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ERNSTBIDGI

Erbschaft
dieser Zeit
ERNST BLOCH

ERBSCHAFT DIESER ZEIT

Erweiterte Ausgabe

SURRKAMP VERLAG
© Suhrkamp Verlag Frankfurt a m Main 1961
Meiner lieben Karola Piotrkowska
I N HALT

Vorwort 1935 .. 15

Nachschrift 1962 20

D ERSTAUB

Halb .

Muff .

Der Klatsch

Wissende Augen .

Aus Nah und Fern .

Schreibender Kitsch .

Haltlos ....... .

ERSTER TEIL

ANGESTELLTE UND ZERSTREUUNG

Der Matte . 31

Die Kragen 31

Kleine Stadt . 32

Künstlid1e Mitte 33

Der glänzende Filmmensch . 35

Unter dem Strich . . . . .. 36


Ein Sieg des Magazins

Beschreibender Schein

Ersatz und neu . . . .

ZWEITER TEIL

UNGLEICHZEITIGKElT UND BERAUS C H U N G

D i e Dunkeln . . 45

Sprung zurück . 45

Wut und Lachlust. 46

Sachsen ohne Wald 49

Raubnacht in Stadt und Land. 51.

Amusement Co., Grauen, Drittes Reid1 61

Inventar desrevolutionären Scheins 70

Neue Sklavenmoral der Zeitung 75

Gauklerfest unterm Galgen . . So

Aus der Geschid1te der großen Verschwendung. 86

Rassentheorie im Vormärz . . . . . . . . . . . . 90

Mythos Deutschland und die ärztlichen Mächte . 93


Zusammenfassender Übergang:

Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik 104

A. Früher Zustand . . . . . . . . . 104

B. Ungleichzeitigkeiten, berimtet . 105

C. Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit, philosophism 11 I

Echt tingleichzeitiger Rü&stand 1 n - Logische Beschaffenheit


der ungleichzeitigen Widersprüche 116 - Problem einer mehr­
schichtigen Dialektik I22.
D. Zur Originalgeschichte des Dritten Reid1es . . . . . . I26

Der künftige Befreier u8 - Das diesseitige Evangelium 131 -


Chiliasmus oder die Erde als Paradies 140- Fazit für einen Teil
der konkret-utopischen Praxis 146

E . Nicht Hades, sondern Himmel auf Erden . . . . . . . I 52

Aufklärung und dialektische Weisheit zugleich 155 - Beispiele


der Verwandlung 158

Erinnerung: Hitlers Gewalt x6o

Schlußform:

Romantische Hakenbildung x6s

Die bunte Flucht . . . .. . t66

Ober Märchen, Kolportage und Sage I68


Der Däumling 168 -Die Silberbüchse Winnetous 169-Traumschein,
Jahrmarkt und Kolportage 173 -Das Riesenspielzeug als Sage 181

Okkulte Phantastik und Heidentum . . . . . . . . . .. . 186


Erlerntes Gruseln 190-Science drolatique 190-Geheimniskrämerei
als Großbetrieb 191-Verborgene Qualität 195

Gesänge der Entlegenheit

Attrappe mit Gift . . . . . 202

DRITTER TEIL

GROSSBÜRGERTUM,

SACHLICHKEIT UND MONTAGE

Der Ru& . .. . . 207

Neues Eckfenster . 207

Ludwigshafen - Mannheim 208

Übergang: Berlin, Funktionen im Hohlraum 212


Der Schwung zxs- Sachlichkeit, unmti telbar 216- Sachlichkeit, mit­
telbar 118-Montage, unmittelbar 221-Nochmals Montage: höherer
Ordnung ZZJ- Montage, mittelbar n5
Die Leere .. . 228

Das Schiffshaus 229

Zur Dreigroschenoper 130

Zeitecho Stravinskij . . 23 2

Romane der Wunderlichkeit und montiertes Theater . 140

Ein Leninist der Schaubühne . . . . 2so

Der Expressionism us, jetzt erblickt 155

Diskussionen über Expressionismus 164

Das Problem des Expressionismus nochmals . 175

Relativismen und Leer-Montage . 179

Das Auge .. 28 I

Die Fiktiven . 2 8r

Die Empiristen 282

Laxer, sozialer und physikalischer Relativismus . 185


Soziale Reflexionen 186 - Physikalischer Relativismus 189

Grundstock der Phänomenologie . . . . .. 296

J>Üntologien<< der Fülle und Vergänglichkeit 301

ExistenzerheBung und Symbolschau ))quer zum Dasein« 3 II

Tribut der Tugend an das Laster . . . . . . . . . . . . . . 3 I6

Anhang: Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten 3I8

Philosophien von Unruhe, Prozeß, Dionysos 330

Der kluge Rausch . . . . 330


Der gesprenkelte Urfiuß 330

Romantik des Diluvium . 334

Imago als Schein aus der ))Tiefe« 344

Bergsans Elan vital . . . . . . . 35 I


Der Impuls Nietzsche . .
358
Denkende Surrealismen . 367
Die Hand im Spiel . . . . 367
Revueform in der Philosophie 3 68

Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage .


3 7z
Hieroglyphen des X I X . Jahrhunderts 381

Viele Kammern im Welthaus. . . . . 387


'
Aktuelle Quere: Angst vorm »Chaos« .
397
Fahne rot und gold . 403

Glaube ohne Lüge . . 40 5

Namenregister . . . . 4r 1
ERBSCHAFT DIESER ZEIT
Vorwort zur Ausgabe 1935

Hier wird breit gesehen. Die Zeit fault und kreißt zugleich. Der
Zustand ist elend oder niederträchtig, der Weg heraus krumm.
Kein Zweifel aber, sein Ende wird nicht bürgerlich sein.
Das Neue kommt besonders vertrackt. Als solches wird es hier
beachtet, auch im Hemmenden. Vor allem jedoch im Bruch wider
Willen und einigen seiner schillernden Zeichen. Die sind, wie
selbstverständlich, durchaus nur an den Opfern, den betrogenen
und berauschten. Die Tauscher selbst, die Taten derer, die
Deutschland über sich hat, schillern nicht. Sie haben nur
das Gesicht und Amt, fürs Kapital, das sie rief, den möglichst
zweckdienlichen Grad von Schreck und Konfusion zu erzeugen.
Hier ist keine Neuigkeit, nicht einmal ein Bruch, in den einzu­
haken wäre. Die Mächte, welche heute noch herrschen, sind sich
trotz allem einig.
Ein anderes aber sind die, unter denen sie betrügen. Die
Bauern und die anfälligen Kleinbürger, welche heute in meh­
rerem Sinn nicht »sattcc werden. Sie sind in einer teils ver­
nebelten, teils merkwürdigen Unruhe, wie man vor der Krise
nichts dergleichen sah. So besteht die Frage ihrer Anfälligkeit
oder eines immerhin vertrackten Neuen auch im wirklich oder
scheinhaftHemmenden. Ein antikapitalistischer »Triebcc ist auch
außerhalb der proletarischen Schicht, obwohl diese, theoretisch
wie praktisch, das wirkliche Werden voranträgt. Obwohl die
proletarische Befreiung und damit, letzthin, die aller Menschen
nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann. Der Tenor
dieser Blätter, der Standort, von dem untersudlt wird, ist des
näheren marxistisch. Gerade innerhalb dieses Tenors aber geht,
mittelbar, an der ideologischen Bewegung der klein-, erst recht
der großbürgerlichen kulturellen Schicht noch eine andere
Frage auf. Diese nämlich: Trägt das untergehende Bürgertum,
eben als untergehendes, Elemente zum Aufbau der neuen Welt
bei, und welche sind, gegebenenfalls, diese Elemente? Es ist eine
rein mittelbare Frage, eine des diabolischen Gebrauchs; als solche
16 Vorwort

ist sie bisher, wie es scheint, vernachlässigt worden, obwohl sie


durchaus dialel<tisch ist. Denn nicht nur im revolutionären Auf­
stieg oder in der tüchtigen Blüte einer Klasse, auch in ihrem
Niedergang und den mannigfachen Inhalten, die gerade die
Zersetzung freimacht, kann ein dialektisch brauchbares »Erbe«
enthalten sein. An sich gesehen, unmittelbar, dient der Flimmer­
oder Rauschbetrug des Faseismus nur dem Großkapital, das mit
h
i m den Blick verelendender Schichten zerstreut oder verdun­
kelt. Mittelbar aber zeigt sich in der Zerstreuung flacher Bruch
einer bisher noch flacher geschlossenen Oberfläd1e, im irratio­
nalen Rausch Dampf aus nicht nur kapitalistisch nützlichen Ab­
gründen. Außer Gemeinheit und sprachloser Roheit, außer
Dummheit und panisd1er Betrügbarkeit, wie sie jede Stunde,
jedes Wort desSchrecken-Deutschland zeigt, ist ein Stück älteren
und romantischen Widerspruchs zum Kapitalismus, mit Ver­
missungen am gegenwärtigen Leben, mit Sehnsucht nach einem
unklar anderen. Die anfällige Lage der Bauern und Angestellten
hat hier ihren verschiedenen Reflex, und zwar nicht bloß einen
der Zurückgebliebenheit, sondern zuweilen einen echter 11 Un­
gleichzeitigkeit« dazu, nämlich eineswirtschaftlich-ideologischen
Restseins aus früheren Zeiten. Heute dienen die Widersprüche
dieser Ungleichzeitigkeit ausschließlich der Reaktion; in dieser
fast ungestörten Verwendbarkeit aber liegt zugleich ein be­
sonderes marxistisches Problem. Man hat das Verhältnis der
11lrratio« innerhalb der unzulänglichen kapitalistischen ))Ratio«
allzu abstrakt ausgekreist, statt daß es von Fall zu Fall unter­
sucht worden wäre und der eigene Widerspruch dieses Ver­
hältnisses gegebenenfalls konkret besetzt. Daher denn Hunde
und falsche Magier ungestört in große, ehemals sozialistische
Gebiete einbrechen konnten. Daher denn diese Gebiete nicht
nur Schlupfwinkel und Arsenale der Reaktion, sondern in Gefahr
sind, Wetterwinkel auch für später, auch für den siegreichen
Marxismus zu bleiben. Es ist an der Zeit, der Reaktion diese
Waffen aus der Hand zu schlagen. Erst recht an der Zeit, Wider­
sprüche ungleichzeitigerSchichten gegen den Kapitalismus unter
sozialistischer Führung zu mobilisieren. Hierwerde die �>Irratio«
nicht in Bausd1 und Bogen verlacht, sondern besetzt: und zwar
von einem Standort, der sim auf �>Irratio« etwas echter versteht
VorWort 17

als die Nazis und ihre Großkapitalisten. Dieser Absicht dient im


Buch, nach dem kleinen einleitenden »Staub«, nach der anders
vorbereitenden, für Angestellte bereits gewesenen >>Zerstreu­
ung«, vor allem der Teil >>Berauschung«. Ein Kapitel der »Be­
rauschung« (das ist, des Nationalsozialismus): »Ungleichzeitig­
keit und Pflicht zu ihrer Dialektik« steht in der orientierenden
Mitte.
Damit aber ist die erstaunliche Zeit nicht erschöpft. Denn auch
die untergehende Oberschicht stellt Elemente her oder setzt s:e
frei, die nicht durchaus zu ihr gehören. Daß die jeweils letzte
Maschine, welche die spätbürgerliche Technil{ erzeugt, die beste
sei, wird marxistisch nicht bestritten. Jedoch fast gar kein Erbe
wird an den ideologischen Erscheinungen und Produkten der
Spätzeit anerl<annt. Außer der »Sachlichkeit«, als einer technoi­
den und zugleich scheinkollektiven Form, wird der Endspurt
nicht beachtet, ob er gleich voller Merkwürdigkeiten steckt. Ein
Teil dieser ist gewiß auch mittelbar völlig wesenlos oder nur
>>soziologisch« interessant: doch einiges, wie vor allem die son­
derbare spätbürgerliche >>Montagecc , führt ohne Zweifel mehr
als Untergang. Denn Montage bricht aus dem eingestürzten
Zusammenhang und den mancherlei Relativismen der Zeit Teile
heraus, um sie zu neuen Figuren zu verbinden. Dieser Vorgang
ist oft nur dekorativ, oft aber bereits experimentierend wider
Willen oder, wenn gebraucht, wie etwa bei Brecht, mit Willen;
es ist ein Vorgang der Unterbrechung und dadurch einer der
Überschneidung vordem weit entfernter Partien. Gerade hier
ist der Reichtum einer brechenden Zeit groß, einer auffallenden
Mischzeit von Abend und Morgen in den zwanziger Jahren. Das
reicht von kaum so gewesenen Blick- und Bildverbindungen bis
Proust bis J oyce bis Brecht und darüber hinaus, ist eine kaleido­
skopische Zeit, eine >>Revuecc. Diesem Inhalt dient der Teil
>>Sachlichkeit und Montage«; er enthält zugleich die spezifische
»Irratiocc des Großbürgertums selbst, den schlauen und vor­
nehmen überdruß an »Mechaneicc. Ihn hat die Bourgeoisie schon
seit 30 Jahren lyrisch und philosophisch vorbereitet, teils als
Pfennig in der Not, teils als Bruchstelle der eigenen Müdigkeit.
Diese Bruchstellen besetzt das Kapital jetzt mit armierten Klein­
bürgern mi Kampf gegen das Proletariat; sie könnten, richtig
x8 Vorwort

besetzt, Breschen sein oder mindestens Schwäch.ungen der reak­


tionären Front. >>Leben«, ))Seele«, >> Unbewußtes«, >>Nation«,
11Ganzheitcc, >>Reichcc, und ähnliche Anti-Mechanismen wären
nicht so hundertprozentig reaktionär verwertbar, wollte die
Revolution hier nicht bloß, mit Recht, entlarven, sondern, mit
ebensoviel Recht, konkret überbieten und sich. des alten Besitzes
gerade dieser Kategorien erinnern. Des alten Besitzes: was nicht
bedeutet, daß er unverändert seit der Zeit des jungen Marx der
heutige sein kann. Dom die Pflicht zur Prüfung und Besetzung
möglicher Gehalte besteht auch hier; das Buch. ist ein Hand­
gemenge, und zwar mitten unter Anfälligen, ja mitten im Feind,
um ihn gegebenenfalls auszurauben. Es besch.ränkt sich. auf aktu­
elle Züge, Namen und das Symptom, das mit ihnen gesetzt ist;
der Hintergrund ist konkret-utopisch, hier auch aus den Farben,
den noch so widerwilligen, den Erbstücken eines nich.t zu ver­
gessenden Abschnitts, seines Endes und Übergangs. Die vor­
liegende Schrift enthält ihr Stück spätbürgerlichen Zeitinhalts,
großenteils als zweideutigen und so daher dialektisiert.
Mit Kleinem beginnt das, hört sich gleichsam erst hinein.
Springt immer von neuem die Fälle an, sch.reitet unterbrechend
fort, wie sich heute das gehört. So sprachlich wie gegenständlich,
bis das Tempo erreicht ist, um die großen Fragestrecken selber
zu durchmessen. Das Buch ist wesentlich während der Zeiten
geschrieben, die es untersud1t; und in Deutsch.land. Sein Gegen­
stand eben: das stäubende Zerfalls-Bürgertum, und zwar in
Schichten und Zeiten hintereinander: so ist die »Zerstreuung«
(x924-1929) schon vorüber, die »Berauschung« (1924-1933)
noch mitten im Gang; doch beide wirken übergehend fort. »Sach­
l ichkeit und Montage«, als widerspruch.svoller Zustand der Ober­
schicht, umfassen auch zeitlich die beiden unteren Erscheinungen
des übergangs. Der Akzent liegt nicht nur auf der Entlarvung
des ideologischen Scheins, sondern auf der Musterung des mög­
lichen Rests. Zwar fehlt die Art nicht, mit Hexen umzugehen, ja
sie ist die kritische Musik jeden Beginns, doch wid1tiger gerade
ist, aus der Konkursmasse zu nehmen, was anfällig, was vermit­
telt brauchbar erscheint, und das Zweifelhafte zu neutralisieren.
Ein Wort noch, damit Mißverstehen, das es sich gerne bequem
macht, erschwert sei. Spricht diese Schrift nicht nur von oben
Vorwort 19

herab, sieht sie auch allerhand böses oder glitzerndes Durch­


einander an, so reicht sie dem Teufel doch nicht den sogenannten
kleinen Finger. Sondern es werde ihm -mit bedeutend mehr
Anstrengung als der des kleinen Fingers - seine Lügenwaffe
und sein Blendwerk genommen. Das aber geschieht nicht durch
den Nachweis allein, daß Kleinbürger nur schief und trüb rebel­
lieren: solches weiß man längst, sowieso. Daß bei ihnen »nichts
als kleinbürgerliche Opposition« vorliege: über diesen Teil der
Feststellung ist kein Streit, denn was sollen Kleinbürger anderes
zur Verfügung haben als, bestenfalls, kleinbürgerliche Oppo­
sition? Wichtiger aber als diese interessante, nur etwas stereo­
type Feststellung ist heute Unterscheidung und Erkundung, ist
ein Feldzug, der den Gegner nicht unterschätzt, der vor allem
auf Beute ausgeht. Auf Beute an unruhig gewordenen Men­
sdlen, an dem häufig zweideutigen, ja revolutionären Material,
das allein als zweideutiges dem »antikapitalistischen« Betrug
dienen kann. Man bemerkt: hier ist eine neue Fragestellung, sie
formt nicht selber kleinbürgerliche Opposition, auch nidlt groß­
bürgerliche Infektion oder was sonst das Lied der alten Walze
singt. Vielmehr werden beide Zustände vom marxistisdlen
Standort erst mittelbar aufgesucht und ihr Dialektisd1es notiert,
sofern es -mitten in der bloßen, wesenlosen Fäulnis des Zer­
falls -als eines des Übergangs vorliegt. Auch hat diese Frage­
stellung weder mit sozialdemokratischer Verwässerung noch mit
trotzkistischen Quertreibereien das mindeste gemein; denn was
die Partei vor dem Hitlersieg getan hat, war vollkommen rid1-
tig, nur was sie nicht getan hat, das war falsch. Die Tendenz ver­
nichtet, was sich ihr in den Weg stellt, sie erbt, was ihr auf dem
Weg liegt.
Das war selten fälliger als heute. Gewiß muß die Tante erst
tot sein, die man beerben will; doch vorher schon kann man sich
sehr genau im Zimmer umsehen. Gewiß wird die gesdlehene
Revolution eine ganze Reihe von Fragen und Scheingehalten
liquidieren, die heute noch als solche stehen; doch nicht alles
noch »Irrationale« ist einfach auflösbare Dummheit. Der Hun­
ger nach - sage man: Weiterungen bleibt oder er wäre der erste,
der durch Entziehung von Nahrungsmitteln gestillt worden ist.
Die verdammt übersichtliche Begabung hat auch im »Himmel
2.0 Vorwort

auf Erden« keinen Platz, es gibt Fragen und Gehalte, die gerade
der wirklidl konkrete Begriff nidlt ohne weiteres auflöst, son­
dern denen er vorher gerecht wird. Ein anderes freilich ist der
Grad der »Rettung« soldler Gehalte, vielmehr ihrer Ausrau­
bung für einen anderen Zweck. Denn wer einmal marxistische
Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer nicht nur alles ideolo­
gische Gewäsche, auch das, was nach der Kritik gegebenenfalls
übrig bleibt, ist ihm nicht happy end um jeden Preis oder die
elende Logik des Zwar-Aber. Sondern oft ergibt sich nur die
Warnung vor einem gefährlichen, vor einem lang noch verfüh­
renden Schlupf- und Wetterwinkel irrationaler Art, diese aller­
dings. Und das mittelbar npositive<e Erbe, welches bleibt, er­
scheint desto stärker zum Bedenken oder als Bedenken; diese
>>Rettung<< gibt dann Stoffz u einem marxistischen Problern oder
zur Propaganda unter Anfälligen oder zur Neutralisierung.Will
man die Mittel verstehen und überwinden, die einem verelen­
denden Bürger gerade gegen die echte Revolution gereicht wer­
den, so muß man -diabolisch -in Bürgers Lande oder besser:
auf sein Schiff . Er hat nur noch ein Schiff; denn es ist die Zeit des
Übergangs. Das B u ch trage seinen Teil dazu bei, Länge und
Breite der bürgerlichen Endfahrt zu bestimmen, damit sie wirk­
lich eine Endfahrt sei.

Locarno, I934

Nachschrift rg62

Seitdem sind fast dreißig Jahre vorbei. Aber die Zeit, aus der
das vorliegende Buch kam, steht immer noch lebhaft in der Luft.
Sogar wachsend lebhaft und das gerade bei jungen Menschen,
die sie doch nicht erlebt haben, die sie dafür fast sentimenta­
lisch vermissen. Gemäß dem Ausdruck »golden twenties« und
der anderen, übrigens älteren Übertreibung, daß Berlin bis zur
Nacht von 1933 die geistige Hauptstadt der Welt gewesen sei.
Zweifellos aber ist die Zeit des Obergangs, durch die zwan­
ziger Jahre illustriert, weiter eine geblieben, wenigstens der
Anlage, bestimmt dem Anruf nach.Dieser übergang von einer
Gesellschaft in die andere stumpfte die Klassenfronten nicht
Vorwort 21

ab, stand jedoch der Verhärtung zu einem abgemachten Sdtema


entgegen. Das mehr als Interessante solch gemengter Schiffs­
zeit wird im neueren Westen durch überraschenden Wohlstand
und zahlreid1e Langeweile, im neueren Osten durd1 ebenso
überraschenden Nicht-·Wohlstand und monolithisdte Lange­
weile nur verdeckt. Der Übergang ist im neueren Osten, sofern
dort inhuman verformt, undialektism gehemmt worden ist,
gar noch in finstere Enge und Stereotypie eingefangen worden.
Die berühmte elfte Feuerbachthese von Marx sagt: Die bisheri­
gen Philosophen haben die Welt nur versmieden interpretiert,
es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Doch das wurde, vor
allem in Franeoländern der Ostseite, dahin praktiziert: Es kommt
nur darauf an, die von oben verordnete Welt einhellig zu inter­
pretieren, es ist bei Strafe des Untergangs verboten, sie zu _ver­
ändern. Diesem nicht einmal partial-sozialistisdten und dennod1,
vielmehr deshalb totalitären \Vesen fehlt allerdings noch weit
mehr, noch entschieden anderes als die Erbschaft des Über­
gangs. Da hemmt weit mehr als die bloß sektiererische Enge, die
dann den Kladderadatsch von 1933 befördert hatte. Weit mehr
als der damals versäumte Anschluß an die mehreren Staub­
Potenzen (Zerstreuung, Berauschung, Montage) aus Einsturz.
An das Bewußte-Onbewußte proletarisierter, dom nicht pro­
letarischer Schichten, dann an den verspellten Experimentblick
höchst anfälliger kultureller Oberschichten. Der sogenannte
sozialistische Realismus tat als Kitsch noch lange nachher das
Seine, um in solcher Enge gleichzeitig die Dürre und die volle
protzige Zurückgebliebenheit zu zeigen. Dod1 was ist das im
Verhältnis zum anders Fehlenden, womit die größte, die als end­
gültig intendierte Freiheitsbewegung sich dermaßen von sim
entfremden konnte? Der Kapitalismus mit dem Produkt zweier
Weltkriege und dem Faseismus hat nicht nötig, sich wichtig zu
madten, doch die Korruption des Besseren wird trotz Pharisäern,
die oft nicht einmal das Recht haben, rechtzuhaben, nicht heller.
Es fehlt der Freiheitsklang des alten Antriebs, des implizierten
Ziels, das Erbe an 1789, mit der nicht mehr rückgängig zu
machenden neunten Symphonie. Es fehlt das Erbe des berich­
tigten Naturrechts, als der gesuchten faeultas des aufredtten
Gangs, »an den Personen geehrt und im Kollektiv gesichert«
2.2 Vorwort

(Naturrecht und menschliebe Würde). Es fehlt - hierin eine


Folie zur zentraleren Ideenlosigkeit im neueren Westen - die
Fortentwicklung der Theorie, ökonomisch arn dringendsten,
eine reformatio buchstäblich in capite (was nicht »Führer«
heißt) und in membris (was überhaupt nicht Apparat mit Be­
fohlenen heißt). Vorhanden aber ist und fehlt immer noch nicht,
was die formulierte, wenn aud1 nimt absichernd durchdacbte
größte Freiheitsbewegung der Welt als Geißel der Furd1t statt
als Brechung der letzten Kette erscheinen ließ; was ihr den
Archetyp der Mauer zuzog statt des »Sprunges aus der Notwen­
digkeit in die Freiheit<<. Und trotzdem hängt mindestens die
Dürre und Enge mit jenem sektiererischen Aufkläricht zusam­
men, der in den zwanziger Jahren gegen die betrügerische Be­
rausmung so hilflos, dazu aber gegen eine Experimentkunst so
verständnislos mamte. Letztere Verständnislosigkeit, offiziell
geblieben, heißt eben sozialistismer Realismus; wegen Abwesen­
heit von beidem. Auch von daher also ist ein Blick auf den so
wenig bewältigten Lodegrund der Nazis, danam aber auf die so
heimatlos gewordene Merkwürdigkeit, Auflösungs-Did1te von
Werken lehrreich, die heute noch des satten Galerietons gänzlich
ermangeln. Die immer noch ihr Jahrhundert in die Schranken
fordern, - so fern auch ihre Montage von Rhetorik ist, und ge­
rade deshalb. »Erbschaft dieser Zeit« also, der fortwirkenden
Montage-Zeit vor allem: wenn das damit beschäftigte Buch in
neuer, wenig veränderter Ausgabe erscheint, dann dürfte das
darin Weggeworfene, darin Umgeredmete stredcenweise gar
wie Jetztzeit wirken, negativ und positiv. Samt einigen damals
geschriebenen Stüdcen, die in die Montage des Buches selber
noch eingefügt wurden. ))Golden twentiescc: das Nazi-Entsetzen
keimte in ihnen, und kein Liebt fiel hier nach unten, die Experi­
mentkunst zog ihre Linien in Unerhörtes und fand nichts, woran
sie sich halten kann, -möchte das einmal anders werden. Hohl­
raum mit Funken, das bleibt wohllange unser Zustand, doch ein
Hohlraum, der unverstellt gehen läßt, und mit Funken, die
wad1send eine Figur der Richtung vorbilden. Die Wege im Ein­
sturz sind legbar, quer hindurdl.

Tübingen, im März 1962


D E R STAUB
HALB

Wir sind noch. Aber es gelingt nur halb. Der kleine Mann hält
zu vieles zurück. Er meint noch, für sich selber.

MUFF

Mehr als je lebt man mit ihm. Kinder werden dem Muff nicht
entzogen. Sie nehmen ihn weiter auf oder leiden solange, bis sie
selber wie der Vater sind. Auch wer nicht zuhört, merkt die
Gespräche des Spießers; da ist das Hocken am Eßtisch geblieben,
der Klatsch, der Besuch, das falsche Lachen und das echte Gift,
das sie untereinander streuen. Auch wer nicht mitatmet, den
grüßt die enge verbrauchte Luft. Sie dringt zum jungen Mann
nach unten, zu den schönen Leuten nad1 oben. Hält hier gut
still, dort gut taub.

D E R KLATSCH

Daß man es mit ihm mad1en könne, glaubt keiner. Die mit Pöst­
chen würden sich das verbitten, nämlich von ihresgleichen. Nach
oben begehrt der kleine Mann keinesfalls auf, außer ganz all­
gemein, gegen den grünen Tism und dergleichen. Desto leiroter
aber läßt e r im Haus aus, was ihn quält; uneigentlim, als Streit
mit den Schwächeren, als Klatsm gegen Nachbarn. Aum die
Bauern kennen Klatsm, süße Miene im Gesid1t, Gestank hinter­
her. Dom das Landleben läßt ihn nie so bequem geraten, nie so
die Nacllbarsmaft selber werden wie im Mietshaus. Aus diesem
kriechen die Würmer jeden Tag; sie kommen aus dem Mehl, das
fehlt, aus den geliehenen Töpfen, aus der vielen Sitte, die dazu
z6 Wissende Augen

dient, sie verletzt zu haben. Klatsch kriecht die Treppen auf und
ab, hält diese Menschen zusammen, indem er sie trennt. Er ist
die sdliefe Art, unzufrieden zu sein, die falsch adressierte, die
Lust, zu kämpfen, ohne sich dem Gegner zu stellen. Stellt er sich
aber, mit eingestemmten Armen, dann zeigt sich, wieviel im ein­
geschränkten Menschen ist. Dort, wo er ist, kann man ihm nichts
recht machen.

WISSENDE AUGEN

Ofter stehen kleine Leute noch satt auf. Dazu reicht es zuweilen,
nur dazu und mit Mühe. Aus dem Rechnen aber kam der knapp
Bezahlte nie heraus, und Sprünge macht er selten. Merkwürdig
nun, daß er das eingeschränkte Leben nicht nur billig, sondern
auch recht findet. Daß er der Schicht unter ihm nicht den Auf­
strich aufs Brot gönnt; und die Oberen sind doppelt anerkannt,
wenn sie sparen. Was gar den Bettler angeht, so darf er über
Pfennige nicht hinauskommen; das ihm zustehende Maß an
Münze ist gering und vor allem: es ist nur für Brot. Der gütige
Spender leidet, wenn sich arme Kinder für den Pfennig Süßes
kaufen, wehe gar dem Bettler, der ein Scherflein, das keinem
Elend gewachsen ist, versäuft. Denn die milde Gabe verlangt,
daß der Nehmer noch viel bescheidener sei als sje selbst.
Aber auch kleine Leute spüren, daß sie nichts zu lachen haben.
Und trösten sich darüber, nämlich mit der Krankheit der ande­
ren, die der Lust angeblich folgt. In Ordnung also, wenn Ver­
gnügen sid1 an denen »rädlt<<, die es haben. Der »verlebte« junge
Mann gehört hieher, besonders auch die »wissenden Augen«;
letztere kommen gewöhnlidl bei Halbwüchsigen vor und dann
gern schwarz umrändert. Als madlte der Leib, ausgeredlnet die­
ser, den Muckern die Freude, ihre Geschäfte zu besorgen. Als
l<äme selbst der Katzenjammer nicht von sdllechtem Schnaps,
sondern von der Ausschweifung. Doch die Kleinbürger hören
nicht auf, ihresgleidlen, erst recht nidlt ihresgleichen mit Krank­
heiten zu untergraben, die ihr Rachetrieb erst gegraben hat. Wenn
eine Tanzerin stirbt, ist sie an den immer wilderen Reizen ihres
Lebens gestorben, und der Schmock setzt diese zur Schwindsucht
Aus Nah und Fern l7

h inzu. Ihr zarter, kindhafter Körper war den Anstrengungen


ihrer Lebensführung nicht gewachsen; das traurige Ende,
sagt er, nach einem hemmungslosen Leben. Zur Genugtuung
des Lesers, der zwar Laster hat, aber nun doch keine Laster ge­
lernt hat. Dabei sind gerade die Kleinbürger am kränksten, weil
sie in ihrer Angst sich die Krankheiten erst anhängen und ver­
erben. So etwas von Belastetsein, von Fällen in der Familie
kommt in weniger soliden Kreisen gar nicht vor. Von der
Schwindsucht der Proleten redet der Mittelstand weniger als von
der der Tänzerin, obwohl hier ein wirklich trauriges Ende zu
sein pflegt. Er sieht nur den Schnupfen, der angeblich von fri­
sd!er Luft kommt, von derselben, nad! der er im Grunde sid!
sehnt.

AUS NAH UND FERN

Auch viel zu lesen, sagt der Mittlere, ist nicht gesund. Zu Hause
haben geplagte Väter sowieso keinen Platz, woran sie sitzen
könnten. Das Zimmer gehört der Hausfrau, die es reinigt, nid!t
dem Mann, der dort bloß gähnt und ißt. Das ungemütlid!e Zu­
hause, die Flucht daraus haben derart beim Mittelstand ange­
fangen, seit langem, nicht weiter oben. Am Stammtisch vertreibt
er sich den Abend mit Gerüd!ten und Geschwätz, lernt nur von
seinesgleichen, zerbricht sich keinen Kopf. Vor allem zwingt ihn
keine falsd!e Liebe, mehr wissen zu wollen, als man fürs Ge­
schäft oder zum Spaß braucht. Vom Geschäft weiß der !deine
Mann nicht mehr, als daß es gut oder schlecht gehe, je nach den
))Zeitencc. Was aber den Spaß betrifft und eben die blätternde
Lektüre, so kommt die Abneigung des älteren Kleinbürgers
gegen brotlose Künste hinzu, die Unlust, diese ernst zu nehmen.
Sogenannte Grübler enden in der nAnstalt<<, weit weg vom
gesunden Mensd!enverstand. Freies Leben rächt sich an der
körperlichen Gesundheit, doch überflüssiges Denken am Kopf:
das also ist die andere Fabel des Kleinbürgertums. So war es
schon oberflächlich und kannegießerte, als überall noch der volle,
zusammenhängende Wissensstoff. Nicht nur der Abend im
häuslichen Kreis ist dem Mittleren zum Sammeln nicht einladend.
z8 Schreibender Kitsch I Haldos

Ihm stillte auch die » Woche«, die bildernde, lange schon das
geistige Bedürfnis, als gebildete Kreise durchaus noch zusam­
menhängend lasen. Vom Kleinbürger, der schwätzt und blät­
tert, ging, oft verblüffenderweise, das zerstreute Leben an.

SCHREIBENDER KITSCH

Da findet aud1 Fades sich leicht zueinander. Es sdueibt für un­


wache Leute in der Art,wie diese sich wünschen. Das Innen der
Leser hier ist selber verdrückt, ihr von ihnen wahrgenommenes
Draußen nicht dasjenige, worin sie wirklich sind. Ein Schreiber,
de r nicht mit abgelegten Gefühlen handelte, möchte hier keinen
Platz finde n . In einer Sdticht, die lebt, indem sie sidtbelügt und
belügen läßt, die nicht nur Kitsdt will, sondern es großenteils
ist. Bleibt einer freilich in der g uten Stube und dem, was sie sich
vormacht, dann läßt sich noch kleines Gestern sagen. Dies Sag­
bare hat hier sowohl seinen Markt, wovon es lebt, wie seinen
sogenannten Born, woraus es schöpft. Junghelles Fühlen und
ähnlidte Worte, deren keines mehr jung, hell oder gefühlt i::t,
kommen aus dem Born in Menge hervor . Das Ende bleibt der
innige Kitsch, was Schweinerei nidtt ausschließt; Versonnenes
wie Knospentolles sind so recht geeignet für besinnlidie Stun­
den. Diese Helden führen in kein aufreizendes Leben, sondern
bloß hinters Licht. Dort ist noch kurzer Lauf, stöbernd im
Muff herum.

HALTLOS

Etwas wird anders. Von unten läuft ein Stoß weiter. Die Mitte
merkt sidt jetzt mindestens als arm. Zwar merkt sie das falsch;
denn es ist versdtieden, nie Geldgehabt zu haben oder sein Geld
verloren zu haben. Dodt zuweilen auch kommt die einzigartige
Lage, da ß Spießbürger das Leben erneuern wollen. Hier ist die
Luft vielleicht nicht mehr so dick wie früher. Doch sie weht
noch nidtt, sie staubt nur.
ERSTER TEIL

ANGESTELLTE U N D ZERSTREUUNG
D E R MATTE

Er mag nicht mehr. Aber er sieht nirgends, wie und wo. So läßt
sich der abhängige Mann weiter benützen. Hält sich für einen
anderen, als er ist.

DIE KRAGEN

Von selbst käme keiner. Doch später richtet er sich zurecht. Wer
sich verkauft, gibt sich zwar nicht mm i er ganz. Die Arbeiter
stehen feindlich zu dem, was mit ihnen geschieht. Aber der An­
gestellte entspricht ganz dem Bild, das sich die Herren aus ihm
machen, das er aus sich machen läßt. Wie die Mädchen ihr trost­
loses Leben führen (und der Abend betäubt nur für den näch­
sten Tag). Wie die Männer untergeordnet bleiben, mißvergnügt
.

für sich, heiter im Verk ehr; wie keiner die unselbständige Grenze
überschreitet. Im Kragen des Tages, im billigen Vergnügen des
Abends, das eigens für sie gesteHt wird, fühlen sie sich als Bür­
ger. Mit einem Pflichtgefühl, woran es nichts zu nagen und zu
beißen gibt, polieren sie noch ihre Ketten vaterländisch. In klei­
nen Städten leben sie nur von gestern her, doch in großen haben
sie die Umzüge, falsch glänzendes Vergnügen dazu. So sind sie
nicht mehr die eingeschränkten kleinen Leute des stäubenden
Muffs, aber neue, außer sich seiende, abgelenkte. Die sich zer­
streuen lassen, durch Kino oder Rasse, damit sie sich nicht
sammeln. Auseinandergehen, rufen Polizisten in schwierigen
Zeiten auf der Straße, circulez, messieurs. Das besorgen die
white collar workers schon allein, lassen es mit sich besorgen.
KLEINE STADT (1924)

Hier ist alles still, atmet nur noch kurz. Das blühende Land, mit
Bauern, reicht vergebens in den Ort herein. Wenige leben gern
in kleineren Städten, diese selbst leben kaum mehr. Und werden
völlig trostlos, wenn der Herbst kommt.
Die leeren Straßen, nicht einmal der Wind fühlt sich darin
wohl. Eine alte Tram klappert vom Bahnhof zum Marktplatz;
ihr inneres Licht beleuchtet müde Gesichter, die nicht heiterer
werden, weil sie sich alle kennen. Armselige Läden sind mit
Töpfen, billigen Kleidern, Abfall aus der Großstadt überfüllt;
viel zu viel Konserven altern dazwischen. Das Papiergeschäft -
bald wird Christbaumwatte in der Auslage liegen, drei Kerzen,
Briefpapier mit Tannengrün, etwas Stanniol. Immer weniger
Originale durchsetzen die kleine Stadt, immer weniger Sprache,
die noch im eigenen Saft kocht, immer weniger Landbrot, gute
alte Zeit in der Zeitung. Statt dessen herrscht die Phrase von
gestern, und wie die Läden ihre Konserven haben, so kommt die
öffentliche Meinung fertig gesetzt, frisch gekirnt, als Abhub aus
Berlin. Eine unsägliche Traurigkeit durchsetzt mit dem Herbst,
den schlecht beleuchteten Abenden die kleine Stadt; fruchtlos
erbittert macht sie die Menschen, die darin interniert sind. Der
Sommer hielt das Bild noch so weit, Geruch von Bergen und
Wiesen drang herein, der Himmel war hoch. Aber der Herbst
wirkt genau so einengend wie der Abend in der Eisenbahn,
wenn man keine Landschaft mehr sieht, bloß noch die paar Ge­
sichter im Kupee unter der Lampe. Es gibt gewiß Ausnahmen,
kleine Städte mit Menschen, die sich eingerichtet haben, die im
Wein die Wahrheit und im Kino die große Welt finden. Aber
die meisten Krähwinkel sind heute so gehässig, tot und konven­
tionell wie eine unglückliche Ehe. Hier ist frühes Altern und so
wenig Platz, daß es nicht einmal rechte Leere gibt, außer der
inwendigen, die sich der Handwerker, der Angestellte, der Chef
in geschiedenen Verbänden, geeintem Brustgefühl vertreiben.
Viele Kugeln rollen, jeder wirft die seine, doch alle meinen
den König. Freilich nur den nebenan, vor dem man falsch lächeln
muß.
KÜNSTLICHE MITTE ( 1929)

Zu Kracauer: »Die Angestellten«

Anderswo ist der Tag nur lauter geworden, nicht voller. Das
Leben der großen Stadt schäumt mehr, schwindelt dafür besser.
Tauscht den schlecht Bezahlten, der alles bezahlen muß, was
man ihm vormacht. Die Arbeiter sind draußen in den Fabriken,
die Angestellten bewohnen die Läden, Büros, Straßen der gro­
ßen Stadt selbst. Taglieh graues, abends zerstreutes Leben be­
stimmt ihr Bild, füllt sie.
Kracauer ist mitten in diese Art, nicht da zu sein, gereist. Mit
einem einzelnen Blick, der durchdringt, wo andere nur berich­
ten, gar plaudern. Mit einer Sprache, die sagen kann, was sie
sieht, die sich dicht, mit einer gewissen nüchternen Buntheit, an
die erkannte Sache ansetzt. Der Anfang ist mehrere Schritte vor
den üblichen wissenschaftlichen gelegt, kommt dadurch, im gan­
zen Lauf, ebensoviel über das theoretische Ende hinaus, näm­
lich tendenziös. Hier wird die wirkliche Lage der Angestellten
auf den Kopf getroffen oder vielmehr auf das falsche Bewußt­
sein, das sie von sich hat. Die Masken, welche sich die Angestell­
ten aufsetzen oder aufsetzen lassen, werden gezeigt und als
solche erkannt.
Merkwürdig nur, wie leicht sich der mittlere Mann darüber
täuschen läßt, wo er lebt. Die Angestellten haben sich in der
gleichen Zeit verfiinffacht, in der sich die Arbeiter nur verdop­
pelt haben. Auch ist ihre Lage seit dem Krieg eine durchaus
andere geworden; doch ihr Bewußtsein hat sich nicht verfünf­
facht, das Bewußtsein ihrer Lage gar ist völlig veraltet. Trotz
elender Entlohnung, laufendem Band, äußerster Unsid1erheit
der Existenz, Angst des Alters, Versperrung der »höheren«
Schichten, kurz, Proletarisierung de facto fühlen sie sich noch
als bürgerliche Mitte. Ihre öde Arbeit macht sie mehr stumpf als
rebellisch, Berechtigungsnachweise nähren ein Standesbewußt­
sein, das keinerlei reales Klassenbewußtsein hinter sich hat; nur
mehr die Äußerlichkeiten, kaum mehr die Gehalte eines ver­
schollenen Bürgertums spuken nach. Zum Unterschied vom Ar­
beiter sind sie der Produktion viel ferner eingegliedert; daher
Künstliche Mitte
34

werden wirtschaftliche Veränderungen erst später wahrgenom­


men oder leid1t falsch verstanden. Erst ein Drittel der Ange­
stellten hat sich gewerkschaftlich organisiert, und von diesen ist
ein Drittel sozialdemokratisch (nur Vorgeschrittenste sind
kommunistisch). Das zweite Drittel ist demokratisch, das letzte
seit alters nationalistisch, hat ständisdle Ideologie (bei diesem
Stand), ist eine Art Stammgruppe des heutigen sogenannten
Nationalsozialisten. Dies falsche Bewußtsein (noch in der Re­
volte falsch) reicht zwar auch unter Bauern, und Studenten
geben ihm den Wichs hinzu; doch Angestellte sind ihm vor
alJem verfallen. Unsagbares Pack aus dem älteren Spießer­
turn mischt seine Instinkte ein, gar keine völkischen, sondern
hämische, fossile, erst red1t gegenstandslose, die von Antikapi­
talismus nur soviel haben, daß sie den Juden als )) Wucherer«
totsmlagen. Aber die Ablenkung ist hier das Größere daran, die
duldende Ablenkung aus dem wirklichen Leben. Sie staut das
Leben auf nichts als Jugend zurück, auf übersteigerte Anfänge,
damit die Frage nach dem Wohin gar nicht aufkomme. Sie för­
dert den Sport und den Abendglanz der Straße, den exotischen
Film oder den sonstwie glitzernden, ja, noch die ))neusachlidle«
Fassade aus Nickel und Glas. Nichts ist dahinter als sdlmutzige
Wäsd1e: doch gerade diese soll durd1 die gläserne Offenheit ver­
deckt werden ( gleidlWie das viele Licht nur der Vermehrung
der Dunkelheit dient). Cafes, Filme, Lunaparks weisen demAn­
gestellten die Richtung, die er zu gehen hat: -Zeichen, viel zu
überbeleudltet, als daß sie nicht verdächtig wären, der wahren
Ridltung auszuweichen, nämlich der zum Proletariat. Mit dem
der Angestellte jetzt alles teilt: Not, Sorge und Unsicherheit,
nur nicht das klare Bewußtsein dieses seines Zustands. Gewiß
hat die Ablenkung, gerade als bunte Jahrmarktstraße, nodl ihre
andere Seite, eine, die dem gesd1lossenen Muff nid1t wohltut.
Gewiß wirft audl diese Seite Staub auf und diesmal schon unter­
bredlenden, funkelnden, gleichsam Staub hoch zwei. Doch das
hindert nidlt, daß, unmittelbar, an der ganzen Ausweidmng nur
Betrug ist, der den Ort und Grund verdecken soll, worauf er
geschieht. Die Angestelltenkultur, sagt Kracauer mit starkem
Satz, ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod. Und
die Herren, die oberen Herren Aufsidltsführenden (wie ein
Der glänzende Filmmensch 35

Angestellter sie vorm Klagegericht nannte), unterliegen dem


Schein selber, den sie vormachen. Sie entlehnen ihn den Ange­
stellten, sie bringen den Badeglanz in Film und die immer amü­
santere Presse, unfähig anderen Gehalt hier zu haben und zu
setzen. Überall der gleiche Spaß (wenn auch oben viel satter
genossen), das Leben als >>Betrieb«: als Ode bei Tag, als Flucht
bei Nacht. Die neue Mitte spart nicht, denkt nicht an Morgen,
zerstreut sich und bald alles.

