individuums geblieben sein wird. Und immerhin kann er zeigen, daß die
Erfüllung auch dieser Bedingung nicht ganz unwahrscheinlich ist. Benjamin
macht im Passagenwerk vor, wie die Werke von kleinen, namenlosen, aber
auch der größten Autoren des 19. Jahrhunderts, Balzac, Hugo, Dickens,
6C IL Das 19. Jahrhunden: Großes Modell

nicht als individuelle Äußerungen - aber auch nicht als .künstlerische' Äuße-
rungen, in denen individuell Zutreffendes nach bekanntem Muster zu allge-
mein Gültigem sublimiert wäre - zu lesen sind, sondern als Ausprägungen
einer kollektiven Wahrnehmung oder Varianten eines ,Diskurses', wie man
das inzwischen nennt.
Das „Kollektiv" kann das Subjekt der Erfahrung, nämlich der Erfahrung
II, sein. Benjamin nennt es vorerst oft die „Menge", dann aber fast nur noch
die „Masse". Die Masse tritt, von jeder Summe Einzelner qualitativ verschie-
den, mit ihrem ganz eigenen Verhaltensmodus auf; die „Menge" ist dagegen
immer noch in den alten Kategorien, als bloße Anhäufung, gedacht. In die
„Masse" setzt Benjamin progressiv die Hoffnung zu einer Zeit, wo ihre bis
heute gängige Diffamierung theoretisch vorangetrieben wird: „Die Masse als
spezifisch nihilistische Macht des 20. Jahrhunderts - so hat sie schon Speng-
lers Ressentiment gezeichnet",93 und von Heidegger und seiner Analyse des
„man" führt die Linie zu Jaspers weiter, der die Masse als „das Nichts der
großen Zahl" bestimmt. Die abschätzige Auffassung, wonach die Masse
durch Zerstreuung und Traditionslosigkeit gekennzeichnet sei, ignoriert nun
Benjamin nicht, diese negativen Züge anerkennt er durchaus, gerade in ihnen
entdeckt er aber notgedrungen eine letzte Chance. Notgedrungen, weil zur
selben Zeit ein positiver Begriff des Kollektivs, das „Volk", gefährlich auf-
kommt; und gegen dieses verherrlichte „Volk" wird nun die defiziente „Mas-
se" eingesetzt.94 Da der Faschismus sich mit solcher Macht durchsetzt, daß
eine Rettung nicht mehr als Entwicklung zum Guten, nur noch als revolutio-
närer Umschlag im Ärgsten vorstellbar ist, könnte das Kollektivsubjekt die-
ser Revolution - nach dem Modell des Proletariats bei Marx - vielleicht die
„Masse" sein. „Proletariat" setzt denn Benjamin auch gelegentlich für „Mas-
se" ein, aber das ist bei ihm keine andere Klasse als die bürgerliche selbst, und
Gestalt nimmt sie an im zirkulierenden Passanten- und Konsumentenstrom
des Großstadtverkehrs.
Hauptbeispiele solcher kollektiven Erfahrung sind wiederum die Mode
und die Architektur. Die neuen Bauten des 19. Jahrhunderts, in dem doch
gleichzeitig gerade das bürgerliche Individuum, architektonisch im Interieur
eingelagert und aufbewahrt, seine Konjunktur erlebt, dienen durchwegs kol-
lektiven Zwecken. Benjamin zitiert Giedion: „Das 19. Jahrhundert: Merk-
würdige Durchdringung von individualistischen und kollektivistischen Ten-
denzen. Wie kaum eine Zeit zuvor beklebt es alle Handlungen > individuali-
stisch < (Ich, Nation, Kunst), unterirdisch aber, in verpönten alltäglichen
Gebieten, muß es, wie im Taumel, die Elemente für eine kollektive Gestal-
tung schaffen" (V 493). Nicht Einzelne hausen in dieser Architektur, sie wird
von der Masse umflutet, durchströmt: „Traumhäuser des Kollektivs: Passa-
gen, Wintergärten, Panoramen, Fabriken, Wachsfigurenkabinette, Kasinos,
Bahnhöfe" (V 511). Auch Markt- und Ausstellungshallen, Bibliotheken und
Museen sind Wohnungen des „Traumkollektivs" (V 493), das Benjamin so
nennt in der Hoffnung, ebenso kollektiv wie der Traum könnte sich auch das
revolutionäre Erwachen daraus vollziehen.
2. Anlage der Passagenarbeit 61

Begriff der ,praktischen Erinnerung'

Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wabrnehmungs-


apparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation,
gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch
Gewöhnung, bewältigt. (I 505)
Die hier angesagte Wendung gegen die Kontemplation ist ein erstaunlicher
und bisher noch nicht genügend wahrgenommener Zug in Benjamins Erfah-
rungstheorie. Programmatisch heißt es: „In der Passagenarbeit muß der Kon-
templation der Prozeß gemacht werden. Sie soll sich aber glänzend verteidi-
gen und behaupten." (V 1036) Damit ist aber die Spannung, in der die
Passagenarbeit steht, bezeichnet. Wenn nämlich, gemäß dem ersten Satz, nun
rücksichtslos gegen die Kontemplation vorgegangen wird, dann soll sie dabei
laut dem zweiten doch nicht untergehen, sondern, wie beide Sätze zusam-
men sagen, in ihrer Abschaffung sich gerade behaupten. Kontemplation - ist
das nicht untätige, passiv-rezeptive Betrachtung, und ihr Gegensatz Hand-
lung, Tat, Aktion? Der Kontemplation den Prozeß machen, bedeutet zuerst,
von der Historie überzugehen zur Politik; aber diese selbst soll schließlich
Geschichtsbetrachtung und nichts anderes sein. Und Lesen, das wie der
Gegensatz zum Handeln erscheint, ist zuletzt selbst ein Handeln.
„Kontemplation" steht für die Erfahrungs- und Lektürevariante I. Im
Trauerspielbuch wird der Allegorie-Lektüre die „philosophische Kontempla-
tion", die Sprach-Erfahrung des „Namens", entgegengesetzt. Und die „Au-
ra", diese berühmte Signatur der Erfahrung I, wird wiederholt in einer
Kontemplationsszene vorgestellt. Was ist eigentlich Aura?95 Auch wenn man
die Unscharfe dieses inzwischen ganz geläufigen Begriffs oft bereitwillig
hinnimmt, weil er ja schließlich auch für ein Unschärfe-Phänomen steht, für
eine Konturlosigkeit von Erscheinungen, die irgendwie ausstrahlen, die
Frage drängt sich doch auf - auch bei Benjamin. Eine Antwort darauf, wie
unbefriedigend auch immer, wird in zwei Versionen gegeben: 1. Aura ist
Blick-Erwiderung; 2. Aura ist „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie
sein mag." Letzteres wird sofort als „Definition" deklariert, auf die man sich
bloß noch berufen kann, und immer gehört dasselbe Beispiel dazu: „Was ist
eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige
Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag
ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen
Schatten auf den Ruhenden wirft - das heißt die Aura dieser Berge, dieses
Zweiges atmen" (I 440; cf. 479f., II 378). Dieselbe Szene findet sich, wie
Marken Stoessel bemerkt hat,96 im Denkbild „In der Sonne" ausgeführt: die
Sommernachmittagserfahrung mit Baum und Landschaft, mit dem fernen
Gebirge am Horizont; und dort wird klar, daß diese Landschaftserfahrung
sprachlich ist, ganz sprachlich wie auch - das hat Jean-Pierre Schobinger
gezeigt97 - jene Erfahrung mit dem Baum. Beide Male geht es um ein Verneh-
men des „Namens".
62 IL Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

Die Kontemplationsszene der Aura-Definition ist einer ganz ähnlichen


Szene bei Riegl nachgebildet - und vielleicht sogar einer bei Klages, von dem
Benjamin den Begriff der „Aura" nicht zuletzt bezogen haben mag.98 Wolf-
gang Kemp hat darauf hingewiesen, daß Alois Riegls Aufsatz „Die Stim-
mung als Inhalt der modernen Kunst" so beginnt: „Auf einsamem Alpengip-
fel habe ich mich niedergelassen. Steil senkt sich das Erdreich unmittelbar zu
meinen Füßen, so daß kein Ding vor mir in greifbarer Nähe bleibt und die
Organe meines Tastsinns reizen könnte. Dem Auge allein bleibt die Bericht-
erstattung überlassen."99 Da erscheint zum Beispiel der dunkle Fichtenwald:
„ein leichter Schimmer liegt einem Hauche gleich darüber, denn es ist Früh-
sommer und die neuen Triebe brechen mächtig hervor und vermehren täglich
den Kubikinhalt des Forstes"; der komische Stilbruch zeigt dabei, wie künst-
lich und bedroht die „Stimmung" ist. Auch in dieser Szene findet sich also
ein ruhender Betrachter in der Landschaft, vor einer in Schimmer und Hauch
abgeblendeten, verschleierten Ferne. - „Was nun die Seele des modernen
Menschen bewußt oder unbewußt ersehnt, das erfüllt sich dem einsam
Schauenden auf jener Bergeshöhe."100 Riegls „Stimmung" ist zugegebener-
maßen ein modernes Kompensationsphänomen. Und auch bei Benjamin ist
die ,alte' Erfahrung I, die gegen die ,neue' Erfahrung II ausgespielt wird, von
dieser provoziert. Nur Verlorenes erscheint auratisch; kein Zufall, daß die
Aura selbst als etwas festgestellt wird, das im Schwinden begriffen ist.101
Zur „Aura" gehört nach Benjamin notwendig „Ferne", zur „Stimmung"
nach Riegl „Ruhe und Fernsicht."102 In der Nähe ist der Tastsinn, aus der
Ferne aber nur das Auge affiziert. Den Wahrnehmenden läßt die Ferne in
Ruhe; die Nähe dagegen bedroht ihn, und er muß auf alles Mögliche gefaßt
sein, um notfalls darauf sofort zu reagieren. Dort kann er sich der Betrach-
tung widmen, hier muß er handeln. - Für diese Wahrnehmungsdifferenz
übernimmt Benjamin Riegls Begriffe .optisch' versus .taktisch'.103 („Tak-
tisch" ist aber mißverständlich: Nach Riegls späterem Zugeständnis wäre
dafür überall „haptisch" einzusetzen; Benjamin selbst hat es manchmal
durch „taktil" ersetzt, und in der Folge haben die Herausgeber der Gesam-
melten Schriften diese Konjektur im Reproduktionsaufsatz durchgehend
vorgenommen, aber verwirrenderweise in anderen Texten wieder nicht.104)
Das ist offensichtlich eine Variante der Differenz I - IL Sie wird im Aufsatz
„Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" mit
einer Gegenüberstellung von Gemälde und Film in wichtigen Zügen so
durchgespielt:
- Rezipient des Gemäldes ist das bürgerliche einsam-private Individuum,
Rezipient des Films die Masse.
- Die Gemälde-Rezeption verlangt Sammlung, der Film wird im Modus der
Zerstreuung rezipiert. (Der Betrachter versenkt sich ins Gemälde. Umge-
kehrt beim Film: die Zuschauermenge versenkt ihn in sich.)
- Das Gemälde braucht Ferne, es erzeugt Unnahbarkeit und eine natürliche
Distanz, gleichgültig, wie nah es sich tatsächlich befindet; zum Film ge-
hört Nähe, er rückt auf den Leib.
2. Anlage der Passagenarbeit 63

- Das Gemälde gehört als Kultgegenstand dem Bereich des Mythos an, der
Film aber dem Bereich der Politik.
- Die Wahrnehmung des Gemäldes ist optisch, die des Films taktil.
So kann man auflisten, und das Schema ist soweit ganz übersichtlich: Aura
heißt Einsamkeit, Sammlung, Ferne, Dominanz des Optischen - kurz Kon-
templation. Masse, Zerstreuung, Nähe, Dominanz des Taktilen prägen dage-
gen die moderne Wahrnehmung, die im Film ein Übungsinstrument habe.
Sie bedeutet das Ende der Kontemplation.
Doch gibt es mit der Unterscheidung von .optisch' und .taktil' bei Benja-
min Schwierigkeiten. Denn der Film, dem eine „physische Schockwirkung"
(I 464) zugeschrieben wird, wird doch noch keineswegs über den Tastsinn
aufgenommen, sondern immer noch mit den Augen. Das führt nun zu
verwickelten Sätzen wie diesen: „Bauten werden auf doppelte Art rezipiert:
durch Gebrauch und deren Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und
optisch. Es gibt von solcher Rezeption keinen Begriff, wenn man sie sich
nach Art der gesammelten vorstellt, wie sie z. B. Reisenden vor berühmten
Bauten geläufig ist. Es besteht nämlich auf der taktilen Seite keinerlei Gegen-
stück zu dem, was auf der optischen die Kontemplation ist. Die taktile
Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf
dem der Gewohnheit. Der Architektur gegenüber bestimmt diese letztere
weitgehend sogar die optische Rezeption." (I 504f., 465f.) Die terminologi-
sche Komplikation löst sich, schematisch dargestellt, so auf:

optisch taktil
Aufmerksamkeit *+
Gewohnheit/ + +
Zerstreuung ["Kontemplation]

Das Gemälde wird also nicht einfach optisch und der Film dagegen taktil
rezipiert, sondern genauer jenes optisch-aufmerksam - was nichts anderes
heißt als kontemplativ - und dieser optisch-zerstreut. Beim Film nimmt die
optische Warhnehmung eine Form an, die man von der taktilen her kennen
muß, insofern diese immer nur im Modus der Unaufmerksamkeit, genauer:
einer unwillkürlichen, unbewußten Aufmerksamkeit erfolgt. Was man im
taktilen Bereich gelten lassen muß, das wird im optischen leicht übersehen:
daß das unaufmerksame Bemerken tatsächlich eine Rezeption ganz eigener
Art ist und nicht bloß eine Schwundstufe der vermeintlich einzig echten,
konzentrierten Wahrnehmungsart. Jene bis heute sehr beliebte Form einer
Medienkritik, die sich in Klagen über die oberflächliche Zerstreuung des
Publikums ergeht, ist reaktionär spätestens seit Benjamins Rehabilitierung
der Zerstreuung, die ihrerseits an den „surrealistischen Kult der Zerstreu-
ung'105 anschließen kann.
64 IL Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

Das Gegenteil der Aufmerksamkeit' ist die .Zerstreuung' oder die .Ge-
wohnheit'. Zerstreuung sucht man im Kino; in ganz wörtlich zu nehmender
Gewohnheit wird die Architektur bewohnt. Architektur wird „gar nicht in
erster Linie > gesehen < " (III 368).106 Gewohnheit ist der Modus nicht nur
ihrer taktilen Wahrnehmung, wenn man sie physisch passiert oder physisch
sich aufhält darin, sondern auch ihrer optischen, - denn ihre aufmerksam-
optische, das heißt kontemplative Wahrnehmung, die allerdings auch vor-
kommt, die geradezu massenhaft geübt wird, von „Reisenden", Touristen
nämlich, erscheint völlig unangemessen und wird bloß als ein Sonderfall
bemerkt. So ist in der Architektur, die im Gegensatz zu anderen Kunstfor-
men, wie dem Gemälde oder dem Roman, historisch nicht nur eine Episode
gewesen sei, die moderne Erfahrung des Films in unspektakulärer Form seit
langem bekannt. - Und damit nimmt die Architektur des 19. Jahrhunderts,
die ganz regressiv ein Refugium der nicht-modernen, traumhaften Wahrneh-
mung bildet, doch auch progressiv das Medium des 20. Jahrhunderts vorweg.
Im Rückständigen und immer Gleichen, im Nicht-Weiterführenden wird ein
Zukunftspotential freigelegt: Gewohnheit und Zerstreuung sind, so gegen-
sätzlich sie erscheinen, gleichermaßen Formen einer unaufmerksamen Wahr-
nehmung.
Das skizzierte Schema macht klar, daß die Differenz von I und II nicht
einfach die von optischer und taktiler Rezeption sein kann, nicht einfach die
von Lesen und Handeln, wie es Benjamin manchmal irreführend insinuiert.
Dem passiv-aufmerksamen, entfernten, ruhigen Schauen, also der Kontem-
plation, wird zwar ein aktives, aus nächster Nähe bedrängtes, sofortiges
Reagieren entgegengesetzt. Aber auch dieses kann ein Lesen sein. Denn
Lesen muß vielleicht immer optisch gedacht werden, aber nicht immer op-
tisch-aufmerksam. Es kann als eine Rezeption auftreten, die gar nicht mehr
wie Rezeption aussieht, weil sie kein distanziertes und konzentriertes Subjekt
hat, weil dieses dabei nicht auf etwas Bestimmtes aufpaßt und es eigens
aufnimmt in sich, sondern rezipierend unmittelbar schon reagiert. Die Diffe-
renz von I und II ist auch nicht die von untätiger Beschäftigung mit ferner
Vergangenheit und Tätig-, Beschäftigtsein in nächster Gegenwart. Wahrneh-
mende im Modus II gleichen zwar, wie Benjamin einmal bemerkt, Bergsons
hypothetischen Figuren völlig ohne Gedächtnis.107 Aber genau so, wie II
beschrieben wird, kann Erinnerung aussehen: punktuell, abrupt und frag-
mentarisch, eine diskontinuierliche Serie von Chocks. Benjamins Erinne-
rungstheorie ist an dieser Stelle zu exponieren. Sie ist abgestützt auf die
Konzepte von Freud und Proust und kombiniert diese beiden auf frappie-
rende Art.

Anmerkung zur „GEWOHNHEIT". Wie aufmerksame und nicht-aufmerksame


Wahrnehmung ihre gegenseitige Ausschließlichkeit verlieren können, das ist in einem
der „Denkbilder" vorgeführt, welches hier nur in der Richtung der gemachten Aus-
führungen durchgelesen wird:
2. Anlage der Passagenarbeit 65

Gewohnheit und Aufmerksamkeit


Die erste aller Eigenschaften, sagt Goethe, ist die Aufmerksamkeit. Sie teilt jedoch
den Vorrang mit der Gewohnheit, die ihr vom ersten Tage an das Feld bestreitet. Alle
Aufmerksamkeit muß in Gewohnheit münden, wenn sie den Menschen nicht spren-
gen, alle Gewohnheit von Aufmerksamkeit verstört werden, wenn sie den Menschen
nicht lähmen soll. Aufmerken und Gewöhnung, Anstoß nehmen und hinnehmen
sind Wellenberg und Wellental im Meer der Seele. Dieses Meer aber hat seine Wind-
stillen. Daß einer, der ganz und gar auf einen quälenden Gedanken, auf einen
Schmerz und seine Stöße sich konzentriert, dem leisesten Geräusche, einem Mur-
meln, dem Flug eines Insekts zur Beute werden kann, den ein aufmerksameres und
schärferes Ohr vielleicht gar nicht vernommen hätte, steht außer Zweifel. Die Seele,
so meint man, läßt sich umso leichter ablenken, je konzentrierter sie ist. Aber ist
dieses Lauschen nicht weniger das Ende als die äußerste Entfaltung der Aufmerksam-
keit - der Augenblick, da sie aus ihrem eigenen Schöße die Gewohnheit hervorgehen
läßt? Dies Schwirren oder Summen ist die Schwelle, und unvermerkt hat die Seele sie
überschritten. Es ist, als wolle sie nie mehr in die gewohnte Welt zurück, sie wohnt
nun in einer neuen, in der der Schmerz ihr Quartiermacher ist. Aufmerksamkeit und
Schmerz sind Komplemente. Doch auch Gewohnheit hat ein Komplement, und
dessen Schwelle übertreten wir im Schlaf. Denn was im Traume sich an uns vollzieht,
ist ein neues und unerhörtes Merken, das sich im Schöße der Gewohnheit losringt.
Erlebnisse des Alltags, abgedroschene Reden, der Bodensatz, der uns im Blick zu-
rückblieb, das Pulsen des eigenen Blutes - dies vorher Unvermerkte macht - verstellt
und überscharf - den Stoff zu Träumen. Im Traum kein Staunen und im Schmerze
kein Vergessen, weil beide ihren Gegensatz schon in sich tragen, wie Wellenberg und
Wellental bei Windstille ineinander gebettet liegen. (IV 407f.)

Das eigenartige Phänomen, daß jemand in der äußersten Konzentration des Schmer-
zes auf ein kleines Geräusch zu hören beginnt, läßt sich geistreich so erklären, daß
gerade die größte Aufmerksamkeit die größte Ablenkbarkeit sei. Das stimmt aber
darum nicht ganz, weil auch Zerstreuung noch eine Art von Aufmerksamkeit ist.
Diese ändert nur den Modus dabei: Sie wird Gewohnheit. Im Text interessiert nun der
Moment, wo „Aufmerksamkeit" zur „Gewohnheit" wird und umgekehrt, wo das
eine, indem es dasselbe bleibt, mit dem andern zur Deckung kommt, wie Wellenberg
und Wellental bei Windstille. Das ist jener tote Punkt, wo die Aufmerksamkeit „aus
ihrem eigenen Schöße die Gewohnheit hervorgehen läßt", wo sie umgekehrt „sich im
Schöße der Gewohnheit losringt." Die Verwandlung von Aufmerksamkeit in Ge-
wohnheit passiere im Schmerz, die von Gewohnheit in Aufmerksamkeit im Traum.
Im Traum wird Gewohnheit so intensiv, daß sie selbst zum Übergang in ihr Gegen-
teil, selbst nur „Schwelle", Passage wird. Das eine liegt nicht jenseits des andern,
sondern mitten in ihm und wird durch seine Intensivierung erreicht. Der Übergang
von Gewohnheit zu Aufmerksamkeit könnte „Staunen" heißen, der Übergang von
Aufmerksamkeit zu Gewohnheit „Vergessen", aber jenes fehlt trotzdem im Traum
und dieses fehlt trotzdem im Schmerz, weil es da gar kein Hinübergehen geben kann,
wo beides nur ineinander liegt.

Erinnerungstheorie
Die Differenz von I und II liegt ganz auf der Linie jenes abendländischen'
Denkens, das die R e k o n s t r u k t i o n ' genannte Lektüre in seinen unüber-
66 IL Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

schreitbaren Grenzen sich abzeichnen läßt. Dieses Denken kann dem


Zwang zur Unterscheidung von Ursprünglichem und Abgeleitetem, Frühe-
rem und Späterem, Notwendigem und Zufälligem, Natürlichem und
Künstlichem nicht entgehen, höchstens subversiv dagegen angehen, indem
es ihm schon wieder und immer noch folgt.108 Das geschieht auch in Benja-
mins Texten, obwohl es vorerst den Anschein macht, als ob sie jenem
Denkzwang sogar besonders willig gehorchen. - Die ,abendländische' Tra-
dition der Erinnerungstheorie ist gezeichnet von der angedeuteten Diffe-
renz. Klassisch ist Hegels Gegenüberstellung von „Gedächtnis" und „Erin-
nerung": einerseits emphatisch ,Er-innerung', total, innerlich und angeeig-
net, andererseits die Mnemo-Technik, bruchstückhaft, fremd und „auswen-
dig"-äußerlich.109 Auf die Spitze getrieben erscheint die Differenz bei
Marcel Proust. In größter Nähe zu Henri Bergson, der „die beiden Formen
des Gedächtnisses" so unterscheidet, daß es einerseits in einem Bewußt-
seinsakt, andererseits in einem zur „Gewohnheit" gewordenen physisch-
motorischen Akt besteht, so daß ein Gedächtnis „vorstellt" und das andere
„wiederholt", 110 diffamiert Proust die willkürliche und verfügbare, die
technische Erinnerung zugunsten einer gesuchten „memoire involontaire".
(Dabei zeichnet sich die merkwürdige Verschiebung ab, daß gerade eine Art
der früher gänzlich ,auswendigen', weil nicht-bewußten Erinnerung zur
innerlich-einverleibten avanciert.)
Prousts Opposition einer willkürlichen und einer unwillkürlichen Erinne-
rung paßt genau auf Benjamins Sprach- und Erfahrungstheorie. Zum Bei-
spiel werde die „Erfahrung" vom „Erlebnis" verdrängt: „Erlebnis" heißt
nach Benjamin das, was der Wahrnehmende abrufbar registriert hat und
womit er fertig geworden ist; „Erfahrung" dagegen wäre unverfügbar in ihn
eingegangen. Oder an die Stelle der „Erzählung" tritt die „Information": Die
Erzählung eignet das Geschehene an und kann es in Erfahrung verwandeln,
die Information aber schützt nur vor ihm, fängt es ab und macht unempfind-
lich dagegen. Erstaunlicherweise wird nun aber der Erfahrungsdifferenz I -
II die entsprechende Erinnerungsdifferenz I - II nicht etwa so, wie es sich
anbieten würde, sondern umgekehrt zugeordnet, so daß gerade in der defi-
zienten Erfahrung II die nicht-defiziente Erinnerung I ihren Platz bekommt.
- Schockförmig ist die moderne Erfahrung II nach Benjamin; und diesen
Begriff des „Chocks" hat er aus Freuds Abhandlung .Jenseits des Lustprin-
zips" übernommen.111 Dort wird ein Wahrnehmungsmodell konstruiert, in
dem sich Bewußtsein und Erinnerung streng ausschließen: Reize schlagen
gewitterartig auf einen Organismus ein, und sie werden in der Regel aufge-
fangen von einem Reizschutz, dem Bewußtsein. Nur wenn dieser einmal
ausfällt, geht der Reiz - eben als Schock - in den Organismus ein und
hinterläßt dort eine Erinnerungsspur. Das Bewußtsein fungiert in diesem
Modell gar nicht als Rezeptionsorgan, es dient nicht der Aufnahme, sondern
im Gegenteil der Abwehr von Reizen, und der Schock ist zwar als Reiz-
schutzausfall eine Art Betriebsunfall, aber doch die einzig mögliche und
insofern ganz ,normale' Rezeption.
2. Anlage der Passagenarbeit 67

Und daraus wird nun die Revolutionshoffnung des Passagenwerks ge-


schöpft: Die moderne schockförmige Wahrnehmung schließt also, nach
Freuds Modell, Erinnerung keineswegs aus, lediglich jene bewußte Gedächt-
nisleistung, die nur ihr schlechtes, sie verhinderndes Surrogat darstellt. Sie
selbst ist echte Erinnerung, die allerdings keinerlei Ähnlichkeit mit einem
verträumten Schweifen in die Vergangheit hat und nicht etwa Ruhe, Distanz
und Konzentration erfordert, sondern in der Form von „Innervation" im
Leib und durch den Leib passiert. Proust hat es vorgemacht, daß der Erinne-
rungsvorgang - der zwar bei ihm durchaus noch kontemplative Züge auf-
weist - kein Bewußtseinsprozeß, sondern ein unkontrollierter physischer
Vorfall ist. Daher die Bemerkung: „ > Jenseits des Lustprinzips < ist wahr-
scheinlich der beste Kommentar, den es zu Prousts Werken gibt" (V 679).
Eine Handbewegung zum Beispiel erschließt Vergangenes, wie es das ange-
strengteste Nachdenken nie vermag, während absichtlich rezeptives Verhal-
ten die wirkliche, tiefgehende Erinnerung gerade blockiert. Benjamin ent-
deckt hier die Möglichkeit einer .echten' Geschichtsbetrachtung, die gar
keine Betrachtung, keine Kontemplation mehr wäre, sondern unmittelbar
politische Aktion. (Er kann Prousts Konzept einer leibhaften Erinnerung
übernehmen, muß sich aber dagegen verwahren, daß sie tatsächlich „memoi-
re involontaire", nämlich unwillkürlich sei in dem strengen Sinn, daß man
überhaupt nicht auf sie rechnen kann und daß es eine Sache des Zufalls ist, ob
sie jemals in einem Menschenleben zustande kommt. Das hieße, daß man die
dringende revolutionäre Wendung in der politischen Situation wirklich nur
ohnmächtig erwarten könnte. Es könnte aber eine Technik auch der leibhaf-
ten Erinnerung geben, wenn diese nämlich nicht als strikt individuelle, son-
dern als kollektive verstanden wird. Proust habe unter fast unmöglich gewor-
denen Bedingungen, in einer auf die Spitze getriebenen Isolierung und Pri-
vatheit, der immer unabweisbareren Erfahrung II restaurativ noch einmal die
Erfahrung I abzutrotzen versucht. Gegen die leibhaft-private Erinnerung
Prousts, der sich ihr, eingeschlossen im korkbeschichteten Interieur, im auto-
biographischen Rahmen verschreibt, führt Benjamin als Beispiel einer leib-
haft-kollektiven Erinnerung immer wieder das „Fest" an. Wiederkehrende
Feste sind praktizierte nichtsubjektive Erinnerung, und niemals spontan
finden sie statt: „Sie provozierten das Eingedenken zu bestimmten Zeiten
und blieben Handhaben desselben auf Lebenszeit. Willkürliches und unwill-
kürliches Eingedenken verlieren so ihre gegenseitige Ausschließlichkeit"
(I611).112)

Anmerkung zum „ERLEBNIS". Auch am Begriff des „Erlebnisses" läßt sich zeigen,
wie Benjamin zwar die altbewährte Opposition einer kompletten und einer mangel-
haften Erfahrung sogar in besonders ausgeprägter Form weiterführt, dabei aber die
Stelle gewohnter Begriffe unversehens vertauscht. Eine aufschlußreiche Positionsbe-
stimmung ist dem Anfang des Aufsatzes „Über einige Motive bei Baudelaire" zu
entnehmen: Wenn man mit dem Ansatz, daß sich „Erfahrung in ihrer Struktur
verändert hat", mithilfe der Philosophie weiterkommen wolle, zeige sich folgendes:
68 IL Das 19. Jahrhundert: Großes Modell

„Seit dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts stellte sie eine Reihe von Versuchen an,
der ,wahren' Erfahrung im Gegensatze zu einer Erfahrung sich zu bemächtigen,
welche sich im genormten, denaturierten Dasein der zivilisierten Maßen nieder-
schlägt. Man pflegt diese Vorstöße unter dem Begriff der Lebensphilosophie zu
rubrizieren. Sie gingen begreiflicherweise nicht vom Dasein des Menschen in der
Gesellschaft aus. Sie beriefen sich auf die Dichtung, lieber auf die Natur und zuletzt
vorzugsweise auf das mythische Zeitalter. Diltheys Werk > Das Erlebnis und die
Dichtung < ist eines der frühesten in der Reihe; sie endet mit Klages und Jung, der
sich dem Faschismus verschrieben hat." (I 608)113 Es läßt sich nicht bestreiten, daß
Benjamin die Reihe dieser Versuche fortsetzt; die Opposition von I und II tritt als die
von „Erfahrung" und „Erlebnis" auf. Aber er weigert sich bezeichnenderweise, die
authentische Erfahrung in der Dichtung, in der Natur oder im Mythos zu finden; er
sucht sie, so kann man vermuten, gerade an der Stelle der entgegengesetzten Erfah-
rung auf. In einer brillanten begriffsgeschichtlichen Pointe wird dem „Erlebnis" neu
jene „Erfahrung" im emphatischen Sinn der ,wahren' Erfahrung entgegengesetzt, für
die bisher genau das „Erlebnis" stand. Der berühmte Titel „Das Erlebnis und die
Dichtung" besagt ja, daß nur noch unter den unwahrscheinlichen Bedingungen der
,Dichtung' und nicht mehr unter den gegebenen des gesellschaftlichen .Lebens' die
Erfahrung im vollen Wortsinn, eben das „Erlebnis", zu haben sei.
Die Wort- und Begriffsgeschichte hat Hans-Georg Gadamer so skizziert114: Das Wort
„Erlebnis" tritt im 19. Jahrhundert überhaupt erst auf und wird in den siebziger
Jahren erst wichtig. Zwei Bedeutungen sind auszumachen: 1) Das Erlebnis ist authen-
tisch-unmittelbar. („Das Erlebte ist immer das Selbsterlebte.") 2) Das Erlebnis ist
Ergebnis, Ertrag und bleibender Gehalt dessen, was im Sinn von 1) erlebt worden
ist.115 - Das „Erlebnis" im Sinn sowohl von 1) wie von 2) leistet nach Dilthey der
Künstler; und nicht zufällig ist das Wort, bevor es zum Modebegriff der Lebensphilo-
sophie geworden ist, mit der Gattung der Künstler- und Dichterbiographien im
19. Jahrhundert aufgekommen, die in Gundolfs „Goethe" - worin als eine letzte
Raffinesse die Unterscheidung von „Bildungserlebnis" und „Urerlebnis" eingeführt
wird - noch im 20. Jahrhundert einen Höhepunkt erreicht. Gadamer versteht das
„Erlebnis" als Kompensationsphänomen; es ist das, was in der „modernen Industrie-
gesellschaft" zu fehlen beginnt, so daß es ausdrücklich gesucht, veranstaltet und
gefeiert werden muß. „Erlebnisferne und Erlebnishunger" gehören zusammen. So
wird es auch bei Benjamin dargestellt. Und da nun „Erlebnis" als das Kennwort jener
Tradition gelten kann, von der her Benjamin kommt und die er nun, da sie in den
Faschismus führt, angreift, wird seine begriffsgeschichtliche oder besser begriffspoli-
tische Wendung einleuchtend. Im Anklang an Georg Simmeis Bemerkung, jedes
Erlebnis habe etwas vom Abenteuer,116 heißt es im „Passagenwerk": „Das intentionale
Korrelat des > Erlebnisses < ist sich nicht gleich geblieben. Im neunzehnten Jahr-
hundert war es > das Abenteuer < . In unsern Tagen tritt es als > Schicksal < auf.
Im Schicksal steckt der Begriff des > totalen Erlebnisses < , das von Hause aus
tödlich ist. Der Krieg präfiguriert es aufs Unübertrefflichste. ( > Daß ich als Deut-
scher geboren bin, dafür sterbe ich. < [...])" (V 962).

Die Abwertung des „Erlebnisses", die Benjamin vornimmt, findet er aber schon im
Sprachgebrauch vollzogen. „Warum soll ich Ihnen verheimlichen, daß ich die Wurzel
meiner > Theorie der Erfahrung < in einer Erinnerung aus der Kindheit finde", teilt
er Adorno mit. Wenn die Eltern mit den Kindern von einer Sommerwohnung aus
„irgendeines der obligaten Ausflugsziele besucht hatten, so pflegte mein Bruder zu
sagen: > Da wären wir nun gewesen. < Das Wort hat sich mir unvergeßlich einge-
2. Anlage der Passagenarbeit 69

prägt." (B 848) Jene, „die davon sprechen, daß ihnen etwas ein > Erlebnis < gewesen
ist" (V 508), sagen damit nicht, was sie zu sagen meinen, nämlich ihr Leben habe den
Höhepunkt eines konzentrierten, restlos erfüllten Innewerdens erreicht, sondern sie
gestehen nur, daß etwas für ihr Leben völlig gleichgültig und belanglos geblieben ist.
Das „Erlebnis" gerät so auf die Seite der Lektüre und Erinnerung II, die technisch-
willkürlich das Erinnerte nur beziffert, registriert, als erledigt verbucht. Die Souvenirs
und Andenken, die man von solchen Erlebnissen - vermeintlich der Erfahrung I -
übrigbehält, gleichen unerwartet den Gegenständen des Allegorikers: „Die Allegorie
hat im neunzehnten Jahrhundert die Umwelt geräumt, um sich in der Innenwelt
anzusiedeln. Die Reliquie kommt von der Leiche, das Andenken von der abgestorbe-
nen Erfahrung her, welche sich, euphemistisch, Erlebnis nennt" (I 681). Ausgerechnet
das spektakuläre „Erlebnis" hat den Wahrnehmenden, indem er es ,gehabt' und
absolviert hat, unberührt gelassen, dagegen wäre die unscheinbare „Erfahrung", die
er womöglich gar nie mit Bewußtsein aufgenommen hat, in ihn eingegangen, zugäng-
lich allein der memoire involontaire. „Die memoire volontaire dagegen ist eine Regi-
stratur, die den Gegenstand mit einer Ordnungsnummer versieht, hinter der er ver-
schwindet. > Da wären wir nun gewesen. < ( > Es war mir ein Erlebnis. < ) "
(V 280)
Zweiter Teil

I. Der Flaneur

Architektur und Flanerie, Sammlung, Spiel


Die Wahrnehmung von Architektur ist bei Benjamin also Paradigma einer
nicht-kontemplativen .praktischen Erinnerung', die aktuell und kollektiv
vollzogen wird und somit das Modell für eine mögliche Revolution' abgeben
kann. Denn eine solche müßte sich - was am Beispiel der Mode noch weiter
auszuführen sein wird - in Form von Erinnerung realisieren, wie sich für
Benjamin die zeitgenössische Revolution der modernen Architektur des 20.
Jahrhunderts auch nicht als Vergessen, vielmehr als Erinnerung der Architek-
tur des 19. Jahrhunderts realisiert. Wohl steht der nüchterne Wohnraum eines
Le Corbusier im denkbar größten Gegensatz zum berauschenden bürgerli-
chen Interieur, doch es sind beides gleichermaßen Erscheinungen des Glas-
und Eisenbaus, jener umwälzenden Neuerung und eigenen Leistung des
19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Architektur. Aber das ganz Neue der
Technik wurde im 19. Jahrhundert als Uraltes und immer Dasselbe - my-
thisch - im Modus I wahrgenommen, und erst jetzt, im 20. Jahrhundert,
könnte man es, als Noch-nie-Dagewesenes, erfassen im Modus IL Daß das
20. Jahrhundert mit dem 19. revolutionär, doch nur mit dessen eigenen
Mitteln, bricht, das macht den Erinnerungscharakter dieser Revolution der
Moderne aus.
Neben der Architektur werden im „Passagenwerk" noch andere Formen
von ,taktiler', nicht-kontemplativer Leküre und von praktischer Erinnerung
aktuell. Sie erfüllen die letzte und schwierigste Bedingung, daß ihr Subjekt
ein Kollektiv sei, nun allerdings nicht, mußten aber deswegen nur umso
naheliegender für Benjamin sein, der notgedrungen als Privatperson ans
Passagenwerk ging. - Benjamin hat eine Reihe „physiognomischer Studien"
(V 1037), einen „physiognomischen Zyklus" (B 808) geplant, der anschei-
nend nie ausgeführt worden ist. Die Namenliste der vorzustellenden Typen
variiert: der Flaneur, der Sammler, der Fälscher, der Spieler... oder: der
Spieler, der Flaneur, der Wartende... oder: der Flaneur, der Spieler, der
Student - wobei der Student die Stelle des Sammlers einnimmt: er sammelt
72 I. Der Flaneur

Wissen.117 Immer handelt es sich dabei aber um Leser-Typen des 19. Jahrhun-
derts, deren Lesen praktisch, ein Handeln ist.
Drei davon, der Flaneur, der Sammler, der Spieler, werden im folgenden
dargestellt, wobei es jedesmal die Methode der Erinnerung des 19. Jahrhun-
derts in der Passagenarbeit nachzuzeichnen gilt. Und jedesmal geht es um die
Differenz von I und II in einer Dialektik, die im ersten Teil dieser Arbeit
exponiert worden ist: Einerseits wird die Differenz niemals verwischt, son-
dern im Gegenteil immer verschärft, so daß nirgendwo ein Übergang von I
zu II zu finden ist und der Wechsel nur noch abrupt und gewaltsam, revolu-
tionär sein kann; andererseits kann aber mitten in I der Umschlag zu II
erfolgen, wie man umgekehrt I in II aufgehoben finden kann, wenn diese
Erfahrung nur kompromißlos genug durchgeführt wird. - Damit ist auch der
Widerspruch auflösbar geworden, der sich bei der Frage ergibt, ob in der
Passagenarbeit selbst, dieser Erinnerung und Lektüre des 19. Jahrhunderts,
welche dieses 19. Jahrhundert in seinen - zwischen I und II - widerstreiten-
den Erinnerungs- und Lektüreformen aufnimmt, nun I angewandt werde
oder II? Da es eine revolutionäre Lektüre-Erinnerung sein soll, muß sie die
Form von II haben. Und zugleich ist unverkennbar, daß jede in der Passagen-
arbeit thematische Lektüre-Erinnerung I hier auch zugleich selbst praktiziert
wird. Soviel ist aber nun klar: Die .Revolution' bestünde einzig darin, daß die
,alte' Erfahrung wiederholt wird noch einmal, nämlich so, daß sich gerade in
ihr schon die ,neue' vollzieht.

Alle drei folgenden Exposes sind ähnlich aufgebaut:


- Flanieren, Sammeln, Spielen sind, so wird gezeigt, eine Form der prakti-
schen Lektüre, die typisch sein soll für das 19. Jahrhundert und die doch
auch im 20. noch, und gerade hier, praktiziert wird. (Und wieder einmal
muß daran erinnert werden, daß das Verhältnis von I und II nicht das der
chronologischen Aufeinanderfolge sein kann.)
- Beim Flanieren, Sammeln, Spielen handelt es sich um die Lektüre-Erinne-
rung I, um die mythische Erfahrung also. Und diese wird ambivalent
dargestellt, nämlich gänzlich, und nicht nur zu einem Teil, gewürdigt und
ebenso gänzlich kritisiert.
- Flanieren, Sammeln und Spielen stehen damit im größtmöglichen Gegen-
satz zu einer modernen, an ihrer Stelle möglichen und sie ausschließenden
Erfahrung II. Und dennnoch kann I als die Vorwegnahme von II erschei-
nen, und II als die Wiederholung von I. Was gegensätzlich war, ist plötz-
lich ununterscheidbar geworden, und die Differenz stellt sich heraus als
Identität.
Das Vorgehen ändert sich nun: Wenn der erste Teil so übersichtlich wie
möglich und manchmal spekulativ in die Grundbegriffe der Passagenarbeit
eingeführt hat, so gilt es diese jetzt im zweiten Teil durch eine eingehendere
Lektüre zu überprüfen. Anders werden dabei auch die Zitate eingesetzt.
Bisher sind sie als illustrative Belege zum Text ergänzend hinzugetreten, von
Methode der Erinnerung 73

jetzt an führen sie ihn gleichberechtigt weiter - oder auch zurück, geben
jedenfalls die Richtung an, die nicht immer die voraussehbare sein wird.

Methode der Erinnerung


Benjamins „Theorie des Flaneurs" (B 792) soll im folgenden dargestellt
werden.118 Die wichtigsten Texte dabei sind: das Konvolut M des „Passagen-
werks" (V 524-569), das Kapitel „Baudelaire oder die Straßen von Paris" in
„Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" (V 54), das „Flaneur"-Kapitel
in „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire" (I 537-569), „Über einige
Motive bei Baudelaire" (I 627ff.) sowie die Rezension „Die Wiederkehr des
Flaneurs" (III 194-199). - „Was nie geschrieben wurde, lesen." (V 524) Das
Hofmannsthal-Zitat, das in Benjamins Lektüre-Werk wiederholt auftaucht,
denn hier soll Wirkliches wie ein Text gelesen werden, steht programmatisch
als Motto über dem Flaneur-Konvolut."9 Flanieren ist solches Lesen.120 Auch
ein Erinnern: „Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene
Zeit. Ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müt-
tern, so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender sein kann als sie
nicht seine eigene, private ist. Dennoch bleibt sie immer Zeit einer Kindheit.
Warum aber die seines gelebten Lebens? Im Asphalt, über den er hingeht,
wecken seine Schritte eine erstaunliche Resonanz. Das Gaslicht, das auf die
Fliesen herunterstrahlt, wirft ein zweideutiges Licht auf diesen doppelten
Boden." (V 524, cf. 1052 f.) Flanieren ist ein im Modus der Zerstreutheit
physisch praktiziertes Lesen, Erinnern. Unterm Schlendern wird der harte
Asphalt der Stadt doppelbödig und hallt wider: Diese Doppelheit in der
Erfahrung kommt daher, daß das aktuell Wahrgenommene sich mit etwas
anderem deckt und nur so wahrgenommen wird, daß das Gegenwärtige mit
dem Vergangenen in dieser Erfahrung, die die Form von Erinnerung hat, sich
durchdringt. Und diese Doppelheit erscheint als Zweideutigkeit; diese ist
aber nach Benjamin das Merkmal des Mythischen, und es handelt sich also
um die Erfahrung I.
Die zitierte Passage erscheint auch am Anfang der „Berliner Kindheit um
Neunzehnhundert", und sie handelt dort vom Erinnerungszugang zu dieser:
. . . „Als darum dreißig Jahr danach ein Landeskundiger, ein Bauer von
Berlin, sich meiner annahm, um nach langer gemeinsamer Entfernung aus
der Stadt mit mir zurückzukehren, durchfurchten seine Pfade diesen Garten,
in welchen er die Saat des Schweigens säte. Er ging die Steige voran, und ein
jeder war ihm abschüssig. Sie führten hinab, wenn schon nicht zu den Müt-
tern allen Seins, gewiß zu denen dieses Gartens. Im Asphalt, über den er
hinging, weckten seine Schritte ein Echo. Das Gas, welches auf unser Pflaster
schien, warf ein zweideutiges Licht auf diesen Boden." (IV 238) Die Anspie-
lung auf Aragons „Le Paysan de Paris" ist eine Art Quellenangabe; am
Anfang von Benjamins Passagenwerk steht diese surrealistische Erkundung
der Passage de l'Opera und der Buttes-Chaumont.121 Einen anderen Park, den
74 I. Der Flaneur

„Tiergarten", bestellt nun wie einen Garten der „Bauer von Berlin". Es
handelt sich um Franz Hessel, der in der „Berliner Chronik" als einer der
„Führer" erscheint, mit dem sich auf den „gemeinsamen Pariser Gängen" das
Berlin der Kindheit erschlossen habe (VI 469). Franz Hesseis „Spazieren in
Berlin" ist die Rezension „Die Wiederkehr des Flaneurs" gewidmet, worin es
heißt: „Ein ganz und gar episches Buch, ein Memorieren im Schlendern, ein
Buch, für das Erinnerung nicht die Quelle, sondern die Muse war. Sie geht
die Straßen voran, und eine jede ist ihr abschüssig. Sie führt hinab, wenn
nicht zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender
sein kann, als sie nicht nur des Autors eigne, private ist. Im Asphalt, über den
er hingeht, wecken seine Schritte eine erstaunliche Resonanz. Das Gaslicht,
das auf das Pflaster herunterscheint, wirft ein zweideutiges Licht über diesen
doppelten Boden. Die Stadt als mnemotechnischer Behelf des einsam Spazie-
renden, sie ruft mehr herauf als dessen Kindheit und Jugend, mehr als ihre
eigene Geschichte. / Was sie eröffnet, ist das unabsehbare Schauspiel der
Flanerie, das wir endgültig abgesetzt glaubten." (III 194)
In der „Berliner Chronik" geht Hessel Benjamin als Führer die Steige voran -
„und ein jeder war ihm abschüssig" - wie ihm, Hessel, hier Erinnerung als
Muse die Straßen vorangeht - „und eine jede ist ihr abschüssig." Diese
Abschüssigkeit erfährt der ebenhin schlendernde Flaneur, weil seine Gegen-
wart an jeder Stelle in die Tiefe der Vergangenheit führt;122 seine Erfahrung ist
,tiefe', ist wesentliche Erfahrung, wie es die Anspielung auf Fausts Gang
hinunter zu den Müttern insinuiert. Flanierendes Erinnern ist, bei Hessel wie
bei Benjamin, zugleich die Methode der Herstellung eines Texts. Es ist anzu-
nehmen, daß die Passagenarbeit nicht nur an einem numerierten Platz in der
Bibliotheque Nationale, sondern nicht weniger intensiv auch während „end-
losen Flanerien" (VI 469) durch Paris geleistet worden ist. „Die Stadt als
mnemotechnischer Behelf des einsam Spazierenden", das ist Paris wie Berlin.
Benjamin bleibt ganz auf den Spuren der Berliner Kindheit um 1900, wenn er
Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, erforscht. Denn auch wenn man
nie vergessen darf, daß dies kein freiwilliger Studienaufenthalt, sondern not-
gedrungen die Emigration gewesen ist: erst in Paris, das den Typus des
Flaneurs ja geschaffen habe, kann dieser in Benjamins Fall seine eigenartige
Fähigkeit unter Beweis stellen, eine Kindheitserinnerung zu leisten, die nicht
notwendig die Erinnerung an seine private, gelebte Kindheit sein soll.
Wie der Flaneur sich fortbewegend auf seine Art liest, so kann aber auch
umgekehrt der unbeweglich unter Büchern ausharrende Leser flanieren.123
, Jener anamnestische Rausch, in dem der Flaneur durch die Stadt zieht, saugt
seine Nahrung nicht nur aus dem, was ihm da sinnlich vor Augen kommt,
sondern wird oft des bloßen Wissens, ja toter Daten, wie eines Erfahrenen
und Gelebten sich bemächtigen. Dies gefühlte Wissen geht von einem zum
andern vor allem durch mündliche Kunde. Aber es hat sich im Laufe des XIX
Jahrhunderts doch auch in einer fast unübersehbaren Literatur niederge-
schlagen." (V 525) Dieser fast unübersehbaren Literatur nimmt sich Benja-
min in einem flanierend-zufallsgeleiteten Lesen an, und er stützt sich dabei
Anachronismus 75

kaum auf „mündliche Kunde"; aber nach Benjamins Theorie des Erzählers124
ist mündliche Kunde eben die Tradition, von der dieser zehrt, - und der
Flaneur soll zweifellos als Erzähler begriffen werden: „Denn Hessel be-
schreibt nicht, er erzählt. Mehr, er erzählt wieder, was er gehört hat." (III
194) Die ,Erzählung' steht für den Erfahrungsmodus I, in Opposition zum
Modus II, der Information', die bloße Daten liefert.
Die Erfahrung des Flaneurs ist Erinnerung I, welche Vergangenes in sei-
nem Gehalt wiedergibt, wogegen Erinnerung II es lediglich registriert und
die bloßen Daten davon aufbehält. Dabei soll die Erinnerung I aber nicht nur
Gelebtes aufbewahren, sondern sogar diese bloßen Daten in Gelebtes ver-
wandeln können und geht also über die Grenzen des eigenen Lebens des
Erinnernden hinaus. Daß man erinnernd zur Erfahrung machen kann, was
man noch gar nie erfahren hat, heißt: Auch die allererste Erfahrung von
etwas kann schon Erinnerung sein. Das trifft nun aber mustergültig auf die
kindliche Erfahrung zu. Sie bemächtigt sich auch bloßen Wissens, schmelzt
es zu gefühltem Wissen auf, und aus diesem Grund ist die Erfahrung des
Flaneurs auch immer Kindheitserinnerung, nicht weil es die Erinnerung an
eine, an seine Kindheit, sondern weil es die Erfahrung des Kindes ist, die sich
in der Form von solcher Erinnerung realisiert.