D E R GLÄNZ E N D E FILMMENSCH

Klar, diese neue Art ist leichter geworden. Sie könnte ihr Leben,
ihr fliehendes, sonst nicht bestehen. Schon der Sport läßt fede.cn,
der Film brachte Sinn für Gesten bei. Der Typ hat sich windig
verändert, um nicht zu sagen: seemännisch; ja, er will gar kein
Typ sein, sondern Person, und sie befehligt jeden Abend ihr
eigenes Schiff. Gegen die Abhängigkeit und Entwürdigung des
laufenden Bandes begehrt der lebende Mensch auf; hier aber
nicht als unterdrückte Klasse, sondern als Stand, der bessere
Zeiten gesehen hat, als Person im Stand. Durch diesen abge­
lebten Schein hofft man, sich oben zu halten, und kopiert gerade
diejenigen, welche nach unten stürzen ließen, nämlich die echten
Herren, die edlten Personen von heutzutage. Das sind die in­
dividuellen Wirtschafter selbst, die eigentlichen Mechanisierer
des Lebens; doch die Opfer verbinden sich mit ihnen, nicht mit
den proletarischen Genossen. Dem Ladenmädchen geingt l ohne
weiteres die rosafarbige oder gebräunte Dame, dem männlichen
Angestellten aber mißlingt der Herr. Denn die Dame blüht auch
auf dem erotischen Feld, nicht bloß auf dem sozialen, und ge­
pflegtes Äußere kann hier manches ersetzen; doch der soge­
nannte Herrenmensch ist heute keiner als der Herr des Profits.
Ja, nicht einmal die ))Ersd1einung« kann der Angestellte vom
Chef übernehmen (weil dieser sie meist nicht hat); also bildet
sich der neue Typ am Film, läßt den Sinn für Gesten zur bloßen
Filmperson zusammenschießen. So daß die Hämischkeit des frü­
heren Kleinbürgers gegen Tänzerinnen, Lebenskünstler und
Unter dem Strich

dergleichen erlischt; auf der Straße wird wahr, was Ernst Blaß
einmal sang: Die Herren kommen wie aus Operetten. Vor dem
Film begann auch zuerst das Gefühl für Führer; wie keiner hebt
sich der Held dort oben aus dem Durd1schnitt, wie keiner ist er
von verrottetem Glanzlicht beschienen. Außerordentlich auch
die erotische Wirkung, die gerade von diesen falschen Personen
auf ebenso falsche ausging. Verlogene Nervenbündel wurden
bewundert als Kindweib; planlose Anhäufung von Fett zog als
gütiger Kraft:rnann. Erst redlt schlug der wirklich schöne oder
siegreiche Filmmensch in den Bann, der ihm zukommt. Je mehr
das Leben verfiel, je verlogener die Handlung war, die es er­
setzte, desto leichter wurde der Kleinbürger zum Backfisch vor
Championen. An Boxern zog er sich physisch in persönliche
Höhe, an Filmhelden geistig. Der Chef hatte gewollt, daß er den
Proleten verließ, und Achtung vor sich selber befahl ihm zu
folgen. Kow..mt doch so mancher Held nicht minder aus kleiner
Gegend, um ihr desto schöner zu entsteigen: freie Bahn, wenn
nicht mehr dem Tüchtigen, so dem G!ücklidten. Nur Chaplin
bleibt arm wie zuvor und stellt den Herren ein Bein, ein besdlei­
denes. Doch als lustig wird audt er genommen, und die Herren,
denen der anne Teufel recht märchenhaft entrinnt, glänzen im
Film gleich nebendran und sind mitnichten widerlegt oder gar
gesprengt. Selbst die kolportagehaften Wege, welche von der
Hütte in den Salon führen, bleiben Spiel. Schöne Gesten, nackte
Schultern, rasch wachsende und glücldiche Pilze, doch sie reizen
nodt umsonst.

UNTER DEM STRICH

Wie geht sichs müßig auch hier. Viel Kraft, zu lesen, blieb ohne­
hin nidtt übrig. Nur Leute, die am Tag nidtts getan haben, sind
abends geistreich. Läuft gar der Blick unter den Strich, gleich
kommt es nicht mehr genau darauf an.
Nicht bloß der Leser ist daran schuld, auch die ihn versorgen.
Schon von selbst zwar gehen die meisten Kaufleute nicht über
den Tag hinaus, worin sie blühen. Und abends spannen sie aus:
so sieht man den müden Mann, der vom Geschäft nadt Hause
Unter dem Strich 37

kommt, nur noch die gähnende Zeitung liest. Groß gedruckt das
Leben, das er hat, geplaudert ein anderes, das ihn zerstreut und
nichts angeht. Aber freilich tun die Männer, welche das Leben
unterm Strich der Zeitung schneidend und schreibend spiegeln,
erst recht das ihre hinzu, Spaß daraus zu machen, windig und
wendig. Teils scheinen sie zu nichts anderem nütze als zum
Schönschreiben oder Durchsehen von vielerlei, das sie nicht ken­
nen. Teils sind sie überwertig, kriechen in ihrem Amt mürrisch
unter, bereit, es bei jeder Gelegenheit, wo sie Dichter werden
können, zu verlassen. Zur Mitte, die ihren Beruf gewählt hat
und ausfüllt, scheinen hier wenige geboren.
Also geht es stufenweise in den Spaß herab, dieser wird zu­
nehmend beliebig. Der Handelsteil einer guten bürgerlichen
Zeitung stimmt noch halb, frisierte Berichte rauht er zuweilen
auf. Der politische Teil hat sozusagen Charakter, nämlich den
des Verlegerkapitals und der großen Inserate. Aber bereits die
Berichte dieses Teils werden desto phantasievoller, je ferner ihr
Schauplatz rückt, je dünner also das tatsächliche Wissen ihrer
Gegenstände wird. Derart beginnt bereits in mexikanisd1en,
indischen, chinesischen Gegenden, überall dort also, wo undeut­
licher Markt und keine vertraute kapitalistische Ebene ist, das
Feuilleton. Um unter demStrich nun ganz und gar Unterhaltung
zu werden: Unterhaltung über Vorgänge, die den Geschäfts­
mann nicht wirklich alterieren, die vor allem möglichst harmlos
oder ))bunt« dargestellt werden. Hier stehen die gesprochenen
Bilderehen unverbunden nebeneinander, ja, noch das Belehrende
hat unterhaltsam zu sein. Ausnahmen gibt es in zwei, drei
alten Blättern; sonst ist überall Kunst der Umgehung, Unlust
zur Sad1e.
Solche Feder kann und muß um alles tanzen. Das verblasene
bürgerliche Bewußtsein verbläst sich noch einmal. Dem mitt­
leren Leser wird die Leere, worin er leben muß, mit lauter
ungenauen Stückc�en zugestellt. Der vermögliche Mann aber,
der aus dem Leeren gerade wirtschaftet, macht sid1 noch Gift
unschädlich, das bescheidene Gift eines Toller etwa, indem er es,
aus seinem Blatt, in anregenden Teilen nimmt. Und der Schrei­
bend'e darf vorerst alles sagen, weil er nichts zu sagen hat.
EIN S I E G D E S MAGAZINS (192.9)

Immer weiter noch fällt die Mühe aus. Die Zeitung ist heiter
gesetzt, um desto angenehmer überflogen zu werden. Auf der
Fahrt ins Büro, in den Pausen eines Lebens, das kaum m
i Bett
zu sich kommt. Gar die Zeitschrift ist entweder keine mehr,
oder sie geht ein, wo sie eine bleiben will.
Nicht fünf Zeilen stehen über Gedichte, geschweige, daß man
diese selber läse. Nicht über dreißig Zeilen darf ein Roman be­
sprochen sein, es sei denn, daß er den Bürger, wie er sich vor­
stellen möchte, selber in den Bücherschrank stellt. Aufsätze, die
in Frankreich etwa, als einem unzerstreuten Bürgerland, sofort
magnetisierten, negativ oder positiv, sind hier gedruckt das­
selbe wie nie gewesen. Vergeblich klagte einmal Stresemann
darüber, daß die Zeitsduift als Ergänzung der Tageszeitung
aussterbe und keine Gelegenheit ihm gebe, sich über das geistige
Leben des Landes zu unterrichten. In Frankreich sind die Bür­
ger im Bewußtsein ihres ideologischen Zerfalls noch weniger
vorgesduitten; also werden Briands dort unterrichtet. Doch den
deutschen Druckraum hat die Reklame: bald ätherisch, bald ju­
nonisch ist die Zigarette bebildert, Lärm legt sich um bedeutend
weniger als um ein Omelett und nur den Schriftstellern fehlt
Platz. Nähme man den Druckraum der Kosmetik, der Tabak­
reklame zusammen, so könnte Deutsduand eine Zeitschrift ha­
ben, wogegen die »Neue Rundschau « ein bloßer Verlagsprospekt
wäre. In Frankreich lebt noch der scharfe Kommentar, der raum­
schlagende Essay; bei uns wirken ehemals große Revuen selber
wie »Creme, die dem Wind die Schärfe nimmt« oder »wie das
Wunder ausgeglichener Mischung, welche unser Araberformat
so bekömmlich macht«. Sie können daher von Mouson und
Reemtsma ersetzt werden; aber wer hilft Stresemann? Quod
licetJ ovi, non licet bovi - nur der Reichspräsident hat das Recht,
seit seiner Kadettenzeit kein Buch gelesen zu haben.
Daneben leben noch Blätter, die einen recht frisch, die anderen
nicht einmal ganz welk. Als Typ der ersten stehe etwa die »Welt­
bühne«, der zweiten die »Neue Rundschau«; auch edlere gibt es,
halten noch die Zeit, da man von Armut als dem großen Glanz
von innen gesprochen und sich nichts dabei gedacht hatte. Linke
Ein Sieg des Magazins 39

Zeitschriften lesen undeutliche Leute, fette, die etwas Essig


brauchen, jüdische und andere Unzufriedene, die an \Vitz oder
beiz�ndem Ton sich abreagieren. Die Schreiber dieser Dinge
verstehen oft die Kunst, jederzeit rechtzeitig am falschen Platz
zu sein, einige sind Überläufer an sich, welche überhaupt nicht
recht ankommen wollen. Aktivisten stehen auf dem Markt, die
niemand dingt, Publizisten sind zuweilen der Typ selbst, den sie
bekämpfen, den sie mit möglichen und unmöglichen Witzen
ebenso unterhalten. Das pflegt ein gewisses Linkshurrah, oft
nützlich und Platz haltend für Genaueres, oft recht abstrakt und
gehaltlos. Licht ist freilich etwas darüber, so daß man sagen
kann: wie die große Demopresse geblieben ist (wer weiß wie
lange), obwohl die demokratische Partei, gar Gesinnung nicht
mehr ist, so hat im Plus, das ein Mann wie Ossietzky der »Welt­
bühne« gab, sich U. S. P. gehalten und Besseres als dies radikale
Kriegs-, mehr Friedensgebilde. Was aber die musischen Zeit­
schriften a la »Neue Rundscham angeht, so haben sie überhaupt
keine bestehende Schicht mehr hinter sich, bloß eine von gestern,
die flieht. Früher lag hier eine Mitte gebildeter Kaufleute und
besitzender Akademiker; diese pflegte eine gewisse Hauskunst
und Hausbildung. Neben dem Boden des fetten Verdienstes
blühte etwas Gartenerde; feinere Wortkunst verschönte in
guten Familien den Knacks der zweiten Generation. Wie die
Abonnenten dieser Kultur sind aber auch ihre Schreiber vergan­
gen; und übrig blieb bloßerWaschzettel der Zeit, der im Schlen­
drian von »Strömungen« und »Betrachtungen« seine Neutralität
hat. In Ordnung illso, daß dieses vergeht; den Platz der falsch
zusammenhängenden Musen nimmt, ganz und gar richtig, das
unzusammenhängende Magazin. Ein amerikanisches Gebilde,
dem tieferen Niveau der dortigen Mittelklasse seit langem ge­
mäß; mit h
i m auch beginnt aufrichtiger, zu Ende getriebener
Spaß. Die Zerstreuten laufen zwar von dem wirklichen Leben
weg, doch die sich bloß musisd1 gesammelt haben, waren ihm
nicht näher. Gar was heute noch an Bildung, durch Vortrag und
Rundfunk, als fertige Ware, verschoben und nicht alle wird,
verdinglicht zum zweitenmaL Ein Bewußtsein, das so gebildet
vom Alltag wegblickt, ist schlimmer als die Zerstreuung. Als
welche, wenn sie vom Alltag wegblickt und zur Ablenkung von
Besdlreibender Schein

ihm benützt wird, doch ebenso seine Leere mitenthält. Der Jahr­
markt der Zerstreuung lenkt ab und betäubt, doch er ist immer­
hin -ein Jahrmarkt. Bilder aus aller Welt unterhalten mit dem
Angestellten den Fluß, worin er sid1 befindet.

B E S C H R E I BENDER SCHEIN

Hier wird ein frischer Blick gern gesehen. Um den Preis, daß der
Sdueiber, der ihn hat, seine Leser nur scheinhaft antrifft. Jün­
gere Darsteller, nicht mehr willens, auch nicht fähig, gebildeten
Sd:lein zu liefern, sudlen dafür einen anderen; den etwa der
Jugend an sich oder dessen, was sie »erlebt« hat. Dieser Stoff ist
eine Zeitlang der Krieg gewesen, genauer: das Fronterlebnis in
ihm, das kameradschaftliche, das gefährliche Dasein fern von zu
Hause. Kraft dessen man aus bloß mittelbürgerlichen Fragen
herauszukommen suchte, indem man sie in den Schützengraben
setzte. Der Kriegsstoff kam so, zehn Jahre nadl dem Krieg,
gerade redlt, um literarischen Bürgersöhnen, die es bleiben wol­
len, den abgelehnten Schein ihrer Klasse zu ersetzen. Aber der
Krieg ist ihnen bezeidmenderweise (damit der Schein nicht
durchstoßen werde) ein bloßer Gefühlsstoff geblieben, obwohl
das Seelisdle an ihm das Geringste gewesen sein dürfte. Der
Kriegsinhalt war ein anderer als der des Fronterlebnisses ver­
lassener, verzweifelter, gemeinschaftlicher oder heldischer Art.
Der Stillstand zeigt sich, bei so viel Erlebnissen, auch darin, daß
der Krieg den bürgerlidlen Stoffen kaum einen zugebradlt hat,
der nid:lt schon im Vorkrieg gewesen wäre. Das gilt, mit Ab­
stand, zugleich für die literarische Eroberung der sogenannten
weiten Welt und der Mitte� in sie zu kommen. Hier ist zwar
weniger Seele, weniger Umsonst des Schreckens, mehr der groß­
zügig zusammenreißende Blidc, den Auto, Flugzeug und Reise­
ulster verleihen. Doch auch die Fernbücher, seien sie von Hauser,
seien sie vom immer noch vorhandenen Edschmid, stehen im
erfrischten Schein. Aud1 sie sammeln nur draußen, um zu Hause
desto exotischer zu zerstreuen; ohne Wildnis der Kolportage
und doch ohne Genauigkeit. Solche Bücher rufen das circulez,
Ersatz und neu

messieurs! nur literarisch oder erschleichen sich Stoffe, die auf


diese Weise gebildeter Putz werden. Selbst Stoffe von Elend,
Bluthunden, Schlachthäusern, Reisfeldern und keinem Zucker­
brot wären erst unter wirldichen Brüdern etwas wert. Unter der
Zerstreuung bewegt sich kein Ding von seinem Platz, dom frei­
lich wird es fließend.

ERSATZ UND NEU

Nimt alle spielen hier mit. Der Bauer gewiß nicht, der Hand­
werker und Kleinhändler wenig. Desto mehr die neue Mitte, sie
sumt ein Leben, das sie meint und nicht führen kann, im Ersatz.
Niemals nennen sich Kleinbürger untereinander so, beschimp­
fen sich nimt einmal so. Auch das hängt mit dem Ersatz zusam­
men, nach dem sie jetzt streben, vor allem in ihrer maßgebenden
Smid1t, den Angestellten. Wer nicht mittanzt, wird von ihnen
nicht Klein-, sondern Spießbürger genannt, und ist in der Tat ja
vorüber. Wendig sieht der Angestellte auf seiner leeren Straße
leerem, ablenkendem Glanz nam. So daß der gesetzte Bürger
ihm namläuft, vom Stammtism aufsteht, verwirrend unterwegs
ist. Der Staub des Tages sieht abends, als beleuchtet, recht bunt
und lockend aus. Das reizt, doch erfüllt nicht, macht nicht echter,
doch immer neuer Dinge begierig.
ZWEITER TEIL

UNGLEICH ZEITIGKElT UND BERAUSCHUNQ


DIE DUNKELN

Wollen nicht mehr mit. Oft nur, weil sie dazu nicht tauglich
sind. So bleibt der erbitterte Mann hier ganz zurüd!, blutig und
dunkel. Immer mehrere werden heute beides zugleich.

SPRUNG ZURÜCK

Fühlen dabei gar viel. Schlagen um sich, besonders nach unten,


wohin sie zu sinken drohen. Diese neue Art Mitte kehrt sich
schief ab, kehrt trübe in sich ein, aber beides aggressiv. Sie läßt
sich durchaus noch ablenken, doch nicht mehr zu etwas, sondern
gegen etwas und selbstverständlich wieder ins Falsche. Diejeni­
gen rufen ihr zu: Haltet den Dieb, die es selber sind. Da wird
raffendes und schaffendes Geld unterschieden, das eine in jüdi­
scher, das andere in arischer Hand. Das eine ist abzuschaffen,
weil der Kleinrentner keiner mehr ist, das andere zu erhalten,
weil es die Bewegung bezahlt. Man würde hier jene Kälber
sehen, die ihren Metzger selber wählen, wäre der Geruch vieler
dieser Kälber nicht gerade der von Metzgern. Seltsam aber auch,
zu was die Mitt� derart fähig wurde; die bisher dumpfste Schicht
dampft. Man sieht Antriebe, so roh und irr, so wenig bürgerlich,
daß sie kaum mehr menschlich sind. Hier will etwas seinen
Sprung tun. Weiß nicht, woher er kommt, wo er landet, was er
in die Zähne nimmt.
WUT UND LACHLUST (1929)

Er wirft sich allerhand schon selber vor. Das Leben ist hart, das
Volk braucht Reize. Neu solche, die man aus dem Leben derer
zieht, welche es noch schlechter haben. Schön ist bereits, arme
Hunde so zu hetzen, wie es die reichen mit einem selber tun.
Rohe, auch lachlustige Wut tobt sich dann aus. Gibt die Tritte
von oben nach unten weiter.
Findige Köpfe machen das jedem heute möglich. Hier ein Bei­
spiel von unterwegs, es steht ( wie bald vielleicht ) für mehr. Die
Frankfurter Festhalle veranstaltete vierzehn Tage und länger
eine sogenannte Internationale Dauer-Marathon-Tanz-Meister­
schaft. Die technische Leitung liegt in den Händen einer Kom­
pagnie, zwisd:len die man nid:lt geraten möchte. Ross Amuse­
ment Co.; klingt wie vom did{en Wallace aus dem Stall gezogen.
Etwa 25 Paare haben sich Tag und Nad1t, 45 Minuten pro
Stunde, in Tanzbewegung zu halten. Die übrigen I 5 Minuten
sind zum Ausruhen, Austreten, zum Essen oder Schlafen be­
stimmt. Tänzer, die während der Tanzzeit die Toiletten auf­
suchen, erhalten drei Minuten Freizeit, wofür sie während der
Ruhepause fünf Minuten weiterzutanzen haben. Die konh.-ur­
rierenden Paare müssen die Füße während der ganzen Tanz­
dauer in Bewegung haben; die eine Hand des einen Partners
stets auf dem anderen, wie beim Vergnügen, wie im Salon. Da
sind nid:lt die Wohltaten des Sports, sondern sämtliche Paare
sollen »ein gesellsd:laftlich würdiges Aussehen« bewahren. Die
Würde der engen Lackschuhe, der Kragen, der Balltoilette; spa­
nische Stiefel zieht man aus dieser Würde und einen Knebel für
verzerrte Gesichter, die dadurd1 doppelt lustig werden. Sieger
der Meisterschaft ist das Paar, welches zuletzt auf dem Tanz­
parkett zusammenbricht. An die 20Paare haben bereits umsonst
geschafft, manche nam über JOO Stunden Tanz. Sie tragen nichts
davon als ein krankes Herz und die Pfiffe der Galerie.
Soeben tretendiePaare wieder vor. Taumelnd aufdas schreck­
liche Oval der Tanzfläche, von Aufsehern gestoßen. Im riesigen
Saal stehen zwei Zelte, aus Zuchthaus-Leinwand, mit kleinen,
blinden Glasfenstern darin. Hierunter verbringen die Tänzer
ihre 15 Minuten, seit Wochen, in einer Stinkluft Tag und Nacht,
Wut und Lachlust 47

mit blutigen Füßen, Folteraugen und einem Leib aus Blei. RM


1ooo erhält von der Direktion derjenige, der nachweist, daß
einer derTänzer oder Tänzerinnen die Ruhezeit von 1 5 Minuten
überschritten hat. Musik, Lautsprecher, humorgewürzte An­
sprachen eines Conferencier füllen draußen die Pause aus. Schon
brennen Pfiffe ein Loch in die Ruhezeit; die fidelen Tänzer hören
es nicht. Sie müssen geschlagen werden, bis sie zu sich kommen;
Posaunenstöße vor der Zelttür, ein rasender Saal. Sachte aber
geschieht die Auferstehung der Toten, und sie formieren sich,
zum alten Trott. Tragen ihre Minne auf die Tanzfläche, gesell­
schaftlich würdig. Brechende Leiber halten einander, die Hand
des einen Partners auf dem blutigen Fleisch des andern. Der
Wackeltopf beginntwieder, aus dem das großeLos zu ziehen ist.
Der eine Tänzer bekommt es sicher nicht. Keine RM 1ooo
nach 20 Tagen Tanz, nicht einmal RM 6o, die dem sechsten Sie­
ger zustehen werden, dem Glückspilz. ))Sondern Piton«, sagt
der Prospekt, ))ist so müde, der Zustand seiner Füße so schlecht,
daß er zu jeder Zeit ausscheiden könnte. Seine Partnerin ist vom
vielen Ermuntern jetzt auch sehr müde geworden und ist anzu­
nehmen, daß sie auch bald ausscheiden wird.« Der Kerl sieht
freilich aus, als taumelte er aus der Folterkammer zum Hoch­
gericht; glühende Zangen würden ihn zu sich bringen. So aber
fällt sein Kopf herunter, die Augen sind geschlossen, Speichel
läuft, die Arme schlenkern oder liegen schwer auf einer armen,
blonden, traurigen Partnerin. Eine Goya-Maske ist aus unsäg­
lid1em Sd1laf gestiegen, mehr noch: Ross Amusement Co. bringt
die Materialisation eines Verdammten. In Fetzen hängt die
Dunstschicht des Jenseits um ihn, geronnen, weißlich und ekel­
haft um ein ergreifendes Leid. Plötzlich wird der Kerl wild, die
Schlaffetzen fallen ab, die hinter ihm hergesmleift hatten oder
in die er eingehüllt war, reißt sich los und stürmt noch am Ende
des Tanzes, ja, während die Musik schon schweigt und die Paare
promenieren, mit der Partnerin auf tollerFlucht kreuz und quer,
nirgendshin, nimmt sie hod1 wie ein Tier, mit dem er kämpft,
wie ein Bred1eisen gegen unsichtbare Feinde, bis er durch das
Brüllen des dreitausendköpfigen Saals vollends erwad1t und den
Sffiiedsrichter anläd1elt, schrecldim und gerettet, als einen Blut­
hund wenigstens aus dieser Welt. Und dieMusikbeginntwieder
Wut und Lachlust

heitere Weisen, einige Paare tanzen sogar echte Figuren, und


die Mädchen sind. durchgehend frischer und adretter als die
Männer. Aber die Figuren sacken bald wieder zusammen, und
wenn die Paare, wie für den letzten Tag vorgesehen, ihre Ruhe­
zeit auf dem Tanzparkett selbst verbringen müssen, wenn dem
Publikum ))Gelegenheit gegeben wird, zu sehen wie die Taozer
in dieser Zeit schlafen und gepflegt werden<< , dann liegen lauter
Leichen auf den Hobelspänen dieses Parketts. Die Nummern
der Tänzer sind ihnen mit einem Leinwandfetzen unten am
rechten Hosenbein angenäht. Das Publikum wird eingeladen,
seinen Favoriten die Unterstützung zu geben, die dieselben
während des Endkampfs mehr denn je nötig haben. Sacken
große Schiffe ab und liegen sie nun da unten, das Wasser füllt
alle Räume und strömt mit leichter Bewegung durch: so ist es
jedem Totenbeschwörer ein leichtes, sich vorzustellen, wie sich
die Leichen der Passagiere im Speisesaal erhoben haben und
träumerisch aneinander vorüberschaukeln, immer im Kreis,
Paare bildend, Figuren bildend, schaukelnd und nickend, die
Herren im Smoking über dem stinkenden Fleisch, die Damen in
Abendtoilette und immer im Kreis. Was dort im Wasser, wäre
hier in Luft und und aus Holz, wenn die Paare nid1t noch lebten
und Ross Amusement Co. nicht die Peitsche in Händen hätte,
fürs Perpetuum mobile aus Qual.
Die Tänzer haben sich freiwillig dazu verstanden. So freiwil­
lig, wie heute Erwerbslose sind, die vor anderen ihrer Art dies
Schauspiel geben. Erwerbslose, Kleinbürger und Proleten füllen
zu drei Vierteln den Raum, lassen sich die Marter dort unten als
Sport vormachen. Als Sport, der kein anderes Ziel hat als den
am längsten hinausgeschobenen Zusammenbruch, keinen ande­
ren Lorbeer als den fürs längste Leiden. Ein Drittel der Wahler
sind heute Nazis; hier im Saal dürfte ihrer mehr als die Hälfte
tonangebend sein. Wenn nicht der Zahl, so den Instinkten nach;
die sie in die Menge gebracht haben. Draußen stehen einige
Dutzend mittlerer Autos, die freilich mehr zum Geschäft als zur
Gesellschaft gehören dürften. Die »Gesellschaft« braucht dies
trockene Gemetzel noch nicht, sie vermietet nur die Festhalle
dazu. Sie hat noch Massen genug unter sich, denen es schlechter
geht als ihr und die sie im täglichen Kolosseum ausweiden kann.
Sachsen ohne Wald 49

Welche Griechen sind wir, die solches Marathon haben, und


weld1e Botschaft, die von ihm gebracht wird. Welche Gemein­
heit und langweilige Roheit in diesen Circenses, welche Dumm­
heit und Unwissenheit noch in ihrem langstieligen Titel. Prag
und andere Städte sollen Ross Amusement Co. verboten haben;
in Deutschland regelt die Polizei den reibungslosen Einlaß. Was
die Volksseele hier auskocht, wird man in Kürze nicht schlecht
anrid1ten.

SACHSEN OHNE WALD (1929)

Leben und leben lassen, das macht sich oft leicht. Aber geht das
Geschäft nicht wie gewöhnlich, dann wird der Sinn scharf. Haßt
alle, die dieselbe Ware verkaufen, sucht sie mehr als je zu ver­
drängen. Nun sind viele Läden nebenan jüdisch, manche viel­
leicht aud1 besser geführt. Also wird der Haß besonders loh­
nend, auch durchsichtig: Juden raus, nämlich aus dem anderen
Laden. Und schlägt man das jüdische Kapital und lenkt darauf
ab, so rettet man vielleid1t das eigene. Seit die Klingel an der
Trir rostet, blickt der Krämer besonders blau.
Aber viele verbessern sich jetzt, blonden Haares, auch inner­
lich. Der kleine Mann fühlt sich gerne adlig, das ersetzt ihm den
Aufstrich aufs Brot. Er fühlt sich hinter Pult und Ladentisch be­
deutend besser, seit er ein Norde ist oder vollwertig in seiner
Blondheit wenigstens dem Blut nach. An sich in seiner Blondheit
herabblickend, blickt er zu sid1 ebenso auf; Teut macht ihm seine
Nacktheit stolz und stärkt Narzißmus unter den Kleidern, im
kärglichen Amte. Rassestolz wird zum Adelstick der Rotüre,
dient erst recht der schlauesten Demagogie: er schließt die ge­
schundene Person völlig in ihren Blutring ein, gibt ihr deutsche
Ehre als Brot, durchkreuzt den Klassenkampf. Er macht aber
die rassig interpretierte »Nation« ebenso persönlich, zum Selbst­
gefühl des einzelnen blonden Leibs; so daß der Teutone, vom
Blut befriedigt, nicht nach Mitbesitz an den anderen Reichtü­
mern der Nation verlangt. Seltsam nur, wie gerade der mittlere
Deutsche das Blut so feiern mag. Lebten hier lauter Friesen,
dann stammte die rassige Rede wenigstens aus ebensolmem
Sachsen ohne Wald
so

Mund. Doch Deutschland ist, wie bekannt, besonders vielseitig,


auch fruchtbar gemischt und sicher zum geringsten Teil nor­
disch. Dem Kleinbürger ist der nordische Edeling vielleicht nötig
zum Halt seines falschen Bewußtseins, doch er selbst- ist blut­
mäßig keine.r. Kelten, Römer, gar »Üstier« leben im Westen
und Süden des Reichs; der Osten ist fast völlig slawisch, eine
dünne, nicht einmal eindeutig nordisd1e Schicht von Eroberern
und Eingewanderten liegt darüber. Ja, die nordische Rassen­
phrase ist so wenig patriotism, daß sie, wenn sie die nordische
als Edelrasse krönt, fast eine Ideologie für Landesverrat sein
könnte. England, Skandinavien, selbst Nordfrankreich sind ger­
manischer, vor allem nordgermanischer als das große Mischvolk
Deutschland. »Germania« ist ein Stück Internationale, und sein
Kirchenstaat liegt eher an der Themse als in Colonia Agrippina
oder auch in der Stadt Zabrze, die jetzt Hindenburg heißt. Die
Völkischen müßten also nid1t nur die Juden, sondern den größten
TeilDeutschlands aus ihm herauswerfen, um in ihrem »Deutsdl­
land« zu sein. Sie im Fleisd1 sind selbst meist >>Sünder wider das
Blut«, seit Hunderten von Jahren: so bedenklich ist »Rasse«,
wenn man kein Wikinger ist oder kein - Jude.
Andererseits schweigen die Juden, die hier gerade am wenig­
sten zu schweigen nötig hätten. Sie lassen jedes Rassebuch unge­
stört antisemitisch: alle Arier Edelinge und nur so abgebildet,
alle Juden Baldower - als ob sich die Baldower vor den Pachul­
ken zu genieren hätten; als gäbe es nicht auch das schönste, das
durd1gekochteste Rassebild in Israel. Die Juden lassen den Un­
sinn zu, daß so zahlloses Mischvolk in Deutschland sid1 als hun­
dertprozentig setzt, um Israel, eine seit Jahrhunderten geprägte
Rasse, als Paria zu verleumden. Mischvolk wie die meistenDeut­
sdlen zu sein, ist an sich kein Unglück und keine Minderwertig­
keit; dodl. die Gemeinheit und Dummheit stinken zum Himmel,
wenn eben dieses Mischvolk der Rasse der Bibel sich überhebt,
als wäre die jüdische Großmutter eine Geschlechtskrankheit.
Gesimtsloser Pöbel beschimpft nicht nur den Pöbel im alten
Judenvolk, sondern rast gegen die Substanz dieses Volkes, von
dem er einmal die Bibel hatte; ja, bleibt man einenAugenblid< in
der Rassenideologie, so ist zu sagen: nur »Kanaille(( kann so ge­
gen »Rasse« wüten, wirkliche Rasse müßte die andere ehren, ist
Sachsen ohne Wald 51

sie ( nach Meinung der Antisemiten selbst ) so stark wie bei den
Juden. Der jüdische Bourgeois, der leere Intellektuelle stehen
auf einem andern Blatt, auf einem, das er mit lauter Ariern teilt,
weil es nicht zur Rasse, sondern zum Hauptbuch des Kapitalis­
mus gehört: aber »Fremdheit« zum Juden, zur jüdischen Sub­
stanz ab ovo? Allen, welche sich noch Christen nennen, oder
mindestens ihren Vorvätern war die biblische Welt doch einmal
recht vertraut und Jesus ihre Zuversicht. \>Veiche Lichter möchte
sich doch gerade der Antisemit aufstecken und wie allerhöchst
gar würde er illuminieren, wenn die Geschichte seines Volkes
das Erbauungsbuch der weißen Rasse geworden wäre; statt daß
er dies Faktum jetzt, mit erstaunlichem Erfolg, aus dem Be­
wußtsein verdrängt. Abernoch die bewußten Abkehrer von der
Bibel, die ehrlichen Neuheiden des Landes, leben von jüdischer
Nähe, kopieren (so unfruchtbar, wie der Antisemit sich den
Juden wünscht und hinstellt, dazu ganz ohne Verständnis des
Sinns ) die Kategorie des »auserwählten Volks«. Die Nation als
Gegenstand des patriotischen Gefühls beginnt zwar erst mit der
Französischen Revolution, mit dem Sieg des französischen Bür­
gertums, das die hochmütige Internationale des Adels zerbrach;
la grande nation Ludwigs XIV. enthielt noch keineswegs die
»Roture« mit, und Friedrich li. von Preußen fühlte keineswegs
deutsch. Aber so gewaltig nachher das deutsche Vaterlandsge­
fühl auch durchschlug und so viel mittelalterliche Romantik die
Staaten des Hochschutzzolles, gar des Imperialismus verschönte:
der Mythos vom auserwählten Volk kommt den Deutschen
nicht aus ihrem Bürgertum, nicht einmal aus der Romantik des
alten Reichs. Sondern eindeutig aus der Bibel und ist das einzige,
was den wilden Olbaum der deutschen Heiden noch mit dem
echten Olbaum Israels verbindet, in den er einmal gepfropft
war, Als der Arische in den Kreuzzügen nach Palästina zog,
schlug er zu Hause erst Israel tot; will der Hakenkreuzler aus­
erwähltes Volk sein, muß er heute das Original verleumden,
unter den Stiefel treten, zur >>Weltpest« machen und ausrotten,
um selber »auserwählt« zu sein, um überhaupt nur »Rasse« zu
haben. Die Rasse eines Nicht-Juden, welche er nun freilich hat;
sie ist für Sachsen ohne Wald, für die vielen jetzigen Sad1sen
des Reichs Blut und Wald geworden. Erst recht gibt es keine
Raubnacht in Stadt und Land

deutsche Kultur ohne die Bibel; ihr haben sich die besten Deut­
schen nid1t weniger �>assimiliert« als die besten Juden sich wie­
derum der deutschen Kultur. Jener eben, welche die Bibel in sid1
hat, und welche von Eckart bis - Mahler reicht. Doch eben sdlon,
was Rasse angeht: Rasse im organisch durd1gekod1ten Sinn
zeigen die Juden sicherer als die meisten Deutschen; und Rasse
in ihrem einzigen Wertsinn: als Auftrieb zur Menschenähnicll l ­
keit - haben gerade Juden deutlid1 genug gelehrt, um sie nicht
mit Tierzucht verwed1seln zu lassen. Oder mit dem Kampfbund
des gewerblichen Mittelstands oder mit den Raffke-Gesten,
»Raubtier«-Gesten des späten Kapitals. Was viele Juden als
Drohnen sind: es besteht kein Anlaß, sie zu schonen, doch auch
keiner, sie anders als die arischen Ausbeuter matt zu setzen.
Was viele Juden der Großstadt intellektuell geworden sind, dies
platt Kluge, Abstrakte, zu nichts Verpflichtende: es besteht eben­
sowenig Anlaß, diese Art Intelligenz zu dulden, doch erst recht
keiner, den Kapitalismus als Grundgehalt zu übersehen, der
audl hier sicll aussingt und den Sdladen Josefs mit dem Sdladen
Teuts recht gut vereint. Daß so viele Juden aber diesem Scha­
chergeist obliegen (nidlt mehr dodl als die ))Totengräber« der
)1deutsd1en Treu und Redlidlkeit<C): dieser Abfall ist erst recht
nid1t von Stinnes, sondern nur vom - Juden Marx her ridltbar;
und die bei Marx stehen, kennen gerade als Juden diesen Abfall
am wenigsten. Zu ihnen kehrt sidl vielleimt mandler deutsdle
Mann, wenn seine Recken genug jüdisc.!-te Reklame getrieben
haben. Wenn man im Warenhaus der Nazis (das alles zu führen
versprid1t) vergebens ein Stück Brot, einen Bissen Wahrheit zu
erhalten wünscllt.

RAUHNACHT IN STADT UND LAND (1929)

Bis vor kurzem war der Bauer keinem fremd. Der Weg in die
Stadt, aus ihr heraus, war nah oder hatte Übergänge. Das dicke
Land selbst, man taudlte ein wie in Sclllaf, in sammelnden, bun­
ten. Wer zu malen, ZU smreiben hatte, lernte die Stille nom von
anderer Seite lieben. Wie die Bauern taten die Maler ihr Tag-
Rauhnacht in Stadt und Land 53

werk, oft mit dem Frühesten; da stieg etwas aus dem Saft. Der
Boden trieb, seine mancherlei Früchte wurden in der Stadt
verkauft.
Jetzt dagegen ist der Boden gereizt, seine Menschen und er
selbst. Die wirtschaftlichen Ursachen sind nicht unklar, ihre Fol­
gen desto erstaunlid1er. Die mittlere Stadt s
i t heute, zum Teil,
nur verödet, doch das Land wirft Schlamm auf. Die mittlere
Stadt ist zum Teil von Gebildeten bevölkert, denen im Um­
bruch des Gewohnten nid1t geheuer ist und die deshalb innere
Werte pflegen. Aber das Land setzt sich qualitativ gegen die
Zeit ab, gräbt unter Bud1en (keine Judenbuche ist darunter )
nach verrotteten Schätzen. Die mittlere oder Plüschstadt ist auf
dem Weg Berlin nur etwas außerhalb geblieben, hinterläßt
jedoch, mit vielsagender Ausnahme Münchens, noch keine pathe­
tische Leiche. Dagegen dem Land steigt alter Saft in längst ver­
gessene Triebe, es nährt Nation�lsozialisten und völkische My­
thologen, kurz, steht auf als Pastorale militans. Vor dem Krieg,
sagten wir, war es allem Treibenden verwandt, ganz gleich, zu
welchem Ende und in welchem Stockwerk es wuchs. Die Trieb­
kraft aus dem Boden war stark, doch gleichsam neutral; Bilder
und Gedanken, obwohl sie gern auf dem Land ausgearbeitet
wurden, nahmen keine Ideologie davon an. DieMaler des ersten
expressionistisd1en Dokuments, des »Blauen Reiten<, wohnten
in Oberbayern, und die Murnauer Glasbilder waren ihnen keine
Folldore, sondern Zeugen der eigenen, höchst gegenwärtigen
Pbantastik. Heute jedoch beziehen gerade die Windjacken ihre
Dumpfheit aus Schwaben-Bayern, wenn auch mit Stockflecken,
und die »Kräfte«, die aus Heimat und Volkheit zutage treten,
dienen ausschließlich kleinbürgerlicher Reaktion. Die Murnauer
Glasbilder ( pars pro toto) sind zu Mahnmalen einer reaktionä­
ren Heimatkunst oder zu Kellerfenstern einer Erdromantik ge­
worden, die Marcs, Kandinskys Blauer Subjekt-Reiter gewiß
nicht gemeint hatte. Antiquitäten des Landes werden nicht mehr
als ein Stück heimisches Tahiti gesehen, gleichsam als koUegia­
lische Wunderländer geliebt, von Mensdlen in der Richtung
Gauguins, sondern sie sind wieder »altdeutsdle Weinstuben«
geworden, bestenfalls Dekorationen eines finsteren Spuks.
Erst redlt ist Pan nicht mehr bukolisch wie vordem, zur Zeit
Raubnacht in Stadt und Land
54

Beethovens, zur Zeit der Rousseauschen, der freudevollen Liebe


zur Natur. Die Pastorale Beethovens und Sd:mberts, selbst
Bruckners und Mahlers waren noch freundliche Einweihungen
in Bach und Grün, in den ungereizten Boden unseres Süddeutsch­
land. Der DämonBeethoven musizierte, als er in die Natur ging,
»heitere Empfindungen bei Ankunft auf dem Lande«; da war
idyllischer Umgang des Pan, und sein erhabener stand trotz des
Gewitters, das dem Dämon Beethoven gemäß war, im Christen­
gott. Der weniger dämonische, doch völkische Pfitzner möchte,
wenn er Pastorale schriebe, nichts als Leichengift musizieren,
ein Anti-Berlin und dieses ohne Licht. Kurz: war die mittlere
Stadt nur Etappe, so ist das Land Front gegen Berlin geworden;
und die Lage dieser Front ist am merkwürdigsten.
Weil sie nämlich so gut und gerade im vordem leichten Süden
vorbereitet ist. Auf die Gefahr hin, selbst mythologisch zu wer­
den, muß man doch auch dem schwäbisd1-bayrischen Standort
das seine geben. Denn mehr als irgendwo schafft hier - wenn­
gleich durchaus interessiert - noch eine Art Glaube mit, der
nimt nur kapitalistisch ist, vielmehr aus älteren Ideologien, ja,
aus dem Boden selbst, worauf sich diese gerichtet hatten, Zusatz­
kraft zu ziehen smeint. Schon der Grundbesitz ist hier in Süd­
deutsroland und in der Smweiz nimt nur Kapital, nimt nur der
(sehr viel ältere ) Garant persönlimer Freiheit, sondern ein
Winkel Erdkirme gleichsam, ein Stück mythischer Bodenver­
fallenheit. Der Bann ist zwar klug genug, um nicht weiter als bis
zum Besitz- und Freiheitswillen des Mittelbauern zurückzu­
stoßen. Er ist gerade nicht so archaisch, daß er etwa den Fami­
lien-Egoismus, das »Naturremt« des parzellierten Gnmdbesit­
zes störte; das Ard1aische erinnert nicht an wirklich archaische
Zustände, ans Gemeinde-Eigentum oder die Allmende. Dom
sperrt der Bann auch statisch genug gegen jede neuere Ratio­
nalisierung: ganz Alemanoien-Bayern ist erdbesessen und seine
Dimter und Ideologen, je christlimer sie smeinen, desto mehr.
Nom Hebel war ein freundlicher Landgeist, seine Menschen
sind Wanderburschen aus Segringen in der weiten Welt; gar
Gottfried Keller, wenn er hier überhaupt nennbar ist, hat die
Schweiz, wie sie ist, verlegt, er läßt ein unaufhörlimes Märchen­
limt, also Fremd- und Wunderlicht, darin spielen. Jedoch der
Rauhnacht in Stadt und Land 55

Erzalemanne Gotthelf verspiegelt bereits nichts mehr, am


wenigsten ins Weite, er predigt ohne weiteren Zusatz gerade
Bernergeist gegen Zeitgeist; und der Standort Bern bezeichnet
schon auf dem Titel reaktionär-mythischen Inhalt. Niemals
wären Frankfurtergeist oder Nürnbergergeist so ohne weiteres
zum Zeitgeist (im Bewegungssinn ) antithetisch; der Stadttypus
Berlin wäre in Franken. aber niemals n i einem Land denkbar,
wo die pure Geographie, wie bei Gotthelf, schon eine Art Bo­
denkult, j a Erdkult meint. Auch dem großen Mythologen Bach­
ofen kam zweifellos das Schweizerland sehr gut entgegen; »in
der Begrenzung der Täler und Landschaften bildet sich jener
heimische Sinn, dessen Innigkeit die Bewohner weiter Ebenen
nicht kennen« . Ja, wo immer Bachofen patriarchalische Verhält­
nisse und Erdkulte malt, färbtLiebe zum schweizerischen »Mut­
terland« mit; selbst Dionysos steht ihm der Demeter näher als
dem Wein. Gebundenheit gibt sich hier folglich seit langem als
sonderbarste Eingebundenheit, grenzsetzendes Schicksal als
chthonisches Schicksal, gleid1 als wäre der Boden selbst noch von
alten Erdkulten gesättigt und hielte - mit einer Art objektiver
Romantik - seine Bewohner fest. Alemanoien-Bayern erscheint
von hier aus wie ein katalaunisches Feld, worin erschlagene My­
then oder Mytheninhalte nach der realen Schlacht noch um­
gehen, und das nid1t nur ästhetisch, sondern im Bann des alten
Standorts. Hier ist eine Art haltendes Feld mit stärkster Bauern­
schaft und fast keiner Großstadt, außer dem Spezifikum Mün­
chen; eben die Erdinhalte dieses Feldes kommen aum jetzt wie­
der dem Haberfeldtreiben gegen »Zivilisation« zugute. Wie
wenn ein Götzenbild unter bestimmten Konstellationen wieder
magische Kräfte bekäme, so silleint auch jetzt wieder - in der
genau bestimmten Ideologie dieses »Kreises « - Phantasma von
Hauskult und Bewahrung, von Fernhaß und »Geist«-Haß.
>>Auch die Dämonen des Orts machen ihre Ansprüche geltend«,
sagt Bad10fen, und gemeint ist das chthonische Beharren, hier so
besonders stark: paganus der Bauer, paganus der Heide. Dieser
Doppelsinn des Worts paganus erinnert ja heute nocll an die
späte und zähe Mühe, dem Christentum im ländlich geschlosse­
nen Bannkreis »Eingang zu verschaffen«. Der Bauer überall
sperrte sich gegen den christlichen Bruch, gegen den Bruch mit
s6 Rauhnacht in Stadt und Land

dem ideologisch-substantiellen Verhältnis, das seine Technik


und Lebensform mit der gegebenen »Natur« hatte; er sperrte
sich gegen die Wachheit und das umarbeitende Bewußtsein des
Christentums. Auch als das Christentum längst angenommen
war, ja, als es sich den agrarisch-urwüchsigen Verhältnissen der
Germanen sogar leichter verbunden hatte als ehemals der römi­
schen Zivilisation: wurde J esus desto enger wieder zum Haus­
und Feldgott umgestellt; Pan hat gegen den Homo spiritualis so
wenig ausgespielt wie heute, unter anderen Sternen, gegen den
Homo faber. Wo immer der Ort dieser panischen Bindung sein
mag, ob sie nur ideologisch ist oder ob hier ein Stüd< Natur
selbst mitwirkt, wechselwirkt, das der Erdkult einmal berufen
und mythologisch bezeichnet hatte: aus dieser Bindung kommt
heute noch Beharren und Dumpfheit, tiefe Antipathie gegen
Bewegung ins Unbekannte, Unwille, sich die Erde ( gründlich )
untertan zu machen, Haß gegen Rationalisierung, Ideologie des
heiligen Grundbesitzes, die dem durchsichtigen Interesse immer­
hin wie gerufen, wie aus dem Boden gerufen kommt. Moderne
Nüduernheit und moderner Atheismus sind selbstverständlich
auch hier; nur haben sie den Bodenmythos nidtt entfernt so ver­
trieben und aufgeklärt wie den Jenseitsglauben. So scheint die
Landreaktion nid1t nur ökonomisch, sondern auch ))d1thonisd1«
buchstäblich gut unterbaut. Und dieses eingesunkene Mutter­
haus liegt heute wieder zutage, mit allen Instink
ten, allen Rest­
beständen seines Banns. Das geheime Deutschland solcber Ob­
servanz (oder Anti-Berlin) hat zwar keine Kraft mehr zu
Bauernmöbeln oder Votivbildern, dodl auf dem Giebel seines
Hauses kreuzen sich Pferdeköpfe, Mythos bewacht die gute
Stube. Dies geheime Deutschland ist ein riesiger, ein kamender
Behälter von Vergangenheit; er ergießt sich vom Land gegen
die Stadt, gegen Proletariat und Bankkapital ))zugleicb«, er ist
tauglich zu jedem Terror, den das Bankkapital brauch.t. My­
thisch gewordene Bodenständigkeit erzeugt so nicbt nur fal­
sches Bewußtsein, sondern stärkt es durch Unterbewußtsein,
durch den wirklich dunklen Strom.
Daran saugen nun aud1 andere Heiden oder solche, die sie
gebrauchen. Gefühlvoll kommt die Stadt aUmählid1 entgegen,
sogar h
i r Plüsch, ihr bloß zurüd<gebliebenes, wird wie falsmes
Raubnacht in Stadt und Land 57

Moos. Gar das Wochenende befreit sich zunehmend aus der


bloßen Zerstreuung: der Wunsch, sich gesund zu baden, kocht
als Schrei und Protest. Das Land hatte sid1 gegen einen mecha­
nisierten Zustand gewehrt, den es doch noch gar nicht kennt,
und den es nicht wegen seiner Öde, sondern vor allem wegen
der erwarteten kommunistischen Folgen abgelehnt hatte. Die
Angestellten der Stadt dagegen fliehen die Mechanei, die ihnen
der Kapitalismus bereits vollkommen beschert hat, und in der
sie sich seit wad1sender Verödung der Arbeit, seit wachsender
Krise so wenig mehr wohlfühlen, daß sie den Hochmutsgraben
zwischen Stadt und Land erstmalig überspringen, daß sie Erd­
mythos in ihre Welt einlassen: nämlich als ))organischen« Ma­
schinensturm, der ihnen den Kapitalismus ersetzt. Jetzt erst hat,
wie bei den Bauern, der Jude die Krise erfunden, ja, Krise, Kapi­
talismus und Marxismus werden in phantastischer, fast phanta­
stisch gewollter Unwissenheit in eins gesetzt; die Stadt mamt
sim dem Erdboden gleid1. An allen ihren Ruinen sieht man
heute, wie breit aum hier der ))Trieb<< gegen den »Geist<< um­
geht, der Blutstrieb, Wildtrieb, als welcher das einzige ))Land«
des Städters ist. Auch bei solchen geht dieser Gegensatz um, die
nie davon in ihren Büchern gelesen haben, die nimts von einem
Klages wissen oder anderen neuen Rufen hin zur Natur. Rous­
seauismus, wie ihn diese Schicht erneuert - als Lied oft ohne
Worte - lebte im ganzen XIX. Jahrhundert; dod1 war er ent­
weder spießbürgerlich harmlos und Weltanschauung des Ur­
laubs, oder aber Sache der Avantgarde, die, bei Nietzsche !, keine
Bauern-Dumpfheit daraus zog. Nietzsche stand bei Offenbach
und dem Durchbruch Carmen, nicht bei den Söhnen Teuts; er
stand bei der Utopie, wenn auch einer reaktionär gebrannten,
nicht im Stillstand der Gäa. Wie war Gäa selber ungereizt, mehr
Buntheit als Bann, mehr Dialekt als Erde: so eben schien
noch das alte Bayern, mit Bergen, die tief im Katholizismus
lagen, nicht in einer nationalsozialistischen Provinz, mit dem
Kristall der Alpspitze quer vor den Götterstatuen des Zugspitz­
massivs, den gänzlich unmythologischen - hier waren einmal
Kräfte, aus denen sich jeder nur Gutes holen konnte und ein
Feld eben für »Blaue Reiter«, nidlt für die Ruinen einer aber­
gläubischen Baukunst. Heute dagegen beginnen Stadt wie Land
s8 Rauhnacht in Stadt und Land

gemeinsam Aberglaube zu werden; der Boden hat auch in der


Stadt über die Bewegung gesiegt und ein sehr alter Raum über
die Zeit. Was an Bewegung da ist, was so unendlich verstehbar
nach Halt sucht, greift falsch, will »die großen alten Mächte des
Lebens«, die großenteils nur noch als Spuk geblieben sind. Die
verzweifelten Menschen tragen Tiermasken, wie sonst nur be­
rauschte Bauern in der bayrisch-österreichischen »Rauhnacht«;
Brunst mit Fratzen erscheint als Adventszeit. -
Sie wird dem Land keine, das bloß um sich schlägt. Mit Schlä­
gen, die immer nur den Falschen treffen und vom Rechten be­
zahlt werden. Der deutscl1e Fascio ist die trübe Antwort der
Mitte, die exakte des Großkapitals auf eine Krise, die ins Mark
geht. Der revisionistische Schwindel der Sozialdemokraten und
sein Oberhaus: die Demokratie volksstaatlicherIllusionen - ver­
fangen bei der Masse nicht mehr. So greift das Kapital, in höch­
ster Bedrohung, zu einem neuen Betrug, zu einem mythologi­
schen, und setzt Prämien auf alle »ungleichzeitigen« Bestände,
welche diesen Betrug ehrlich nähren oder in sich, zeitfremd,
unbewußt, verkapselt sind. Die Verelendung der Bauern und
des Mittelstandes stößt zu der des Proletariats; also wird Faseis­
mus notwendig, die Proleten völlig niederzuhalten und die neu
proletarisiertenvon ihnen ideologisch abzutrennen. Das gelingt:
denn die Unzufriedenen sind schon gruppe11n1äßig zu verschie­
den, um ihre Lage gemeinsam durchschauen zu können; und die
städtische Mitte gar: wie sie selbst nicht u11n1ittelbar in der Pro�
duktion steht, so denkt sie lauter unanalysierte Zwischenglieder,
auch Altformen, worin ungelüftete Instinkte hausen und alle
'\Vidersprüche von Person und Kollektiv dazu, von Rädchen­
sein, Heldsein und Staatsdiktatur zugleich. Diese Altformen
gerade trennen Proletariat und Proletarisierte vorzüglich; daher
denn werden sie vom Großkapital mit solchem Erfolg, in Stadt
wie Land, prämiiert. Der völkischen Familien-, Stände- und
Naturlehre fehlt also jeder Bezug zur Lebensform der Arbeiter,
wie umgekehrt die Lebensform der Angestellten, ihre Instinkte
und Restbestände im proletarischen Materialismus nicht unter­
kommen. Das ist ein seltsamer, ein unheilvoller Zirkel: gerade
der kapitalistische Betrieb staut »Seele«, und sie will abfließen,
ja, gegen die Ode und Entmenschung explodieren; gerade der
Raubnacht in Stadt und Land 59

Vulgärmarxismus aber, d e m die Angestellten zuerst beg egnen,


und der in d erTat nicht s elten ist, kreist ihnen ihre ))Seele« noch­
mals aus, auch theoretisch, treibt sie folglich zu einem reaktio­
nären )) Idealismus« zurüd<. D erart siegen erst recht R e stbe­
stände aus sehr verschi ed enem ))Es war einmal« ( es fängt aber
kein Märchen damit an, nur ein Mythos ). Das still e Buch malt
immer mehr der Väter Zucht und Sitte; den Lichtern Holly­
woods, die nur in den Traum gingen, folgen die Parademärsch e
Potsdams, die auch ins Blut gehen; das Pläsier zieht - mit der
neuen Verführung Thusnelda - den Rock übers Knie und Vater
Rhein hat längst Valenzia besiegt. Filme, die vor kurzem nur
läppische H eiterkeit oder faszinierende Salons zeigten, ziehen
zum Zweck weit exakterer Ablenkung in die Befreiungskriege
aus. Lützows wilde, verwegene Jagd und andere Autarkien auf
Kriegsfuß v erwandeln Erwerbslose in Kanonenfutter; Revo­
lution gar vergißt sich unter Kriegstrommeln von s elbst. So
wird die Leere der Z erstreuung (an die keiner geglaubt hatte)
jetzt eine der B e rausdmng, mit Exotik zu Hause, mit nationa­
l e m Mythos (an d e n der Nationalsozialist durchaus glaubt); sie
wird mit Kitsch und einem Mythos gestopft, der seine Phanta­
sterei nicht in der Ferne, sondern gleichsam senkrecht unter dem
heimischen Boden hat. Ja, die sdlale Kraft der Reaktion ist so
groß, daß sie im G efolge des Kitsdles nochmals das XIX. Jahr­
hundert der Portieren anrichtet, und zwar unmittelbar. Was
man nur fahl, wie Ruin en aus d e r Kindheit hereinragen sah, was
die Surrealisten als unheimlichste Entdeckung hatten, nämlich
den ))unbegrabenen Leidmam unserer Eltern«: das baut sich
nun in die Reaktion naiv ein, naiv widerwärtig und geladen. Wie
der verirrte Reiter in S ealsfields ))Prärie am Jacinto« endlich
eine Spur findet, er folgt ihr hin bis zu ihrem Lagerplatz, um
dann zu sehen, daß sie völlig versd1windet ( d enn eben d e r Ver­
irrte war seiner eigen en Spur nadlgeritten, und d e r Lagerplatz
war sein eigener vor fünf Tag en): so wirkt manche Kulturreal<­
tion von heute, als wären nicht Tage, sondern fünfzig Jahre
nicht gewesen, und man halte wieder in der guten Stube vor
einem Menschenalter. Das Großkapital selbst überläßt den
Rückzug zwar d e r Mittelschicht, bleibt bei seiner ))Sachlichkeit«
und Fassade, hat keinen Glauben an Vaterland und Urzeit, pflegt
6o Raubnacht in Stadt und Land

nur allerlei Experimente der >>Montage« und sieht sie sich an.
Aber es ist zusammen mit den Nationalsozialisten doch inquisi­
torisch geworden, empfindlich gegen jede Art von >>Kultur­
bolschewismus«, die den anderen deutlich nach sich ziehen
könnte; es hat sich in seiner Leere formidabel gemacht, hat nicht
den skeptischen Relativismus, wohl aber die skeptische Tole­
ranz von früher durchaus gesperrt. Das Großkapital hat keinen
Dionysos des Muff, wie die Stadtbünde, die es heranpfeift, dod1
es beschützt und formuliert ihn desto bewußter. So geht auch in
der Großstadt die Reaktion bis zu den »chthonischen« Beständen
einer Vorzeit zurück; dort also, wo man sie am wenigstens ver­
mutet hätte. Ja, sie geht- anders als im altnüd1ternen, seßhaften,
erdgebundenen Land - bis zum Berserker zurück und seinem
völlig dunkelnAmoklauf. Mag dieser auch allemal -beim Klein­
bürger wenigstens, als dem Gros der Bewegung - in der guten
Stube von gestern und vorgestern vorläufig enden.
Die Frage ist, ob Wildes, das Leere verstopft, sie nicht ebenso
weiter aufreißt. Denn die Mitte ist buchstäblich irre geworden
und die Jungen wollen nicht nur in den Muff nach Hause. Ihrer
städtischen Wildnis verschwinden nicht 50 Jahre wie beim Zau­
ber der guten Stube, sondern wie auf dem Land scheinen Jahr­
hunderte zu verdunsten, Veitstanz beginnt auf der Straße. Man
sieht durchaus zwar: darin ist keinerlei ))Deutschland erwache« ;
das Naziturn bildet vielmehr einen Schutzraum für die wider­
sprechende Unruhe, damit sie j a nicht erwache. Jedoch die Frage
mindestens bleibt: ob das beginnende Disparate und »Irratio­
nale« des nationalsozialistischen Anblicks auch in der Stadt,
gerade in ihr, so sehr es den Widerspruch zum Kapital einkap ­
selt und die Hohlräume mythisch verstopft, nicht ebenso der
kapitalistischen Ratio sonderbar werden mag. Lasse man das
Nädme einen Augenblick beiseite: daß nämlich die fortschrei­
tende Proletarisierung der Mitte ohnedies, das heißt, bei rich­
tiger Führung, den nationalsozialistischen Nebel durchstößt; ist
er doch ökonomisd1 nichts in bar und kann es nicht sein. Aber
jetzt schon kann der Kapitalismus mit zwei »Wahrheiten« nicht
i rationalen hier, für sein Volk, mit
völlig Ruhe halten: mit einer r
einer abstrakt-mechanischen dort, im Betrieb. Der Kapitalismus
hatte keine andere Wahl als die, weldle er bis jetzt mit dem
Amusement Co., Grauen, Drittes Reich 61

�ascismus vorzüglidt getroffen hat: jedodt alter Liberalismus


wäre ihm gewiß lieber als der romantische >>Antikapitalismus<<
(ohne den das Geschäft freilich in Deutschland nicht mehr zu
machen war). Der Blutmythos, die Berauschung insgesamt ist
nicht der wünschbarste Diener des kapitalistischen Verstands.
Ja, um weiter zu sehen, um dem früher oder später ndurdtsto­
ßenen Nebel« und dem kommunistischen Schluß durchaus das
seine zu geben: der Nebel gibt nicht bloß dem kapitalistischen
Verstand, sondern auch der kommunistischen Vernunft noch
manches vielleicht zu raten auf. Nicht nach Seite der »irrationa­
len« Zurückgebliebenheit und Dummheit, gar nach Seite des
offenen Betrugs.Wohl aber sind im nationalsozialistischen Dunst­
bau, wie zu merken war, gewisse unterirdische Keller enthalten,
auch gewisse versunkene Oberbauten, deren selbst kommuni­
stisch noch nicht völlig »aufgehobener« Inhalt ernsthaft zu prü­
fen bleibt. Hier ist, wie an den Bauern bemerkt wurde, nicht nur
falsdtes Bewußtsein, sondern didces Unbewußtsein von früher,
sogar vorgeschichtlicher Art. Hier drohen deshalb, auch wenn
zehn Fünfj ahrpläne der Vernunft vollendet sind, gar wenn die
ganze angebliche »Gottlosigkeit<< geblieben sein sollte, Wetter­
winkel möglicher Reaktion. Die Romantik hat zwar keine an­
dere Zukunft als bestenfalls diejenige unerledigter Vergangen­
heit. Doch diese Art Zukunft hat sie, und sie müßte ihr, im
genauen dialektischen Mehrsinn dieses Begriffs, >>aufgehoben«
werden.

AMUSEMENT CO., GRAUEN,


DRITTES REICH ( September 1930)

So roh es hergeht, so wirre Männer tauchen auf. Bisher war der


Mob, wie man das nannte, bloß links, jetzt ist er auch rechts,
sogar die Mitte ist nicht sicher. Immer weiter reißt sie sich in
Wildnis hinein, das Auge wird stur, das Gesicht glühend, dumpf,
verbissen. Unkenntlich Bekanntes, was bisher falschem Licht
nachfl.og, wühlt sich in desto aufgeregtere Finsternis ein. Das
griffeste Messer wandert vom Land in die Stadt, von der Kirch­
weih in die Saalschlacht, und diese sticht trüb, blutunterlaufen.
6:z. Amusement Co., Grauen, Drittes Reich

Hier wirken Triebe, die die Not und das falsche Bewußtsein von
ihr nur freilegen, die aber nicht von heute snd.
i Sondern ein
Stück fossiler Mond scheint, darunter ist ein Weg, an den man
sich seltsam erinnert.
Was auf ihm herkommt, vor dem hatten nicht nur Juden die
Tür verriegelt. Gespenstisch steigen alte Fratzen auf und sind
doch wirklich: der Nazi etwa, der nach der Ankunft von Böß
die ganze Nacht vor dessen Haus getanzt hat, mit einem gelben
Pelz bis auf die Füße, war vor 500 Jahren, wenn Juden tot­
geschlagen wurden, genauso wild und witzig. Mit einem Pelz
tanzte er, schaukelte und tobte er die ganze Nacht, weil auch
Böß, der Berliner Bürgermeister, in eine Pelzaffäre verwickelt
war; uralt aber ist der Geruch dieses Auftritts, trotz des elenden
Witzes, der schäbigen Dummheit seiner Anspielung, uralt und
schrecklich wie aus einem Angsttraum und den Abgründen, die
er streift. Und auch sonst: während kommunistische Exzesse, als
von einer neuen Schicht ausgehend, wenig deutsche Folklore
einmischen, erinnern nationalsozialistisdle sehr oft, selbst wenn
sie die schwerfällige Munterkeit des Tänzers nicht erreichen, an
rezente Vorzeit. Da sind mittelalterliche Gassen wieder, Veits­
tanz, totgeschlagene Juden, Brunnenvergiftung und Pest, Ge­
siebter und Gebärden wie auf der Verspottung Christi und ande­
ren gotischen Tafeln. Wahrscheinlich ist diese Art Volkstiefe in
anderen Ländern ausgetrocknet ; nur dieLyndler amerikanischer
Südstaaten, Kukluxer, erwachende Magyaren und ähnliche zie­
hen mit. Sagte Spengler die fascistische Zeit voraus, so hat er
doch darin geirrt, daß er sie kalt, mechanisch, aus den zivilisier­
ten Weltstädten, kurz, aus völlig wachem und spätem Bewußt­
sein aufbrechen ließ. Aber bei unseren Fascisten hat München,
nicht Berlin begonnen, die »organischste« Hauptstadt, nicht die
mechanisierte, und die Gewalt geht vom »Volk!< aus (im höchst
undemokratischen Sinn), von Metzgertänzen und rohester Folk­
lore. Diese vor allem bricht in die Besitzangst und das Ressen­
timent der Kleinbürger ein; sie garniert noch das Neu-Rom
jener Industriechefs, die die Metzgertänze bezahlen und ihr
allerhöchstes Faustrecht damit stärken. Die Primitive reimt zwar
nicht weiter als bis zur Pöbelfratze auf Kreuzigungen, doch diese
hat sie sehr gut konserviert.
Amusement Co., Grauen, Drittes Reich

Nicht zu leugnen, neben der Roheit laufen auch sehr alte


Träume mit unter. Der stärkste ist der vom »Dritten Reich«, das
bloße Wort schon hüllt den Kleinbürger ahnend ein. Noten auf
dem Tafelklavier, Musik in Biergärten haben ihm, als es längst
schon einen Kaiser gab, vorgesungen: >>Es liegt eine Krone im
tiefen Rhein«. Das preußisch-deutsche Reich war längst ge­
gründet, da war die Krone dieser Kleinbürger-Musik noch ver­
borgen, und wer sie hebt, »den krönt man zu Aachen in selbiger
Stund, als Kaiser der Zukunft, als Fürsten am Rhein«. Als Kai­
ser der Zukunft: einzigartig wird heute erst recht den proleta­
risierten Kleinbürgern »Zukunftstaat« gereicht und gleichzeitig,
durch die Kyffhäuserlinie, gesperrt. Und einzigartig wird ein
bloßer Numerus der geschichtlichen Zählung (altes Reich, Kai­
serreich, Drittes Reich ) mit der wohlvertrauten Dreizahl des
Märchens verbunden (das bei der Drei immer auch die Ent­
scheidung hat, das Ende, das Glüd!:). Vor allem aber werden am
»Dritten Reich« uralte Bilder rezent, edlere als die des Pelztan­
zes, leichter pervertierbare, desto erstaunlicher funkelnde. Der
Terminus »Drittes Reich« hat fast alle Aufstände des Mittel­
alters begleitet oder wie man es damals nannte: das »Reich des
dritten Evangeliums« - es war ein leidensd1aftliches Fernbild
und führte ebensoviel]udentum wie Gnosis mit sich, ebensoviel
Revolte der Bauernkreatur wie vornehmste Spekulation. Nach
dem Evangelium des Vaters im Alten Testament, nach dem
Evangelium des Sohnes im Neuen kommt das dritte Evange­
ium,
l als das des Heiligen Geistes: so hatte der Abt J oachim von
Fiore im XIII. Jahrhundert, ja bereits Origines, der Kirchen­
vater, die bessere Zukunft verkündet, und so war die Weis..
sagung in den Bauernkriegen lebendig geblieben. Heute lebt
davon nur die Phrase, doch im selben Maß wie die Not in den
alten Schichten gestiegen ist, auch wie Bierdunst explosibel
wurde, hat die Phrase gezündet, und ein Geisterzug pervertier­
ter Erinnerungen zieht durchs halbproletarische » Volksgedächt­
nis«. Bei den bürgerlich Gebildeten, die ihren Ibsen kannten, war
das »Dritte Reich« Hekuba, ein kleines Symbol, das man ruhig
im Ibsendrama, bei »Kaiser und Galiläer(( beließ. Das Dritte
Reich der »Adelsmenschen((, als versöhnende Mitte zwisd1en
Antike und Christentum - wie ist hier der Zusammenhang
Amusement Co., Grauen, Drittes Reich

mit der mystischen Überlieferung gerissen. Desto stärker


freilich war Dostojewskij den alten Träumen eine literarische
Vermittlung (und der Literatur eine mit politisch-archaischen
Träumen); der Dostojewskij jener Byzanzmusik, die ihren Ori­
gines in sich bewahrt hatte und die Wiederkehr des Heiligen
Geistes glaubte. »Drittes Reid1(( hieß so schließlich das Buch
eines )) Dostojewskij-Deutschen«, namensMoellervan denBruck,
und dieses nun ist den Nationalsozialisten -in wildem Absturz
der Reaktion - ihr Grundbuch geworden, derBetrugsraum, auch
der Glaubensraum hrer
i Träume. Jetzt spüren die Totschläger,
anders als Ibsens Gebildete und Adelsmenschen im Theater, den
alten Fanatismus des Worts; dazu also hat die Phrase Blut ge­
trunken und lebt. Gewiß ist in diesem neuen ))Volksbodenu
nichts Genaues oder nur das Umgekehrte von den Verkündi­
gungen geblieben, welche seit Joachim von Fiore das Mittelalter
durchspukt haben, welche bis zu Lessing reich en, bis zu seiner
»Erziehung des Menschengeschlechts« und seinem ganz und gar
liberalen Sinn. Aber eine Reaktionsbasis ist gerade in der heu­
tigen ))Rückverji.ingungu unverkennbar; sie schafft einen ver­
stärkten Widerklang im d1thonischen Boden, der so rätselhaft
glüht. Sie schafft die Musik zum heutigen Veitstanz, obzwar
ohne früheren Inhalt, ja, mit dem Gegenteil zum revolutionären
Liebes- und Geist-Inhalt des ndritten Evangeliums« oder
Pneuma. So konnte sich also in dieses Pfingsten, in das dichte
Chaos, das einmal durch Deutschland ging, gerade die Reaktion
einsetzen, jene Adels- und Standesmythologie, wogegen alle
))Volksträume« von vorher angerannt waren. Dennoch ist auch
hier uraltes Wesen, rezent gemacht und pervertiert; sah uns die
Roheit vorher wie auf Kreuzigungen an, so spiegelt sich das alte
))Dritte Reich(( jetzt n
i den Augen der Kreuziger und Kriegs­
knechte. Mit Furor teutonicus, verlorenem Anschluß an wirk­
liche Revolution, abgezogener d1ristlicher Ideologie; der Blut­
herr steht für Jesus, der Kriegsstaat für die Gemeinde.
Also sind diese Menschen gebannt, es tobt und träumt düster
in ihnen. Ein Stück deutscher Roheit artet in ihnen wieder auf,
hat eben unterbewußten oder unbewußten Antrieb, an Stelle
des klassenbewußten. Setzt nicht nur Volk, Vaterland als Ersatz
für den sinkenden eignen Stand, sondern füllt den Rahmen mit
Amusement Co., Grauen, Drittes Reich

sehr alten Bildern. Der Berserker artet aus, der in jede Richtung
marschiert, wo zu zerstören ist; seine irre Grausamkeit ver­
stärkt den Rachetrieb des Kleinbürgers. Deutschland war im­
mer, zum Unterschied von Frankreich, ohne Einfluß der Frauen,
ohne Maria; nun ist es völlig Anti-Blume geworden. Erberin­
nerung hellerer Art kommt hinzu, genau als Mythos Drittes
Reid1; doch hat sie keine Kraft, in ihrem Feuer auch Licht zu
haben. Die abstrakte Roheit wird vielmehr stärker und gibt
dem Mythos Drittes Reich einen Blutgeruch, der seiner Ver­
derbnis entspricht. Uralte Gebiete der Utopie werden so von
Veitstänzern besetzt, die germanische Blutromantik ist beim
Kleinbürger angekommen, hat sich ein ganzes Heer von Feme­
mördern und »Kronenwächtern« erblasen. Walsungenblut, das
bisher nur musikalischen Aufguß hatte oder in Klages philoso­
phisch kochte, ist plötzlich >>konkret« geworden, nämlich am
Rüclmand sinkender, im Sinken erinnerungsreicl1er Schichten.
Ihr Sinken läßt diese Schichten nur ökonomiscl1-sozial ins Pro­
letariat herab, doch ideologisch kommt dadurch keine Neigung
zum Abbau, zur Analyse der Lage, zur Aufdeckung der Ursachen
und »Gründe« von heute. Sondern das Sinken verläßt erst recht
die dünne Verstandessdl.icht der »Neuzeit«, streift im Fall sehr
alte Triebweisen, Lebensformen und Überbauten, provoziert
daraus »Irratio «. So raub und kriegserotisch, so braumbar zu­
gleidl für die finstersten Imperialismen, rief einer dieser jungen
Nazis aus: «Man stirbt nicht für ein Programm, das man verstan­
den hat, man stirbt für ein Programm, das man iebt.«
l Unnötig,
in diesemAusruf die sdllechte Irratio zu betonen, die Unlust, ein
Programm zu verlangen oder zu verraten, wo gar keines ist, die
heroische Unwissenheit zurückbleibender Schimten, welche
eher den Tod wollen als die Einsimt ihrer Widersprüche. Nötig
freilich für uns Marxisten, den dunklen, den nicht nur von Un­
wissenheit gehaltenen Fanatismus dieses Ausrufs ebenfalls zu
sehen und seine anders »zurückgebliebenen« Hintergründe; in
diesen eben smeint ein archaisdl-emotionaler allzu gegenwär­
tiger Analyse nie ganz zugänglidler oder austreibbarer Rest.
Nidlt die »Theorie« der Nationalsozialisten, wohl aber ihre
Energie ist ernst, der fanatisch-religiöse Einschlag, der nicht
nur aus Verzweiflung und Dummheit stammt, die seltsam
66 Amusement Co., Grauen, Drittes Reich

aufgewühlte Glaubenskraft. Dies Wesen eben hätte, wie jede Er­


innerung an ))Primitive«, auch anders ausschlagen können, hätte
man es, auf der >>aufgeklärten Seite, militärisch besetzt und dia­
lektisch verwandelt, statt es bloß abstrakt auszukreisen. Indem
der marxistischen Propaganda aber jedes Gegenland zum My­
thos fehlt, jede Verwandlung mythischer Anfänge in wirkliche,
dionysischerTräume in revolutionäre: wird am Effekt des Natio­
nalsozialismus auch ein Stück Schuld sichtbar, eine nämlich des
allzu üblichen Vulgärmarxismus. Große Massen Deutschlands,
vor allem die Jugend ( als stark organisierter und mythisch ver­
flochtener Zustand), konnten schon deshalb nationalsozialistisch
werden, weil sie der Marxismus, der sie deutet, nicht zugleich
auch >>bedeutet«. So gewiß das Proletariat die heute geschicht­
lich allein entscheidende Klasse ist, so gewiß ist es mit der Bour­
geoisie ganz außerordentlich verflochten (viel mehr als diese
mit dem Feudalismus war); so gewiß ist ihm nicht nur die letzte
Maschine und die letzte Imperialismusphase wichtig, sondern
auch die nationalsozialistisd1e Zersetzung und die anderen
Obergangserscheinungen der spätbürgerlichen Ideologie. Wich­
tig im Sinne der Entwaffnung wie der Plünderung, der Kritik
sowohl des revolutionären Sd1eins wie der dialektischen Über­
leitung aller seiner ( vorbürgerlid1en) Widersprüche in revo­
lutionäre Theorie und Praxis. Dionysos des Muff und Drittes
Reich im Rahmen des Kapitalismus sind beispielsweise solche
Widersprüche, er hat sie selbst erzeugt ; dod1 lassen sid1 Dio­
nysos und Drittes Reich im Vulgärmarxismus allein nid1t kon­
kret mad1en, sie laufen sonst wieder der Reaktion zu. Die Frucht
ist da und die Formel daher unabweisbar: der Erfolg der natio­
nalsozialistischen Ideologie quittiert, seines Teils, den allzu gro­
ßen Fortsduitt des Sozialismus von der Utopie zur Wissen­
sd1aft; er war bei Engels völlig anders gemeint. Auf diese Weise
siegt mit wilder Jubelsprache und ungestörter Irratio der Feind,
trotz seiner revolutionären Situation, die seine Opfer soziali­
stisch mindestens anfällig mad1t. Auf diese Weise bildet sicll ein
Archaismus aus, der den Obergang ins Proletariat mehr als be­
greiflich sperrt. Die Vulgärmarxisten halten in Primitive und
Utopie keine Wacht, die Nationalsozialisten haben ihre Verfüh­
rung daran, sie wird nicht die letzte sein. Man hat die Hölle wie
Amusement Co., Grauen, Drittes Reich

den Himmel, die Berserker wie die Theologie kampflos der


Reaktion überlassen.