Anachronismus
Flanerie ist ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Aber sie wird auch im 20.
Jahrhundert praktiziert, und gerade bei Benjamin, der seinerseits die vom
Surrealismus erprobte „neue Kunst des Flanierens" (V 1000) weiterführt.125
Das Schauspiel, „das wir endgültig abgesetzt glaubten" (III 194), gelangt also
ununterbrochen zur Aufführung. Unter den widrigsten Umständen überlebt
der Flaneur - von Anfang an. Historisch tritt er nämlich erst auf, als alles
gegen ihn zu sprechen beginnt. Er entwickelt seine Leidenschaft in dem
Moment, da der aufkommende Großstadtverkehr genüßliches Schlendern
und versunkene Kontemplation gerade unmöglich zu machen beginnt. Und
er richtet sich erst im sprichwörtlich rasend beschleunigten Tempo der Mo-
derne mit dem eigenen langsamen ein; Victor Hugo läßt sich mit Vorliebe auf
der Imperiale eines Omnibusses zur behaglichen Betrachtung nieder, was
heute - eine touristische Beschäftigung - sightseeing heißt.126 Im Flaneur-
Konvolut ist auch Material zu den Omnibussen gesammelt, mit denen der
rücksichtslose, bedrohliche Großstadtverkehr beginnt. Schutz vor ihm bie-
ten die Passagen, die zu eben der Zeit in Mode kommen und in denen sich der
Flaneur mit Vorliebe aufhält.
Der Flaneur sei heute nur verschwunden, bemerkt Susan Buck-Morss, weil
wir alle Flaneurs geworden seien.127 Anachronistisch von Anfang an, hat der
Flaneur überlebt: als Tourist. Es mag nützlich sein, an diesen jedermann
bekannten Typ zu denken, damit einem seine eigenartigen, vorerst geheim-
nisvoll anmutenden Fähigkeiten auf einmal vertraut, wenn auch zugleich
76 I. Der Flaneur

ziemlich banal erscheinen. - „Der Flaneur ist der Priester des genius loci" (III
196).128 Nun kennt man das doch, daß es einer für sinnvoll und wünschbar
hält, dort mit eigenen Füßen aufzutreten und mit eigenen Lungen zu atmen,
wo der Autor eines Werks, das er kennt, einmal wirklich gewesen, wo ein
Ereignis, von dem er gelesen hat, tatsächlich einmal stattgefunden haben soll.
An Ort und Stelle, in einem vielleicht unansehnlichen und schäbigen, aber
doch physisch betretenen Raum scheint nun eine Erinnerung möglich, die
das Bewußtsein früher und anderswo noch nie fertiggebracht hat. Dem
Geruch- und Tastsinn fast mehr noch als den Augen gelingt nun hier, was
man höchstens an einer Stätte der eigenen Vergangenheit für möglich gehal-
ten hätte. Dieser Authentizitätseffekt ist so reizvoll, daß es auf die Größe und
Großartigkeit des Vergangenen gar nicht mehr ankommt. Nur irgendwo
einmal soll das Wissen, das sich extensiv ausbreitet und ausdehnt, von einer
intensiven Erfahrung durchstoßen werden.
Man kann den Flaneur Benjamin so am Werk, am Passagenwerk, sehen:
„Er steht vor Notre Dame de Lorette und seine Sohlen erinnern: hier ist die
Stelle, wo man ehemals das Zusatzpferd - das cheval de renfort - vor den
Omnibus schirrte, der die rue des Martyrs nach Montmartre hinaufstieg.
Noch oft gäbe er all sein Wissen um das Domizil von Balzac oder von
Gavarni, um den Ort eines Überfalls und selbst einer Barrikade für die
Witterung einer Schwelle oder das Tastbewußtsein einer Fliese dahin, wie der
erstbeste Haushund es mit davonträgt." (V 524) Der Flaneur scheint keiner
von den massenhaft auftretenden Touristen zu sein. Zwar kommt auch er
nicht ohne ,Führer' oder ,guide', nicht ohne den Leitfaden von Vor-Geschrie-
benem aus. Aber es handelt sich um einen gebildeten Touristen, der den
sogenannten Sehenswürdigkeiten verachtungsvoll ausweichen kann. Er ist
belesen - wer sonst weiß denn noch, was ein „cheval de renfort" ist? - und
möchte doch am liebsten auf seine ganze Informiertheit verzichten. „Die
großen Reminiszenzen, die historischen Schauer - sie sind dem wahren
Flaneur ja ein Bettel, den er gerne dem Reisenden überläßt. Und all sein
Wissen von Künstlerklausen, Geburtsstätten oder fürstlichen Domizilen gibt
er für die Witterung einer einzigen Schwelle oder das Tastgefühl einer einzi-
gen Fliese dahin, wie der erstbeste Haushund sie mit davonträgt." (III 195, cf.
V524)
Aber der Tourist ist gerade an seiner Verachtung gegenüber ,dem Touri-
sten' zu erkennen. Ihn durchschaut er und deckt ihn ein mit Spott und Hohn.
Ein neuer Italien-Reiseführer wird von Benjamin in einer Rezension so be-
grüßt: „Nun erst besitzen wir das Idealporträt des > Mitreisenden < , dem
zu entgehen von jeher der beste und schwierigste Teil aller Reisetechnik
gewesen ist." (III 91) „Der reisende Pöbel selber" melde sich hier zu Wort, all
jene, „ > denen es ein Erlebnis gewesen ist < ." Touristen sind eine unglückli-
che Spezies: In der modernen Form der Maße gehen sie auf eine veraltete
kontemplative, individuell-private Rezeption aus, die doch zusehends un-
möglicher wird - gerade durch sie, und organisiert treten sie als die unzählig
vielen auf, denen allen vorschwebt, die Sehenswürdigkeit, die Kirche oder das
Der Schleier der Masse 77

Museum, wohin sie strömen, möglichst ungestört in sich aufzunehmen. -


Eine Hauptbeschäftigung des Touristen ist seit jeher das Flanieren. Er kehrt
die beschauliche Seite seines Verhaltens gern hervor, behauptet gern, die
ruhelos vorbeitreibende Menge zu beobachten sei sein stilles Vergnügen und
es könne ihm beim Studium der gehetzten Passanten gar nicht langweilig
werden - wie es Baudelaire dem Zeichner Constantin Guy nachsagt.129 Das
Image des Flaneurs als eines Menschenkenners, der das Passantenmaterial
genüßlich in Typen gliedert und der sich in der Lage dünkt, den Vorbeieilen-
den Stand, Charakter und Beruf abzumerken, wird im 19. Jahrhundert in
einer besonderen, beliebten literarischen Gattung gepflegt: in den sogenann-
ten „Physiologien".130 Benjamin hat diesen Darstellungen keinen Augenblick
Glauben geschenkt. Er findet darin nur die bemühte Illusion einer betulichen
Menschenkenntnis, welche eben zu jener Zeit im harten Geschäftsleben
unhaltbar wird, wo sich die sofortige richtige Einschätzung des andern, als
eines Gläubigers, Kunden oder Konkurrenten, als lebenswichtig erweist.
Der Flaneur, der sich derart müßig distanziert gibt, wird zugleich doch
ganz anders umgetrieben und gehetzt. Auch an dieser Stelle ist die Rede von
ihm, und mancher Tourist wird sich hier wiedererkennen: „Ein Rausch
kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehn
gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die
Verführungen der Läden, der bistros, der lächelnden Frauen, immer unwider-
stehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke, einer fernen Masse
Laubes, eines Straßennamens. Dann kommt der Hunger. Er will nichts von
den hundert Möglichkeiten, ihn zu stillen, wissen. Wie ein asketisches Tier
streicht er durch unbekannte Viertel, bis er in tiefster Erschöpfung auf sei-
nem Zimmer, das ihn befremdet, kalt zu sich einläßt, zusammensinkt." (V
525)

Der Schleier der Masse


Der Flaneur verwandelt sich im Handumdrehn in ein ruheloses, jagend-
gejagtes Tier: Das ist seine Erscheinung als modern, im Modus II Wahrneh-
mender, wie ihn Benjamin in Poes „Man of the Crowd" exemplarisch darge-
stellt findet. „Den Fall in dem der Flaneur sich ganz vom Typ des philosophi-
schen Spaziergängers entfernt und die Züge des unstet in einer sozialen
Wildnis schweifenden Werwolfs annimmt, hat Poe zuerst in seinem > Mann
der Menge < auf immer fixiert." (V 526) Vorerst verkörpert er aber ganz den
Lesertyp I. Der „philosophische Spaziergänger" - an Rousseaus „promeneur
solitaire" wird im Konvolut M erinnert131 - ist der auratisch Wahrnehmende,
wie ihn Baudelaire in „L'art romantique" von Melancholie befallen darstellt:
„Le promeneur, en contemplant ces etendues voilees de deuil, sent monter i
ses yeux les pleurs de l'hysterie, hysterical tears." (V 554, cf. I 640) Wozu
Benjamin anmerkt: „Der Promeneur ist zum > Lustwandeln < nicht mehr
imstande; er flüchtet sich in den Schatten der Städte: er wird Flaneur."
^s I. Der Flaneur

Rousseaus Promeneur hatte sich noch aus der Stadt geflüchtet; die Land-
schaft ist die Szenerie auratischer Wahrnehmung, zu der jener bekannte
,Schleier'-Effekt gehört, ohne welchen etwas .Schönes', das Benjamin als
notwendig Fernes definiert, gar nicht erfahrbar ist: „Was die Lust am Schö-
nen unstillbar macht, ist das Bild der Vorwelt, die Baudelaire durch die
Tränen des Heimwehs verschleiert nennt" (I 645). Der Flaneur, die von
Anfang an unmöglich gewordene Figur des philosophisch Kontemplieren-
den, praktiziert nun in der Großstadt die in die Landschaft passende Erfah-
rung I. Der Schleier in seinem Blick ist jetzt aber nicht mehr der Dunst vor
einem fernen Gebirge am Horizont. Sondern: „Die Menge ist der Schleier,
durch den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie
winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube." (V 54)
Die neue Großstadtrealität des 19. Jahrhunderts nimmt der Flaneur durch-
aus wahr, aber diese Wahrnehmung wird rausch- und traumhaft dadurch,
daß in ihr, wie noch auszuführen ist, Gegensätzliches - Stadt und Land,
Straße und Interieur - zur Deckung gelangt. Der Schleier vor der Wirklich-
keit verdeckt sie nicht einfach, sondern macht sie selbst zur „Phantasmago-
rie".132 „Die Masse bei Baudelaire. Sie legt sich als Schleier vor den Flaneur:
sie ist das neueste Rauschmittel des Vereinsamten." (V 559) Angesichts des
neuen Großstadtphänomens der Masse, das die Kategorien des Einzelnen,
Eigenen und Privaten auflöst, hält der Flaneur leidenschaftlich an diesen fest.
Ausgestoßen und vereinsamt beharrt er reaktionär auf jener kontemplativen
Wahrnehmung, die in der Masse unmöglich wird, - und er wendet sie gerade
auf diese an. Diesem Individuum muß der zirkulierende Passantenstrom, in
dem die Individuen untergehen, noch zum Privatrausch dienen, und dessen
hektisches Tempo soll nur seine eigene Muße verschönern.
Die Menge als Schleier - das wird auch einmal so gewendet: „Ist die Menge
ein Schleier, so drapiert sich der Journalist mit ihm" (V 452). Der Journalist
ist das, was aus dem ,Dichter' unter den neuen Bedingungen des 19. Jahrhun-
derts wird; und das ist niemand anders als der Flaneur, der seiner Arbeit
nachgeht, indem er sich dem Müßiggang ergibt. Da knüpft er die nötigen
.Beziehungen', da schnappt er die letzten Neuigkeiten auf, von denen er
literarisch zu leben versucht; und er pflegt damit tatsächlich, im industriellen
Milieu, aus dem die handwerkliche Kunst des,Erzählens' schwindet, beharr-
lich die „mündliche Kunde" - in der Form von modischem Klatsch. „Die
gesellschaftliche Grundlage der flanerie ist der Journalismus. Als fläneur
begibt der Literat sich auf den Markt, um sich zu verkaufen." (V 559) Als
Literat und Journalist - was Benjamin selbst gewesen ist - stellt sich der
Dichter aus und bietet sich an zum Kauf. Er wird Ware. Dorthin, wo Ware
angeboten wird, in die Passage, ins Warenhaus, zieht er sich auch gern
zurück. „Die Menge ist nicht nur das neueste Asyl des Geächteten; sie ist
auch das neueste Rauschmittel des Preisgegebenen. Der Flaneur ist ein Preis-
gegebener in der Menge. Damit teilt er die Situation der Ware. Diese Beson-
derheit ist ihm nicht bewußt. Sie wirkt aber darum auf ihn nicht weniger. Sie
durchdringt ihn beseligend wie ein Rauschgift, das ihn für viele Demütigun-
Der Schleier der Masse 79

gen entschädigen kann. Der Rausch, dem sich der Flanierende überläßt, ist
der der vom Strom der Kunden umbrausten Ware." (I 557f.) Der Preisgege-
bene hat auch seinen Preis, für den er zu haben ist. Der Literat, der sich nur
unverbindlich umzusehen meint, hat sich auch schon prostituiert und bietet
sich feil. Überlegen studiert er zwar die Passanten, fühlt sich nach Belieben in
sie ein, aber: „Gäbe es jene Warenseele, von welcher Marx gelegentlich im
Scherz spricht, so wäre sie die einfühlsamste, die im Seelenreiche je begegnet
ist. Denn sie müßte in jedem den Käufer sehen, in dessen Hand und Haus sie
sich schmiegen will. Einfühlung ist aber die Natur des Rausches, dem der
Flaneur in der Menge sich überläßt." (I 558) Beseelte Ware in der „sie
berauschenden, sie umrauschenden Menge" (I 559) ist der Flaneur.
„Die > Menge < ist ein Schleier, der dem flaneur die > Masse < ver-
birgt." (V 421) Es zeichnet sich eine - allerdings nicht konsequent durchge-
führte - Differenzierung der Begriffe ab: Die „Masse" ist das mit Bisherigem
unvergleichbare, qualitativ neue Phänomen des 19. Jahrhunderts, das als
„Menge" wie etwas Altbekanntes aufgefaßt wird. Der Flaneur sieht die
Masse als Menge; denn er verschließt vor dem bedrohlich Neuen nicht
einfach die Augen, sondern widmet sich ihm in der kontemplativen Betrach-
tung, die es als Altes erscheinen läßt. Das moderne Großstadtphänomen als
ewiges Naturschauspiel: So habe Victor Hugo, hingelagert auf den Klippen
von Jersey, wie ihn bekannte Photographien zeigen, angesichts der Meeres-
brandung diesen neuen Gegenstand, aber eben als ,Menge', der Poesie er-
schlossen, während im Gegensatz dazu Baudelaire weder die ,Masse' jemals
zum Gegenstand macht noch überhaupt,Poesie' verfaßt. „Die Menge tritt bei
Hugo als ein Gegenstand der Kontemplation in die Dichtung ein." (I 563)
Die Kritik daran wird bündig in die Frage gefaßt: „Konnte der im Zeichen
der Menge stehenden Vorstellung von der unterdrückten Masse ein zuverläs-
siges revolutionäres Urteil entsprechen?" (I 567) Die Masse als Kollektivsub-
jekt einer Revolution wie das .Proletariat': Die Bezugnahme auf Marx täuscht
nicht darüber hinweg, daß diese Masse viel weniger von den Arbeitern in der
Industrie als von den Konsumenten auf dem Markt und den Passanten im
Verkehr gebildet wird, aber wie man gesehen hat, nähert Benjamin die .Mas-
se' dem .Proletariat' an in einem Moment, wo die ,Menge' zum ,Volk' wird.
Und das macht auch verständlich, warum er nie - wie dann sogar Adorno -
der Versuchung erlegen ist, auf moderne Vermaßungsphänomene zu schimp-
fen. „Welche Bewandtnis es mit dem Neuen hat, das lehrt vielleicht der
flaneur am besten. Der Schein einer in sich bewegten, in sich beseelten Menge
ist es, an dem er seinen Durst nach dem Neuen löscht. In der Tat ist dieses
Kollektiv durchaus nichts als Schein. Diese > Menge < , an der der flaneur
sich weidet, ist die Hohlform, in die siebenzig Jahre später die Volksgemein-
schaft gegossen wurde." (V 436)
Auf dem Bild der Stadt in den Augen des Flaneurs liegt der Schleier der
Masse. „Sie macht, daß das Grauenhafte auf ihn bezaubernd wirkt. Erst wenn
dieser Schleier zerreißt und dem Blick des Flaneurs > einen der volkreichen
Plätze < freigibt, > die im Straßenkampfe menschenleer daliegen < , sieht
8C I. Der Flaneur

auch er die große Stadt unverstellt." (I 562) Die Verklärung soll einer Klarheit
weichen; das geschähe im Augenblick der Revolution, die den Zauber enttäu-
schend und erlösend bricht: „Revolution entzaubert die Stadt. Commune in
der > Education Sentimentale < . Bild der Straße im Bürgerkrieg." (V 531 f.)
In diesem Moment findet ein Augenzeuge „zum Erstenmale die Straßen von
Paris fast menschenleer" (V 534), die Masse ist verschwunden daraus. Das-
selbe Motiv taucht im Aufsatz „Der Surrealismus" auf, worin diesem ein
revolutionäres Potential zuerkannt wird, da gerade die höchste Vertiefung
des Traums dem Erwachen Vorschub leistet: „Im Mittelpunkt dieser Ding-
welt steht das Geträumteste ihrer Objekte, die Stadt Paris selbst. Aber erst die
Revolte treibt ihr surrealistisches Gesicht restlos heraus. (Menschenleere
Straßen, in denen Pfiffe und Schüsse die Entscheidung diktieren.) Und kein
Gesicht ist in dem Grade surrealistisch wie das wahre Gesicht einer Stadt."
(II 300) So erhalten die leeren Straßen und Plätze bei Giorgio de Chirico oder
Max Ernst einen politischen Sinn, und in den Aufnahmen von Adget findet
Benjamin die Photographie in den Dienst der Politik gestellt: „Merkwürdi-
gerweise sind aber fast alle diese Bilder leer. Leer die Porte d'Arcueil an den
fortifs, leer die Prunktreppen, leer die Höfe, leer die Cafehausterrassen, leer,
wie es sich gehört, die Place du Tertre. Sie sind nicht einsam, sondern stim-
mungslos; die Stadt auf diesen Bildern ist ausgeräumt wie eine Wohnung, die
noch keinen neuen Mieter gefunden hat". (II 379)

„Kolportage-Phänomen des Raumes"


Das Schleier-Phänomen gehört zur Definition der Aura als „Ferne, so nah sie
sein mag".133 Daneben gibt es die andere, nach welcher Aura Blick-Erwide-
rung ist: „Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen
belehnen, den Blick aufzuschlagen" (I 646f.). Und auch in dieser Erfahrung,
die so rätselhaft anmutet, ist der Flaneur Experte. „ > Nur was uns anschaut
sehen wir. Wir können nur -, wofür wir nichts können. < Man hat die
Philosophie des Flaneurs niemals tiefer erfaßt als es Hessel mit diesen Wor-
ten getan hat." (III 198) Benjamin zitiert hier, und auch sonst wird die
eigenartige Möglichkeit, daß nicht nur Menschen, auch Dinge und Worte
zurückschauen können, vor allem mit Zitaten behauptet, von Novalis -
„ > Die Wahrnehmbarkeit < , so urteilt Novalis, ist > eine Aufmerksam-
keit < . Die Wahrnehmbarkeit, von welcher er derart spricht, ist keine andere
als die der Aura" (I 646) - bis zu Karl Kraus - „ > Je näher man ein Wort
ansieht, desto ferner sieht es zurück < ".134 Der Flaneur aber macht diese
Möglichkeit vor, und damit wird auf eher enttäuschende Art das genius
loci-Phänomen erklärt.
„Nur was uns anschaut, sehen wir": Dieses Anschauen ist ein dubioses
Zuzwinkern, der zweifelhafte Echo-Effekt des Flanierens. „Blickwispern
füllt die Passagen. Da ist kein Ding, das nicht ein kurzes Auge wo man es am
wenigsten vermutet, aufschlägt, blinzelnd schließt, siehst du aber näher hin,
„Kolportage-Phänomen des Raumes" 81

Dienstmadebenromane des vorigen Andre Breton, Nadja (1928)


Jahrhunderts

ist es verschwunden. Dem Wispern dieser Blicke leiht der Raum sein Echo.
> Was mag in mir, so blinzelt er, sich wohl ereignet haben? < Wir stutzen.
> Ja, was mag in dir sich wohl ereignet haben? < So fragen wir ihn leise
zurück." (V 672) Die Notiz, mit dem Vermerk „Flanieren" versehen, handelt
von der „Zweideutigkeit der Passagen"; und diese Zweideutigkeit ist be-
kannt: Sie ist das Kennzeichen der mythischen Erfahrung I.
In derselben Notiz findet sich eine Anspielung auf Odilon Redon: „Es ist
so ein zweideutiges Zwinkern vom Nirwana herüber. Und wieder streift uns
hier mit kaltem Hauch der Geckenname Odilon Redon" (V 672). Und in den
Haschisch-Notizen heißt es ganz ähnlich: „Dieses > zweideutige Zwinkern
von Nirwana herüber < ist wohl nirgends so anschaulich geworden wie bei
Odilon Redon" (VI 563). Für diese Auffassung von Redon mag wohl die
Stelle entscheidend gewesen sein, die sich Benjamin einmal notiert: „Zum
Kolportagephänomen des Raumes: > Le sens du mystere, a ecrit Odilon
Redon . . . est d'etre tout le temps dans l'equivoque, dans les doubles, triples
aspects, des soupcons d'aspect (images dans images), formes qui vont etre, ou
82 I. Der Flaneur

qui seront, selon l'etat d'esprit du regardeur < . . . „ (V 540) Der - auch
rauschhaft genannten - Wahrnehmung des Flanierenden ist der Haschisch-
rausch offenbar gleich. Ihm wird ja nachgesagt, daß er die Wirklichkeit nicht
etwa vernebelt, sie vielmehr in einer unsozial intensiven Art zugänglich
macht, als eine wirklich objektive Wahrnehmung - in Gestalt einer subjekti-
ven Einbildung zwar. Diese Ambivalenz enthält schon das Wort „belehnen"
in der Bestimmung: „Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit
dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen" (I 646f.).135 So könnte
diese Erfahrung schließlich ganz auf das Subjekt zurückfallen, das womög-
lich allein den Schein hervorbringt, etwas antworte ihm, und es sollte dabei
doch genau die nicht-subjektive Erfahrung sein, daß ihm tatsächlich etwas
begegnet und entgegenkommt. Die ,Aura' ist das Ausstrahlen eines Gegen-
standes von sich aus. Es bleibt aber hier, wie im Trauerspielbuch, damit zu
rechnen, daß sich das Subjekt nur in einer letzten Überbietung der Subjekti-
vität ein Objekt leistet, das ihm gewachsen erscheint.
„Die Figur des Flaneurs. Er gleicht dem Haschischesser, nimmt den Raum
in sich auf wie dieser. Im Haschischrausch beginnt der Raum uns anzublin-
zeln: > Nun, was mag denn in mir sich alles zugetragen haben? < Und mit
der gleichen Frage macht der Raum an den Flanierenden sich heran." (V
1009) In den Haschisch-Protokollen ist noch genauer nachzulesen, was mit
dem Raum im Rausch Eigenartiges vorgeht. „Der Raum verkleidet sich vor
uns nimmt wie ein lockendes Wesen die Kostüme der Stimmungen um. Ich
erfahre das Gefühl, nebenan im Zimmer könnte sowohl die Kaiserkrönung
Karls des Großen wie die Ermordung Heinrichs des IV, die Unterzeichnung
des Vertrages von Verdun und die Ermordung Egmonts sich abgespielt ha-
ben." (VI 561) Aber das Interieur erzeugt auch schon allein, ohne die Hilfe
des Haschisch, genau diesen Rausch: „Interieur des 19ten Jahrhunderts. Der
Raum verkleidet sich, nimmt wie ein lockendes Wesen die Kostüme der
Stimmungen an. Der satte Spießer soll etwas von dem Gefühl erfahren,
nebenan im Zimmer könnte sowohl die Kaiserkrönung Karls des Großen,
wie die Ermordung Heinrichs IV., die Unterzeichnung des Vertrags von
Verdun wie die Hochzeit von Otto und Theophano sich abgespielt haben.
Am Ende sind die Dinge nur Mannequins und selbst die großen welthistori-
schen Momente sind nur Kostüme, unter denen sie die Blicke des Einver-
ständnisses mit dem Nichts, dem Niedrigen und Banalen tauschen. Solch
Nihilismus ist der innerste Kern der bürgerlichen Gemütlichkeit" (V 286).
Nicht nur hat das bürgerliche Interieur also eine Wirkung wie Haschisch,
auch die Erfahrung des Bürgers darin kommt zur Deckung mit der des
Flaneurs, welcher doch, obwohl ganz Privatmann, nur auf der Straße zu-
hause und unbürgerlich exzentrisch, wenn nicht sogar ausgestoßen ist, wie
Benjamin selbst nicht ohne Erstaunen bemerkt: „Das > Kolportagephäno-
men des Raumes < ist die grundlegende Erfahrung des Flaneurs. Da es sich
auch - von einer anderen Seite - in den Interieurs der Jahrhundertmitte zeigt,
ist die Vermutung nicht abzuweisen, daß die Blütezeit der Flanerie in die-
selbe Epoche fällt. Kraft dieses Phänomens wird simultan was alles nur in
„Kolportage-Phänomen des Raumes" 83

diesem Räume potentiell geschehen ist, wahrgenommen. Der Raum blinzelt


den Flaneur an: Nun, was mag sich in mir wohl zugetragen haben? Wie
freilich dieses Phänomen mit der Kolportage zusammenhängt, das wird noch
zu erklären sein." (V 527)
Das „Kolportagephänomen des Raumes" wird als der Zauber eines Wachs-
figurenkabinetts, auch einer Attraktion des 19. Jahrhunderts, verständlich
gemacht. Die Kaiserkrönung Karls des Großen, der Vertrag von Verdun
usw., das sind alles Szenen, wie sie beispielsweise im Musee Grevin am
Eingang der Passage Jouffroy zu besichtigen waren und sind. Da wird Ge-
schichte simultan in einen Raum projiziert, und ist die Zeit für eine Berühmt-
heit abgelaufen, wird das Wachs, aus dem sie gemacht ist, eingeschmolzen
und neu modelliert und kostümiert. „Zum Kolportagephänomen des Raumes
und damit zu der fundamentalen Zweideutigkeit der Passagen eröffnet die
mannigfaltige Verwendung der Figuren in Wachsfigurenkabinetten einen
Zugang. Die wächsernen Statuen und Häupter, deren eine heut einen Kaiser,
morgen einen Staatsverbrecher und übermorgen einen galonnierten Wärter
[...] darstellt, sind in diesen optischen Flüstergalerien am rechten Platz.
Ludwig XI ist sie [?] der Louvre, Richard II der Tower, Abdel Krim die Wüste
und Nero Rom." (V 659) Es ist die Auswechselbarkeit des Wahrgenomme-
nen, was diese Wahrnehmung rauschhaft macht. Vergangenes kann, synchro-
nisiert, beliebig in denselben Raum projiziert werden: „Prostitution des Rau-
mes im Haschisch, wo er allem Gewesenen dient" (I 661). Das ergibt eine
unerwartete Erklärung für den genius loci-Effekt. Für diesen ist es ja nötig,
daß sich der Flaneur tatsächlich in dem Raum aufhält, wo sich etwas ebenso
tatsächlich ereignet hat, - so meint man zuerst, aber er braucht den Raum
schließlich nur dazu, von ihm jene Frage zugeflüstert zu bekommen: Was
könnte sich da wohl abgespielt haben? Der Rausch vor Ort ist ein Erlebnis
völliger Beliebigkeit, so billig wie die Gemütlichkeit des Bürgers in seinem
Interieur, das ihm als Privatmuseum fremde Räume und Zeiten angehäuft
zur Verfügung stellt.136
Warum aber „Kolportagephänomen"? Damit ist sein Charakter des Trivia-
len, des ,Niedrigen und Banalen" (V 286) bezeichnet. Die neugierig ansta-
chelnde Frage: ,Was könnte da wohl alles passiert sein?' kann nur der Klatsch
befriedigen. Und die passende Antwort: ,Dies oder jenes, alles Mögliche, wer
weiß.. .' ist ein Flüstern und Wispern, ein Zwinkern und Blinzeln. - Und
zudem hat Benjamin hier ein bestimmtes Verfahren im Blick, Illustrationen
mit Legenden zu versehen, wie er es in „Dienstmädchenromanen", in Kol-
portageromanen des 19. Jahrhunderts gefunden hat.137 Das „Prinzip solcher
Illustrationen" (IV 621) besteht darin, daß einem Bild eine genaue, aber ganz
beliebige Legende beigegeben wird, die es sofort zur passenden Illustration
eines bestimmten Vorfalls macht. Wie im Wachsfigurenkabinett kann hier
dieselbe Stelle völlig verschiedenen Orten dienen, indem nämlich diese ganz
einfach von der Legende behauptet werden: „Eine Serie von Lithographien
um 18[..J zeigte in einem verhangenen dämmernden Boudoir Frauen, wollü-
stig auf die Ottomane hingelagert, und diese Blätter trugen die Unterschrift:
84 I. Der Flaneur

> Au bord du Tajo < > Au bord de la Neva < > Au bord de la Seine <
und so fort. Der Guadalquivir, die Rhone, der Rhein, die Aare, die Tamise
traten hier auf. Man glaube nicht, ein Nationalkostüm hätte diese weiblichen
Figuren von einander unterschieden. Die > legende < unter diesen Frauen-
bildern hatte das Phantasiebild einer Landschaft über die dargestellten In-
nenräume zu zaubern." (V 282) Die berauschende Austauschbarkeit der
Legende wird in den Haschischberichten als laufende Schrift vorgestellt:
„Auf das Kolportagephänomen des Raumes zurückzukommen: es wird si-
multan die Möglichkeit aller potentiell in diesem Raum etwa geschehnen
Dinge wahrgenommen. Der Raum blinzelt einen an: Nun, was mag sich in
mir wohl zugetragen haben? Zusammenhang dieses Phänomens mit der
Kolportage. Kolportage und Unterschrift. So vorzustellen: man denke sich
einen kitschigen Öldruck an der Wand und im unteren Teile des Rahmens
einen länglichen Streifen herausgeschnitten. Durch die untere Leiste liefe ein
Band und nun erschienen im dem Spalt Unterschriften die einander ablösten:
> Ermordung Egmonts < , > Kaiserkrönung Karls des Großen < etc." (VI
564f.) Von daher wird die folgende Notiz verständlich: „Kategorie des illu-
strativen Sehens grundlegend für den Flaneur." Er schreibe „seine Träumerei
als Text zu den Bildern" (V 528).
In der Auswechselbarkeit alles Erscheinenden erscheint ,das Nichts'. „Der
Raum, der sich verwandelt, tut es im Schöße des Nichts." (V 672) Zwischen
Sein und Nichts, als jenes oft genannte „Zwinkern vom Nirwana herüber",
spielt eine letzte mythische Zweideutigkeit. Die Erfahrung 1 - und nicht etwa
die moderne Erfahrung II, die im 19. Jahrhundert auftritt - erweist sich als
nihilistisch. So vollkommen sie auch gerade als Kindheitserfahrung ist, auch
diese kann heillos, trostlos erscheinen wie im Stück „Der Mond", das die
ganze „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" in ein anderes Licht setzt.
Dort taucht eine Frage auf. „Sie lautete: warum denn etwas auf der Welt,
warum die Welt sei? Mit Staunen stieß ich darauf, nichts in ihr könne mich
nötigen, die Welt zu denken. Ihr Nichtsein wäre mir um keinen Deut frag-
würdiger vorgekommen als ihr Sein, welches dem Nichtsein zuzublinzeln
schien." (IV 301) Hier ist nicht ein Moment ursprünglicher philosophischer
Einsicht festgehalten, sondern die Verlockung und Verzweiflung, die in der
mythischen Erfahrung liegt. - Und doch steckt in dieser nihilistischen Erfah-
rung I auch wieder Hoffnung, wie es die folgende Stelle unklar andeutet:
„Zusammenhang der Kolportage-Intention mit der tiefsten theologischen.
Sie spiegelt sie getrübt wieder, versetzt in den Raum der Kontemplation was
nur im Räume des gerechten Lebens gilt. Nämlich: daß die Welt immer
wieder dieselbe sei, (daß alles Geschehen im gleichen Räume sich hätte
abspielen können)." (V 677)138
Das „Prinzip der Kolportage-Illustration", das im 19. Jahrhundert auch
auf die große Malerei übergreife (V 528), haben die Surrealisten, mit ihrem
Blick für das Triviale, wieder für sich entdeckt. In Bretons „Nadja" zum
Beispiel wird die Photographie so eingesetzt: „Sie macht die Straßen, Tore,
Plätze der Stadt zu Illustrationen eines Kolportageromans, zapft diesen jähr-
Die Stadt als Landschaft 83

hundertealten Architekturen ihre banale Evidenz ab, um sie mit allerur-


sprünglichster Intensität dem dargestellten Geschehen zuzuwenden, auf das
genau wie in alten Dienstmädchenbüchern wortgetreue Zitate mit Seitenzah-
len verweisen" (II 301). Das Verfahren nimmt plötzlich eine revolutionäre
Bedeutung an. Der radikal progressive Text „Der Autor als Produzent"
proklamiert: „Was wir vom Photographen zu verlangen haben, das ist die
Fähigkeit, seiner Aufnahme diejenige Beschriftung zu geben, die sie dem
modischen Verschleiß entreißt und ihr den revolutionären Gebrauchswert
verleiht" (II 693). Denn nach Benjamin wird die Photographie seit ihrer
Erfindung ununterbrochen zur Verklärung und Verschleierung der Wirklich-
keit eingesetzt, die zu erklären und durchdringen sie doch wie geschaffen
wäre. Der Titel einer neueren Anthologie: „Die Welt ist schön" (II 383)
erscheint ihm bezeichnend dafür, daß die Photographie nicht schon per se,
als technisches Medium, den Blick öffnet und schärft, sondern daß sie das
genaue Gegenteil davon bewirken kann.139 „An dieser Stelle hat die Beschrif-
tung einzusetzen, welche die Photographie der Literarisierung aller Lebens-
verhältnisse einbegreift, und ohne die alle photographische Konstruktion im
Ungefähren stecken bleiben muß." (II 385),Literarisierung aller Lebensver-
hältnisse' war das Projekt der Surrealisten; aber ihnen wird in einer anderen
Darstellung genau das wieder abgesprochen, was ihnen zuerst zugestanden
worden ist: „Der Versuch der Surrealisten, die Photographie > künstle-
risch < zu bewältigen, ist fehlgeschlagen. Der Irrtum der kunstgewerblichen
Photographen mit ihrem spießbürgerlichen Credo, das den Titel von Ren-
ger-Patzschs bekannter Photosammlung > Die Welt ist schön < bildet, war
auch der ihre. Sie verkannten die soziale Durchschlagskraft der Photographie
und damit die Wichtigkeit der Beschriftung, die als Zündschnur den kriti-
schen Funken an das Bildgemenge heranführt" (III 504f.). So soll die reaktio-
näre Erfahrung des „Kolportagephänomens des Raumes" in einer bloßen
Nuance zur revolutionären werden, - womit aber auch der umgekehrte
Vorgang ebensowenig auszuschließen sein wird.

Die Stadt als Landschaft - und die Entstehung der


Detektivgeschichte
In Poes „Mann der Menge" findet Benjamin den modern Wahrnehmenden
verkörpert, der zum betrachtenden Müßiggänger im denkbar größten Ge-
gensatz steht; sein Portrait weist keinerlei individuelle Züge auf und sei nichts
als eine früheste Darstellung der Maße. Denn sein Verhalten ist schockartig
unmittelbar reaktiv, und seine abrupten, diskontinuierlichen Bewegungen
erhalten erst im Stadtverkehr des 20. Jahrhunderts ihren ganzen Sinn. Und
doch könnte dieser ,Mann der Menge' kein anderer sein als der Flaneur,
dessen Gegenstück er abgibt. So jedenfalls hat Baudelaire die Poe-Erzählung,
die er übesetzt hat, gelesen, und die Figur Baudelaires selbst zeigt bei Benja-
min die Ambivalenz des träumerisch Betrachtenden und jagend-gejagt um
86 I. Der Flaneur

sich Blickenden zugleich. Diese Ambivalenz ist entscheidend: Denn die


nüchterne Erfahrung II ist Erlösung und Befreiung vom Rausch der Erfah-
rung I, aber keine Ernüchterung wäre wünschbar, die dem Rausch anders ein
Ende setzt als so, daß sie ihn wiederholt. Weil die neue Erfahrung noch das
Gegenteil der ,alten' - und doch dieselbe sein muß, kann die Frage: Ist der
,Mann der Menge' ein Flaneur? sowohl bejaht werden als auch verneint.140
Einmal heißt es: „Dieser Unbekannte ist der Flaneur. So ist er von Baudelaire
auch verstanden worden, als er in seinem Guys-Essay den Flaneur
> l'homme des foules < genannt hat" (I 550). Ein andermal aber: „Baude-
laire hat es gefallen, den Mann der Menge, auf dessen Spur der Poesche
Berichterstatter das nächtliche London die Kreuz und die Quer durchstreift,
mit dem Typus des Flaneurs gleichzusetzen. Man wird ihm darin nicht folgen
können. Der Mann der Menge ist kein Flaneur. In ihm hat der gelassene
Habitus einem manischen Platz gemacht. Darum ist eher an ihm abzuneh-
men, was aus dem Flaneur werden mußte, wenn ihm die Umwelt, in die er
gehört, genommen ward" (I 627). Doch die Großstadtmenge ist durchaus die
passende Umwelt für ihn.
Der Mann der Menge ist das Gegenteil des Flaneurs, - und er ist der
Flaneur, ebenso wie zuletzt die moderne Erfahrung jene sein wird, der sie ein
Ende macht. Da findet keine allmähliche Entwicklung statt.141 Nicht lang-
sam verschwindet der Flaneur; identisch, aber deswegen kein bisschen weni-
ger unvereinbar mit seiner Kontrastfigur, ist er von Beginn an überholt. „Es
ist ein großartiger Zug in Poes Erzählung, daß sie der frühesten Schilderung
des Flaneurs die Figur seines Endes einbeschreibt." (I 557) So schlägt sich der
Flaneur durch den aggressiven Großstadtverkehr, während er behaglich wie
in einer Landschaft dahinschlendert, er betätigt sich journalistisch, während
er dichtet, er blickt gehetzt um sich, während er philosophisch kontempliert.
Er ist „der Mann, der sich von allem und allen angesehen fühlt, der Verdäch-
tige schlechthin" (V 529): Man erkennt auch hier in depravierter Form die
Aura-Erfahrung, jene Gabe des Angeblickt-Werdens noch. Aber die Erfah-
rung I sieht nun aus wie die Erfahrung II: So bewegt sich gehetzt, blickt und
fühlt sich angeblickt der Verdächtige und der, der ihm auf der Spur ist, der
Detektiv. „In der Figur des Flaneurs hat die des Detektivs sich präformiert."
(V 554) Zu Benjamins „Theorie des Flaneurs" (B 792) gehört die Entstehung
der Detektivgeschichte. Das ist nun genauer zu zeigen.
Die Wahrnehmung des Flaneurs ist ein Rausch, weil es - mit einem häufig
gebrauchten Begriff Benjamins - die Wahrnehmung einer „Verschränkung" ist,
wobei aber diese Verschränkung die Form der Wahrnehmung ausmacht und
nicht deren Gegenstand. Die Gegensätze von Stadt und Land, von Straße und
Interieur sind darin zur Deckung gelangt, beides wird zugleich und eins durchs
andere - metaphorisch - wahrgenommen, und das Wahrgenommene der Stadt
wird zur Schwelle, wo das Gegensätzliche, ohne zusammenzufallen, ineinander
umspringt. „Landschaft - das wird sie in der Tat dem Flanierenden. Oder
genauer: ihm tritt die Stadt in ihre dialektischen Pole auseinander. Sie eröffnet
sich ihm als Landschaft, sie umschließt ihn als Stube." (III 195, V 525)
Die Stadt als Landschaft 87

> Gebt der Stadt ein bißchen ab von eurer Liebe zur Landschaft < , sagt
^ riessei zu den Berlinern. Wollten sie nur die Landschaft in ihrer Stadt
sehen." So heißt es in der Hessel-Rezension, und eine Formulierung folgt, die
die Stadtwahrnehmung als auratische Landschaftserfahrung präsentiert:
„Spürten sie nur den Himmel über Hochbahnbögen so blau wie über Enga-
diner Ketten sich spannen, aus dem Getöse die Stille wie aus einer Brandung
sich heben und kleine Straßen im Stadtinnern die Tageszeiten so deutlich wie
eine Bergmulde widerspiegeln" (III 195f.). Dasselbe, was sich hier dem Blick
des Ruhenden zeigt, wird anderswo, in den ersten Sätzen der „Berliner
Kindheit", mit dem verunsicherten, aufgeschreckten Blick des Umgetriebe-
nen registriert: „Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In
einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht
Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das
Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tages-
zeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln." (IV 237)
Daß die Stadt ihren Gegensatz, Natur, in sich begreift, ist nicht bloß die
spezifische Erfahrung des Flaneurs, sondern auch eine große Kollektivphan-
tasie des 19. Jahrhunderts, die Benjamin aus verschiedensten Texten zitierend
belegt. Der Hof der Tuilerien sei eine immense Savanne, statt mit Bananen-
bäumen mit Gaslaternen bepflanzt, schreibt er sich ab, oder: Der Kandelaber,
der die Passage Colbert erhelle, gleiche einer Kokospalme in der Savanne.142
Die Verwandlung der Großstadt in die Landschaft erscheint einmal im Mo-
dus I als Leistung eines träumerisch beruhigten, dann wieder im Modus II als
Eindruck eines verstört und erschreckt sichernden Blicks. Verklärt zur Land-
schaft wird die Großstadt bei Vigny etwa, angesichts der Dachlandschaften
von Paris: ,J'adore ces cheminees... Oh oui, la fumee de Paris m'est plus
belle que les solitudes des bois et des montagnes" (V 552), oder bei Balzac:
„Ces savanes de Paris etaient formees par des toits niveles comme une plaine,
mais qui couvraient des abimes peuples" (V 568). Aber anders, obwohl
unvermeidlich auch noch verklärend, wirkt dieselbe Verschränkung bei Bau-
delaire: „Qu'est-ce que les perils de la foret et de la prairie aupres des chocs et
des conflits quotidiens de la civilisation? Que l'homme enlace sa dupe sur le
boulevard, ou perce sa proie dans des forets inconnues, n'est-il p a s . . .l'ani-
mal de proie le plus parfait?" (V 555, cf. 558)
Eine ganze literarische Gattung, die im 19. Jahrhundert aufkommt und
ungeheuren Absatz findet, ist auf die Stadt-Landschaft-Metaphorik speziali-
siert: Der Feuilletonroman beginnt mit einer Übersetzung des Wilden We-
stens in die Großstadt Paris. Balzac, Dumas, Sue und eine unübersehbare, fast
industriell hergestellte Trivialliteratur folgt, in der Nachfolge Coopers, der
Methode einer Projektion von Natur- in Großstadtwahrnehmung. In diesem
Stadtindianerroman ist der Ursprung der Detektivgeschichte zu suchen, die
sich aber keineswegs aus ihm ,entwickelt' hat. Ihre Entstehung zeichnet die
folgende Passage des Flaneur-Kapitels im „Paris des Second Empire bei
Baudelaire" nach, in der viele Notizen aus dem Konvolut M sehr dicht
verwebt sind:
88 I. Der Flaneur

[ . . . ) - Kriminalistischer Spürsinn mit der gefälligen Nonchalance des Flaneurs verei-


nigt gibt den Aufriß von Dumas' „Mohicans de Paris". Ihr Held entschließt sich, auf
Abenteuer auszuziehen, indem er einem Fetzen Papier nachgeht, den er den Winden
zum Spiel überlassen hat. Welche Spur der Flaneur auch verfolgen mag, jede wird ihn
auf ein Verbrechen führen. Damit ist angedeutet, wie auch die Detektivgeschichte,
ihres nüchternen Kalküls ungeachtet, an der Phantasmagorie des pariser Lebens
mitwirkt. Noch verklärt sie nicht den Verbrecher; aber sie verklärt seine Gegenspieler
und vor allem die Jagdgründe, in denen sie ihn verfolgen. Messac hat gezeigt, wie man
sich bemüht, dabei Reminiszenzen an Cooper heranzuziehen. Das Interessante an
Coopers Einfluß ist: man verbirgt ihn nicht, man stellt ihn vielmehr zur Schau. In den
erwähnten „Mohicans de Paris" liegt die Schaustellung schon im Titel; der Autor
macht dem Leser die Aussicht, ihm in Paris einen Urwald und eine Prärie zu öffnen.
Das holzgeschnittene Frontispice zum dritten Band zeigt eine bebuschte, damals
wenig begangene Straße; die Beschriftung der Ansicht lautet: „Der Urwald in der
d'Enfer-Straße". Der Verlagsprospekt dieses Werkes umreißt den Zusammenhang mit
einer großartigen Floskel, in der man die Hand des von sich begeisterten Verfassers
vermuten darf: „Paris - die Mohikaner.. . diese beiden Namen prallen aufeinander
wie das Qui vive zweier gigantischer Unbekannter. Es trennt die beiden ein Abgrund;
er ist von den Funken jenes elektrischen Lichtes durchzuckt, das seinen Herd in
Alexandre Dumas hat." Feval versetzte schon früher eine Rothaut in weltstädtische
Abenteuer. Sie heißt Tovah und bringt es fertig, auf einer Ausfahrt in einem Fiaker
ihre vier weißen Begleiter so zu skalpieren, daß der Kutscher nichts davon merkt. Die
„Mysteres de Paris" weisen gleich zu Beginn auf Cooper, um zu versprechen, daß ihre
Helden aus der pariser Unterwelt „nicht minder der Zivilisation entrückt sind als die
Wilden, die Cooper so trefflich darstellt". Besonders ist aber Balzac nicht müde
geworden, auf Cooper als auf sein Vorbild hinzuweisen. „Die Poesie des Schreckens,
von der die amerikanischen Wälder, in denen feindliche Stämme auf dem Kriegspfad
einander begegnen, voll sind - diese Poesie, die Cooper so zustatten gekommen ist,
eignet genau so den kleinsten Details des pariser Lebens. Die Passanten, die Läden,
die Mietkutschen oder ein Mann, der gegen ein Fenster lehnt, all das interessierte die
Leute von Peyrades Leibwache ebenso brennend wie ein Baumstumpf, ein Biberbau,
ein Felsen, eine Büffelhaut, ein unbewegliches Canoe oder ein treibendes Blatt den
Leser eines Romans von Cooper." Balzacs Intrige ist reich an Spielformen zwischen
Indianer- und Detektivgeschichte. Früh hat man seine „Mohicaner im spencer" und
„Huronen im Gehrock" beanstandet. Andererseits schreibt Hippolyte Babou, der
Baudelaire nahestand, rückblickend im Jahre 1857: „Wenn Balzac... die Mauern
durchbricht, um der Beobachtung freie Bahn zu geben..., so horcht man an den
Türen. .., man verhält sich mit einem Wort.. . wie unsere Nachbarn, die Engländer,
in ihrer Prüderie sagen, als police detective."