Jeder Vorstoß gegen oben werde aber genutzt, gleich erst, wie
er kommt. Man kann zwar glauben, die wachsende Bewegung
führe von selber nach links, und der Rest gehe unter. Das hofft
nid1t nur der Sozialdemokrat, der immer alles über sich gesche­
hen läßt, und dem alles »von selber« vergeht. Aum Kommuni­
sten, kräftig beteiligt, glauben an einen Untergang der aktiven
Teile der NSDAP, an desto rasmeren, je mehr Hitler dem Kapi­
tal dienen muß, das ihn als letzte Olung gerufen hat. Ein Bul­
letin von 1930 lautet bereits: ll!n der Berliner KPD-Zentrale
herrsmtdie Zuversimt,daß man früher oder SpäterdenLöwen­
anteil aus der Konkursmasse dieser politismen Monstre-Speku­
lation ziehen werde. Man remnet in absehbarer Zeit mit einem
Namlassen der bindenden Kraft zwismen dem nationalsoziali­
stischen und dem Sozialistismen Element der Bewegung, sobald
der Druck der wirtschafttimen Not den Nebel der Phraseologie
niederschlägt und das Flickwerk der Kompromisse und Smein­
fassaden in seiner ganzen Armseligkeit erkennen läßt.« Also
baut man hier schon Bereitsmaftsstellungen auf, die die zerfal­
lenen Bataillone Hitlers einmal aufnehmen sollen. Also besteht
die Hoffnung, daß die SA-Proleten und ein Teil der anderen
Pauperisierten kommunistisd1 landen, der Rest wird deutsm­
national und das ganze war Blague (wie so viele bessere Bewe­
gungen in Deutschland aum). Jedom: wir halten diese Hoff­
nung in ihrer Ganzheit für verfrüht, und zwar nicht wegen des
antikapitalistischen, sondern wegen des ebenso antimemanisti­
schen Widersprums, den die Bewegung in sim hat. Der erste
Widersprum, der der verelendenden Mittelsmimt zum Kapita­
lismus, ist gewiß bald zu klären und brauchbar; er ist zwar noCJ.1.
keiner mit klarem Bewußtsein, wohl aber ein irrationaler, wel­
cher vom Kapitalismus ebenfalls erzeugt wurde und der Ratio
des Kapitals auf die Dauer kaum bequem bleiben kann. }edod1
der zweite Widerspruch, der allgemeine zum »Medlanismus
überhaupt«, mamt, daß dem Angestellten auch der Kommunis­
mus nom als Memanei dargestellt werden kann; als Fortsatz der
Entpersönlid1nng und Rationalisierung, ja, als bloße Kehrseite
68 Atnusement Co., Grauen, Drittes Reich

der Kapitalismen. So entsteht - in toller, doch zäher Verwechs­


lung kapitalistischer und kommunistischer »Ratio« - eine anti­
mechanistische »Unvernunft((, welche aus tausend Vornehmhei­
ten großbürgerlicher Irratio gespeist wird und mindestens so
stark einen Widerspruch gegen den übichen
l Vulgärmarxismus
wie gegen den Kapitalismus abgibt. Dem Proleten, welcher mit
den Produktivkräften zusammen groß geworden ist, sind diese
kein Feind, er sieht hindurch; doch der Kleinbürger steht heute,
auf neuer Stufe, fast notwendig beim Maschinensturm. Daher
erzeugt denn das halbproletarische Sein über alles Maß hinaus
falsches Bewußtsein; daher verkapseln sich Stöße und Inhalte,
welche ebensolche des Aufholens gegen den Kapitalismus wie
kapitalistischer Zerfall sind, in fixe Ideen. Nicht diese sind wich­
tig, wohl aber die Blut- und Dunstgegend, worin all dies wieder
rezent wurde und seinen Widerspruch zum Vulgärmarxismus,
j a sogar zum mechanisch vorgestellten »Weltbild« des Marxis­
mus hat. Indem Marxisten hier noch keine variierte und über­
bietende Sprache ins Werk setzen, kommt der Anti-Mechanis­
mus der Reaktion zugute, balanciert er den anderenWiderspruch,
worin das ,,Irrationale(( zum Kapitalismus steht. Wären also
schon alle Nationalsozialisten zum Marxismus übergegangen,
ja, wäre die Kommune auf dem besten Weg verwirklicht zu
werden: so bliebe hier doch, wie wir sagten, ein Wetterwinkel
möglicher Reaktion, nämlich eine Gefahrzone des marxistisch
noch nicht bedeuteten »Restes «. In Rußland kommt man den
Bauern mit Erntefesten und Lenin-Grab entgegen, ersetzt ihnen
die Kirche durch Kollektiv und junge Symbole; in Deutschland
überläßt der Marxismus all diese Anschlüsse der Reaktion. In
Deutschland wäre der Gewinn der verelendeten Mitte und die
Aktivierung ihrer >mngleichzeitigen(( Widersprüche zum Kapi­
talismus genau so wichtig, wie es der Gewinn der Bauern in
Rußland war; trotzdem gibt es kaum eine Taktik und Befolgung
Lenins, die den Aufkläricht des Vulgärmarxismus entscheidend
desavouierte. Aufldäricht ist Abstraktion, nicht Ganzheit und
aufgebrochenes Irrationale darin; scheint noch nicht die Zeit,
einer Ganzheit Beine zu machen, weld1e sozialistisch weithin
eingeschlafen ist, so wohl die Zeit, um das Menetekel des Natio­
nalsozialismus in Sachen bleibender Irratio zu benutzen. Die
Amusement Co., Grauen, Drittes Reich

Geschichte ist kein einlinig vorschreitendes Wesen, worin der


Kapitalismus etwas, als letzte Stufe, aUe früheren aufgehoben
hätte; sondern sie ist ein vielrhythmisches und vielräumiges, mit
genug unbewältigten und noch keineswegs ausgehobenen, auf­
gehobenen Winkeln. Heute sind nicht einmal die ökonomischen
Unterbauten in diesen Winkeln, das ist: die veralteten Produk­
tions- und Austauschformen vergangen, geschweige ihre ideo­
logischen Überbauten, geschweige die echten Inhalte noch nicht
bestimmter Irratio. Das eben liefert das Material zum roman­
tischen, und zwar zum gleichsam real-romantischen Antikapi­
talismus dieser Schichten; das verführt sie zu dem Unsinn, in
Liberalismus und Marxismus nur ))die zwei Seiten derselben
Medaille(( zu erblicken (nämlich der Abstraktion und Mecha­
nisierung). Und auch später, wenn alle Unterbauten eingeebnet
sein werden, wenn kein reaktionäres Klasseninteresse mehr zu
Romantik zwingt: wird eine Vernunft, die genug zu haben
glaubte, wenn sie den Kapitalismus umschlagen ließ, die aus­
gelassene, noch irrationale Materie wiederfinden; nich.t mehr in
einer wirtschaftlichen, wohl aber in einer ))religiösen« Krise.
Der Kapitalismus konnte das Irrationale so wenig austrocknen,
daß es gerade als »vViderspruch« zu seiner Sachlichkeit und
Rationalisierung immer stärker geworden ist; und der Vulgär­
marxismus baut diesen Hunger gewiß nicht ab, indem er ihn
allenthalben nur als zurückgebliebenenbegreift. Schlecht unmit­
telbar genug steht die nationalsozialistische Romantik zur heu­
tigen Zivilisation, nämlich unmittelbar entgegengesetzt, und
ist insofern Jakobinertum des Mythos. Jedoch echte Revo�utio­
näre haben dies schlecht Unmittelbare ebenso unmittelbar ver­
worfen, haben es noch keineswegs mit der ganzen heutigen
Wirklichkeit vermittelt, gar mit Restbeständen, die sich so unge­
heuerlich angemeldet haben. Kleinbürger-Graus und bloß zu­
rückgebliebene Dummheit sind ein klares Teil für sich, doch es
erschöpft nicht den ganzen nationalsozialistischen Komplex.
Anders ))ungleichzeitige« Verwilderung, dämonische Mythisie­
rung besteht auch und hat möglid1erweise einen dialektischen
Haken, ist mindestens in seltsamem)) Widerspruch« zum Kapital
und Kapitalgeist; diesem Widerspruch muß geholfen werden.
INVENTAR DES REVOLUTIONÄREN SCHEINS (1933)

Wenn zwei dasselbe tun, tun sie nicht dasselbe. Wie gar, wenn
der eine des anderen Tun nachahmt, um zu betrügen. So heute,
wo der Nazi noch nicht zeigen kann, wie er wirklich aussieht
und was er wirklid:t will, sid:t also verkleidet. Er gibt sich auf­
rührerisch, wie bekannt; der schrecklichste weiße Terror gegen
Volk und Sozialismus, den die Geschichte je sah, tarnt sid1 sozia­
listisch. Zu diesem Zweck muß seine Propaganda lauter revo­
lutionären SdJ.ein entwickeln, ausstaffiert mit Entwendungen
aus der Kommune. Billiger war das Betrugsgeschäft nidJ.t mehr
zu machen; denn selbst die herrenrassig-nationalistisd:te Parole
zöge nicht, wenn sie sich - sdJ.einbar dem wirklichen Bedürfnis
des Volkes entspremend - nicht vorab als eine antikapitalistische
gäbe. Wobei der Antikapitalismus der Thyssen, SdJ.röder und
anderen Auftraggeber des Nazismus verständlicherweise nimt
Masken genug auftreiben kann, damit ihn Rotkäppchen nicht
erkenne. Reimstagsbrand allein genügtnidJ.t, das Volk muß audJ.
glauben, daß Nero der Urdu·ist selber sei. So äffte die Hölle von
Anfang an mit Heilsfratze, noch und noch.
I . Man stahl zuerst die rote Farbe, rührte damit an. Auf Rot
waren die ersten Kundgebungen der Nazis gedrud{t, riesig zog
man diese Farbe auf der schwindelhaften Fahne aus. Die Plakate
wurden allmählich immer blasser, so daß sie den Geldgeber
nicht mehr schreckten. Die Fahne selbst trug ohnehin von An­
fang an ihr schief gewickeltes, schräg verdrehtes Zeid:ten, und
nach ihm, nicht nach der Farbe, ist sie ja benannt. Docll als ein
tüchtiger Arbeiter das Hakenkreuz aus ihr heraussdmitt, blieb
meterweise roterSchein an dem Tuch noch übrig. Nur mit einem
Loch in der Mitte, aufgerissen wie ein Maul und völlig leer.
2.. Dann stahl man die Straße, den Druck, den sie ausübt. Den

Aufzug, die gefährlichen Lieder, welche gesungen worden wa­


ren. Was die roten Frontkämpfer begonnen hatten: den Wald
von Fahnen, den Einmarsch in den Saal, genau das machten die
Nazis nach. DerTag von Potsdam, am 2. r. März I9JJ, lenkte das
revoluzzelnde Bild wieder mehr ins gewohnte, militärische, doch
der 1. Mai 193 3 holte mit gestohlenem Zauber desto scham­
loser auf. In OffenbadJ. erridJ.tete man den Maibaum, das alte
Invcnt:lr des revolutionären Scheins 7I

jakobinische Freiheitszeichen, tanzte um ihn weißgardistisch, ja


Hindenburg persönlich feierte den Weltfeiertag des Proletariats.
Und die Geschäfte zeigten zum ersten Mai in der Zeitung an, es
seien lauter »Arbeiter der Stirn und Faust« in ihnen tätig, und
feierten dem Tag zu Ehren mit. DasProfitleben stahl dem Arbei­
ter auch noch seinen Festtag, fügte so zum Trumpf den Hohn.
Insgesamt gab man vor, nur noch Arbeiter, nichts sonst zu
sein, verfälschte damit uferlos. Nahm das Wort im verwaschen­
sten Sinn, breitete so einen Dämmer aus, worin keiner mehr
weiß, wer Gast, wer Kellner ist. So schreibt der »Völkische
Beobachter« über den Zuhälter Horst Wessel: »Er war im wahr­
sten Sinn des Wortes Arbeiter, Arbeiter an sich selbst, Kämpfer
mit seinem Ich, so errang er innere Festigkeit und Stärke.« Bei
solchem wahrsten Sinn des Wortes gibt es freilich keine Aus­
beuter, Klassenkämpfe, gar Ausgebeutete; es sei denn, man sei
kein Arbeiter an sid1 selbst, sondern einer für andere, wie leider
alle Proleten bisher. Nur das Wort Prolet wird vom Nazi nicht
übernommen, so wenig wie das Wort Krise, wofür man bereits
in der Weimarer Republik das Bild: ))Wellenbewegung des Wirt­
schaftslebensee setzte und im Dritten Reich, mit noch besserer
Spelmlation auf die menschliche Dummheit, einfach November­
verbrechen sagt. »Arbeitertumee jedenfalls, das wird ein außer­
ordentlich kordialer Brei, mit ihm wird der Grundwiderspruch
zwismen Kapital und Arbeit, den das Kleinbürgertum ohnehin
nicht begriffen hat, vollends verschmiert, und das Smwindel­
monstrum heißt trotzdem oder eben deshalb »Arbeiterpartei<<,
läßt die Mörder und ihre Opfer sich als Genossen grüßen und
gibt sich, indem es die Marxsche Aufhebung des Proletariats
mit Ersd1ießungen und Konzentrationslagern praktiziert, sogar
als den wahren Jakob des Sozialismus. Wobei der Nazi, er ist ja
mensd11ich, und sein erster Mai zeigte bereits diese umarmende
Kraft, sich freilich ebenso auf erstickende Art von nEntproleta­
risierung« immer und immer wieder versteht. Es ist das sicher­
ste Zeichen seiner Kleinbürgerlichkeit, wie ndie Tiefen des
Volks«, aus denen ja auchSpießerkönigHitler emporgestiegen ist,
gehoben werden sollen, wie proletarisches Klassenbewußtsein
abgetrieben, »Standesbewußtseinec beigebogen wird. Mit dem
Auftrag: den Klassenkampf in jenem generellen Wismiwaschi
Inventar des revolutionären Scheins

zu ersticken, das kleinbürgerliches Bewußtsein heißt, und worin


sich, wie Marx sagt, ))die Widersprüche zweier Klassen zugleich
abstumpfenu. Nur daß selbst hier noch der Betrug nicht so weit­
hin gelänge, wenn der christlich-soziale Ladenhüter der ))Ent­
proletarisierung«, den Hitler wieder zu Ehren bringt, seine
angebliche Volksgemeinschaft nichtwieder hochsozialistisch ver­
ziert wäre, ja sogar mit nichts Geringerem als mit der klassen­
losen Gesellschaft selbst, gleich als wäre sie sd1on jetzt. Derart
gibt es n
i der nazistischen Schwindelwelt von Thyssen bis zum
letzten Sackträger nur eine einzige klassenlose llArbeitsfrontu,
und der ))Reichsbauerntagu in Goslar kennt gleichfalls keine
Unterschiede mehr zwischen Großgrundbesitzer und Zwerg­
bauer, es sei denn die unwesentlichen, die durch Ar und Hektar
bezeichnet werden und vor Allvater am Erntedankfest nicht
ins Gewicht fallen. Was immer Dorfarmut und Stadtproletariat
ausmacht, wird von Hitler lediglid1 als Kleinmut bezeichnet, der
rein psychologisch wegoperiert werden kann, eben durch innere
Erhebung aus llden Tiefen des Volkes<<. Denn dem Nazi ist es
selbstverständlich, daß der Proletarier sich genauso empfindet,
wie der Kleinbürger ihn betrachtet, nämlich als eine Hefe des
Volks, die sich ihres Daseins schämen müßte, als einzigen Min­
derwertigkeitskomplex. So muß die Arbeiterklasse geradezu
feudalisiert werden, nämlich zur ))Gefolgschaftu, zusammen mit
den Angestellten als den übrigen lehenstreuen Edelgermanen,
um, nach Hitlers Patentlösung, ))ihre Minderwertigkeitskom­
plexe zu töten und auch die langeWeile, aus der die ketzerisdten
Ideen und Gedanken kommenu. Folglich sind für Hitler die
,, Voraussetzungen des Marxismus<< einzig das Leid des Proleten,
kein Kleinbürger zu sein, verbunden mit der Langeweile der
Proletarierbande, die ihr teils auf dem Kasernenhof (auch der
Fabrik als Kasernenhof), teils mit Klamauk zu entziehen ist.
Unüberbietbar ist derart Hitlers Begriff des proletarischen
Bewußtseins, während der Goebbelssd1en Maifeier verkündet:
,, Wl!' sind entschlossen, den Marxismus nidlt nur äußerlich zu
beseitigen, sondern ihm auch die Voraussetzungen zu entziehen.
Wir wollen für die Jahrhunderte, die nach uns kommen, für
diese geistige Verwirrung die Voraussetzungen beseitigen, und
zu ihnen gehört der dünkelhafte Sinn, der den einzelnen befällt
Inventar des revolutionären Scheins 73

und von oben heruntersehen läßt, als ob- Handarbeit schände.«


Der einzelne ist der nationalsozialistische Kleinbürger, und der
''Völkische Beobachter« fährt ergänzend fort: llDer deutsche
Arbeiter soll durch diesen Festtag wieder vollberechtigtes Mit­
glied der deutschen Volksgemeinschaft werden.« Oder wie der
Leiter der ''Arbeitsfront<< (der besetzten Gewerkschaften) sich
ausdrückt: ''Der deutsche Mensch muß begreifen, daß, wenn er
für das Volk arbeitet, er dann auch das Recht hat, stolz zu sein
auf seine Leistung. Deshalb, mein Führer, nehmen Sie als der
Stärkste Ihres Volkes den schwachen Sohn in Ihre Schirmherr­
schaft.<< So weit st
i der Prolet m
i ))allgemeinen Arbeitertum<<
gekommen, daß er, dersich bisher als geschichtlich entscheidende
Klasse, als Träger der Zukunft fühlen konnte, nun der schwäch­
ste Sohn des Kleinbürgers geworden ist. Armselig, doch erhoben
steht er unter der ))Schirmherrschaft<< des Spießerkönigs, so wie
dieser Patron nun wieder vom Finanzkapital patronisiert wird.
Da ist wirklich der Trumpf nach hundert Jahren deutscher
Arbeiterbewegung erreicht: ein Monstrum ist wahr geworden
und liefert den Proleten gefesselt ein insTausendjährige Reim,
ins Finanzkapital als Volksgemeinschaft.
3· Zuletzt noch gibt man vor, nid:lts zu denken, als was die
Dinge verändert. Das klingt fast formell-marxistisch, kennt kei­
nen Geist an sich, stellt ihn vielmehr in politischen Dienst. Goeb­
bels erklärte ausdrücklich den Film ))Potemkin« als vorbildlich
für den deutschen, so weit geht das formelle Einverständnis, wie
der Gauner und diebische Entsteller es sich vorstellt. Wichtig
ist, nach den neuesten dramaturgischen Rid:ltlinien dieser lum­
pig-ausgepichten Plagiatoren, nicht, wie gut oder schlecht das
gespielte Stück war, sondern in welcher Stimmung der Zuschauer
das Theater verläßt. Abgelehnt werden die Freude am Theater­
spiel um seiner selbst willen, die Probleme der Privatsphäre und
des elfenbeinernenTurms, die Gestaltungunpolitischer Themen;
Goebbels wünscht keine Romantik, außer als ''stählerne« ( eine
freilich seltsame Legierung ), er will im Theater Tendenz statt
l'art pour l'art. All das wirkt, zweifellos, so täuschend antikon­
templativ, wie eine Fälschung nur sein kann, die die marxistische
Bezogenheit derTheorie aufPraxis mit der Suada eines Bauern­
fängers verwechselt. Auch weiter zeigen sich Parallelen aus
74 Inventar des revolutionären Smeins

Blendwerk; so schreibt ein nicht einmal faschistisches Hoch­


schulblatt: »Es ist in Zeiten wie den gegenwärtigen unvermeid­
bar, daß dann das letzte Wort nicht der Universität� sondern
dem Staat gehört. Das und nichts anderes, jedenfalls nicht, daß
Politik und Wissenschaft einfach vermischt werden, heißt Poli­
tisierung der Universität.« Hier ist wichtig, die Wege zu beach­
ten, mittels derer dem Nationalsozialismus gerade die Kopie des
marxistischen Theorie-Praxis-Verhältnisses besonders bequem,
besonders »modern« erreichbar schien. Nicht nur keinen Intel­
lekt an sich, sondern überhaupt keinen Intellekt zu dulden, außer
auf den Kommandohöhen des Profits, das macht die Chloro­
formpraxis desHitlertums aus. »Rechtist, Wahrheitist, was dem
deutschen Volke nützt«, das heißt, dem deutschen Monopol­
kapitalismus nützt: Dieser Schandpragmatismus derNazisist am
Ende nicht nur der Affe des marxistischen Theorie-Praxis-Ver­
hältnisses, sondern seine völlige Pervertierung. Denn marxistisch
besteht in diesem Verhältnis durchaus der Primat der Theorie,
das heißt: nicht deshalb ist etwas wahr, weil es nützlich ist,
sondern weil es wahr ist, ist es auch nützlich. Die ewig glei­
chen und unwissenden Arien, die Hitler seinen Kleinbürgern
singt, werden auch nicht besser, wenn die Universitätshure, die
er fand (so wie Wilhelm II. sie r9r4 gefunden hat), den Kitsch
latinisiert und den Betrug mit Finessen a la Schmitt oder Freyer
oder Heidegger verbessert. Der Nationalsozialismus hat außer
begriffloser Verzweiflung und verwilderter Dummheit auch
viele korrupte Professoren für sich, doch keine Theorie, die eine
andere Praxis als Betrug und Totsd1lag mit sich brächte. Sein
gestohlenes Theorie-Praxis-Verhältnis ist daher in Wahrheit das
bloße Verhältnis zwischen falschem Sirenengesang und echter
Zerfleischung, zwischen der Abdankung der Vernunft und dem
Raubzug der Gangster in derart hergestellter Nacht. All das
zuletzt im Namen einer )>Theorie-Praxis«, die den Mammon
abschafft, indem sie ihn »schaffendes Kapital« tauft, und die
»antikapitalistische Sehnsucht« befriedigt, indem sie Meister
Urian den arischen Hintern küßt.
Also begnügt sich der Feind nicht damit, Arbeiter zu foltern
und zu töten. Er will nicht bloß Rotfront zerschlagen, sondern
zieht der angeblid1en Leiche auch den Schmuck ab. Der Betrüger
Neue Sklavenmoral der Zeitung 75

und Mörder kann sim anders nicht sehen lassen als mit revo­
luzzerhaften Reden und Kampfforrnen. Der Kleinbürger sieht
darin Sozialismus, der Großbürger besitzt daran Kulisse, und
für beides war dem Kapitalismus höchste Zeit. Denn die demo­
kratische Attrappe der Weimarer Sozialdemokratie versteckte
den verelendeten Massen ihre Wirklichkeit nicht mehr. Also
mußte die Attrappe ausgewechselt werden und vom sozialdemo­
kratischen nSozialismus«, mit Sozialisierungskonunissionen, auf
das viel radikaler scheinende Blendwerk des nazisciseben über­
gehen. Doch freilich, es gelänge nicht einmal dieses Blendwerk,
und der Betrug mit ihm wäre nicht notwendig, wenn nicht
eben eine fortwährende revolutionäre Situation bestünde, die
man durch Diebstahl ihrer Embleme akut zu werden verhin­
dert. Man muß bis Luther im Bauernkrieg zurückgehen, um
einem ähnlichen Betrug mittels pervertierter revolutionärer
Losungen zu begegnen (damals hießen sie: Freiheit des Chri­
stenmenschen); und auch der Judas in Luther wird vom Satan
IIitler noch weit überboten. Das Erwachen aber aus der natio­
nalsozialistischen Verzückung wird desto belehrender für ihre
Massen sein, je verheißungsvoller an antikapitalistischer Sehn­
sucht die Verzüdrung war und je nschlagartiger« sich erweist,
daß ihre Inhalte auf dem geglaubten Naziboden am schlimmsten
mißlingen. Hitler brüllte, daß er sein Reich stabilisiert habe ))für
die Jahrhunderte, die nach uns kommen«, und nin zehn Jahren
gibt es keinen Marxismus mehr«. In zehn Jahren wird statt
dessen das Tausendjährige Reich gänzlich in die Hölle gefahren
sein - der Hund ist tot, die Taschenspieler werden keinen Geist
mehr rufen. Nur ein Menetekel wird stehen bleiben, - wehe je­
der Diktatur, die das verkennt.

NEUE SKLAVENMORAL D E R ZEITUNG (1934)

In einem sind die Braunen ehrlich. In der Kunst, nicht das


Wahre zu sagen. Sie geben dies in einer Weise zu, die fast an
Stolz grenzt. Nicht nur der letzte Amtswalter muß jetzt listig
sein. Damit nämlidt seine Sadte dunkel bleibe, auch wenn sie an
den Tag kommt. Nicht nur der Zeitungsmann muß, bei Strafe
Neue Sklavenmoral der Zeitung

des Untergangs, eine Lüge finden, sobald er auf den Boden


blickt, auf Blut und Boden. Sondern die Lüge wird, neuer An­
weisung zufolge, außer zur Moral auch zur Wissenschaft des
Reichs. Dieses in den Ausführungsbestimmungen zum Schrift­
leitergesetz implizit, in der offiziellen Zeitungswissenschaft
explizit. Seit der deutsche Redakteur die »Verantwortung«
dafür übernommen hat, das Gegenteil der Wahrheit zu schrei­
ben, wird ihm die subjektive Lumperei durch Öffentlichkeit
erleichtert und sozusagen objektiv gemacht. Der Schriftleiter lebt
in allem diesseits der Ma':ht und ist ein armer Hund, der kuscht.
Doch nach der großen Umwertung der Werte steht die Sklaven­
moral, sobald sie schreibt, auch jenseits von wahr und falsch.
Wie das führend in einem Lehrbuch der Lüge bestätigt wird.
Der neue Professor der Zeitungswissenschaft in Leipzig, namens
Münster, ließ es unter dem Titel: »Die drei Aufgaben der deut­
sd1en Zeitungswissenschaft« erscheinen. Darin faßt Münster
»für den Kundigen die bisherigen Ergebnisse im Brennspiegel
der neuen Anschauungen glücklich zusammen«. Nimt das Wis­
sen, sei es geschichtlidles, sei es gar ökonomisches, herrscht darin
an erster Stelle, wieso auch, es hat sein Moratorium, und nicht
einmal ein schönes. An erster Stelle steht, expressis verbis, »die
Aufgabe, allgemeine politisdle Erziehungsarbeit zu leisten und
das Verständnis zu erschließen für die Notwendigkeit und Art
der Propaganda. Diesem vorbereitenden Studium folgt als
zweite spezielle Aufgabe die historisdle Kenntnis der Volks­
beeinflussung und geistigen Volksführung aller Zeiten und Völ­
ke1·.rr Erst danach folgt als dritte die Aufgabe der Zeitungswis­
sensdlaft das sozusagen Theoretische und auch das nur, in
Münsters dankenswerter Besdleidung, als »Mithilfe an der Aus­
bildung des deutschen Schriftleiternad1wuchses«. Als jene Aus­
bildung, welclle nden Erfordernissen des Schriftleitergesetzes
entspricht und Kenntnisse über das deut
sche Volk im Zusammen­
hang mit den Erfordernissen der Zeitungspraxis vermittelt«.
Nur insofern also, unter den Grundzweck der ,, Volksbeeinflus­
sungcc gebeugt, dem Grundziel gehorchend, der Goebbelsschen
Propaganda noch ein gedrucktes Radio zur Seite zu stellen,
kommt WissenschaftinBetrad1t, jene ohnedies depravierte, bloß
noch auf Gänsefüßchen laufende Okonomie und Geschichte,
Neue Sldavenmoral der Zeitung 77

welche heute auf deutschen Universitäten gelehrt wird. Denn


es soll nicht nur der Zeitungsmann abgerichtet werden, sondern
ebenso der Propagandist am Film und Mikrophon: Wahrheit
ist, was Thyssen nützt.
Damit tritt nun, wie der Nazi glaubt, die bürgerliche Zeitung
ab. Sie tut das freilich so wenig, daß mit der neuen Bestimmung
nur die letzte Scham von ihr gefallen ist. Die Scham, welche noch
die alten verschlissenen Gewänder des guten bürgerlid1en Ge­
wissens, mindestens des Tatsachenberichts, dem Interesse des
Besitzers und der Inserenten vorgehalten hatte. Aus Zeiten, als
das Bürgertum an die Segnungen des Kapitalismus noch glaubte
und buchstäblich der Hoffnung war, im gleichen Maße wie die
eigene Tasche sich füllte, müßte auch denen der anderen ein
Suum cuique werden, überhaupt das allgemeine Segel der all­
gemeinen Kultur sich blähen. Jetzt glauben keine Thyssen an
einen harmonischen Gang des Geschäfts, es sei denn über Lei­
chen: und das »Volk«, mag auch die Ausbeutung und nachher
der Krieg gewisse seiner Bewegungen nötig haben, muß poli­
tisch wenigstens die Leiche sein, worüber das Kapital geht. Ähn­
liches hatte früher die Ideologie erstrebt, war aber subjektiv
noch mit relativer Unbewußtheit des Betrugs und objektiv mit
einemSchimmern der Kultur gemischt; beideSchleier sind heute
überflüssig. Also verschwindet die letzte Bürgerscham der Zei­
tung, sie verschwindet mitsamt jenem »Besprechenden« oder
»unvergänglichen Reiz der Richtigkeit«, der in einem oder zwei
liberalen Großblättern eine Art Bädeker zu den Ereignissen ab­
geben wollte. Das Kapital braudlt statt dessen bewußt zynischen
Betrug, mit den vergänglichen, doch obszönen Reizen der Un­
richtigkeit, es braucht Journalisten mit der Suada von Mädchen­
händlern, am besten mit dem Diplom einer Taschendiebschule
dazu. Der revolutionäre Schein des Nationalsozialismus ist
ohnedies so dahin, wie noch kein Schein es zustande gebracht
hat. Mit ihm die Möglichkeit seiner ersten Zeiten, n i irgend­
einer Kopie der alten Volksblätter, gar der revolutionären Land­
boten von einst zu verführen. Übrig bleibt nur n Volksbeeinfius­
sung« im eingestandenen Sinn geschulter Gerissenheit; der
Journalist, der vor Zeiten der unedle Bruder des Diduers ge­
nannt wurde, ist zum edlen des Gauners erhöht.
Neue Sklavenmoral der Zeitung

Zwei Mittel werden dazu verbunden, das neuere belebt das


ältere. Das eine ist die Reklame, womit der ringende Absatz
schreit, wie schwer er es hat. Heute noclt Ärzten und Anwälten
verboten, aud1 im Geschäftsleben nur langsam, mit der wach­
senden Konkurrenz, zu gesetzten Häusern vorgedrungen, ist es
völlig neu, daß Staatsmänner sich ihrer bedienen. Bei keiner
Hühneraugensalbe wurde so betäubend von der eigenen ))gi­
gantisclten Leistung« gesprochen wie am Regierungstisch, so­
bald ein Haupt des Dreigetüms sich eröffnet; und mad1t auf
den Namen des Doktor Unblutig nicht einmal Anspruch. Das
andere Mittel der Beeinflussung ist bedeutend altmodischer, ja
es war in den iberalen
l Zeiten nur noch Schul- oder Theater­
Rest. Es ist die Rhetorik, nämlidl als jene echt sophistische Dis­
ziplin, welche nicht mit Wahrheit wirkt, sondern mit überrump­
lung. Mit Arrangement, Augenblicks-Bluff, psychologischer,
nidlt logischer Verteilung von Licht und Sdlatten, kurz, mit
Verachtung des Zuhörers und vollem Zynismus der Mittel. Es
gibt auch gediegene Rhetorik, die nicht von den Sophisten her­
kommt, nid1t einmal von Dekorateuren; die großen, an sich sel­
ber glaubenden Philippiken des Demostheues sind ihr unver­
gessenes Muster, auch die Parlamentsreden der beiden Pitt
gehören hierher, auch forensische Beispiele, wie sie bei Zola und
Labori im Dreifus-Prozeß geblüht haben. Doch sinci die Rheto­
riken des Demosthenes, o Männer von Athen, selber welche von
Männern an Männer, haben ein soldatisclles Gesicht, sind über­
haupt keine Rhetorik des angestammt sophistischen Sinns, viel­
mehr Logos vor Gleicllwertigen, gleich all solchen Reden, bis
Mirabeau, Robert Blum und Lenin, ehrlich gedeckt, aus wirk­
lichem Licht zündend und erleuchtend. Meinung des Redners
und Meinung der Rede sind hier identisd1, Form und Inhalt
homogen. Die bedenkliche Rhetorik dagegen, welche diesen
Namen erst verdient, die sophistische und nachher römiscll­
dckorative, hat überhaupt keine Homogeneität zwischen Form
und Inhalt, selbst ihr Barock steht schief zur Wahrheit und
zutreibend nur zu dem - in der ganzen Rede verschwiegenen -
Zweck. Jesuiten haben die besten Lehrbücher dieser Wach­
hypnose herausgegeben, bis in die Mitte des vorigen Jahrhuo­
derts, und allen Trugschlüssen, von der quaternio terminorum
Neue Sklavenmoral der Zeitung 79

bis zur Heterozetesis, wurde hier ihr Asyl. Schlangenschön hält


Antonius die beste solcher Reden, nicht Brutus, der ehrenwerte
Mann und ehrliche Republikaner; strahlend von Sophistik betört
Fiesco mit diesem einen Stück Antike, indes Verrina, das an­
dere, stumm bleibt und zuletzt nur, statt des Kunstgriffs, einen
Handgriff ausübt. Unechte Rhetorik setzt allemal geglaubte
Gimpel, mindestens ungeglaubte eigene Verspredmngen oder
Färbereien voraus; daher ihr falscher Ton, daher das Unleidliche
noch in theatralischer Form, wenn aufgedonnerte Sprache und
die Maus eines kleinbürgerlichen Inhalts dahinter sich bis zur
Komik nicht entsprechen. Daher auch das völlig andere Gesicht
der echten, der subjektiv wie objekthaft gedeckten Glutsprache,
ihr Charakter: niemals nur Rhetorik zu sein, so wenig wie die
männliche Beredsamkeit des Demostheues oder Lenins. Schie­
bungs-Rhetorik aber ist das einzige »Vernunft«-Instrument der
Despotie, solange sie nod1 nicht im Sattel sitzt oder solange -wie
in Deutschland - der Unterdrückungsapparat noch nicht allein
genügt. Neben dem zitternden Sdueclcen steht dann der süße
der Demagogie; wobei sich Nazi-Rhetorik von der Reklame,
deren sie sich mitbedient, sowohl durch das prunkvolle Ausmaß
der Verlogenheit unterscheidet, als dadurch, daß ihre Käufer
hinter die Ware erst kommen, wenn es zum Umtausch ohnehin
zu spät ist. Die reale Lage, der Charakter der Wirklichkeit kön­
nen durd1 Phrasenschaum, der über den Löffel balbiert, nicht
selbst ))beeinflußt<< werden. Rhetorik ist ja keine Theorie, wel­
che zur konkreten Praxis führt, konträr, sie ist die Blendung,
weld1e den Durchbruch der Wirklichkeit in Bewußtsein und
Praxis verhindert. Dod1 indem sie aus weiß smwarz macht und
aus rot braun, gibt sie dem Opfer zuletzt dieselbe Unempfind­
lichkeit fürs Wahre, die der Tauscher berufsmäßig schon sein
eigen nennt. Des Untersmieds, daß dieser wohl alle Wahrheit
umgeht, die Empfindlidlkeit aber für seinen Profit während der
Operationen nimt einen Augenblick aus der Technik verliert.
Dazu also und zu diesem Ende studiert auch der Sdlriftleiter
Universalgesmichte (>>historische Kenntnis der Volksbeeinflus­
sung aller Zeiten und Völker«). Sehr viel eigene Zutat wird
nid1t vem1eidbar sein. Denn alles bisherige Räucherwerk brannte
nur einmal ab, dem gemäß, daß die Lüge kurze Beine hat und so
So Gauklerfest unterm Galgen

lebfrisch zum zweiten Mal nicht wiederkommt. Oder es stand


hinter Beeinflussungsapparaten mehrmaliger, gar dauernder
Wiederholung, wie etwa der Kirche, sehr große Vielseitigkeit
und Kultur der .Mittel, sehr viel Undurchsichtigkeit der Kon­
trolle vor allem, kraft des ausgleichenden Jenseits. Der Natio­
nalsozialismus dagegen schwächt sich einmal durch die Ein­
tönigkeit seiner Wiederholungen (dem Schablonentyp und der
Unbildung seiner Phraseure entsprechend). Sodann aber steht
dem Dümmsten allmählich eine Kontrolle zur Verfügung, wenn
er die »gigantischen Leistungen« und die Selbstzufriedenheit
derer, die die »Revolution« gesund gestoßen hat, mit der eige­
nen Katastrophe und der absurden Gesamtlage Deutschlands
vergleicht. Der Nazi-Schriftleiter sucht vergebens, sich eine Art
Zeitersatz fürsJenseits und seine Unkontrollierbarkeit zu schaf­
fen, indem er - mit einer Mischung aus Ruhmredigkeit und
Verzweiflung - tausend Jahre, wo nicht hunderttausende, für
den »vollen Erfolg« des Nationalsozialismus prophezeit. Der
Hunger ist von heute und das Einzige in bar, was der Nazi aus
seinem Sack Versprechungen aushüllt; daher nennt die »Frank­
furter Zeitung« den Optimismus, den ihresgleichen jetzt zu ver­
breiten hat, »fast verwegen «. Caligula, auch ein Tierfreund,
Nero, auch ein Künstler, waren fast leichter zu preisen als Hitler.
So hat der Journalist, vorgeschriebene Lügen illuminierend oder
gar solche hinzu erfindend, worauf nicht einmal Goebbels kam,
ein saures Amt und heut zumal. Es steht schon so, daß, während
er die Kunst des Lügens erst richtig lernt, die Kunst, sich belügen
zu lassen, reißend verlorengeht.

GAUKLERFEST UNTERM GALGEN (1937)

Möge man leise reden, es ist ein Sterbender im Zimmer. Die


sterbende deutsche Kultur, sie hat im Innern Deutschlands nicht
einmal mehr Katakomben zur Verfügung. Nur nochSchreckens­
kammern, worin sie dem Gespött des Pöbels preisgegeben wer­
den soll; ein Konzentrationslager mit Publikumsbesuch.
Das wird toll und immer toller. Was tut nur ein ehrlicher, ein
Gauklerfest unterm Galgen 81

begabter Mensch in diesem Land. Sein einfad1es Dasein ist ihm


gefährlid1, er muß es verstecken. ]ede Art von Begabung ist
ihrem Träger lebensgefährlich, außer der des Duckens. Unver­
hüllt wird Künstlern, die es sind, Kastrierung oder Zuchthaus
angedroht; das ist kein Scherz, es gibt keinen Scherz aus solchem
Munde. Man hat gelernt, das Lächerliche ernst zu nehmen.
Trotzdem versagt man sich, auf einzelnes einzugehen. Die
>>Frankfurter Zeitung« schreibt über die Kunstrede Hitlers:
»Der Führer hat die Lehre und Maßstäbe gegeben, die der hohen
Gründung eines Tempels der Kunst allein angemessen sind.«
Führer und Maßstäbe spremen für sich selbst, sie sind nimt ein­
ladend, obwohl, wie die gleime Zeitung bemerkt, das ästhetische
Kolleg des Anstreichers »zugleich mit den Waffen scharfer Iro­
nie wie mit den Mitteln philosophischer Erörterung« gelesen
worden ist. Die Ansprüche sind verschieden; was dem einen als
Ironie vorkommt, erscheint dem anderen als Rache des zurück­
gewiesenen Kunsteleven von ehemals. Auch hat es eine Ironie,
welche feststellt, daß gewisse Maler die Wiesen blau, die Him­
mel grün, die Wolken schwefelgelb empfinden, in Krähwinkler
Anzeigern schon oft gegeben; wenn auch ohne die eigentliche
Schärfe, weld1e zur Kastrierung notwendig ist. Und was die
philosophische Erörterung angeht, so flossen aus der richtigen
Bezugsquelle die ebenso richtigen Kategorien; der philosophie­
rende Führer hat das Wort: »Ein leuchtend schöner MensdJen­
typ, meine Herrn prähistorischen Kunststotterer, ist der Typ
der neuen Zeit, und was fabrizieren Sie? Mißgestaltete Krüp­
pel und Kretins, Männer, die Tieren näher sind als Menschen -
und das wagen diese grausamsten Dilettanten als den Ausdrude
dessen vorzustellen, was die heutige Zeit gestaltet und ihr den
Stempel aufprägt.c< Selbstverständlich kehrt sich die philosophi­
sche Erörterung von solchen Anspielungen auf die Gegenwart
und ihrem Stempel ab und befindet über sich und ihresgleichen,
die bei den Griechen nidlt als Mensch gegolten hätten, folgen­
des: »Niemals war die Menschheit im Aussehen und in ihrer
Empfindung der Antike näher als heute.<< "Wie bemerkt: ein
Kommentar zu Führerreden ist nicht unsere Sache, indessen gibt
es noch Doktordissertationen m i Dritten Reich, ihre Thematik,
hört man, sei begrenzt. Vor kurzem soll eine Dissertation
Gauklerfest unterm Galgen

erschienen sein über das Thema: nLeben und Treiben der Hof­
lieferanten<<, eine andere lautet: nDie Wegweiser im Zeitalter der
Völkerwanderung<<. Gar ein Lehrstuhl für Sterndeutung wurde
der Berliner naturwissenschaftlichen Fakultät vom Führer ))an­
geraten<<. Bei solchem Stand der verzweifelten Wissenschaft läßt
sich auch aus der Mündmer Rede süße Frud1t brechen, der deut­
sche Nobelpreis wartet. >>Streicher und Hellas« - ein würdiges
Thema, eine wahrhaft philosophische Erörterung; sie vor allem
wäre imstande, die Maßstäbe zu liefern, die nder hohen Grün­
dung eines Tempels der Kunst angemessen sind<<. Kartoffeln
zieht man in Böotien, Eulen in Athen, aber griechische Men­
schenfresser waren bisher unbekannt.
Unterdessen wurde der Münchner Tempel eingeweiht. nSo
einmalig<<, sagt sein Bauherr, »und eigenartig ist dieses Objekt,
daß es mit nichts verglichen werden kann. Es gibt keinen Bau,
von dem man behaupten könnte, er sei das Vorbild, und dies
hier wäre die Kopie.« Andere nennen das gleiche brutalisieren­
den Neuklassizismus oder die Aurora in Öl. In weidlern Stil aber
das Gegenunternehmen - die Halle der ))entarteten deutschen
Kunst<< - gebaut ist, darüber ist noch nichts bekannt geworden,
obwohl hier wirklich ein Objekt vorliegt, das mit nichts ver­
glimen werden kann. Allein sdlon das Nebeneinander dieses
))Tempels<< und dieser »Halle<< ist beispiellos, und man hat nichts
davon gehört, daß der Tempel vor Scham in Grund und Boden
versinkt. Hier könnte der Bauherr in der Tat Originalität be­
haupten: eine ähnliche Nachbarschaft von Böse und Gut, von
Verrottung und Zukunft, von Kitschmuseum und Pinakothek
war noch nicht auf der Welt. Indem es noch keine solche Regie­
rung in der Geschichte gab, gab es noch keine solche Verkehrung
der Werte. Im ))Tempel« namenlose Banalität (die paar besseren
älteren Werke, es sind sehr wenige, sehen drein wie Schubert im
Dreimäderlhaus ). In der ))Halle« beim Galgen dagegen hängt
alles, was der deutschen Kunst neuen Glanz und Namen ge­
bracht hatte, Meister von Weltruf, Franz Mare vor allem, der
Stolz Deutsmlands, der große, verehrungswürdigo! Künstler, erst
Kriegsopfer, dann Opfer eines Marsyas, der endlid1 Apollo schin­
det. Franz Marcs Wunderwerk ))Turm der blauen Pferde�<, wei­
ter Nolde, Hecke!, Kirchner, Pechstein, Beckmann, Kokoschka,
Gaukleefest unterm Galgen