Die Detektivgeschichte, deren Interesse in einer logischen Konstruktion liegt, die als
solche der Kriminalnovelle nicht eignen muß, erscheint für Frankreich zum ersten
Male mit den Übersetzungen der Poeschen Erzählungen: „Das Geheimnis der Marie
Roget", „Der Doppelmord in der rue Morgue", „Der entwendete Brief". Mit der
Übertragung dieser Modelle hat Baudelaire die Gattung adoptiert. Poes Werk ging
durchaus in sein eigenes ein; und Baudelaire betont diesen Sachverhalt, indem er sich
solidarisch mit der Methode macht, in der die einzelnen Gattungen, denen Poe sich
zuwandte, übereinkommen. Poe ist einer der größten Techniker der neueren Literatur
gewesen. Er als erster hat es, wie Valery bemerkt, mit der wissenschaftlichen Erzäh-
lung, mit der modernen Kosmogonie, mit der Darstellung pathologischer Erschei-
Die Stadt als Landschaft 89

nungen versucht. Diese Gattungen galten ihm als exakte Hervorbringungen einer
Methode, für die er allgemeine Geltung beanspruchte. [...] (I 543-545)

Daß die Übersetzung von Coopers Wildem Westen in die Großstadt des 19.
Jahrhunderts die Detektivgeschichte vorbereitet, entnimmt Benjamin Mes-
sacs Untersuchung „Le > Detective Novel < et l'influence de la pensee
scientifique"; was er entdeckt, ist ihre Beziehung zur Flanerie. Die rauschhaf-
te Stadtwahrnehmung des Flaneurs ist keine andere als die, die im Pariser
Passanten einen Cooperschen Mohikaner erkennen läßt, der unermüdlich
Spuren lesend und verwischend, feindselig und von überall her angefeindet
sich durch die Wildnis schlägt, die ihm wie nur einem, der sich akut bedroht
fühlt, lesbar wird: Jedes kleinste Signal muß er alarmiert wie ein lebenswich-
tiges auffangen, jedes versteckteste Zeichen entziffern, den Überfall immer
von der ungeschütztesten Seite her gewärtigen. So sieht die terrorisierte
Wahrnehmung II aus, in der es zwar so etwas wie ,Poesie' nicht mehr gibt, die
der Flaneur aber selbst noch einmal als,poetisch' ausgibt. Von der „poesie du
terreur" (V 554) spricht Balzac. Und wenn der angehende Poet nur ziellos
einem dem Wind überlassenen Fetzen Papier nachgehen muß, dann wird die
„eigentümliche Unschlüssigkeit des Flanierenden" (V 535), das „laissez-faire
des Flaneurs" (V 529) selbst zur poetischen Methode.
Im Stadtindidianerroman hat die Detektivgeschichte ihren Ursprung.
Aber sie geht nicht von selbst daraus hervor. Statt ihn fortzuführen, bricht sie
vor allem einmal mit ihm, so wie sich der Detektiv nicht allmählich aus dem
Flaneur heraus entwickelt, sondern vorerst einmal das schlichte Gegenstück
zu ihm darstellt. Vorsichtig läßt sich lediglich soviel sagen: „In der Folge von
Coopers Einfluß eröffnet sich dem Romancier (Dumas) die Möglichkeit, den
Erfahrungen des Jägers im städtischen Dekor Spielraum zu geben. Dies hat
für die Entstehung der Detektivgeschichte seine Bedeutung." (V551) Die
Detektivgeschichte hat nämlich nach Benjamin mit dem Genre des Romans
nichts zu tun. Sie sei eine ganz technische Erfindung, die Erfindung Poes,
und erscheine in Frankreich als das Werk des Übersetzers Baudelaire, der
gegenüber Coopers Einfluß immun geblieben ist. Baudelaire hat zwar selber
keine Detektivgeschichten verfaßt, trotzdem verfolge er eine „Methode", die
auch Poes gewesen sei. Nun ist nicht wichtig, was für eine das war, sondern
nur, daß die literarischen Produkte für Poe nichts als „exakte Hervorbrin-
gungen einer Methode" waren. Poe war ganz „Techniker", die Detektivge-
schichte, „die folgenreichste unter den technischen Errungenschaften von
Poe" (I 545), ist eine Konstruktion. „Der Kalkül, das konstruktive Moment"
(I 545) herrscht auch bei Baudelaire vor. Wie sich die Detektivgeschichte mit
technischer Klarheit scharf von der mythischen Verklärung des Stadtindia-
nerromans abgrenzt, so schließt auch in der oben zitierten Passage der Ab-
schnitt, der von der Detektivgeschichte handelt, nicht bruchlos an den voran-
gehenden über den Feuilletonroman an; obschon in die nächste Nähe ge-
rückt, bleibt er doch exakt und kompromißlos abgesetzt. Vom Verklärt-
Zweideutigen zum Klar-Eindeutigen führt nur ein radikaler, allerdings auch
9C I. Der Flaneur

bloß nuancenhafter Bruch. Im zweiten Abschnitt ändert sich auch die Spra-
che; sie nimmt selbst konstruktive Züge an und gewinnt ihre Überzeugungs-
kraft nicht mehr aus unmerklichen Übergängen.

Die Straße als Interieur


Flanieren ist Ähnlichkeitswahrnehmung: Etwas wird zugleich mit etwas
anderem, das es ausschließt, wahrgenommen. „Superposition" nennt Benja-
min häufig dieses Phänomen im Zusammenhang mit dem Rausch; und der
Rausch des Flaneurs ist nichts anderes als sein Lesen. Berauschend treten ihm
Stadt und Landschaft, Straße und Stube zu Metaphern lesbar zusammen. -
„Verschränkungen von Stube und freier Natur" (V 532) zu Rauschzwecken
stellen auch die neuen Glas- und Eisenbauten dar. So ist die Passage, bevor-
zugter Aufenthalt des Flaneurs, ein Ort, an dem die Grenze von drinnen und
draußen in jedem Moment überschritten wird, ein Erfahrungsraum, der
nichts mehr als Schwelle und Durchgang, eben ,Passage' ist. „Die Passagen
sind ein Mittelding zwischen Straße und Interieur." (I 539)
Dem Flaneur ist die Straße, wie die .Physiologien' behaupten, das Studier-
zimmer, wo er sich dem Studium der Passanten widmet, und der Boulevard
ist dem Journalisten das Büro. Umgekehrt „geht der Flaneur im Zimmer
spazieren" (V 530), als befinde er sich im Freien. Ein Gegensatz nimmt die
Stelle des andern ein, ohne mit ihm zusammenzufallen. Die durchgehende
metaphorische Verschränkung, die die .literarische' Qualität etwa des folgen-
den wie vieler anderer Benjamin-Texte auszumachen scheint, entspricht hier
nur der Flaneur-Erfahrung selbst: „Die Straße wird zur Wohnung für den
Flaneur, der zwischen Häuserfronten so wie der Bürger in seinen vier Wän-
den zuhause ist. Ihm sind die glänzenden emaillierten Firmenschilder so gut
und besser ein Wandschmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde;
Mauern sind das Schreibpult, gegen das er seinen Notizblock stemmt; Zei-
tungskioske sind seine Bibliotheken und die Cafeterrassen Erker, von denen
aus er nach getaner Arbeit auf sein Hauswesen heruntersieht." (I 539) Un-
übersehbar hat die Erfahrung des Flaneurs einen reaktionären Zug. Ein
Außenseiter ist er, und doch ganz und gar bürgerlich, macht sich sogar die
Straße zum gemütlichen Heim und richtet in der Öffentlichkeit selbst noch
seine Privatsphäre ein. Wie der Bürger in seinem Interieur bleibt er für sich,
auch wenn er seine Erfahrung längst mit ganz anderen, mit Clochards,
Obdachlosen und Bettlern teilt. Eine Passagenwerk-Notiz verweist darauf:
Eine Zigeunerin macht im Freien Toilette, und so säuberlich seien die Utensi-
lien um sie herum ausgebreitet, daß fast Intimität entstehe, der Schatten eines
Interieurs... „Elendsschilderei; vermutlich unter den Seinebrücken" (V 537)
ist Benjamins kritischer Vermerk dazu.
Die zitierte Passage findet sich noch in anderem Zusammenhang: „Straßen
Die Straße als Interieur 91

sind die Wohnung des Kollektivs. Das Kollektiv ist ein ewig unruhiges, ewig
bewegtes Wesen, das zwischen Häuserwänden soviel erlebt, erfährt, erkennt
und ersinnt wie Individuen im Schutze ihrer vier Wände. Diesem Kollektiv
sind die glänzenden emaillierten Firmenschilder so gut und besser ein Wand-
schmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde, Mauern mit der > Defen-
se d'afficher < sind sein Schreibpult, Zeitungskioske seine Bibliotheken,
Briefkästen seine Bronzen, Bänke sein Schlafzimmermobiliar und [die] Cafe-
Terrasse der Erker, von dem er [es] auf sein Hauswesen heruntersieht. Wo am
Gitter Asphaltarbeiter den Rock hängen haben, da ist das Vestibül und die
Torfahrt, die aus der Flucht der Höfe ins Freie leitet, der lange Korridor, der
den Bürger schreckt, ihnen [ihm] der Zugang in die Kammern der Stadt. Von
ihnen war die Passage der Salon. Mehr als an jeder andern Stelle gibt die
Straße sich in ihr als das möblierte ausgewohnte Interieur der Massen zu
erkennen." (V 533, cf. 994, 1051 f.) Bei wörtlicher Wiederholung zeigt die
reaktionäre Erfahrung hier ein revolutionäres Potential. Subjekt ist statt des
Flaneurs nun - mit Schwierigkeiten beim Pronomen - das „Kollektiv" oder,
in der Hessel-Rezension, die „Masse": „Der Masse - und mit ihr lebt der
Flaneur - sind die glänzenden, emaillierten Firmenschilder so gut und besser
ein Wandschmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde" etc. (III 196).
Das .Proletariat', an das die „Asphaltarbeiter" flüchtig erinnern, muß nicht
beschworen werden, denn die Masse, das mögliche revolutionäre Subjekt,
bewohnt schon alltäglich und gewohnheitsmäßig die Stadt. „Zur Technik der
Pariser, ihre Straßen zu bewohnen', führt Benjamin aus dem 19. Jahrhundert
„Beispiele der alles benutzenden Pariser Straßenindustrie" an und bemerkt
dazu, „70 Jahre später" habe noch er „die gleiche Erfahrung gemacht. Die
Pariser machen die Straße zum Interieur." (V 531)
Indem der Flaneur der Erfahrung I nachhängt, nimmt er die Erfahrung II
vorweg, und sein rückwärtsgewandtes Verhalten weist in die Zukunft voraus:
„Die rauschhafte Durchdringung von Straße und Wohnung, die sich im Paris
des 19wn Jahrhunderts vollzieht - und zumal in der Erfahrung des flaneurs -
hat prophetischen Wert. Denn diese Durchdringung läßt die neue Baukunst
nüchterne Wirklichkeit werden." (V 534) Das Neue steckt im Alten, mit
welchem es auf revolutionäre Art bricht. Im neuen „Glashaus", wie es von
Scheerbart und Taut erträumt worden ist und zu Benjamins Zeit gebaut wird
- „Luft weht durch sie! Luft wird konstituierender Faktor!" schwärmt Gie-
dion von den Häusern Le Corbusiers: „Zwischen Innen und Außen fallen die
Schalen" (V 533) -, realisiert sich jene Umstülpung des Interieurs ins Freie,
die schon die Passage geleistet und die schon der Flaneur erfahren hat, indem
allerdings das Freie reaktionär ins Interieur verzaubert, nicht dieses revolu-
tionär ins Freie entzaubert worden ist. Tatsächlich scheint es oft, als bedeute
bei Benjamin ,im Freien' nicht nur, ,en plein air', sondern tatsächlich auch
schon frei zu sein: „unter dem freien Himmel der Geschichte" (I 701) hätte
sich nach den Geschichtsthesen die wirkliche Revolution zu vollziehen.
Dazu genügt aber nicht, daß sie unter freiem Himmel, auf der Straße stattfin-
det, da eben diese noch von der Stimmung des Interieurs, vom Zauber der
92 I. Der Flaneur

Wohnung befreit werden muß - was erst in der Revolution selbst geschehen
kann: „Endgültig aber schafft die Revolution allein das Freie der Stadt.
Pleinairismus der Revolutionen. Die Revolution entzaubert die Stadt."
(V531)
II. Der Sammler

Lesen, Sammeln
Auch die Theorie des Sammlers143 ist vielen verstreuten Bemerkungen, vor
allem aber folgenden Texten zu entnehmen: dem „Passagenwerk"-Konvolut
H (V 269-280), dem Kapitel „Louis-Philippe oder das Interieur" in „Paris, die
Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" (V 52f.), dem „Denkbilder"-Stück „Ich
packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln" (IV 388-396) und
dem Text „Unordentliches Kind" in der „Einbahnstraße" (IV 115). - Benja-
min ist bekanntlich ein leidenschaftlicher, ein großer Sammler gewesen, von
Büchern besonders, dem freilich die zur Einrichtung einer Sammlung not-
wendigen bürgerlichen Verhältnisse immer gründlicher abgingen und der
vieles verkaufen mußte, der vieles verlor und verschenkte.144 Mancher Benja-
min-Leser mag nun zwar gestehen, daß ihm eine solche Manie gänzlich
fremd und unerklärlich bleibe. Aber er hat sich doch nur zu bald auch in die
enorme Kollektion von Textstücken mit dem Titel „Passagenwerk" verloren
und ist selbst zum Sammler geworden, der nun fortfährt, das Material neu
und niemals endgültig zu ordnen, womit Benjamin zeit seines Lebens nicht
aufgehört hat. Manches stellt er zusammen, anderes tauscht er aus, legt
Doubletten zur Seite, macht manchmal Funde und kann geradezu glücklich
sein über ein Stück, das ihm eben noch gefehlt hat... Das „Passagenwerk" ist
das Werk eines Lesens, das ganz wörtlich ,Sammeln' heißt. Lauter Fund-
stücke sind die Zitate, aus denen es sich zusammensetzt, und ihre Anordnung
kann als der momentane Zustand einer Sammlung verstanden werden, die als
arbiträre und niemals definitiv abgeschlossene Ordnung fasziniert.145 Eine
Sammlung, zu der das aus Sammler-Anekdoten bekannte letzte fehlende
Stück sich findet, wäre erledigt; so gesehen ist es allerdings kein Mangel,
wenn das Passagenwerk ,unvollendet' geblieben ist. Daß diese Lektüre mit
einer großen Abschreibearbeit verbunden ist, paßt ganz dazu: Der Sammler
bearbeitet nämlich einen Gegenstand, den er entdeckt hat, nicht, er isoliert
ihn nur und stellt ihn - behutsam, doch gewaltsam - in einen neuen Zusam-
menhang, wo er wie noch nie zur Geltung kommt und Bedeutung erhält.
Äußerlich ganz gleich geblieben, ist dieser doch völlig verwandelt: Er ist
nämlich zum Besitz des Sammlers geworden. So sind auch die unzähligen
Zitate im „Passagenwerk" schon Eigentum des Sammler-Autors geworden,
der sie sich nur abgeschrieben und weiter nicht verändert hat.146
Im Passagenwerk, das also ebensogut als enorme Sammlung wie als ziel-
lose Flanerie verstanden werden kann, wird der Sammler, ganz wie der
94 IL Der Sammler

Flaneur, als ein Leser-Typ des 19. Jahrhunderts dargestellt, obwohl er doch
offensichtlich überlebt hat bis ins 20. Jahrhundert hinein. Unzeitgemäß sei er
jetzt, und es breche jene Nacht für ihn herein, in welcher nach Hegel die Eule
Minervas ihren Flug beginnt: „Erst im Aussterben wird der Sammler begrif-
fen" (IV 395), - begriffen in einer Darstellung, die sowohl seine Apologie ist
als auch seine Kritik. Der Leser solle in seinem Mißtrauen gegen diesen Typ
keineswegs erschüttert werden, heißt es, und auch die bekannten „Invekti-
ven" (V 275) gegen ihn finden Berücksichtigung. Denn wie der Flaneur mit
seinem Müßiggang gegen die Arbeitsteilung protestiert und doch seine Exi-
stenz darauf gegründet hat, so erhebt der Sammler Einspruch gegen den
Warencharakter der Dinge, aber auf die bürgerlichste Art, indem er sie
nämlich aus der Zirkulation des Marktes herausnimmt und als Privatbesitz
feiert.
Trotz allem Schrulligen und Kautzigen, das ihm anhaftet, ist die Erfahrung
des Sammlers im 19. Jahrhundert die allergewöhnlichste. So deckt sich ja
auch die Erfahrung des Flaneurs, dieses Exzentrikers, durchaus mit jener des
Spießers in seiner Wohnung. Der Sammler mit seiner - wie Marx es nennt -
„individuellen Manie"147 verkörpert nur mustergültig den Privatmann, der
sein abgedichtetes Haus bewohnt und darin seiner Lieblingsbeschäftigung
nachgeht, Eigentümer zu sein: „Glück des Sammlers, Glück des Privat-
manns!" (IV 396) - Nach „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" tritt
der Privatmann historisch unter Louis Philipp auf. Ihm sind erstmals Lebens-
raum und Arbeitsstätte, als Interieur und Kontor, scharf getrennt. „Der
Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Inte-
rieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden." (V 52) Das Interieur soll
das Kontor vergessen lassen und ergänzt es also nur komplementär. Hier, wo
die Phantasmagorien des 19. Jahrhunderts produziert werden, welche seine
Realität goutierbar machen, ist der Sammler zuhause: „Der Sammler ist der
wahre Insasse des Interieurs. Er macht die Verklärung der Dinge zu seiner
Sache. Ihm fällt die Sisyphosaufgabe zu, durch seinen Besitz an den Dingen
den Warencharakter von ihnen abzustreifen. Aber er verleiht ihnen nur den
Liebhaberwert statt des Gebrauchswerts. Der Sammler träumt sich nicht nur
in eine ferne oder vergangene Welt sondern zugleich in eine bessere, in der
zwar die Menschen ebensowenig mit dem versehen sind, was sie brauchen,
wie in der alltäglichen, aber die Dinge von der Fron frei sind, nützlich zu
sein." (V 53) Wie der Flaneur schreckt der Sammler vor einer Wirklichkeit
zurück, mit der er sich doch eben in dieser Geste arrangiert, und er kultiviert
eine reaktionäre Utopie.

Das sammelnde Kind


Der Sammler wird, bei aller gründlichen Kritik, die er erfährt, nicht fallenge-
lassen. Denn die Erfahrung I - und um diese handelt es sich offensichtlich
beim Sammeln - soll zwar abgelöst, aber auch eingelöst werden. Was als
Das sammelnde Kind 95

bürgerliche ,Verklärung' so einfach pejorativ zu bezeichnen ist, erscheint


nämlich andernorts als bezaubernde Kindheitserfahrung im besten Licht.
Und Kinder sind Sammler:

UNORDENTLICHES KIND. Jeder Stein, den es findet, jede gepflückte Blume und
jeder gefangene Schmetterling ist ihm schon Anfang einer Sammlung, und alles, was
es überhaupt besitzt, macht ihm eine einzige Sammlung aus. An ihm zeigt diese
Leidenschaft ihr wahres Gesicht, den strengen indianischen Blick, der in den Anti-
quaren, Forschern, Büchernarren nur noch getrübt und manisch weiterbrennt. Kaum
tritt es ins Leben, so ist es Jäger. Es jagt die Geister, deren Spur es in den Dingen
wittert; zwischen Geistern und Dingen verstreichen ihm Jahre, in denen sein Ge-
sichtsfeld frei von Menschen bleibt. Es geht ihm wie in Träumen: es kennt nichts
Bleibendes; alles geschieht ihm, meint es, begegnet ihm, stößt ihm zu. Seine Noma-
denjahre sind Stunden im Traumwald. Dorther schleppt es die Beute heim, um sie zu
reinigen, zu festigen, zu entzaubern. Seine Schubladen müßen Zeughaus und Zoo,
Kriminalmuseum und Krypta werden. „Aufräumen" hieße einen Bau vernichten voll
stachliger Kastanien, die Morgensterne, Stanniolpapiere, die ein Silberhort, Bauklöt-
ze, die Särge, Kakteen, die Totembäume und Kupferpfennige, die Schilde sind. Am
Wäscheschrank der Mutter, an der Bücherei des Vaters, da hilft das Kind schon längst,
wenn es im eigenen Revier noch immer der unstete, streitbare Gast ist. (IV 115,
cf. 286)

Der wahre, der kindliche Sammler hat indianische Züge. Am deutlichsten


verweisen die „Totembäume" auf das Abenteuer-Szenarium der Kinderphan-
tasie, das ihr im 19. Jahrhundert, eben mit Cooper, eröffnet worden ist. (Daß
es uns, wie anderes aus dieser Welt, wie Spielzeugeisenbahnen oder -autos,
zeitlos anmutet, ist kein Zufall: Kindheitserfahrung transponiert das Ge-
schichtliche in Naturhaftes.) Die „Totembäume" stehen aber auch für die
primitive, vorgeschichtliche Jäger- und Sammler'-Existenz des Kindes. Im
Raum des Mythos hält es sich auf, im Bannkreis der „Geister", mit denen
aber der Kampf von Anfang an aufgenommen ist: Wie der Traum zuinnerst
aufs Erwachen hin drängt, so geht die mythische Erfahrung des Kindes
längst auf ihr Ende aus, und Reinigen, Festigen, Entzaubern ist schon sein
Werk.
Die Sammlung gedeiht in der Unordnung, die das Kind unermüdlich um
sich herum anrichtet und schafft, als ein Bau, in dem es wirklich wohnt und
in jedem Sinn ,haust' und den das von den Erwachsenen unbeirrt propagierte
Aufräumen nur vernichten kann. Diese Unordnung aber kann ,Glück' brin-
gen. „Eine mir bekannte Person war am ordentlichsten in der Periode ihres
Lebens, als sie am unglücklichsten war. Sie vergaß nichts. Ihre laufenden
Geschäfte registrierte sie bis ins Kleinste". .. So beginnt das „Denkbild"
„Vergiß das Beste nicht". Dann treten Veränderungen ein. „Hatte er etwas
zur Hand zu nehmen, so fand er es selten, und mußte er irgendwo aufräu-
men, so wuchs die Unordnung anderswo um so mehr. Wenn er an seinen
Schreibtisch trat, sah es aus, als ob da einer gehaust hätte. Er selber aber war
es, welcher so in Trümmern horstete und hauste, und was er auch besorgte,
gleich baute er, wie Kinder, wenn sie spielen, sich selber ein. Und wie die
96 IL Der Sammler

Kinder überall in Taschen, im Sand, im Schubfach auf Vergessenes stoßen,


was sie sich da versteckt gehalten haben, so ging es ihm nicht nur im Denken,
sondern auch im Leben." (IV 407) War er früher zu jeder Verabredung
pünktlich erschienen, erhielt er jetzt die Besuche, die er eben brauchte, ganz
unverhofft: So arbeiten die Dinge dem, der sie nicht mehr im Griff hat,
plötzlich in die Hand. Erzählt wird hier der Übergang von einem Modus der
Erinnerung zum andern, von II zu I. Das beherrschte, bloß registrierende
Gedächtnis blockiert den Zugang zur anderen, besseren Erinnerung, zu
Prousts „memoire involontaire", so daß, wer in ihrem Sinn auch nie das
Geringste vergißt, dabei doch das Beste vergessen kann. Fällt jedoch die
Konzentration auf das Bewußtsein weg, eröffnet sich der Erinnerung das
ganze praktische Verhalten, und sie realisiert sich „nicht nur im Denken,
auch im Leben", wo man das Glück schließlich nötig hat. So erinnert sich das
Kind ganz taktil, wenn es Vergessenes in Taschen und Schubladen oder im
Sand wiederfindet.
„Eine Art von produktiver Unordnung ist der Kanon der memoire invo-
lontaire wie auch des Sammlers." (V 280) So beginnt eine Passagenwerk-
Notiz, und eine Proust-Stelle folgt: Wie ein Kunstliebhaber zu einem Altar-
flügel das Gegenstück irgendwo ausfindig mache, so lasse sich manches im
Leben durch etwas anderes, aus entgegengesetzten Erinnerungsbereichen,
komplettieren. Das paßt genau in das Konzept der Erinnerung, die als Ge-
schichtsbetrachtung im Passagenwerk versucht wird: Gegenwärtiges fällt in
ihr mit Vergangenem zusammen und erstarrt dabei, jede Kontinuität zerstö-
rend, zu einem „Bild." - Damit wird die folgende Bemerkung über die
Unordnung verständlich: „Der unwillkürlichen Erinnerung bietet sich - das
unterscheidet sie von der willkürlichen - nie ein Verlauf dar sondern allein
ein Bild. (Daher die >Unordnung< als der Bildraum des unwillkürlichen Ein-
gedenkens.)" (I 1243) Niemand wird bestreiten, daß im Passagenwerk eine
große Unordnung herrscht und daß damit die Bedingungen gut sind für den
Einsatz der unwillkürlichen Erinnerung. Das Gegenteil einer ,Registratur'
soll sie sein.
Im schon herangezogenen „Denkbild" „Ich packe meine Bibliothek aus.
Eine Rede über das Sammeln" wird die Kind-Erscheinung des Sammlers
unterschieden von seinem „Greisenbilde", wozu die empirische Feststellung
übrigens stimmt, daß die Sammeltätigkeit im Alter vor 12 und nach 40 Jahren
am ausgeprägtesten sei.148 Das Kind- und das Greisenhafte des Sammlers
durchdringe sich: „Ich sage nicht zuviel: für den wahren Sammler ist die
Erwerbung eines alten Buches dessen Wiedergeburt. Und eben darin liegt das
Kindhafte, das im Sammler sich mit dem Greisenhaften durchdringt. Die
Kinder nämlich verfügen über die Erneuerung des Daseins als über eine
hundertfältige, nie verlegene Praxis. Dort, bei den Kindern, ist das Sammeln
nur ein Verfahren der Erneuerung, ein anderes ist das Bemalen der Gegen-
stände, wieder eines das Ausschneiden, noch eines das Abziehen und so die
ganze Skala kindlicher Aneignungsarten vom Anfassen bis hinauf zum Be-
nennen. Die alte Welt erneuern - das ist der tiefste Trieb im Wunsch des
Der „destruktive Charakter" 97

Sammlers, Neues zu erwerben" (IV 389f.). So kommt dem Sammeln auch


eine politische und theologische Bedeutung zu, denn .Erlösung' und .Revolu-
tion' sind ja die bekannten Modelle einer wirklichen Erneuerung der Welt.
Daß das Neue dabei nur etwas Altes sein kann, ist bei dieser antiquarischen
Tätigkeit evident. Auch das Kind findet immer schon vor, was es sich er-
schließt als ganz neue Welt; davon wird in der „Berliner Kindheit" berichtet:
„Doch nicht das Neue zu halten, sondern das Alte zu erneuern lag in meinem
Sinn. Das Alte zu erneuern dadurch, daß ich selbst, der Neuling, mir's zum
Meinen machte, war das Werk der Sammlung, die sich mir im Schubfach
häufte." (IV 286)
Die ,Wiedergeburt' eines Gegenstandes besteht sehr einfach darin, daß ihn
der Sammler erwirbt. Sammeln ist neurotische Besitzsucht. Und Benjamins
berühmte „Rettung der Phänomene" - wie Marx bemerkt, heißt griechisch
,sozein' und englisch ,to save' sowohl .sparen' als auch .retten'149 - wird damit
enttäuschend plausibel: Der Sammler bildet sich eben ein, was er entdeckt
und als sein Eigentum nach Hause schleppt, das sei gerettet durch ihn. Der
Gegenstand ist nun von seiner Funktion abgelöst und ein reines, geschätztes
und gewürdigtes, endlich objektives Objekt - aber nur durch seine Bezie-
hung auf das Subjekt. Und die Tätigkeit des Sammlers erschöpft sich sozusa-
gen darin, Subjekt zu sein, sich mit auf ihn bezogenen Gegenständen zu
umgeben und diese Eigentumsbeziehung zu pflegen. Daß er sie besitzt,
heiligt sie in seinen Augen. Nun gibt es zwar auch öffentliche Sammlungen,
aber das sind nach Benjamin gar keine Sammlungen mehr im strengen Sinn:
„Das Phänomen der Sammlung verliert, indem es sein Subjekt verliert, seinen
Sinn" (IV 393). Im maximalen Geltenlassen des Objekts feiert die Subjektivi-
tät ihren Triumph: Und da, im „Greisenbilde" des Sammlers, ist sie also
wieder, die Gestalt des Allegorikers. Er haust, wie es dem Kind nachgesagt
wird, in Bruchstücken und Trümmern, und unter der tödlichen Berührung
dieses Lesenden erstarrt ihm das, was er liest: „Es ist die tiefste Bezauberung
des Sammlers, das Einzelne in einen Bannkreis einzuschließen, indem es,
während ein letzter Schauer (der Schauer des Erworbenwerdens) darüber
hinläuft, erstarrt" (V 271, cf. 1021). So kann die Erfahrung I plötzlich als II
erscheinen. Daß jene produktive Unordnung, die „der Kanon der memoire
involontaire" sein soll, ganz wie das Trümmer-Arsenal des Allegorikers aus-
sieht, wird von Benjamin einmal fast zurückweichend bemerkt: „In welcher
Art von Beziehung die Zerstreutheit der allegorischen Requisiten (des Stück-
werks) zu dieser schöpferischen Unordnung steht, bleibt zu untersuchen"
(V 280).

Der „destruktive Charakter"


„Der Sammler als Allegoriker" (V 273). Daß die Sammlung im allegorischen
Verfahren zentral ist, macht nicht erst der Hinweis auf die Wunderkammern
und Raritätenkabinette des Barock, sondern auch schon ein Blick auf die
Anlage barocker Texte klar. Barocker Allegoriker und Sammler werden im

( Bayerisch« ]
Staatsbibliothek
l München J
98 IL Der Sammler

Passagenwerk ausdrücklich konfrontiert. Beider Tun bezieht sich auf densel-


ben heillosen Zustand der Welt: daß die Dinge in ihr sich zerstreut und
verworren vorfinden. „Der Allegoriker bildet gleichsam zum Sammler den
Gegenpol. Er hat es aufgegeben, die Dinge durch die Nachforschung nach
dem aufzuhellen, was etwa ihnen verwandt und zu ihnen gehörig wäre. Er
löst sie aus ihrem Zusammenhange und überläßt es von Anfang an seinem
Tiefsinn, ihre Bedeutung aufzuhellen. Der Sammler dagegen vereint das
Zueinandergehörige" (V 279). Man glaubt es mit zwei ganz verschiedenen
Verhaltensweisen zu tun zu haben: Der Allegoriker hat vor der Welt resi-
gniert und übertreibt ihren Zustand nur noch destruktiv, während der
Sammler ganz konstruktiv wiedergutmachen will und das Disparate zusam-
menfügt zu einer wenn auch bescheidenen Totalität. „Nichtsdestoweniger
aber steckt - und das ist wichtiger als alles, was etwa Unterscheidendes
zwischen ihnen bestehen mag - in jedem Sammler ein Allegoriker und in
jedem Allegoriker ein Sammler." (V 279)
Denn behutsames Bewahren und gewalttätiges Zerstören gehen durchaus
zusammen. „Es ist beim Sammeln das Entscheidende, daß der Gegenstand
aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird um in die denkbar engste
Beziehung zu seinesgleichen zu treten." (V 271) Was sich hier als Lektüre I,
als rauschhafte Ähnlichkeitswahrnehmung präsentiert, das stellt ein fast
gleichlautender Satz dar als allegorisierende Lektüre II: „Beim Sammeln ist
wichtig: daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen seines
Nutzen gelöst ist, macht ihn im Bedeuten desto entschiedener" (V 1016f.).
Wieder einmal gelangen die gegensätzlichen Figuren des Lesenden restlos
zur Deckung, aber ohne daß ihre Differenz in Identität zergeht. Was unter-
schiedslos zusammenzufallen droht, wird im gleichen Moment entschieden
auseinandergehalten. Denn nur, wenn das Alte und das Neue ununterscheid-
bar und doch unvereinbar ist, kann es zum revolutionären Anfang kommen,
wo entwicklungslos, mit einem Schlag, alles anders wird.
„Die wahre, sehr verkannte Leidenschaft des Sammlers ist immer anarchi-
stisch, destruktiv." (III 216) Die Portraits des bewahrenden und des zerstö-
renden Lesers finden sich in den „Denkbildern" ganz zusammengerückt und
doch abgesetzt. Auf die behaglich ausführliche, autobiographisch präsen-
tierte Causerie „Ich packe meine Bibliothek aus" folgt unmittelbar und
brüskierend das knappe, thesenartige Manifest „Der destruktive Charak-
ter".150 Und wie im ersten Text der Sammler von seiner Tätigkeit nicht nur
erzählt, sondern sie - das macht der Schluß klar - erzählend ausübt, so geht
der zweite Text selbst destruktiv vor. Hier wird gründlich mit dem Sammler
aufgeräumt. Heißt es in den „Notizen über den > destruktiven Charak-
ter < " noch: „Einige machen die Dinge tradierbar (das sind vor allem die
Sammler, konservative, konservierende Naturen), andere machen die Situa-
tionen handlich, zitierbar sozusagen: das sind die destruktiven Charaktere"
(IV 1000), so ist aus dem publizierten Text der „Sammler" dann ganz getilgt:
„Der destruktive Charakter steht in der Front der Traditionalisten. Einige
überliefern die Dinge, indem sie sie unantastbar machen und konservieren,
Der Sammler als Historiker 99

andere die Situationen, indem sie sie handlich machen und liquidieren. Diese
nennt man die Destruktiven." (IV 398) Zugleich rückt in dieser Fassung der
Destruktive noch näher zum Sammler hin: Auch er ,überliefert', steht sogar
an der „Front" der Überliefernden.
Im destruktiven Charaker sind die nicht-konservativen, die anarchisti-
schen Züge des Allegorikers konzentriert. „Das Bestehende legt er in Trüm-
mer" (IV 398), - jene Trümmer, die der Allegoriker auch wieder behutsam
aufliest. Bei seinem Zerstörungswerk kann der ,destruktive Charakter' leicht
mißverstanden werden, und er lasse sich auch mißverstehen, sei gar nicht
interessiert daran, verstanden zu werden; denn er tut es wie der Allegoriker,
ohne daß er das Alte, das er zerstört, ablehnen, und auch ohne daß er das
Neue, das an dessen Stelle tritt, begrüßen würde: „Sein Bedürfnis nach
frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß" (IV 396). Seine
anti-schöpferische Arbeit tut er allerdings ohne Melancholie; „jung und
heiter" sei er (IV 397). So springt das Bild des trauernd Rückwärtsgewandten
auf einen Schlag und unvermittelt, weil es schon in ihm enthalten war, um ins
Bild des Revolutionärs. Trotzdem ist diese Figur nicht zweideutig. Die Revo-
lution, die der Zweideutigkeit des Mythos ein Ende macht, muß entschieden
und eindeutig sein. Der ,destruktive Charakter' ist geheimnislos klar, und ein
„Charakter" kann nach Benjamins Theorie überhaupt nur einfach sein, einen
komplizierten Charakter gibt es definitionsgemäß nicht.151 „Der destruktive
Charakter" ist gekennzeichnet durch einfache Entschiedenheit auch als
Text.

Der Sammler als Historiker


Das Umkippen von I in II läßt sich noch einmal an einer mehrfach wiederkeh-
renden - und im folgenden von mir hervorgehobenen - Formel verfolgen.
„Am Schluß von > Matiere et Memoire < entwickelt Bergson, Wahrneh-
mung sei eine Funktion der Zeit. Würden wir - so darf man sagen - gewissen
Dingen gegenüber gelassener, andern gegenüber schneller, nach einem andern
Rhythmus, leben, so gäbe es nichts > Bestehendes < für uns sondern alles
geschähe vor unsern Augen, alles stieße uns zu. So aber ergeht es mit den
Dingen dem großen Sammler. Sie stoßen ihm zu." (V 272; cf. 1008 f.) Die
langsam-gelassene, tief gehende Erfahrung des Sammlers ist traumhaft; so
heißt es ja vom sammelnden Kind: „Es geht ihm wie in Träumen: es kennt
nichts Bleibendes; alles geschieht ihm, meint es, begegnet ihm, stößt ihm zu"
(IV 115). So zweifellos es sich hier um I handelt, es wird doch dieselbe Formel
auch auf II, auf jene schockförmige Wahrnehmung, die der Filmzuschauer
exemplarisch übe, angewandt: „Daß alles Wahrgenommene, Sinnenfällige ein
uns Zustoßendes ist - diese Formel der Traumwahrnehmung, die zugleich die
taktile Seite der künstlerischen umfaßt - hat der Dadaismus von neuem in
Kurs gesetzt. Damit hat er die Nachfrage nach dem Film begünstigt, dessen
ablenkendes Moment ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist" (I 464).
100 IL Der Sammler

Der Blick des Sammlers auf die Gegenstände, mit denen er seinen Kult
treibt, geht einerseits durch sie hindurch in jene „Ferne", die zur auratischen
Wahrnehmung gehört: „Man hat nur einen Sammler zu verfolgen, der die
Gegenstände seiner Vitirine handhabt. Kaum hält er sie in Händen, so
scheint er inspiriert durch sie, scheint wie ein Magier durch sie hindurch in
ihre Ferne zu schauen." (V 274f., 1027, cf. III 217, IV 389) Andererseits hat er
sich seine Gegenstände ganz in die Nähe gerückt. Sammeln ist nicht nur
kontemplative Versunkenheit, sondern auch ganz praktisches Hantieren,
Handhaben und Manipulieren; der Sammler ist mehr noch als der Flaneur -
„Flaneur optisch, Sammler taktisch" - ein handelnder Leser: „Besitz und
Haben sind dem Taktischen zugeordnet und stehen in einem gewissen Ge-
gensatz zum Optischen" (V 274). So ist ausgerechnet im Besitzen und Haben
ein mögliches revolutionäres Lesen präfiguriert. Und das Sammeln erweist
als Erinnerungspraxis aus dem 19. Jahrhundert die Möglichkeit einer andern,
die nicht mehr ,profan' wie diese wäre: „Sammeln ist eine Form des prakti-
schen Erinnerns und unter den profanen Manifestationen der > Nähe < die
bündigste" (V 271, cf. 1058).
In solcher Hoffnung ist das „Passagenwerk" noch einmal ein Sammel-
Werk. „Hier betrachtet man die pariser Passagen als wären sie Besitztümer in
der Hand eines Sammlers. (Im Grunde lebt der Sammler, so darf man sagen,
ein Stück Traumleben. Denn auch im Traum ist der Rhythmus des Wahrneh-
mens und Erlebens derart verändert, daß alles - auch das scheinbar Neutral-
ste - uns zustößt, uns betrifft. Um die Passagen aus dem Grunde zu verstehen,
versenken wir sie in die tiefste Traumschicht, reden von ihnen so als wären sie
uns zugestoßen.)" (V 272) Da der Traumvorgang dem Vorgang des Erwachens
homolog sein muß, kann die tiefste Versenkung in den Traum zum Erwachen
führen. Dieses Erwachen sei die „kopernikanische Wendung in der ge-
schichtlichen Anschauung", welche so beschrieben wird: „man hielt für den
fixen Punkt das > Gewesene < und sah die Gegenwart bemüht, an dieses
Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll sich dieses Verhältnis
umkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des
erwachten Bewußtseins werden. Die Politik erhält den Primat über die Ge-
schichte. Die Fakten werden etwas, was uns soeben erst zustieß, sie festzustel-
len ist die Sache der Erinnerung" (V 490f., cf. 1057).

Anmerkung zur „ANEKDOTE". Das Verfahren des Sammlers wird mit der Leistung
der „Anekdote" in Zusammenhang gebracht. Der Sammler betreibt eine Geschichts-
wissenschaft, welche aber nicht die etablierte ist. Gern wendet er sein Interesse
banalen, bisher übersehenen oder weggeworfenen Dingen zu; und .Einfühlung' übt er
nicht lang, weil er eigensüchtig nur das mitnimmt, was ihn angeht und betrifft. „Die
wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist, sie in unserem Raum
(nicht uns in ihrem) vorzustellen. (So tut der Sammler, so auch die Andekdote.) Die
Dinge, so vorgestellt, dulden keine vermittelnde Konstruktion aus > großen Zusam-
menhängen < . Es ist auch der Anblick großer vergangner Dinge - Kathedrale von
Chartres, Tempel von Pästum - in Wahrheit (wenn er nämlich glückt) ein: sie in
Der Sammler als Historiker 101

unserm Raum empfangen. Nicht wir versetzen uns in sie, sie treten in unser Leben."
(V273)
In der Passagenarbeit werden immer wieder Anekdoten eingesetzt. In ihnen wird,
nach Benjamins kleiner Andekdoten-Theorie, Vergangenes vergegenwärtigt, ohne
daß es dazu eines angestrengten historischen Interesses bedarf. Sie sind punktuell,
isolieren einen Vorfall ganz unbekümmert um Zusammenhänge, und sie sind kon-
kret; sie entnehmen der Vergangenheit lediglich das, was jetzt sofort und ohne lange
gutwillige Einstellung darauf interessiert, und ihre Pointe muß aktuell in die jetzige
Situation hinein treffen. „Die Konstruktionen der Geschichte sind Instruktionen
vergleichbar, die das wahre Leben kommandieren und kasernieren. Dagegen der
Straßenaufstand der Anekdote. Die Anekdote rückt uns die Dinge räumlich heran,
läßt sie in unser Leben treten. Sie stellt den strengen Gegensatz zur Geschichte dar,
welche die > Einfühlung < verlangt, die alles abstrakt macht. > Einfühlung < dar-
auf lauft Zeitunglesen hinaus. Die wahre Methode die Dinge sich gegenwärtig zu
machen, ist: sie in unserm Raum (nicht uns in ihren) vorzustellen. Dazu vermag nur
die Anekdote uns zu bewegen. Die Dinge so vorgestellt, dulden keine vermittelnde
Konstruktion aus > großen Zusammenhängen < ." (Und wieder werden die Kathe-
drale von Chartres und der Tempel von Pästum erwähnt.) (V 1014f.) Der Sammler -
von dem es übrigens kaum eine Theorie, wohl aber unzählige Andekdoten gibt -
befolgt nur diese Methode: er nimmt den Gegenstand in seinen Raum und in die
nächste Nähe zu sich, und um alles, was jenseits seines Sammlerlebens liegt, kümmert
er sich überhaupt nicht.
III. Der Sammler, der Flaneur und die Architektur

Wohnen im Gehäuse
Der Sammler sei der wahre Insasse des Interieurs des 19. Jahrhunderts.152 Er
treibt darin das Wohnen auf die Spitze: Seine Wohnung ist ihm „Gehäuse".
Nicht nur sind das Futteral und das Etui Gegenstände, die hundertfach
auftreten in diesem Interieur, sie stellen nach Benjamin überhaupt das Prin-
zip seiner Gestaltung und Einrichtung dar: Für seinen Bewohner ist es selbst
ein Futteral und Etui. „Das Schwierige in der Betrachtung des Wohnens: daß
darin einerseits das Uralte - vielleicht Ewige - erkannt werden muß, das
Abbild des Aufenthalts des Menschen im Mutterschoße; und daß auf der
anderen Seite, dieses urgeschichtlichen Motivs ungeachtet, im Wohnen in
seiner extremsten Form ein Daseinszustand des neunzehnten Jahrhunderts
begriffen werden muß. Die Urform allen Wohnens ist das Dasein nicht im
Haus sondern im Gehäuse. Dieses trägt den Abdruck seines Bewohners.
Wohnung wird im extremsten Falle zum Gehäuse. Das neunzehnte Jahrhun-
dert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral
des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, daß
man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit
allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt.
Für was nicht alles das neunzehnte Jahrhundert Gehäuse erfunden hat: für
Taschenuhren, Pantoffeln, Eierbecher, Thermometer, Spielkarten - und in
Wohnen im Gehäuse 103

Ermangelung von Gehäusen Schoner, Läufer, Decken und Überzüge. Das


zwanzigste Jahrhundert machte mit seiner Porosität, Transparenz, seinem
Freilicht- und Freiluftwesen dem Wohnen im alten Sinne ein Ende." (V 291 f.)
So eine berühmte Notiz aus dem Konvolut I, „das Interieur, die Spur".
Wohnen im Gehäuse: das ist einmal jenes eigenartige Wohnen im 19.
Jahrhundert, das im 20. schon kurios, lächerlich und unbegreiflich vor-
kommt, - und das ist sodann Wohnen überhaupt. „Urbild des Wohnens aber
ist die matrix oder das Gehäuse. Das also, von dem man genau die Figur
dessen abliest, der es bewohnt." (III 196) Deshalb verändert sich vom 19. ins
20. Jahrhundert nicht nur die Form des Wohnens gründlich, sondern das
Wohnen überhaupt geht zu Ende, oder: „das Wohnen hat sich vermindert:
für die Lebenden durch Hotelzimmer, für die Toten durch Krematorien" (V
292). Daß das „Gehäuse" historisch die Wohnung des 19. Jahrhunderts sei
und zugleich ahistorisch das Haus überhaupt, diese paradoxe Figur ist be-
kannt: hat sich doch der im 19. Jahrhundert aufkommenden historischen
Betrachtungsweise von Anfang an jene andere entgegengestellt, in der an-
stelle von geschichtlich Einmaligem nur urgeschichtlich Ewiges erscheint.
Diese Projektion von Geschichte in Natur gehört zum 19. Jahrhundert -
historisch betrachtet wiederum, und ahistorisch: zu einer jeden Kindheit.
Und darum wird in der „Kindheit um Neunzehnhundert" das vergangene'
Jahrhundert noch einmal gründlich durchgemacht.
Der Sammler wohnt wie das Kind. Wie man ihn am Ende des Textes „Ich
packe meine Bibliothek aus" verschwinden sieht in „eines seiner Gehäuse",
das er unversehens um sich aufgebaut hat, nämlich in diesen Text (IV 396), so
baut sich auch das Kind spielend ein. Im „Denkbild" „Vergiß das Beste
nicht" heißt es von jenem, der zu seinem Glück gelernt hat, unordentlich zu
sein: „und was er auch besorgte, gleich baute er, wie Kinder, wenn sie spielen,
sich selber ein"; und sein Schreibtisch, der aussieht, „als ob da einer gehaust
hätte", und wo er eben selber wirklich haust und wohnt (IV 407), gleicht
jenem kleinen Pult in der „Berliner Kindheit": „Nicht nur zu Hause durfte
ich mich fühlen, nein im Gehäuse, wie nur einer der Kleriker, die auf den
mittelalterlichen Bildern in ihrem Betstuhl oder Schreibepult gleichwie in
einem Panzer zu sehen sind" (IV 281 f.). Ein kleiner .Hieronymus im Gehäu-
se', das ihm beim Studium wie angegossen paßt, wohnt das Kind wie ein
Weichtier in seinem ,Panzer', seiner .Schale', seinem ,Haus'.
Angesichts einer Photographie des Kindes in der „Berliner Kindheit": „Ich
aber bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist. Ich hauste
so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das
nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr." (IV 261)
Das Wohnen als tiefstes, sprachloses Verständigtsein mit den Dingen um
einen bedeutet, daran wird kein Zweifel gelassen, ein Glück, das trostlos und
wie jedes vollkommene Eins- und Nichtentfremdetsein Terror ist. Das Ent-
stelltsein des Kindes vor Ähnlichkeit mit allem, was um es ist, erscheint tief
ambivalent. „Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein
schwaches Überbleibsel des alten Zwangs, ähnlich zu werden und sich zu
104 III. Der Sammler, der Flaneur und die Architektur

verhalten." (IV 261, cf. II 210) Nach diesem Satz, der sich fast wörtlich auch
in der „Lehre vom Ähnlichen" findet, ist die Sprach-Erfahrung I weniger
eine wunderbare Gabe als ein Zwang, von welchem die Befreiung dringend
nötig erscheint. Eine Befreiung ist, trotz allem, der berühmte Verlust der
Aura. Die „Befreiung des Objekts von der Aura" (II 378) wird in der „Klei-
nen Geschichte der Photographie" der Photographie eines Adget als Ver-
dienst angerechnet. „Die Entschälung des Gegenstands aus seiner Hülle, die
Zertrümmerung der Aura" (II 379) werden dabei gleichgesetzt; und tatsäch-
lich ist die Aura anderswo ausdrücklich als eine Art von Futteral aufgefaßt:
„das Auszeichnende der echten Aura: das Ornament, eine ornamentale Um-
zirkung in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futteral eingesenkt
liegt" (VI 588).
Das Passagenwerk mochte für Benjamin, nach der treffenden Bemerkung
von Gretel Adorno, wohl ein „Bau" sein, den er bewohnte und nicht mehr
verlassen mochte.153 Denn tatsächlich muß die mythische Erfahrung I im
Passagenwerk noch einmal ganz wiederholt werden, damit man aber, im
selben Vorgang, vielleicht endlich daraus heraustreten kann. Wenn darum
das Passagenwerk auch ein schützendes, seinen Bewohner verbergendes Ge-
häuse wäre, - es hat zugleich auch eine offene, durchsichtige Konstruktion
zu sein.

Spuren hinterlassen
Die zwiespältige mythische Erfahrung des Wohnens, die das Kind und der
Sammler in ihrem ,Gehäuse' machen, scheint im 20. Jahrhundert ein Ende zu
finden. Im neuen Wohnraum, der als befreiender Gegensatz zum Interieur
des 19. Jahrhunderts begrüßt wird, ist der ,destruktive Charakter' zuhause,
sofern man da noch ,zuhause' sein kann, wo jede Behaglichkeit und Gemüt-
lichkeit fehlt. „Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaf-
fen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem
Raum ist stärker als jeder Haß." (IV 396) Diesem Bedürfnis, in dem man die
Verfassung des Allegorikers wiedererkennt, genügt die moderne Architektur.
In ihr hat der Sammler nichts mehr zu suchen, auch nicht der Flaneur, wie er
noch bei Hessel „die letzten Denkmale einer alten Wohnkultur feiert. Die
letzten: denn in der Signatur dieser Zeitenwende steht, daß dem Wohnen im
alten Sinne, dem die Geborgenheit an erster Stelle stand, die Stunde geschla-
gen hat. Giedion, Mendelssohn, Corbusier machen den Aufenthaltsort von
Menschen vor allem zum Durchgangsraum aller erdenklichen Kräfte und
Wellen von Licht und Luft." (III 196f.)
„Der destruktive Charakter ist der Feind des Etui-Menschen. Der Etui-
Mensch sucht seine Bequemlichkeit, und das Gehäuse ist ihr Inbegriff. Das
Innere des Gehäuses ist die mit Samt ausgeschlagene Spur, die er in die Welt
gedrückt hat. Der destruktive Charakter verwischt sogar die Spuren der
Zerstörung." (IV 397f.) Die Differenz von I und II ist hier denkbar klar, und
Spuren hinterlassen 105

einmal mehr läßt sich nun, Benjamins „Theorie der Spur" (V 299) folgend,
nachvollziehen, wie sie - als Differenz von .Spuren hinterlassen' und .Spuren
verwischen" - bei näherem Zusehen umklappt. - Das Interieur des 19. Jahr-
hunderts ist nach Benjamin eine einzige Einrichtung zur Hinterlassung von
Spuren: „Das Interieur ist nicht nur das Universum sondern auch das Etui
des Privatmanns. Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur werden sie
betont. Man ersinnt Überzüge und Schoner, Futterals und Etuis in Fülle, in
denen die Spuren der alltäglichsten Gebrauchsgegenstände sich abdrücken.
Auch die Spuren des Wohnenden drücken sich im Interieur ab." (V 53) Die
Parole des 20. Jahrhunderts heißt dagegen: „Spurlos wohnen" - ein parado-
xes Programm, wenn Wohnen ,Spuren hinterlassen' bedeutet. Die moderne
Architektur gestaltet Innenräume, die aber weder gestaltet' noch überhaupt
noch ,Innenräume' sind; sie werden funktional konstruiert und das Innen
erscheint durch sie ins Außen gestülpt, - so wie es der Fall ist bei jenen
Strümpfen, die dem Kind einen tiefen Eindruck gemacht haben, weil hier die
„Tasche" selbst sich als das „Mitgebrachte" erwies.154 Glas und Eisen, die
Materialien der Konstruktion, seien ungeeignet, Spuren aufzunehmen, wes-
halb sie im 19. Jahrhundert die kompensatorische Ausstattung' durch Mate-
rialen provozierten, in denen sich Spuren abdrücken. (Vom Eisenbeton, dem
im 20. Jahrhundert neu hinzukommenden Material, spricht Benjamin be-
zeichnenderweise nicht.)

Spurlos wohnen. Betritt einer das bürgerliche Zimmer der achtziger Jahre, so ist bei
aller „Gemütlichkeit", welche es vielleicht ausstrahlt, der Eindruck „Hier hast du
nichts zu suchen" der stärkste. Hier hast du nichts zu suchen - denn hier ist kein
Fleck, auf dem nicht der Bewohner seine Spur schon hinterlassen hätte: auf den
Gesimsen durch die Nippsachen, auf den Polstersesseln durch Deckchen mit dem
Monogramm, vor den Fensterscheiben durch Transparente und vor dem Kamin durch
einen Ofenschirm. Ein schönes Wort von Brecht hilft von hier fort; weit fort. „Ver-
wisch die Spuren!" Hier, im bürgerlichen Zimmer, ist das entgegengesetzte Verhalten
zur Gewohnheit geworden. Und umgekehrt nötigt das Interieur seine Bewohner, sich
ein Höchstmaß von Gewohnheiten zuzulegen. Sie sind im Bilde des „möblierten
Herrn" versammelt, wie er den Wirtinnen vor Augen steht. Das Wohnen war in
diesen Plüschgelassen nichts andres als das Nachziehen einer Spur, die von Gewohn-
heiten gestiftet wurde. Sogar der Zorn, der beim geringsten Schaden dort die Geschä-
digte befiel, war vielleicht nur die Reaktion des Menschen, welchem man „die Spur
von seinen Erdetagen" ausgewischt hat. Die Spur, die er auf Polstern und in Sesseln,
die seine Anverwandten in den Photos, die seine Habe in Futteralen und Etuis
zurückgelassen hatte und die diese Räume manchmal so übervölkert scheinen ließen
wie die Urnenhallen. Das haben nun die neuen Architekten mit ihrem Glas und
ihrem Stahl erreicht: Sie schufen Räume, in denen es nicht leicht ist, eine Spur zu
hinterlassen. „Nach dem Gesagten", schrieb bereits vor zwanzig Jahren Scheerbart,
„können wir wohl von einer ,Glaskultur' sprechen. Das neue Glas-Milieu wird den
Menschen vollkommen umwandeln. Und es ist nun nur zu wünschen, daß die neue
Glaskultur nicht allzu viele Gegner findet." (IV 427f., cf. II 217f.)

Der Wohnende hinterläßt überall Spuren um sich und drückt jedem Gegen-
stand den Stempel des Besitzes auf; in seinem Eigentum ist er daheim. Die
106 III. Der Sammler, der Flaneur und die Architektur

Privatsphäre, das Biotop des Eigentümers, scheint nun aber zerstört in den
neuen Häusern, die den Insassen wie auf einem Theater ausstellen und die
Kollektion und Akkumulation von Gegenständen verhindern. Glas und Ei-
sen, die Materialien der Konstruktion, seien für Spurenhinterlassung über-
haupt ungeeignet. „Scheerbart aber, um wieder auf ihn zurückzukommen,
legt darauf den größten Wert, seine Leute - und nach deren Vorbilde seine
Mitbürger - in standesgemäßen Quartieren unterzubringen: in verschiebba-
ren beweglichen Glashäusern wie Loos und Le Corbusier sie inzwischen
aufführten. Glas ist nicht umsonst ein so hartes und glattes Material, an dem
sich nichts festsetzt. Auch ein kaltes und nüchternes. Die Dinge aus Glas
haben keine > Aura < . Das Glas ist überhaupt der Feind des Geheimnisses.
Es ist auch der Feind des Besitzes." (II 217)
Auch in Moskau findet Benjamin ein Wohnen vor, das nach bürgerlichen
Begriffen keines mehr ist. „Zwischen vier Wänden wird ja nur kampiert"
(IV 327): Nachdem der Bolschewismus das Privatleben abgeschafft hat,
bietet die Wohnung einen trostlosen Anblick, der aber doch nicht melan-
cholisch stimmen soll. „Allwöchentlich werden die Möbel in den kahlen
Zimmern umgestellt - das ist der einzige Luxus, den man mit ihnen sich
gestattet, zugleich ein radikales Mittel, die > Gemütlichkeit < samt der
Melancholie, mit der sie bezahlt wird, aus dem Haus zu vertreiben." (IV
328) Im „Sürrealismus"-Aufsatz wird vom „Chock" erzählt, den der bür-
gerliche Privatmann, der Benjamin geblieben ist, angesichts der Überwin-
dung des privaten Wohnens erfährt. Die Szene ist ein Moskauer Hotel, wo
eine buddhistische Sekte logiert, deren Mitglieder gelobt haben, sich nie-
mals in geschlossenen Räumen aufzuhalten - was frappant mit der Vorstel-
lung vom Wohnen in Moskau überhaupt zur Deckung gelangt: „Im Glas-
haus zu leben ist eine revolutionäre Tugend par excellence. Auch das ist ein
Rausch, ist ein moralischer Exhibitionismus, den wir sehr nötig haben. Die
Diskretion in Sachen eigener Existenz ist aus einer aristokratischen Tugend
mehr und mehr zu einer Angelegenheit arrivierter Kleinbürger geworden."
(II 298) Der bürgerliche Privatmann, welcher derart, auf der Flucht nach
vorn, die ihm widerwärtige Lebensform schaudernd begrüßt, ist tatsächlich
aus seinem Zuhause schon vertrieben, befindet sich schon auf der Flucht;
der Aufenthalt in Hotelzimmern ist die Existenzform des Emigranten.
Aber er wittert in seinem Elend noch eine Chance. Ein „Rausch" wird auch
die Nüchternheit genannt, die die moderne Architektur mit sich bringt.
Denn die „rauschhafte Durchdringung" von Außen und Innen, die die
Architektur des 19. Jahrhunderts leistete, wird beibehalten: „diese Durch-
dringung läßt die neue Baukunst nüchterne Wirklichkeit werden" (V 534),
und der Traum selbst wird zum Erwachen gewandt. - Und dann gibt es
übrigens auch die freundliche Vision eines Existierens, welches nicht wie
„für den Nordeuropäer die privateste Angelegenheit", sondern „Kollektiv-
sache" ist (IV 314): Das „Denkbild" „Neapel" ist zu „Moskau" ein Seiten-
stück. Auch in Neapel, wie in Moskau, dient ein einziger Raum für - nach
unseren Begriffen - viel zu viele Bewohner, doch wird er gar nicht ,be-
Spuren verwischen 107

wohnt': Man schläft auch draußen, und auch tagsüber: „Durchdringung


von Tag und Nacht, Geräuschen und Ruhe, äußerem Licht und innerem
Dunkel, von Straße und Heim" (IV 315).155

Spuren verwischen
Im Interieur des 19. Jahrhunderts helfe ein Brecht-Zitat fort, und nicht nur
,weiter', sondern „weit fort" von da (II 217, IV 427): „Verwisch die Spuren!"
So heißt der Refrain im ersten Gedicht des „Lesebuchs für Städtebewohner".
Benjamin hat in seinen „Kommentaren zu Gedichten von Brecht" dieses
Gedicht in ganz agitatorischer Tendenz gelesen: Städte seien Schlachtfelder.
„Arnold Zweig hat gelegentlich gesagt, diese Gedichtfolge habe in den letz-
ten Jahren einen neuen Sinn gewonnen. Sie stelle die Stadt vor, wie der
Emigrant sie im fremden Land erfährt. Das ist richtig. Man soll aber nicht
vergessen: der Kämpfer für die ausgebeutete Klasse ist im eigenen Lande ein
Emigrant." Spurenverwischung ist Sache des Emigranten wie des Revolutio-
närs: „>Verwisch die Spuren!« - eine Vorschrift für den Illegalen" (II 556) -
und überhaupt des Bewohners der modernen Großstadt. In diesen Gedichten
sei nämlich erstmals der Städter mit seinen „spezifischen Reaktionsweisen"
(II 557) - und nicht wie bisher in der Lyrik nur die Großstadt - darge-
stellt.
Benjamins Kommentar bezieht dieses erste Gedicht im „Lesebuch für
Städtebewohner" auf das neunte: „Vier Aufforderungen an einen Mann von
verschiedener Seite und zu verschiedenen Zeiten" sind verschiedene Auffor-
derungen an jemanden, einmal irgendwo zu bleiben - in einem „Heim",
einer „Stube", einer „Schlafstelle", der „Kammer" einer Prostituierten zu-
letzt. Der Mann „ist immer ärmer geworden. Seine Quartiergeber lassen sich
das gesagt sein; sie bewilligen ihm immer spärlicher das Recht, Spuren zu
hinterlassen" (II 560). Die Privatsphäre wird schrittweise abgeschafft, das
Wohnen allmählich ausgetrieben. So berichtet das Gedicht zeitraffend vom
Verschwinden der Erfahrung I; die Armut des Mannes ist auch jene Armut an
Erfahrung, die der Aufsatz „Erfahrung und Armut" illusionslos annimmt.
Und wie dort der Verfall der Aura als befreiend begrüßt wird, so findet man
hier die Spurenverwischung, statt daß man sie nur passiv gewärtigen müßte,
noch propagiert: „Die Vorschrift des ersten Gedichts > Verwisch die Spu-
ren < vervollständigt sich dem Leser des neunten in dem Zusatz: besser als
wenn sie dir verwischt werden" (II 560).156
Eine Reaktion auf die Drohung, daß einem die Spuren ungefragt verwischt
werden, ist aber - wie die Spurenverwischung des Illegalen - auch die Spu-
renbewahrung des Bürgers im Interieur:
Seit Louis Philippe findet man im Bürgertum das Bestreben, sich für die Spurlosigkeit
des Privatlebens in der großen Stadt zu entschädigen. Das versucht es innerhalb seiner
vier Wände. Es ist als habe es seine Ehre darein gesetzt, die Spur, wenn schon nicht
seiner Erdentage so doch seiner Gebrauchsartikel und Requisiten in Äonen nicht
untergehen zu lassen. Unverdrossen nimmt es den Abdruck von einer Fülle von
108 III. Der Sammler, der Flaneur und die Architektur

Gegenständen; für Pantoffeln und Taschenuhren, für Thermometer und Eierbecher,


für Bestecke und Regenschirme bemüht es sich um Futterale und Etuis. Es bevorzugt
Sammet- und Plüschbezüge, die den Abdruck jeder Berührung aufbewahren. Dem
Makartstil - dem Stil des ausgehenden Second Empire - wird die Wohnung zu einer
Art Gehäuse. Er begreift sie als Futteral des Menschen und bettet ihn mit all seinem
Zubehör in sie ein, seine Spur so betreuend wie im Granit die Natur eine tote Fauna.
Es braucht dabei nicht verkannt zu werden, daß der Vorgang seine zwei Seiten hat.
Der reale oder sentimentale Wert der derart aufbewahrten Gegenstände wird unter-
strichen. Sie werden dem profanen Blick des Nichteigentümers entzogen, und insbe-
sondere wird ihr Umriß auf bezeichnende Art verwischt. Es hat nichts Befremdendes,
daß die Abwehr der Kontrolle, wie sie den Asozialen zur zweiten Natur wird, im
besitzenden Bürgertum wiederkehrt. (I 548f.)

In dieser Passage, die vom Faust-Zitat bis zu Samt und Plüsch die Motive von
Benjamins Philosophie des Interieurs noch einmal versammelt, stellt sich der
Vorgang des Spurenhinterlassens mehrdeutig dar. Er habe „zwei Seiten",
sozusagen eine Innen- und eine Außenseite wie das Etui oder das Futteral:
Die Aufbewahrung der Spur ist zugleich auch ihre Verwischung. Der Bürger
tilgt wie der Asoziale die Spuren, eben indem er sie konserviert; was der
Eigentümer für sich birgt, verbirgt er vor den andern.
Der Kult der Spur ist also gleichzeitig mit dem Verschwinden der Spur.
Aber die Lage ist noch komplizierter. Denn die „Spurlosigkeit des Privatle-
bens" ist nur ein Aspekt der Drohung der anbrechenden Moderne. Der
andere ist, daß seit der Französischen Revolution ein immer engeres und
festeres Kontrollnetz das bürgerliche Leben überzieht. Es gibt öffentlich „das
Bestreben, durch ein vielfältiges Gewebe von Registrierungen den Ausfall
von Spuren zu kompensieren, den das Verschwinden der Menschen in den
Massen der großen Städte mit sich bringt" (I 549f.). Beispiele dafür sind die
offizielle Numerierung der Häuser durch die Napoleonische Verwaltung -
Namen werden durch Ziffern ersetzt - oder der Einsatz der Photographie als
polizeiliches Identifikationsverfahren gleich nach ihrer Erfindung. Eine neue
Spurensicherung fängt also sofort das Verschwinden der Spuren auf; es han-
delt sich aber nur um „Registrierungen". Eine „Registratur" (V 280) wird die
technische, willkürliche Erinnerung genannt, die das Erinnerte bloß bezif-
fert. - Die Moderne ist nicht das Ende der Tradition, die Erfahrung II nicht
das Gegenteil von Erinnerung. Nur wird ein ,alter' Modus I der Spurenbe-
wahrung durch einen neuen Modus II konkurrenziert. Die Spur verschwin-
det nicht, und sie tritt auch nicht, wie es die folgende Stelle suggeriert, neu
auf: „Spur und Aura. Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein
mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein
mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft, in der
Aura bemächtigt sie sich unser." (V 560) Dieser Abgrenzungsversuch täuscht
darüber hinweg, daß auch die Aura eine Art von Spur ist. Und zuletzt
vielleicht dieselbe, die ihr hier entgegengesetzt wird. Dem Sammler im Inte-
rieur jedenfalls geschieht es, daß die Sache sich seiner bemächtigt, indem er
ihrer habhaft wird.157
Mobiliar und Kriminalistik 109

Mobiliar und Kriminalistik

Der Flaneur reagiert als Asozialer auf das Bestreben, die neue Spurenverwi-
schung im 19. Jahrhundert durch eine neue, technische Spurensicherung zu
kompensieren: „Baudelaire fand sich durch dieses Bestreben ebenso beein-
trächtigt wie irgend ein Krimineller. Auf der Flucht vor den Gläubigern
schlug er sich in Cafes oder in Lesezirkel. Es traf sich, daß er zwei Domizile
zugleich bewohnte - aber an Tagen, an denen die Miete fällig wurde, näch-
tigte er oft bei Freunden in einem dritten. So trieb er sich in der Stadt herum,
welche dem Flaneur längst nicht mehr Heimat war." (I 550) So hat der
Flaneur plötzlich die Gestalt des Verbrechers oder Detektivs angenommen,
wie sie in der Kriminalgeschichte auftritt, welche zur gleichen Zeit, und
ebenso plötzlich, aus dem Stadtindianerroman entsteht; schon die Begeiste-
rung für diesen äußert sich so: „Que de precautions merveilleuses! que de
soins, que d'ingenieuses combinaisons, de subtils industries! Le sauvage de
l'Amerique, qui efface en marchant la trace de ses pas, pour se derober ä
l'ennemi qui le poursuit, n'est pas plus habile et plus minutieux dans ses
precautions." (V 551) Brechts „Verwisch die Spuren!" findet sich im Flaneur-
Konvolut unter dem Verweis „Zum Kriminalroman" (V 559). Der Flaneur,
der als „Priester des genius loci" der kultischen Erfahrung I nachgeht, prakti-
ziert als Detektiv zugleich die Erfahrung II: „Dieser unscheinbare Passant
mit der Priesterwürde und dem Spürsinn eines Detektivs - es ist um seine
leise Allwissenheit etwas wie um Chestertons Pater Brown, diesen Meister
der Kriminalistik" (III 196). Mag er auch auf eigene Faust, so zum Zeitver-
treib, den Detektiv spielen, es wird doch sehr leicht Ernst daraus. Denn: „In
Zeiten des Terrors, wo jedermann etwas vom Konspirateur an sich hat, wird
auch jedermann in die Lage zu kommen, den Detektiv zu spielen. Die
Flanerie gibt ihm darauf die beste Anwartschaft." (I 542f.)
Der Kriminelle verwischt die Spuren, der Detektiv geht ihnen nach: Der
bestens geeignete Schauplatz der Detektivgeschichte ist folgerichtig das bür-
gerliche Interieur. Und beispielhaft dafür muß natürlich Poes Erzählung
„Der entwendete Brief" sein. Denn „die Spuren des Wohnenden drücken
sich im Interieur ab. Es entsteht die Detektivgeschichte, die diesen Spuren
nachgeht. Die > Philosophie des Mobiliars < sowie seine Detektivnovellen
erweisen Poe als den ersten Physiognomen des Interieurs. Die Verbrecher der
ersten Detektivromane sind weder Gentlemen noch Apachen sondern bür-
gerliche Privatleute." (V 53) Benjamins eigene „Philosophie des Mobiliars"
findet man, im Zusammenhang mit dem Kriminalroman, in einem Text der
„Einbahnstraße" exponiert:
HOCHHERRSCHAFTLICH MÖBLIERTE ZEHNZIMMERWOHNUNG
Vom Möbelstil der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gibt die einzig
zulängliche Darstellung und Analysis zugleich eine gewisse Art von Kriminalroma-
nen, in deren dynamischem Zentrum der Schrecken der Wohnung steht. Die Anord-
nung der Möbel ist zugleich der Lageplan der tödlichen Fallen und die Zimmerflucht
110 III. Der Sammler, der Flaneur und die Architektur

schreibt dem Opfer die Fluchtbahn vor. Daß gerade diese Art des Kriminalromans
mit Poe beginnt - zu einer Zeit also, als solche Behausungen noch kaum existierten -,
besagt nichts dagegen. Denn ohne Ausnahme kombinieren die großen Dichter in
einer Welt, die nach ihnen kommt, wie die Pariser Straßen von Baudelaires Gedichten
erst nach neunzehnhundert und auch die Menschen Dostojewskis nicht früher da
waren. Das bürgerliche Interieur der sechziger bis neunziger Jahre mit seinen riesigen,
von Schnitzereien überquollenen Büfetts, den sonnenlosen Ecken, wo die Palme steht,
dem Erker, den die Balustrade verschanzt und den langen Korridoren mit der singen-
den Gasflamme wird adäquat allein der Leiche zur Behausung. „Auf diesem Sofa
kann die Tante nur ermordet werden." Die seelenlose Üppigkeit des Mobiliars wird
wahrhafter Komfort erst vor dem Leichnam. Viel interessanter als der landschaftliche
Orient in den Kriminalromanen ist jener üppige Orient in ihren Interieurs: der
Perserteppich und die Ottomane, die Ampel und der edle kaukasische Dolch. Hinter
den schweren gerafften Kelims feiert der Hausherr seine Orgien mit den Wertpapie-
ren, kann sich als morgenländischer Kaufherr, als fauler Pascha im Khanat des faulen
Zaubers fühlen, bis jener Dolch im silbernen Gehänge überm Divan eines schönen
Nachmittags seiner Siesta und ihm selber ein Ende macht. Dieser Charakter der
bürgerlichen Wohnung, die nach dem namenlosen Mörder zittert, wie eine geile
Greisin nach dem Galan, ist von einigen Autoren durchdrungen worden, die als
„Kriminalschriftsteller" - vielleicht auch, weil in ihren Schriften sich ein Stück des
bürgerlichen Pandämoniums ausprägt - um ihre gerechten Ehren gekommen sind.
Conan Doyle hat, was hier getroffen werden soll, in einzelnen seiner Schriften, in
einer großen Produktion hat die Schriftstellerin A. K. Green es herausgestellt und mit
dem „Phantom der Oper", einem der großen Romane über das neunzehnte Jahrhun-
dert, Gaston Leroux dieser Gattung zur Apotheose verholfen. (IV 88f.)
Die Wohnung des 19. Jahrhunderts mit dem „Schrecken", der in ihrer schwe-
ren Stimmung lagert, wird in der Kriminalliteratur analysiert und planvoll
entzaubert, - während sich freilich darin zugleich wieder einmal mehr „ein
Stück des bürgerlichen Pandämoniums" ausprägt und der zu brechende
Zauber noch einmal mächtig wird: So ist zuzugeben, daß „auch die Detektiv-
geschichte, ihres nüchternen Kalküls ungeachtet, an der Phantasmagorie des
pariser Lebens mitwirkt" (I 543). Das Passagenwerk, in dem gleichfalls der
Zauber des 19. Jahrhunderts gebrochen werden soll, indem er noch einmal
beschworen wird, steht in der Tradition dieser Literatur. Ernst Blochs Be-
merkung zur Passagenarbeit: „Die Geschichte zeigt ihre Marke von Scotland-
Yard" (V 578, cf. 1033) ist Benjamin wichtig gewesen. Als eine große mit
kriminalistischem Spürsinn durchgeführte Bestandesaufnahme und Spuren-
sicherung hat sie dem ,Prozeß' der Geschichte - das Wort im gerichtlichen
Sinn genommen - zu dienen, so wie es Benjamin den Photographien von
Adget zugetraut hat, auf denen die Pariser Straßen menschenleer erscheinen.
„Sehr mit Recht hat man von ihm gesagt, daß er sie aufnahm wie einen
Tatort. Auch der Tatort ist menschenleer. Seine Aufnahme geschieht der
Indizien wegen. Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Adget Be-
weisstücke im historischen Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene
politische Bedeutung aus." (I 445)
Von der kriminalistischen Analysis der Wohnung berichtet ausführlich das
„Denkbild" „Der enthüllte Osterhase oder Kleine Versteck-Lehre", das be-
Mobiliar und Kriminalistik 111

ginnt: „Verstecken heißt: Spuren hinterlassen. Aber unsichtbare. Es ist die


Kunst der leichten Hand." (IV 398) Demnach muß das Interieur des 19.
Jahrhunderts, als eine einzige Einrichtung zum Spurenhinterlassen, ein wah-
rer Tummelplatz für den Osterhasen gewesen sein, vor allem im Zustand der
Unordnung, da doch Unordnung die besten Funde, die der memoire invo-
lontaire, zu machen erlaubt. „Nicht in der > guten Stube < suchen lassen.
Ostereier gehören ins Wohnzimmer, und je unaufgeräumter es ist, desto
besser." (IV 399) Und doch hat der Osterhase auch noch im funktionalisti-
schen Innenraum des 20. Jahrhunderts eine Chance. „Je luftiger ein Versteck,
desto geistreicher. Je freieres dem Blick nach allen Seiten preisgegeben, desto
besser." (IV 398) Wie auch die moderne diskontinuierliche Wahrnehmung
noch eine Art Erinnerung ist, so bietet auch der transparente, luftdurch-
strömte Raum der Dreißigerjahre noch Gelegenheit zum Hinterlassen von
Spuren, wenn auch unsichtbaren, und also zum Wohnen. So „soll auch ein
Trostwort für die noch dastehen, die zwischen spiegelglatten Wänden in
stählernen Möbeln hausen und ihr Dasein, ganz ohne Rücksicht auf den
Festkalender, rationalisiert haben. Die mögen sich ihr Grammophon oder
ihre Schreibmaschine nur einmal aufmerksam angucken, dann werden sie
sehen, daß sie auf kleinstem Raum an ihnen soviel Löcher und Verstecke
haben als bewohnten sie eine Siebenzimmerwohnung im Makartstil." (IV
400) Die technischen Erinnerungsgeräte selbst, Grammophon und Schreib-
maschine, haben für Verstecke noch Raum.
Im Text „Der enthüllte Osterhase" wird das Prinzip des Versteckens selbst,
und nicht nur irgendetwas wie ein Osterei Verstecktes entdeckt. Er präsen-
tiert sich ganz als technische Anweisung, nach dem Muster kurioser lehrhaf-
ter Schriften des 18. Jahrhunderts rationalistisch bis ins Groteske. Diese Liste
von Regeln, heißt es abschließend, solle man „den Kleinen nicht vor Oster-
montag in die Hände fallen" lassen (IV 400). Technik bedroht nämlich die
Erfahrung des Kindes, die Erfahrung I, und stellt zugleich die gesuchte
mögliche Erlösung daraus dar. - Das Kind kann den Schrecken der Wohnung
gründlich erfahren. Indem es sich selbst darin versteckt, macht es innige
Bekanntschaft mit dem Mobiliar. Im Stück „Verstecke" der „Berliner Kind-
heit", das dem Text „Verstecktes Kind" in der „Einbahnstraße" entspricht,
wird die mimetische Ähnlichkeitserfahrung - die totale, unmittelbare Spra-
cherkenntnis - unbeschönigt so dargestellt: „Ich kannte in der Wohnung
schon alle Verstecke und kam in sie wie in ein Haus zurück, in dem man
sicher ist, alles beim alten zu finden. Mir schlug das Herz, ich hielt den Atem
an. Hier war ich in die Stoffwelt eingeschlossen. Sie ward mir ungeheuer
deutlich, kam mir sprachlos nah. So wird erst einer, den man aufhängt, inne,
was Strick und Holz sind." (IV 253, cf. 115f.) Als Gehäuse, das wie angegos-
sen paßt, schließt sich die mythische Welt atemberaubend ums Kind. Hier
nimmt es an magischen Praktiken und Kulthandlungen teil: „Der Eßtisch,
unter den es sich gekauert hat, läßt es zum hölzernen Idol des Tempels
werden, wo die geschnitzten Beine die vier Säulen sind. Und hinter einer
Türe ist es selber Tür, ist mit ihr angetan als schwerer Maske und wird als
112 III. Der Sammler, der Flaneur und die Architektur

Zauberpriester alle behexen, die ahnungslos eintreten." Angetan mit den


„Masken" des Mobiliars, erfährt das Kind die W o h n u n g distanzlos, als er-
stickende Geborgenheit. Aber es hat von Anfang an den Kampf mit den
Dämonen schon aufgenommen, und der erlösende Einsatz der Technik in der
mythischen Welt findet an Ostern statt: 158 „Die Wohnung war dabei das
Arsenal der Masken. Doch einmal jährlich lagen an geheimnisvollen Stellen,
in ihren leeren Augenhöhlen, ihrem starren Mund, Geschenke, die magische
Erfahrung wurde Wissenschaft. Die düstere Wohnung entzauberte ich als ihr
Ingenieur und suchte Ostereier." (IV 254, cf. 116) Konstruktiv geht der
„Ingenieur" vor, bricht den Bann des Mythos technisch: So endet das Stück
„Verstecke."

Anmerkung zur „MASKE". Von einem wahren „Maskenfest des Raumes" (V 527) im
19. Jahrhundert ist anderswo die Rede. Das wird jetzt verständlich: Die Wohnung sei
dem Kind „das Arsenal der Masken", und dieser Ausdruck begegnet wieder im
„Denkbild" „Vom Glauben an die Dinge, die man uns weissagt": „Das sogenannte
innere Bild vom eigenen Wesen, das wir in uns tragen, ist von Minute zu Minute pure
Improvisation. Es richtet sich, wenn man so sagen darf, ganz nach den Masken, die
ihm vorgehalten werden. Die Welt ist ein Arsenal solcher Masken. Nur der verküm-
merte, verödete Mensch sucht es als Verstellung im eigenen Innern. Denn wir selber
sind zumeist arm daran. Darum macht nichts uns so glücklich, als wenn einer mit
einem Kasten exotischer Masken auf uns zutritt und nun die selteneren Exemplare,
die Maske des Mörders, des Finanzmagnaten, des Weltumseglers an uns heranhält.
Durch sie hindurchzublicken verzaubert uns. Wir sehen die Konstellationen, die
Augenblicke, in denen wir eigentlich das eine oder das andere oder dies alles auf
einmal wirklich gewesen sind. Dies Maskenspiel ersehnen wir alle als Rausch und
hiervon leben noch heute die Kartenleger, die Chiromanten und Astrologen." (IV
372f.) Diese Maske dient keiner Verstellung, denn das Subjekt, dem sie vorgehalten
wird, steht nicht schon fest. So ist die Masken-Erfahrung rauschhaft nicht-subjektive
Erfahrung I, die im mythischen Bereich des .Schicksals' spielt.
Mithilfe des Begriffs der „Maske" wird also erklärt, warum es jemanden so tief trifft,
wenn ihm wahrsagerisch sein Schicksal enthüllt und auf den Kopf zugesagt wird.
Genau gleich lautet Benjamins Erklärungsversuch für ein anderes .okkultes' Phäno-
men, das ,dejä vu'. „Das dejä vu wird vom pathologischen Ausnahmefall, den es im
zivilisierten Leben darstellt, zu einer magischen Fähigkeit, in deren Dienst sich die
Volkskunst (und nicht minder der Kitsch) stellt. Sie kann es, weil das dejä vu im
tiefsten ja durchaus etwas anderes ist als die intellektuelle Erkenntnis: es sei die neue
Situation die gleiche wie die alte. Näher würde schon kommen: im Grunde die alte.
Aber auch das ist irrig. Denn die Situation wird überhaupt nicht als von einem
Außenstehenden erlebt: sie hat sich uns übergestülpt, wir haben uns in sie gehüllt: wie
immer man es auch faßt: es kommt auf die Urtatsache der Maske hinaus. So öffnet
denn die Primitive mit allen ihren Geräten und Bildern uns ein unendliches Arsenal
von Masken - Masken unseres Schicksals - mit denen wir aus unbewußt durchlebten,
hier aber endlich wieder eingebrachten Momenten und Situationen herausstehen. /
Nur der verarmte verödete Mensch kennt keine Art sich zu verwandeln als die
Verstellung. Verstellung sucht das Arsenal der Masken in uns selber. Wir aber sind
zumeist sehr arm daran. In Wahrheit ist die Welt voller Masken, wir ahnen nicht, in
welchem Grade einst die unscheinbarsten Möbel (z. B. ein romanischer Sessel) es
Mobiliar und Kriminalistik 113

waren. In der Maske sieht der Mensch aus der Situation heraus und bildet in ihrem
Innern seine Figuren." (VI 187) So im Aufsatz „Einiges zur Volkskunst". Wie in der
Kindheit ist in der Volkskunst und im Kitsch die „Primitive" als eigene Erfahrungs-
form gegenwärtig. Diese Erzeugnisse erlauben nämlich keinerlei ästhetische Distanz,
sondern bieten Situationen an, in die versetzt der Betrachter angemessen nur fragen
kann: „Wo? und wann war es?" (VI 186), ganz stofflich interessiert. Denn das Subjekt
ist hier nicht der Objektwelt gegenüber, sondern ganz von ihr umschlossen, mime-
tisch ihr angepaßt. Der Text schließt mit der These: „Die Kunst lehrt uns in die Dinge
hineinsehen / Volkskunst und Kitsch erlauben uns, aus den Dingen heraus zu sehen"
(VI 187). Den Kitsch, „die letzte Maske des Banalen", mit der wir uns bekleiden, habe
der Surrealismus entdeckt und seine für die ,Kunst' verlorenen Kräfte nutzbar ge-
macht, heißt es im Text „Traumkitsch": „Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei
Meter vom Körper entfernt. Nun aber rückt im Kitsch die Dingwelt auf den Men-
schen zu; sie ergibt sich seinem tastenden Griff und bildet schließlich in seinem
Innern ihre Figuren." (II 622) Auch in der Rezeption von Kitsch ist also die nicht-
kontemplative, taktile Wahrnehmung, wie die Moderne sie verlangt, vorweggenom-
men, und die Film-Rezeption kann als eine neuere Kitsch-Wahrnehmung verstanden
werden.159
IV. Der Spieler und die Politik

Politik als Spiel

Als wichtige zusammenhängende Texte zum .Spiel' werden im folgenden


herangezogen: das Konvolut O des „Passagenwerks" (V 612-642), „Über
einige Motive bei Baudelaire", das Kapitel IX (I 632-637), die „Notizen zu
einer Theorie des Spiels" (VI 188-190), die „Denkbilder" „Der Weg zum
Erfolg in dreizehn Thesen" (IV 349-352) und „Das Spiel" (IV 426f.) sowie
„Die glückliche Hand. Eine Unterhaltung über das Spiel" (IV 771-777). -
Das Glücksspiel erzeugt einen Rausch wie die Sammlung oder die Flanerie.
Und was für die anderen beiden Fälle gilt, das ist auch hier zu zeigen: Nicht
nur hat Benjamin in seiner Biographie die Leidenschaft des Spiels auch
gekannt, - Spielcharakter hat die Passagenarbeit. So wiederholt sich im 20.
Jahrhundert eine Praxis, die im selben Zug als eine des 15. dargestellt wird.
(Dabei tritt der Spieler nicht erst im 19. Jahrhundert auf, sowenig wie der
Sammler und der Müßiggänger, aber: „Neu im Vergleich zum ancien regime
Politik als Spiel 115

ist, daß im XIX Jahrhundert der Bürger spielt" (V 613). Vorher, „im acht-
zehnten spielte nur der Adel" (I 634).)
Im 19. Jahrhundert geht man nicht nur zum Vergnügen dem Hasardspiel
nach, auch dessen Gegensatz, die Arbeit, wird in der Form des ,Geschäfts'
auf dieselbe Weise betrieben. Gleichzeitig werden Casinos und Börsen er-
stellt. Diese Koinzidenz ist durchaus bemerkt worden, vorerst poetisch ver-
brämt: „Rouge et noire au Trente-un, hausse et baisse ä la Bourse, / Sont de
perte et de gain egalement la source" (V 627) oder: „Le trente et quarante se
joue ä rouge et noire, comme ä la Bourse on joue ä la hausse ou ä la baisse" (V
628), - später kritisch, wie von Paul Lafargue: Die Geschäftsanteile der
Aktiengesellschaften würden „von den einen verloren, von den anderen ge-
wonnen, und zwar in einer Weise, die so sehr dem Spiele ähnelt, daß die
Börsengeschäfte tatsächlich Spiel genannt werden. Die ganze moderne öko-
nomische Entwicklung hat die Tendenz, die kapitalistische Gesellschaft
mehr und mehr in ein riesiges internationales Spielhaus umzuwandeln, wo
die Bourgeois Kapitalien gewinnen und verlieren infolge von Ereignissen, die
ihnen unbekannt bleiben" (V 621). Die politischen und ökonomischen Vor-
gänge bleiben vom bürgerlichen Standpunkt aus undurchschaubar; ganz auf
dieser Linie scheint die folgende Bemerkung Benjamins zu liegen: „Die
Wette ist ein Mittel, den Ereignissen Chockcharakter zu geben, sie aus Erfah-
rungszusammenhängen herauszulösen. Nicht von ungefähr wettet man auf
den Ausgang von Wahlen, auf den Kriegsausbruch usw. Für die Bourgeoisie
insbesondere nehmen die politischen Ereignisse leicht die Form von Vorgän-
gen am Spieltisch an. Für den Proletarier ist das nicht im gleichen Maße der
Fall. Er ist besser disponiert, Konstanten im politischen Geschehen zu erken-
nen." (V 640, cf. I 635)
Aber viel weiter führt die Bemerkung, daß sich das Verhalten dieses prole-
tarischen Arbeiters mit dem des Spielers erstaunlicherweise deckt. Das Kapi-
tel IX von „Über einige Motive bei Baudelaire", das vom Spiel handelt, fängt
so an: „Dem Chockerlebnis, das der Passant in der Menge hat, entspricht
das > Erlebnis < des Arbeiters an der Maschinerie. Das erlaubt noch nicht
anzunehmen, daß Poe von dem industriellen Arbeitsvorgang einen Begriff
besessen hat. Auf alle Fälle ist Baudelaire von einem solchen Begriff weit
entfernt gewesen. Er ist aber von einem Vorgang gefesselt worden, in dem der
reflektorische Mechanismus, den die Maschine am Arbeiter in Bewegung
setzt, am Müßiggänger wie in einem Spiegel sich näher studieren läßt. Diesen
Vorgang stellt das Hasardspiel dar. Die Behauptung muß paradox erschei-
nen." (I 632) Spiel und Arbeit können doch sonst als strikter Gegensatz
aufgefaßt werden, solange man nämlich dabei an die handwerklich geprägte
Arbeit denkt. Dem Fabrikarbeiter aber fehle zwar ganz das Abenteuerliche
des möglichen Gewinns, doch nicht „die Vergeblichkeit, die Leere, das
Nicht-vollenden-dürfen" (I 633), die bezeichnend sei für das Spiel.160 Daß
sich der Arbeiter, den man sich wie Chaplin am Fließband in „Modern
Times" (1935) vorzustellen hat, im Grund nicht anders als der Spieler verhält,
das macht nun, obwohl er doch gerade die Hoffnungslosigkeit mit diesem
116 IV. Der Spieler und die Politik

teilt, seine Lage nicht hoffnungslos. Denn im Handlungsschema des Spielers


ist nach Benjamin der revolutionäre Akt denkbar.
Die Hoffnung wird in die Erfahrung II gesetzt, um die es sich beim Spielen
handelt. Vom „ > Erlebnis < des Arbeiters an der Maschine" kann überra-
schend die Rede sein, weil er eine ,Erfahrung' nicht macht. Das Erlebnis ist
schockartig, aus Erfahrungszusammenhängen gelöst. „Die Folgenlosigkeit,
die den Charakter des Erlebnisses ausmacht, hat einen drastischen Ausdruck
im Spiel gefunden." (V 638) Der Spieler gebärdet sich so wie paradigmatisch
der ,Mann der Menge' bei Poe. Auf einer Lithographie von Senefelder findet
Benjamin Spieler dargestellt, von denen zwar keiner „in der üblichen Weise"
dem Spiel nachgehe, doch die „aufgebotenen Figuren zeigen, wie der Mecha-
nismus, dem die Spieler im Hasardspiel sich anvertrauen, an Leib und Seele
von ihnen Besitz ergreift, so daß sie auch in ihrer privaten Sphäre, wie
leidenschaftlich sie immer bewegt sein mögen, nicht mehr anders als reflek-
torisch fungieren können. Sie benehmen sich wie die Passanten im Poeschen
Text. Sie leben ihr Dasein als Automaten und ähneln den fiktiven Figuren
Bergsons, die ihr Gedächtnis vollkommen liquidiert haben." (I 633f.) Damit
erscheint II wieder als diskontinuierliche und völlig traditionslose Wahrneh-
mung. Und doch ist Spielen ein Erinnern, genauso wie Flanieren und Sam-
meln, auch wenn das dort noch leichter einzusehen ist. In der Flanerie und
der Sammlung erscheint schon auf den ersten Blick die Erfahrung I, welche
erst bei näherem Zusehen in II umschlägt. Anders beim Spiel, wo der Anteil
der mythischen Erfahrung fast erst gesucht werden muß. Zwar glaubt der
passionierte Spieler gern an das .Schicksal', versucht es abergläubisch zu
fixieren, durch Talismane, private Riten oder wenigstens durch ,seine' Karte
und ,seine' Zahl, die ihm Glück bringen soll.

Ein Wissen vom Kommenden


Benjamin verweist in seinen Notizen des öftern auf eine Stelle in seiner
Einleitung zu Jochmanns „Die Rückschritte der Poesie", zum Beispiel: „Die
metaphorische Stelle aus der Einleitung zum Jochmann ist hier heranzuzie-
hen" (I 682), oder: „Die Stelle über Jochmanns Seherblick in den Grundlagen
der Passagen einzuverleiben" (I 1245). Gemeint ist die folgende Stelle: „Der
Zukunft, von welcher er in prophetischen Worten spricht, wendet er gleich-
sam den Rücken, und sein Seherblick entzündet sich an den immer tiefer ins
Vergangene hinschwindenden Gipfeln der früheren heroischen Menschenge-
schlechter und ihrer Poesie. Desto wichtiger ist es, auf die tiefe Verwandt-
schaft hinzuweisen, die dieser seherische und in sich verschlossene Geist mit
den deutschen Verfechtern der bürgerlichen Revolution gehabt hat." (II
577f.) Diese Sätze enthalten eine Bestimmung von ,Politik', das heißt, von
jener Geschichtsbetrachtung und Geschichtsschreibung, die in der Passagen-
arbeit versucht wird, in welcher historische Erkenntnis und politische Ak-
tion identisch sein sollen. Sprichwörtlich ist ja Benjamins,Janusgesicht"; 161
Ein Wissen vom Kommenden 117

und in Ungers Hamann-Darstellung steht als ein Resume: „Hamann trägt in


historischer Hinsicht einen Januskopf; er weist gleicherweise zurück in die
Vergangenheit wie vorwärts in die Zukunft, während er zu dem herrschen-
den Geiste der eignen Zeit in tiefbegründetem, scharfem Gegensatze
steht."162 - Der ,echte' Historiker, welcher Politiker ist, muß ein Wissen von
der Zukunft haben. Er braucht Sehergabe. Nun scheint es allerdings seit
nicht allzulanger Zeit - Reinhart Koselleck ist dieser Geschichte der Zukunft
nachgegangen163 - abgemacht, daß es ein wirkliches Wissen von der Zukunft
streng genommen nicht geben kann. Die Prognostik als einzige wissen-
schaftlich etablierte Disziplin der Zukunftserfahrung stützt sich nur auf
Extrapolation und Wahrscheinlichkeit und widerspricht dem nicht. Die Zu-
kunft mit Gewißheit in Erfahrung zu bringen, das bleibt okkulten Praktiken
überlassen, welche zur Zeit abseitig, dubios und verrufen sind. Mit ihnen hat
sich Benjamin bezeichnenderweise immer wieder befaßt. Auch er kritisiert
sie, aber nicht aus der bequemen Sicherheit heraus, daß ein Zukunftswissen
eben schlichtweg unmöglich sei. Vielmehr hält er es auf überraschende Art
für möglich.
In der „Berliner Kindheit" gibt es im Zoologischen Garten einen Winkel,
einen prophetischen, der „die Züge des Kommenden" trug (IV 256). Diese
Wendung kommt auch in der „Berliner Chronik" vor, und es springt ein Bild
dabei heraus: „Aber dieser Durchblick würde kein Vertrauen verdienen, gäbe
er von dem Medium nicht Rechenschaft, in dem diese Bilder allein sich
darstellen und eine Transparenz annehmen, in welcher, wenn auch noch so
schleierhaft die Linien des Kommenden wie Gipfelzüge sich abzeichnen. Die
Gegenwart des Schreibenden ist dieses Medium." (VI 470f.) Eine bekannte
Landschaft ist zu erkennen. Die „Züge des Kommenden" sind nun Gipfel-
züge - jene „ins Vergangene hinschwindenden Gipfel" der Jochmann- Einlei-
tung - am Horizont, wie sie fern und verschleiert der Betrachter in der
Aura-Szene erschaut. Der Historiker als Seher praktiziert also die Wahrneh-
mung I, - und doch wird man, was mittlerweile nicht mehr überrascht, gleich
die Figur des Allegorikers in ihm erkennen. Der Historiker sagt die Zukunft
voraus, nur indem er von Vergangenem spricht. „Der Historiker ist ein
rückwärts gekehrter Prophet", lautet ein berühmter Satz aus Friedrich Schle-
gels 80. Athenäum-Fragment.164

Das Jetzt der Erkennbarkeit


Das Wort, der Historiker sei ein rückwärts gekehrter Prophet kann auf zweierlei
Weise verstanden werden. Die überkommene meint, in eine entlegene Vergangenheit
sich zurückversetzend, prophezeie der Historiker, was für jene noch als Zukunft zu
gelten hatte, inzwischen aber ebenfalls zur Vergangenheit geworden ist. Diese An-
schauung entspricht aufs genaueste der geschichtlichen Einfühlungstheorie, die Fu-
stel de Coulonges in den Rat gekleidet hat: Si vous voulez revivre une epoque, oubliez
que vous savez ce qui s'est passe apres eile. - Man kann das Wort aber auch ganz
anders deuten und es so verstehen: der Historiker wendet der eignen Zeit den Rücken,
und sein Seherblick entzündet sich an den immer tiefer ins Vergangene hinschwin-
denden Gipfeln der früheren Menschengeschlechter. Dieser Seherblick eben ist es,
118 IV. Der Spieler und die Politik

dem die eigene Zeit weit deutlicher gegenwärtig ist als den Zeitgenossen, die „mit ihr
Schritt halten". Nicht umsonst definiert Turgot den Begriff einer Gegenwart, die den
intentionalen Gegenstand einer Prophetie darstellt, als einen wesentlich und von
Grund auf politischen. „Bevor wir uns über einen gegebnen Stand der Dinge haben
informieren können, sagt Turgot, hat er sich schon mehrmals verändert. So erfahren
wir immer zu spät von dem, was sich zugetragen hat. Und daher kann man von der
Politik sagen, sie sei gleichsam darauf angewiesen, die Gegenwart vorherzusehen."
Genau dieser Begriff von Gegenwart ist es, der der Aktualität der echten Geschichts-
schreibung zugrunde liegt. (I 1237)

So wird „der esoterische Sinn des Wortes, der Historiker ist ein rückwärts
gekehrter Prophet" (I 1235), dem naheliegenden ,exoterischen' Sinn - daß
sich der Historiker in eine Vergangenheit zurückversetzt, um vorauszusagen,
was für diese noch Zukunft war - entgegengesetzt. Danach sagt der Histori-
ker wirklich, im strengen Sinn, die Zukunft voraus, aber nicht irgend eine
beliebige, mehr oder weniger ferne Zukunft, - sondern seine Gegenwart.
Denn die tatsächliche, aktuelle Gegenwart kann niemals etwas schon Einge-
troffenes sein, sondern jeweils nur das eben erst Kommende. Und darum läßt
sie sich vielleicht erfahren, aber ,von' ihr und ,über' sie kann man nichts in
Erfahrung bringen, ohne daß sie bereits zur Vergangenheit geworden und
verschwunden wäre. Oder anders gewendet: Um von der Gegenwart etwas zu
erfahren, braucht es schon Sehergabe. Die „Gegenwart ist, so seltsam das
klingen mag, der Gegenstand einer Prophetie. Dieselbe verkündet also nichts
Künftiges. Sie gibt nur an, was die Glocke geschlagen hat. Und der Politiker
weiß am besten, wie sehr man, um das zu sagen, Prophet sein muß. Diesen
Begriff der Gegenwart findet man bei Turgot präzis gefaßt." (Und es folgt das
bekannte Zitat.) (I 1250) - Weil das Wissen von der Gegenwart Sehergabe
erfordert, darum ist es auch kein Widerspruch, wenn im Bild der Historiker
einmal der Zukunft, von der er prophetisch spricht, ein andermal der eigenen
Gegenwart den Rücken zukehrt.165
„So erfahren wir immer zu spät von dem, was sich zugetragen hat", heißt
es im Turgot-Zitat: Das ist das bekannte Motiv, daß das Lesen immer und
notwendig zu spät kommen muß, weil Lesbares erst durch seine Überliefe-
rung an die Vergangenheit lesbar geworden ist. Der Lesende, vor dessen
melancholischem Blick sich unerschöpflich nur die Trümmer häufen, ist im
Trauerspielbuch ja als Allegoriker dargestellt. Wenn sich dann über Dürers
„Melencolia I" Klees „Angelus Novus" schiebt, kann man in dieser Leserfi-
gur genau den Historiker erkennen, der, die Zukunft im Rücken, prophetisch
die Vergangenheit liest. „Der Engel der Geschichte muß so aussehen." Ein
Sturm vom Paradies her „treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den
Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst"
(I 697f.). - Und es ist dann zu präzisieren: Nicht jedes Lesen kommt notwen-
dig und unwiderruflich zu spät, wenn die Gegenwart wirklich wahrgenom-
men, das heißt, noch bevor sie zur Vergangenheit geworden ist, prophetisch
vorweg erschlossen werden kann. Diese tatsächlich aktuelle Lektüre wird
unter dem Titel der „Geistesgegenwart" exponiert. „Die Geistesgegenwart
„Geistesgegenwart" 119

als politische Kategorie k o m m t auf großartige Weise in diesen Worten Tur-


gots zu ihrem Recht: > Avant que nous ayons appris que les choses sont dans
une Situation determinee, elles ont dejä change plusieurs fois. Ainsi nous
apercevons toujours les evenements trop tard, et la politique a toujours
besoin de prevoir, pour ainsi dire, le present. < " (V 598)