Kandinsky, Schmidt-Rottluif, Chagall, Feininger, Hofer, Ge­


orge Grosz, Campendonck, Paula Modersohn, Klee, Otto Dix
erleuchteten die Schreckenskammer, worin sid1 ganz Deutsdl­
land befindet, und ertragen die Aufschriften, die schäbige
Dummheit und demagogische Gemeinheit ihnen angehängt hat.
Wäre Picasso, ja wären Cezanne, van Gogh, Manet Deutsche,
wäre Grünewald nid1t lang schon tot: ohne Zweifel hätten aud1
diese Meister hier Unterkunft gefunden; es wäre in Ordnung.
Ein Staat, der nur lebt, indem er das Volk verdummt, entwür­
digt, demoralisiert, duldet kein Maß, woran er gemessen werden
könnte; der faulste Kitsch ist gut genug, er sticht nicht ab. Auch
der Gangster liebt einen Öldruck über dem Kanapee, worauf er
schnarcht; auch der Banause ist nicht ohne Sinn fürs Schöne,
seine Tochter spielt das Gebet einer Jungfrau, und die Courths­
Mahler greift ihm ans Herz. Franz Mare ist dem freilich nicht
gewadlsen, im sanften Geheimnis seiner Tiere ist die banale
Nazibestie geridltet; vor dem Spiegel des George Grosz schau­
dert die ganze neue Antike zurück. Wie anheimelnd dagegen
wirken auf sie die Sdließbudenfiguren Grützners, Defreggers
und der neu erstandenen guten Stube. Wie behaglich finden
Spießer und Spießerkönig sich hier zurecht, unverloren, unver­
froren - übers Niederträchtige niemand sich beklage, denn es
ist das Mächtige, was man dir auch sage. Anders aber, als Goethe
dies meinte und meinen konnte, hat der Niederträchtige heute
Macht erlangt, errichtet sich Tempel und kühlt sein Mütchen.
Unter jedem Bild der wirklichen deutschen Kunst klebt ein Pla­
kat mit der Aufschrift: >>Bezahlt vom Steuergroschen des arbei­
tenden deutschen Volkes.<< Der Tempel des Kitschs aber hat
allein neun Millionen Mark gekostet, die Schlacht Defregger
contra Cezanne ist mit Einsatz großer Mittel gewonnen.
Uns bewegt nicht, was im Sieger vorgeht. Ist schon die Lüge
der Nazis wertlos, wie erst ihre persönliche Wahrheit, man sieht
sie ihnen so schon an. Wichtig aber ist allemal, auch hier: was
sted{t an Absidlten dahinter, wozu und zu welchem Ende diese
maßlosen Beschimpfungen? »Klägliche Wichte, Schmieranten,
prähistorische Stotterer, Kunstbetrüger« - es sind Töne, wie sie
aus solchem Mund bisher nur gegen Juden, Marxisten und Emi­
granten erklungen sind. Dem Ressentiment alle Ehre; aber wie
Gauklerfest unterm Galgen

hat es, mitten in Wirtschaftsnot, Rohstoffmangel, Kirchen­


kampf, Spanien, Zeit für sich? Als Wilhelm II. die Siegesallee
mit ganz ähnlicher Ästhetik einweihte, sollte mit der ,,Rinn­
stcinkunst« zugleich die Sozialdemokratie vernichtet werden,
mit der Arme-Leut-Malerei die Arme-Leut-Bewegung. Die
Sozialdemokratie ist heute erledigt, es gibt statt ihrer sogenann­
ten deutschen Sozialismus, deutschen Frieden; freilich meint er
nicht, was er sagt. Nun, fast ebensowenig meint der - sage man:
Neoklassizismus des Führerherzens sich selbst oder überhaupt
nur ästhetische Gegenstände. Sondern die Kunstattacke ist
erstens neuer Spießerfang, sie schmeichelt schlechtem Ge­
schmack und der hämischen Dummheit zugleich; Biedertöne
und Jagdpfiffe mischen sich in ausgesucht demagogischem Ver­
hältnis. Zum zweiten aber verstecken sid1 hinter den Parolen
>>Antike« oder »Kulturbolschewismus« (auch »Steinzeitkunst«,
es kommt nicht so genau darauf an) die Gegensätze Rosenberg­
Goebbels, dieselben, die bereits beim Streit um · Barlach sichtbar
geworden waren. Es sind die Gegensätze einer Demagogie, wel­
che hier durchs Plüschsofa, dort durch Jugend, Lagerfeuer, »Ir­
ratio« wirken will. Plüschsofa ist die eine Seite, stand immer
schon in dieser »Revolution«. Indes mit Jugend, Bürgersturm,
Expressio und Urzeit war ebenfalls möbliert worden, vielleicht
sogar wirkungsvoller. Nebe:1 der guten Stube lockte irrationaler
Trieb, wie bekannt; der Oberdruß am durchrationalisierten Da­
sein hatte ihn verstärkt, gewisse »ttngleichzeitige« Züge in zu­
rückgebliebenen Schichten kamen ihm au fond entgegen. Der
Trieb reicht vom dumpfen Weibersehnen über Berserkerturn
bis zu jenen Wildgefühlen, jenem bewußten Unbewußten, dem
Benn lyrischen, Klages philosophischen, C. G. Jung medizini­
schen Ausdrude gab. Heidentum lebt in diesen Wunschbildern,
auch griechisches, nicht nur barbarisches; ein Griechenland je­
doch, durch die blonde Bestie interpretiert, nicht durch Hölder­
lin und durch Humanität, freilich eben auch nicht durch die
Gipsfiguren- oder Butzenscheiben-Antike des unwissenden
Spießers. Unser Diluvium-Benn ist seit langem 11außer Betrieb«,
daß aber die Alternative zwischen Urzeit und »anständiger
Kunst« (wie der Führer sagt) in der hohen Clique immer noch
nicht entschieden war, dafür eben ist die Münchner Rede, ist die
Gauklerfest unterm Galgen Bs

hörnsteigenhändige Entscheidung des obersten Gerichtsherrn


ein Beweis. Der Expressionismus enthielt selbst in seinen Nach­
geburten noch aufsässige Elemente unter den archaischen; er
vertrat gewissermaßen die nzweite Revolution« unter Kunst­
bursdlen und der Jugend, die sim für derlei interessierte. Das
»Archaisd1e«, das »Primitive«, es ist heute nod:l, als Sadismus,
in Konzentrationslagern erwünscht, und - als furor teutonicus
- selbstverständlich im kommenden Krieg, wirkt weiter im
Hakenkreuz, in ,,Siegrunen« und dem nOdal<<, in nThingstät­
ten<< und überall dort, wo dekorativer Humbug am Platze
smeint. Aber so gut das Großkapital aufs Hakenkreuz zu spre­
chen war, solange es die Massen einfing, so wenig hat es sich
doch je mit dem Pathos der Stein.zeit oder der archaischen Ver­
wilderung befreundet. Es braucht pünktliche und domestizierte
Angestellte, keine Urgennanen, mit Smlaraffia im Gesmäft
oder mit Blutschein im Kundendienst. Daher muß die Auf­
regung des Anfangs und der Vorbereitung, muß der Barbaren­
sdlwindel für die Samsen ohne Wald ebenso verschwinden kön­
nen, verschwinden auch in den Schlagworten der Nazih."Unst. Es
ist vielleicht übertrieben, zu sagen: die Kunstwarder letzte ideo­
logische Schlupfwinkel einer nzweiten Revolution«. Aber es ist
nicht übertrieben konsequent, zu folgern: in der Münmner
Kunstrede lief eine letzte Dünung des dreißigsten Juni 1934,
soll heißen: seiner Niederwerfung, am entlegensten Gestade aus.
Das wenigstens steht fest: auch der unter den Nazis möglichen
Kunst (und den hier geprägten oder erhaltenen Schlagworten )
wird die Parole Ruhe, Gefolgschaft und Ordnung gegeben. Die
SA des Irrationalen hat auf der Leinwand ausgespielt, erst recht
führt jede Erinnerung des echten Expressionismus auf den
Schindanger der nentarteten Kunst«. Die Wildnis soll nun über­
all ihren Sofa-Neubau in sich und über sich haben, ihren folg­
samen kleinbürgerlichen Kitsch. Daß dem ehemaligen Ansichts­
kartenzeichner Hitler die Kritik an Franz Mare leicht fällt, ist
ohnedies klar.
Ein Gutes in all dem Übel fehlt nicht. Der Führer fuhr nach
seiner Rede in eine Tristan-Aufführung, vertiefte sich dort in
den wenig griechischen Wagner. Auch Wagner hat zwar eini­
gen Nazismus für sich, Tamtam, Komödiantentum, dekadente
86 Große Verschwendung

Barbarei: Tristau hat die vorliegende Sympathie trotzdem nicht


verdient, Hans Sachs noch weniger. Aber wie gefährlich verwi­
schend wäre es vielleicht für Gebildete, die nichts als dieses,
immerhin dieses sind, jetzt jedod1 durch den Künstler Hitler
perturbiert wurden, wenn das Naziherz die Frechheit oder die
Heuchelei hätte, gar für Franz Mare zu schlagen oder, auf ande­
rem Feld, für Bart6k zum Zweck einer besonderen Tarnung.
Die Verwirrung wäre groß; daß sie leider nicht ganz unmöglich
ist, lehrt in manchem das Beispiel Mussolinis, unter dessen fau­
lem Szepter progressive Architektur, diskucierbare Malerei und
Musik unangefochten bleiben. Das sozusagen Gute also ist:
Nazi-Deutschland wurde völlig aus einem Guß; wie der Herr,
so sein, mit dieser Tempelkunst gefülltes, Gscherr. Homogenes
System ist in die Sache gekommen, auch die Kunst kommt in
die Folterkammer, die Bücherverbrennung ging ohnehin der
Menschenverbrennung, gleich an Nam' und Art, vorauf. ·und
der falsche Messias sättigt das »Volk« mit einer gutbezahlten
Mischung aus Tanz auf der Alm über dem Kanapee und Blut
und Boden im Abgrund.

AUS DER G E S CHICHTE


D E R GROSSEN VERSCHWE N D U N G (1934)

Nicht von Geld wird hier gesprochen. Eher von der Liebe, die
falsch landet. Große Gefühle sind auch sonst vor die unrechte
Schmiede gekommen. Tauschten sich lange genug, bis selbst die
Scham zu spät kam.
Junge Menschen sind leicht mit sich verführbar. Denn in
ihnen ist am meisten Hoffnung, und diese ist, außer dem Schau­
dern, unser bestes Teil. Doch auch ein ganzes Volk ist seit alters
auf Hoffnung gestellt, die Juden. Diese suchten das gelobte
Land, und als sie es hatten, hörte der Wunsch danach nicht auf.
Das Buch Jesaias ist voll Verheißung des »Gottesknechts«, der
der zukünftige Retter sein wird. Als das Volk unter neue Knecht­
schaft geriet, unter syrisd1e, dann unter römische, dann gar
unter die abendländische der Zerstreuung, wuchs der Messias­
gedanke immer unerbittlicher, ohne Abschlag, verschmolz völlig
Große Verschwendung

das irdische und das himmlische J erusalem. Gerade deshalb


hatte man Jesus den Heiden überlassen, weil er das brennende
Messiasbild nicht zu erfüllen schien, weil er die Welt nicht real
aus den Angeln hob. Dem Traum des Königs von Jerusalem
blieb man treu und wartete auf den Parakleten ohne Sättigung
unterwegs, ohne Vorstufe. Noch der ärmste jüdische Schächer
ließ sich in nichts bewegen, selbst nicht vorm und im Pogrom,
den Messias Jesus zu bekennen, der ihn hier wenigstens, durch
Taufe, errettet hätte. Als man aber das Jahr 1648 schrieb, der
Dreißigjährige Krieg war zu Ende, nur für die Juden nicht,
änderte sich das stumme, wartende Bekenntnis, und die Erwar­
tung schien ebenso plötzlich erfüllt, wie sie sich bisher zurück­
gehalten und strengstens aufgespart hatte. Denn in Kleinasien
war ein Prophet erstanden, namens Sabbatai Ze"V.ri, der behaup­
tete, Gottes Sohn und der verheißene Messias zu sein. War an
sich ein mittelmäßiger Mann, ohne eigene Gaben in die Blasphe­
mie geraten, mehr von der besessenen Jugend um ihn her als
vom eigenen Plan getrieben. Doch sein ehrgeiziger Ruhm brei­
tete sich in der Judenheit immer feuriger aus, entzündete auch
im Westen, unter den Juden Italiens, Frankreichs und vor allem
Deutschlands eine ekstatische Bewegung, mit Veitstanz, Gesich­
ten, Gefolgschafts-Jubel, Erretter-Rausch; desto unaufhaltsa­
mer, je näher das ))apokalyptische Jahr« 1666 kam. Die Juden,
denen Jesus als der verruchteste Verbrecher galt, weil er sich
Messias, Sohn Gottes, Gesalbter des Herrn genannt hatte, fielen
großenteils ohne Rückhalt einem Sabbatai Zewi zu, der nicht
nur das gleiche von sich behauptete, sondern der noch höher
hinauf in die Macht Jehovas griff und unterschrieb: »Ich der
Herr, euer Gott Sabbatai Zewi, der euch aus Ägypten geführt
hat«. Der besessene BetJ;"üger hat sich bald nach seinen Höhe­
punkten entlarvt, von den Versprechungen hat er keine gehal­
ten, von den Wundern keines vollzogen, er führte noch eine
Jesus-Pilatus-Szene im Verhör vor dem Großvezier auf, trat
dann zum Islam über und ist als angestellter Türhüter entschla­
fen. Dazu also hatten die Juden sechzehnhundert Jahre Not,
Verfolgung, Tod erlitten, dazu war Jesus verworfen und die
Messias-Erwartung intransigent gehalten worden, um sich im
Blitz einer solchen Armseligkeit zu entladen. Der Traum vom
88 Große Verschwendung

Reich war an einen Hochstapler verschenkt worden, der nicht


einmal Format genug besaß, um zu wissen, was er versprach und
setzte. Die jüdisd:J.e Erneuerung war vertan, der Alltag, nad:J. so
viel verschwendetem Rausch, desto bitterer.
Damals hatten die Juden zum Schaden nod1 mehr als Spott
zu tragen. Aber die anderen Völker, vor allem die Deutschen,
haben sich später nicht viel anders getäusd:J.t und ausgegeben.
Die gläubige Gewalt des Einsatzes, das falsd:J.e Ziel lagen nicht
so hoch, doch der Vorgang wiederholte sich. Sogar in wachsen­
den Schüben, von z 8 1 3 bis zum Weltkrieg und der durchaus
barocken Gegenwart. I 8 I 3 : das Volk steht auf, der Sturm bricht
los und unzweifelhaft ein echter Sturm, vom erwachenden bür­
gerlichen Bewußtsein angeblasen. Indes die Freiheitskriege wur­
den zu sogenannten Befreiungskriegen, nämlich vom Soldaten
der Französisd:J.en Revolution, und die schlechte alte Zeit saß
nachher fester als je. Die demokratischen Jünglinge selber hat­
ten ihre Landesherren wieder zurechtgesetzt, ohne Freiheit, die
ich meine, es sei denn mit ihr im Leichentuch. x8p: Hambad:J.er
Fest, 1848: der Sturm brach endlich unter anderen Fahnen los
als denen des Königs, der Himmel einer ungekannten Freiheit
stand völlig im deutschen Gemüt. Die Jugend vernahm ihr eige­
nes, frenetische.; Wesen, die Abstraktheit, jedod:J. aber auch die
))Universalität« ihrer Begeisterung, wenn ihr die großen Volks­
männer im Harnbacher Fest zuriefen, Wienbarg oder Wirth
oder Siebenpfeiffer oder der brennende Mazzini, die Träumer
der demokratischen Herrlid:J.keit. Protest flammte auf gegen alle
Unnatur undWillkür: ))Es muß anders werden«, riefWienbarg,
der Prädikant des jungen Deutschland, ))wir selbst sind dazu be­
rufen, in tausendfachem Echo des Gefühls. Wieviel dürre Blät­
ter wir dazu aus dem Kranze unseres Lebens herausreißen müs­
sen, wieviel Unschönes von uns abtun, wieviel gemeine Prosa
wir für ewig in den Schlamm und Sdtlick der abgestandenen
Zeit versenken müssen� welche neue Ansichten der Wissen­
schaft, der Kunst, der Poesie, derReligion, des Staats, des Lebens
wir fassen und zum Eigentum unseres Herzens madten müssen,
dies alles muß uns oft und lebhaft besd:J.äftigen, und das Befreun­
dete muß sich verbinden mit dem Befreundeten, um sich gegen­
seitig auszutauschen und zu befestigen.« Aber hinter all diesen
Große Versd1wendung

wallenden und echten Gefühlen, hinter dem Rausch und der


Subjektivität dieses falschen Bewußtseins stand real nichts
andres als das Interesse der auch in Deutschland erstarkten Bour­
geoisie. Genau sie ward »gemeine Prosa« in Potenz, und eine
solche, welche die Begeisterung der jungen citoyens und ihrer
Revolution nur gebrauchte, um sie erst recht in nSd1lick und
Schlamm« zu versenken, aber in den der verschwendeten Poesie.
Gelang das 1848 noch nicht, so in den stillen Kompromissen
nachher mit Junkern, Thron, Armee, Bismarckreich. Als neue
Inbrunst kam der Weltkrieg, 1914, wohin sozialdemokratische
Idealisten zogen, »um die Fundamente gesehen zu haben«, als
welche doch Hindenburg und Ludendorff hießen. Fast sc.hon
mit unbewußtem Hitler wurde damals der Wille zu einem ande­
ren Leben, der Überdruß an dem öden, verdinglichten, mecha­
nisierten Dasein, das Pathos der Volksgemeinschaft betrogen,
wurde diesen Affekten ein falsches Stichwort gegeben, für Über­
fall und großes Geschäft. Und heute gar ist der Derwisch selber
ins Geschäft gefahren; denn in diesem Exzeß blühen nicht nur
die Sadisten, die schäbigen Dummköpfe, die begeisterten Sach­
sen, die literarischen Huren, die eiskalten Betrüger. Sondern
etliche glauben mit Fülle, gläubige Jugend erliegt dem Blend­
werk, tanzt um scheinbares Johannisfeuer, will brennen wie
dieses, sich verwandeln wie dieses. Urväter-Hausrat tanzt mit,
Barbarossa im Kyffhäuser, die Raben fliegen, die Raben lassen
sich nieder, Friedrich der Einzige ist der erste Nationalsozialist,
Hitler hoffentlich der letzte. In großem Bogen ist die Sabbatai­
Zewi-Zeit erreicht; mit dem Unterschied, daß hinter dem fal­
schen Messias nid1ts stand als seine Psyd1opathie, hinter dem
Dritten Reich jedoch die Schwerindustrie.
Wohin geht der Jubel, der betrogen wurde? Meist schaukelt
er nod1 eine Zeitlang im bewegten Gemüt und sackt dann ins
Nichts ab. Die Hinterbliebenen sind leidtragend und leimt ge­
lähmt; was nicht hindert, daß derselbe Fall denselben Mensdlen
wiederkommt, und man ist nicht klüger geworden. So liegen
zwischen Weltkrieg und Hitlersieg nur fünfzehn Jahre; die Be­
trügbarkeit, die »Volksgemeinschaft«, sogar die nldeen von
1914«, die die von 1789 ablösen sollen, sind im heutigen
Bild verwandt erhalten. Das ist materiell kein Wunder, da das
90 Rassentheorie imVormärz

Spätkapital seit.dem Krieg, ja schon seit Anfang des Jahrhunderts


sich ebenso sozial tarnen wie formidabel erhalten muß. Wun­
derbar ist nur die ungeheure Gläubigkeit, womit proletarisierte .
Jugend und gebrannte Kriegsteilnehmer dieselben Mächte mit
Kredit übersd1ütten und allem Übersmuß eines unverbraumten
Herzens, die sie proletarisiert haben und in einen neuen Krieg
schid{en werden. Auch der Impuls des Bauernkriegs, der nähere
der roten Achtundvierziger und der der Pariser Kommune kam
vor dem Ziel um; doch wie einleud1tend sind die Unterschiede.
Die Hingebung von damals war keine von Verführten an Betrü­
ger, sondern eine an die eigene klare, unterdrüffite Sache. Die
damals Besiegten leben weiter als Märtyrer, nid1t als Betrogene;
sie wurden von der Übermamt ihrer Feinde geschlagen, nid1t
vom selben Führer, für den sie sich in Stüd<e hauen lassen, bloß
übers Ohr gehauen. Bei den aktivsten Teilen, auch bei jenen
»Idealisten«, die nid1t allzu genau mit der herrsillenden Klasse
zusammenhängen, geht der betrogene Jubel vielleimt zum Pro­
letariat; vielleimt geht er auch völlig ein und scheut das Fe].ler.
Es kommt nod1 genug Jugend, die sich nicht so leichtgläuqig ge­
schändet hat wie die braune. Doch was immer reine Hingebung
enttäuschen, deren gute Idee diskreditieren, ja ins volle Gegen­
teil pervertieren kann, nähert sich aud1 eo ipso dem Fascismus,
heute wie morgen, von dieser Seite. Die Begeisterung wie die
Liebe sind freilich ein Pulver, das ni� verschossen werden wird.
Es wird sich das rechte Ziel nehmen, beim Feuerwerk wie beim
Schuß; zunächst beim Schuß, und die Sache bewahren, aud1 un­
verwed1selbar halten, bis und damit sie keinem Fascio mehr
begegnet.

RASSENTHEORIE IM VORMÄRZ (1934)

Jetzt dod1 richtet man gutes Blut nur nordisch an. Die Rasse
sieht immer so drein, wie das Geschäft sie braucht. Darum ist
dies Nordisd1e nid1t nur blond sowieso, sondern treu, gefolg­
sam, mit Herren besternt und geschmüd<t, an sie gläubig. Das ist
sein Gesicht, sagt man, seit je.
Wie aber, wenn vor Tische genau das Umgekehrte galt? Die
i Vormärz
Rassentheorie m

Rassisten gehen zwar ausschließlich auf Gobineau als Ahnherrn


des Unsinns zurück. Und dieser lehrte in der Tat germanische
Edelinge als hoch über den feige-frechen, wohl gar räsonieren­
den Untermenschen. Sein ))Essay sur l'inegalite des races« er­
schien bezeichnenderweise r854, in der Zeit allgemeiner Reak­
tion, des beginnenden Bündnisses von Geldsack und Säbel. Doch
vor Gobineau, kurz vorher, erschien bereits ein anderes Rasse­
buch, der Franzose hat es benutzt, die Rassisten versdtweigen es
bis heute. Aus guten Gründen, wie man sogleich sehen wird;
denn die Söhne Teuts hatten damals ganz andere Eigenschaften
als die jetzt beliebten, blutgebundenen. Autor: Friedridt
Klemm, Titel: >>Allgemeine Kulturgeschidtte der Mensdtheit«,
Inhalt: erste germanisch-pathetische Rassentheorie. Wichtiges
Erscheinungsjahr: r845, mitten also im gärenden Freiheits­
sdtwang des Vormärz. Demgemäß sieht Teut noch sonderlieb
freiheitliebend, voll Vernunft und Wissensdtaft drein, um nicht
zn sagen: artfremd, aufgeklärt und so liberal, daß fast fürs KZ
reif.
Nur der ausbeuterische Stolz ist hier schon, an der Quelle,
derselbe. Ja er wirkt moderner als bei Gobineau; Klemm kennt
bereits >>aktive« und >>passive«, >>dynamische« und >>Statische«
Rassen. Überall wo hohe Kulturen entstanden sind, gehen sie
ihm auf Glieder der aktiven Rasse zurück. Diese haben >>allen
Volkern Herrenschichten überlagert und damit Kultur gebracht«
- eine Phrase, die von Gobineau bis Chamberlain bis Woltmann
bis Hitler immer expansiver gebraucht worden ist, hier aber zu­
erst sich findet. Nur eben: die Phrase hatte im nodt liberalen
Interesse des Bürgertums einen dem heutigen entgegengesetz­
ten Inhalt. Die Fingerfertigkeit der Phantasterei konnte damals
anders; wovon ein kleiner lehrreicher Auszug aus dem Urbuch
überzeugen wird: »Die erste oder aktive Hälfte der Mensch­
heit«, sagt Klemm, >>ist bei weitem die weniger zahlreiche Art.
Ihr Körperbau ist schlank, meist groß und kräftig, mit einem
runden Scl1ädel ( !), mit vorwärts dringendem, vorherrschendem
Vorderhaupt, hervortretender Nase, großen runden Augen usw.
In geistiger Hinsicht finden wir vorherrschend den Will<:._n, das
Element der Tatigkeit, Ra$tlosigkeit, das Streben in die Weite
und Ferne, den Fortschritt in jeder Weise, dann aber den Trieb
Rassentheorie im Vormärz

zum Forschen und Prüfen, Trotz und Zweifel. Dies spricht sich
deutlid:l in der Gesd:lichte der Nationen aus, weld:le die aktive
Menschheit bilden, der Perser, Griechen, Römer, Germanen:
Bei ihnen ist Freiheit der Verfassung, deren Element der stete
Fortschritt ist; Theokratie und Tyrannei gedeihen nicht; Wis­
sen, Forschen, Denken tritt an die Stelle des blinden Glaubens.
Dagegen finden wir bei den passiven Rassen Scheu vor dem
Forschen, Denken, geistigen Fortschritt. Die passiven Nationen
haben . . . Seelenkunde, aber keine Philosophie, sie haben Heil­
mittel und Kenntnis des menschlichen Körpers, dennoch aber
keine Medizin, mit einem Worte, eine eigendich lebendige WlS­
sensmaft fehlt ihnen.« Kurz: das Urbum der nordismen Rassen­
theorie pflegt dieselben billigen und abstrakten Antithesen, das­
selbe Schwarz-Weiß wie seine Kinder, bloß mit umgekehrtem
Gehalt. Was heute schlimmste Zersetzung oder lntellektbestie,
war dem Edeling vor I 848 germanisfies Erbgut. Was heute
archaische Tiefe, war dem Urgobineau »mongolisch((, tiefste­
hende Rasse, »Unter dem Einfluß von Schamanen stehen���,
kurz, nur unter Hitleriden vorhanden. Auch Hl'tlers Stellvertre­
ter Heß aus Alexandria, der völlig konsequent die Kurpfusche­
rei gegen die Medizin ausspielt, hätte beim Stammvater kein
Pardon gefunden. Alles Okkulte war hier niedere, schwarz­
haarige Machenschaft- der Edeling ist per se aufgeklärt.
Soweit Herr Klemm, und soweit werde er hier ausgegraben.
Nicht als wären Bruchstellen nicht heute noch oder als hätten
sie nicht vor kurzem noch edreut. So im Geschimtsunterricht,
gerade im griechisch-römischen, bei den »aktivsten« arischen
Völkern. Welcher Jubel bei der Geburt der Republik, bei den
Tyrannen- und Königsmördern, bei Harmodios und Aristogei­
ton, bei Brutus. Welche Verlegenheit beim Untergang der römi­
schen Republik, bei der Vertagung des erbärmlichen Senats,
welche Verachtung, welch unrömisches Bild gab der Brandstifter
Nero. Welm Pathos wurde gegen die persische Gleichschaltung
aufgewendet, gegen die Proskynesis, die Despotie, den gottähn­
lichen Humbug um die Herren. Wie warm wurde mit den Ma­
zedoniern mitgefühlt, wenn ihnen der Nimbus des Großkönigs,
wie Alexander ihn um sim legte, verhaßt war. Fremd, fast hoch­
verräterisch wirkten diese Gefühle im deutschen, gar königlich-
Mythos Deutschland 93

preußischen Gymnasium. Sie spalteten das Edelingische fast


schizophren bei dem üblichen Oberlehrer, der doch in der Mehr­
zahl teutonisch-monarchisch bis auf die Knochen war, sobald
die athenische Demokratie oder die römische Republik nicht
mehr zur Behandlung standen. \Varen diese Wertungen längst
schon Phrase geworden, so war ihr Ursprung aus dem revolu­
tionären Bürgertum doch 11nverkennbar. Und auch der nordische
Stolz war durch Hannibal immer getrübt, den man bis heute
noch nicht, soweit wir sehen, zum Germanen gemacht hat. Der
Stolz ist zwar alt, älter sogar als unser Klemm; schon ein gewis­
ser Rudbeck, Zeitgenosse von Leibniz, verlegte nicht nur die
Stammesheimat der Germanen, sondern gleich den Ursprung
aller Kultur nach Skandinavien, und der Wahlspruch: Lux in
tenebris cimmeriis erlangte damals große Bedeutun3 im Kampf
um die indogermanische Heimat, gedieh zur Konkurrenz gegen
das Ex oriente lux. Aber das Paradies selber lag noch nicht in
Pommern, so wenig, daß noch Schopenhauer dem gebräunten,
schwarzäugigen Menschenschlag den Kranz überreichte. Ja, die­
ser ebenfalls ältere »Rassephilosoph« beschimpfte sogar den
Schlag, dem er selber angehörte; er nannte die Nordischen »Al­
binos« oder Pigmentverlustige unter einer erbärmlichen Sonne
- alles mit Rassepathos, alles im Widerspruch zum heutigen. So
zweischneidig ist das Messer, von dem Judenblut spritzt. So
verschieden vor allem spiegelt selbst der »aktive<< Unsinn die
Ideologie, die dies Bürgertum jeweils braucht.

MYTHOS DEUTSCHLAND
UND DIE ÄRZTLICHEN MÄCHTE (193 3 )

Lieben Freunde, es gab schön're Zeiten,


Als die unsern das ist nicht zu streiten!
-

Und ein edler Volk hat einst gelebt.


Schil/1!1'

Die weiche Art ist lang gewesen und dahin. Die neue fühlt sich
stählern, durchaus als Klinge. Sie ist es derart, daß sie wehrlos
Gemachte gut und gern tranchiert. Aber so vortrefflich der Typ
94 Mythos Deutschland

rast, so leicht läßt er sich abblasen, wenn es seinen Herren gefällt.


Zum befohlenen Kampf von jeher großartig begabt, gelingt
ihm desto schwerer der Kampf für sich selbst oder der Aufruhr.
Die deutsche Bestie wird zum Hammel, sobald sie wieder in den
Stall geführt wird. Also läßt der neue Deutsche sich nod1 viel
leichter biegen als der liberale vordem. Sucht nicht einmal einen
Rest Person wie dieser, worin er frei scheinen mag. Und wie
erstaunlich läßt der neue Harte, ob gebogen oder führend, das
menschliche Gesicht aus. Der kirre Held wie der wilde, beide
gehen ins dampfende Tier. Nicht nur der weiche, oft hört jeder
Mensch auf, der bisher geleuchtet hat.
Auf Blut, auch auf seinem eigenen, fährt der neue her. Er
glaubt, sid1 züchten zu können, wie Hunde oder Pferde. Der
erste Ort, so deutsch zu sein, ist derart das i Bett.
rene So geht
der Kampf gegen erblich Kranke, sie werden nicht ,,gepflegt«,
sondern ausgerottet. Aber aud1 Krankheit anderer Art stammt
angeblich aus mitgegebenen schled1ten Säften, nicht aus Hunger
oder dem höllischen Leben des Arbeiters. Das Gewad1sene,
nichtdas Gemachte liebt der Nazi; so braucht er in das Gemachte,
nämlich die kapitalistische Wirtschaft, nicht einzugreifen. Desto
gefahrloser aber greift er ins organische Wachsen ein, hat im
nguten Blut« das Heilmittel der meisten Schäden. Verführt da­
mit Ärzte, nicht etwa, indem er ihnen das soziale Leben wichtig
macht, wohin das gesunde oder geheilte geschickt wird. Der
Nationalsozialismus zeigt nicht: Kranke werden heute für eine
Hölle ,,gesund und leistungsfähig« gemacht; zeigt nicht: die
Krankheiten kommen heute wieder wie Wunden im Krieg. Viel­
mehr arbeitet Blutsorge bis zur Geburt und dann nicht mehr;
sie verbindet sich zugleich aufs beste mit dem Haß gegen die
große Stadt. Bauernblut soll die Gesundheit ab ovo sd1affen, ob
es auch durch Inzucht und andere Schäden noch so ermattet ist,
im Gegensatz etwa zu Sporttypen der Stadt. Die Städte gelten
trotzdem, durch die Reihe, als Verwüster der Volkskraft; wie­
derum nicht wegen der kapitalistischen Wtrtschaft, sondern
wegen der ,,materialistischen Lebensgesinnung« (soll heißen:
wegen der proletarischen oder wegen der krisenhaft vorgeschrit­
tenen ). Eine völlig liberalistische Angst beseelt den Faseismus
überdies; die Angst vor der sinkenden Geburtenquote. Die
Mythos Deutschland 95

deutsche liegt in derTat zur Zeit besonders tief, noch unter der
französischen; also soll auch hier die Blutpflege heben. Ein
Aberglaube der großen Zahl liegt dieser Angst zugrunde; als
herrschte noch die liberale Zeit, die mittelkapitalistische, wo der
Unternehmer nicht Arbeitskräfte genugverwerten konnte, sei es
als beschäftigte, sei es als lohndrückende Reservearmee. Heute
reicht derErwerbslose zur Bildung dieser Armee durchwegs aus,
ja, ist gerade eine Gefahr für die kapitalistische Wirtschaft, min­
destens ein Ballast. Dennoch betreiben die Nazis, wie so oft, eine
überalterte Ideologie; sie haben die »gesunden Ans,ichten« einer
zurückgebliebenen Schicht. Wobei die Stärkung des reaktionä­
ren Haussinns freilich nicht außer Ansatz bleibt, erst recht nicht
der Auftrag zu Kanonenfutter. Daher wird die große Zahl - und
wieder von Geburt an - genau zugleich abgeteilt; in die Masse
nämlich der Geführten und in die kleine Schicht geborener Füh­
rer. Die schlecht Weggekommenen sollen an ihrem eigenen Leib
schon glauben, daß sie es mit Recht sind und bleiben müssen.
Man wird so in den Stand der Arbeitnehmer strenger und un­
ausweichlicher geboren als früher in den Stand der Leibeigenen;
was zur Zeit der Leibeigenschaft gottgewollt war, ist fascistisch
naturgewollt. Umgekehrt herrschen die Wirtschaftsführer und
die politischen kraft ihres herrenrassigen Bluts; dieses allein
bestimmt den neuen Adel, die neue Elite der Ausbeutung. Herr­
schaft über Menschen bleibt ewig; nachdem sie schwankend zu
werden droht, ist »auf Rassenlehre die ganze künftige Gesetz­
gebung zu gründen«. Das deutsche Land aber fährt am besten,
weil es auch seine Kapitalisten als Deutsche und nur als Deutsche
hat. Das deutsche Volk ist den Nazis nicht schlecht genug, um
Marx zu dulden, doch gut genug für Stinnes oderThyssen. Aller­
hand Träume umspielen die nordische Rasse dazu, mit Zügen,
die sie niemals hatte oder die sie nicht allein hat. Und das wirk­
liche Gesicht des neuen Adels, wenn nicht sein Leitbild, ist alle­
mal der verschönte Ausbeuter von heute.
Doch Blut wieder, ein noch schöneres als das gesunde, hält auch
zusammen. Der mittlere Mann, oft verletzt, findet sein Selbst. in
einem starken Volk wieder. Der zweite Ort, so deutsd1 zu sein,
ist derart das aufgenordete Vate1·land. Der mittlere Bürger, erst
recht seine Jugend, will gar nichts »Besonderes" mehr sein,
Mythos Deutschland

,
sondern ein Allgemeines sozusagen, nämlich ein auskömmliches
Rädchen und Glied im ganzen Volk. Individueller Aufsti�g,
freie Bahn dem Tüchtigen, Erfolge in freier Konkurrenz sind
kaum mehr möglich; also wirft sich das Geltungsbedürfnis
aufs allgemeine Volksgefühl, dem es schon zugehört, und über­
steigert es. Falsch, zu sagen, daß hier in erster Linie der Einzel­
mensch rebellierte und sich gegen die Vermassung wehrte als ein
kollektives Schicksal. Die »Seele« des Angestellten allerdings
wehrt sich gegen den Betrieb; in ihr sind gewiß auch individuelle
Strebungen von früher, aus der Zeit der freien Konkurrenz,
doch sie sind nicht mehr so wichtig, wie dies manche kleinbür­
gerliche Intellektuelle, aus ihren eigenen individuellen Resten
heraus, glauben. Vielmehr liegt für den Haupttrupp der Nazis
das gesuchte Feld jenseits des Individuums wie des Kollektivs
(die ihnen beide als liberal und mechanisch erscheinen). Er­
wünscht sind statt dessen kameradschaftliche Gruppen, als
Bünde, Lager, Gefolgschaften; diese geben dem Betrieb eine
täuschende Weihe, taufen ihn organisch um. Wird so das Be­
wußtsein der Klassengegensätze höd1st idealistisd1 verhindert,
bleibende Ausbeutung, bleibende Mechanei höchst romantisch
getarnt: so wirkt die Blutlehre selbst fast wie ))Materialismus«,
freilich in einem kuriosen Sinn. Denn keineswegs ist hier der
nGeist« primär; er und sein Gefüge werden vielmehr »bis auf
den Grund abgebaut«, als wäre auch hier »Analyse«. Wie der
Nazi auf die Bauern zurückgreift, als den am meisten organi­
schen Stand, so sind ihm die Leibärzte, Rassenä1·zte und Hygie­
niker sozusagen seine Sozialwissenschaft. Sie sind ihm aum
staatstheoretisch wichtig; daher nicht nur das Pathos der Ver­
erbung und Zuchtwahl, sondern vor allem das Nationalpathos
aus Blut. Fast besser noch als die protestantischen Staatstheo­
logen zeigten sim so die deutschen Ärzte gleichschaltbar. Höchst
lehrreich verkündet gerade das nDeutsme Ärzteblatt« als eines
der vornehmsten medizinischen Organe: »Ehrfurcht vor unse­
ren Vorfahren, vor dem Lebens- und Blutstrom der germani­
schen Rasse muß unsere Seelen wieder hinausheben über das
individualistische und liberalistische Denken der Zeit.« Das
Volk wird derart auch medizinisch eine von Blut gefüllte Einheit,
ein rein organisches Stromgebiet, aus dessen Vergangenheit der
Mythos Deutschland 97

Mensch herkommt, in dessen (höchst traditionell begrenzte )


»Zukunft« seine Kinder gehen. So treibt »�oJks_tum« aus der
Geschichte die Zeit, ja, die Geschichte aus: es ist Raum und
organisches Schicksal, sonst nichts; es ist jenes »wahre Kollek­
tiv«, dessen Untergründe den unbequemen Klassenkampf der
Gegenwart, als völlig oberflächlich und ephemer, verschlucken
sollen. »Völker sind Bluteinheiten«, sagt der fascistische Sozio­
loge Freyer; - hat Marx den Geist als Reflex der Wirtschaft
gelehrt, so bewerten ihn die kuriosen Idealisten des Faseismus
ausschließlich als Reflex des Bluts. Die Medizin, die diesen neuen
»Unterbau« ausgräbt, ist - wie ihr Blut - freilich besonderen
Safts. Sie ist zwar noch »Darwinismus« bis zum Exzeß ( natür­
liche Zuchtwahl und dergleichen ), jedoch das Blut, das ihre
»Analyse<< herausstellt, ist ein Mystikum geworden: und zwar
im ökonomischen Dienst einer neuen Vaterlands-Ideologie.
Diese neue Ideologie ist freilich von der Okonomie her besser
begreifbar als von der >>Medizin« : - so umzingelt und fesselt der
Marxismus noch die, welche ihn subjektiv, in ihrer Unwissen­
heit, überwunden zu haben glauben. Denn das Pathos des Natio­
nalstaats ist ja nicht erst von heute, es entstammt vielmehr, sei­
ner ersten Erscheinung nach, keiner anderen als der - liberalen,
der Französischen Revolution. Wie schon n
i einem früheren
Kapitel gesehen wurde, haben die »Sachsen ohne Wald<< nur
diesen ersten Beginn des Nationalgefühls als einen echten, echt
revolutionär gewesenen: in der Französischen Revolution holten
in der Tat enfants de Ia patrie gegen ihren »angestammten Für­
sten<< auf und etablierten sich selbst, nur sich selbst als Volk. Das
Kind des Vaterlandes war die bürgerliche Klasse im Aufruhr
gegen die angestammtefeudaleWirtschaft; undmit der fortschrei­
tenden Entwicklung der bürgerlichen Produktivkräfte zog auch
in Deutschland Nationalpathos ein, ideologisierte den Deutschen
Zollverein (gegen die einzelnen Dynasten), die deutsche Reichs­
gründung und schließlich - bei immer weiter durchkapitalisier­
tem Inlandsmarkt - die hochkapitalistischen Notwendigkeiten
des Imperialismus. Immer schon war dies deutsche National­
pathos durchkreuzt von mittelalterlichen und feudalen Rest-
�oeständen· (die ja keine Revolution aus ihrer politischen Macht
entfernt hatte ); so in der altdeutschen oder Ritterromantik, so
Mythos Deutschland
'

in der Romantik des zweiten Kaiserreichs, der Butzenscheiben­


oder »deutschen Renaissance«, so im Hohenstaufentraum des
alldeutschen Imperialismus. Nun aber ist dem deutschen Kapital
die Expansion gesperrt und -sem aringendstes Bedürfnis die
Abwehr gegen die Krise geworden, mit allen Folgen: und so­
gleich bietet sich eine neue National-Ideologie an, eben der Blut­
staat oder die Ablenkung auf Irratio, die Bindung durch ein
-
organisch gemeinsames Mystikum. Der neue Staat ist aber noch
weniger als die früheren national im echten, wirklichen, ideolo­
giefreien Sinn; er ist bestenfalls nicht-international, nämlich
autark oder ein Rest der zusammengebrochenen Weltwirtschaft.
Und er ist ebenso eminent international, sofern das Kapital in
allen fascistischen Staaten die gleiche Art Nationalgefühl und
National-Ideologie ausbilden muß, nämlich gegen klassenbe­
wußte Proletarier. Dieser Klassenkampf von oben verbindet
Italien, Deutschland, Ungarn in der gleichen römischen, germa­
nischen, selbst turanischen Ekstase und hat nur ökonomisch­
politische, auch strategische Unterschiede, keine wirklicher Na­
tion. Das hindert nicht, daß die revolutionäre Lage auch den
Blutmythos, gerade diesen, zwingt, »archaische Rez_enzen« auf­
zunehmen, deren Wildnis und Irratio dem Käphalismus, wie zu
sehen war, nicht unbedingt günstig sind. Aber ihr Dünkel dient
vorderhand dem Betrug und ihre Irratio zeigt - nicht bloß, daß
der Verstand ihr fehlt - auch sehr wenig Instinkt, weder sozia­
listischen noch solchen echter »Nation«. Wir betonen: echter
Nation; denn »Nation« ist gewiß eine Wirklichkeit und nicht
allein, wie bisher immer, eine Ideologie. Erst echter Sozialismus
aber holt auch echte Nation auf, als Sprach- oder Kultureinheit;
erst die internationale Regelung der Gütererzeugung und Gü­
terverteilung legt das Multiversum der Nationen wirklich frei;
erst dies Esperanto des Unwesentlichen schafft wesentliche,
mensc.blid1e Existenz, auch als Nation, ans ideologiefreie Licht.
Bis dahin haben Arbeiter in der Tat kein Vaterland, immer mehr
»Proletarisierte« ebensowenig, trotzihres subjektiven Patriotis­
mus; denn die Nation ist in Klassen gespalten, die Mehrzahl der
Produktivmittel gehört einer kleinen Schicht, das Vaterland ist
real eines der Reichen. Längst nidlt mehr ist in Westeuropa ))Na­
tion« ein revolutionärer Faktor wie zur Zeit der Französischen
l\lVthos Deutschland 99