„ Geistesgegenwart"
Durch Geistesgegenwart wird die Zukunft wahrgenommen, die man G e g e n -
wart' nennt. Davon handelt ein Text in der „Einbahnstraße":
MADAME ARIANE ZWEITER H O F LINKS
Wer weise Frauen nach der Zukunft fragt, gibt ohne es zu wissen, eine innere Kunde
vom Kommenden preis, die tausendmal präziser ist als alles, was er dort zu hören
bekommt. Ihn leitet mehr die Trägheit als die Neugier und nichts sieht weniger dem
ergebenen Stumpfsinn ähnlich, mit dem er der Enthüllung seines Schicksals bei-
wohnt, als der gefährliche, hurtige Handgriff, mit dem der Mutige die Zukunft stellt.
Denn Geistesgegenwart ist ihr Extrakt; genau zu merken, was in der Sekunde sich
vollzieht, entscheidender als Fernstes vorherzuwissen. Vorzeichen, Ahnungen, Si-
gnale gehen ja Tag und Nacht durch unsern Organismus wie Wellenstöße. Sie deuten
oder sie nutzen, das ist die Frage. Beides aber ist unvereinbar. Feigheit und Trägheit
raten das eine, Nüchternheit und Freiheit das andere. Denn ehe solche Prophezeiung
oder Warnung ein Mittelbares, Wort oder Bild, ward, ist ihre beste Kraft schon
abgestorben, die Kraft, mit der sie uns im Zentrum trifft und zwingt, kaum wissen wir
es, wie, nach ihr zu handeln. Versäumen wir's, dann, und nur dann, entziffert sie sich.
Wir lesen sie. Aber nun ist es zu spät. Daher, wenn unversehens Feuer ausbricht oder
aus heiterm Himmel eine Todesnachricht kommt, im ersten stummen Schrecken ein
Schuldgefühl, der gestaltlose Vorwurf: Hast du im Grunde nicht darum gewußt?
Klang nicht, als du zum letzten Male von dem Toten sprachst, sein Name in deinem
Munde schon anders? Winkt dir nicht aus den Flammen Gestern-Abend, dessen
Sprache du jetzt erst verstehst? Und ging ein Gegenstand, der dir lieb war, verloren,
war dann nicht Stunden, Tage vorher schon ein Hof, Spott oder Trauer, um ihn, der es
verriet? Wie ultraviolette Strahlen zeigt Erinnerung im Buch des Lebens jedem eine
Schrift, die unsichtbar, als Prophetie, den Text glossierte. Aber nicht ungestraft ver-
tauscht man die Intentionen, liefert das ungelebte Leben an Karten, Spirits, Sterne
aus, die es in einem Nu verleben und vernutzen, um es geschändet uns zurückzustel-
len; betrügt nicht ungestraft den Leib um seine Macht, mit den Geschicken sich auf
seinem eigenen Grund zu messen und zu siegen. Der Augenblick ist das kaudinische
Joch, unter dem sich das Schicksal ihm beugt. Die Zukunftsdrohung ins erfüllte Jetzt
zu wandeln, dies einzig wünschenswerte telepathische Wunder ist Werk leibhafter
Geistesgegenwart. Urzeiten, da ein solches Verhalten in den alltäglichen Haushalt des
Menschen gehörte, gaben im nackten Leibe ihm das verläßlichste Instrument der
Divination. Noch die Antike kannte die wahre Praxis, und Scipio, der Karthagos
Boden strauchelnd betritt, ruft, weit im Sturze die Arme breitend, die Siegeslosung:
Teneo te, Terra Africana! Was Schreckenszeichen, Unglücksbild hat werden wollen,
bindet er leibhaft an die Sekunde und macht sich selber zum Faktotum seines Leibes.
Eben darin haben von jeher die alten asketischen Übungen des Fastens, der Keusch-
heit, des Wachens ihre höchsten Triumphe gefeiert. Der Tag liegt jeden Morgen wie
120 IV. Der Spieler und die Politik

ein frisches Hemd auf unserm Bett; dies unvergleichlich feine, unvergleichlich dichte
Gewebe reinlicher Weissagung sitzt uns wie angegossen. Das Glück der nächsten
vierundzwanzig Stunden hängt daran, daß wir es im Erwachen aufzugreifen wissen.
(IV 141 f.)
Der Text beginnt mit einer Kritik okkulter Praktiken der Prophetie, wie sie,
in dubiose Hinterhöfe abgedrängt, heute noch angeboten werden. Das Argu-
ment heißt aber nicht, ein Wissen von der Zukunft könne es niemals geben,
sondern im Gegenteil werde ein solches beim Besuch einer „Madame Aria-
ne" gerade preisgegeben. Wie zutreffend das sein kann, was der Klient nun
von ihr vernehmen wird, steht nicht zur Debatte. Denn die Entscheidung ist
schon gefallen: Eine präzise „innere Kunde vom Kommenden" habe er da-
durch geopfert, daß er sich auf eine äußere Kunde, eine Mitteilung, gefaßt
gemacht hat. An Vorzeichen nämlich sei kein Mangel - „Vorzeichen, Ahnun-
gen, Signale gehen ja Tag und Nacht durch unsern Organismus wie Wellen-
stöße"-, und diese können auf zwei verschiedene, sich ausschließende Arten
rezipiert werden: Entweder sie treten ins Bewußtsein ein, als Wissen, oder sie
werden sofort und ohne Zeitverlust vom Leib abgefangen und pariert - im
geistesgegenwärtigen „Handgriff".
Hier wird wieder mit dem Freudschen Wahrnehmungsmodell zweier sich
gegenseitig ausschließender und ersetzender Systeme operiert, wobei dem
einen System .Bewußtsein' keinerlei produktive Funktion zukommt: Es
schützt nur - nach Freud - das andere System vor den Reizen, die es bedro-
hen, es entzieht nur - nach Benjamin - dem anderen System die Reize, mit
denen dieses etwas Besseres hätte anfangen können. Das andere System heißt
bei Freud .Organismus', bei Benjamin .Leib', - weil der Leib nach Proust das
Organ der erfahrenen Erinnerung ist. Die geistesgegenwärtige Rezeption hat
die Form von körperlicher Re-Aktion. Denn es ist ja auch gar nicht darum zu
tun, die Zukunft staunend zur Kenntnis zu nehmen, sondern es gilt, ihrer
Drohung zuvorzukommen. Und ein Wissen von ihr wäre schließlich nur
wünschenswert, damit man sie zu seinen eigenen Gunsten wenden kann.
Aber eben das werde vereitelt durch die Einstellung auf bloße Kenntnisnah-
me, welche deshalb auch gar nicht so harmlos ist. Denn das Bewußtsein
fungiert hier nicht mehr wie bei Freud als Reizschutz, sondern, negativ
gewendet, als Reizverhinderung. Der Schock, der für Freud noch einen Un-
glücksfall darstellt, erscheint nun als der Fall echter Wahrnehmung. Und
Freuds metaphorische Fiktion: „Dieses Stückchen lebender Substanz
schwebt inmitten einer mit stärksten Energien geladenen Außenwelt und
würde von den Reizwirkungen derselben erschlagen werden, wenn es nicht
mit einem Reizschutz versehen wäre",166 wird für Benjamin zum Szenarium
der modernen Erfahrung: Der Wahrnehmende steht bedroht in einem Ge-
witter von Impulsen und Signalen, die aus größter Nähe auf ihn eindringen;
er muß sich ihrer notgedrungen erwehren, aber nun mit Vorteil nicht so, daß
er sie im Bewußtsein erstickt: angemessener kann er sie vielleicht parieren,
wenn er sie in den Leib fahren läßt. Das ist die Chance, die in der schockför-
migen Erfahrung II verborgen liegt.
„Geistesgegenwart" 121

Es werden im Text nun Beispiele dafür angeführt, wie Prophetien lesbar


werden als solche, die man zu lesen versäumt und verpaßt hat, ohne daß man
sie aber damals, als es noch Zeit war, so schon hätte lesen können. Lesbarkeit
ist an Versäumnis gebunden. Der Eindruck, die Zeichen wären zu „nutzen"
gewesen, wenn man sie nur früher zu „deuten" gewußt hätte, täuscht, denn
beides schließt sich aus. Die sich aufdrängende Frage ist perfid: „Hast du im
Grunde nicht darum gewußt?" Denn wohl hat man „im Grunde" darum
gewußt, aber eben nicht mit Bewußtsein „gewußt". Genau in dem Augen-
blick, da etwas ins Bewußtsein tritt, hat der Leib seine Chance, darauf zu
reagieren, bevor es eingetroffen und unabänderlich geworden ist, endgültig
verpaßt, und die Zeit für mögliche Geistesgegenwart ist vorbei. - Geistesge-
genwart ist „leibhaft", Werk des Leibes also - und nicht des Geistes, wie das
Wort doch zu sagen scheint. Aber im „Denkbild" „Der Weg zum Erfolg in
dreizehn Thesen" fängt die letzte, ominöse dreizehnte These so an: „Daß das
Geheimnis des Erfolges nicht im Geist wohnt, verrät die Sprache mit dem
Wort > Geistesgegenwart < . Also nicht das Daß und Wie - allein das Wo des
Geistes entscheidet. Daß er im Augenblicke und im Raum zugegen sei, das
schafft er nur, indem er in den Stimmfall, das Lächeln, das Verstummen, den
Blick, die Geste eingeht. Denn Gegenwart des Geistes schafft allein der
Leib." (IV 352) Das Paradox wird also ziemlich gewaltsam so aufgelöst, daß
der Geist gegenwärtig da sei nur im Leib.
In der diskontinuierlichen Erfahrung II entdeckt also Benjamin die Chan-
ce, daß der Wahrnehmende in einem geschickten reflexhaften Einfall die
Drohung der Situation zu seinem ,Glück' wenden kann - wie der Glücks-
spieler. Diesem verhilft derselbe „hurtige Handgriff" zum Erfolg, den man
überraschenderweise auch beim Fabrikarbeiter findet: „Auch dessen vom
automatischen Arbeitsgang ausgelöste Gebärde erscheint im Spiel, das nicht
ohne den geschwinden Handgriff zustande kommt, welcher den Einsatz
macht oder die Karte aufnimmt. Was der Ruck in der Bewegung der Maschi-
nerie, ist im Hasardspiel der sogenannte coup. Der Handgriff des Arbeiters
an der Maschine ist gerade dadurch mit dem vorhergehenden ohne Zusam-
menhang, daß er dessen strikte Wiederholung darstellt. Indem jeder Hand-
griff an der Maschine gegen den ihm voraufgegangenen ebenso abgedichtet
ist, wie ein coup der Hasardpartie gegen den jeweils letzten, stellt die Fron
des Lohnarbeiters auf ihre Weise ein Pendant zu der Fron des Spielers. Beider
Arbeit ist von Inhalt gleich sehr befreit." (I 633) Leer von Inhalt, von Inhalt -
nicht bloß zynisch gesagt - „befreit" ist die Erinnerung II, die memoire
volontaire, die das Erinnerte als ,Erlebnis' abtut. Und doch taucht gerade
hier, an der Stelle des ,Erlebnisses', überraschenderweise die .Erfahrung' auf.
Denn es ist doch die memoire involontaire, die sich leibhaft vollzieht; und
mit einer unkontrollierten Geste können nach Proust die in den Gliedmaßen
deponierten Gedächtnisbilder ins Bewußtsein einbrechen, und ein „Hand-
griff" kann der unwillkürliche Erinnerungsvorgang sein.
Auch Erinnerung kann die Form von geistesgegenwärtiger Handlung ha-
ben, auch Bilder sind, wie nur im Augenblick der höchsten Not, reflexhaft
122 IV. Der Spieler und die Politik

zupackend und möglicherweise rettend zu erfassen. „Geistesgegenwart als


das Rettende; Geistesgegenwart im Erfassen der flüchtigen Bilder; Geistesge-
genwart und Stillstellung" (I 1244). Das ist von der neuen Geschichtsbetrach-
tung gefordert, welche aber unmöglich noch Betrachtung' sein kann. Viel-
mehr wäre der Erinnerungsakt die Handlung, in der die gerade eintreffende
Zukunft wahrgenommen, aber nicht staunend zur Kenntnis genommen, son-
dern im ersten und buchstäblich letzten Moment abwendend als Gegenwart
realisiert werden kann. Der Historiker, der sich als Politiker versteht, be-
gründe einen neuen Begriff der Gegenwart: „Diese Gegenwart schlägt sich in
Bildern nieder, welche man dialektische nennen kann. Sie stellen einen
> rettenden Einfall < der Menschheit dar." (I 1248) - Von da her wird die
Wendung im „Sürrealismus"-Aufsatz verständlicher: „Den Pessimismus or-
ganisieren" heiße, „im Raum des politischen Handelns den hundertprozenti-
gen Bildraum entdecken", und dieser „Bildraum" sei „Leibraum" (II 309).
Geistesgegenwart kann nur bewiesen werden in der Bedrängnis einer be-
drohlichen Situation, die nun ohne jede Übersicht durchschaut, ohne jede
Souveränität beherrscht werden muß und blitzartig improvisierend zum Vor-
teil verändert werden kann. Das illustriert schlagend die Scipio-Anekdote.
Ebenso reflexhaft, wie der Strauchelnde die Arme ausbreitet, breitet er im
selben Moment die Arme auch triumphierend und besitzergreifend aus und
hat damit das böse Omen im Ansatz pariert und widerlegt. Er rettet und
beherrscht die Situation mit einem gelungenen Witz. Einen Witz machen,
das ist ja die alltäglichste Art, Geistesgegenwart zu beweisen; im
„Sürrealismus"-Aufsatz wird dem Künstler, der seine Künstlerlaufbahn für
die Politik aufgibt, in Aussicht gestellt: „Desto besser werden die Witze, die
er erzählt" (II 309).
Kann Geistesgegenwart, jener „gefährliche hurtige Handgriff", auch nicht
erzwungen und mit Sicherheit herbeigeführt werden, so wird er doch durch
eine bedrohliche, gefährliche Konstellation provoziert, und diese ist für Ben-
jamin allerdings im privaten wie weltpolitischen Maßstab gegeben. Der „Ge-
fahrenkonstellation tritt die Geschichtsschreibung entgegen; an ihr hat sie
ihre Geistesgegenwart zu bewähren. In dieser Gefahrenkonstellation zuckt
das dialektische Bild blitzhaft auf." (I 1242)167 Der allseitigen Bedrohung
entspricht die Wahrnehmung II; so erhält das brüske, automatenhafte Geba-
ren der Passanten bei Poe erst im lebensgefährlichen Großstadtverkehr des
20. Jahrhunderts seinen vollen Sinn.168 Der im Modus II Wahrnehmende
kann der Gefahr gewachsen sein, indem er die Situation gerade nicht erkennt
und aufgrund seiner Einsicht steuert, sondern indem er sich ganz in sie stellt
und sie mitmacht, aber nicht anpasserisch, sondern das Steuer noch herum-
reißend, - und sie erst so erkennt. Wenn es hier einen Optimismus gibt, dann
kann er nur im tiefsten Pessimismus liegen.169 Denn die Gefahr muß total
sein, damit auch keine Versuchung mehr besteht, sie von einem sicheren
Punkt aus vorerst nur einmal,lesend' und noch nicht,handelnd' in den Griff
zu bekommen.
Aktion anstelle von Lektüre: Das scheint genau die Differenz zu sein, die
„Geistesgegenwart" 123

in „Madame Ariane zweiter Hof links" exponiert worden ist: „Denn ehe
solche Prophezeiung oder Warnung ein Mittelbares, Wort oder Bild, ward, ist
ihre beste Kraft schon abgestorben, die Kraft, mit der sie uns im Zentrum
trifft und zwingt, kaum wissen wir es, wie, nach ihr zu handeln. Versäumen
wirs, dann, und nur dann, entziffert sie sich. Wir lesen sie. Aber nun ist es zu
spät." Danach muß der Zeitpunkt des Lesens immer ein ,Zu spät' sein; das
kennt man vom Trauerspielbuch her. Entweder Tat - oder aber „Wort und
Bild", entweder „handeln" - oder dann „lesen", und der Handelnde schlägt
sich in aktuellster Gegenwart, während der Lesende mehr als genug Zeit hat,
da ihm alles schon entgangen und vergangen ist. Aber diese Differenz ist eine
Falle, die das „Denkbild" stellt und in die man nicht gehen darf. - Geistesge-
genwärtig kann nämlich auch die Lektüre sein. „Das gelesene Bild, will sagen
das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des
kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt."
(V 578) Und im Zusammenhang mit dem Hasardspiel wird von der Gabe der
„Geistesgegenwart" gesagt: „Ihre höchste Manifestation ist das Lesen, das in
jedem Falle divinatorisch ist." (V 639) Freilich kann das geistesgegenwärtige
Lesen als das Gegenteil von Lesen erscheinen, solange man dieses nämlich
nur im rein optischen Bereich für möglich hält. Der Spieler gewinne aber „im
kritischen Momente der Gefahr (des Verpassens)" die Fähigkeit, „auf dem
Brett sich zurechtzufinden, das Brett umsichtig zu lesen - wenn dies nicht
wieder ein Ausdruck aus dem Bereiche der Optik wäre" (VI 189).
Die Kontemplation, die aufmerksam-bewußte Rezeption kann nach Ben-
jamin nur optisch erfolgen. Die andere, ,taktile' Rezeption jedoch, bei der die
Zeichen und Signale statt ihrer lähmenden Überführung in Bewußtseinsin-
halte in den Leib eingehen, kommt im optischen Bereich ebenfalls vor. Im
Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar-
keit" ist die Rede von der „Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwir-
kung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will. Der Film ist
die der betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben, entsprechende Kunst-
form. Er entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsappa-
rats - Veränderungen wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im
Großstadtverkehr, wie sie im weltgeschichtlichen Maßstab jeder Kämpfer
gegen die heutige Gesellschaftsordnung erlebt." (I 464) Der neue, revolutio-
näre Historiker gleicht dem Filmzuschauer. Seine Erinnerungsbilder soll
man sich wie die diskontinuierlichen Bilder eines Films vorstellen, jenes
sprichwörtlichen ,Films' nämlich, der vor den Augen dessen, der in Todesge-
fahr schwebt, unwillkürlich sein ganzes Leben ablaufen läßt. Dieses Klischee
wird immer wieder herangezogen, so in der „ kleinen Rede über Proust, an
meinem 40. Geburtstag gehalten", welcher als Selbstmordtermin vorgesehen
gewesen sei:170 „Und jenes > ganze Leben < das, wie wir oft hören, an
Sterbenden oder an Menschen, die in der Gefahr zu sterben schweben, vor-
überzieht, setzt sich genau aus diesen kleinen Bildchen zusammen."
(II 1064)171
124 IV. Der Spieler und die Politik

Geistesabwesenheit
Gesteigerte Geistesgegenwart ist dabei das Gegenteil von erhöhter Konzentra-
tion. Wird Geistesgegenwart auf der objektiven Seite wahrscheinlich oder
wenigstens möglich gemacht durch die Situation einer höchsten Gefahr, so auf
der subjektiven Seite durch eine Disposition für nicht-bewußte Wahrneh-
mung. Ob der geistesgegenwärtige Reflex zustandekommt, das ist der Macht
eines Einzelnen also nicht gänzlich entzogen. So paradox es klingt: Für Gei-
stesgegenwart, diese jedesmal wieder unvorhersehbare Reaktion, die abrupt in
die jeweilige besondere Situation passen muß, kann man durch Übung ge-
schickter werden. „Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendem
Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht und das Symptom von
tiefgreifenden Veränderungen der Apperzeption ist, hat am Film ihr eigentliches
Ubungsinstrument. In seiner Chockwirkung kommt der Film dieser Rezep-
tionsform entgegen." (I 505) Schock ist nach Freud Schrecken, der durch „das
Fehlen der Angstbereitschaft"172 entsteht: Einübung in Schockrezeption kann
also nicht heißen, es schließlich einmal so weit zu bringen, daß die Reize nicht
mehr unvorbereitet treffen, eben nicht mehr als Schocks. Das abwehrende
Bewußtsein wird durch Übung nicht etwa geschärft, sondern im Gegenteil
allmählich ausgeschaltet, so daß es immer mehr dem Leib allein überlassen
bleibt, wie er sich - glücklicher - aus der Affäre zieht.
Übung
Daß der Schüler den Inhalt des Buchs unterm Kopfkissen am Morgen auswendig
weiß, der Herr es den Seinen im Schlafe gibt und die Pause schöpferisch ist - dem
Spielraum zu geben ist das A und O aller Meisterschaft und ihr Kennzeichen. Dieser
Lohn eben ist es, vor den die Götter den Schweiß gesetzt haben. Denn Kinderspiel ist
Arbeit, welche mäßigen Lohn verspricht, mit der verglichen, die das Glück herbei-
ruft. So rief Rastellis ausgestreckter kleiner Finger den Ball herbei, der wie ein Vogel
auf ihn heraufhüpfte. Die Übung von Jahrzehnten, die dem voranging, hat in Wahr-
heit weder den Körper noch den Ball „unter seine Gewalt", sondern dies zustande
gebracht: daß beide hinter seinem Rücken sich verständigten. Den Meister durch
Fleiß und Mühe bis zur Grenze der Erschöpfung zu ermüden, so daß endlich der
Körper und ein jedes seiner Glieder nach ihrer eigenen Vernunft handeln können -
das nennt man üben. Der Erfolg ist, daß der Wille, im Binnenraum des Körpers, ein
für alle Mal zu Gunsten der Organe abdankt - zum Beispiel der Hand. So kommt es
vor, daß einer nach langem Suchen das Vermißte sich aus dem Kopf schlägt, dann
eines Tages etwas anderes sucht und so das erste ihm in die Hand fällt. Die Hand hat
sich der Sache angenommen und im Handumdrehn ist sie einig mit ihr geworden.
(IV406f.)
Das bekannte Phänomen, daß jemand angestrengt, verzweifelt etwas lange
vergeblich sucht und es dann sofort findet, sobald er die Suche eingestellt hat,
wird durch Benjamins Konzept leicht erklärt: Mit der Ausschaltung des
Systems .Bewußtsein' kann das erfolgreichere System .Leib' zum Einsatz
kommen. Wenn nun „Übung" zum Erfolg führen kann, so ist der Erfolg
doch nichts, was man übenderweise mit eisernem Willen erzwingen kann. In
der Übung wird nur mit Fleiß und Mühe der „Wille" ausgeschaltet, damit er
Geistesabwesenheit 125

im entscheidenden Moment den Erfolg nicht verhindert. Aufmerksamkeit


wird durch Übung in Gewohnheit überführt, Willkürliches und Bewußtes in
den Leib eingesenkt, damit er mit seinen Reflexen und Automatismen die
gefährliche Situation vielleicht meistert. (In der Geschichte „Rastelli er-
zählt"173 wird das Kunststück, das der Jongleur Rastelli mit seinem wie
selbständig gewordenen Ball vollführt, vorerst so erklärt, daß in diesem -
ganz wie in dem berühmten Schachautomaten der Geschichtsthesen174 - ein
Zwerg versteckt ist. Einmal tritt der „Meister" in höchster Gefahr auf, wo er
alles gewinnen oder verlieren kann. Nach geglückter Vorführung trifft wie
ein Schock die Nachricht, diesmal sei der Zwerg nicht dabeigewesen...)
„Viel ist angeboren, aber viel tut das Training." Man soll sich nicht nur im
Ernstfall einsetzen, wird im „Weg zum Erfolg in dreizehn Thesen" nahege-
legt; wichtig sei „die große Fähigkeit, für Augenblicke das Ziel aus den
Augen zu lassen (den Seinigen gibt der Herr es im Schlafe)" (IV 350). Der
Weg führt zum Ziel, wenn dieses vergessen gehen kann. So ergänzen sich
schockförmige Wahrnehmung und Wahrnehmung im Modus der Gewohn-
heit. Der Filmzuschauer wird daran gewöhnt, zerstreut zu sein: und in der
Gewohnheit ebenso wie in der Zerstreuung findet jenes unaufmerksame
Bemerken statt, in dem motorische Reflexe an die Stelle von Bewußtseinsvor-
gängen treten. Benjamins Bejahung des Mediums Film ist wie das ganze
Unterfangen der „Passagen" prekär ambivalent: Der mögliche Widerstand
soll aus der größten Anpassung erwachsen; der geistesgegenwärtige Reflex,
der das Steuer der Situation herumreißt, wird vorbereitet durch gewohnheits-
mäßige Versenkung in sie.175 Gewohnheit, diese langsame, kontinuierliche,
träumerisch dahindämmernde Wahrnehmung, rückt nun mit ihrem Gegen-
satz, plötzlicher, erschreckter und aufgeweckter Wahrnehmung, zusammen.
„Geistesgegenwart" ist Geistesabwesenheit. Der im entscheidenden Moment
möglicherweise Geistesgegenwärtige zeichnet sich nicht durch Aktivität und
Aufgewecktheit aus, sondern durch jene gedankenlose Dumpfheit und das
abwesende Brüten, das man vom Melancholiker her schon kennt... „Daher
die Stumpfheit, die so oft bei den großen Wirtschaftsmagnaten die höchste
Geistesgegenwart besiegelt" (IV 352), so endet „Der Weg zum Erfolg in
dreizehn Thesen". - Hinterhältig ist also die Formulierung in „Madame
Ariane": „und nichts sieht weniger dem ergebenen Stumpfsinn ähnlich, mit
dem er der Enthüllung seines Schicksals beiwohnt, als der gefährliche, hur-
tige Handgriff, mit dem der Mutige die Zukunft stellt." Denn eben aus der
Trägheit, der er so gar nicht ähnlich sieht, kann jener plötzliche Handgriff
kommen. Und gerade der kontemplativ Lesende stellt sich unvermittelt als
der aktiv Handelnde heraus.
Sogar Prousts Verfahren, ein einziges großes Bettbewohnen, diente nur der
Ermöglichung jener Schocks, als die die Erinnerungsbilder blitzhaft treffen:
„ > A la Recherche du Temps perdu < ist der unausgesetzte Versuch, ein
ganzes Leben mit der höchsten Geistesgegenwart zu laden." (II 320) Von der
„Langeweile" beim Lesen von Proust ist die Rede. Denn Proust ist nach
Benjamin ein Erzähler, einer der vielen letzten Erzählt die noch und erst
126 IV. Der Spieler und die Politik

dann auftreten, wenn es mit der Kunst zu erzählen längst zu Ende geht, - und
zum Erzählen soll die Langeweile gehören. „Wenn der Schlaf der Höhepunkt
der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen. Die Lan-
geweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet. Das Rascheln
im Blätterwalde vertreibt ihn. Seine Nester - die Tätigkeiten, die sich innig
der Langeweile verbinden - sind in den Städten schon ausgestorben, verfallen
auch auf dem Lande." (II 446) So wird Langeweile der Erfahrung I zugeord-
net, die im 19. Jahrhundert zu verschwinden droht und zugleich kultiviert
wird wie noch nie zuvor. Eine immense Langeweile - davon handelt das
Konvolut D: „die Langeweile, ewige Wiederkehr" - hat sich über dieses
Jahrhundert gesenkt, womit sein plötzliches Ende in ihm ermöglicht ist, so
wie aus der tiefsten Gewohnheit die alles verändernde Aktion entspringen
kann. - „Langeweile haben wir, wenn wir nicht wissen, worauf wir warten.
Daß wir es wissen oder zu wissen glauben, das ist fast immer nichts als der
Ausdruck unserer Seichtheit oder Zerfahrenheit. Die Langeweile ist die
Schwelle zu großen Taten." (V 161, cf. 1024) „Warten" ist träge und passive,
unkonzentrierte Bereitschaft für das Ende des Wartens, auf das hin es ange-
legt ist wie aufs Erwachen der Traum: „im Traumzusammenhange suchen wir
ein teleologisches Moment. Dieses Moment ist das Warten. Der Traum wartet
heimlich auf das Erwachen" (V 492). Das Warten sei „der eigentliche Zustand
des unbeweglich Kontemplativen" (V 536), welchem also das gegenteilige,
aktive Verhalten jederzeit zuzutrauen ist. Gelegentlich wird „der Wartende"
als eine eigene Leserfigur in die Reihe der andern, zum Flaneur, zum Spieler
gestellt.176
„Langeweile - als Index für die Teilnahme am Schlaf des Kollektivs. Ist sie
darum vornehm, so daß der Dandy sie zur Schau trägt?" (V 164) Im „Paris des
Second Empire bei Baudelaire" wird dieser so porträtiert: „Der Dandy ist
eine Prägung der Engländer, die im Welthandel führend waren. In den
Händen der londoner Börsenleute lag das Handelsnetz, das über den Erdball
läuft; seine Maschen verspürten die mannigfachsten, häufigsten, unvermut-
barsten Zuckungen. Der Kaufmann hatte auf diese zu reagieren, nicht aber
seine Reaktionen zur Schau zu tragen. Den dadurch in ihm erzeugten Wider-
streit übernahmen die Dandys in eigene Regie. Sie bildeten das sinnreiche
Training aus, welches zu seiner Bewältigung nötig war. Sie verbanden die
blitzschnelle Reaktion mit entspanntem, ja schlaffem Gebaren und Mienen-
spiel. Der Tick, der eine Zeitlang für vornehm galt, ist gewissermaßen die
unbeholfene, subalterne Darstellung des Problems." (I 600) Der sogenannte
,Tick' ist ein konvulsivisches Zucken, das aus einer demonstrativen mimi-
schen Trägheit kommt und sich überraschend davon abhebt.
Der Dandy war eine der Rollen, die Baudelaire annahm, eine andere war
der Flaneur. Wenn man der Arbeitsweise des Dichters „in den Riesenstädten
mit dem Geflecht ihrer zahllosen einander durchkreuzenden Beziehungen" -
das ist ein Baudelaire-Zitat, in dem Benjamin wieder einmal das Szenarium
eines von Impulsen und Signalen bedrohlich durchschossenen Wahrneh-
mungsraums entworfen findet - nachgeht, „so zeigt es sich, daß Baudelaires
Apologie und Kritik des Spiels 127

Flaneur nicht in dem Grade ein Selbstporträt des Dichters ist, wie man es
meinen könnte. Ein bedeutender Zug des wirklichen Baudelaire - nämlich
des seinem Werk verschriebenen - ist in dieses Bildnis nicht eingegangen.
Das ist die Geistesabwesenheit. - Im Flaneur feiert die Schaulust ihren Tri-
umph. Sie kann sich in der Beobachtung konzentrieren - das ergibt den
Amateurdetektiv; sie kann im Gaffer stagnieren - dann ist aus dem Flaneur
ein badaud geworden. Die aufschlußreichen Darstellungen der Großstadt
stammen weder von dem einen noch von dem andern. Sie stammen von
denen, die die Stadt gleichsam abwesend, an ihre Gedanken oder Sorgen
verloren, durchquert haben." (I 572) Die Pointe dieser Passage, in der man
auch ein Selbstportrait Benjamins finden kann, ist nunmehr klar: Im Bild des
Flaneurs fehlt noch die Geistesabwesenheit, und gerade aus ihr kommt eine
Produktion, die die Form eines Parierens von unvermuteten Schocks hat. Das
Bild des Dichters Baudelaire ist das eines Fechter, der blitzschnell ausfällig
wird, und so hat Benjamin Baudelaires Gedichte zu lesen versucht. „Die
Chocks, mit denen seine Sorgen ihm zusetzten und die hundert Einfälle, mit
denen er sie parierte, bildet der dichtende Baudelaire in den Finten seiner
Prosodie nach. Die Arbeit, die Baudelaire seinen Gedichten zuwandte, un-
term Bild des Gefechts erkennen, heißt, sie als eine ununterbrochene Folge
kleinster Improvisationen begreifen lernen." (I 573) Die Produktion Baude-
laires ist also der Arbeit ähnlich, die dem revolutionären Historiker aufgege-
ben ist: den langen, endlosen Traum des 19. Jahrhunderts zum plötzlichen
Erwachen zu wenden und kontemplative Geistesabwesenheit umschlagen zu
lassen in geistesgegenwärtige Aktion.

Apologie und Kritik des Spiels


Das Hasardspiel ist eines der Rauschmittel des 19. Jahrhunderts. Im Konvolut
O, wo Notizen dazu gesammelt sind, wird zu bestimmen versucht, „was den
eigentlichen > Rausch < des Spielers ausmacht. Er beruht auf der Eigentüm-
lichkeit des Hasardspiels, die Geistesgegenwart dadurch zu provozieren, daß
es in rascher Folge Konstellationen zum Vorschein bringt, die - eine von der
andern ganz unabhängig - an eine jeweilen durchaus neue, originale Reaktion
des Spielenden appellieren. Dieser Sachverhalt schlägt sich in der Gewohnheit
der Spieler nieder, den Einsatz, wenn möglich, erst im letzten Moment zu
machen. Es ist das zugleich der Augenblick, in dem nur noch für ein rein
reflektorisches Verhalten Raum bleibt. Dieses reflektorische Verhalten des
Spielers schließt die > Deutung < des Zufalls aus. Der Spieler reagiert viel-
mehr auf den Zufall so wie das Knie auf den Hammer im Patellarreflex." (V
639) Die diskontinuierliche, in Schocks zersplitterte Wahrnehmung II wird
vom Spieler - wie vom revolutionären Historiker - absichtlich aufgesucht, weil
sie vor dem ,Deuten' bewahrt und zum unwillkürlichen ,Nutzen' zwingt.
Wie der an der Herstellung der Gegenwart beteiligte Historiker Sehergabe
braucht, ebenso muß auch der Spieler im voraus erspüren und wittern, was
128 IV. Der Spieler und die Politik

sogleich passieren wird, um auf die richtige Farbe, die richtige Nummer zu
setzen. Und es scheint den mit prophetischen Fähigkeiten ausgestatteten
Glücksspieler zu geben, dem auf wunderbare Art auf einmal alles gelingt, der
,eine glückliche Hand' hat und nicht mehr dem Zufall bloß willenlos ausge-
liefert ist, sondern selber etwas dazu beitragen kann. Nicht zufällig wird
wohl aus denselben Karten die Zukunft zu lesen versucht, mit denen man
auch spielt: „Waren die wahrsagenden Karten früher als die, mit denen
gespielt wurde? Sollte das Kartenspiel eine Deteriorierung der wahrsagenden
Technik darstellen? Die Zukunft vorherzuwissen ist ja auch im Kartenspiel
entscheidend." (V 640) Wobei es aber gerade nicht das abergläubische Lesen
von Vorzeichen ist, mit dem man sein Glück herbeiführen kann. Die knappe
Formel für das nützliche, nicht lähmende und betäubende Wissen vom Kom-
menden lautet: „Nur diejenige Zukunft wird vom Spieler pariert, die nicht als
solche in sein Bewußtsein drang" (V 639). Mit ihr läßt sich manches erklären.
So entstehe für den unglücklichen Spieler häufig der nachträgliche Eindruck,
er habe ,es' ja eigentlich gewußt, er hätte ,es' wissen können und müssen. Das
heißt aber nicht, daß der Erfolg momentan ganz nah und greifbar, sondern
im Gegenteil, daß er in der gegenwärtigen Verfassung gerade unerreichbar
ist. „Der Abergläubische wird auf Winke achten, der Spieler wird auf sie
reagieren noch ehe er sie beachten konnte. Einen Gewinncoup vorhergese-
hen aber nicht genutzt zu haben, wird der Unkundige dahin auffassen, daß er
> gut in Form < sei und daß er das nächste Mal nur beherzter und schneller
zu verfahren habe. In Wirklichkeit ist der Vorgang vielmehr Signal dafür, daß
der motorische Reflex nicht zustande kam, den der Zufall im glücklichen
Spieler auslöst. Nur wenn er nicht zustande kommt tritt nämlich > das
Kommende < als solches deutlich in das Bewußtsein ein." (V 639, cf. VI 189)
Und die sogenannte .Glückssträhne' beruht also auf „einer richtigen motori-
schen Disposition" (VI 190), die momentan gegeben ist.
„Die glückliche Hand. Eine Unterhaltung über das Spiel" ist eine anekdo-
tische Präsentation von Benjamins Spieltheorie. Worauf es beim Spielen
ankomme, wird da gefragt. „Weder auf das Spielkapital, noch auf die soge-
nannten Systeme, noch auf das Temperament des Spielers. Eher schon auf die
Temperamentlosigkeit" (IV 772), behauptet einer und erzählt von einer Spie-
lerin, die beim Spielen sofort melancholikerhaft in sich zusammensinkt, die
tatsächlich schläft und immer wieder geweckt werden muß, um die Karten
aufzudecken, mit denen sie unablässig gewinnt: „Den Seinigen gibt's der
Herr im Schlaf", bemerkt darauf jemand. (IV 773) Die gegenseitige Aus-
schließung von .Deuten' und .Nutzen' führt auch die folgende kleine Ge-
schichte vor: Zwei Freunde verlieren beim Spiel. Einer hat noch ein paar
Jetons übrig. Der andere sagt mehrmals die Gewinnzahl richtig voraus, ohne
daß der erste gesetzt hat. Schließlich vertraut dieser dem Hellsichtigen sein
letztes Vermögen an, der es prompt verliert.

„Merkwürdig!" sagte Fritjof. „Man sollte meinen, die Jetons in der Hand zu halten,
hätte ihn plötzlich um seine Sehergabe gebracht."
Apologie und Kritik des Spiels 129

„Sie können ebensogut sagen", erklärte der Däne, „seine Sehergabe hat ihn um den
Gewinn gebracht."
„Das ist ein windiges Paradox", warf ich ein.
„Keineswegs", war die Antwort. „Wenn es überhaupt so etwas wie einen glücklichen
Spieler, also einen telepathischen Mechanismus beim Spielenden gibt, so sitzt der im
Unbewußten. Das unbewußte Wissen ist es, das, wenn er erfolgreich spielt, sich in
Bewegungen umsetzt. Setzt es sich dagegen in das Bewußtsein um, so geht es für die
Innervation verloren. Unser Mann wird zwar das Richtige > denken < , aber er wird
falsch > handeln < . Er wird dastehen wie so viele Verlierer, die sich die Haare raufen
und rufen: > Ich hab's gewußt! < "
„Ein glücklicher Spieler operiert also Ihrer Meinung nach instinktiv? Wie ein Mensch
im Augenblick der Gefahr?"
„Das Spiel", bestätigte der Däne, „ist wirklich eine künstlich erzeugte Gefahr. Und
Spielen eine gewissermaßen blasphemische Probe auf unsere Geistesgegenwart. Denn
in der Gefahr verständigt der Körper sich mit den Dingen in der Tat über den Kopf
hinweg. Wenn wir gerettet aufatmen erst legen wir uns zurecht, was wir eigentlich
gemacht haben. Handelnd sind wir unserm Wissen vorausgewesen. Und das Spiel ist
eine verrufene Sache, weil es, was unser Organismus Feinstes und Präzisestes leistet,
auf gewißenlose Art provoziert." (IV 775f.)
Das Gespräch nimmt hier die Wendung zur Kritik des Spiels. Die mögliche
Rettung aus dem 19. Jahrhundert kann nur aus diesem kommen, und die
revolutionäre Aktion muß in geläufigen Verhaltensweisen vorgeformt sein,
die ,profan' noch die Not mit ausmachen, aus welcher sie - und das wäre ihre
nicht-profane Form - führen könnten. Der Vorwurf gegen das Spiel besteht
darin, daß es spielerisch und künstlich, ohne objektive Notlage den retten-
den geistesgegenwärtigen Reflex inszeniert, welcher für Benjamin, da die
Gefahrenkonstellation im größten Maßstab, weltgeschichtlich, besteht, eine
letzte Hoffnung ausmacht. Im Glücksspiel geht es im Rahmen privaten
Interesses um Geld, - wobei beides, die Privatexistenz wie das zufällig zu
gewinnende Geld, Phänomene des 19. Jahrhunderts sind. „Die Ächtung des
Spiels dürfte ihren tiefsten Grund darin haben, daß eine natürliche Gabe des
Menschen, die, den höchsten Gegenständen zugewandt, ihn über sich selbst
hinaushebt, einem der niedrigsten Gegenstände, dem Gelde zugewandt, den
Menschen selbst niederzieht. Die Gabe, um die es sich handelt ist: Geistesge-
genwart." (V 639)
Ein weiterer Kritikpunkt ist, daß der Spieler keinen echten „Wunsch"
habe, der ihm, wenn er gewinnt, in Erfüllung ginge. Das Verrufene, Verfemte
des Spiels wird in jenem Gespräch damit erklärt, daß in ihm kein Raum für
,Ferne' bleibt:
[...] „Ich behaupte, es macht einen großen Unterschied, ob ich einen Wunsch für eine
ferne Zukunft oder für den Augenblick hege. > Was man sich in der Jugend wünscht,
hat man im Alter in Fülle < heißt es bei Goethe. Je früher im Leben man einen
Wunsch tut, desto größere Aussicht hat er, erfüllt zu werden... Aber ich bin abge-
kommen."
„Vermutlich wollten Sie sagen", meinte Fritjof, „daß einer, der im Spiel setzt, auch
einen Wunsch tut."
130 IV. Der Spieler und die Politik

,Ja, aber einen, den der nächste Augenblick ihm erfüllen muß. Und das ist das
Verworfne daran."
„Ein sonderbarer Zusammenhang", sagte der Wirt, „in den sie das Spiel hineinstellen.
Und das Gegenstück zu der Elfenbeinkugel, die in ihr Fach rollt, wäre die Stern-
schnuppe, die in die Ferne stürzt und darum einen Wunsch freigibt."
,Ja - den rechten Wunsch, der in die Ferne gerichtet ist", sagte der Däne. (IV 774)

Zum „Wunsch" gehört Kontinuität und eine notwendige Ferne; es handelt


sich also um eine Kategorie der „Erfahrung", der Erfahrung I. „Über einige
Motive bei Baudelaire" gibt eine ganz ähnliche Darstellung der Zusammen-
hänge: „Der Spieler geht auf Gewinn aus, das ist einsichtig. Doch wird man
sein Bestreben, zu gewinnen und Geld zu machen, nicht einen Wunsch im
eigentlichen Sinne des Wortes nennen wollen. Vielleicht erfüllt ihn im Inne-
ren Gier, vielleicht eine finstere Entschlossenheit. Jedenfalls ist er in einer
Verfassung, in der er nicht viel Aufhebens von der Erfahrung machen kann.
Der Wunsch seinerseits gehört dagegen den Ordnungen der Erfahrung an.
> Was man sich in der Jugend wünscht, hat man im Alter in Fülle < , heißt
es bei Goethe. Je früher im Leben man einen Wunsch tut, desto größere
Aussicht hat er, erfüllt zu werden. Je weiter ein Wunsch in die Ferne der Zeit
ausgreift, desto mehr läßt sich für seine Erfüllung hoffen. Was aber in die
Ferne der Zeit zurückgeleitet, ist die Erfahrung, die sie erfüllt und gliedert.
Darum ist der erfüllte Wunsch die Krone, welche der Erfahrung beschieden
ist. In der Symbolik der Völker kann die Ferne des Raumes für die Ferne der
Zeiten eintreten; daher die Sternschnuppe, welche in die unendliche Ferne
des Raumes stürzt, zum Symbol des erfüllten Wunsches geworden ist. Die
Elfenbeinkugel, die da ins nächste Fach rollt, die nächste Karte, die da zu-
oberst liegt, sind der wahre Gegensatz zu der Sternschnuppe." (I 634f.)
Dauer und Plötzlichkeit schließen sich also nicht aus; erfordert es doch
auch eine schnelle Reaktion, seinen Wunsch zu tun, während die Stern-
schnuppe fällt. Der Wunsch greift über das ganze Leben aus, und blitzartig
fällt doch im Moment seiner Erfüllung die Gegenwart mit der Vergangenheit
zusammen: Das ergibt jene Bilder, Erinnerungsbilder, die ,das ganze Leben'
enthalten. In der Erfüllung des Wunsches, auch wenn er vergessen gegangen
wäre, besteht das Glück; denn dieses ist nur erinnerungsförmig zu denken
und als Wiederholung, die aber abschließt, nicht perpetuiert, als Erfüllung
der Gegenwart mit Vergangenheit. Im Passagenwerk wird der Einsatz auf
eine glücklich gewendete Gegenwart gemacht; die „Berliner Kindheit" gibt
dem revolutionären Vorhaben die Spannweite eines Lebens. „Länge des Le-
bens. Das Leben, so dürfte man sagen, ist eben lang genug, um den Wün-
schen der frühesten Jugend die Aussicht zu geben, erfüllt zu werden." (IV
1006)177 So wird das Spiel, als eine Art von Erinnerung, auch wieder in die
Erfahrung I zurückgeführt. Denn wenn in der schockförmigen Erfahrung II
eine im Ernstfall, welcher für Benjamin allerdings eingetreten ist, zu erpro-
bende Chance liegt, dann doch nur insofern, als die kontinuierliche Erfah-
rung I darin aufgehoben sein wird.
Dritter Teil

I. Mode und Revolution

Journal des Dames et des Modes (1798) Georges Lepape, Les Choses de Paul Poiret (1911)

Aktuelle, praktische, kollektive Erinnerung


Benjamins Hoffnung, daß die Passagenarbeit ein revolutionäres Unterfangen
wäre in einem politischen Sinn, ist, wie gesagt, unter den folgenden Bedin-
gungen nicht völlig unbegründet: wenn es Erinnerung gibt, die 1. aktuell, die
132 I. Mode und Revolution

2. praktisch und die 3. kollektiv ist. Nicht alle diese Bedingungen sind erfüllt
in der Flanerie, in der Sammlung und im Spiel. Zwar handelt es sich immer
um Erinnerung, die nicht als ausdrückliche Beschäftigung mit Vergangenem
und auch nicht als bloße Betrachtung vollzogen wird: Der Flaneur liest Orte,
wo er nie war, wie Stätten eigener Vergangenheit, der Sammler liest hand-
greiflich alte Dinge zusammen und bewahrt sie auf, und sogar der Spieler, der
die Spielsituation blitzschnell muß lesen können, würde sich dabei auch
erinnern, wenn der Gewinn die Erfüllung eines langgehegten Wunsches
wäre. Aber das Erinnerungssubjekt ist jedesmal ein Individuum. Daß sich
Benjamin trotzdem gerade auf diese Erinnerungsformen abstützt bei seinem
Projekt, das auch er im Rahmen seiner Privatexistenz in Angriff zu nehmen
hat, ist naheliegend. Denn die Erfüllung der dritten Bedingung liegt niemals
in der Macht eines einzelnen Individuums; dieses kann nur hoffen, daß es
zuletzt, so allein es für sich auch zu stehen scheint, doch ganz im Trend einer
Mode liegt. Und auch das genügt nicht: so ist Benjamin heute offensichtlich
Mode, und es wird doch niemand behaupten, daß damit schon der revolutio-
näre Anspruch seines Werks eingelöst sei. Vielmehr ist man geneigt, Bernd
Witte recht zu geben: „Das Erwachen aus dem kollektiven Traum des neun-
zehnten Jahrhunderts, das Benjamin in seiner > Passagenarbeit < bewerk-
stelligen will, erweist sich schließlich als Wunschbild eines einzelnen, der
vom kollektiven Subjekt der Geschichte alleingelassen wurde."178 Aber die
letzte Entscheidung darüber kann hier noch offenbleiben. Denn es ist zu
zeigen, daß die Zweideutigkeit der Mode im Passagenwerk keineswegs unter-
schlagen wird: Sie tritt als Revolution auf und ist vielleicht nur deren gründli-
che Verhinderung; und es könnte ebensogut auch umgekehrt sein.
Welche Stelle die Mode in Benjamins Erinnerungswerk einnimmt, ergibt
sich daraus, daß sie, ebenso wie die Architektur, die für die bisherige Darstel-
lung den Leitfaden abgegeben hat, alle drei genannten Bedingungen erfüllt.
Eine ausgearbeitete Theorie der Mode findet sich allerdings bei Benjamin
nicht.179 Belege dazu, die sich - nicht nur im Konvolut B, „Mode" - in Menge
anbieten, werden darum im folgenden noch gewaltsamer und spekulativer
zusammengestellt, als es bisher geschehen ist. Und das gefundene Konzept
wird damit nicht nur an einem weiteren, letzten Fall illustriert, sondern muß
sich nun zum Schluß bewähren, indem es über einen bloß angedeuteten
Motivkomplex Aufschluß gibt. - Die Mode erscheint im „Passagenwerk"
nach bekanntem Muster als ein Phänomen des 19. Jahrhunderts, obwohl sie -
wie Flanieren, Sammeln, Spielen oder wie Wohnen - nicht erst da auftritt.
Immer wieder wird die Mode, wie man es in vielen Kostümgeschichten
nachlesen kann, einfach als eine anthropologische Konstante aufgefaßt; aber
seit dem 19. Jahrhundert wurde in ihr immer wieder die Signatur der Mo-
derne erkannt, zuerst durch Baudelaire:180 So gesehen gibt es Mode in unse-
rem, im modernen Sinn vorher nicht; erst mit Markt und Industrie, mit
Reklame und Konsum kommt sie auf, und ihre Hauptstadt wird Paris.
Zur 1. Bedingung: Mode ist faszinierend, weil sie reine, auf die Spitze
getriebene Aktualität herstellt. Und das modische Verhalten ist zwar völlig
Aktuelle, praktische, kollektive Erinnerung 133

opportunistisch, kann aber niemals in bloßem Hinterherlaufen bestehen,


sondern muß höchste Aufgeschlossenheit, ,in'-Sein in einer Gegenwart sein,
die es tatsächlich niemals erst zu ,deuten', sondern immer sogleich zu p u t -
zen' gilt. Der Mode wirklich folgen, mit der Mode gehen kann nur, wer eine
Witterung für das Kommende und ein Flair dafür hat, was gerade eben Mode
werden wird. „Das brennendste Interesse der Mode liegt für den Philoso-
phen in ihren außerordentlichen Antizipationen." (V 112) Die Mode ist dabei
nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich - nämlich die Kleidung, vor
allem die Frauenkleidung, wo sie zuerst auffällt - zu beschränken, sie erweist
sich als ein Verhalten, das auch auf die ernsthaftesten kulturellen Bereiche,
auf Politik und Religion, ausgreift. Mit der Kunst könne es die Mode aufneh-
men; sie übertreffe jene sogar an prophetischer Kraft - insofern sie nämlich
auch die letzte Bedingung, ein Kollektiv-Subjekt zu haben, erfüllt: Zwar
„geht die Empfindlichkeit des einzelnen Künstlers für das Kommende be-
stimmt weit über die der großen Dame hinaus. Und dennoch ist die Mode in
weit konstanterem, weit präziserm Kontakt mit den kommenden Dingen
kraft der unvergleichlichen Witterung, die das weibliche Kollektiv für das
hat, was in der Zukunft bereitliegt. Jede Saison bringt in ihren neuesten
Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge.
Wer sie zu lesen verstünde, der wüßte im voraus nicht nur um neue Strömun-
gen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen."
(V 112) - Die Aktualität der Mode ist aber nichts als der Effekt einer Wieder-
holung. Zyklisch greift sie immer Vergangenes auf; das Noch-nicht-Dagewe-
sene, das sie präsentiert, war ausnahmslos bereits schon da und wird auch,
wie man sagt, ganz bestimmt wiederkommen, wenn man nur solange warten
wollte. Ihre absolute .Neuheit' und .nouveaute' ist bloß das Alte in einer
speziellen Erscheinungsform. Es handelt sich um Erinnerung, die aber offen-
sichtlich in keinem Sich-zurück-Versetzen besteht. Jede historistische Ein-
stellung liegt der Mode fern, und sie kennt kein Interesse an der Vergangen-
heit als solcher, nur das Interesse an der eigenen Gegenwart, für welche die
Vergangenheit respektlos verwendet wird. Diese Erinnerung ist das Gegen-
teil jeder „Einfühlung", jedes kontemplativen, müßig angestrengten Sich-
Einlassens auf etwas vorerst ganz fern, vielleicht sogar letztlich unerreichbar
fern Liegendes. Mode ist kein Annäherungsversuch, auch kein gelungener;
restlos ist Vergangenheit in ihr da und macht vollständig die Gegenwart
aus.
Zur 2. Bedingung: Mode ist eine Erinnerung, die nicht bewußt und will-
kürlich gesteuert, sondern zwanghaft mitgemacht wird, und zwar leibhaft-
physisch, im Verhalten und Tun. Der seit langem bemerkte, immer wieder
angeprangerte oberflächliche und zerstreute Charakter des Mode-Verhaltens
erscheint bei Benjamin in einem neuen Licht: Zerstreutheit ist nicht-kontem-
plative, aber leistungsfähige Wahrnehmung eigener Art. - Und zur 3. Bedin-
gung: Kein einzelnes Individuum vermag von sich aus modisch zu sein;
obwohl es zwar auffallen und sich abheben muß, darf es doch niemals
alleingelassen sein, wenn es sich nicht als unmodisch und lächerlich disquali-
134 I. Mode und Revolution

fizieren will. Was man heute unter Mode versteht, gibt es erst seit dem
Auftreten der Masse in der großen Metropole des 19. Jahrhunderts. Sie ist das
Subjekt dieser eigenartigen Wahrnehmung.