Revolution, wie noch in Indien, China, allen Kolonialländern;


sie ist vielmehr imperialistisch-aggressiv (im Zusammenhang
mit dem Konkurrenzkampf der großen Kapitalstaaten) oder
eben Revolutions-Betäubung durch »gemeinsamen Blutmy­
thos((. Das Vaterland wird erst geboren durch Entfernung
seiner Nutznießer, durch reale Aufhebung der Klassen, durch
Überführung von Grund und Boden, von allen Produktions­
mitteln und Kulturgütern in den Besitz der Nation. ,P.er Blut­
staat betrügt Bauern und Kleinbürger, schießt auf Proletarier;
er ist Volkseinheit im Schein und mit einer Ideologie, an der
selbst das »Archaische« nur sehr uneigentlich ist, wohin er zu­
rückzuführen und zurückzusc.hmelzen behauptet. Der soge­
nannte Nationalsozialismus ist aus den gleichen Gründen weder
national noch sozialistisch, sondern Betrug oder Irrtum in bei­
dem. Erst die Internationale läßt das Nationale von sich Besitz
ergreifen, macht aus schmalen und ideologiehaften >> Völl<er­
seelen(( Volksleiber der Nähe. In der Klassengesellschaft bisher
ist Nation bestenfalls ein Bruchstück oder die besonders geris­
sene Benutzung eines revolutionären Motivs durch die herr­
schende Klassenideologie. Erst in der realen Volkseinheit, nicht
in der romantisch-betrügerischen des »Patriotismus« wird
Nation also wirklich.
Blut zuletzt, der ganz besondere Saft, soll die Seinen wieder
gläubig machen. So tanzen sie ums Feuer, Jugend will brennen
und sich verwandeln wie ihre Zeit. Wieviel guter, getrübter
Sinn wird hier oft verschwendet, wie phantasievoll und leer
bietet er sich jedem Mißbrauch an. Wichtig ist hier der Wille
oder wenigstens der Anblick eines gefährlichen Lebens gewor­
den; mit diesem macht der Nazi die stärkste vorkapitalistische
Verführung. Der dritte Ort, so deutsch zu sein, ist derart Ro­
mantik des heldischen Heidentums. Soldatischer Typ herrscht
in den Bünden und erträumten Ständen; männlich-soldatische
Substanz bricht, neben beispielloser Roheit und Psychopathie,
erotisierend durch. Abgedankte Offiziere, Rauf- und Aben­
teuer-Gestalten, die das solide Bürgertum früher als Desperados
bezeichnet hatte, viel groteske Mittelmäßigkeit dazuwirft sich in
»das helmbewehrte Gesicht des herrischen Kriegers(( und macht
Anti-Bourgeois, landsknechtisch oder wenigstens ästhetisch.
IOO Mythos Deutschland

Vor dieser unbezweifelbaren Verführung versdueßt der Libe­


ralismus (der dem Kapital nicht mehr brauchbar ist) freilich
besonders leicht. Sein Typ ist nationalsozialistisch völlig preis­
gegeben (und der Kommunismus von der anderen Seite hilft
ihm gewiß nicht); der kinetische Klassenkampf wirft die sanf­
ten Illusionen weg, die die statische Klassenherrschaft ein
Jahrhundert lang geduldet hat. Sie waren in Deutschland sd:lon
lange nur als Liga für Menschenrechte übriggeblieben, als vege­
tarisches Restaurant, als Gutartigkeit ohne Kraft, als Lebens­
sicherung ohne kulturelle Fülle, als Toleranz ohne revolutionä­
ren Alkohol, kurz, als bloße Gouvernante des Kapitalismus oder
Sozialdemokratie. Hier war derart ein Vakuum entstanden, hier
brach darum (als Severing geschickt Rot-Front verboten hatte)
die Energie des stellenlosen Nachkriegs desto verführender ein.
Und wurde, da kein Verstand ihre Schritte lenkte, Bauernkrieg
als Kaiserparade, Gegenrevolution als Ersatz einer echten. Das
warf dem Bourgeois wie dem Kommunisten gleichmäßig 11 Ver­
rat am Gefährlichen« vor, das sie »zur Sinnlosigkeit erniedri­
gen« - und schützte mit diesem Gefährlichen an sich, mit der
Abstraktion des Gefährlichen nur die wahre Sinnlosigkeit, die
des Bourgeois. Das überhörte am revolutionären Kommunis­
mus, daß er echter im Gefährlichen steht als die Schutztruppe
des Bestehenden; das mißverstand mit größter Desorientiert­
heit, daß die klassenlose Gesellschaft, der sozialistische Zu­
kunftsstaat gerade keine Sekurität darstellt, allen ausverkauft,
keine Bourgeois-Republik, totalisiert, keine mohnblumige Tu­
gend, sondern erste beherrschte Geschichte wäre, erster Schen­
kelschluß, der das Leben wirklich souverän traktiert und ihm
offenes Feld zum Ritt gibt, so ohne Sorgen wie ohne Lüge. Aber
der Blutglaube will gar kein offenes Feld; ihm genügt, zu zer­
sduagen oder zu galvanisieren ( beide Male mit viel Begeiste­
rung, zumeist für das Falsche ) . Er tanzt um das Feuer der
Johannisnacht, wirft Schminke, Puder, Stoppuhr, Emil Ludwig,
Kar! Marx und Lenin hinein, als wäre alles dasselbe, ))Symbol
einer jetztverendenden Gesellschaft«. Er hat durch rasch bereite
Literaten a la Benn oder Windder sogar »die Stunde des Genius«
erspäht, mit sehr viel Kriegspoesie von 19 I 4, mit Fortissimo wie
selbst damals selten und lauter Sonnwendfeier in Permanenz.
Mythos Deutsd:tland IOI

»Vorbei«, ruft Josef Winckler, >>vorbei ist die Verderbtheit


sensationeller Asphaltproblematik, die geistige Unzucht künst­
lerischer Selbstbefriedigung - ausgespien das 'Tier-Menschliche,
das mit geilen Songs zum eigenen Tanz aufspielte. Eine civitas
Dei aller schöpferischen Geister muß wachsen mit kristall­
neo Zinnen über einem gereinigten Volk. Dazu allein berufe
uns, feurig-uralter, oft schmachvoll verlorener, immer wieder
glorreich erstandener, weltempörerischer, weltentfaltender hei­
lig-barbarischer Genius der Deutschen!« Sehr schlechtes Deutsch
gewiß, sehr nachgemachtes, Sturm-und-Drang-Industrie, Res­
sentiment der Talentlosen und ein Expressionismus, der auf den
Lokalanzeiger herabgekommen ist; die Stunde des wirklichen
Genius tönte anders. Das hindert jedoch nicht Begeisterung der
Hörer; ihnen kam dieRundfunkstunde des Genius von Goebbels
bis Benn, also fahren sie auf Blut nicht nur ins Bett und den
Nordstaat, sondern ins Land germanischer Derwische, ins
Sd1lachthaus und epigonale Satyrspiel zugleich. Arktische Ver­
schwültheit macht Einschiffung nach Cythera; doch eben nicht
nach einem fröhlichen, kulturvollen, mittelmeerischen oder nur
westlerischen, wie f rüher, als Germanen in die Antike zogen.
Sondern das Deutschland der Abgebauten und das abgebaute
Deutschland liebt Umgekehrtes wie das alte: wo es nicht schon in
der Barbarei steht, sucht es das Cythera der Barbarei. Dies ganze
irrationale Wesen also schmolz der Nationalsozialismus breit­
plebejisch zusammen; von George bis zur Anthroposophie, bis
zu Ekstasen, die vorher in bloßen Tanzschulen waren, bis zu
den mannigfachen Kryptoreligionen, deren eine entäußerte und
vermissende Zeit voll war. Und er zog sie eben im Blutmythos
zusammen oder im fast rätselhaften Feuer, das Hitler nDeutsch­
landu verliehen hat. Als einem Land kaum mehr auf der Erde;
als einer Patria, worin Blutgier, Pogrom, Urwald, Rom, Maz­
daznan, Traumwelt, Irrenzeichnungen, Tanzrapporte, archaische
Verzückung, himmlisches Jerusalem in einer einzigen Blasphemie
zusammengehen. Nur die Juden gehen mit dieser Blasphemie
nicht zusammen, dieselben, deren Bibel das ganze alte Deutsch­
land einmal geniihrt und durd1christet hatte; jenes Deutsch­
land, das von Eckart bis - Mahler reimt. Und Christus, der
Jude, steht so peinlich und schief zur neuen, zur arteignen
102 Mythos Deutschland

Religion; dennoch stellen >>deutsche Christen<< Jesu Bild nicht


anders mit dem ihren zusammen, als wäre er Hamann und sein
Vater der Baal. »Der deutsche Glaube<<, sagt einer dieser Blut­
christen, »verneint daher, daß es außer den höchsten Eingebun­
gen und Geistesschöpfungen seines Landes noch ein besonderes
Wort Gottes gibt, das für alle Völker gemeinsam gilt.« Also
wird das Christentum >>von seinen jüdischen Begriffen und Vor­
stellungen gereinigt« (was ungefähr so sinnreich ist wie eine
Reinigung Homers von seinen griechischen Begriffen und Vor­
stellungen); also wird Gott zum Premierminister Deutschlands,
deutsche Geburt zur dtristlichen Taufe, Ritualmord an Juden
zur Bergpredigt, Kreaturzauber ohnegleichen zur Ausgießung
des Heiligen Geistes. Der Mord nennt sid1 SA-Cluisti; doch
auch die übrige gleidtgesdtaltete Kirche schließt die Juden aus,
schließt das Sakrament der Taufe aus und nennt sich weiter
mristlidle Kirdle, gegründet auf die Bibel (deren l<ein einziger
Sduiftsteller arisdl war), gegründet auf Jesus Christus ( dessen
Stammbaum, womit das Neue Testament zur Einsimt beginnt,
keinen einzigen Nicht-Juden enthält). Diese protestantisch im­
merhin dienende, katholisch immerhin konkordierende Kirche
steht auf dem Boden der Bibel, von der der neue Führer doch
sagt: »Das Judentum war immer ein Volk mit bestimmten rassi­
sdien Eigenarten und niemals eine Religion; nur sein Fortkom­
frühzeitig nach einem Mittel sud1en, das die
men ließ es schon
unangenehme Aufmerksamkeit in bezug auf seine Angehörigen
zu zerstreuen vermodlte« (Mein Kampf, S. 335). Also haben
die Juden keine Religion gehabt (die Griechen gewiß auch keine
Kunst und Philosophie, die Römer keinen Staat); also sind die
Propheten und Apostel, Jesus Christus, die Drehristen und
Spinoza erledigt, ihr Fortkommen geklärt - und es bleibt die
Hitlerkirche, sie zerstreut die unangenehme Aufmerksamkeit
in bezug auf ihre Angehörigen nicht. Viel Betrug war scllon auf
religiösem Gebiet, docll niemals soviel gemeiner Irrsinn, soviel
blutige Posse dazu; die Kombination von Neuern Testament
mit Nibelungenring und dem Horst-Wessel-Lied ist Satanis­
mus und armseliger obendrein. So fern ist Blut-Deutscllland
dem gotisdl-alten, ja selbst dem romantischen geraten, das es
doch beschwört. Die Ungleidlzeitigkeit als bloßer Nadltraum,
Mythos DeutSchland 103

der ))christliche Heldenkult<< als Religion des bloßen Blutrauschs,


sie schließen an gotische Höllenbilder an, nicht an das deutsche
Allerseelen, Allerheiligen, das der Gotik einmal im Gemüte
stand. Ja, es zeichnen sich die Züge des Tiers aus dem Abgrund
vor, infernalisch Böses in noch unvorstellbarem Grauen; das doch
fand sein Ermächtigungsgesetz, schäbig und grund-unheimlich
zugleich. ))Ein edler Volk hat einst gelebt«: Schiller meinte die
Griechen, doch keine falsche Gegenwart verwehrt, auch ans
alte Deutschland zu denken, ans Land der mystisdl ausgespann­
ten Inwendigkeit und apokalyptisch genährten Träume, dessen
heute fast nichts geblieben ist als antisemitischer Pöbel, deka­
dente Barbarei und darüber der ausgekochteste Kapitalismus
der Welt. Ganz andere Kräfte als die heute grassierenden wären
notwendig, damit das Erbe dieses alten Deutschland ein besesse­
nes, ein realisiertes würde und dann allerdings eines der wich­
tigsten Observatorien auf das und nur auf das, was in der Tat
))für alle Völker gemeinsam gilt«. Nämlich auf das herauszupro­
zessierende menschliche Gesicht; im gotisdlen Deutschland sind
einige seiner Umrisse vieHeicht am mächtigsten erschienen,
wenn auch nur in der wirren Linie, die die bloße Inwendigkeit
erzwang. ))Wo sind die Barbaren des XX. Jahrhunderts?« -
fragt Nietzsche und meint eine Art vornehmes Diluvium. Die­
ser Ruf hat heute - weniger vornehm, doch allerdings zuweilen
mit Diluvium - Jünger, Unsinn und Anfälligkeiten gezündet.
Der Blutmythos vergißt jedoch: Barbaren, diewissen und sagen,
daß sie es sind, sind nicht einmal Barbaren. Nur das ungewor­
dene Lid1t, das möglicherweise auch in Archaismen steckt, läßt
sich wissen und sagen; dann wird es freilich Licht und ist nidlt
kranker Kapitalismus mit Konkurrenzmythen der Mitte oder
auch betrogen-betrügender Wildrezenz im Leib. Sondern: das
Alpha der vorgeschichtlimen ))Gentes« wird das sehr verwan­
delte Omega der namgesc.,.imtlichen nKommune«. Und selbst
jetzt: der Widerspruch manches jungen, bäurischen, gesunden­
wollenden Bluts gegen diese Zeit, der Widerspruch echter Un­
gleichzeitigkeit gegen die kapitalistisme Todesmaschine landet,
als richtig verstanden und gepackt, als rid1tig in einer mehr­
schid1tig-materialen Dialektik geleitet, nicht unbedingt, wie bis­
her, in der Logik und Physik des Kapitals.
ZUSAMM ENFASSENDER ÜBERGANG

U N G L E I C H Z E I T I G K E l T UND P F L I C H T
ZU I H R E R DIALEKTIK (Mai 1932)

A. FROHER ZUSTAND

Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, da­
durch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch
nicht mit den anderen zugleich.
Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nach­
dem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine
Zeiten. Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schich­
ten nam; leicht geht oder träumt es sich hier in ältere zurück.
Gewiß, ein bloß ungelenker Mann, der ebendeshalb hinter den
Ansprüchen seines Postens oder Pöstmens zurückbleibt, ist ein­
fam als er selber zurückgeblieben. Doch wie, wenn er außer­
dem, durch nachwirkende altbäuerliche Herkunft etwa, als Typ
von früher, in einen sehr modernen Betrieb nicht paßt? Ver­
schiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben
gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen
wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig,
schief, von rückwärts her. Die Kraft dieses unzeitigen Kurses hat
sich gezeigt, sie versprach gerade, so sehr sie nur Altes aufholt,
neues Leben. Aum die Massen strömten ihr zu, weil das uner­
trägliche Jetzt mit Hitler mindestens anders scheint, weil er für
jeden gute alte Dinge malt. Weniges unterwarteter, nichts ge­
fährlicher als diese Kraft, zugleim feurig und kümmerlich,
widersprechend und ungleichzeitig zu sein. Die Arbeiter sind
mit sich und den Unternehmern nid:lt mehr allein. Viel frühere
Kräfte, von ganz anderem Unten her, beginnen dazwischen.
B . UNGLEICHZEITIGKEITEN, B E RICHTET

Eine Art fängt immer von vorn an. Die 'Jugend wendet sich vom
Tag meist ab, den sie hat. Den sie heute nicht hat, doch ihre
Träume kommen nicht bloß aus leerem Magen. Es unterstützt
sie ebenso Ieibhaft ein hohles Jungsein, das nicht gegenwärtig
ist. Junge ohne Arbeit sind leicht von rechts zu bezahlen und zu
verführen. Junge bürgerlicher Herkunft, doch ohne bürger­
liche Aussicht, gehen ohnehin nach rechts, wo man ihnen eine
verspricht. Aber es ist doch bezeichnend, daß keineJugend bei der
einigermaßen gegenwärtigen Mitte steht; es gibt keine zwanzig­
jährige Wirtschaftspartei. Der zwanzigjährige Zustand ist viel­
mehr einem anderen als dem verdinglichten Leben von heute
zugewendet. Selbstverständlich gibt es keine Jugend an sich
oder keine, die so gleichartig, so unabhängig von den Zeiten
heranwüchse, wie Jünglingen zu allen Zeiten der gleiche Bart
wächst. Aber so sehr dieser Zustand in verschiedenen Klassen
und Zeiten ein verschiedener ist, so sehr noch die Worte, die ihn
beschreiben, heute andere sind als gestern, so deutlich tauchen
hier sehr frühe Leiber im Jetzt auf, schicken ein Stück vorge­
schichtliches Leben herein. Holen Knaben Pfeil und Bogen nach,
so werden Jünglinge leicht bündisch, suchen damit Freunde und
vor allem einen Vater, der ihr leiblicher oft nicht war. An der
bürgerlichen Jugend gerät das leichter als an der proletarischen;
aber nicht nur, weil sie bürgerlich ist, sondern weil sie zerfalle­
ner ist, folglichSpiele und Schwärmereien mehr durchläßt. über
und über mit sich selbst beschäftigt, sich selbst aufs äußerste
wichtig, zeigt diese Jugend zugleich mit ihrem Ruck ins roman­
tische Rechts, wie äußerlich ihre schlecht gegenwärtige, ihre
sachliche Gebärde war. Die scharfe Luft der Jugend läßt linkes
Feuer, wenn es brennt, noch stärker brennen; doch wird rechts
»erneuert«, so ist die Jugend bürgerlicher und verführter Kreise
erst recht verführbar: das bluthaft, das organisd1 Junge ist ein
guter Boden für Nazis. Bünde von sehr altem Zuschnitt tauchen
auf ihm auf, bluthaftes, greifbares Leben in kleinen Gruppen,
mit einem gekannten Führer, nicht mit Nummern an der Spitze.
Der Geschmack dieser Jugend ist für gut geratene männliche
Eigenschaften besonders empfindlich, für Stärke. Offenheit,
106 Ungleichzcitigkciten, berichtet

Anständigkeit, Reinheit; wobei dies »Anständige« gesunden


Burschen zugehört, nicht eines der festen Preise sein mag. Hal­
ttmgen wirken stärker als Lehren, begeisternde Worte genauer
al�· untersuchende, Trachten schöner als Städte: so bindet sich
der wirtschaftliche Anlaß, welcher die bürgerliche Jugend in
vergangene Träume treibt, an organische Unruhe und eigenes
Frühlicht. Was früher leer brauste und schwärmte, ist nun, wo
das gegenwärtig erwachsene Leben zu wenig überzeugend ge­
worden ist, um sich die Hörner dann abzustoßen, hemmungslos
abseits im schönen Alten. Jugend, welche mit dem kahlen Jetzt
in keinem gleichen Schritt und Tritt ist, geht leichter zurück, als
daß sie das Heute passiert, um ins Morgen zu kommen. Solange
nicht die verschiedene Zeit, worin sie ist, nach morgen umsetzt.

Andere Art ist von ganz lang her, indem sie wurzelt. Lebt fast
noch genau wie die Voreltern, tut dasselbe wie sie. Es ist das
Bauerntum: auf dem Land gibt es Gesichter, die bei all ihrer
Jugend so alt sind, daß sich die ältesten Leute in der Stadt nicht
mehr an sie erinnern. Treibt Elend oder bequemere Gelegenheit
in die Fabrik, so ist doch ein bäurisches Sprichwort: Arbeit
taugt nichts, zu der man gepfiffen wird; gerade der Kleinbauer
denkt so, auch wenn er vorher nicht viel besser gelebt hatte als
sein Knecht. Zwar rechnet der Bauer vorzüglich, hat seine
Trachten, Möbel, viel alten Zuschnitt aufgegeben und keines­
wegs nur gezwungen. Aber reagiert der Bauer auf wirtsdtaft­
liche Fragen auch erfrischend nüchtern, sind die handgewebten
Phrasen, die er jetzt gebraucht, auch nicht alle bodenständig, so
ist das Nüchterne doch nicht von heute, so trägt überall, wo
Schweigen und Dumpfheit, Herkommen der Sitte und des Glau­
bens statthat, der Bauer alte Tracht. Seinen wirtsChaftlich über­
alterten Ort verteidigt er zäh, ist schwerer durch die Maschine
zu verdrängen als vor hundert Jahren der Handwerker. Er ist
schon deshalb schwerer zu verdrängen, weil er die Produktions­
mittel noch in der Hand hat, auch die landwirtschaftlichen Ma­
schinen nur als Hilfsmittel im alten Rahmen des Hofs und zu­
gehörigen Ackers gebraucht; kein Fabrikant führt hier gegen
wirtschaftlich schwache Handwerker den mechanischen Web­
stuhl und Entsprechendes ein, das nur der Kapitalist besitzen
Ungleid:!zcitigkeiten, berichtet 107

konnte. Diese gemeinsam gebliebene Produktionsform macht


auch so schwer, die großen ökonomischen Gegensätze in der
Bauernschaft zu mobilisieren. Es gibt Zwergbauern im Elend,
Kleinbauern, Mittelbauern, Großbauern, und diese sehr ver­
schiedenen Besitzverhältnisse hindern gewiß, das Bauerntum als
einheitliche nKlassecc zu nehmen. Doch hat der Zwergbauer
immer nod1 Eigentum, wenn auch erbärmlidles, völlig verschul­
detes, und der Großbauer arbeitet mit, macht den tätigen Patri­
archen: die verschiedenen Besitzverhältnisse erzeugen aus sich
noch keinen Kampf zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten
(nur ganz andere Propaganda als die proletarische hakt hier
ein). So fühlt sich das Bauerntum, wenn nicht als einheitliche
Klasse, so doch als relativ einheitlich gebliebenen nStandcc. Und
vor allem haben die Bauern, außer Eigentum an Produktions­
mitteln, noch eine andere Ungleichzeitigkeit, jene Zähigkeit zu
wurzeln, die vom Stoff kommt, den sie bearbeiten, der sie un­
mittelbar hält und nährt; sie haften im alten Boden und im
Kreislauf der Jahreszeiten. Nicht nur die Agrarkrise treibt so
Bauern nach rechts, wo sie sidl durch Zölle gehalten glauben,
wo man ihnen die genaue Wiederkehr der guten Zeiten ver­
spricht. Auch ihre gebundene Existenz, die relative Altform
ihrer Produktionsverhältnisse, ihrer Sitten, ihres Kalender­
lebens im Kreislauf einer unveränderten Natur widersprid1t der
Verstädterung, verbindet der Reaktion, die sich auf Ungleich­
zeitigkeit versteht. Selbst die Nüchternheit der Bauern s i t alt
mißtrauische, keine aufgeklärte, selbst ihr wacher Besitzsinn
( am Boden, am schuldenfreien Hof) ist mit den Dingen noch
verwurzelter als der kapitalistische. Nüd1ternheit wieBesitzsinn
wie nod1 der bäurische Individualismus (Besitz als Instrument
der Freiheit, das Haus als Kastell) stammen aus vorkapitalisti­
schen Zeiten, aus Produktionsverhälnissen, die schon Laucl­
aufteilung verlangt hatten, als es noch keine individuell wirt­
schaftenden Bürger gab. Derart ist das Bauernhaus, trotz aller
kapitalistisdlen Formen, trotz aller Konfektion und Stadtware,
heute nom in Grundriß und Aura gotisd1; leicht könnte man
sogar die aufgegebenen Trachten und Möbel wieder an die alte
Stelle setzen, ohne daß dies, wie in der Stadt, butzenscheiben­
haft wirkte. Abgelegene Orte wirken hier besonders lehrreich,
xo8 Ungleichzeitigkeiten, berichtet

denn sie zeigen kulturelles Grundwasser, das anderswo nur


tiefer liegt. Truhen werden noch in gotischer Form vom Dorf­
schreiner für jetzige Paare mit moderner Jahreszahl gefertigt,
nicht als Fälschung, sondern wie von seinem Vater, Urgroßvater
und den Alten auch. Paare leben trotz Radio und Zeitung auf
dem Dorf, denen Ägypten immer noch das Land ist, wo die
Prinzessin den Moseslmaben aus dem Fluß gezogen hat, nicht
das Land der Pyramiden oder des Suezkanals; immer weiter
wird es von der Bibel und den Kindern Israel, nicht vom Pharao
her gesehen. Konnersreuth wieder: das Blutschwitzen der eksta­
tischen Jungfrau Thercse Neumann dortselbst, 1928, wider Wu­
len des viel gleichzeitigeren Bischofs, bezeichnet ein anderes
Stück Gotik in Deutschland. Das Fichtelgebirge, der verwandte
Schwarzwald, verwandte Spessart kapsein derlei ein; sind diese
Gebirge nicht mehr so finster und verspukt wie noch zu Hauffs
Zeiten, es wären Flößer, Glasbläser, Geister, Räuber auch heute
noch um solche Bauerngotik die nächste Szenerie. Wirtschaftlich
wie ideologisch sind die Bauern, mitten im wendigen kapitalisti­
schen Jahrhundert, älter placiert. So sehr der Kapitalismus sich
aud1 das Grundeigentum, ein vorkapitalistisches Element, adap­
tiert hat. So sehr er die Bauernschaft durchkapitalisiert und mit
seinen Waren versehen hat; so sehr noch das letzte Dorf durch
Rundfunk ans Juste Milieu angeschlossen ist. Die Bauern halten
dennoch einen schiefen Rest, fühlen sich eher von Rittergütern
als von Arbeitern in der verdächtigen Stadt mitvertreten. So­
lange der Zeitunterschied zwischen Stadt und Land nicht in
einem sehr viel breiteren Morgen als dem heutigen städtischen
verwisd1t ist.

Seit einigen Jahren lernt, wie bekannt, auch die städtische Art,
nachzugehen. Eine verelendete Mittelsc.hidJt will zurück in den
Vorkrieg, wo es ihr: besser ging. Sie ist verelendet, also revo­
lutionär anfällig, doch ihre Arbeit ist fern vom Schuß und ihre
Erinnerungen ma<hen sie vollends zeitfremd. Die Unsicherheit,
welche bloß Heimweh nach Gewesenem als revolutionären An­
trieb erzeugt, setzt mitten in der Großstadt Gestalten, wie man
sie seit Jahrhunderten nicht mehr sah. Doch auch hier erfindet
das Elend nichts oder nicht alles, sondern plaudert nur aus,
Ungleichzeitigkeiten, berichtet 109

nämlich Ungleichzeitigkeit, die lange latent oder höchstens eine


von gestern schien, nun aber über das Gestern hinaus in fast rät­
selhaftem Veitstanz sicherfrischt. Ältere Seinsarten kehren derart
gerade städtisch wieder, ältere Denkart und Haßbilder dazu, so
das vom jüdischen \Vucher als der Ausbeutung schlechthin.
Bruch der »Zlnslmechtschaft<< wird geglaubt, als wäre die Wirt­
schaft um I soo, Überbauten, die längst umgewälzt schienen,
wälzen sich wieder zurück und stehen als ganze mittelalterliche
Stadtbilder im Heutigen still. Hier ist die Schenke zum nordi­
schen Blut, dort die Burg des Hitler-Herzog, dort die Kirche
zum Deutschen Reich, eine Erdkirche, worin sich auch das Stadt­
volk als Frucht des deutschen Bodens fühlt und den Boden als
heiligen ehrt, als Confessio deutscher Helden und deutscher Ge­
sdl.ichte. Diese Art Vaterlandsliebe, der Schaum und das bre­
chende Auge, womit in Deutschland Deutschlands gedacht wird,
ist nicht bloß Ersatz für das verlorene StandesgefühL »Des
Landes Macht und Ehre« ist nicht bloß ein Traum (ein der
Rüstungsindustrie sehr bequemer Traum), weld1er in Kollektiv­
Gefühlen für die faktische Ohnmacht und Entwürdigung des
einzelnen Kleinbürgers entschädigt. Hier ist nicht einmal nur
Transfusion des »auserwählten Volks« aufs germanische, aufs
völlig vergötzte; sondern: der offenbare Exzeß erinnert an pri­
mitiv-atavistische nparticipation mystique«, an die Verbunden­
heit des Primitiven mit dem Boden, der seine Ahnengeister ent­
hält. Mehr als j e ist das Kleinbürgertum der feuchtwarme
Humus für Ideologie; dod1 zeigt sich: die heute grassierende
Ideologie hat lange ·wurzeln und längere als das Kleinbürger­
tum. Die Bauern glauben zuweilen noch an Hexen und Hexen­
banner, doch längst nicht so häufig und stark wie eine große
Schidlt Städter an die gespenstisdlen Juden und den neuen Bai­
dur. Die Bauern lesen zuweilen noch das sogenannte sechste und
siebente Buch Mosis, eine Kolportage gegen Krankheiten im
Stall, auch über die Kräfte und Geheimnisse der Natur; dodl der
halbe Mhtelstand glaubt an die Weisen von Zion, an Juden­
schlingen und Freimaurer-Symbole allüberall, an die galvani­
schen Kräfte des deutschen Bluts und Meridians. Wild und krie­
gerisch schlägt der Angestellte aus, will noch gehorchen, aber nur
als Soldat, kämpfend, glaubend. Die Lust des Angestellten,
IIO Ungleichzeitigkeiten, beridltet

nicht proletarisd1 zu sein, steigert sich in orgiastische Lust


der Unterordnung, des magisd1en Beamtenseins unter einem
Herzog. Die Unwissenheit des Angestellten, wie sie vergan­
gene Bewußtseinsstufen, Transzendenz in der Vergangenheit
sucht, steigert sich in einen orgiastischen Haß gegen die Ver­
nunft, in einen »Chthonismus«, worin Berserker und Kreuz­
zeugsbildet sind, ja worin - mit einer Ungleichzeitigkeit, die
stellenweise Exterritorialität wird - Negertrommeln dröhnen
und Zentralafrika aufsteigt. Das macht: der Mittelstand nimmt
(zum Untersd1ied vom Proletariat) überhaupt nicht unmittel­
bar an der Produktion teil, sondern geht in sie nur mit Zwi�chen­
tätigkeiten ein, mit einer solchen Ferne von der gesellschaftlichen
Kausalität, daß sich immer ungestörter ein alogischer Raum
bilden kann, worin Wünsche und Romantizismen, Urtriebe und
Mythizismen rezent werden. Selbst der unmittelbar wirtschaft­
liche Inhalt des mittelständischen Faseismus ist ungleid1Zeitig
oder dazu geworden, seitdem die Handels- und Gewerbefreiheit
nur nod1 den großen Unternehmern zugute kommt, die kleinen
vernichtet: die parlamentarische Demokratie ist derart der ver­
haßte Garant der freien Konkurrenz und die ihr entsprechende
politische Form. Statt ihrer will gerade der Ständestaat die Wirt­
schaft wieder auf die Stufe des frühkapitalistisd1en Kleinbetriebs
zurückführen; dem Großkapital empfiehlt er sich als Instrument
gegen den Klassenkampf, doch der Mittelschicht eben als Ret­
tung und aktuell-romantischer Ausdruck ihrer Ungleichzeitig­
keit. Ebenso hält es der Mittelstand ideologisch in der »Ratio­
nalisierung« nicht aus und gibt die Ratio desto eher preis, je
mehr sie ihm in seiner Welt nur feindlich, doppelt feindlich er­
schienen ist. Nämlich als bloße spätkapitalistische Rationalisie­
rung und als ebenso spätkapitalistische, dod1 »marxistisch­
jüdisch« verstandene Wertzersetzung überlieferter Gehalte.
Der Übermenscl1, die blonde Bestie, der biographisme Schrei
nach dem großen Mann, die Witterung nad1 Hexenküd1e, nach
einer längst vergangneo Zeit - all diese Flucl1tzeichen aus Rela­
tivismus und Nihilismus, woraus im Salon der Oberschicht ge­
bildete Diskussion geworden war, wurden in der Katastrophe
der Mittelschicht ed1tes politisd1es Land. Es ist zwar, so wild es
sich gibt, immer nur von Angestellten bewohnt, seine Häuser
Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit II r

sind die der Familie und der »sauberen« Wirtschaft, sei es des
Vorkriegs, sei es eines Ständestaats; und den Nutzen hat die
großkapitalistische Oberschicht, welche gotische Träume gegen
proletarische Wirklichkeiten verwendet. Gewiß auch hatten
Dunkelheiten noch nie solch regen Verkehr mit Spießbürgern
zu erdulden, so viel Hämischkeit, Gemeinheit und störrigste
Provinz, so viel Edda auf Brandmalerei, so viel Wappensprüche
auf sächsisch. Aber dennoch sind hier, in der Wut von Millionen,
in der archaisch gewordenen Landschaft um sie, auch Felder an­
derer Irratio. Lebende und neu belebte Ungleichzeitigkeiten,
deren Inhalt echt ist, deren Erscheinungen heidnische Roheit,
panische Natur mit sich führen. Aufstände älterer Sd1ichten
gegen die Zivilisation kannte man in dieser dämonischen Form
bisher nur im Orient, vor allem im mohammedanischen. Ihr
Fanatismus kommt jetzt auch bei uns, immer noch, den Weiß­
gardisten zugute; solange die Revolution das lebende Gestern
nicht innehat und umtauft. Mit dem Rückgang Hitlers wird
vielleicht auch das Ungleid1zeitige schwächer scheinen: jedod1 es
bleibt als Kein1 und Grund der nationalsozialistischen wie jeder
künftig heterogenen Überraschung. Der Nationalsozialismus
hat genug Proletarisierte dämonisiert gezeigt; ihr lächerlid1-
entsetzlimes Bild soll nicht vergessen sein, nom weniger un­
genutzt.

. C. UNGLEICHZEITIGKElT UND GLEICHZEITIGKEIT,


PHILOSOPHISCH

Viele von diesen gingen im Jetzt gewiß nur nacll. Blieben hinter
seinem Zug nur zurück, weil ihrGang zu lahm ist, obwohl sonst
ganz und gar von heute. Man wird darum keine ältere Art dort
scllon sehen wollen, wo bloß eine zurückgebliebene ist. Die zum
Heute zwar sclllecht steht, aber zu ihm gehört.
Der kleine Mann etwa hat Geld verloren und will es wieder­
haben. Auf diesem Weg kann er verrohen und träumen, er liegt
dann aud1 geistig scllief, doch eben im Jetzt. Bessert sich ihm die
Lage, so wird das Wilde und Träumende ohnehin aufhören. Bes­
sert sie sich nicllt, und Hitler, einmal an der Macht, enttäuscht,
llZ Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit

dann werden die Proleten, die mitlaufen oder es mit ihm ein­
mal versuchen, ohnehin nach links abspringen, wo man sie
erwartet; der Kleinbürger aber wird mindestens nicht mehr
an Geister glauben. Da ist vieles nur falsch ungleichzeitig, kehrte
heute lieber als morgen zur guten Stube zurück, hat »gesunden«
Sinn mit Wut und Phrasen, doch keinen Veitstanz. Füllt sich mit
schönen Worten, lautem Spiel, glänzendem Unsinn; und will
doch, auf dem Grund dieser Trunkenheit, nur wieder ein Haus­
tier sein. Man wird darum eine Bewegung, will man sie nicht
unterschätzen (was den meisten erst seit kurzem nicht passiert),
dod1 ebenso nidlt überall grell machen. Glauben, Gehorchen,
Kämpfen, das sind die fascistischen Tugenden? - vielleidlt, aber
das Gehordlen ist vielen die beste unter ihnen. Ordnung und
Hjerardlie der fascistische Baustil? - vielleicht, aber in der Ord­
nung suchen viele ihre Ruhe, in der Hierarchie einen Posten. Ja,
man hat die nationalsozialistische Agitation, kaum mit Unrecht,
einen Appell an den inneren Schweinehund im Menschen ge­
nannt: keine negative Bemerkung wieder kann gegenwärtiger
sein. Ein anderes sind die Bilder der stillerenInnerlidlkeit; wären
ihrer viele auch nicht so billig, so sähe man doch, daß sie nicht
älter als 3 o Jahre sein können und daraus abgestanden sind. Hier
merkt der kleine Mann nur nidlt, wo er ist, obwohl er durchaus,
auf ,geringe und betäubte Weise, im Jetzt ist. Sind viele dieser
Nebel also unerwartet und sonderbar, so nicht alt.