Revolutionsmode
Als Revolution' tritt die Mode anmaßend auf. Mit einem gewissen Recht
allerdings; denn hier scheint die Möglichkeit eines wirklichen neuen An-
fangs gegeben, der den kontinuierlichen Zeitverlauf unterbricht und über-
gangslos ein aus dem Vorhergehenden unableitbares, völlig verändertes
Jetzt' einsetzt. Die Mode ist das Modell einer unter den gegebenen kapitali-
stischen Verhältnissen, durch alltäglich gewohnte Verhaltensweisen realisier-
baren Revolution, - während sie allerdings mit all ihren aufsehenerregenden
.Umwälzungen' nur wieder wirkungsvoll dafür sorgt, daß alles beim alten
bleibt. Mode ist bekanntlich konservativ; sie mimt nur die Revolution:181
„Lebensbewegung der Mode: weniges ändern" (V 1032). Auch Benjamin
führt die lange Tradition der Polemik gegen die Mode fort und kritisiert sie
vernichtend, aber er setzt darauf, daß eine ernsthafte und wirkliche Revolu-
tion des 20. Jahrhunderts, die mit der bloß modischen des 19. aufräumen
würde, sich doch nicht anders als diese vollziehen könnte. Es gelte, „die
ungeheuren Spannungszustände des Kollektivs, die die Mode ausdrückt, der
Revolution dienstbar zu machen" (II 1031).
Mode hat mit Politik zu tun, aber wie? Nach einer beliebten, auch in den
Passagenwerk-Notizen berücksichtigten Theorie grenzt sich mit jeder Mode
eine obere Klasse solidarisch gegen eine untere Klasse ab, welche nach oben
drängend diese Mode übernimmt, was wiederum eine neue Mode nötig
macht.182 So würde die Mode der Herstellung von Machtverhältnissen die-
nen, und sie wäre zugleich der ständige vergebliche Versuch, diese umzustür-
zen. Aber die These des aristokratischen Ursprungs der Mode ist für das
bürgerliche Zeitalter nach der Französischen Revolution, wo die Dynamik
von Absatz und Produktion erst in Gang kommt, nur schwer aufrechtzuer-
halten.183 - Bei Benjamin wird etwas anderes wichtig: Bekanntlich ging die
Französische Revolution mit einer bestimmten Kleidermode, einer römi-
schen und ä la grecque-Mode zusammen. Friedrich Theodor Vischer wird
zitiert: „Es war > verrückt, daß die französische Mode der Revolutions- und
ersten Kaiserzeit mit modern geschnittenen und genähten Kleidern das grie-
chische Verhältnis nachahmte < " (V 115). Daß diese klassizistische Mode
kein Zufall, auch nicht nur eine sekundäre Begleiterscheinung der politi-
schen Vorgänge gewesen ist, sondern daß sich diese in ihr und durch sie
abspielten, bemerkt schon Marx. So weit stimmt Benjamin mit ihm überein,
und er wendet sich doch auf bezeichnende Weise gegen ihn. Diese Differenz
in der Auffassung der Revolution' bleibt aus taktischen Gründen allerdings
verborgen, und nur auf der Übereinstimmung wird insistiert. Aber man kann
Benjamins Marx-Lektüre an diesem Punkt genauer nachgehen.184
Revolutionsmode 135

„Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" (1852) gibt eine Darstel-
lung der jüngsten Revolution, der von 1848. Sie ist für Marx die letzte in einer
Reihe von Revolutionen, die alle im Rückgriff und als Rückgriff auf Vergan-
genes realisiert worden sind. Das sei ihr Mangel. Und sie müssen weit zu-
rückbleiben hinter einer noch ausstehenden wirklichen Revolution, die als
wirklich neuer Anfang von aller drückenden Vergangenheit befreien würde:
„Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne
der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die
Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen
Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Ver-
gangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparo-
le, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborg-
ten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich
Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789 - 1814 drapierte sich
abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum, und die
Revolution von 1848 wußte nichts Besseres zu tun, als hier 1789, dort die
revolutionäre Überlieferung von 1793 - 1795 zu parodieren."185
Das Revolutionäre „maskiert sich", „drapiert sich", das Kleid ist „ent-
lehnt" und die Sprache „erborgt". Damit wird insinuiert, das Alte, in dessen
Form das Neue auftritt, sei von diesem als etwas Äußerliches und Fremdes
ablösbar. Nur „Kostüm" ist das Kleid, die Sprache nur „Phrase": „Camille
Desmoulins, Danton, Robespierre, St. Just, Napoleon, die Heroen, wie die
Parteien und die Masse der alten französischen Revolution, vollbrachten in
dem römischen Kostüme und mit römischen Phrasen die Aufgabe ihrer Zeit,
die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichen Gesell-
schaft."186 Mit Theater-Metaphorik wird argumentiert: Die große Revolution
war eine pathetische historische „Tragödie", die von 1848, als Wiederholung
der Wiederholung nun völlig lächerlich, nur noch deren „Parodie" und eine
Farce.187 Allerdings habe die unheroische bürgerliche Gesellschaft dieser
heroischen Aufmachung bedurft, um sich zu etablieren.
Eine kommende Revolution soll ganz anders aussehen: „Die soziale Revo-
lution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergan-
genheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst
beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat.
Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinne-
rungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des
neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei
ihrem Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht
der Inhalt über die Phrase hinaus."188 Aber die von Marx verhöhnte „Totener-
weckung" in den Revolutionen kann auch - nach theologischem Muster - als
Chance aufgefasst werden. Eine ganz andere Möglichkeit revolutionären
Umgangs mit Vegangenem als die, daß man die Toten ihre Toten begraben
läßt, wird durch ein längeres Apollinaire zugeschriebenes Zitat im „Surrea-
lismus" geltend gemacht: „Tut Euch auf, Gräber, Ihr, Tote der Pinakotheken,
Leichname hinter spanischen Wänden, hier steht der fabelhafte Schlüsselbe-
136 I. Mode und Revolution

wahrer, der einen Bund mit Schlüsseln aller Zeiten in Händen hält, der weiß,
wie man auf die verschlagensten Schlösser zu drücken hat und der Euch
einlädt, mitten hinein in die Welt von heute zu treten, Euch unter die Lastträ-
ger, die Mechaniker zu mischen, die das Geld adelt, Euch häuslich in ihren
Automobilen niederzulassen, die schön sind wie Rüstungen aus der Ritter-
zeit, in den internationalen Schlafwagen Platz zu nehmen und Euch mit all
den Leuten zusammenzuschweißen, die heut noch stolz auf ihre Vorrechte
sind. Aber die Zivilisation wird kurzen Prozeß mit ihnen machen." (II 300)
Die Überblendung der modernen bürgerlichen mit vergangenen feudalen
Verhältnissen an dieser Stelle zeigt den Surrealismus als das revolutionäre
Projekt, das er bei aller seiner Verspielheit war; der Trick dabei sei die
„Auswechslung des historischen Blicks aufs Gewesene gegen den politi-
schen": Die Vergangenheit soll in die Gegenwart, diese verändernd-
erzeugend, einschlagen, und diese Revolution wäre nicht bloß durchaus
verträglich mit geschichtlicher Rückerinnerung, sondern bestünde darin.
Die Mode verfährt analog, wenn ihre jeweils aktuellste, ganz veränderte
Gegenwart immer nur durch eine Vergangenheit bestritten wird, die nicht
müßig und beliebig auszuwählen ist, sondern sich als das derzeit Fällige
überwältigend aufdrängt. Deswegen bedeutet es bei Benjamin keineswegs
einen Mangel der Französischen Revolution, daß zu ihr die klassizistische
Mode gehörte. Die XIV. These „Über den Begriff der Geschichte" lautet:
Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene
und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das
antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der
Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wieder-
gekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene
Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im
Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in
einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter
dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution
begriffen hat. (I 701)
Die Geschichtsthesen sind gegen den Faschismus, zugleich aber gegen jene
antifaschistische Bewegung gerichtet, die, an der Idee des .Fortschritts' und
eines kontinuierlichen Geschichtsverlaufs festhaltend, vor dem übermächti-
gen Gegner versagt: Das ist explizit die Sozialdemokratie, - wobei die Kritik
an ihr sicher auch kommunistische Vorstöße trifft.189 In einer komplizierten
Strategie beruft sich Benjamin auf Marx, indem er für „Phrase" und „Ko-
stüm" aber etwas ganz anderes, nämlich „Zitat" und „Mode" einsetzt. - Die
Mode .zitiert' immer: Nach Benjamins Zitat-Theorie ist das Zitat ein Bruch-
stück, und zitierend wird der Zusammenhang des alten fortlaufenden Textes
aufgebrochen, seine heillose Totalität zerstört. Im Zitat kommt der alte Text
auch nicht lediglich zum neuen noch hinzu, sondern macht ihn aus. Und er
gelangt dabei zu einer Aktualität, die er vielleicht niemals vorher hatte, auch
im Original nicht.
Die These schließt mit einer Kritik der Mode. Entsprechend der neuarti-
Die ewige Wiederkehr des Gleichen 137

gen Aufwertung, die sie bei Benjamin erfährt, daß nämlich die leichtfertige
und nur scheinhafte Mode-Revolution in einer anderen Dimension die ernst-
hafte und wirkliche sein könnte, besteht die Kritik lediglich im Argument,
daß sie noch nicht übersetzt sei in die Dimension der Geschichte. Der oft
zitierte „Tigersprung ins Vergangene" finde nur erst in einer „Arena" statt:
So sieht das in dem Bild aus, zu dem Benjamin die Bemerkung von Marx, die
Protagonisten der Französischen Revolution seien römische „Gladiatoren",
ausmalt.190 In diesem Bild, das in der „Berliner Kindheit" ein Abziehbildchen
ist - „der Tiger, der sich zum Sprunge auf den Jäger duckt, aus dessen Büchse
gerade Feuer kommt" (IV 280f.) -, ist wörtlich genommen der dialektische
Sprung'. Der Sprung des Tigers müsse nun aber noch im Freien passieren,
„unter dem freien Himmel der Geschichte". - Doch die Kritik der Mode ist
noch schärfer zu fassen. Indem Benjamin das Marxsche Revolutionsmodell
verdeckt angreift, verwirft er die Möglichkeit einer nicht erinnerungsförmi-
gen Revolution. Eine solche müßte nämlich gerade das, was sie vermeintlich
endgültig zurückgelassen hat, nur zwanghaft wiederholen: und das einleuch-
tendste Beispiel dafür ist - die Mode. Das Modische tritt als das umwälzend
Neue, das Allerneueste, das Nochniedagewesene auf, aber dies nur dank
einem vehementen Vergessen, dem das Vorhergehende sofort verfällt, indem
es als das ,Altmodische' auf einmal lächerlich, peinlich, indiskutabel wird.
Nur dieses Vergessen läßt das Wiederholte revolutionär neu erscheinen. So
ist die Mode nichts als ein hoffnungloses perpetuum mobile, in dem die
Neuerung der Beharrlichkeit als Mimikry dient und scheinbare Revolutio-
nen wirksamer als alle Fixierungen jede echte Umwälzung verhindern kön-
nen. Dieser Aspekt der Mode ist aber in Benjamins Darstellung durchaus
eingegangen; und es gilt nun dieses „Doppelspiel von Antithese und Ambiva-
lenz" zu exponieren, wie es Philippe Ivernel nennt: „Mehr als anderswo
gebärden sich in Paris die Moden wie Revolutionen, und es folgen die Revo-
lutionen einander wie Moden."191

Die ewige Wiederkehr des Gleichen - und das „Glück"


„Selbst radikale Revolutionen" in der Mode seien, so wird Egon Friedeil
zitiert, „nur die > ewige Wiederkunft des Gleichen < " (V 120). In der
Bewegung der Mode realisiert sich die mythische Zeit. Es ist eine zyklische,
nicht ablaufende, worin auch das ganz Neue nur das Uralte und Einmaligkeit
nur Wiederholung ist; und sie wird im 19. Jahrhundert gegen die lineare Zeit
des .Fortschritts' aufgeboten. Beide Modelle treten in Konkurrenz, und der
Mythos stellt weniger den Ausweg aus der kontinuierlich gedachten Ge-
schichte dar als vielmehr nur die komplementäre Ergänzung dazu. „Der
Gedanke der ewigen Wiederkehr kam auf als die Bourgeoisie der bevorste-
henden Entwicklung der von ihr ins Werk gesetzten Produktionsordnung
nicht mehr ins Auge zu blicken wagte." (V 175) Was den Historismus zu
widerlegen scheint, bleibt noch in ihm befangen: „In der Idee der ewigen
138 I. Mode und Revolution

Wiederkunft überschlägt der Historismus des 19ten Jahrhunderts sich


selbst. Ihr zufolge wird jede Überlieferung, auch die jüngste, zu der von
etwas, was sich schon in der unvordenklichen Nacht der Zeiten abgespielt
hat. Die Tradition nimmt damit den Charakter einer Phantasmagorie an,
in der die Urgeschichte in modernster Ausstaffierung über die Bretter
geht." (V 174)
Darum gehört die Lehre von der ,ewigen Wiederkehr', die Benjamin nicht
nur bei Nietzsche, auch bei Baudelaire und Blanqui, diesen großen Gegnern
des Fortschritts', findet, ganz ins 19. Jahrhundert hinein. „Der Glaube an
den Fortschritt, an eine unendliche Perfektibilität - eine unendliche Aufgabe
in der Moral - und die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr sind komple-
mentär. Es sind die unauflöslichen Antinomien, angesichts deren der dialek-
tische Begriff der historischen Zeit zu entwickeln ist. Ihm gegenüber er-
scheint die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr als eben der > platte
Rationalismus < als der der Fortschrittsglaube verrufen ist und dieser letz-
tere der mythischen Denkweise ebenso angehörend wie die Vorstellung von
der ewigen Wiederkehr." (V 178) Während jede der beiden Vorstellungen,
der Fortschritt' und die ,ewige Wiederkehr des Gleichen', die andere negiert
und so nur scheinbar von ihr befreit, ist nun ein Zeit- und Geschichtsbegriff
gesucht, der beiden gerecht werden und von beiden wirklich frei machen
kann. - Dieser dialektische Begriff heißt bei Benjamin oft das „Glück".
Faszinierend ist die mythische Erfahrung als eine Illusion von Glück, die
nicht um jeden Preis, sondern nur durch die Wirklichkeit dieses Glücks
zerstört werden soll. „Die ewige Wiederkunft ist ein Versuch, die beiden
antinomischen Prinzipien des Glücks mit einander zu verbinden: nämlich
das der Ewigkeit und das des: noch einmal. - Die Idee der ewigen Wieder-
kunft zaubert aus der Misere der Zeit die spekulative Idee (oder die Phantas-
magorie) des Glücks hervor." (I 682f., cf. V 175)
„Zum Bilde Prousts" gehört „das blinde, unsinnige und besessene Glücks-
verlangen in diesem Menschen." „Es gibt nun aber einen zwiefachen Glücks-
willen, eine Dialektik des Glücks. Eine hymnische und eine elegische
Glücksgestalt. Die eine: das Unerhörte, das Niedagewesene, der Gipfel der
Seligkeit. Die andere: das ewige Nocheinmal, die ewige Restauration des
ursprünglichen, ersten Glücks. Diese elegische Glücksidee, die man auch die
eleatische nennen könnte, ist es, die für Proust das Dasein in einen Bannwald
der Erinnerung verwandelt." (II 312f.) Auch wenn nun Prousts Glück von
der Art des elegischen ist, das wortspielerisch durch Veränderung eines Buch-
stabens - in Erinnerung an den berühmten Pfeil von Zeno, dem Eleaten, der
abgeschossen doch stillsteht192 - zum „eleatischen" wird: beide Momente
gehören zum dialektischen Glück. Dieses wird anderswo bezeichnet als der
„Widerstreit, in dem die Verzückung des Einmaligen, Neuen, noch Ungeleb-
ten mit jener Seligkeit des Nocheinmal, des Wiederhabens, des Gelebten
liegt" (VI 523). Das Glück muss erinnerungsförmig, eine Art von Wiederho-
lung, und doch auch einmalig sein. Davon handelt ein Stück im „Denkbild"
„Kurze Schatten":
Die ewige Wiederkehr des Gleichen 139

Einmal ist keinmal


Das hat die überraschendsten Evidenzen im Erotischen. Solange man um eine Frau
mit dem beständigen Zweifel an der Erhörung wirbt, kann die Erfüllung nur im
Zusammenhang dieser Zweifel, nämlich als Erlösung, Entscheidung kommen. Kaum
aber hat sie in dieser Form sich verwirklicht, so kann eine neue, unerträgliche Sehn-
sucht nach der nackten, bloßen Erfüllung an sich im Nu an ihre Stelle treten. Die erste
Erfüllung geht in der Erinnerung mehr oder weniger in der Entscheidung, also in
ihrer Funktion dem Zweifel gegenüber auf, sie wird abstrakt. So kann dies Einmal zu
keinem Mal, gemessen an der nackten absoluten Erfüllung werden. Umgekehrt, kann
sie sich aber auch erotisch als nackte absolute entwerten. So, wenn uns ein banales
Abenteuer in der Erinnerung allzu nahe auf den Leib gerückt, brutal und plötzlich
vorkommt und wir dies erste Mal annullieren und Keinmal nennen, weil wir die
Fluchtlinien der Erwartung suchen, um zu erfahren, wie die Frau als ihr Schnittpunkt
sich vor uns aufhebt. Im Don Juan, dem Glückskind der Liebe, ist es das Geheimnis,
wie er blitzhaft in all seinen Abenteuern Entscheidung und süßestes Werben zugleich
heraufführt, die Erwartung, im Rausche, nachholt und die Entscheidung, im Werben,
vorwegnimmt. Dies Ein-für-Allemal des Genusses, diese Verschränkung der Zeiten,
kann nur musikalisch zum Ausdruck kommen. Don Juan fordert Musik als Brennglas
der Liebe.193 (IV 369)

Weder genügt ein Glück, das sich nur als das Ende einer Erwartung, noch
auch eines, das sich völlig unerwartet realisiert. ,Einmal ist keinmal' gilt in
beiden Fällen: ob nun das Glück, langersehnt, in die kontinuierliche, auf
Ferne gegründete Erfahrung I eingeht, oder ob es in nächster Nähe „auf den
Leib gerückt", nur noch physisch parierbar, der abrupten Erfahrung II zu-
stößt. Beides muß verbunden sein, und Don Juans Begabung für das Glück
wird so erklärt, daß er imstande sei, die Erwartung noch im plötzlichen
Liebesakt nachzuholen, wie auch denselben, des Erfolges sicher, schon in der
Erwartung vorwegzunehmen.
Das „Ein-für-Allemal des Genusses" scheint die Erfüllung zu sein. Aber
der Titel „Einmal ist keinmal" kommt passenderweise in den „Denkbildern"
noch ein zweitesmal vor, und diesmal muß sich das ,Ein-für-Allemal' mit
dem ,Einmal ist keinmal' verbinden zum Glück. Vom Schreiben ist die Rede;
und es wird zu erklären versucht, warum eine einmalig gelungene Stelle die
Arbeit blockieren kann. „Im Grunde sind es zwei Parolen, die sich gegen-
übertreten: das Ein-für-allemal und das Einmal ist keinmal. Natürlich gibt es
Fälle, wo es mit dem Ein-für-allemal getan ist - beim Spiele, im Examen,
beim Duell. Nie aber bei der Arbeit. Sie setzt > Einmal ist keinmal < in
seine Rechte." (IV 433) Das Geheimnis des Glücks bleibt die „Verschränkung
der Zeiten" (IV 369). Das sei, mag man denken, eine Verschränkung der
beiden Zeitwahrnehmungen I und II, die zusammenkommen müssen in
einem lange und von fern erwarteten und zugleich schockartig treffenden
Glück. Ganz so erscheint die Differenz am Schluß der Hessel-Rezension:
„Erlebnis will das Einmalige und die Sensation, Erfahrung das Immerglei-
che" (III 198).
Aber die „Verschränkung der Zeiten" nimmt kompliziertere Formen an.
In einer Passage, die fast gleichlautend im Reproduktionsaufsatz wie in der
140 I. Mode und Revolution

„Kleinen Geschichte der Photographie" enthalten ist, wird das absehbare


Ende der Aura - im Anschluß an ihre Definition als „einmalige Erscheinung
einer Ferne, so nah sie sein mag" - so anvisiert: „Die Dinge sich > näherzu-
bringen < ist nämlich ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegen-
wärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen
jeder Gegebenheit durch deren Reproduzierbarkeit darstellt. Tagtäglich
macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus näch-
ster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion habhaft zu
werden. Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illu-
strierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde.
Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt, wie Flüchtigkeit
und Wiederholbarkeit in jenem. Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner
Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren
> Sinn für das Gleichartige in der Welt < (Joh V Jensen) so gewachsen ist,
daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt." (I
440, cf. I 479, II 378f.) Die „Verschränkung" ist also nicht nur die von I und
II, sondern kommt in jedem Modus zustande, auf jeweils verschiedene Art:
Die Verbindung des Einmaligen und des Immergleichen hat im Modus I die
Form ,Einmaligkeit und Dauer', im Modus II Flüchtigkeit und Wiederhol-
barkeit'. - Das Zitat „Sinn für das Gleichartige in der Welt" gibt hier eine
Formel ab für die Wahrnehmung IL Aber sie erweist sich - für Benjamin
selbst überraschend - auch als zutreffend für die Wahrnehmung im Rausch,
für die Ähnlichkeitserfahrung I. In „Haschisch in Marseille" wird gefragt,
worin denn das „Glück" des Rausches bestehe. „Ich finde glücklicherweise
auf meiner Zeitung den Satz: > Mit dem Löffel muß man das Gleiche aus der
Wirklichkeit schöpfen. < Mehrere Wochen vorher hatte ich einen anderen
von Johannes V. Jensen notiert, der scheinbar Ähnliches sagte: > Richard
war ein junger Mann, der Sinn für alles Gleichartige in der Welt hatte. <
Dieser Satz hatte mir sehr gefallen. Er ermöglicht mir jetzt, den politisch-ra-
tionalen Sinn, den er für mich besaß, mit dem individuell-magischen meiner
gestrigen Erfahrung zu konfrontieren. Während der Satz bei Jensen für mich
darauf hinauskam, daß die Dinge so sind, wie wir ja wissen, durchtechnisiert,
rationalisiert, und das Besondere steckt heute nur noch in Nuancen, war die
neue Einsicht durchaus anders. Ich sah nämlich nur Nuancen: Diese jedoch
waren gleich. Ich vertiefte mich in das Pflaster vor mir, das durch eine Art
Salbe, mit der ich gleichsam darüber hinfuhr, als eben dieses Selbe und
Nämliche auch das Pariser Pflaster sein konnte." (IV 414f., cf. VI 584f.) So
wird mit einigem Erstaunen bemerkt, daß beide Erfahrungsarten überein-
stimmen und daß das Muster der rauschhaften Erfahrung auch das der
ernüchternden ist.
Und nur auf diese abweisende Erfahrung II wird in der Hoffnung auf
wirkliches Glück nun gesetzt. Denn die mythische Erfahrung I - wie sie das
Kind etwa karusselfahrend macht: „Längst war die Wiederkehr aller Dinge
Kinderweisheit geworden" (IV 268) - hat zwar Glücksgestalt, weil sie jene
Verschränkung zu leisten scheint; die ewige Wiederkehr sei ja „ein Versuch,
Einmaligkeit 141

die beiden antinomischen Prinzipien des Glücks mit einander zu verbinden"


(I 682). Aber es bleibt beim Versuch, hergestellt wird nur die Phantasmagorie
des Glücks. Das,Glück' ist nämlich nach Benjamin gar keine Kategorie des
Mythischen. Die „ewige Wiederkunft des Gleichen" wird in „Goethes Wahl-
verwandtschaften" „das Zeichen des Schicksals" genannt (I 137). Und im
Aufsatz „Schicksal und Charakter" ist die Frage: „gibt es denn im Schicksal
eine Beziehung auf das Glück? Ist das Glück, so wie ohne Zweifel das
Unglück, eine konstitutive Kategorie für das Schicksal? Das Glück ist es
vielmehr, welches den Glücklichen aus der Verkettung der Schicksale und
aus dem Netz des eignen herauslöst" (II 174).194

Einmaligkeit
„Das träumende Kollektiv kennt keine Geschichte. Ihm fließt der Verlauf des
Geschehens als immer Nämliches und immer Neuestes dahin. Die Sensation
des Neuesten, Modernsten ist nämlich ebensosehr Traumform des Gesche-
hens wie die ewige Wiederkehr alles Gleichen." (V 678f.) Die Mode be-
schreibt die Figur des Mythos, - zwar auch die seines Endes, aber eben damit
seine Figur. Als unaufhörliche .Moderne' vollzieht sich die Phantasmagorie
des 19. Jahrhunderts, und eben das ist es, was sie so resistent gegen ihre
Zerstörung durch die Moderne macht. „Definition des > Modernen < als
das Neue im Zusammenhang des Immer schon Dagewesnen" (V 675): Jede
Epoche hat Anspruch darauf, sich ,modern' zu fühlen.195 Diese jederzeitige
Moderne hat die Form der Mode, die jedesmal ganz neu das Immerwieder-
gleiche, die immer wieder gleich das Ganzneue präsentiert. Der melancho-
lische Blick erkennt im Muster dieses Leerlaufs den Tod: „Es gibt für die
Menschen wie sie heute sind nur eine radikale Neuigkeit - und das ist immer
die gleiche: der Tod" (I 668); so sieht das existenzialistische piece de resi-
stance - das Heidegger durch „Jemeinigkeit" bestimmt hat196 - in dieser
historischen Perspektive aus. Die Mode unterhält die engsten Beziehungen
zum Tod.197 Sie ist endloses mythisches Geschehen, in welchem sich das
Glück niemals, höchstens als seine Unterbrechung einstellen kann. Dieses
Ende wäre revolutionär, eine plötzliche, vernichtende Sprengung der La-
dung, die in der Mode längst bereit liegt. Denn sie vollzieht sich schon
immerzu in der Form der Revolution, während sie sie immerzu ausschließt.
Fast nichts fehlt noch dazu, nur eine Nuance - und doch noch alles, und die
Mode ist, kaum unterscheidbar davon, das genaue Gegenteil der Revolution.
„Die Mode ist die ewige Wiederkehr des Neuen. - Gibt es trotzdem gerade in
der Mode Motive der Rettung?" (I 677)
Die ,dialektische' Methode der Erinnerung wird im „Passagenwerk" ein-
mal so gefaßt: „sie bringt den Sprengstoff, der im Gewesnen liegt (und dessen
eigentliche Figur die Mode ist) zur Entzündung. So an das Gewesene heran-
gehen, das heißt nicht wie bisher es auf historische sondern auf politische
142 I. Mode und Revolution

Art, in politischen Kategorien behandeln" (V 495). Der Unterschied zwi-


schen .historischem' und .politischem' Umgang mit Vergangenheit wird in
einer anderen Notiz durch eine Anekdote nahegebracht. „Der modische
Wechsel, das Ewig-Heutige entzieht sich der > historischen < Betrachtung,
indessen es wahrhaft überwunden nur von der politischen (theologischen)
wird. Die Politik erkennt an jeder aktualen Konstellation das Echt-Einmali-
ge, Niewiederkehrende. Für die modische Betrachtung, die aus der schlech-
ten Heutigkeit hervorgeht, ist die folgende Nachricht, die sich bei Benda:
> La trahison des clercs < findet, bezeichnend: Ein Deutscher berichtet, wie
sehr er erstaunt war, als er vierzehn Tage nach dem Bastille-Sturm in Paris an
der table d'höte saß und niemand von Politik sprach. Es ist nichts anderes,
wenn Anatole France dem alten Pilatus, der in Rom von den Zeiten seiner
Statthalterschaft plaudert und den Aufruhr des Königs der Juden streift, die
Worte in den Mund legt: > Wie hieß er doch? < " (V 674f.) Tatsächlicher
Anfang von Neuem ist nicht nur denkbar, sondern soll auch schon gesche-
hen sein, im Politischen als Revolution, im Theologischen als Erlösung: von
der Französischen Revolution und von Christus ist die Rede. Aber beides
könnte auch nichts als eine Mode-Erscheinung gewesen sein, die Sensation
eines schlechten Heutigen, das nur in der vehementen Negation des jeweils
Gestrigen besteht und gewonnen wird durch ein Vergessen, dem es auch
sogleich selbst verfällt, - nämlich in einer spezifischen, eben jener modi-
schen' Betrachtungsweise, welcher offensichtlich auch Politik oder Religion
ohne weiteres unterzogen werden kann. Der Wunsch nach wahrhaft Neuem
erscheint der Masse, dem Mode-Subjekt, nur als Sensationslust und Neugier-
de: „Das novarum rerum cupidus des Revolutionärs macht dieses Publikum
sich als Interesse für nouveautes verständlich" (V 1037). Umgekehrt kann
aber auch die Mode Gegenstand einer nicht ,modischen', sondern politi-
schen' und theologischen' Betrachtung sein, und diese wäre ihr angemesse-
ner, würde ihr besser gerecht in dem Sinn, daß sie dadurch „wahrhaft über-
wunden" wird.
Im angeführten Text wird noch mit einer weiteren, der „historischen"
Betrachtung gerechnet. Dieser hat die ,modische' Betrachtung der Vergan-
genheit immerhin das Entscheidende voraus, daß in ihr das Erinnerte nicht
auf eine respektvoll bemühte Aufmerksamkeit trifft, sondern mit dem bren-
nendsten und eigennützigsten Interesse ergriffen wird. So ist auch der politi-
schen' Betrachtung die Revolution und der theologischen' das Erlösungsge-
schehen nichts, was wie so vieles andere einmal passiert und nun vergangen
ist, sondern etwas, das die Gegenwart gestaltend betrifft und noch aktueller
ist als jedes Tagesgeschehen. Darum kann gegen die,historische' Betrachtung
die ,modische' aufgeboten werden. - Im 19. Jahrhundert beschleunigt sich,
von Gier nach Neuem angetrieben, das Lebenstempo: „An der Mode hat
dieses rätselhafte Sensationsbedürfnis sich von jeher befriedigt. Auf den
Grund aber wird ihm allein die theologische Untersuchung kommen, denn
es spricht daraus ein tiefes, affektives Verhalten des Menschen dem Ge-
schichtsablauf gegenüber" (V 114). Der unverächtliche Zauber der Mode
Einmaligkeit 143

liegt in ihrer glücksähnlichen Form, darin, daß sie Einmaligkeit bietet und
Wiederholung zugleich. Wie sie soll die Politik eine Erinnerung sein, in der
das Gegenwärtige restlos aus Vergangenem besteht, aber im Unterschied zu
ihr so, daß das Wiederkehrende nun wirklich einmalig ist und niewiederkeh-
rend. „Die Politik erkennt an jeder aktualen Konstellation das Echt-Einmali-
ge, Niewiederkehrende" (V 674f.): In dieser Erkenntnis würde der von sich
aus endlose, hoffnungslos repetitive Vorgang der Mode auf der Ebene der
Politik wiederholt, aber so, daß es das letzte Mal wäre. Der Mythos, vom
Wiederholungszwang gezeichnet, endet nur so, daß sich die Wiederholung
ein weiteres Mal und gerade nicht perpetuierend, sondern abbrechend voll-
zieht. (Und tatsächlich meinte Benjamin schon zu sehen, wie die Revolution
des 20. Jahrhunderts mit der Mode Schluß macht: „Stirbt die Mode vielleicht
- in Rußland z. B. - daran, daß sie das Tempo nicht mehr mitmachen kann -
auf gewissen Gebieten zumindest?" (V 120)) Die politische Betrachtung, oder
besser: die nicht-kontemplative politische Erfahrung des Vergangenen macht
es einmalig und damit vergangen. „Es ist das Eigenste der dialektischen
Erfahrung, den Schein des Immer-Gleichen, ja auch nur der Wiederholung
in der Geschichte zu zerstreuen. Die echte politische Erfahrung ist von
diesem Schein absolut frei." (V 591)
II. Dialektik, Zweideutigkeit

Das „dialektische Bild"


Den revolutionären Erinnerungsakt hat Benjamin immer wieder dargestellt
als „dialektisches Bild."198 Im folgenden wird über verschiedene einzelne
Momente, die dieser überdeterminierte Begriff enthält, eine kurze Annähe-
rung an ihn versucht, die aber so weit führt, daß eine tiefe, nicht mehr zu
bewältigende Ambivalenz von Benjamins Lektüre-Unterfangen erkennbar
wird. Es ist die Ambivalenz der Mode, die schon eine Revolution, und der
Revolution, die wieder nur eine Mode sein könnte.
Die Erinnerung ist ein ,Bild' - und kein Verlauf. Im Bild ist das Zeitkonti-
nuum zerstört und fixiert, stillgelegt und - in einer Erkenntnis - festgestellt:
Von „Dialektik im Stillstand" ist die Rede und von „Stillstellung". Der
Ablauf chronologischer Zeit wird unterbrochen dadurch, daß zwei entfernte
Momente, Vergangenes und Gegenwärtiges, bündig zusammenschießen -
eben zum Bild, das „blitzhaft", wie es oft heißt, erstarrt. Das Bild ist meta-
phorisch gedoppelt; Vergangenes und Gegenwärtiges überlagern sich derart
in ihm, daß das eine nur durch das andere wahrgenommen wird. Unablösbar
ist beides, ohne daß es aber zusammenfällt: Gesehen wird es in einer Wahr-
nehmung von „Ähnlichkeit". Im Bild ist die Differenz nicht ausgeschaltet
durch Identität, es enthält die Spannung des Gegensätzlichen. - Die Erinne-
rung im Bild ist Erkenntnis. Vergangenheit wird erkannt, nicht wie sie irgend
einmal gewesen sein mag, sondern wie sie nur jetzt in dieser Gegenwart zu
erkennen ist, welche wiederum nicht eine ist, die ohne diese Erkenntnis so
wäre, wie sie ist, sondern nur die Gegenwart dieses Erkennens ausmacht. Das
Bild bildet nichts ab; es ist die Form selbst der Erkenntnis und liefert ihr
nicht nur den Gegenstand. Das Damals wird als das erkannt, was nur gerade
jetzt so erkannt werden kann, und dieses Jetzt konstituiert sich als der
Moment, in dem jenes Damals zu erkennen ist. - Das Bild ist unwillkürliche
Erinnerung. Diese Erkenntnis kann ihren Gegenstand nicht müßig und be-
liebig auswählen, denn nicht irgendeine Vergangenheit kann erinnert werden
und erkannt, nur genau die, die jetzt fällig ist und wie auf diese Gegenwart
gemünzt, welche dadurch nicht irgendwie zusätzlich bereichert, sondern erst
gewonnen wird. In der Erkenntnis wird das „Jetzt der Erkennbarkeit" reali-
siert.
Die Not dieser Erkenntnis macht es aus, daß sie „Rettung" sein muß vor
einer Bedrohung, die sowohl Vergangenheit wie auch Gegenwart betrifft.
Denn auch Vergangenes hat entgegen landläufiger Meinung den Moment,
Das „dialektische Bild" 145

wo es endgültig verpaßt werden kann, noch nicht hinter sich. In jeder jeweili-
gen Gegenwart ist eine auf sie passende Vergangenheit wahrzunehmen wie
vorher und nachher vielleicht nie mehr, indem nämlich diese Gegenwart
wahrgenommen wird als die, in der jene Vergangenheit wahrnehmbar wird.
Dann gelangt aber die Vergangenheit im nachhinein zu einer Aktualität, die
sie vielleicht noch niemals hatte; von einer „Verdichtung (Integration) der
Wirklichkeit" ist die Rede, „in der alles Vergangene (zu seiner Zeit) einen
höheren Aktualitätsgrad als im Augenblick seines Existierens erhalten kann"
(V 495, 1026). Kommt die Erinnerung nicht zustande, dann erst schwindet
mit der Gegenwart eine Vergangenheit dahin, die nach historistischer Auffas-
sung schon längst unwiederbringlich dahingeschwunden ist, die aber jetzt an
der Zeit gewesen wäre und der Gegenwart nicht nur eine wichtige Kenntnis
gebracht, sondern sie als Gegenwart dieser Erkenntnis begründet hätte.
„Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder
Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkann-
te." (I 695)
Wie sieht ein dialektisches Bild aber aus? In einer ersten Bedeutung er-
scheint der Begriff im Expose „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts".
Die Moderne, heißt es dort, sei ein Hauptakzent der Dichtung Baudelaires.
„Aber immer zitiert gerade die Moderne die Urgeschichte. Hier geschieht
das durch die Zweideutigkeit, die den gesellschaftlichen Verhältnissen und
Erzeugnissen dieser Epoche eignet. Zweideutigkeit ist die bildliche Erschei-
nung der Dialektik, das Gesetz der Dialektik im Stillstand. Dieser Stillstand
ist Utopie und das dialektische Bild also Traumbild. Ein solches Bild stellt die
Ware schlechthin: als Fetisch. Ein solches Bild stellen die Passagen, die
sowohl Haus sind wie Straße. Ein solches Bild stellt die Hure, die Verkäufe-
rin und Ware in einem ist." (V 55) Das dialektische Bild habe also Traumge-
stalt. Aber zu dieser Bedeutung tritt unvermittelt eine andere: Das dialekti-
sche Bild hat, oder genauer: ist die Form des Erwachens. Es sei „der Moment
des Erwachens identisch mit dem > Jetzt der Erkennbarkeit < " (V 579), und
das dialektische Bild wird ja auch beschrieben als „das Bild im Jetzt der
Erkennbarkeit" (V 578), als „ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes
Bild" (V 591 f.). Diese zweite Bestimmung ist aber nicht nur eine Revision der
ersten; im Konzept ist nämlich angelegt, daß der Traum das Erwachen präfi-
guriert, daß das Erwachen den Traum wiederholt.
In seiner Kritik an jenem Expose von 1935 bemerkt Adorno, daß es diesem
dialektischen Bild' gerade an Dialektik fehle, und er sieht die Gefahr, daß
diese Auffassung „geradeswegs in ungebrochen mythisches Denken" führe
(B 675). Und er nimmt Anstoß an der „mythologisierenden oder archaisti-
schen Tendenz des Exposes" (B 679). Denn es ist wirklich der fatale Aspekt
des Konzepts, daß grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann, daß das
Erwachen, dieses Ende des Traums, welches ihn nur wiederhole wie auch er
nur präfiguriertes Erwachen sei, bloß die Fortsetzung des Traumes wäre. Und
daß eben die ,Dialektik', die die mythische Welt durch ihre Erkenntis spren-
gen soll, nichts anderes wäre als die .Zweideutigkeit', welche den Mythos
146 IL Dialektik, Zweideutigkeit

kennzeichnet. - Wohl wird es im Passagenwerk heißen: „Nur dialektische


Bilder sind echt geschichtliche, d. h. nicht archaische Bilder" (V 578, cf. 577).
Aber es heißt dort auch: „Im dialektischen Bild ist das Gewesne einer be-
stimmten Epoche doch immer zugleich das > Von-jeher-Gewesene < " (V
580). Das im dialektischen Bild Wahrgenommene ist also traumhaft urge-
schichtlich gemacht und archaisiert. Zwar geht es dann gleich so weiter: „Als
solches aber tritt es jeweils nur einer ganz bestimmten Epoche vor Augen: der
nämlich, in der die Menschheit, die Augen sich reibend, gerade dieses Traum-
bild als solches erkennt." (V 580) Aber wie unterscheidet sich denn jetzt noch
das Sehen des Traumbilds von seinem Erkennen, wie das Erwachen vom
Traum?
Der hauptsächliche Vorwurf Adornos gegenüber dem „Baudelaire" und
damit gegenüber der Passagenarbeit, auf welche Benjamin damit die Probe
machen wollte, besteht in der „Askese gegen die Deutung" (B 784). Die
Arbeit biete Empirie statt Theorie, reproduziere nur stofflichen, pragmati-
schen Gehalt, ohne ihn noch zu erhellen. Dieser Vorwurf scheint triftig;
wenn seither die Sekundärliteratur Benjamin vor Adornos schonungsloser
Kritik in Schutz nimmt, tut sie es - von Hannah Arendt bis zu Michael W.
Jennings199 - mit dem Argument, „staunende Darstellung der bloßen Faktizi-
tät" (B 786) bezeichne wohl karikierend Benjamins Verfahren, aber darin
bestehe eben seine Stärke. Nicht ganz so überzeugt fällt die Reaktion von
Benjamin aus: „Wenn Sie von einer > staunenden Darstellung der Faktizi-
tät < sprechen, so charakterisieren sie die echt philologische Haltung" (B
793), verteidigt er sich und versichert doch auch, „daß die Kritik an der
Haltung des Philologen bei mir ein altes Anliegen - und zuinnerst identisch
mit der am Mythos - ist" (B 795). Denn allerdings ist es seine Spekulation,
daß der Mythos nur von innen heraus überwunden werden kann und daß
also keine Theorie an die Empirie herangetragen werden darf und muß, um
sie zu sprengen, aber eben deswegen droht die Gefahr, daß das, was das Ende
des Mythos bedeuten sollte, nur seine Fortsetzung ist. Wenn Adornos Kritik
ihre eindringendste Spitze in einem Gedanken erreicht, der in der Form der
Zurücknahme einprägsam so formuliert wird: „Fürchten Sie nicht, ich
möchte etwa dem das Wort reden, daß in Ihrer Arbeit die Phantasmagorie
unvermittelt überlebe oder daß die Arbeit gar selber phantasmagorischen
Charakter annehme. Aber . . . „(B 784) - dann kann Benjamin diesen Vor-
wurf genau so wenig widerlegen, wie ihn Adorno wirklich erheben kann,
doch die Gefahr, in der die Passagenarbeit schwebt, ist benannt.
Der Widerspruch - auf den früh schon Christiaan Hart Nibbrig hingewie-
sen hat200 -, daß das dialektische Bild mythisch ist und als solches anti-
mythisch sein soll, ist durch terminologische Maßnahmen nicht zu beseiti-
gen. Wenn Winfried Menninghaus formuliert: „die schlechte' Zweideutig-
keit des Mythos bzw. der im Mythos verhafteten gesellschaftlichen Verhält-
nisse wird > gebannt < und > gesprengt < durch die produktive Zweideu-
tigkeit des dialektischen Bildes",201 dann schafft er eine Klarheit, die es im
Passagenwerk zuletzt nicht gibt; da gibt es nur eine „Zweideutigkeit", die
„Goethes Wahlverwandtschaften" 147

beides sein kann. Und Rolf Tiedemann wäre beizupflichten: „Dialektisches


Bild und Dialektik im Stillstand bilden fraglos die zentralen Kategorien des
Passagenwerks. Ihre Bedeutung jedoch blieb schillernd, sie gelangte zu kei-
ner terminologischen Konsistenz. Mindestens zwei Bedeutungen lassen sich
in Benjamins Texten unterscheiden, die einigermaßen unvermittelt bleiben,
jedenfalls nicht bruchlos zur Deckung zu bringen sind." (V 34)