Echt ungleichzeitiger Rückstand

Doch ebenso ist nicht alles hier kleiner Mann, der sich täuscht.
Die Not bringt neben Frühe aus Muff auch echte, mit der zu
rechnen ist. Es gibt heute Galosd1en des Elends, weld1e so in
vergangene Zeiten führen wie im Märchen die Galoschen des
Glücks. Träfe das Elend nur gleidlzeitige Menschen, wenn audl
versdliedener Stelle, Herkunft und Bewußtsein, so könnte es sie
nicht in so verschiedene Ridltung marschieren lassen, besonders
nicht so weit zurück. Sie könnten die kommunistische Sprache
nidlt so wenig »verstehen«, als welche gerade völlig gleichzeitig
und genau an der vorgesdlrittensten Wirtschaft orientiert ist.
Gleichzeitige Mensdlen könnten trotz aller Mittelstellung, die
Echt ungleichzeitiger Rückstand I l3

ökonomisch dumm hält, trotz allen Scheins, der daran Platz hat,
sich nicht großenteils so archaisch verwildern und romantisieren
lassen. Gewiß lehnen sich die Mittelständler aud:t deshalb anders
gegen das zur Ware-Werden auf wie der Prolet, weil sie nur
mittelbar in der Produktion stehen. Auch weil der Angestellte
bis vor kurzem wenigstens noch nid:tt so annulliert, in seiner
Arbeit noch nicht so entäußert, in seiner Stellung noch nicht so
ungesichert war; überdies haben, zum Unterschied vom Pro­
leten, kleine individuelle Möglichkeiten des Aufstiegs bestanden.
Aber wenn auch jetzt, nach völliger Proletarisierung und Un­
sicherheit, nach dem Untergang der höheren Lebenshaltung und
aller Aussichten auf Karriere, die Angestelltenmassen nicht zu
den Kommunisten oder wenigstens zu den Sozialdemokraten
stoßen, im Gegenteil: dann reagieren offenbar Kräfte, welche
das zur Ware-Werden nicht nur subjektiv-ideologisch verdecken
(wie das bei einer nicht radikalisierten Mitte bis nach dem Krieg
allerdings allein der Fall war), sondern reaJ, eben nämlich aus
realer Ungleichzeitigkeit. Es wirken dann Antriebe und Reser­
ven aus vorkapitalistischen Zeiten und Überbauten, echte Un­
gleichzeitigkeiten mithin, die eine sinkende Klasse in ihrem Be­
wußtsein rezent macht oder rezent machen läßt.
Haben sich hier doch nicht nur Bauern und kleine Leute, auch
höhere Herren frisch, nämlich alt erhalten. Die Straße, welche
das Kapital durchs »organische< überlieferte Land gebrochen hat,
zeigt als deutsche jedenfalls besonders viel Nebenwege und
Bruchstellen. Schon im Krieg hatte sich gezeigt, daß Deutschland
nicht nur großkapitalistisches Land ist und die Junkerkaste nicht
nur eine Attrappe; das mischte in den imperialistischen Krieg,
al!" den »Aufruhr der Produktivkräfte gegen ihre nationalstaat­
liehe Ausbeutungsform<c, noch ältere Ursachen und Inhalte ein.
(Die deutsche Sozialdemokratie hatte das damals erkannt, ohne
freilich revolutionäre Konsequenzen daraus zu ziehen, nämlich
Kampf in erster Linie gegen die heimischen Junker und den
selbsttätigen Militarismus; den Wert dieser ungleichzeitigen Er­
l<enntnis hebt aber ihre nicht vollzogene Konsequenz nicht auf.)
Deutschland überhaupt, dem bis I 9 I 8 keine bürgerliche Revo­
lution gelungen war, ist zum Unterschied von England, gar
Frankreich das klassische Land der Ungleichzeitigkeit, das ist,
I I4 Ungleichzeirigkeit und Gleichzeitigkeit

der unüberwundenen Reste älteren ökonomischen Seins und Be­


wußtseins. Grundrente, großes Grundeigentum und seine Macht
wurden in England, anders in Frankreich ziemlid1 durchgängig
in die kapitalistische Wirtschaft und ihre politische Macht ein­
gegliedert; im lange zurückgebliebenen und länger noch viel­
fältigen Deutschland dagegen bildete sich der Sieg der Bour­
geoisie nicht einmal wirtschaftlich, geschweige politisch und
ideologisch im gleichen Maß aus. Das »unegale Verhältnis der
Entwicklung«, wie es Marx in der Einleitung zur »Kritik der
politischen Ökonomie« der materiellen Produktion im Verhält­
nis etwa zur künstlerischen zuweist, bestand hier lange genug
ebenso materiell allein und verhinderte derart in der wirtschaft­
lichen Kräftehierarchie den eindeutig dominierenden Einfluß
des Kapitaldenkens, also der Glei hzeitigkeit.
c Mit dem ost­
elbischen Feudalismus hielt sich jedenfalls ein ganzes Museum
deutscher Wechselwirkungen, ein anachronistischer Überbau,
der, so ökonomisd1 überaltert und stützungsbedürftig er ist,
dennoch herrscht; Weltgeschichte war in Deutschland durchaus
nicht immer Stadtgeschichte. Hier steht nicht zur Frage, ob das
preußisd1e J unkertum nicht selber recht künstlidle, sogar ratio­
nalistisdle Züge seit alters aufweist (zum Unterschied vom
edlten, volkverwurzelten Bojarentum ) : die preußische Stütze
der Heiligen Allianz war, wenn sie die »modernste« war, jeden­
falls nidlt die schwächste. Heute nun ist das Junkertum halb
gelegt oder auf deutsdmationale >>Volksparteien«, gar auf natio­
nalen »Sozialismus" angewiesen; dodl die marxistisdle Revo­
lution, welche »die alte Welt mit ihren eigenen großen Gesamt­
mitteln umwälzen« will, stößt in der kapitalistischen Republik
wiederum nicht auf Großkapital allein. Sondern auf neue Reak­
tionen der Ungleichzeitigkeit; sie stößt auf deren gepolsterten
»Widersprudl« zum Kapital, scharf gernamten zum Marxismus.
Neben und in viel falscher UngleidlZeitigkeit steht darum eben­
so diese gewisse: dem verzweifelten Bauern, fallierten Klein­
bürger kommt in Deutschland besonders leicht die Natur, erst
redlt der Spuk der Geschichte; die Wirtschaftskrise, welche den
Spule freisetzt, vollzieht sid1 in einem Land mit besonders viel
vorkapitalistisdlem Material. Es ist sehr die Frage, ob Deutsch­
land seiner Kraft nach nodl ungewordener, gar vulkanischer ist
Echt ungleichzeitiger Rückstand 115

als etwa Frankreich; sicher aber hat es die kapitalistische Ratio


nicht entfernt so gleichzeitig durchformt und ausgeglichen. Eben
dies relative Chaos nun wälzte dem Nationalsoziaismusl » Un­
zeitgemäßes«, Ungleichzeitiges auch aus noch »tieferer« Zu­
rückgebliebenheit, nämlich aus der Barbarei zu; und es hätte in
Deutschland keines Nietzsche bedurft, um die Antithesen Blut
gegen Geist, Wildheit gegen Moral, Rausch gegen Vernunft zu
einer Verschwörung gegen die Zivilisation werden zu lassen.
Durch den Relativismus der allgemeinen Müdigkeit brechen
folglich Bedürfnisse und Bestände der Vorzeit wie Magma durch
eine dünne Kruste; ja, der Nihilismus des bürgerlichen Lebens,
dieses Zur-Ware-Werden, Entäußert-Werden der ganzen Welt
zeigt hier erhaltene Ungleichzeitigkeiten doppelt »naturhaft«
und erhaltene »Natur« doppelt magisch. So brennen denn La­
gerfeuer und Opferrauch im völkischen Saal. Posaunenstöße
künden stärker als nur wilhelminisch den Führer an, die dünnen
Gärtchen Ideologie, welche den Mythos falsifizieren, ver­
schwülen real und gehen - in einer rasenden Mittelmasse - als
Dschungel auf. Die Pfannkuchenkrater Natur, welche sonst in
der guten Stube dampfen, werden zu echten Vulkanen, will
heißen: zu Schlammvulkanen, doch auch zu solchen einer dun­
kelsten Primitivierung, eines völlig ungleichzeitigen, ja dispara­
ten Irreseins. Man erinnert sid1 der Veitstänzer und latenten
Kindersehlächter, die: »Haltet den Dieb!« rufen, wenn sie Juden
des Ritualmords anklagen. Man erinnert sich der Weise: ))Wenn
Judenblut vom Messer spritzt«, die als Hakenkreuz in Musik
über den SA-Truppen zieht, man spürt den Traum erhaltenen
Irreseins, erhaltener Überkompensierungen aus der Pubertät in
dieser Art Nationalsozialismus. Man riecht die Kolportage indi­
scher Mördersekten und chinesischer Geheimbünde, den ganzen
Schleichwald, Flüsterwald früher Kolportage (mit den Weisen
von Zion oder den Höhlen der Freimaurer im Bergionern ), man
trifft uralten Sadismus noch bei Totenfeiern, Racheschwüren
oder beim Wutzeremoniell am ))Mahnmal«. So ist am ganzen
))Aufbruch« Unheimliches genug; er ist nicht nur einfache
))Rückverjüngung«, auch nicht nur Konkurrenzkampf mit be­
stialischen Mitteln. Unter der Schwelle gesunkener Aktienwerte,
unter einem Rausch, der bei Licht oft nichts anderes enthält als
II6 Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit

etwas gestörte Butzenscheibe, unter einer falschen Ungleich­


zeitigkeit, die nur insofern als Papua auftritt, als sie nicht auf
der Höhe der Zeit steht: unter all diesen schlechten Anachronis­
men ist derart noch ein echter, der zu raten aufgibt. Seine Akte
sollen im Folgenden logisch bestimmt werden, seine Inhalte je­
doch sind ein wildes Durcheinander unverkaufter Geschichte,
auch VorgesdJ.ichte. Die Zeitfremde dieses Widerspruchs er­
möglicht ebenso den Betrug wie das Pathos von »Revolution«
und Reaktion zugleich.

Logische Beschaffenheit der ungleichzeitigen Widersprüche

Der Not fehlt zu essen und, in der Mitte, noch etwas Höheres
dazu. Das sie im jetzigen Leben nicht mehr finden kann, ja schon
lange in der Ode vermißt. Dies gewohnt, sdJ.ließlich »seelisch«
Vermißte widerspricht also gleichfalls dem Jetzt, ebenso stark
wie das fehlende Essen und nid1t nur wirtschaftlich. Weiter hat
jeder aufrührende Widerspruch, sogar sein Schein, zwei Seiten:
eine innere sozusagen, der etwas nicht paßt, eine äuße1·e, worin
etwas nicht stimmt. Die verelendete Mitte nun, überwiegend
nicht von heute, widerspricht dem Jetzt, das sie immer weiter
fallen läßt, innerlich dumpf und äußerlich mit Resten, die dem
Jetzt fremd sind. Das Widersprechende s i t hier also, innerlich
oder subjektiv, ein dumpfer, es ist ebenso in der Zeit selber,
äußerlidJ. oder objektiv, ein fremder und übriggebliebener,
kurz, ein ungleichzeitiger Rest. Als bloß dumpfes Nichtwollen
des Jetzt ist dies Widersprechende subjektiv ungleichzeitig, als
bestehender Rest früherer Zeiten in der jetzigen objektiv un­
gleichzeitig. Das subjektiv Ungleich.zeitige, nachdem es lange
bloß verbittert war, erscheint heute als gestaute Wut. In ruhiger
Zeit war sie das Verdrossene oder Besinnliche des deutschen
Kleinbürgers, der sich vom Leben, worin er nicht mitkam,
sdümpfend oder innig zurückzog. Subjektiv ungleidJ.zeitig im
dürreren Sinn, aber ein Brennholz in der Wut sind auch die abge­
fallenen Zweige der PflidJ.t, der Bildung, des ,,Stands« der Mitte
in einer Zeit, weld1e keine Mitte mehr kennt. Dem entspricht das
objek tiv Ungleidlzeitige als Weiterwirken älterer, wenn auch

noch so durchkreuzter Verhältnisse und Formen der Produktion


Ungleichzeitige Widersprüche II7

sowie älterer Überbauten. Das objektiv Ungleichzeitige ist das


zur Gegenwart Ferne und Fremde; es umgreift also unter­
gehende Reste wie vor allem unaufgearbeitete Vergangenheit,
die kapitalistisch noch nicht »aufgehoben« ist. Der subjektiv
ungleichzeitige Widerspruch aktiviert diesen objektiv ungleich­
zeitigen, so daß beide Widersprüche zusammenkommen, der
rebellisch schiefe der gestauten Wut und der objektiv fremde
des übergebliebenen Seins und Bewußtseins. Hier sind Elemente
alter Gesellschaft und ihrer relativen Ordnung und Erfüllung in
der jetzigen ungeordneten, und der subjektiv ungleichzeitige
Widerspruch belebt diese Elemente negativ wie positiv über­
raschend. Haus, Boden, Volk sind solche objektiv abgehobene
Widersprüche des Überkommenen zum kapitalistischen Jetzt,
worin sie wachsend zerstört und nicht ersetzt worden sind. Sie
sind Widersprüche des Überkommenen zum kapitalistischen
Jetzt und Elemente alter Gesellschaft, welche noch nicht gestor­
ben sind: sie sind sogar in ihrem Ursprung Widersprüche gewe­
sen, nämlich zu den vergangeneo Formen, welche die gemeinten
Inhalte von Haus, Boden, Volk doch nie ganz realisiert haben.
Sie sind also schon Widersprüche unerfüllter Intentionen ab ovo,
Entzweiungen mit der Vergangenheit selbst: nicht an Ort und
Stelle, wie die Entzweiungen der glei�zeitigen Widersprüche,
sondern gleichsam die ganze Geschichte hindurch; so daß hier
verdeckte VVidersprüche auch zur Geschichte, nämlich noch un­
aufgearbeitete Intentionsinhalte der Vergangenheit selbst gege­
benenfalls mitrebellieren. Die Vergangenheit wird vom Klein­
bürgertum heute freilich geschönt, es setzt sein Unerfülltes
gerade mit dem relativ Besseren der Vergangenheit gemischt dem
Jetzt entgegen. So hat gestaute Wut ihren ungleichzeitigen
Widerspruch nicht so sehr gegen schlecht überkommenes als
vor allem gegen ein Jetzt, worin auch das Letzte an Erfüllung
noch verschwunden ist. Niemals aber wäre der subjektiv un­
gleichzeitige Widerspruch so scharf, der objektiv ungleichzeitige
so sichtbar, bestünde kein objekti v gleichzeitiger, nämlich der in
und mit dem heutigen Kapitalismus selbst gesetzte und wach­
sende. Die anachronistische Verwilderung wie Erinnerung wird
erst durch die Krise freigesetzt und antwortet auf deren objektiv
revolutionären \Viderspruch mit einem subjektiv wie objektiv
II8 Ungleichzeitigkeit und Gleidlzeitigkeit

reaktionären, nämlid.l eben ungleichzeitig. Nur wird der un­


gleichzeitige Widerspruch, ist er auch durch wachsende Ver­
elendung, Zersetzung, Entmenschung m i Sd1oß des Spätkapitals,
durch das Unertragbare seiner objektiv gleichzeitigen Wider.­
sprüche freigesetzt, dem Kapital, als ungleichzeitiger, vorerst
nicht gefährlich. Im Gegenteil, das Kapital gebraucht das un­
gleichzeitig Konträre, wo nicht Disparate zur Ablenkung von
seinen streng gegenwärtigen Widersprüchen; es gebraucht den
Antagonismus einer noch lebenden Vergangenheit als Tren­
nungs- und Kampfmittel gegen die in den kapitalistischen Anta­
gonismen sich dialektisch gebärende Zukunft. Durchs ganze
XIX. Jahrhundert hindurch haben sich im Kleinbürgertum »die
Interessen zweier Klassen zugleich abgestumpft« ( Marx); die­
ser Abstumpfung nun treten heute harmonistische Bilder der
Vergangenheit hinzu und suchen den Exzeß des Kapitalismus
bloß zurückzunehmen oder ihn sich unterzuordnen. Sie füllen
den Nihilismus - diesen eminent gleichzeitigen Widerspruch im
Gefolge des Spätkapitalismus, diese ideologische Parallele zum
Ware-Werden aller Menschen und Dinge - mit Mischgebilden,
wie dem Frontgeist von 1914, mit romantischen Staatstheorien
und ihrem feudalen Antikapitalismus, mit Preußenturn und
Sozialismus oder anderen Ideologien als voreiligen Lösungen
der gesellschaftlichen Widersprüche. Der ungleid1zeitige Wider­
spruch ist derart das Gegenteil eines treibenden, sprengenden,
er steht nicht beim Proletariat als der heute geschichtlich ent­
scheidenden Klasse, nicht im Kampffeld zwischen Proletariat
und Großkapital als dem Raum der heutigen Entsd1eidung. Hat
sich doch der ungleichzeitige Widerspruch wie sein Inhalt nur
im Umkreis der kapitalistischen Antagonismen freigesetzt und
ist daran fast eine zufällige, mindestens windschiefe Anderheit;
so daß zwischen dem ungleichzeitigen Widerspruch und dem
Kapitalismus ein Hiatus besteht, ein Riß, der sich trösten oder
mit Nebel füllen läßt. Vor allem stellt der ungleichzeitige Wider­
spruch, als derjenige bloßer untergehender, selbst unaufgearbei­
teter Vergangenheiten, aus seiner nodt so großen Quantität
keinen Umschlag zu einer neuen Qualität her. Die revolutionäre
Knotenlinie, worin sich der Widersprudl schließlich an einem
einzigen Punkt verknäuelt und sprunghaft zur revolutionären
Ungleichzeitige Widersprüche 119

Lösung drängt, kann sinngemäß nur an gleichzeitigen Wider­


sprüchen statthaben, die das wachsende Kind Zukunft oder An­
derssein selber sind, nicht an ungleichzeitigen, die ihre Größe
längst dahin haben, nämlich als historische, und damit auch die
Abenteuer ihrer Qualität. Selbst die mögliche Nachreife des
eigentlich Unaufgearbeiteten an dieser Vergangenheit kann nie
von sich aus zu einer Qualität umspringen, die man aus der Ver­
gangenheit nicht schon kennt. Dazu verhülfe höchstens ein
Bündnis, das aus der Vergangenheit erst dadurch die in ihr noch
mögliche Zukunft befreit, daß es beide in die Gegenwart setzt.
Immerhin ist im ungleichen Widerspruch eine Wirklichkeit, die
- wie das sdueckliche Exempel zeigt - vom gleichzeitigen nicht
ohne weiteres mitbewegt und einbezogen werden kann. Man
hat, in einer kommunistischen Resolution, vom deutschen
hscismus gesagt, er berge in sich sowohl die Offensive der herr­
schenden Klasse wie die Elemente ihrer Zersetzung, kurz, er
spiegle den dialektischen Widerspruch der kapitalistischen Spät­
entwicklung und damit seinen eignen Untergang. Vollkommen
richtig, doch nicht auch den ungleichzeitigen Inhalt erschöpfend,
der in gestauter Wut und übergebliebenen Bindungen sich ent­
legen genug ausdrückt.
Die rein von heute geborene Not, die der Arbeiter, hat viel
leichtere Mittel, sich zu wehren. Hier ist der gleichzeitige Wider­
spruch allein, er ist im Heute, wie er es ganz hat, auch ganz
faßbar oder die siegende Sache selbst. Seine subjektive Erschei­
nung, sein subjektiver Faktor sind nicht gestaute Wut, sondern
der klassenbewußte revolutionäre Prolet. Seine objektive Er­
scheinung, sein objektiver Faktor sind nicht untergehender Rest
oder auch unaufgearbeitete Vergangenheit, sondern verhn i derte
Zukunft. Nämlich das Dasein des Proletariers selbst, das Miß­
verhältnis zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktiv­
lcräften zu den kapitalistischen Produktionsverhä l tnissen, die
Krise. Der sich als Ware erkennende Arbeiter enthüllt zugleich
den ebenso rasenden wie spukhaften Warencharakter der kapi­
talistischen Gesellschaft, ohne daß er - als neue Klasse - mit
Altem zu täuschen wäre, ohne daß auch der ))Mensche< oder das
>>Leben<e, das er der Verdinglid10ng entgegengesetzt, bereits
irgendwo geschichtlich bestimmt wäre. Der Proletarier als
120 Ungleid!.zeitigkeit und Gleichzeitigkeit

Selbstauflösung der bürgerlichen Gesellschaft, ja, jeder Klassen­


gesellschaft überhaupt, ist der subjektiv wie objektiv leibhaftige
Widerspruch der gleichzeitigen Gesellschaft selbst, und seine
Revolution - als Frucht der dialektischen Erkenntnis gleich­
zeitiger Widersprüche - moniert keine Gestalten und Erinne­
rungen, zunächst auch keinerlei Gehalte der Vergangenheit.
Sondern aktiviert rein die Zukunftsgesellschaft, mit der die
jetzige schwanger geht, zu der hin die Anarchien und Nihilismen
der jetzigen ihren Umschlag suchen. Aber das hindert freilich
nicht, daß der gleichzeitige "Widerspruch zum Teil von dem­
selben Stoff betrieben wird, den auch der ungleichzeitige m i
Jetzt vermißt, den er im Vergangeneo so schief sucht. Die Formen
und Inhalte des Vergangeneo reizen den klassenbewußten Ar­
beiter selbstverständlich gar nicht oder nur an einigen wahlver­
wandten, revolutionärenPunkten, jedoch das relativLebendigere
und Ganze früherer Beziehungen von Menschen leuchtet ein.
Diese Beziehungen waren noch relativ unmittelbarer als die ka­
pitalistischen, sie führten sowohl an den Menschen, zwischen de­
nen sie herrschten, wie an der Umwelt, die sie bearbeiteten, mehr
»Materie<< mit sich als heute. Dies Unmittelbare war in früheren
Formen nur scheinbar näher, nur relativ besser bestimmt: doch
reicht dies Relative nicht bloß reaktionär aus, um Vergaugenes
zum Teil als noch echt unverstorben gegen Gegenwärtiges zu
halten. Es liefert auch positiv streckenweise einen Teil jener Ma­
terie, welche ein vom Kapital unzerstörtes Leben wiedersucht,
ja, welche sidt zwar proletarisch führend, aber ebenso ))allge­
mein« als Entäußerung »des Menschen«, als Zerreißung »des
Lebens« empört. Wir nannten die ungleichzeitige Anderheit
windschief und ihre Rebellion, als eine viel ältere Materie, eine
des Umkreises: doch letzthin zeigt sich, daß gerade ein Teil Ma­
terie der ungleidtzeitigen Widersprüche schon lange die der
gleidlZeitigen ergänzt. Die Materie der gleichzeitigen Wider­
sprüche ist ja nicht nur die der sehr vorhandenen, nämlich
entfesselten Produktivkräfte, sondern ebenso nur die äußerste,
»daher<< zum Umschlag treibende Negativität des heutigen Zu­
stands: der entäußerte Mensch oder Proletarier, die entäußerte
Arbeit oder der Fetisch der Ware, die Haltlosigkeit des Ni<hts.
Diese Negativitäten haben zwar ihr dialektisch Positives in sidt,
Ungleichzeitige Widersprü<:he 121

sogar das höchste, doch freilich innerhalb des gleichzeitigen Wi­


derspruchs und seiner Materie nur als rebellische Vermissung:
nämlich des ganzen Menschen, der unentäußerten Arbeit, des
Paradieses auf Erden. Kurz, im Aufruhr der proletarischen und
verdinglichten Negativität ist letzthin zugleich die Materie eines
vViderspruchs, der aus ganz und gar nicht entfesselten »Produk­
tivkräften«, Intentionsinhalten immer noch ungleichzeitiger Art
rebelliert. Es berührt sich diese Positivität nicht bloß -im tiefsten
Sinn - mit dem Subversiv-Utopischen »des Menschen«, »des
Lebens«, dem noch in keiner Zeit Erfüllung wurde, und das
daher der letzte Stachel jeder Revolution, ja, noch der breite
Gl anzraum jeder Ideologie ist: es berührt sid1, jenseits dieser ver­
borgenen Allgemeinheit, auch mit solchen Positivitäten, welche
gerade als Formen und Gehalte älterer Materie sehr früh sdlon
· gegen den Kapitalismus erinnert worden sind. Dazu gehören
nidlt nur bürgerlich-revolutionäre Positiva, wie Rousseaus arka­
dische »Natur«, sondern ebenso restaurativ gemisdlte, wo nicht
Abdankungen der Revolution: wie das Mittelalter der Romantik,
wie die Wiede!-"geburt einer qualitativ-organisch gestuften Welt
aus den Hohlräumen des »Ding-an-sich-Problems« und andere
Betrugbilder, Vexierbilder, Schatzkammern einer nicht ganz auf­
gearbeiteten Vergangenheit. Die - wie gezeigt - zum Umsdllag
unkräftigen Momente des ungleidlzeitigen Widersprud1s haben
also dennoch, sentimental oder romantisdl, jener Ganzheit und
Lebendigkeit sidl bereits erinnert, woraus der Kommunismus
edlte Materie gegen die Entäußerung zieht, woraus neben dem
Kommunismus heute wieder Verwilderung, Raumverbunden­
heit, arkadisch-dionysische »Natur« durd1einander grassieren.
Als Kreatur, die nicht satt wurde, als Menetekel undZeugen von
Sphären, die der allzu einsdlichtig bloß mit dem Kapitalismus
verbundenen Dialektik wenigstens das Problem einer mehr­
schidltigen Ganzheit zur Pflicht machen. Der Marxismus ist nidlt
selber radikalwie der zerstörende Kapitalismus, nicht selber aus­
lassend wie dessen abstrakter Kalkül; er ist auch nicht halb auf­
klärend, sondern ganz aufbrechend und überbietend, er ist gegen
die Ansprüche der »Natur«, dieses Antiquariums aus Ungelöst­
heit, am wenigsten asketisdl. Es gäbe nicht soldle Rüd{schläge,
erst recht kein Problem des »Erbes« im Prozeß, wenn seine
122 Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit

jeweils letzte Stufe die einzige wäre, auf der die Dialektik zu
stehen, die konkrete Revolution zu geschehen hat. Das Funda­
ment des ungleichzeitigen Widerspruchs ist das unerfüllte Mär­
chen der guten alten Zeit, der ungelöste Mythos des dunkeln
alten Seins oder der Natur; hier ist, streckenweise, nicht bloß
klassenmäßig unvergangene, sondern auch materiell noch nid1t
ganz abgegoltene Vergangenheit.

Problem einer mehrschichtigen Dialektik

So gilt es, das bewegte Jetzt zugleich breiter zu machen. Zu


unterscheiden war: der falsch und der echt ungleichzeitige Wi­
derspruch, dieser und der gleichzeitige, in beidem wiederum der
subjektive und der objektive Faktor des Widerspruchs. Der sub­
jeluiv ungleichzeitige Widerspruch ist gestaute Wut, der objek­
tiv ungleichzeitige unerledigte Vergangenheit; der subjektiv
gleichzeitige die fl·eie 1·evolutionäre Tat des Proletariats, der ob­
jektiv gleichzeitige die verhinderte, im 'Jetzt enthaltene Zukunft,
die verhinderte technische Wohltat, dieverhinderte neue Gesell­
schaft, womit die alte in ihren Produktivkräften schwanger gel�t.
Grundmoment des objektiv gleichzeitigen Widerspruchs ist der
Konflikt zwischen dem kollektiven Charakter der kapitalistisch
entfalteten Produktivkräfte und dem privaten Charakter ihrer
Abneigung. Die zunehmende Vergesellschaftung der Arbeit
kommt mit den privatkapitalistischen Eigentumsverhältnissen,
mit der bürgerlichen Form, worin die industrielle Arbeit groß
geworden ist, nidu mehr aus. Dieses ist derobjektiv gleichzeitige
Widerspruch der Zeit oder ihr exakter Klassengegensatz: Pro­
duktivkräfte und Eigentumsverhältnisse sind hier zwei wesent­
lime Teile einer ebenso gleichzeitigen Einheit. Derart ist nur
dieser exakte Gegensatz der revolutionär entscheidende der Zeit,
jedoch eben: er ist in ihr nicht der einzige. Der andere Gegensatz,
der zwischen Kapital und den ungleichzeitig verelendeten Klas­
sen lebt neben dem gleichzeitigen, wenn auch nur als diffus. So
erzeugt er in der »geschirutslosen« Klasse des Kleinbürgertums
Angst und gestaute Wut, kein eigenes, präsentes, gar durd1gear­
beitetes Klassenbewußtsein. Er macht den Stoß des Konflikts
darum äußerlich und stumpf, nur gegen Symptome, nicht gegen
Mehrsdlichtige Dialektik 123

den Kern der Ausbeutung gerid1tet; der Konfliktinhalt selbst ist


romantisch-, auch sozusagen »archaisch«-antikapitalistisch.
Es gilt nun, im Widerspruch auch dann eine mögliche Kraft
zu sehen, wenn er über den ungleichzeitigen Riß nid1t hinaus­
kommt. Der bleibt dem Jetzt des Kapitals nur solange günstig,
als den Ungleichzeitigen die Führung, auch Verführung fehlt, ins
heutige Feld zu marschieren. Aufgabe ist, die zur Abneigungund
Verwandlung fähigen Elemente auch des ungleichzeitigen Wi­
derspruchs herauszulösen, nämlich die dem Kapitalismus feind­
lichen, in ihm heimatlosen, und sie zur Funktion in anderem
Zusammenhang umzumontieren. Bleibt folglich der »Drei­
bund« des Proletariats mit den verelendeten Bauern und dem
verelendeten Mittelstand, unter proletarischer Hegemonie; der
echt gleichzeitige Widerspruch hat das Amt, konkret und total
genug zu sein, um auch die echt ungleichzeitigen Widersprüche
aus der Reaktion zu lösen und an die Tendenz heranzubringen.
An sich werden die älteren Widersprüche auf der proletarischen
Seinsgrundlage nicht zum Problem; die revolutionäre Dialektik
bleibt noch ausschließlich eine der gesetzten Widersprüche des
Spätkapitals, nicht der freigesetztenBruchstellen, worin die Hit­
lerbewegung ihr Bergwerk hat. Aber es gelingt gerade keine
proletarisch.e Hegemonie im fälligen Dreibund, vor allem keine
unverwaschene, ungefährdete, ohne daß sie auch den Stoff echter
Ungleich.zeitigkeit und ihrer heterogenen Widersprüche gründ­
lich. »beherrscht«. Indem zwar an allen Orten das falsche Be­
wußtsein und die gegenstandslose Romantik ausgetrieben wird,
i dem aber ein Verstand, der kein abst1·akt auslassender ist,
n
ebenso die subversiven und utopischen Elemente, die verdrängte
Materie dieses noch nicht Vergangeneo ins Haus nimmt. Man
sagt gewiß mit Recht, es gehöre zum Wesen der fascistischen
Ideologie, die morbiden Bestände aller Kulturphasen sich einzu­
gliedern; aber man sagt mit Unrecht: nur die morbiden, sofern
nämlich die gesunden der Fäulnis-Ideologie gar nicht erreichbar
wären. Solch summarisches Urteil gliedert, auf völlig abstrakt­
negative Weise, auch die spezifische Opposition der Ungleich­
zeitigkeit, wegen ihrer Trübe, dem faulen Zauber ein und keinem
anderen. So daß im Endeffekt der Faseismus gestützt wird; näm­
lich. der Unterschied zwischen ungleichzeitigem Widerspruch
Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit

und fascistischem Betrug an ihm wird geleugnet, diesmal von


vulgär-marxistischer Seite geleugnet und verklebt. Lange genug
aber hat der Faseismus ausgenutzt, was an bäurisch-lcleinbürger­
licher, überhaupt an ungleichzeitiger Opposition sich regte. So
entsteht, damit man des Ungleichzeitigen Herr werde, das Pro­
blem einer mehrschichtigen revolutionären Dialektik; denn sicht­
bar ist im Kapitalismus und seiner Dialektik die Ganzheit der
früheren Entwicklung noch nicht naufgehoben«. Die Weltge­
schichte, sagte sd:lon der bürgerliche Revolutionär Börne, ist ein
Haus, das mehr Treppen als Zimmer hat; und Marx selber, be­
tont er das relativ Erträglichere des vorkapitalistischen Zustands,
bezeid:lnet er gar griechische Kunst und Epos nin gewisser Be:
ziehung als Norm und unerreichbare Muster« (Einleitung zur
»Kritik der politischen Ökonomie« ) : so ist in ihm diese ,,gesell­
schaftliche Kindheit derMenschheit<< ein kaum gelöster Reiz, der
Kapitalismus jedenfalls nicht das einzige Haus der Gesd1imte,
das dialektisch zu beerben wäre. Alles Vergangene ohne herr­
schende Stimme gleid:lsam unendlich vielstimmig zu haben, ist
bloß Historismus; auf alles Vergangene typisch identische, we­
nigstens formal identische ,,Gesetze<< oder ,,Gestalten<< anzu­
wenden, ist bloß Soziologismus; der Marxismus dagegen findet
gerade seine Dialektik nicht überall so, wie sie am Kapitalismus
erscheint, ervariiert sie konkret nach den einzelnen Gesellschafts­
zuständen, er sucht ihr vor allem auch an der fortwirkenden Ver­
gangenheit im Kapitalismus jene Totalität zu halten, welche der
dialektischen Entwicklungstendenz - nicht auf jeder Stufe, doch
auf jeder beherrschten Stufe eignet. Mehrzeitliche und mehr­
räumige Dialektik. die Polyrhythmik und der Kontrapunkt
sold1er Dialektik sind derart gerade das Instrument der be­
herrschten letzten Stufe oder Totalität; nimt jeder selbstver­
ständlid1 schlechthin, sondern der kritischen, der nicht-kontem­
plativen, der praktisch einhakenden. Kritisch muß diese Totalität
sein, um nicht abgestandene Seinsweisen mit h i rem infolge der
Abgestandenheit doppelt falschen Bewußtsein in sich einzuladen.
Was die Geschichte an diesem schlechthin Vergangeneo noch
nicht vollbracht hat, nämlich es hoffnungslos und zu einer bloßen
Grabstätte historischer Erinnerung zu machen: das vollendet die
materialistische Analyse des gebliebenen falsd1en Bewußtseins
Mehrschichtige Dialektik 125

durch Auflösung seines Scheins, Entlarvung seiner heutigen


Blendwerke durchaus. Gerade also um des möglicherweise auch
echt Fortwirkenden und Unvergangenen an der Vergangenheit
willen, um der echten Nebelfiecken willen (welche noch einen
Stern zu gebären haben) wird sich die Totalität mit bloßen
Scheinnebeln, undeutlichen und längst gewordenen Sternhaufen
nicht beschweren; ob sie auch den Nebelflecken so ähnlich sehen
wollen wie? die Schollenphrase der neuen Erde oder das Dritte
Reich dem Zukunftsstaat. Kritisch muß ferner die Totalität sein,
um aus ihrem berechtigten Gegensatz zur kapitalistischen Zer­
reißung aller Lebenszusammenhänge nicht in eine falsche Ähn­
ichkeit
l mit der idealistischen »Totalität« zu fallen, welche eine
bloße des Systems ist. ( der Ausspinnung aus einem einzigen idea­
listischen Prinzip und seinem ununterbrochenen, panlogischen
Zusammenhang), ja, welche ein Derivat des Mythos ist (des
Glaubens an den großen, bruchlosen Pan). Und eben nicht nur
kritisch muß die Totalität sein, sondern vor allem nicht-kontem­
plativ: nur auf diese Weise gelangt sie dazu, das Ungewordene,
UnberiCL,tigte der Vergangenheit nicht in ihr stehen zu lassen;
der verded{te\Viderspruch zur Geschid1te, der offen gewordene
zur Gegenwart gelangt vielmehr ins dialektisch-praktische Zahn­
rad. Hegels dialektische Totalität war noch eine bloße des erin­
nerten Wissens und eine monadische dazu, an der zwar ))kein
Glied nicht trunken« war, an der aber jedes sid1 gleichsam an
Ort und Stelle beruhigen konnte, weil es »mit dem vollständigen
Reichtume des Geistes ausgestattet« war. Regel freilich hat
ebenso die nächstfolgende Stufe als intendierte höhere Wahrheit
der vorhergehenden und die Totalität immer genauer im jeweils
letzten Glied; ja, er hat als treibenden Grundwiderspruch in
allen einzelnen Viidersprüchen (und auch noch in den einzelnen
Versöhnungen ) den zur Ganzheit der ganzen Sache; Dialektik
ist hier nid1t nur, wie bei Schelling, Einheit der Widersprürne,
sondern Einheit der Einheit und der Widersprüche. Soll aber
mit der Hegeischen Wahrheit der letzten Stufe ernst gemacht
werden und mit dem »Selbst«, das ndiesen ganzen Reichtum
seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat«: dann
kann die Durchdringung nur eine nicht-kontemplative sein
oder eine, die den Reichtum der Substanz nicht in vergoldeten
126 Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

Vergangenheiten, sondern im faktischen Erbe ihres Endes im


Jetzt besitzt, kurz, die gerade aus dem unvollständigen Reichtum
der Vergangenheit, wenn er auf der letzten Stufe erst recht nicht
»aufgehoben« ist, zusätzliche revolutionäre Gewalt gewinnt. So
erst nutzen unvergangene, weil nie ganz gewordene, daher blei­
bend subversive und utopische Inhalte in den Beziehungen der
Menschen zu Menschen und zur Natur; diese Inhalte sind gleich­
sam das goldhaltige Geröll im Lauf der bisherigen Arbeitspro­
zesse und ihrer werkhaften Überbauten. Mehrstimmige Dialek­
tik als eine der heute mehr denn je versammelten »Widersprüche«
hat jedenfalls auch im Kapitalismus genug Fragen und Gehalte,
die noch nicht »durch den Gang der ökonomischen Entwicklung
überholt sind«. Die proletarische Stimme der gleichzeitigen Dia­
lektik bleibt dezidiert die führende; doch es laufen unter wie
über diesem Cantus firmus ungeordnete Ausgelassenheiten,
welche nur dadurch auf den Cantus firmus zu beziehen sind, daß
sich dieser - in kritischer wie nicht-kontemplativer Totalität -
auf jene bezieht. Und mehrräumige Dialektik erweist sich vor
allem an der Dialektisierung noch ))irrationaler« Inhalte; sie sind,
nach ihrem kritisch bleibenden Positivum, die »Nebelflecken«
der ungleichzeitigen Widersprüche.

D. Z U R ORIGINALGESCHICHTE DES
D RITTEN REICHES

Internationale Literatur, Moskau, 193 7

Nichts darf diesen Blick verlegen oder selber blind machen. Im


Folgenden ist von mancherlei Altem und Sonderbarem die Rede.
Es ist vergaunert worden, und wie, aber man muß dem Gauner
nicht nur auf die Finger sehen, sondern auf das, was er darin
hält. Besonders wenn er e3 gestohlen hat, wenn die verdreckte
Sache einmal in besseren Händen war. Nichts befreit daher vom
Untersuchen der Begriffe, die der Nazi zum Zweck des Betrugs,
aber als eines zu endenden, so verwendet wie entwendet hat.
Führer, vor allem Reich tauchen derart auf, und wird ihrem
Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

ursprünglich zu endenden Sinn nachgegangen, so tauchen sie in


anderer, in nachdenklicherer Weise auf, als das zuletzt gewohnt
war. Der Stoff ist noch großenteils frisch, desto fauler gerade ist
und mußte werden, was Blindheit und Verbrechen mit ihm an­
gestellt haben. Das etwas träumerische Wesen der Sache war
überdies gegen Mißbrauch schon des öfteren wehrlos. Aber auch
Schönes und Edles leuchtet aus verschollenen, nicht verschol­
lenen Tagen herüber, es ist wichtig, daran zu erinnern.
Hat doch der Nazi nicht einmal das Lied erfunden, mit dem
er verführt. Nicht einmal das Pulver, mit dem er feuerwerkt,
nicht einmal die Firma, unter der er betrügt. Gerade der Ter­
minus Drittes Reich hat eine lange Geschichte, eine echt revolu­
tionäre. Schöpferisch, sozusagen, war der Nazi nur im Unter­
schleif jeder Preislage, womit er revolutionäre Losungen für ihr
Gegenteil verwendete. Womit er - neben dem schäbigen Blöd­
sinn der hintersten Stammtische - den dunklen Glanz alter
Worte benutzte und die Revolution, die er zu machen vorgab,
patinisierte. Ein solch altes Wort ist das Dritte Reich, klangvoll
allein schon durch die Dreizahl ( llwie im Märchen(( ), klangvoll
als dritte Krönung Deutschlands (nach dem mittelalterlichen
und dem Bismarckschen Reich). Damit aber der revolutionäre
Schein nicht zu kurz komme, fügte Moeller van den Brudc, der
eigentliche Erneuerer des Terminus, mystische Oberlieferungen
aus ganz anderen »Reichen(( hinzu. Denn im Original hatte das
Dritte Reich den sozialrevolutionären Idealtraum der christ­
lichen Ketzerei bezeichnet: den Traum von einem Dritten Evan­
gelium und der Welt, die ihm entspricht. Die frühmittelalterlich
einsetzenden Klassenkämpfe fanden im Haß gegen die Verwelt­
lidlung der Kirdle ihren ersten Ausdrud<. Je mehr sich die Lage
der Bauern und kleinen Stadtbürger verschlechterte, je sid1.t­
barer andererseits das Kaufmannskapital und Territorialfür­
stentum reüssierten und das rein feudale, auf vergangene Wirt­
schaftswelsen aufgebaute Reich zerfiel: desto kräftiger mußte
die Prophetie eines neuen, eines »evangelischen (( Zeitalters
einschlagen; bei Münzer als bäurisch-proletarisch-kleinbürger­
lidler Kampfruf gegen die verschärfte Ausbeutung, bei Luther
freilich als Fürsten-Ideologie gegen Zentralgewalt und Kirdle.
E.s waren derart entgegengesetzte Interessen, die sich im Nebel
128 Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

der Ketzerei trafen; dennoch fehlte der Linken neben der Wolke
die Feuersäule am wenigsten; sie war im Impetus und Ideal der
revolutionären Sache. Die Inhalte des heutigen, des in Durch­
führung begriffenen Sozialismus sind nicht mehr die theolo­
gischen, klassenmäßig nicht einmal mehr die theologisch ver­
kleideten von damals. Trotzdem mag der Sozialismus vor den
Träumen seiner Jugend Achtung tragen, ihren Schein tut er
ab, doch ihre Versprechungen erfüllt er. Deutschland hört noch,
wie sich gezeigt hat, auf die alten Retter- und Reichsträume,
selbst wenn sie von Betrügern vorgebracht werden, und es
hörte desto verführbarer darauf, als die sozialistische Propa­
ganda vielfach kalt, schulmeisterlich, nur ökonomistisch war.
Zwei Glanzmotive haben vom zwölften bis sechzehnten Jahr­
hundert das revolutionäre Bewußtsein erregt: die Motive des
Retters und eben des Dritten, zuletzt gar des Tausendjährigen
Reichs, in das der Retter-Befreier (meist als »Voll<skaiser« ge­
dacht) führt.