„Goethes Wahlverwandtschaften"
Nach Benjamin kann nichts dem Mythos völlig angehören und versunken
sein in ihn, ohne auch den Ausweg zu enthalten aus ihm. Mitten in ihm ist
seine Überwindung angelegt. Die Passage - ein dialektisches Bild in seiner
nun bekannten Ambivalenz: ein architektonisches Rauschmittel des 19. Jahr-
hunderts, welches zugleich die Nüchternheit der Architektur des 20. Jahr-
hunderts präfiguriert - rückt darum ins Zentrum des Unternehmens, weil sie
die Figur des Mythos abgibt, im ausweglosesten Innern doch nichts als
Durchgang zu sein. An die „rites de passages" (V 617) erinnert Benjamin,
und entdeckt darin das Muster der mythischen Praxis, den Mythos mit
seinen eigenen Mitteln zu überwinden.202 Dasselbe Muster weist auch Benja-
mins oft angedeutete, doch nie ausgeführte Märchen-Theorie auf: Das Mär-
chen wiederholt die Erfahrung des Mythos, aber so, daß es die Befreiung von
ihm mit „List", nämlich aus ihm heraus inszeniert; und darum tut es heute
noch Kindern den Dienst, den es ,Primitiven' leistet: Es verrät in der bedin-
gungslosen Auslieferung ans Dämonische, wie dieses zu bannen ist.203 - Aber
wie nun das, was am tiefsten ins Mythische versunken scheint, ihm vielleicht
schon entgeht, so kann das, was aus ihm hinauszuführen scheint, noch tief
darin befangen bleiben: Letzteres ist die Pointe von Benjamins kritischer
Darstellung des Surrealismus. (Damit vermag er sich in seinem Unterfangen
von dem sehr ähnlichen, an das er anschließt, zwar abzusetzen, aber auch
seine eigenen Erfolgsaussichten werden drastisch verringert dadurch, - denn
warum sollte hier gelingen, was dort gescheitert ist?) Ersteres erweist Benja-
mins Interpretation von Goethes „Wahlverwandtschaften". Das soll nun der
folgende sehr verkürzte Durchgang duch diesen frühen Essay deutlich ma-
chen, wobei trotz großer Reduktion doch gerade die eklatantesten Wider-
sprüche zur Sprache kommen sollen.204

a.
Der Essay ist ,Jula Cohn gewidmet" (I 123), die - nach Bernd Witte - „zum
weiteren Umkreis der George-Schule gehörte und mit Gundolf freundschaft-
lich verbunden war."205 Sie wohnte eine Zeitlang bei Benjamin und seiner
Frau, deren Ehe eben damals in eine tiefe Krise geriet.206 In der „Berliner
Chronik" ist zu lesen, daß Jula Cohn „die eigentliche Schicksalsmitte" eines
Freundeskreises war; denn sie war „nie der Mittelpunkt von Menschen son-
148 IL Dialektik, Zweideutigkeit

dem, im strengen Sinne, wirklich der von Geschicken, als habe ihre pflan-
zenhafte Passivität und Trägheit diesen, die ja am meisten von allen menschli-
chen Dingen pflanzlichen Gesetzen zu unterliegen scheinen, sie zugeordnet"
(VI 493). Als naturverhaftet, pflanzenhaft passiv faßt Benjamin auch die
Gestalt der Ottilie auf, die in den „Wahlverwandtschaften" schicksalhafte
Verwirrung auslöst. Die Arbeit wurde offensichtlich „in einer menschlichen
Situation verfaßt", so Gershom Scholem, „welche der des Romans haargenau
entsprach."207 Daß die Wiederholung von Goethes Roman in der eigenen
Biographie der Anlaß für Benjamins Arbeit gewesen sein mag, das ist mehr
als ein interessantes Detail: In solcher Wiederholung nämlich triumphiert
der Mythos. Und der Leser Benjamin hat am eigenen Leib zu erfahren
gehabt, was „dämonisch" heißt in Goethes Sinn. „Denn die > ewige Wieder-
kunft alles Gleichen < , wie es vor dem innerlichst verschiednen Fühlen starr
sich durchsetzt, ist das Zeichen des Schicksals, mag es nun im Leben Vieler
sich gleichen oder in dem Einzelner sich wiederholen." (I 137) Mit seiner
Arbeit leistet Benjamin also jenen mythischen Zwängen Widerstand und
zollt ihnen Tribut, denen, wie es scheint, doch nichts entgeht.
Die Wahlverwandtschaften-Arbeit ist inzwischen der Klassiker einer
,dunklen' Goethe-Interpretation geworden. Benjamins Lektüre findet im
Roman die mythische Welt in ihrer Trostlosigkeit und Vollkommenheit dar-
gestellt. Und zwar nimmt sie auch noch das, was in anderen Interpretationen
ohne weiteres als die tröstliche Überwindung des Mythischen erscheinen
kann, vorerst - durchaus nicht zwanglos - in dessen Bereich zurück, um ihn
hoffnungslos zu erweitern und abzudichten. - So verstehen sich die Personen
des Romans als gebildet. Überhaupt nicht abergläubisch und unbeeindruckt
vom Überlieferten, erscheinen sie frei. „Wohin führt ihre Freiheit die Han-
delnden? Weit entfernt, neue Einsichten zu erschließen, macht sie sie blind
gegen dasjenige, was Wirkliches dem Gefürchteten einwohnt. Und dies da-
her, weil sie ihnen ungemäß ist. Nur die strenge Bindung an ein Ritual, die
Aberglaube einzig heißen darf, wo sie ihrem Zusammenhange entrissen rudi-
mentär überdauert, kann jenen Menschen Halt gegen die Natur versprechen,
in der sie leben. Geladen, wie nur mythische Natur es ist, mit übermenschli-
chen Kräften, tritt sie drohend ins Spiel." (I 132) Eben dadurch, daß die
Personen die ,Aufklärung' hinter sich haben, bleiben sie dem Mythos ausge-
liefert.
Diese Personen haben die Freiheit der „Wahl"; aber die „Wahl" sei, im
Gegensatz zur „Entscheidung", eine mythische Kategorie.208 Oder die Ehe,
deren Sittlichkeit doch im Roman durch die Figur Mittlers als ein notwendi-
ger Halt gegen die mythisch naturhaften Gewalten angepriesen wird, er-
scheint bei Benjamin nur als ihre Manifestation. Mittler wird disqualifiziert,
er stehe weit unter den ins Geschehen verstrickten Personen, die er ausschilt,
und seine Moral, die anderen Interpreten wie die tiefste Einsicht des Romans
vorkommen konnte, sei nichts als Geschwätz. Er will nämlich die Ehe auf das
„Recht" gründen, - „Recht" aber sei eine Kategorie des Mythischen.209 Oder
man könnte meinen, daß Ottilie den Wiederholungszwang des Schicksals
„Goethes Wahlverwandtschaften" 149

mit einer Erlösungstat unterbricht. Wenn für den Roman gilt: „Die Men-
schen selber müssen die Naturgewalt bekunden. Denn sie sind ihr nirgends
entwachsen" (I 133), so tritt doch ganz anders „die Gestalt der Ottilie"
hervor: „Scheint doch in dieser am sichtbarsten der Roman der mythischen
Welt zu entwachsen" (I 173). Aber Ottiliens Tod ist doch wiederum nur die
bekannte kultische Opferhandlung: Sühne durch den Tod eines Unschuldi-
gen. Die Kategorie der „Sühne" gehört dem Mythos an.210
Benjamin hat bei dieser Darstellung nicht nur die Sekundärliteratur, son-
dern auch Goethes eigene Zeugnisse gegen sich. Und doch knüpft er an
beides auf ungewöhnliche Weise an. Erstens beruft er sich auf das Zeugnis
solcher Leser der „Wahlverwandtschaften", deren tatsächliches Verständnis
sich nicht, wie man es gern erwartet, in der Form von Einverständnis äußert,
sondern als Befremdung und Unbehagen; und die gereizte Polemik, wie sie
von theologischer Seite laut wurde, bekommt Gewicht, weil sie am meisten
Gespür für das Bedrohliche im Roman beweist. Das grandiose Gedicht „Die
Wahlverwandtschaften" von Zacharias Werner, das Benjamin gefunden hat,
wird hier zum Hauptbeleg.211 Zweitens rechnet Benjamin mit einem verbor-
genen, irreführenden Verfahren Goethes. Nicht nur seien im Roman planvoll
und umsichtig verschiedene Vorkehrungen getroffen, damit dessen Gehalt
möglichst verdeckt bleibe. Auch Goethes Kommentare dazu dienten dem
Zweck, den Leser irrezuführen und ihn auf bekannte, harmlosere Bahnen
abzulenken. Man sollte nicht merken, wie tief Goethes Produktion im Banne
des Mythos steht.
Benjamins Interpretation erweist die Macht des Mythischen in diesem
Werk, wo es nur geht, - um sie, die sich in ihrer Leugnung erst recht
durchsetzt, vielleicht durch Anerkennung zu brechen. Der Mythos wird in
seiner Totalität bestärkt, doch nicht gepriesen. Zur Ausgangslage gehört
neben der biographischen auch die philosophisch-politische Situation: Der
Essay ist nämlich ganz und gar gegen das damals führende Reden über
Literatur, das des George-Kreises, gerichtet, im besonderen gegen Friedrich
Gundolfs großen „Goethe".212 In einer aufwendigen Kritik an Gundolf wird
eben ihm der Vorwurf gemacht, daß er das Mythische bei Goethe gefährlich
feiert und verhängnisvoll bestärkt. Die Heftigkeit von Benjamins Abwehr ist
der Nähe zu Gundolf proportional. Denn auch Benjamins Interpretation
zeigt den Mythos ausweglos und total, um aber nicht dabei zu beiben. Die
schwierige Frontstellung wird in einem Satz wie diesem genau markiert:
„Doch keine Denkart ist verhängnisvoller als die, welche selbst dasjenige,
was dem Mythos zu entwachsen begonnen, verwirrend in denselben zurück-
biegt" (I 163).

b.
Die Methode des Essays wird eingangs durch die berühmte Differenz von
„Wahrheitsgehalt" und „Sachgehalt" gewonnen. Beides sei, gerade in den
„dauernden" Werken, untrennbar aneinander gebunden, aber es trete ausein-
150 IL Dialektik, Zweideutigkeit

ander mit der „Dauer" eines Werks (I 125). Es kommt zu den bekannten
terminologischen Komplikationen der frühen Sprachtheorie. So sei „abzulei-
ten der Gehalt der Sache weder aus der Einsicht in ihren Bestand, noch durch
die Erkundung ihrer Bestimmung, noch selbst aus der Ahnung des Gehalts,
sondern erfaßbar allein in der philosophischen Erfahrung ihrer göttlichen
Prägung, evident allein der seligen Anschauung des göttlichen Namens.
Dergestalt fällt zuletzt die vollendete Einsicht in den Sachgehalt der bestän-
digen Dinge mit derjenigen in ihren Wahrheitsgehalt zusammen. Der Wahr-
heitsgehalt erweist sich als solcher des Sachgehalts. Dennoch ist ihre Unter-
scheidung [...] nicht müßig, sofern Unmittelbarkeit zu erstreben nirgends
verworrener als hier, wo das Studium der Sache und ihrer Bestimmung wie
die Ahnung ihres Gehalts einer jeden Erfahrung vorherzugehen haben" (I
128). Nur die Sprach-Erfahrung des ,Namens' kann die Einsicht in den
Sachgehalt sein, und dieser wäre ihr zugleich mit dem Wahrheitsgehalt gege-
ben. Alle Bemühungen - wie sogar die „Ahnung des Gehalts" - tragen
überhaupt nichts zu dieser Erfahrung bei - und müssen ihr dennoch vorher-
gehen. Wie im Trauerspielbuch wird die einzig echte Erfahrung, die auch hier
wieder „philosophische Anschauung" (I 127) heißt, abgelehnt. Und wie dort
besteht die Methode nun in dem Umweg, daß eine Unterscheidung gemacht
werden muß, die man gar nicht sollte machen können. - Ebenso wie im
Trauerspielbuch die defiziente Allegorie dem vollkommenen Symbol vorge-
zogen wird oder wie im Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers" behauptet
wird, ein Text werde durch seine Übersetzungen lesbarer als im Original, so
erscheint nun in „Goethes Wahlverwandtschaften" ein alter und veralteter
Text besser lesbar denn ein zeitgenössischer, weil mit der Zeit das Stoffliche
in ihm antiquiert und befremdlich wird und sich so erst als „Sachgehalt" von
einem „Wahrheitsgehalt" ablöst.
Beides wäre zur vollkommenen Deckung gelangt im ,Symbol'. „Das Sym-
bolische aber ist das, worin die unauflösliche und notwendige Bindung eines
Wahrheitsgehaltes an einen Sachgehalt erscheint." (I 152) Goethes zwang-
hafte Neigung oder Sucht, überall Symbolisches zu bemerken, die in der
Entdeckung der ,Urpflanze' kulminiert, erweise seine tiefe Verstrickung ins
Mythische. - Diese Verstrickung werde aber in Gundolfs Untersuchung
heillos. „Denn es ist ja in dem Buche Gundolfs versucht worden, als ein
mythisches das Leben Goethes darzustellen. Und diese Auffassung erfordert
die Beachtung nicht allein, weil Mythisches im Dasein dieses Mannes lebt,
erfordert sie gedoppelt vielmehr bei Betrachtung eines Werkes, auf das sie
seiner mythischen Momente wegen sich berufen könnte." (I 158) Bei Gun-
dolf soll „die Erscheinung des mythischen Heros" dadurch rekonstruierbar
sein, daß Leben, Wesen und Werk eine Einheit bilden: „Die kanonische Form
des mythischen Lebens ist eben das des Heros. In ihm ist das Pragmatische
zugleich symbolisch." (I 157) Die Georgesche Schule überhöht den Dichter
zum Schöpfer, der - wie man es Goethe nachgesagt hat - als sein größtes
Kunstwerk das eigene Leben schaffe, und zum Erlöser: „offenbar liegen
sollen Sachgehalt und Wahrheitsgehalt und wie im Heroenleben einander
„Goethes Wahlverwandtschaften" 151

entsprechen. Offenbar jedoch liegt der Sachgehalt des Lebens allein und sein
Wahrheitsgehalt ist verborgen" (I 161). (Und Benjamin bemerkt das Faschi-
stoide an der Auffassung eines symbolisch verfaßten Lebens, das im Zeichen
einer einzigen ,Aufgabe' und eines großen .Kampfes' steht. „Während aber
im Leben des Heros kraft dessen völliger symbolischer Erhelltheit das völlig
Gestaltete, dessen Gestalt der Kampf ist, sich darstellt, findet sich im Leben
des Dichters nicht nur eine eindeutige Aufgabe so wenig wie in irgend einem
menschlichen, sondern ebensowenig ein eindeutiger und klar erweisbarer
Kampf." (I 160)
So wie Gundolf den Roman verstehe, könne „es sich nicht um Dichtung,
sondern allein um deren Vorläufer, das magische Schrifttum handeln" (I
158). Die .magische' Spracherfahrung ist aus der frühen Sprachtheorie be-
kannt: Es ist unmittelbar die des .Symbols' statt der .Allegorie', des ,Namens'
statt des ,Begriffs', jene vollkommene, totale Sprache, bei welcher die Me-
thode ansetzt, um den langen Umweg in die andere, defiziente Sprache
hinein anzutreten. Gundolfs Untersuchung wird die „sprachliche Anma-
ßung" vorgehalten: „Ihre Begriffe sind Namen, ihre Urteile Formeln" (I 164),
nämlich magische Beschwörungsformeln. In der Totalität des Symbols
schließt sich die ausweglose Vollkommenheit mythischer Erfahrung zusam-
men. Diese ist schwer zu kritisieren, da ihr Wahrheit weder zu- noch abge-
sprochen werden kann; vielmehr habe der Mythos gar keine Beziehung auf
Wahrheit. „Nur die beharrliche Verfolgung seiner Methodik kommt gegen
die chimärische Natur dieses Werkes auf. Vergebene Mühe ohne diese Waffe
mit den Einzelheiten es aufzunehmen. Denn eine beinah undurchdringliche
Terminologie ist deren Panzer. Es erweist sich an ihr die für alle Erkenntnis
fundamentale Bedeutung im Verhältnis von Mythos und Wahrheit. Dieses
Verhältnis ist das der gegenseitigen Ausschließung. Es gibt keine Wahrheit,
denn es gibt keine Eindeutigkeit und also nicht einmal Irrtum im Mythos." (I
162) Wenn Gundolfs Interpretation betäubend und für die Erkenntis unzu-
gänglich jene letzte Untrennbarkeit von Sachgehalt und Wahrheitsgehalt
vorführt, so wird nun beides in Benjamins Gegenlektüre getrennt.
Was ist also der Sachgehalt von Goethes Roman? Nicht die Ehe, wie es
lange angenommen wird, - sondern das Mythische. „Nirgends ist zwar das
Mythische der höchste Sachgehalt, überall aber ein strenger Hinweis auf
diesen. Als solchen hat es Goethe zur Grundlage seines Romans gemacht.
Das Mythische ist der Sachgehalt dieses Buches: als ein mythisches Schatten-
spiel in Kostümen des Goetheschen Zeitalters erscheint sein Inhalt." (I 140f.)
Diese ausweichend formulierte Antwort ist verwirrend. Denn im Mythi-
schen sind doch Sachgehalt und Wahrheitsgehalt unablösbar dasselbe. Aber
eben diese Einheit soll nun der Sachgehalt sein - und somit etwas, dessen
Wahrheitsgehalt noch gefunden werden muß. Der Mythos, eine eigene, ge-
gen Erkenntis abgedichtete Erfahrungsform, soll erkannt und durch den
Logos gesprengt werden. Und man versteht nun die Gundolf-Kritik: „Wo
immer eine Einsicht in Goethes Leben und Werk in Frage steht, da kann - so
sichtbar Mythisches sich auch in ihnen bekunden mag - dies nicht den
152 IL Dialektik, Zweideutigkeit

Erkenntnisgrund bilden" (I 164). Denn die Wahrheit des Mythos liegt nicht
in ihm; er ,hat' selbst keine. Durch die Unterscheidung der Begriffe ,Sachge-
halt' und ,Wahrheitsgehalt' eröffnet sich erst der Spielraum für eine nicht-
mythische Erfahrung in dieser Geschlossenheit.

c.

Benjamin interpretiert also, in bedenklicher Übereinstimmung mit Gundolf,


die „Wahlverwandtschaften" als eine Darstellung der mythischen Welt in ihrer
bruchlosen Totalität, deren Grenze an keiner Stelle mehr überschritten werden
kann, weil höchstens die Vertiefung in den Mythos aus ihm heraus führen
wird.213 Die „bezeugende Kraft" von Goethes späten Werken, wird angestrengt
behauptet, „gilt nicht allein und nicht im tiefsten der mythischen Welt im
Dasein Goethes. Es ist in ihm ein Ringen um die Lösung aus deren Umklam-
merung und dieses Ringen nicht weniger als das Wesen jener Welt ist in dem
Goetheschen Romane bezeugt. In der Ungeheuern Grunderfahrung von den
mythischen Mächten, daß Versöhnung mit ihnen nicht zu gewinnen sei, es sei
denn durch die Stetigkeit des Opfers, hat sich Goethe gegen dieselben aufge-
worfen"; und diese Mächte, die Benjamin im Faschismus weiterhin erfährt,
sind so enorm, daß der Widerstand gegen sie nur eine Chance haben kann,
wenn er die Form der Unterwerfung annimmt: Es war „der ständig erneuerte,
in innerer Verzagtheit, doch mit eisernem Willen unternommene Versuch
seines Mannesalters, jenen mythischen Ordnungen überall da sich zu unterge-
ben, wo sie noch herrschen, ja an seinem Teil ihre Herrschaft zu festigen, wie
nur immer ein Diener der Machthaber dies tut" (I 164f.).
Die tiefste Verhaftung soll die Loslösung vom Mythischen sein. So steckt
mitten im ,Roman' die ,Novelle'. Dialektisch werden die beiden Begriffe
exponiert. - Die exemplarische Novelle, die „Musternovelle" (I 169) „Die
wunderlichen Nachbarskinder" ist ins Zentrum des Romans eingesetzt. Die-
ser war zuerst als Novelle konzipiert; und die Novellenform erhielt sich,
ohne die Romanform zu zerbrechen, nur sie veredelnd gleichsam.214 Der
wichtigste Unterschied beider Formen bestehe darin, daß der Roman die
Teilnahme und das Verständnis des Lesers gewinnt, die Novelle ihn aber
abweist und ihm unverständlich bleibt. „Denn wenn der Roman wie ein
Maelstrom den Leser unwiderstehlich in sein Inneres zieht, drängt die No-
velle auf den Abstand hin, drängt aus ihrem Zauberkreise jedweden Leben-
den hinaus. Darin sind die Wahlverwandtschaften trotz ihrer Breite novelli-
stisch geblieben." (I 168) Dem Schluß, daß dieser Roman verborgenerweise
novellistisch sei, dient auch das folgende seltsame Argument: Während der
Roman mythisch bezaubert und bannt, weist die Novelle ab und läßt frei,
indem sie Klarheit und Entschiedenheit schafft, - und weil die „Wahlver-
wandtschaften" sich klar und entschieden als romanhaft ausprägen, seien sie
eben dadurch novellistisch. „So sehr sich also in den Wahlverwandtschaften
die Form des Romans selbst betont, eben diese Betonung und dieses Über-
maß von Typus und Kontur verrät sie als novellistisch." (I 168)
Die Surrealismus-Kritik 153

Die Novelle spiegelt das Geschehen des Romans, welches abrollt in einem
immer wieder beschworenen „fahlen Licht". „Und doch waltet in dieser
Novelle das helle Licht. Alles steht, scharf umrissen, von Anfang an auf der
Spitze. Es ist der Tag der Entscheidung, der in den dämmerhaften Hades des
Romans hereinscheint." (I 169) Alles ist nur um eine entscheidende Nuance
verändert; Eindeutigkeit herrscht, wo mythisch Zweideutigkeit waltete. Die
Entscheidung' ersetzt, was ihr im mythischen Bereich entspricht, die ,Wahl'.
Meinen die Personen des Romans in ihrer Freiheit die Wahl zu haben, treffen
die der Novelle in der tiefsten Bedrohung und Not die erlösende Entschei-
dung. „In der Tat ist Freiheit so deutlich aus des Jünglings rettendem Ent-
schluß entfernt wie Schicksal. Das chimärische Freiheitsstreben ist es, das
über die Gestalten des Romans das Schicksal heraufbeschwört. Die Lieben-
den in der Novelle stehen jenseits von beiden und ihre mutige Entschließung
genügt, ein Schicksal zu zerreißen, das sich über ihnen ballen, und eine
Freiheit zu durchschauen, die sie in das Nichts der Wahl herabziehn wollte."
(I 170) Nur in der maximalen Immanenz ist Transzendenz zu gewinnen, und
in dem revolutionären Moment, wo das Schicksal abgewendet wird, schlägt
alles um: „den mythischen Motiven des Romans entsprechen jene der No-
velle als Motive der Erlösung" (I 171).
Die Loslösung vom Mythischen ist nur tiefste Verstrickung darein, und
umgekehrt: Daß das Argument in beiden Richtungen geht, macht die Lek-
türe des Essays so schwierig. So wird Ottilie, weil sie frei von mythischen
Zwängen erscheint, als ihnen gänzlich unterworfen gezeigt, aber gerade
deswegen löst sie sich doch auch wieder daraus; und ist erst einmal gezeigt,
daß sie bloßes Ritualopfer ist und keineswegs eine Erlöserfigur, kann sie
wieder die Züge einer solchen annehmen. So wird die Ehe, die wie eine
Befreiung vom Mythos erscheint, als heillos zu diesem geschlagen, aber eben
darum steckt in ihr auch die Möglichkeit einer Abwehr des Mythos, die nicht
von außen kommt.

Die Surrealismus-Kritik
Hat Benjamin in seiner „Wahlverwandtschaften"-Interpretation, die eine
Kritik am George-Kreis darstellt, darauf - wenn auch ohne diese Metapher
einzusetzen - insistiert, daß der Traumvorgang homolog dem Akt des Erwa-
chens sei, so macht er das Umgekehrte geltend in seiner Surrealismus- Kritik.
Auch diese erfolgt ohne jede Distanz. Von Nähe kann man da kaum noch
sprechen; das Unterfangen der Surrealisten, gerade wie es Benjamin darstellt,
scheint sich mit seinem zu decken. Daher die Dringlichkeit und Schwierig-
keit der Kritik: Es wird kein bloßer Vorwand sein, wenn Benjamin die endlos
lange Abfassungszeit seines Textes damit erklärt. Denn was er gegen den
Surrealismus vorbringen kann, um sich davon abzusetzen und Raum zu
schaffen für seine Passagenarbeit, das kann alles auch gegen diese verwendet
werden. „Um die Arbeit aus einer allzu ostentativen Nachbarschaft zum
154 IL Dialektik, Zweideutigkeit

mouvement surrealiste, die mir fatal werden könnte, so verständlich und so


gegründet sie ist, herauszuheben, habe ich sie in Gedanken immer mehr
erweitern und sie, in ihrem eigensten, winzigen Rahmen so universal machen
müssen, daß sie, schon rein zeitlich, und zwar mit allen Machtvollkommen-
heiten eines philosophischen Fortinbras die Erbschaft des Surrealismus antre-
ten wird. Mit anderen Worten: ich schiebe die Abfassungszeit der Sache ganz
gewaltig hinaus" (B 483).
Wenn Benjamin, in einem Brief an Hofmannsthal, im Surrealismus „am
Werk" sieht, „was auch mich beschäftigt" (B 446), nennt er besonders Ara-
gon. Daß sich im Zitatenfundus des „Passagenwerks" kaum etwas von die-
sem findet, spricht wohl für seine Präsenz, denn Benjamin berichtet Adorno
einmal von seiner Arbeit: „Da steht an ihrem Beginn Aragon - der Paysan de
Paris, von dem ich des abends im Bett nie mehr als zwei bis drei Seiten lesen
konnte, weil mein Herzklopfen dann so stark wurde, daß ich das Buch aus
der Hand legen mußte. Welche Warnung! Welcher Hinweis auf die Jahre und
Jahre, die zwischen mich und solche Lektüre gebracht werden mußten. Und
doch stammen die ersten Aufzeichnungen zu den Passagen aus jener Zeit." (B
662f.) Das „Und doch" erstaunt, denn was im Band V „Frühe Entwürfe"
heißt, ist weithin nicht mehr als eine Nachahmung des „Paysan de Paris", von
dem Benjamin auch ein Stück übersetzt hat:215 die flanierende Erinnerung
durch die Passage de l'Opera, in der sich die Surrealisten getroffen haben, um
hier, an diesem zwielichtigen, aus der Mode gekommenen, zur Gerümpel-
kammer verkommenen Ort aus dem hoffnungslos Vergangenen Kapital für
die Gegenwart zu schlagen.216 Aragon schrieb sein Buch 1924 angesichts des
bevorstehenden Abbruchs der Passage de l'Opera. Darum lautet ein Distan-
zierungsversuch in den „Frühen Entwürfen": „Auf diese Passage hält im
> Paysan de Paris < Aragon den bewegtesten Nachruf, der je von einem
Mann der Mutter seines Sohnes ist gehalten worden. Dort soll man ihn
nachlesen, hier aber nicht mehr als eine Physiologie, und, um es rund heraus
zu sagen, einen Sektionsbefund dieser geheimnisvollsten abgestorbensten
Partien der Hauptstadt Europas erwarten." (V 1057) Und mit aller Deutlich-
keit wird Aragon - der im Vorwort eine „mythologie moderne" entwirft -
noch an anderer Stelle so kritisiert: „Abgrenzung der Tendenz dieser Arbeit
gegen Aragon: Während Aragon im Traumbereiche beharrt, soll hier die
Konstellation des Erwachens gefunden werden. Während bei Aragon ein
impressionistisches Element bleibt - die > Mythologie < - und dieser Im-
pressionismus ist für die vielen gestaltlosen Philosopheme des Buches verant-
w ortlich zu machen - geht es hier um Auflösung der > Mythologie < in den
Geschichtsraum." (V 571) Benjamins Arbeit stelle „die philosophische Ver-
wertung des Surrealismus - und damit seine Aufhebung - dar" (BS 202). Die
Metaphorik der Abgrenzungsversuche überzeugt soweit: Die Differenz zum
Surrealismus liegt in der entscheidenden Nuance, daß dort der ,Traum' reali-
siert sei, hier das ,Erwachen'. Dort werde ein ,Nachruf gehalten, hier eine
,Sektion' durchgeführt, dort ein wichtiges Signal ,aufgefangen', hier
,dechiffriert'.217
Die Surrealismus-Kritik 155

Aber Benjamin macht sich die Sache nicht einfach. Er anerkennt nämlich
„die revolutionäre, materialistische Basis des Surrealismus" (V 493f.) und
bricht ihm keineswegs die progressive Spitze, wie es in seiner heutigen ver-
harmlosenden Rezeption oft geschieht. Es sei der Versuch gewesen, Dichtung
aufzulösen in Politik. „Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewin-
nen, darum kreist der Surrealismus in allen Büchern und Unternehmen" (II
307): Das muß auch das Programm der Passagenarbeit sein. Und wenn diese
darin bestehen soll, die repetitive mythische Erfahrung in einer letzten Wie-
derholung - und sei das in der Wiederholung des Surrealismus - in einmalig
geschichtliche zu überführen, so wird dabei nicht unterschlagen, daß der
Surrealismus genau dasselbe schon unternommen hat. Damit ist jede grund-
sätzliche Distanzierung unmöglich geworden. Und tatsächlich werden kon-
kret nur vereinzelte „störende Ausfallserscheinungen" (II 297), wie sie zahl-
los auch bei Benjamin vorkommen, bei den Surrealisten moniert.
In der „Berliner Chronik" wird von einem „Nachspiel der großen Schlaf-
feste" erzählt, „mit denen, ein paar Jahre früher, in Paris, die Surrealisten ihre
reaktionäre Laufbahn eröffneten" (VI 470). Aber nicht schon darum, weil sie
sich methodisch dem Schlaf ergaben, waren die Surrealisten reaktionär,
wenn doch einzig das zum Erwachen führen kann. Und auch sie suchten gar
nicht nur den Schlaf, sondern in ihm das Erwachen: „Das Leben schien nur
lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Schlaf und Wachen ist, in jedem
ausgetreten war, wie von Tritten massenhafter hin und wider flutender Bil-
der" (II 296). Und nicht um in den Rausch zu versinken, versenkten sie sich in
ihn. Die „Lockerung des Ich durch den Rausch ist eben zugleich die frucht-
bare, lebendige Erfahrung, die diese Menschen aus dem Bannkreis des Rau-
sches heraustreten ließ" (II 297). So muß der Surrealismus kritisiert werden,
ohne daß ihm ein Fehler vorgeworfen werden kann. Wenn Benjamin - nach
Rolf Tiedemann - beanstandet, „die Aragonsche Mythologie bleibe bloße
Mythologie, werde von der Vernunft nicht wiederum durchdrungen" (V 19),
dann kommt ihm derselbe Vorwurf in Adornos Kritik entgegen, ohne daß er
ihn abweisen kann. Die Kritik am Surrealismus ist die vorweggenommene an
der Passagenarbeit.
Es gibt ein Erwachen, das noch immer der Traum, und Einmaligkeit, die
nur die trostloseste Form von Wiederholung ist. Das ist die Figur der Mode.
„Die Mode ist die Vorgängerin, nein, die ewige Platzhalterin des Surrealis-
mus." (V 113) Nur seine „Vorgängerin" wäre die Mode gewesen, wenn der
Surrealismus revolutionär gewesen wäre in ihrer Aneignung, und nicht wie-
derum selbst nur modisch-,revolutionär'; so aber bleibt sie seine anscheinend
„ewige Platzhalterin". Und heute, wo Benjamins Werk, wie übrigens auch in
der Architektur die Passagen, durchaus Mode ist, scheint das Urteil über
dessen politische Wirkung schon fast gefällt. Aber der Funken Hoffnung in
der Mode bleibt: „Mode ist zündende, Erkenntnis erlöschende Intention." (V
1038) - Auch Benjamin hat das letzte Urteil nicht gesprochen, nicht einmal,
als er - nach Wittes Darstellung - in einer seiner allerletzten Arbeiten, im
französischen Expose „Paris, Capitale du XlXeme siecle" aus Blanquis von
156 IL Dialektik, Zweideutigkeit

ihm entdeckten späten Schrift „L'Eternite par les Astres"218, statt sie wie in
der deutschen Fassung noch gedanklich zu durchdringen, bloß noch zitiert
und damit dem trostlosen Gedanken der ewigen Wiederkehr, der sich dem
Revolutionär gerade aufdrängen muß, nachgibt.219 Denn obwohl es das „Er-
schütternde ist, daß diesem Entwurf jede Ironie fehlt" (B 742), steht an-
derswo doch auch diese verrückte Bemerkung dazu: „Zu > L'Eternite par les
astres < : Blanqui unterwirft sich der bürgerlichen Gesellschaft. Aber es ist
ein Kniefall von solcher Gewalt, daß ihr Thron darüber ins Wanken kommt."
(V 168) Durch kein Vermächtnis, kein Schlußwort ist die Ambivalenz auszu-
räumen, daß an derselben Stelle, wo hoffnungslos Wiederholung erscheint,
die Hoffnung auf Neuerung sich möglicherweise bereits erfüllt.

Charles Percier / Pierre-Francois-Leonard Fontaine, Palais Royal, Galerie d'Orleans (1829)


Abkürzungen
I - VII = Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von
Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiede-
mann und Hermann Schweppenhäuser, Bände I - VII, Frank-
furt/M. 1972 - 1989.

B= Walter Benjamin, Briefe, hg. von Theodor W. Adorno und Ger-


shom Scholem, Frankfurt/M. 1978.

BS = Walter Benjamin/Gershom Scholem, Briefwechsel 1933- 1940,


hg. von Gershom Scholem, Frankfurt/M. 1980.

(Hervorhebungen in Zitaten stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom


zitierten Autor. Anmerkungen in Zitaten werden aus darstellungstechni-
schen Gründen ohne Nachweis weggelassen.)

Anmerkungen

1
Die ganze programmatische Notiz lautet: „Die Rede vom Buch der Natur weist darauf hin,
daß man das Wirkliche wie einen Text lesen kann. So soll es hier mit der Wirklichkeit des 19.
Jahrhunderts gehalten werden. Wir schlagen das Buch des Geschehenen auf." (V 580) - So
bruchlos, wie es aussieht, fügt sich Benjamins Unterfangen in die lange Tradition der „Lesbar-
keit der Welt" (Hans Blumenberg) aber nicht ein: vgl. Josef Furnkäs, Surrealismus als Erkennt-
nis. Walter Benjamin - Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen, Stuttgart 1988, S. 203-
223.
2
Michel Espagne / Michael Werner, Vom Passagen-Projekt zum .Baudelaire'. Neue Handschrif-
ten zum Spätwerk Walter Benjamins, Deutsche Vierteljahrsschrift 58 (1984), Heft 4,
S. 594f.
3
Theodor W. Adorno, Über Walter Benjamin, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1970,
S. 26. Vgl. David Fnsby, Fragments of Modernity. Theories of Modernity in the Work of
Simmel, Kracauer and Benjamin, Cambridge 1985, S. 188.
4
Adorno, Über Walter Benjamin, S. 37.
5
Espagne / Werner, Vom Passagen-Projekt zum .Baudelaire', DVjS 58 (1984), S. 593-657;
Giorgio Agamben, Un importante ritrovamento di manoscritti di Walter Benjamin, Aut. . .
Aut... 189/90(1982), S. 4-6.
6
Vgl. Bernd Witte, Walter Benjamin, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 116-131.
7
Diese Bezeichnung verwenden Espagne und Werner; vgl. DVjS 58 (1984), S. 602.
8
Wenn man davon ausgeht, Benjamin habe vorgehabt, ein „Passagenwerk" in ähnlicher Weise
wie das Baudelaire-Buch aus dem überlieferten Material herzustellen, dann muß es als unre-
konstruierbar gelten. Weniger hoffnungslos erschiene die Situation allerdings durch die An-
nahme, das Baudelaire-Buch sei im Fortgang der Arbeit an die Stelle eines „Passagenwerks"
getreten. Espagne und Werner versuchen das nahezulegen; Susan Buck-Morss führt gewich-
tige Argumente dagegen an: Susan Buck-Morss, The Dialectics of Seeing. Walter Benjamin and
the Arcades Project, Cambridge / London 1989, S. 206-208. - Ganz entschieden hat Raimar
Stefan Zons die Passagenarbeit gegen die Werk-Auffassung in Schutz genommen: „Am
hilflosesten wäre es [. . .], das in Konvoluten von A-Z und a-r gesammelte organologisch als
,Werk' zu bezeichnen. Schlimmeres aber könnte man ihm gar nicht antun als ein solches
,Werk' zu rekonstruieren und es hermeneutisch in ein Benjaminsches Lebens-werk zu inte-
grieren. Vielleicht kommen wir heute der Sache der .Passagen' noch am nächsten, wenn wir
die Gefahr, der sich ihr Denken Aug' in Aug' mit dem feindlichen aussetzt, als aktuelle
begreifen" (Raimar Stefan Zons, Annäherung an die .Passagen', in: Passagen. Walter Benja-
mins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts, hg. von Norbert Bolz / Bernd Witte, München
1984, S. 68).
9
Buck-Morss, The Dialectics of Seeing, S. ix.
10
Ziel der Untersuchung ist also nicht die Herausarbeitung eines Systems. Was Benjamin in der
Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" ausführt: daß die
Romantiker zwar ein System nicht hatten, aber „daß ihr Denken sich auf systematische Gedan-
kengänge beziehen läßt, daß es in der Tat in ein richtig gewähltes Koordinatensystem sich
eintragen läßt, gleichviel, ob die Romantiker selbst dieses System vollständig angegeben haben
oder nicht" (1,41), das ist wohl auch auf seine Texte anzuwenden. Nur wird jedes Koordinaten-
system durch das, was darein eingetragen werden soll, auch in Frage gestellt. - Dem hat Susan
Buck-Morss Rechnung getragen, indem sie verschiedene Koordinatensysteme nebeneinander
probiert (vgl. ihren Einsatz der Stelle: Buck-Morss, The Dialectics of Seeing, S. 212f., mit dem
160 Anmerkungen

von Michael Makropoulos, Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? Walter Benjamins


Theorie der Moderne, München 1989, S. 19f.). - Buck-Morss, The Dialectics of Seeing, S. 66: „all
the categories in Benjamin's theoretical constructions have more than one meaning and value,
making it possible for them to enter into various conceptual constellations."
11
Vgl. Jacques Derrida, La mythologie blanche - la metaphore dans le text philosophique, in:
Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 247-324; Paul de Man, The Epistemology of
Metaphor, Critical Inquiry 5 (1978), S. 12-30. - Damit ist die Debatte darüber, ob Benjamin
ein Philosoph war oder ein Dichter (vgl. Gershom Scholem, Walter Benjamin [1964], in:
Scholem, Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, hg. von
Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1983, S 18; Hannah Arendt, Benjamin, Brecht. Zwei Essays,
München 1971, S. 17ff.), in eine neue Phase getreten (vgl. Buck-Morss, The Dialectics of
Seeing, S. 222ff.).
12
Richard Wolin, Walter Benjamin. An Aesthetic of Redemption, New York 1982, S. 107.
13
Vorbildlich für dieses Verfahren sind Arbeiten wie: Werner Hamacher, The Word „Wolke" - If
It Is One, in: Benjamin's Ground. New Readings of Walter Benjamin, ed. by Rainer Nagele,
Detroit 1988, S. 147-176; Christiaan L. Hart Nibbrig, Negation als Anstoß, in: Hart Nibbrig,
Ja und Nein. Studien zur Konstitution von Wertgefügen in Texten, Frankfurt/M. 1974, S.
171-186; Carol Jacobs, Walter Benjamin. Image of Proust, in: Jacobs, The Dissimulating
Harmony. The Image of Interpretation in Nietzsche, Rilke, Artaud, and Benjamin. Baltimore
/ London 1978, S. 87-110; Winfried Menninghaus, Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage
des Mvthos, Frankfurt/M. 1986; Samuel Weber, Lecture de Benjamin, Critique (Aoüt /
Septembre 1969), Vol. XXV, No. 267/268, S. 699-712.
14
Rolf Tiedemann in der „Einleitung des Herausgebers", V 13f.
15
Diese Linie der Benjamin-Rezeption hat bisher vielleicht weiter geführt als die wis-
senschaftliche Sekundärliteratur; die wichtigsten deutschsprachigen Arbeiten stammen von
Wolfgang Schivelbusch, Stefan Oettermann und Christoph Asendorf (s. Literaturverzeichnis).
16
Die ,Dekonstruktion' genannte Lektüre hat diese Differenz - zugleich mit der Unmöglich-
keit, sie zu umgehen - wahrnehmen gelehrt; vgl. Jacques Derrida, De la Grammatologie, Paris
1967.
17
Das Ziel der nun folgenden Interpretation ist eine Exposition von Benjamins Sprach- und
Lektüretheorie. Wichtige Teile, wie Benjamins Stellungnahme in der damals aktuellen tragö-
dientheoretischen Debatte, bleiben unberücksichtigt. Auch wird die Frage, wie zutreffend
Benjamins Auffassung des deutschen Dramas des 17. Jahrhunderts sei, hier nicht gestellt.
18
I 390. Zur Verklammerung von Vorrede und Schluß vgl. B 366, 372.
19
Vgl. Jean-Pierre Schobinger, Variationen zu Walter Benjamins Sprachmeditationen, Basel /
Stuttgart 1979, S. 83-119: „Historisierende Beilagen", eine Sammlung wichtiger Quellentexte;
Reiner Dieckhoff, Mythos und Moderne. Über die verborgene Mystik in den Schriften Walter
Benjamins, Köln 1987.
20
„Vernunft ist Sprache, logos. An diesem Markknochen nage ich und werde mich zu Tode
darüber nagen. Noch bleibt es immer finster über dieser Tiefe für mich; ich warte noch auf
einen apokalyptischen Engel mit einem Schlüssel zu diesem Abgrund." Zitiert nach der
Darstellung, auf die sich Benjamin stützt: Rudolf Unger, Hamanns Sprachtheorie im Zusam-
menhange seines Denkens. Grundlegung zu einer Würdigung der geistesgeschichtlichen
Stellung des Magus im Norden, München 1905, S. 238.
21
Zu dieser „Vorrede" vgl. besonders: Fred Lonker, Benjamins Darstellungstheorie. Zur .Er-
kenntniskritischen Vorrede' zum .Ursprung des deutschen Trauerspiels', in: Urszenen, hg.
von Friedrich A. Kittler / Horst Turk, Frankfun/M. 1977, S. 293-322; Jochen Horisch, Objek-
tive Interpretation des schönen Scheins, in: Walter Benjamin. Profane Erleuchtung und
rettende Kritik, hg. von Norbert W. Bolz und Richard Faber, Würzburg 1985, S. 30-66.
22
Die Nähe des Trauerspielbuchs („Entworfen 1916 Verfaßt 1925", erschienen 1928) zu Heideg-
gers „Sein und Zeit" (abgeschlossen 1926, erschienen 1927) ist unübersehbar. Benjamin hat
Heideggers Arbeit von früh an, seit dem „Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft" (vgl. B
129f.) und der „Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus" (vgl. B 246, 252), kritisch
verfolgt, und er spricht spät noch von seinem Plan, „den Heidegger zu zertrümmern" (B 514;
vgl. B 506, 524, V 577).
Anmerkungen 161
23
Roland Kany, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum
Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987, S. 201: „Der
Satz ist falsch, weil er sich selbst aufhebt." Daß Kany auf dem paradoxen Charakter dieser
Stelle insistiert, führt wohl weiter als das rasche Einverständnis, gegen das er polemisch
angeht. Nach ihm spricht zuletzt aus dem Trauerspielbuch „der melancholische Intellektuel-
le, der sein eigenes Denkverfahren der Geschichtsschreibung zuletzt als Tiefsinn ohne Boden
verdammt und doch seine Identität aus dem Beschreiben und Analysieren eben dieser Boden-
losigkeit bezieht" (S. 213). Und das soll hier keineswegs bestritten werden.
24
Gemeint ist der Aufsatz „Schicksal und Charakter" (II 171-179). Die Unterscheidung Schicksal
vs. Charakter hat Benjamin dabei von Hofmannsthal selbst, aus dessen Aufsatz „Über Charaktere
im Roman und Drama" (1902), übernommen (nach: Bernd Witte, Walter Benjamin - Der
Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart 1976, S. 47).
25
Vgl. Johann Georg Hamann: „Die Wahrheit muß aus der Erde ausgegraben werden und nicht
aus der Luft geschöpft, aus Kunstwörtern - sondern aus irdischen und unterirdischen Gegen-
ständen erst ans Licht gebracht werden durch Gleichnisse und Parabeln der höchsten Ideen
und transzendenten Ahndungen - " (zit. nach Unger, Hamanns Sprachtheorie im Zusammen-
hange seines Denkens, S. 105).
26
Samuel Weber, Lecture de Benjamin, Critique XXV, 267-268 (1969), S. 699-712.
27
Zu dieser Schelling-Stelle: Wolf Lepentes, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 2 1981,
S. 109f.
28
Das scheint einleuchtend, aber man kann dem auch mit gutem Grund widersprechen: vgl.
Krista R. Greffrath, Metaphorischer Materialismus. Untersuchungen zum Geschichtsbegriff
Walter Benjamins, München 1981, S. 120.
29
„Willkür und Gewaltsamkeit eines Verfahrens, das sich nicht scheut, in die gegebenen Zusam-
manhänge destruktiv-zerstückelnd einzugreifen, stehen für Benjamin offenbar nicht in Wi-
derspruch zu den Prämissen einer zarten Empirie [. . .]" (Heinrich Kaulen, Rettung und
Destruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik Walter Benjamins. Tübingen 1987, S. 109.) -
Wenn man mit Blumenberg zwei Linien in der Tradition der .Wahrheit' unterscheiden kann:
auf der einen ist die Wahrheit mächtig, selbsttätig, und der Erkennende muß sie sich geben
lassen, auf der anderen muß er sich ihrer aggressiv, mit technischen Mitteln bemächtigen, -
dann sieht man bei Benjamin beide Linien zusammentreffen. Vgl. Hans Blumenberg, Paradig-
men zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, S. 13-37.
30
Vgl. Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und frühen 19.
Jahrhundert, hg. von Bengt Algot Sörensen, Frankfurt/M. 1972; dazu: Hans-Georg Gadamer,
Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, S.
66-77.
51
Vgl. R. Kirchhoff, .Ausdruck', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, hg. von
Joachim Ritter, Basel 1971, S. 653-662.
32
Vgl. Erwin Panowsky / Fritz Saxl, Dürers .Melencolia I'. Eine quellen- und typengeschichtli-
che Untersuchung, Leipzig / Berlin 1923 (vgl. B 366: .Jetzt nach Beendigung der Rohschrift,
fällt mir ein kapitales Buch in die Hände [. . .]"); jetzt neu und erweitert vorgelegt: Raymond
Klibansky / Erwin Panowsky / Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der
Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt/M. 1990. - Zur
Theorie und Geschichte der Melancholie weiterführend: Tradition de la Melancolie, le debat
29 (Mars 1963), S. 410-423; Jean Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den
Anfängen bis 1900, Basel 1960 (Documenta Geigy. Acta psychosomatica; 4); ders., L'Encre de
la Melancolie, La Nouvelle Revue Francaise 123 (Mars 1963), S. 410-423; dazu die Bibliogra-
phie bei Lepemes, Melancholie und Gesellschaft, S. 304-337.
33
Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, in: Freud, Psychologie des Unbewußten, Studien-
ausgabe Bd. 3, Frankfun/M. 1975, S. 193-212.
34
Die Affinität zu den „Dingen" und zur „Dingwelt" zeichnet nach Benjamin nicht nur
wichtige fremde literarische Unternehmungen, wie Proust oder den Surrealismus, sondern
vor allem auch seine eigene aus: vgl. II 299; II 321; VI 490.
35
Fast satirisch formuliert, „folgt der versunkenen Anteilnahme des Kranken am Vereinzelten
und Geringen jenes enttäuschte Fallenlassen des entleerten Emblems, dessen Rhythmik ein
162 Anmerkungen

spekulativ veranlagter Beobachter im Gehaben der Affen vielsagend wiederholt finden könn-
te" (I 361). (Das ist auch ein Kommentar zu jenem beliebtesten Klischee aller ,Erinnerungen
an Benjamin', daß er - ein wahrhaft spekulativ veranlagter Beobachter - imstande gewesen
sei, auch das Kleinste zum Gegenstand seines Philosophierens zu machen.)
36
Vgl. Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt/M. 1974.
37
Vgl. I 344.
38
Klaus Garber, Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin, Tübingen 1987, S.
96. - Die Terminologie übernimmt Benjamin nicht zuletzt auch von Carl Schmitt, Politische
Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München / Leipzig 1922 (z. B. S. 44:
„Zu dem Gottesbegriff des 17. und 18. Jahrhunderts gehört die Transzendenz Gottes gegen-
über der Welt, wie eine Transzendenz des Souveräns gegenüber dem Staat zu ihrer Staatsphilo-
sophie gehört. Im 19. Jahrhundert wird in immer weiterer Ausdehnung alles von Immanenz-
vorstellungen beherrscht.")
39
Vgl. dazu: Irving Wohlfarth, .Immer radikal, niemals konsequent'. Zur theologisch-politi-
schen Standortsbestimmung Walter Benjamins, in: Antike und Moderne. Zu Walter Benja-
mins .Passagen', hg. von Norbert W. Bolz / Richard Faber, Würzburg 1986, S. 116-137; Jürgen
Ebach, Der Blick des Engels. Für eine ,Benjaminische' Lektüre der hebräischen Bibel, in:
Walter Benjamin. Profane Erleuchtung und rettende Kritik, hg. von Bolz / Faber, S. 67-
101.
40
Vgl. II 946f.
41
Vgl. I 271f., 349ff.
42
Vgl. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frank-
furt/M. 1979. Zum Einsatz der Metapher bei Benjamin vgl. Kaulen, Rettung und Destruktion,
S. 134f.
43
Vgl. I 886f.; dazu: Michael Rumpf, Radikale Theologie. Benjamins Beziehung zu Carl
Schmitt, in: Walter Benjamin - Zeitgenosse der Moderne, hg. von Peter Gebhardt u. a.,
Kronberg/Ts. 1976, S. 37-50; Michael Makropoulos, Modernität als ontologischer Ausnahme-
zustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne, München 1989, S. 34-41; zusammenfas-
send: Garber, Rezeption und Rettung, S. 9lf.
44
Im Aufsatz „Die Idee der Naturgeschichte" liest Adorno diese Passage als Antwort auf eine
Stelle in Lukäcs' „Theorie des Romans". Es geht dort um die „zweite Natur", die sinnentleer-
te, Konvention gewordene Welt: „Diese Natur ist nicht stumm, sinnfällig und sinnesfremd,
wie die erste: sie ist ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erwecken-
der Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten und wäre deshalb -
wenn dies möglich wäre - nur durch den metaphysischen Akt einer Wiedererweckung des
Seelischen [. . .] erweckbar, nie aber von einer anderen Innerlichkeit belebbar" (Georg Lukäcs,
Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen
Epik, Darmstadt / Neuwied 81983, S. 55). Die zweite Natur, diese sinnentleerte „Welt der
Konvention" (ebd. S. 52), erscheint bei Benjamin als „Schrift". „Diese Schädelstätte kann
Lukäcs nicht anders denken als unter der Kategorie der theologischen Wiedererweckung,
unter dem eschatologischen Horizont", kritisiert Adorno zugunsten von Benjamin, aber es
bleibt die Frage, wie weit Benjamin ohne diesen eschatologischen Horizont auskommt.
(Theodor W. Adorno, Die Idee der Naturgeschichte, in: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 1,
hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1973, S. 357.)
45
Vgl. Der literarische Barockbegriff, hg. von Wilfried Barner, Darmstadt 1975; dazu: Garber,
Rezeption und Rettung, S. 59-120.
46
I 234ff.: „Barock und Expressionismus." Vgl. B 368; I 879.
47
Vgl. Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, S. 2 und 44ff. - Der „neue Engel" erscheint an
ganz verschiedenen Stellen im Werk: I 697 („Über den Begriff der Geschichte"), cf. I 1244; II
246 („Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus"); II 367 („Karl Kraus"); VI 521-523
(„Agesilaus Santander").
48
Wie das 17. Jahrhundert die Epochenbezeichnung .Barock', so hat das 19. Jahrhundert,
könnte man sagen, die Epochenbezeichnung ,19. Jahrhundert' erhalten; darum geht hier die
Vermischung beider Kategorien auch ganz besonders bequem. Dabei hält sich noch der alte
Begriff vom saeculum, dem Jahrhundert als einer Sinneinheit, unreflektiert durch. (Vgl.
Anmerkungen 163

Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M.


3
1984, S. 321 ff.)
49
Das ist ein häufig angewandtes Verfahren bei Benjamin: An Stellen, wo ein kontinuierlicher
Übergang bisher immer ganz leicht möglich schien, werden Schnitte gelegt, und Begriffe, die
der Sprachgebrauch unbefangen assoziierte, als kategorial verschieden behauptet: .Trauer-
spiel' und .Tragödie', ,SchicksaI' und .Charakter', .Wahl' und .Entscheidung'.
50
Vgl. I 158f., 171.
51
Vgl. Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt/M. 1980,
S. 134-178: „Die Interpretation der allegorischen Form bei Baudelaire."
52
Vgl. Günter Hess, Allegorie und Historismus. Zum ,Bildgedächtnis' des späten 19. Jahrhun-
dens, in: Verbum et signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung, 1. Bd., hg.
von Hans Fromm u. a., München 1975, S. 555-591.
53
„Der Allegoriker greift bald da bald dort aus dem wüsten Fundus, den sein Wissen ihm zur
Verfügung stellt, ein Stück heraus, hält es neben ein anderes und versucht, ob sie zu einander
passen: jene Bedeutung zu diesem Bild oder dieses Bild zu jener Bedeutung. Vorhersagen läßt
das Ergebnis sich nie; denn es gibt keine natürliche Vermittelung zwischen den beiden.
Ebenso aber steht es mit Ware und Preis." (V 466) Und: „Die Allegorien stehen für das, was
die Ware aus den Erfahrungen macht, die die Menschen dieses Jahrhundens haben." (V 413,
vgl. V 438)
54
Adorno, Über Walter Benjamin, S. 58.
55
ebd., S. 22f.
Ein Beispiel: das Vergnügen, das Baudelaire das Essen von Nüssen machte, weil er sich
einbilden konnte, er knacke die Gehirne kleiner Kinder (V 314).
Diesen polemischen Gehalt von Benjamins Baudelaire-Übersetzungen hat Momme Broder-
sen deutlich gemacht: Momme Brodersen, Spinne im eigenen Netz. Walter Benjamin. Leben
und Werk, Darmstadt 1990, S. 122-125, 219f.
58
Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 1. Bd. 1938-1942, hg. von Werner Hecht, Frankfurt/M. 1973, S.
16 [25. 7. 1938].
59
Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 50-57 und 130-143.
60
Eine überzeugende Darstellung dieser Zusammenhänge: Winfried Menninghaus, Schwellen-
kunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt/M. 1986.
61
Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Frankfun/M.
1986, S. 33. Es ist wiederum Menninghaus, der Eliade mit Benjamin konfrontiert: vgl. Men-
ninghaus, Schwellenkunde, S. 99-105.
62
Das deutlichste Zeugnis für diese kaum auszusprechende Verbundenheit ist wohl die Antwort
auf eine Umfrage, welche „Die literarische Welt" 1928 veranstaltete. Erbeten war „eine kurze
autobiographische Notiz, in welcher Sie darstellen, welche Rolle Stefan George in Ihrer
inneren Entwicklung spielt." Benjamins Antwort beginnt höchst vorsichtig: „Nur daß die
.Literarische Welt' ihre Aufforderung so formulierte, wie es geschehen ist, ermöglicht es mir,
einiges aufzuzeichnen, was sich sofort mir selbst entziehen würde, wenn ich den Versuch
machen wollte, über Stefan George zu schreiben. Im Bewußtsein, daß ein solcher Versuch nie
und nimmer gelingen könnte, bemühe ich mich, desto genauer mir zu vergegenwärtigen, wie
George in mein Leben hineinwirkte." Dann ist von der Freundschaft mit Friedrich C. Heinle
die Rede. (Zitiert nach: Michael Rumpf, Faszination und Distanz. Zu Benjamins George-Re-
zeption, in: Walter Benjamin - Zeitgenosse der Moderne, hg. von Peter Gebhardt u. a.,
Kronberg/Ts. 1976, S. 56.) Vgl. B 853.
63
Eine weitere Grundlage der folgenden äußerst knappen Darstellung ist - neben Menninghaus,
Schwellenkunde - A. Horstmann, .Mythos, Mythologie', in: Historisches Wörterbuch der
Philosophie, hg. von Joachim Ritter / Karlfried Grunder, Bd. 6, Basel / Stuttgart 1984, S. 282-
318.
64
Ernst Cassirer, Die Begnffsform des mythischen Denkens, Leipzig / Berlin 1922.
65
Menninghaus, Schwellenkunde, S. 15.
66
ebd., S. 16.
67
Zit. nach Horstmann, .Mythos, Mythologie', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Bd. 6, S. 308. - Und sehr genau ist die Bemerkung von Raimar Stefan Zons zu dieser Stelle:
164 Anmerkungen

„Nur ist es die Vernunft selbst, die den Mythos aus sich herausträumt, bis er - den Schreiber
der .Passagen' noch am meisten - mit Sirenengesang lockt: als Spleen und als Wahnsinn. Ihm
zu verfallen war Benjamin, der Leser, weiß Gott wie kein zweiter bestimmt; daher wohl der
volle Kraftakt, der hier aufgeboten ist, den Knoten aller Dialektik der Aufklärung zu zerschla-
gen" (Zons, Annäherung an die .Passagen', in: Bolz / Witte (Hg.), Passagen, S. 53).
68
Vgl. Heinrich Wölffltn, Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entste-
hung des Barockstils in Italien, München 21907.
6
Ein Hinweis auf diese Quellen findet sich in der Rezension „Bücher, die lebendig geblieben
sind" (III 170).
70
Vgl. Heinz Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer
Medien im 19. Jahrhundert. München 1970.
71
Vgl. Adolf Loos, Trotzdem. 1900-1930, hg. von Adolf Opel, Wien 1982 [1931].
72
Meyer, Eisenbauten, S. 29-47.
73
Vgl. V 46; Siegfried Giedion, Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton,
Leipzig / Berlin o. J. [1928], S. 16.
74
Vgl. Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alter-
nativen Tradition, Stuttgart 1978.
Giedion, Bauen in Frankreich, S. 1.
76
Paul Scheerbart, Glasarchitektur, München 1971. - Diese Texte sind, wie Missac bemerkt, erstaun-
lich unbedarft, und auch wenn Benjamins Bewunderung für die sprachliche Leistung Scheerbarts
namentlich „Lesabendio" gilt, bleibt sie doch immer noch schwer verständlich (Pierre Missac,
L'architecture de verre, in: Missac, Passage de Walter Benjamin, Paris 1987, S. 168-177).
Giedion, Bauen in Frankreich, S. 2.
78
Ebd., S. 1.
79
Ebd., S. 27, 107.
80
II 218. Vgl. Scheerbart, Glasarchitektur, S. 25: „Unsre Kultur ist gewissermaßen ein Produkt
unserer Architektur." Und: „Das neue Milieu, das wir uns dadurch schaffen, muß uns eine
neue Kultur bringen."
81
Walter Benjamin, Aufklärung für Kinder. Rundfunkvorträge, hg. von Rolf Tiedemann, Frank-
furt/M. 1985, S. 64f. - In der Rezension von Werner Hegemann, Das steinerne Berlin.
Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt (1930), hält Benjamin der anklagenden
Darstellung entgegen, „daß die Mietskaserne, so fürchterlich sie als Behausung ist, Straßen
geschaffen hat, in deren Fenstern nicht nur Leid und Verbrechen, sondern auch Morgen- und
Abendsonne sich in einer traurigen Größe gespiegelt haben, wie nirgend sonst, und daß aus
Treppenhaus und Asphalt die Kindheit des Städters seit jeher so unverlierbare Substanzen
gezogen hat wie der Bauernjunge aus Stall und Acker" (III 265). Kann man diese Bemerkung
noch anders als betulich auffassen? Vielleicht dann, wenn man sie mit einer solchen kontra-
stiert: „Der Träger aller Degenerationserscheinungen in unserem Volksleben ist im wesentli-
chen die Großstadt mit ihrer Mietskaserne. Will man die sittlichen Triebkräfte im deutschen
Volk stärken, muß man den städtischen Massen die Möglichkeit geben, wieder in dauernde
Verbindung mit der Natur zu kommen" (1919, zit. nach Joachim Petsch, Eigenheim und gute
Stube. Zur Geschichte des bürgerlichen Wohnens. Städtebau - Architektur - Einrichtungssti-
le, Köln 1989, S. 135).
So etwas Unwahrscheinliches hat man immer wieder unterstellt: „Es gehört zu seinen Irrtü-
mern, daß Benjamin glaubte, der Film sei für die Zwecke des Faschismus unbrauchbar."
(Greffrath, Metaphorischer Materialismus, S. 101.) Oder: „es trifft jedenfalls nicht mehr zu,
daß der Film, wie Walter Benjamin meinte, infolge seiner technischen Reproduzierbarkeit
nichts von ritueller Kunstaura hat - das mochte um 1930 noch zutreffen [. . .]". (Peter Handke,
Verdrängt das Kino das Theater? Das Elend des Vergleichens, in: Arbeitstexte für den Unter-
richt. Texte zur Poetik des Films, hg. von Rudolf Denk, Stuttgart 1978, S. 160.) Vgl. dagegen I
506. - Wenn man bei der „schroffen Entgegensetzung von auratisch-ästhetischer und tech-
nisch-nachästhetischer Kunst" in Benjamins Werk innehält, dann muß man ihm allerdings
den Vorwurf machen, daß er die Ambivalenz der neuen Produkte übersieht, von der .Kunst'
sich zu wenig, vom Ende der Kunst aber zuviel verspricht; vgl. Heinz Paetzold, Neomarxisti-
sche Ästhetik I: Bloch - Benjamin, Düsseldorf 1974, S. 166.
Anmerkungen 165

83
Vgl. Winfried B. Lerg, Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland. Herkunft und Ent-
wicklung eines publizistischen Mittels, Frankfurt/M. 1965.
84
Vgl. Meyer, Eisenbauten, S. 2f.; Giedion, Bauen in Frankreich, S. lOf.
85
Vgl. Meyer, Eisenbauten, S. 4.
86
V 572. Vgl. B 793; B 687: „Dieser Disposition fehlt das konstruktive Moment. Ich lasse dahin
gestellt, ob es in der Richtung zu suchen ist, die Ihr andeutet. So viel ist sicher: das konstruk-
tive Moment bedeutet für dieses Buch, was für die Alchimie der Stein der Weisen bedeu-
tet."
87
Nach Marx: „ > Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt. . . aus dem
Traume über sich selbst aufweckt. < " (V 570) Und: „ > Unser Wahlspruch muß . . . sein:
Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen,
sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann
zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein
besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. < " (V 583)
88
Und so werden im „Passagenwerk" die Utopien des 19. Jahrhunderts - etwa die Phalansteres
von Fourier, die große Ähnlichkeit mit den Passagen haben - aufgefaßt: als Vertiefungen des
Traums, der das 19. Jahrhundert war. Nirgends gehen diese Phantasien über die Grenzen ihrer
Zeit hinaus, sie bleiben völlig darin befangen. (Vgl. Charles Fourier, Aus der neuen Liebes-
welt, Berlin 1978.)
89
Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum
und Zeit im 19. Jahrhundert, München / Wien 1977.
90
Henri Bergson, Mauere et memoire. Essai sur la relation du Corps ä l'esprit. Paris 1939. Vgl. I
608: Der Titel dieses Werks „zeigt an, daß es die Struktur des Gedächtnisses als entscheidend
für die philosophische der Erfahrung ansieht. In der Tat ist die Erfahrung eine Sache der
Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben."
91
Zuerst hat Habermas das Vorgehen Benjamins eine „konservativ-revolutionäre Hermeneu-
tik" genannt (Jürgen Habermas, Bewußtmachende oder rettende Kritik - die Aktualität
Walter Benjamins, in: Zur Aktualität Walter Benjamins, hg. von Siegfried Unseld, Frankfurt/
M. 1972, S. 220), was nicht nur auf Zustimmung gestoßen ist (vgl. dazu Garber, Rezeption und
Rettung, S. 160f.).
92
Vgl. Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la memoire, Paris 1925.
93
Norbert Bolz, Prostituiertes Sein, in: Antike und Moderne. Zu Walter Benjamins .Passagen',
hg. von Norbert W. Bolz / Richard Faber, Würzburg 1986, S. 203f. (Dort auch die weiteren Zi-
tate.)
94
Benjamin distanziert sich damit klar auch vom Widerstand gegen den Faschismus im Namen
des .Volks', von der Volksfront (vgl. Philipp Ivernel, Paris, Hauptstadt der Volksfront oder das
posthume Leben des 19. Jahrhunderts, in: Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des
neunzehnten Jahrhunderts, hg. von Norbert Bolz / Bernd Witte, München 1984, S. 129f.).
95
Zur Geschichte des Begriffs: Marleen Stoessel, Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache
und Erfahrung bei Walter Benjamin, München / Wien 1983, S. 11-15; Werner Fuld, Die
Aura. Zur Geschichte eines Begriffs bei Benjamin, Akzente 28 (1979), S. 352-370; Christoph
Asendorf, Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen
1989, S. 149-153.
96
Stoessel, Aura, S. 52f.
97
Schobinger, Variationen zu Walter Benjamins Sprachmeditationen, S. 33f.; vgl. Stoessel, Aura,
S. 49f.
98
Reiner Dieckhoff, Mythos und Moderne. Über die verborgene Mystik in den Schriften Walter
Benjamins. Köln 1987, S. 108; Birgit Reckt, Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der
Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, Würzburg 1988, S. 43-48. - Dieckhoff
weist auch darauf hin, daß Klages das „Traumbewußtsein" teils ähnlich wie Benjamin dann
die auratische Wahrnehmung bestimmt, durch „pathische Passivität", „Gefühl des Fern-
seins", „Gefühl der Flüchtigkeit" (ebd., S. 81). - „Es ist die Aura, die schwindet", heißt es
auch bei Alfred Schuler (zit. nach Fuld, Die Aura, Akzente 26 (1979), S. 365). Wichtig bei
alledem ist Benjamins strategische Position: Er bezieht sich mit dem Begrift auf die Tradition,
von der er ausgeht und gegen die er in seinem Werk den Kampf aufgenommen hat.
166 Anmerkungen

99
Alois Riegl, Die Stimmung als Inhalt in der modernen Kunst, in: Riegl, Gesammelte Aufsät-
ze, hg. von K. M. Swoboda, Augsburg / Wien 1929, S. 28. - Vgl. Wolfgang Kemp, Fernbilder.
Benjamin und die Kunstwissenschaft, in: Walter Benjamin im Kontext, hg. von Burkhardt
Lindner, Königstein/Ts. 21985, S. 230f.; Stoessel, Aura, S. 37.
100
Riegl, Gesammelte Aufsätze, S. 29.
101
Vgl. Stoessel, Aura, S. 15, 36.
102
Riegl, Gesammelte Aufsätze, S. 30.
103
Vgl. Wolfgang Kemp, Fernbilder, in: Walter Benjamin im Kontext, hg. von Lindner, S.
224-257; Ulrich Ruffer, Taktilität und Nähe, in: Antike und Moderne, hg. von Bolz / Faber, S.
181 -190. - Alois Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, Wien 21927, S. 32: „Die Auffassung von
den Dingen, die dieses erste Stadium des antiken Kunstwollens kennzeichnet, ist somit eine
taktische und, soweit sie notgedrungen bis zu einem gewissen Grade auch eine optische sein
muß, eine nahsichtige [. . .]". In Rechnung zu stellen ist auch die populäre Riegl-Adaption
Worringers (Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsycholo-
gie, München 101921).
104
Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, S. 32 (Anm.). - Vgl. I 1053. Aber an Stellen, an denen
„taktisch" stehengeblieben ist und die deshalb in der Edition als „offenkundige Irrtümer"
korrigiert worden sind, könnte gerade der Doppelsinn des Wortes wichtig sein. So hat etwa
in der folgenden Notiz „taktisch" offensichtlich die Bedeutung von „taktil": „Besitz und
Haben sind dem Taktischen zugeordnet und stehen in einem gewissen Gegensatz zum
Optischen. Sammler sind Menschen mit taktischem Instinkt." (V 274) Aber in einer Parallel-
stelle drängt sich die Bedeutung „strategisch" auf: „Besitz und Haben sind dem Taktischen
zugeordnet. Sammler sind Menschen mit taktischem Instinkt; ihrer Erfahrung nach kann,
wenn sie eine fremde Stadt erobern, der kleinste Antiquitätenladen ein Fort, das entlegenste
Papiergeschäft eine Schlüsselstellung bedeuten." (IV 391)
105
Vgl. Josef FurnkaS, Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin - Weimarer Einbahnstraße
und Pariser Passagen, Stuttgart 1988, S. 53.
1
So referiert Benjamin in der Rezension „Strenge Kunstwissenschaft" Carl Linfert. Vgl. Adolf
Wölffltn, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neue-
ren Kunst, München 6 1923, S. 68.
107
I 634.
108
Jacques Derrida, De la Grammatologie, Paris 1967.
109
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaf-
ten im Grundrisse (1830), III. Teil, Frankfurt/M. 1970, S. 258-283.
110
Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen
Körper und Geist, Frankfurt/M. / Berlin / Wien 1982, S. 68, 71.
111
Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Freud, Psychologie des Unbewußten, Studien-
ausgabe Band III, S. 234-241. In Benjamins Darstellung: I 612f. - Zur Begriffsgeschichte:
Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 134-141: „Geschichte des Schocks".
112
Feiertage heißen „Stellen des Eingedenkens" (I 643) oder „Tage des Eingedenkens" (I 701);
und unwillkürliches „Eingedenken" taucht sonst auf als Übersetzung von „memoire invo-
lontaire".
113
Die Auseinandersetzung mit Jung mußte für Benjamin umso dringlicher werden, je näher er
ihm mit seinem Konzept einer kollektiven Erinnerung kam: „Es ist mein Wunsch, mir
methodisch gewisse Fundamente der > Pariser Passagen < durch eine Kontroverse gegen
die Lehren von Jung, besonders die von den archaischen Bildern und vom kollektiven
Unbewußten zu sichern. Das hätte neben seiner internen methodischen Bedeutung eine
öffentlichere politische; vielleicht wirst du gehört haben, daß Jung neuerdings mit einer
eigens ihr reservierten Therapie der arischen Seele an die Seite gesprungen ist."(BS 240) Diese
„Kritik der Jung'schen Psychologie" (B 733, vgl. B 736) - welche Benjamin bezeichnet als
„echtes und rechtes Teufelswerk, dem man mit weißer Magie zu Leibe zu rücken hat" (BS
247) - hätte die „eindeutig rückschrittliche Funktion, die die Lehre von den archaischen
Bildern für Jung hat" (V 589), aufzeigen müssen.
114
Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 56-67; Jeanne-Marie Gagnebin, Zur Geschichtsphi-
losophie Walter Benjamins. Die Unabgeschlossenheit des Sinnes, Erlangen 1978, S.55-70;
Anmerkungen 167

Christoph Asendorf, Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahr-
nehmung im 19. Jahrhundert, Gießen 1984, S. 49.
115
Dieselbe Zweideutigkeit ist auch für das „Erlebnis" im philosophischen Wortgebrauch
charakteristisch: Wenn „Erlebnis" noch in Krugs Enzyklopädie von 1838 nur erst die Grund-
lage der Erfahrung ist, so erscheint es in Lotzes Metaphysik von 1841 schon als die Wirklich-
keit dessen, was Erfahrung heißt. (K. Gramer, .Erleben, Erlebnis', in: Historisches Wörter-
buch der Philosophie, Bd. 2, hg. von Joachim Ritter, Basel 1972, S. 705.)
116
Nach Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 75.
117
Nacheinander: B 808, V 1037; V 164, 1034; I 1119, V 967, 969, vgl. V 278; II 308: „Der Leser,
der Denkende, der Wartende, der Flaneur sind ebensowohl Typen des Erleuchteten wie der
Opiumeßer, der Träumer, der Berauschte." Noch andere Reihen sind vorgeschlagen worden:
Sammler, Lumpensammler, Melancholiker (Kaulen, Rettung und Destruktion, S. 113) oder
Flaneur, Sandwichmann, Prostituierte (Susan Buck-Morss, Der Flaneur, der Sandwichman
und die Hure. Dialektische Bilder und die Politik des Müßiggangs, in: Passagen, hg. von
Bolz/Witte, S. 96-113).
118
Vgl. außer dem Essay von Susan Buck-Morss: Helmut Pfotenhauer, Ästhetische Erfahrung
und gesellschaftliches System. Untersuchungen zu Methodenproblemen einer materialisti-
schen Literaturanalyse am Spätwerk Walter Benjamins, Stuttgart 1975, S. 40-44: „Die Phy-
siognomie des Flaneurs".
119
Vgl. I 1238, II 213. Bei Hofmannsthal steht die Stelle durchaus im Zeichen der Melancholie.
Am Schluß von „Der Tor und der Tod" spricht der Tod, „indem er kopfschüttelnd langsam
abgeht": „Wie wundervoll sind diese Wesen, / Die, was nicht deutbar, dennoch deuten, /
Was nie geschrieben wurde, lesen, / Verworrenes beherrschend binden / Und Wege noch im
Ewig-Dunkeln finden." (Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke 1, Berlin 1924, S.
153)
So Hessel in „Spazieren in Berlin": „Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei
Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Cafe-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu
lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten
eines immer neuen Buches ergeben." (Franz Hessel, Ein Flaneur in Berlin, Berlin 1984, S.
145.)
121
Ein genauer Vergleich von Aragons und Benjamins Verfahren findet sich bei: Fürnkäs,
Surrealismus als Erkenntnis, S. 88-117. Vgl. Anna Stussi, Erinnerung an die Zukunft. Walter
Benjamins ,Berliner Kindheit um Neunzehnhundert', Göttingen 1977, S. 28ff.
122
Die Stadt als raumgewordene, in die Tiefe reichende Vergangenheit ist vielleicht am ein-
drücklichsten in Rom zu erfahren (vgl. die Ansichtskarte von Rom aus Benjamins Samm-
lung: Brodersen, Spinne im eigenen Netz, S. 162); das macht die Bemerkung verständlich:
„Den Typus des Flaneurs schuf ja Paris. Daß nicht Rom es war, ist das Wunderbare." (III
195)
123
So tritt der Erzähler-Flaneur in Hesseis Plaudereien als Stadt-Historiker auf, der am Schluß
des Textes gern eine Bibliographie gegeben hätte: „Ach, aber auch in den Bibliotheken und
Sammlungen bin ich mehr auf Abenteuer des Zufalls ausgegangen als auf rechtschaffene
Wissenschaft, und zu solchem Kreuz und Quer durch die Welt der Bücher möchte ich auch
die anderen verführen" (Hessel, Ein Flaneur in Berlin, S. 274).
124
Vgl. „Der Erzähler" (II 438-465); dazu I 611, II 214, III 388f., IV 436ff., 741f., V 966.
125
Vgl. Fumkäs, Surrealismus als Erkenntnis, S. 77.
126
Vgl. V 545, 554f.
127
Buck-Morss, Der Flaneur, der Sandwichman und die Hure, in: Passagen, hg. von Bolz / Witte,
S. 98.
128
Zum „genius loci" vgl. V 524, VI 489; Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 10, hg.
von Theodor Klauser u. a., Stuttgart 1978, S. 67f.
129
Charles Baudelaire, Le Peintre de la vie moderne, in: Baudelaire, Oeuvres completes II, ed.
par Claude Pichois, Paris 1976, S. 689f.
130
Vgl. I 537-542. „Die Phantasmagorie des Flaneurs: das Ablesen des Berufs, der Herkunft, des
Charakters von den Gesichtern." (V 540)
131
V 566f.
168 Anmerkungen

132
„Phantasmagorie" wurde eine anfangs des 19. Jahrhunderts gemachte technische Erfindung
genannt, welche durch Überblendung von zwei Laterna magica-Projektionen den Eindruck
bewegter schemenhafter Figuren erzeugen konnte. (Vgl. Peter von Matt, Liebesverrat. Die
Treulosen in der Literatur, München / Wien 1989, S. 178f.)
133 j 44Qi 479^ JJ 37g _ yg) j | e bemerkenswerte Notiz: „Die Allegorie kennt viele Rätsel aber
kein Geheimnis. Das Rätsel ist ein Bruchstück, welches mit einem andern Bruchstück, das zu
ihm paßt, ein Ganzes macht. Das Geheimnis sprach man seit jeher im Bilde des Schleiers an,
der ein alter Komplize der Ferne ist. Die Ferne erscheint verschleiert." (V 461) Eine ver-
steckte Pointe ist hier, daß das „Symbol" ursprünglich genau das war, was hier als „Allego-
rie" beschrieben wird, nämlich Stück eines zerbrochenen Ganzen, welches als Erkennungs-
zeichen und Beleg zu einem anderen Stück paßt (vgl. Aristoteles, Politik 1.4.6-8).
134
1647, II 362, IV 416, VI 586.
135
Vgl. Stoessel, Aura, S. 46. - Wenn man aber - wie Birgit Recki, gestützt auf Proust, - die Aura
als eindeutig subjektives Phänomen versteht, muß man sich mit einem unglaublich „naiven
Realismus" Benjamins abfinden (Reckt, Aura und Autonomie, S. 63).
136
Es handelt sich um einen Rausch der „Einfühlung", auf welche der Flaneur sich bestens
versteht (vgl. I 561, V 562). Ein extremes Beispiel für die „Einfühlung" als Methode der
Geschichtsbetrachtung, gegen deren Beliebigkeit Benjamin immer wieder polemisiert, gibt
er mit folgender Notiz: „Zur ivresse der Einfühlung beim Flaneur, wie sie auch bei Baude-
laire auftritt, diese Flaubert-Stelle: > J e me vois ä differents äges de l'histoire tres nette-
ment. . . J'ai ete batelier sur le Nil, leno [?] ä Rome du temps des guerres puniques, puis
rheteur grec dans Suburre, oü j'etais devore de punaises. Je suis mort pendant la croisade,
pour avoir trop mange de raisin sur la plage de Syrie. J'ai ete pirate et moine, saltimbanque et
cocher, peut-etre empereur d'Orient, aussi. . . < " (V 562).
137
Vgl. „Dienstmädchenromane des vorigen Jahrhunderts" (IV 620-622), dazu die Abbil-
dungen. - Benjamin erwähnt in einem „Haschischversuch", daß er solche Bilder sammelt:
„Kann aus dem Goethehaus die londoner Oper machen. Kann die ganze Weltgeschichte
daraus ablesen. Mir erscheint im Raum, weshalb ich die Kolportagebilder sammle. Kann alles
im Zimmer sehen; die Söhne Karls III. und was Sie wollen." (V 286)
138
Klarer wird die Stelle, wenn man bedenkt, daß der Raum, in dem alles Geschehen vergleich-
zeitigt wird, im Trauerspielbuch der „Schauplatz" heißt (vgl. oben S. 34).
139
Vgl. die ganz Benjamin verpflichtete Darstellung: Susan Sontag, On Photography, New York
1977.
140
Analog wird Baudelaire oft eindeutig als Flaneur gezeichnet, und doch kann es dann auch
wieder heißen: „Der Verfasser dieser Niederschriften ist kein Flaneur" (I 652).
141
Der Widerspruch in der Figur des Flaneurs wird zwar immer wieder zeitlich und räumlich
auseinandergelegt, aber man darf nicht zuviel darauf geben. So gilt einmal der Flaneur in E. T.
A. Hoffmanns „Des Vetters Eckfenster" als harmloser Privatier im biedermeierlich provinziel-
len Milieu von Berlin, der den ,Mann der Menge' in London noch kaum erahnen läßt, - „der
pariser Flaneur wäre das Mittelstück" (I 628). Ein andermal aber ist von Paris als der „späten
und reifen Heimat" des Flaneurs, von Berlin als der „frühen und strengen" die Rede: „Hier
und nicht in Paris versteht man, wie der Flaneur vom philosophischen Spaziergänger sich
entfernen und die Züge des unstet in der sozialen Wildnis schweifenden Werwolfs bekommen
konnte, den Poe in seinem > Mann der Menge < für immer fixiert hat" (III 198).
142
V 532.
143
Vgl. zwei neuere, von Benjamin geprägte und übrigens brillante Darstellungen des Sammlers
und seiner Manie: Jean Baudrillard, Le svsteme des objets. La consommation des signes, Paris
1968, S. 103-128; Asendorf, Batterien der Lebenskraft, S. 37-42.
144
„Autor und Sammler waren in ihm in seltener Vollkommenheit vereinigt, und diese Leiden-
schaft mischte seiner eher melancholischen Natur einen Zug von Heiterkeit bei." (Gershom
Scholem, Walter Benjamin [1964], in: Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, S. 11.)- Als
Sammler-Autor ist Benjamin zuerst dargestellt bei: Arendt, Benjamin, Brecht, S. 52-57.
145
„Was den Sammler angeht, so ist ja seine Sammlung niemals vollständig; und fehlte ihm nur
ein Stück, so bleibt doch alles, was er versammelt hat, eben Stückwerk [. . . ] " (V 279). Vgl.
Baudrillard, Le Systeme des objets, S. 110-112.
Anmerkungen 169

146
Insofern ergibt es ein falsches Bild, wenn Rolf Tiedemann in seiner Ausgabe alle von
Benjamin kommentierten Zitate in größerem Schriftgrad abdruckt als die bloß abgeschriebe-
nen (vgl. V 41, „Einleitung des Herausgebers"), - eine Unterscheidung, die übrigens nicht
konsequent durchgeführt wird und wohl überhaupt nicht konsequent durchgeführt werden
kann.
147
Zit. nach Asendorf, Batterien der Lebenskraft, S. 38.
148
Baudrillard, Le Systeme des objets, S. 105.
149
Vgl. Asendorf, Batterien der Lebenskraft, S. 38.
Vgl. Irving Wohlfarth, Der .Destruktive Charakter'. Benjamin zwischen den Fronten, in:
Walter Benjamin im Kontext, hg. von Lindner, S. 65-99.
151
Vgl. I 174f., II 176-179.
152
Zu diesem Interieur: Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen,
Frankfurt/M. 1974, S. 75-86; Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhun-
dert, Frankfurt/M. 1974, S. 142-176; Asendorf, Batterien der Lebenskraft, S. 86-99.
153
„Gretel hat einmal im Scherz gesagt, daß Sie die Höhlentiefe Ihrer Passagen bewohnten, und
darum vorm Abschluß der Arbeit zurückschreckten, weil Sie fürchteten, den Bau dann
verlassen zu müssen. Lassen Sie uns Sie dazu ermuntern, uns doch Zugang zum Allerheilig-
sten zu verschaffen. Ich glaube, Sie brauchen weder um die Stabilität des Gehäuses besorgt zu
sein, noch dessen Profanierung zu fürchten." (B 788)
154
IV 284, 977f., cf. II 314.
Vgl. Momme Brodersen, Von Berlin nach Capri. Walter Benjamin in Italien, in: Benjamin aut
Italienisch. Aspekte einer Rezeption, hg. von Brodersen, Frankfurt/M. 1982, S. 139-142.
Brodersen geht hier dem Wort „Porosität" nach; vgl. Brodersen, Spinne im eigenen Netz, S.
158f.
156
Der Schluß der Kritik von Sternbergers „Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert"
(1938), die so scharf und erbarmungslos ausfällt, wie es einmal mehr nur aus der allzu großen
Nähe dieses Buchs zur Passagenarbeit zu verstehen ist, liest sich vor diesem Hintergrund gar
nicht mehr unbedingt ablehnend: „Das Unverwechselbare an diesem Buch, die Sache, der
sich der Autor verschrieben hat, wird man mit einem Worte bezeichnen können: es ist die
Kunst, Spuren zu verwischen." (III 578)
157
Irving Wohlfarth hat diese Zweideutigkeit beim „destruktiven Charakter" festgehalten:
„Läßt sich der destruktive Charakter als Wegbereiter des Faschismus oder als anarchistischer
Abweichler mißverstehen, so ist seine Parole wiederum dem Reproduktionsgesetz der bür-
gerlichen Gesellschaft zum Verwechseln ähnlich. > Verwisch die Spuren < ist der gegen sie
selbst gewendete Imperativ dieser Gesellschaft." (Wohlfarth, Der .destruktive Charakter', in:
Walter Benjamin im Kontext, hg. von Lindner, S. 83.)
158
Vgl. Stussi, Erinnerung an die Zukunft, S. 159f.
159
Vgl. V 500.
Vgl. Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 147-150: „Spiel und Ar-
beit".
161
Vgl. V 60, 674: „L'histoire est comme Janus, eile a deux visages: qu'elle regarde le passe ou le
present, eile voit les memes choses." - Vgl. B 489.
162
Unger, Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens, S. 257.
163
Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 28-66.
164
Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, 2. Bd., hg. von Hans Eichner, München / Paderborn /
Wien 1967, S. 176. - Zum Kontrast das „Programm" betitelte Gedicht von Arno Holz: „Kein
rückwärts schauender Prophet, / geblendet durch unfaßliche Idole, / modern sei der Poet, /
modern vom Scheitel bis zur Sohle!" (Arno Holz, Werke V, hg. von Wilhelm Emrich / Anita
Holz, Berlin o. J., S. 122).
165
„Der Zukunft, von welcher er in prophetischen Worten spricht, wendet er gleichsam den
Rücken [...]" (II 577f.) - oder: „Er kehrt der eignen Zeit den Rücken [.. .]"(I 1235).
166
Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Freud, Psychologie des Unbewußten, S. 237.
167
Die geistesgegenwärtige Geschichtsbetrachtung verdient den Namen „historischer Materia-
lismus" insofern, als sie sich leibhaft und in taktiler Form vollzieht: „das destruktive Moment
in der materialistischen Geschichtsschreibung ist als Reaktion auf eine Gefahrenkonstella-
170 Anmerkungen

tion zu begreifen, die sowohl dem Überlieferten wie dem Empfänger der Überlieferung
droht. Dieser Gefahrenkonstellation tritt die materialistische Geschichtsdarstellung entge-
gen; in ihr besteht ihre Aktualität, an ihr hat sie ihre Geistesgegenwart zu bewähren. Eine
solche Geschichtsdarstellung hat, um mit Engels zu reden, zum Ziel, > aus dem Denkge-
biete heraus < zu kommen." (V 594f.)
168
I 630.
169
Vgl. Chryssoula Kambas, Walter Benjamin im Exil. Zum Verhältnis von Literaturpolitik und
Ästhetik,'Tübingen 1983, S. 224f.
170
Vgl. Witte, Walter Benjamin, S. 99f.
171
Vgl. II 332f., II 449f., IV 304, V 1007.
172
Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Freud, Psychologie des Unbewußten, S. 241.
173
IV 777-780.
174
I 693.
175
Darum hat Helmut Pfotenhauer nicht Unrecht, wenn er kritisch bemerkt: „Die Erweiterung
der Wahrnehmungsmöglichkeiten, die Einschulung prompter Reaktionsfähigkeit auf die
neuen, ungewohnten Aspekte der Realität, könnten eher die Anpassung an die gesellschaft-
lich funktionalen Prozesse bewirken als das Potential für die wahrhafte Veränderung
wecken" (Helmut Pfotenhauer, Ästhetische Erfahrung und gesellschaftliches System. Unter-
suchungen zu Methodenproblemen einer materialistischen Literaturanalyse am Spätwerk
Walter Benjamins, Stuttgart 1975, S. 83). Aber Benjamin setzt eben darauf, daß beides
dasselbe sei.
176
Vgl. II 308, V 164 (cf. 1034), 1023f.
177
Von der unerwarteten Erfüllung eines solchen langgehegten Wunsches berichtet das Stück
„Wintermorgen" in der „Berliner Kindheit" (IV 247f.).
178
Bernd Witte, Paris - Berlin - Paris. Zum Zusammenhang von individueller, literarischer und
gesellschaftlicher Erfahrung in Walter Benjamins Spätwerk, in: Passagen, hg. von Bolz /
Witte, S. 26.
179
Vgl. die Darstellung der ,Mode' im „Passagenwerk" bei: Buck-Morss, The Dialectics of
Seeing, S. 97-101.
180
Baudelaire, Le Peintre de la vie moderne, in: Baudelaire, Oeuvres completes II, S. 683-724;
vgl. Friedrich Theodor Vischer, Mode und Zynismus, in: Die Listen der Mode, hg. von Silvia
Bovenschen, Frankfurt/M. 1986, S. 60; Werner Sombart, Wirtschaft und Mode, ebd., S. 91-94;
Georg Simmel, Die Mode, ebd., S. 188f.
181
Vgl. Roland Barthes, Systeme de la Mode, Paris 1967, S. 274.
182
Vgl. V 124f.
183
Barthes, Systeme de la Mode, S. 290. (Eine Möglichkeit, das Modell auch auf das bürgerliche
Milieu anzuwenden: Pierre Bourdieu, La Distinction. Critique sociale du jugement, Paris
1979.)
184
Vgl. Gerhard Kaiser, Benjamin. Adorno. Zwei Studien, Frankfurt/M. 1974, S. 42 (dagegen
heftiger Widerspruch bei: Christoph Hering, Die Rekonstruktion der Revolution. Walter
Benjamins messianischer Materialismus in den Thesen ,Über den Begriff der Geschichte',
Frankfurt/M. / Bern, S. 117); Buck-Morss, The Dialectics of Seeing, S. 121-124.
185
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx, Politische Schriften,
Bd. 1, hg. von Hans-Joachim Lieber, Stuttgart 1960, S. 271.
186
Ebd., S. 271.
187
Vgl. Wolfgang Fietkau, Schwanengesang auf 1848. Ein Rendezvous am Louvre: Baudelaire,
Marx, Proudhon und Victor Hugo, Reinbek b. Hamburg 1978, S. 125-199.
188
Marx, Politische Schriften, Bd. 1, S. 273f. - Als inhaltslos faßt Marx auch die Mode auf:
„ > [.. .] die menschenmörderischen, ihnhaltslosen und an sich dem System der großen
Industrie unangemeßnen Flatterlaunen der Mode < " (V 633).
189
Vgl. Kambas, Walter Benjamin im Exil, S. 171-181; Rolf Tiedemann, Dialektik im Stillstand.
Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frankfurt/M. 1983, S. 119-125.
190
Marx, Politische Schriften, Bd. 1, S. 272.
191
Philippe Ivernel, Paris, Hauptstadt der Volksfront oder das posthume Leben des 19. Jahrhun-
derts, in: Passagen, hg. von Bolz / Witte, S. 117.
Anmerkungen 171

192
Vgl. Paul Valery, „Le cimetiere marin", in: Valery, Oeuvres I, ed. par Jean Hytier, Paris 1957,
S. 151 („Zenon! Cruel Zenon! Zenon d'Elee! [...]").
193
Der Schluß übernimmt das Bild des Don Juan bei Kierkegaard, der sich seinerseits ganz auf
Mozart verläßt: „Dieser Kraft Don Juans, dieser Allmacht, diesem Leben kann nur die Musik
Ausdruck verleihen [. . . ] " (Sören Kierkegaard, Entweder-Oder, Köln / Ölten 1960, S. 123).
194
Ganz entsprechend, wie „Nachtglocke zum Arzt" in der „Einbahnstraße" zeigt, löst in der
sexuellen Erfüllung die Frau als Hebamme den Mann entbindend, die Nabelschnur durch-
schneidend, ab von der Natur (IV 140f.).
195
Vgl. V 677. (Dasselbe Argument taucht heute unvermeidlich in jeder Diskussion über die
,Postmoderne' auf.)
196
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 121972, S. 240.
197
Wie im ,Spiel'-Teil das Motiv .Spiel und Liebe', so kommt hier das Motiv ,Mode und Tod' zu
kurz. Vgl. V 55, 111, 997, 1055, 1223.
198
Zum „dialektischen Bild" vgl. Amadeus Kramer, Genesis des Bildes, in: Antike und Moder-
ne, hg. von Bolz I Faber, S. 41-52.
199
Arendt, Benjamin, Brecht, S. 17; Michael W', Jennings, Dialectical Images. Walter Benjamin's
Theory of Literarv Criticism, Ithaca / London 1987, S. 30-43.
200
Christiaan Hart Nibbrig, Das dejävu des ersten Blicks. Zu Walter Benjamins .Berliner Kind-
heit um Neunzehnhundert', in: DVjS 47 (1973), Heft 4, S. 711-729.
201
Menninghaus, Schwellenkunde, S. 19.
202
Vgl. V 151, 521; Menninghaus, Schwellenkunde, S. 8.
203
Zur Theorie des Märchens: II 457f., II 327, 415, dazu: VI 219, B 383, 388f., 394f. - Vgl.
Menninghaus, Schwellenkunde, S. 87-93. Beizuziehen sind auch Blochs Ausführungen zum
Märchen, z. B. Ernst Bloch, Literarische Aufsätze, Gesamtausgabe Bd. 9, Frankfurt/M. 1965,
S. 240-242 („Bilder des Dejä vu") oder S. 344-347 („Zerstörung, Rettung des Mythos durch
Licht").
204
Zu „Goethes Wahlverwandtschaften" vgl. Bernd Witte, Walter Benjamin - Der Intellektuelle
als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart 1976; Ulrich Schodlbauer, Der
Text als Material. Zu Benjamins Interpretation von Goethes (Wahlverwandtschaften', in:
Walter Benjamin - Zeitgenosse der Moderne, hg. von Gebhardt u. a., S. 94-109; Uwe Steiner,
Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in
den frühen Schriften Walter Benjamins, Würzburg 1989, S. 262-310.
205
Witte, Walter Benjamin, S. 43.
206
Vgl. Werner Fuld, Walter Benjamin. Zwischen den Stühlen, Frankfurt/M. 1981, S. 134-136;
Witte, Walter Benjamin - Der Intellektuelle als Kritiker, S. 61-64.
207
Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, S. 38.
208
Vgl. I 169f, 188-190.
209
Vgl. I 130, 188,11 174.
210
Vgl. I 175f.
211
I 142f.; vgl. Fuld, Walter Benjamin. Zwischen den Stühlen, S. 154.
212
Vgl. Brodersen, Spinne im eigenen Netz, S. 138f., 141 f.
2
Ulrich Schodlbauer hat präzis festgehalten, wie auch Benjamins Text dem verfällt, wogegen
er abgesetzt werden soll: „Die Abgrenzung liegt in der Nuance, nicht im Grundsätzlichen.
Es sei angemerkt, daß der Autor selbst sich mit diesen Überlegungen in den Bann magischer
Auffassungen begibt [. . .]" (Schodlbauer, Der Text als Material, in: Walter Benjamin - Zeitge-
nosse der Moderne, hg. von Gebhardt u. a., S. 102.)
214
Vgl. I 167.
215
Louis Aragon, Don Juan und der Schuhputzer. Briefmarken. Damentoilette-Cafe Certä, Die
literarische Welt 23 (8. 6. 1928), S. 3f.; 24 (15. 6. 1928), S. 7f.
216
Eine genaue Darstellung dieses Projekts, im Vergleich mit Benjamins Unterfangen: Furnkas,
Surrealismus als Erkenntnis; vgl. Buck-Morss, The Dialectics of Seeing, S. 257-262.
217
V 493f.
218
Witte, Walter Benjamin, S. 128f.
219
Vgl. Franco Rella, Banjamin und Blanqui, in: Benjamin auf Italienisch, hg. von Brodersen, S.
77-102.
173

Literaturverzeichnis
/. Werke und Briefe Benjamins

Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und
Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bände I-VII,
Frankfurt/M. 1972-1989;
-: Gesammelte Schriften. Übersetzungen. Supplementbände II/III, hg. von Hella Tiedemann-
Bartels, Frankfurt/M. 1987.
-: Briefe, hg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, 2 Bde., Frankfurt/M. 1978.
- und Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940, hg. von Gershom Scholem, Frankfurt/M.
1980.

Bibliographie:
Brodersen, Momme: Walter Benjamin. Bibliografia critica generale (1913-1983), Palermo 1984.

Im folgenden eine Auswahl; weitere herangezogene Literatur ist in den Anmerkungen verzeichnet.

2. Sammelbände und Zeitschriftennummern zu Benjamin (chronologisch)

Über Walter Benjamin. Mit Beiträgen von Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Rychner,
Gershom Scholem, Jean Selz, Hans Heinz Holz, Ernst Fischer, Frankfurt/M. 1968.
Walter Benjamin. Text und Kritik, H. 31/32. 21979. [1. Aufl. 1971]
Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstags von Walter Benjamin hg. von
Siegfried Unseld, Frankfurt/M. 1972.
Materialien zu Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte." Beiträge und Interpretatio-
nen, hg. von Peter Bulthaup, Frankfurt/M. 1975.
Walter Benjamin - Zeitgenosse der Moderne, hg. von Peter Gebhardt, Martin Grzimek, Dietrich
Harth, Michael Rumpf, Ulrich Schodlbauer und Bernd Witte, Kronberg/Ts. 1976.
Walter Benjamin im Kontext, hg. von Burkhardt Lindner, Frankfurt/M. 21985. [1. Aufl.: „Links
hatte sich noch alles zu enträtseln . . . " Walter Benjamin im Kontext, hg. von Burkhardt
Lindner, Frankfurt/M. 1978.]
Walter Benjamin, Revue d'Esthetique, nouvelle serie 1/1981.
Benjamin auf Italienisch. Aspekte einer Rezeption, hg. von Momme Brodersen, Frankfurt/M. 1982.
Walter Benjamin. Profane Erleuchtung und rettende Kritik, hg. von Norbert W. Bolz und Richard
Faber, Würzburg 21985. [1. Aufl. 1982]
Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, hg. von Norbert Bolz und
Bernd Witte, München 1984.
Antike und Moderne. Zu Walter Benjamins „Passagen", hg. von Norbert W. Bolz und Richard
Faber, Würzburg 1986.
Walter Benjamin et Paris. Colloque international 27-29 juin 1983, ed. par Heinz Wißmann, Paris
1986.
Benjamin's Ground. New Readings of Walter Benjamin, ed. by Rainer Nägele, Detroit 1988.

i. Aufsatze und Abhandlungen zu Benjamin

Adorno, Theodor W.: Über Walter Benjamin, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1970.
Arendt, Hannah: Benjamin, Brecht. Zwei Essays, München 1971.
174 Literaturverzeichnis

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Brodersen, Momme: Spinne im eigenen Netz. Walter Benjamin. Leben und Werk, Darmstadt
1990.
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blicke in Walter Benjamins „Berliner Kindheit um 1900", in: ders., Das andere Fenster:
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Frisby, David: Fragmente der Moderne. Georg Simmel - Siegfried Kracauer - Walter Benjamin,
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Fürnkäs, Joseph: Zitat und Zerstörung. Karl Kraus und Walter Benjamin, in: Verabschiedung der
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Barner, Wilfried (Hg.): Der literarische Barockbegriff, Darmstadt 1975.
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Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen 151970.
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Miller, J. Hillis: The Two Allegories, in: Allegory, Myth, and Symbol, ed. Morton W. Bloom-
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Simmel, Georg: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und
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Sörensen, Bengt Algot (Hg.): Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes
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Sternberger, Dolf: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1974. [1. Aufl.
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Strohmeyer, Klaus: Warenhäuser. Geschichte, Blüte und Untergang im Warenmeer, Berlin 1980.
Unger, Rudolf: Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens. Grundlegung zu
einer Würdigung der geistesgeschichtlichen Stellung des Magus im Norden, München 1905.
Wolfflin, Heinrich: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung
des Barockstils in Italien, München 21907.
Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München
10
1921.
Walter Benjamin im Wilhelm Fink Verlag
seiner Nachgeschichte formen
Klaus Garber den Mittelteil des Buches. Am
Zum Bilde Schluß sind Versuche zur
Walter Literaturtheorie, zur Arkadien-
Benjamins Utopie und zur Rettung verges-
sener und verschollener Texte
Studien zusammengeführt, die sich
Porträts
Kritiken Benjaminschen Impulsen
verpflichtet wissen. Die Viel-
falt der Formen antwortet auf
ein Werk, das Hierarchien der
Genres ebensowenig kennt wie
publizistische Strategie. Die
gesammelten Studien zum 100.
Geburtstag Walter Benjamins
bezeugen dessen ungebrochene
Aktualität.

Wilhelm Fink \ferlag


Norbert Bolz
Klaus Garber Bernd Witte, Hrsg.
Zum Bilde Walter Benjamins Passagen. Walter Benjamins
Studien - Porträts - Kritiken Urgeschichte des 19. Jahr-
ca. 250 Seiten, Kart. hunderts
3-7705-2773-9 197 S. mit 6 Abb., kart.
3-7705-2240-0
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Garbers vereinigt materiale Aus dem Inhalt
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„ Ursprung ist das Ziel"
Studien zu dessen Rezeption
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Zeichen Benjamins. In zwei Paris. Zum Zusammenhang
großen Essays wird Benjamins von individueller, literarischer
ästhetische Theorie des ge- und gesellschaftlicher Erfah-
schichtlichen Gehalts und der rung in Walter Benjamins
inneren Form der Werke sowie Spätwerk
seine im Zeitalter des Barock
verankerte Theorie der Moder- Burkhardt Lindner: Das ,Passa-
ne entwickelt und in der Histo- gen-Werk', die ,Berliner Kind-
riographie der Frühen Neuzeit heit' und die Archäologie des
plaziert. Die kritische Ausein- „Jüngstvergangenen"
andersetzung mit der Edition
seiner Schriften sowie der Hauptstadt der Ware, Haupt-
wissenschaftlichen Literatur, stadt der Revolution
Porträts zum Bild von Person Raimar St. Zons: Annäherun-
und Werk und Skizzen zu gen an die ,Passagen'

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