Der künftige Befreier

Sich selber helfen die Armen erst langsam und spät. Der Wunsch
nach einem Führer dürfte der älteste sein. Es ist im Verhältnis
zwisd1en Kind und Vater und im Sud1en des jungen Menschen,
wenn der Vater ein Tropf war. Gruppentiere haben das stärkste
Männchen an der Spitze, J agdvölker, die noch gar keine Arbeits­
teilung kennen, wählen einen Häuptling. Das erste Führerbild
im menschlich großartigen Sinn stellt Moses dar; er ist zugleich
ein Führer der Unterdrückten und einer ins gelobte Land. Doch
auch unter ganz anderen Verhältnissen gingen die Blid<e nach
vorn und oben, verschönten oft, was an der Spitze zu sehen war.
Alexander sollte bereits ein Retter sein, der Herr des alle ver­
sammelnden Friedens. Vollends Augustus wurde als Friedens­
kaiser gefeiert, als der sibyllinisch geweissagte Widerhersteller
des goldenen Zeitalters. Bekannt ist die Stelle Vergils, in der
4· Ekloge, über den Wunderknaben, der in Kürze erscheint, der
nach all der staatlich-sozialen Wirrnis das Glück der Urzeit her­
aufführen wird. Die Aeneis spielte Augustus diese Retterrolle
zu; später wurde sie auf Trajan, Antonin und andere >> gute
Der künftige Befreier

Kaiser<< übertragen. Soziale Erwartungen der fluktuierenden,


landlosen Masse Spätroms und Wünsche der Oberschicht nach
ungestörter Ruhe gingen bei allem schwer unterscheidbar durch­
einander. Übrigens ist auch die Erwartung des rettenden Wun­
derknaben sehr alt und sehr früh in dynastische Heilsträume
eingesetzt worden; sie berückte durch ihre rührende, sanfte, so­
zusagen allgemein-menschlich ergreifende Weise. Das Ägypten
des mittleren Reichs hat zuerst die orientalische Prophetie eines
Erlöserkönigs um das Bild der Kleinheit; ja Krippe gemehrt, um
.
die Idee der göttlich-wunderb aren Geburt des segenbringenden
Kindes Horus ( vgl. Norden, die Geburt des Kindes, 1 9 24,
S. 73 f.). Es war dieselbe Legende, welche hemadl auf Jesus
übertragen wurde, diesmal mit deutlich proletarischer und
durmaus nicht patrizischer Heilserwartung; das Christusbild,
welches die Sklaven gerade bei der Stange halten sollte, wurde,
obwohl in der Bergpredigt angedeutet, erst in der römischen
Reichskird1e geformt. Der Retter J esus sollte insgesamt freilich
nur in der Innerlichkeit erlösen, erst als Paraklet, am Ende der
Tage, richtete er sein sichtbares Reich an. So blieben das irdische
Elend und die wirkliche Unordnung erhalten, so prolongierte
sich selbstverständlich auch die Heilserwartung irdischer Art, die
Perspektive nicht auf einen fernen Parakleten, sondern auf einen
nahen leibhaftigen Retter, wie Vergil ihn berufen hatte: und die
sibyllinisd1e Kaisersage setzte sich fort in Byzanz. Je verrotteter
dort die innere Lage (Schuldenlast des Volks, Palastrevolutio­
nen), je bedrohlicher die äußere ( Araber, Bulgaren, T ürken),
desto aussichtsreicher wirkten die gemalten Perspektiven einer
irdischen Frohbotschaft neben der himmlischen. Solch ein Trost­
buch entstand gegen Ende des siebenten Jahrhunderts in den
Weissagungen des Methodius; zugleich erlangte hier die Kaiser­
sage eine merkwürdige Gestalt. Denn weltlich zum ersten Mal
mischte sich ein Totenmotiv in sie ein, und Methodius prophe­
zeit: Ein großer mächtiger Kaiser steht auf, ))wie ein Mann aus
dem Schlaf erwachend, die Menschen haben ihn als Leiche ange­
sehen<<. Wahrscheinlich ist dabei an Alexander gedacht, der als
Enkel eines Aethiopierkönigs eingeführt wird und von Aethio­
pien her aufersteht; vor dem (nahe gedachten) Weltende kehrt
er als Kaiser der Griechen und Römer in Macht und Herrlichkeit
IJO Zur Originalgcscbidlte des Dritten Reiches

wieder. Das alte Motiv vom sterbenden und im Frühling auf­


erstehenden Vegetationsgott, das bereits auf den Tod Jesu, am
Karf!·eitag und Himmelfahrt adaptiert worden war, sieht sich
hier sälmlarisiert, wird in dieser Welt noch einmal gebraucht.
Auf die spätere Kyffhäusersage hat diese \Vendung stark ein­
gewirkt, daneben aber schickte Byzanz noch ein anderes, ein
völlig magisches Rettermotiv in die deutsche Phantasie. Es ist in
der Sage vom sogenannten Priesterkönig Johannes enthalten,
und Indien ist der Schauplatz, das Zauberland mit seinem Para­
diesgarten, seinen Wundersteinen, seinen wahrsagenden Bäumen
und dergleichen mehr. Im ionersten Indien lebt der entrückte
Priesterkönig ( bald Daniel, bald Johannes der Täufer, der Evan­
gelist, der Apokalyptiker in einem), die zehn verlorenen Stämme
Israels sind bei ihm und warten auf ihre Stunde, er besitzt wun­
dertätige Steine, die ihn unsichtbar machen, andere übernatür­
liche Kräfte aus sich selbst. Zweifellos klingt hier das Bild eines
Yogi oder Mahatma an; das Novum der Legende aber ist, daß
dessen magische, ja der Welt entrückten Kräfte im Dienst christ­
lichen Red1ts stehen sollen. Der Priesterkönig Johannes, als
Retter aus dem Osten, wurde von deutschen Bauern späterhin
sogar im Heer der Türken vermutet; als geheimster Statthalter
Christi sozusagen, als Messiaskaiser außer Lands. Historischer,
nämlid1 auf wirklich vorhandene oder vorhanden gewesene
Menschen sich beziehend, geriet nun freilich der eigentliche
Führertraum, die wieder dynastisch gewordene Kaisersage des
Mittelalters, die Karlssage Frankreichs, die deutsche über Fried­
rich II. und seine Wiederkehr. Man erinnert sid1 der byzantini­
schen Weissagung des Methodius (sie zirkulierte in zahlreichen
Abschriften) und ihres seltsamen Leichenmotivs. Eben dieses
bot sich an, als der dämonische Staufer gestorben war: Fried­
rich li., die erträumte wie gefürchtete Zud1trute der Kirche, der
rationalistisch-imperialistisme Urheber des Worts von den »drei
Betrügern« ( Moses, Mohammed, Jesus), der Antichrist, auf den
gerade deshalb so viele apokalyptische Gedanken sich gerichtet
hatten, friedrich II. konnte und durfte nid1t tot bleiben, sein
Werk war ungetan, sein Zeid1en unerfüllt, und nur unter seinem
Namen war es- nach den Weissagungen der damaligen Metho­
dius-Propheten - erfüllbar. Ein solch neuer (sehr viel höherer)
Der künftige Befreier 131

Methodius war kurz vor Friedrich eben der Abt Joachim von
Fiore: seineSchule sowie andere verbreitete Prophetien sahen in
dem Kaiser das Zeichen der sozial-chiliastischen Wende. Der er­
regten Phantasie durfte der Kaiser nicht tot bleiben, er war zwar
nicht in den Himmel gefahren, durchaus nicht, doch auch eben­
sowenig in die Hölle, überhaupt keinen (transzendenten ) Ort,
von wo es keine Rückkehr gibt. Sondern die Legende brachte
den Kaiser in einen Berg, zuerst in den Ätna (vielleicht spukten
hier sizilianische Erinnerungen an die Empedoklessage nach),
dann, auf dem Zug gegen Norden, in den Kyffhäuser. Alte,
chthonische Bilder verbanden sich diesem uneigentlichen Grab:
auf dem Kyffhäuser war in vorchristlicher Zeit ein Bergkult zu
Hause, und der Berggott war ein Unterirdischer, wohnte in den
Höhlen des Ionern unter geheimnisvollen Schätzen. Friedrich II.
setzte sich an seine Stelle und viel später erst tauschte der Ketzer­
kaiser seinen Platz mit Friedrich I. Barbarossa, dem Frommen,
Unbedeutenden, dem romantischen Inbegriff banaler Reichs­
herrlidlkeit im Stil Wilhelms ))des Großen�� (als welcher dort
jetzt sein Denkmal hat). Indes selbst die pervertierte Sage hat
ihren ursprünglichen sozial-chiliastischen Zug darin erhalten,
daß sich der Kaiser allemal nur einfältigen Leuten aus dem Volk
zeigt. Ebenso ist ihr das alte Motiv verbunden, daß der Messias­
kaiser, wenn er die Mächte der sozialen und Glaubensnot ge­
demütigt hat, sich selbst demütigt, abdankt, nach Golgatha zieht
und dort Krone, Zepter und Schwert niederlegt ( vgl. Kampers,
Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage, r 895, S. r 04 ).
Ahnlieh wie Friedrich II. träumt auch Kaiser Karl, im Unters­
berg; ja wo immer das Werk eines geglaubten Retters nicht
getan oder nicht zu Ende getan erscheint, hat der Volksglaube
aus dem toten Retter einen bloß entschwundenen gemacht,
einen Siebenschläfer, der auf seinen Tag wartet. Das Enttäu­
schungsmotiv selber ist auch heute so wenig erloschen, daß !<einer
Vitalität, die in die Phantasie griff, ihr Tod gern geglaubt wird.
Der Inhalt des alten Sibyllenspruchs: ))Vivit, non vivitu belebt
sich in der Folklore immer wieder frisch. Noch den Tod so mo­
derner Figuren wie Napoleon, auch Ludwig II. hat eine unge­
sättigte Fama nid1t wahr haben wollen: Napoleon lebte der
Fama in der Maske eines Türkengenerals um 1822. fort, der
Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

verblüffend erfolgreich gegen die Engländer losschlug, und von


Ludwig II. behauptet eine bayrische Bauernlegende, er sei nach
Amerika entflohen und kehre wieder mit einer schönen Frau,
wenn es seinem Bayernvolk am schlechtesten geht. Das Sieben­
schläfermotiv ist an Napoleon zwar durch die aufgeklärte Finte
eines Scheintods und einer Flucht ersetzt, der Kyffhäuser s i t zu
St. Helena geworden (wie vorher, mit mehr Berechtigung, zu
Elba ), aber das Pathos der Wiederkehr fehlt nicht und im Fall
Ludwigs II. nid1t einmal das Pathos des verpuppten Retters.
Das alles zeigt an, wie außerordentlich zäh das Urbild eines
Retters verwurzelt ist, eine Reprise vergangener Glanzgestalten,
mindestens eine Reprise vergangener Glanzzeiten durch einen
neuen Wiederhersteller. Hier sind auch jene reitenden Boten
des Königs, die die Dreigroschenoper im letzten Augenblick
erscheinen und alles wenden läßt; womit sie keineswegs nur
die billigen Lösungen der alten Oper oder der Kolportage per­
sifliert. Daß die reitenden Boten sehr selten kommen und der
Deus ex machina noch seltener, dies Versagen hebt, wie gerade
der Hitlexeffekt erwiesen hat, die alte Blickrichtung nicht auf. Ja
sogar die eigentlime archaische Erweckungsmythe lebt nom,
wenn aum in sehr abgeschwächter, analogisdler, gesdlicbtsklit­
ternder Form. Eben Napoleon dekorierte sidl als wiedergekehr­
ter Charlemagne, Hitler (wenn es überhaupt möglidl ist, ihn
im selben Atem zu nennen) zieht zum Grab Heinridls des Lö­
wen und erweckt damit Assoziationen für eine künftige »Inkar­
nation«. Kein Zweifel mindestens, daß beim Nazi von Anfang
an gedadlt war, den verlegenen Titel Führer bei halbwegs trium­
phaler Gelegenheit durch den Titel Volkskaiser zu ersetzen;
diese Gelegenheit allerdings kommt nicht mehr. Aber die alte
Rettervision, die auf den Hund gekommene, hat dem Nazi doch
viel geholfen und erst recht die entscheidende Vision, in deren
Dienst sie stand: - eben die vom Dritten Reich.

Das diesseitige Evangelium

Das Glüd{ sahen die Mensdlen meist dort, wo sie nicht sind.
Essen, Wohnen, Lieben sind die einfachsten Orte, das hat sich
wenig gewandelt. Seit Klassen aufkamen, zweierlei Arten von
Das diesseitige E
vangelium 13 3

Menschen, ist dies Glück für die ausgebeutete Art verkümmert


oder gar verschwunden. Wo viel fehlt, gibt es viel WUnsche, viel
Rausch in Wunschbildern, sonderlich in religiösen. Aber hier
gibt es Rausch in doppelter Gestalt: einen übers Elend trösten­
den, einen erst recht dagegen gereizten. So finden sich entspan­
nende Religionen, die durchs Jenseits trösten oder auch durch
die Flucht in die Inwendigkeit; das Christentum hat mit beidem
viel geleistet. Doch wenn sich das Jenseits auf die Erde stürzen
will und die Inwendigkeit in die Auswendigkeit, dann freilich
entsteht, statt des Opiums, im subjektiven Faktor ein Spreng­
mittel ohnegleichen, ein Wille zum Himmel auf Erden. Auch
dies Wollen war im Christentum, war in den mittelalterlichen
Weissagungen des erwähnten Abtes Joachim von Fiore, der ge­
gen Ende des zwölften Jahrhunderts ein drittes Testament ver­
kündete oder die fällige Barzahlung des zweiten. Es braucht
hier nicht strapaziert zu werden, daß der Solchergestalt erzeugte
revolutionäre Rausch abstrakt und mythologisch war; daß er
keine Augen für die Wirklichkeit hatte und keine haben konnte;
daß er lediglich den subjektiven Willen zur Veränderung der
Welt, nicht aber eine irgend konkrete Methode zu dieser Ver­
änderung in Marsch setzte. Indes der Wille selber war gründlich
genug, der Traum vom Dritten Reich heftig und anfeuernd bis
in die Hussitenbewegung, bis in die Bauernkriege hinein. Nicht
unwichtig ist es, in den Keller des so höllisch mißbrauchten Ter­
minus zu steigen; ist er doch von Hause aus alles andere als
ein Folterkeller (er enthält eher zu viel Ladungen Liebe als zu
wenig). Und zwar reichen die Fundamente dieses Traumes
herab bis zu Origines, bis zu dessen Lehre von der dreifach mög­
lichen Auffassung der christlichen Urkunden; einer leiblichen,
einer seelischen, einer geistigen. Die leibliche Auffassung ist die
buchstäbliche, die seelische die moralisch-allegorische, die gei­
stige aber offenbart aus den UmhiÜlungen der Schrift das in ihr
gemeinte »ewige Evangelium«. Rein kontemplativ kehrt die
Lehre von den drei Erkenntnisstufen im zwölften Jahrhundert
bei Richm·d und Hugo von St. Viktor wieder, den Zeitgenossen
des Joachim, den großen Psychologen des inneren Sinns. Hier
erscheint die fleischliche Auffassung als cogitatio oder Erfassung
der Körperwelt, die seelische als meditatio oder Erfassung der
134 Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

Innerlichkeit, die geistige als contemplatio oder Erhebung zur


visio beatifica Dei, j a zur Vergottung des Menschen. Die Vikto­
riner gaben derart eine Heilsgeschichte durchaus, einen mysti­
schen Entwicklungsroman von Stufen und Reichen, fast ließe
sich sagen: eine erste Phänomenologie des Geistes; doch die Stu­
fenfolge blieb eine des bloßen Individuums. Und die letzteStufe
stand nicht etwa bevor, das letzte Reich stand nicht in utopischer
Geburt, sondern war mitsamt seinem Objekt zu allen Zeiten
fertig da. Wahrscheinlich hat eben Joachim von Fiore die Vikto­
riner gekannt und ist sowohl von ihnen wie von Origines aus­
gegangen; großartig aber hat er die bloße Innerlichkeit beider
aufgegeben. Er zuerst hat die Dreiheit der Standpunkte aus
einer individuell-pädagogischen Folge zu einer der fortsch.rei­
tenden, der unfertigen Menschheit verwandelt. Was in der
Mystik ein Stufengang der Seele, ein kohärentes Übergehen aus
einem seelischen Zustand in den anderen, das wird von Joachim
auf den ganzen Menschheitsprozeß projiziert; es erscheint so ein
Stufengang der Geschichte durch die Grade der geistigen Ver­
vollkommnung hindurch; und diese Grade sind nicht von ein­
zelnen Menschen, sondern nur von ganzen Zeitaltern jeweils
erreichbar ( vgl. Grundmann, Studien über J oachim von Floris,
1927, S. 1 3 r f.). Diese Behauptung sprachJoachim als erster aus,
obwohl spätere Anhänger seiner Lehre auch einen seiner Zeit- .
genossen, den großen pantheistischen Materialisten Amalrich
von Bena (um r zoo) gleichfalls als Zeugnis anführen. Auch
Amalrich soll die Erleuchtungsgrade nicht als individuell erlang­
bare angegeben haben, sondern als historische: der Vater sei
durd1 Abraham Mensch geworden, habe sich im Alten Testa­
ment offenbart, der Sohn sei durch Christus Mensch geworden,
habe sich durchs Neue Testament offenbart, jetzt aber stehe das
Zeitalter des Geistes bevor, und das christliche Sakrament habe
zu verschwinden wie das jüdische Gesetz verschwunden sei.
Aber daß Amalrich diese historische Folge wirklich gelehrt
habe, ist aus den erhaltenen Quellen nicht entsdleidbar. Die
Lehre stimmt auch nidlt mit dem antid1ristlichen Pathos
Amalrichs zusammen, das in Gesetz und Sakrament keine Vor­
stufen seiner, sondern nur Lüge gesehen haben dürfte. So geht
die Terminlehre authentisch nur von Joachim aus, und mit
Das diesseitige Evangelium 1 35

seinem Namen, aus seinem Werk vor allem hat sie in die Zu­
kunft gewirkt.
Dreimal also glüht das Licht auf, und es brennt immer ge­
nauer. Hierbei ist die Lehre Joachims vom dritten Status, dem
dritten Reiche diese: Das erste Zeitalter war das der Knecht­
schaft des Gesetzes, das des Vaters und seines Alten Testaments,
der Laien und Verheirateten. Das zweite Zeitalter ist ein Mittel­
zustand zwischen Fleisch und Geist, es wird eröffnet durch den
Sohn und sein N eues Testament, ist beherrsd1t von der Kirche
und ihren Klerikern. Das dritte Zeitalter aber, das dem Ende
der Welt vorhergeht, steht jetzt in der Geburt; es wird von
Mönchen bewohnt, das ist, von den viri spirituales, von der
,,Freiheit des Geistes«. Der Buchstabe des Evangeliums Christi
mit seiner Kirme und seinen Klerikern wird vergehen, die ur­
christliche Gemeinde fährt vom Himmel auf die Erde, kommu­
nistische Brudersd1aft und Friedensreich beginnen. Das erste
Zeitalter war das der »Furcht und Erzählung«, das zweite das
der ))Forschung und Weisheit«, das dritte aber wird das der
nLiebe und Erleumtung« sein, des totalen Pfingstfestes, der
))Ausgießung des heiligen Geistes«. Das erste Zeitalter lag in
der Nacht der Sterne, das zweite in der Morgenröte, das dritte
wird der volle Tag sein, mit dem heiligen Geist nicht von Gott­
vater her, sondern vom Menschensohn (Joarnim, Concordia 5,
Cap. 7 7 ). So fremdartig dem heutigen Revolutionär diese Kate­
gorien klingen mögen (noch befremdlirner als die erinnerten
Kaisergeburtstagsfeiern des vorigen Abschnitts ), so wenig darf
man sirn dadurch abschredcen lassen, den Glücks- und Freiheits­
hunger, die Freiheitsbilder entrechteter Mensrnen in diesenTräu­
men zu bemerken und auszuzeirnnen. Der Sozialismus hat eine
phantastisrn-großartige Tradition; fehlt ihm auf so frühen Stu­
fen, wie selbstverständlich, jede Art von ökonomischemBlick, so
doch nicht einer seiner anderen Grundzüge: die Humanität und
den ihr verbundenenAdventsblick. Joachitisch ist der Satz: nMan
schmückt die Altäre, und der Arme wandelt in bitterem Hun­
ger«; joachitisch die Ablehnung der ,,Furcht des Herrn«. Selbst
das kommende nZeitalter der Mönche« ist nicht so sehr als ein
asketisches gedacht denn als ein eigentumsloses und brüder­
liches, als allgemeiner Kloster- und Konsumtionskommunismus.
IJ6 Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

Ja, die mönchischen Prophezeiungen wurden in der Schule


J oachims (er hatte einen eigenen Orden gestiftet) derart mit
dem Diesseitsglanz eines ntausendjährigen Reichs« tingiert,
daß gerade die spirituale Strenge zu einer der Lebensfreude
wurde und den ganzen Leib ergriff. Dieses Sinnes verkündete
Telesphorus von Cosenza Ende des vierzehnten Jahrhunderts:
Gott sei darum Mensch geworden, damit der ganze Mensd1 in
sich glücklich werde, und nicht nur der innere, sondern nalle
Augen, Ohren, Münder, Hände, Füße, Lebern, Nieren«, kurz die
Vollkommenheitszeit sollte mit dem geistlichen auch das ge­
samte irdische Glüd{ entbinden. Noch viel irdischer als das
franziskanische Gebet an Bruder Sonne klingt derart der joachi-
. tische Hymnus bei Telesphorus: »0 vita vitalis, dulcis et ama­

bilis, semper memorabilis«, o lebendiges Leben, süßes und lie­


benswertes, immer gedenkenswertes. Wurde dieser Gesang der
joachitischen Bewegung sozusagen nur latent an der Wiege
gesungen, so ist wenigstens die Nähe zu einer neuen irdisch­
geistlichen Verschlingung und Glückslaufbahn bei J oachim be­
reits völlig manifestiert: der Weg von der servitus legis zur
libertas amicorum geschieht in dieser Welt. Das ist die eigent­
liche Kühnheit Joachims: er hat die aufs Jenseits fixierten Blicke
auf eine irdisd1e Zukunftszeit gerichtet und sein Ideal nicht im
Himmel, sondern auf der Erde erwartet. Er hat die Freiheit der
neuen viri spirituales nicht als Freiheit von der Welt, sondern
für eine neue Welt verkündet, und wenn er die Erde unter
strenge christförmige Forderungen stellte, wenn er die laxe
Zweiweltenlehre des laxeren Katholizismus durmbram, wenn
er religiös-indifferente Kultur im Dritten Reim nicht kannte
und im zweiten bereits nimt anerkannte, so nur deshalb, damit
das Jenseits verspeist und das Liebeswort hier unten bereits
Fleisch werde: - das Reich Christi ist von dieser Welt, sobald
diese Welt eine neue geworden ist. Das ist die fortwirkende, bis
zumBauernkrieg revolutionär fortwirkende Kühnheit Joachims
und die Substanz seiner Gedankenwelt. Wobei zu erwähnen ist,
daß auch dem höchsten poetisd1en Richter seiner Zeit Joamim
genug getan: Dante versetzt ihn, den ))Sehergeist«, in die
Sonnensphäre des Paradieses, zu den Heiligen der Erkenntnis
(Par. XII v. 14of). Joachim hat aber nicht nur die mystische
Das diesseitige Evangelium 13 7

Stufenlehre der Erkenntnis, sondern auch deren letzten Inhalt so


umgeschichtet, daß er, statt in die Diesseits-Jenseits-Beziehung,
eingelagert ist in ein immanentes Geschichtsbild mit diesseitigem,
mindestens mit herabfahrendem Himmel. Ebenso revolutionie­
rend zu seiner Zeit wirkte der von Joachim ausgehende nSpiri­
tualismuscc, das ist die Auslegung der Bibel (des Buchstabens)
gemäß dem >>innerlich treibenden Geist<<. Nemo audit verbum
nisi spiritu intus docente - dieser orthodoxe Grundsatz wurde
von den J oachiten bereits, als den ersten nSchwarmgeistern<< ,
dermaßen übersteigert, daß die Schrift, j a alles Auswendige und
Oberlieferte überhaupt, dem Deutungsbelieben des >>inneren
Worts<< übergeben wurde. Indes das Belieben des inneren Worts
war in Wahrheit gar keines, sondern der Geist, der leuchtete,
war genau so wie der Geist, der trieb, bei den damaligen Spiritua­
listen ausschließlich auf den Impetus und den Wunschinhalt der
Revolution orientiert. Wie die viri spirituales als Bürger eines
kommunistischen Zeitalters gedacht waren, so war das innere
Wort der »Schlüssel Davidscc, um in der Bibel »die Offenbarung
der Freiheit der Kinder Gottesec aufzuschließen und alle Hin­
dernisse zu dieser Offenbarung zu verriegeln. Hat doch das
Christentum, vom ökonomischenAnlaß her, darin seinen Unter­
schied zu allen übrigen Religionen, daß es als Ideologie der
Unterdrüd<ten begonnen hat; dieser rebellische Anfang kam
trotz seiner sofortigen Ablenkung ( ins Innere ), trotz seiner spä­
teren Verdeckung und Umkehrung durch die Kirche nie mehr
ganz aus der Welt. So daß auch Joachims Gedanke vom dritten
Zeitalter und Reich unpervertiert unter den Ketzern lebendig
blieb, ja noch von Lessing mit unmittelbarer Erinnerung an die
Schwärmer des dreizehnten Jahrhunderts zitiert werden konnte.
Lessings >>Erziehung des Menschengeschlechtsec brachte eben die
joachitische Stufenlehre in die Aufklärung und ihre Toleranz;
das »Elementarbuch« des Christentums beginnt ausstudiert zu
sein, es beginnt eine Art Metareligion aus Vernunft. nHüte
dichcc, mahnt derart Lessing, »du fähigeres Individuum, der du
an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches stampfest und
glühest, hüte dich, es deine schwächeren Mitschüler merken zu
lassen, was du witterst oder schon zu sehen beginnst . . . Sie
wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums,
Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

die uns selbst in den Elementarbüd1ern des neuen Bundes ver­


sprod1en wird. Vielleid1t, daß selbst gewisse Sd1wärmer des
dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts einen Strahl dieses
neuen ewigen Evangeliums aufgefangen hatten und nur darin
irrten, daß sie den Ausbrud1 desselben so nahe verkündigten.
Vielleimt war ihr dreifaches Alter der Welt keine so leere Grille,
und gewiß hatten sie keine schlechten Absid1ten, wenn sie lehr­
ten, daß der Neue Bund ebensowohl antiquiert werden müsse,
als es der Alte geworden . . . Nur daß sie . . . übereilten, nur daß
sie ihre Zeitgenossen, die noch kaum der Kindheit entwachsen
waren, ohne Aufklärung, ohne Vorbereitung, mit Eins zu Män­
nern zu machen glaubten, die ihres dritten Zeitalters würdig
wären.« Man sieht aus diesen erstaunlichen Worten: noch die
deutsd1e Aufklärung wußte sich, in ihrem tapfersten und klar­
sten Kopf, der alten Dreiteilung zu bedienen, der ))Aufhebung«
des Christentums in einem fast Hegeischen Doppelsinn des
Worts: als einer Vernid1tung und Bewahrung zugleich. Die
patriarchalische Zeit war die Raupe, die Kirchenzeit die Puppe
der Vernunft, nun begrüßt sid1 die bürgerliche Revolution als
Schmetterling. Die Stufenteilung der Geschichte nam dem Alten
und Neuen Testament ist gewiß selber die antiquierteste, sie ist
von der wirklichen historismen Aufeinanderfolge, als einer von
Klassengesellsd1aften, die entfernteste; doch das Ende eben, das
dritte Zeitalter, proponierte den gleid1en Humanitätszustand
im Nebel und in Allgemeinheit, dem die sozialistische Revolu­
tion in Sonne und Präzision zusteuern will. Es überrascht daher
nid1t, daß der Dritte-Reich-Gedanke - bei Lessing noch so kräf­
tig - mit dem Sieg der Bourgeoisie erlischt oder nur noch spora­
disch und unverstanden vorzukommen pflegt. So bei Schelling in
seinem Alterswerk, den oftreaktionären Vorlesungen über ))Phi­
losophie der Offenbarung« ; die joachitisd1e Tradition, bei Les­
sing noch lebendig, war hier bereits so abgerissen, daß nur mehr
das Sd1ema, nid1t aber der Inhalt der Abfolge erinnert geblieben
ist. Lediglich Epochen der Kirchengeschid1te (weiter der ))Po­
tenzen in Gott«), nicht aber der gesamt-menschlichen werden
von Schelling in die drei Reime geteilt. Petrus oder der Katho­
lizismus gelten als Reich des Vaters, Paulus oder der Protestan­
tismus als darauffolgendes Reim des Sohnes, Johannes hat für
Das diesseitige Evangelium 1 39

die Geistkirche der Zukunft sein Evangelium geschrieben ( Schel­


llog selbst gibt in den Vorlesungen an, die »Übereinstimmung«
dieser rein theologisch, ja gnostisch ausgedeuteten Folge mit
Joachim von Fiore erst nachträglich entdeckt zu haben). Ver­
blüffend erscheint das Dritte Reich sonach bei lbsen wieder, im
Jugenddrama »Kaiser und Galiläer«, diesmal freilich aufs neue
mit einer Art Humanität verbunden, mit einem Vorklang der
spätbürgerlichen »Emanzipation« im Jugendstil. Blaß und den­
noch raunend ergeht hier die Symbolik der »drei Ecksteine der
Notwendigkeit«: der erste zwar s
i t mehr die Antike als das Alte
Testament, der zweite das Christentum, der dritte die Synthese
beider, die Durchdringung der >>Schönheit und Wahrheit«. Kai­
ser Julian soll sie bringen, das Dritte Reich >>froher Adelsmen­
schen« soll erscheinen-eine besonders bemühende Hoffnung im
Anbick
l des heutigen Deutschland. Im Anblick Streichers, des
Adelsmenschen, Hitlers, Görings, Goebbels' oder der Synthese
von Wahrheit und Schönheit. Die Nazis aber haben den Ter­
minus Drittes Reich - was nidtt vergessen werden soll - eben­
falls literarisch überkommen; nicht aus Ibsen, wohl aber aus
Dostojewskij. Vielmehr aus dem rassigen Herrenparfüm, das
Moeller van den Bruck, der Herausgeber des deutschen Dosto­
jewskij, von diesem halb zaristisch, halb prophetisdt abgezogen
hat. ))Das Dritte Reich« schled1thin nennt Moeller sein Buch, es
wurde ein »Hauptwerk« des Nazismus und hat die nElite der
Bewegung« viel stärker erfaßt, als Hitlers Stilübung, Rosen­
bergs Kompilation taten. »Afrika dunkelt herauf« -das istMoel­
lers angeblid1e Furcht; Preußen-Deutschland spielt er dagegen
aus, auch den bekannten »Sozialismus preußischen Stils<<. Die
eigentümliche Verbindung, welche Dostojewskij zwischen seinen
neubyzantinischen Spekulationen und der >>Beiwohnung des hei­
ligen Geistes<< gestiftet hatte (beide geeint im ))Gott tragenden
russischen Volk«), - diese Anti-Voltaire-Welt ohnegleichen
wurde von Moeller auf Deutschland übertragen, auf das Deutsch­
land des Monopolkapitals, der beginnenden Krise, der drohen­
den Revolution. So kam das »Dritte Reich« von neuem zurecht,
doch welch ein anderes als das des Joachim und Lessing; glü­
hende Finsternis fiel aufs Land, eine Nacht voll Blut und lauter
Satan. Das also ist die )) Wirklichkeit« der alten Liebes-und Geist-
Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

träume geworden; Lessings »rationales Evangelium« hier, Hit­


lers »Mein Kampf« dort. Einzigartig hat der Nazismus sowohl
d ie ökonomische Unwissenheit wie das immer noch wirksame
H o ffnungsb ild, Chil iasmusbild früherer Revolutionen für sich
mobilisiert .Chiliasmus freilich, das ist das letzte zu behandelnde
St idlwort; die Lehre vom Tausendjährigen Reich war, w ie Lu­
ther sagte, »aller Rottenmeister Ga ukelsack«. Zu Luthers Zei ­
ten freilich war der Chil iasmus ein Schlachtgesang der aufrühre­
r ischen Bauern, im gekommenen » Dritten Reich « von heute
betäubt oder b e täubte er - in völlig verschmutzter, pervertier­
ter, preisgegebener Gestalt - d ie Opfer der Reaktion .

Chiliasmus oder die Erde als Paradies

N iemals malte si ch der Wunsch n a ch Glüd{ in eine leere und


durchaus neue Zukunft hinein.Immer sollte aud1 bessere Ver­
gangenheit hergestellt werden, freilich nicht eine eben vergan­
gene , sondern d ie einer nachgeträumten sd1öneren Vorzeit. Und
dies goldene Zeitalter sollte n icht nur erneuert, sondern durch
ein noch namenloses Glück überboten werden. Es l iegt nahe,
in d ie sen Träumen vom goldenen Zeitalter Erinnerungen an d ie
Urkornmune zu erkennen , besonders dann, wenn Reste ihrer
(wie die Allmende ) oder noch nicht zu lang Verlorenes (wie
Freiheit der Jagd, des Fis chfangs ) das revolutionäre Lob der
Urzeit unterstü tz ten. Das war während der Bauernkr iege deut­
lich der Fall: die R ü ckforderung der alten n Gemeindefreiheit«
hat den Parzellierungswünschen einiger Gruppen entgegenge­
wirkt, hat Mi.inzers Parole : omnia sint communia gestärk t . N a ­
türlich reproduziert das Bild vom goldenen Zeitalter keinen
wirklichen Anfang der Geschichte, keine irgend prähistorisme
\Virklimkeit ; sd10n deshalb n icht, w e l
i die Urkommune, mit
ihren unentwickelten Produktivkräften, so parad iesisch n ich t
gewesen sein kann . Aber d ie Hoffnung hatte an der Freiheit,
Glei chl leit, Br üderl ich keit der urtümlichen Gentes ihren ersten
Anhalt,auch Inhalt. Den übers te igerte sie mit rückwärts gewand­
ter Utop ie, den ließ sie aber erst recht aus der Zu kunft s ich w ie­
der entgegengehen, aus der Zukunft des wiederhergestellten Pa­
radieses. Da mit eben beginnt der M ythos vom Tausendjährigen
Chiliasmus

Reich, von einer glücklichen Endzeit, der die Geschichte zu­


strebt, vielmehr: die die Geschichte für die >>Gerechten« bereit
hält. Der Mythos selber entstammt der Wed1selwirkung zwi­
schen ökonomisch-politischem Elend und Glanzerinnerungen
aus einer Vergangenheit, die eben - mit utopischer, nicht nur
romantischer Glückssehnsucht - in eine möglichst nahe Endzeit
hinübergebogen wurde. Die beilseschatologischen Vorstellun­
gen des prophetischen JudenJums vor, besonders nach dem
Exil, dürften diese GeschichtsutOpien zuerst entbunden haben;
aus dem Orient wanderten sie, lange vor dem Sieg des Christen­
tums, ins kaiserliche Rom und verbreiteten die Hoffnung von
dem wiederkehrenden goldenen Aion. Was das Tausendjährige
Reid1 des Genaueren angeht, diesen alten Hintergrund des Drit­
ten, so stammt sein ganzer Inhalt aus der Prophezeiung Jesajas,
Kap. 30, 55 und 6o, seine Chronologie aus dem Buch Daniel,
Kap. 7, der Nacht-Licht-Kampf seines Eintritts aus der Offen­
barung Johannis, Kap. 20 und 2. I . Wilde persische Dualismen
tobten sieb in der Beschreibung Endzeit aus: Der Drache, die
alte Sd1lange, wird tausend Jahre gebunden und im Abgrund
versd1lossen, die Gerechten aber kommen von den Toten wie­
der und regieren mit Christus tausend Jahre; das ist die erste
Auferstehung. Sind aber tausend Jahre vollendet, dann wird
derSatan wieder losgebunden, er verführt die Heiden, die Völker
Gog und Magog zum letzten Streit, eine Zeit der letzten Drang­
sal und Verwirrung herrsd1t solange, bis das Feuer Gottes aus
dem Himmel auf die Feinde fällt, der Jüngste Tag und das
Jüngste Gericht brechen an, die Hölle wird für die Sünder,
ein neuer Himmel und eine neue Erde für die Erwählten be­
reitet; das ist die zweite Auferstehung. Die rasende Pedanterie
dieser Prophezeiungen hat alle revolutionären Bewegungen der
Christenheit beschäftigt, bis hart an die Aufklärung; noch heute
geht sie bei den sogenannten Ernsten Bibelforschern um, bei den
von Hitler verbotenen. Sind solche Angstträume des Heils we­
sentlidl nur historisch beachtbar, so steht es anders mit dem
Inhalt des Endreiclls, besonders in der Gestalt, die ihm Jesajas
erträumt hat. Denn dieser Inhalt überrasdlt, bei aller Verstiegen­
heit, nidlt nur durdl seine vernünftige Reinheit, sondern mehr
nodl durch seinen Hedonismus, um nicht zu sagen, durch seinen
Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

humanen Materialismus. Man vergleiche folgende Sätze aus den


angegebenen Kapiteln des 'Jesajas, die glückliche Endzeit be­
treffend: nEs wird deinem Samen, den du auf den Acker gesät
hast, Regen gegeben und Brot von des Ackers Einkommen und
davon volles Genüge. Und dein Vieh wird sich zu der Zeit wei­
den in einer weiten Aue . . . Wohlan alle, die ihr durstig seid,
kommt her zum Wasser; und die ihr nicht Geld habt, kommt
her, kauft und esset; kommt her, kauft ohne Geld und umsonst
beides, Wein und Milch . . . Ich will Gold anstatt des Erzes und
Silber anstatt des Eisens bringen und Erz anstatt des Holzes und
Eisen anstatt der Steine; und ich will zu deiner Obrigkeit den
Frieden machen und zu deinem Herrn die Gerechtigkeit . Aus . .

dem Kleinsten sollen Tausend werden und aus dem Geringsten


ein mächtiges Volk.�� Soweit Jesajas, soweit der primitiv-sozia­
listische Inhalt des erträumten Bundes zwischen Gott, Mensch,
Tier und allem Dasein. Alle späteren Ausmalungen des Tausend­
jährigen Reichs in der Sekten-Theologie folgen dem Jesajas
nach. Langes Leben wird prophezeit, Sünde und Tod sind ge­
schwächt, der Leib erlangt ungeahnte Kraft, der Acker trägt
tausendfältige Frucht, die Wüste wird in Fruchtgärten umge­
wandelt, die gesamte Natur n
i ein menschliches Haus, gottähn­
liches Dasein beginnt in Unschuld, Frieden und durchdringender
Freude. So sichtbar also die Vertröstungen und passive Phanta­
sterei, so sichtbar ist in diesen Gebilden auch die klassenfeindliche
Ketzerei, soll heißen: der Maßstab, den sie an der d:lristlichen
Kirche, gar an den christlichen Staat anlegen ließ. Folgerichtig
wurden die chiliastischen Diesseitshoffnungen von der offi­
ziellen kirchlichen Lehre bald verworfen, am energisd1sten von
Augustin: das Feuer wurde abgestumpft, der Maßstab ent­
sozialisiert. Denn nach Augustin beginnt das Tausendjährige
Reich bereits mit J esus; daß sich ein Mensch zu seinem Erlöser
bekennt, das bereits ist die erste Auferstehung. Das Reich, worin
die auferstandenen Gerechten mit Christus herrschen, ist einzig
die kird1lid1e Gemeinschaft der Gläubigen, der irdische Gottes­
staat, die civitas Dei terrena. Die zweite Auferstehung und das
Jüngste Gericht haben demgemäß keine Bedeutung für die Ge­
schichte der Menschheit, sondern nur für die einzelne Seele -
das Gottesreim auf Erden ist und bleibt die sich ausbreitende
Chiliasmus 1 43

Kirche. Dem Staat selbst machte Augustin durchaus den Prozeß,


und zwar sowohl als Kirchendenker wie als Philosoph der christ­
lichen Inwendigkeit, in den historischen Staatsgebilden, ein­
schließlich Rom, erblickt Augustin nur eine Gemeinschaft der
Verdammten, eine durch Zwietracht geteilte. Hier allein ist
Weltgeschichte ( nämlich sukzessiv sich verschärfende Trennung
zwischen dem Sünder- und Gnadenreich). Heilsgeschichte aber
ist keine Weltgeschichte, sondern lediglich individuelle, ebenso
ist Zukunft einzig das individuelle Jenseits. Augustirr hatte allen
Anlaß zu dieser Abdankung des Tausendjährigen Reid1s, denn
der Chiliasmus war in der frühen Kirche durd1aus nid1t erlo­
schen. Bereits im zweiten Jahrhundert n. Chr. war gegen die
,,verweltlichte Kirche<< ein ))Prophet« aufgetreten, der Der­
wisch Monto:nus, hatte ein urchristliches Gemeinwesen begrün­
det, das, von der Welt abgeschieden, auf das Herabfahren des
oberen Jerusalem sich bereiten sollte. Im dritten Jahrhundert
trat der unruhig-strenge Montanismus einen Siegeszug durch
die Welt an; erst gegen Ende des vierten Jahrhunderts wurde
der Chiliasmus ausgeschieden, er galt von da ab durchgängig als
Ketzerei.
Gerade dadurdl aber sprach der kirchlich verboteneTraum die
Aufrührer besonders an. Er lockte doppelt verwandt nach vor­
wärts, und die Ablehnung durch die Herren verbriefte ihn. Daß
aber die Phantasien des Tausendjährigen Reichs auf Erden, des
neuen J erusaiem, trotz Kirchensiegs nicht austilgbar waren, daß
sie im Bund mit der sozialen Not fort und fort aufpeitschten, das
haben viel später, in sozialrevolutionären Epochen, das Münster
der Wiedertäufer, vor allem das Tabor der Hussiten bewiesen.
Die Hussitenbewegung bezeichnet das erste Heldenzeitalter
einer kommunistischen ( kommunistisch gemeinten) Revolu­
tion; in ihrer ideologischen Mitte jedoch stand eben der Chilias­
mus, als Lehrer vom möglichen Diesseits des Jenseits. Seine
Taboritenprediger verkündeten ganz im jesajischen Stil das
Zionsreich der Freiheit und Gleichheit für die ,,Gerechten«, für
die in den paradiesischen Stand der Unschuld zurückkehrenden.
Nur in dieser Hoffnung wurde Tabor gegründet - ein Neu­
Jerusalcm, worin der christliche Liebeskommunismus der Ur­
gemeinde erneuert werden sollte: keine Stände, keine Herrschaft,
1 44 Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

kein Sondereigeoturn, keine Steuern; ein demokratisches Ge­


m'einwesen unter Gott als dem mystischen König. Daß die Sek­
tenpolitik dieser Zeiten durchaus keine paradiesische Unschuld
gebracht hat, sondern der Manufaktur sich eingliederte, j a die
Ideologie zu den reinsten Formen des Kapitalismus lieferte
(England, Amerika), ist bekannt. Die materielle Logik der da­
maligen Produktivkräfte war stärker als der urchristlicheMoral­
wille und der apokalyptisch-revolutionäre Glutpunkt im falschen
Bewußtsein. Dennoch wäre die Hussiten- und Tauferbewegung
überhaupt nicht in Gang gekommen, wenn der Chiliasmus sie
nicht ideologisch entzündet hätte; wenn er der Revolution nicht
die scheinbar objektive Gewißheit zur subjektiven hinzugefügt
hätte. Der Chiiasmus
l (wie übrigens aud1 die astrologisd1en
Weissagungen des ausgehenden Mittelalters von einer >>not­
wendigen« Wende der Zeit) vertrat damals sozusagen die Wis­
sensmatt von der Revolution, nämlich deren Objektivität und
Unausweichlichkeit; die Zeit wurde als nicht nur subjektiv,
sondern als objektiv reif zur Revolution erfahren, die Revolu­
tion stand »im Termin«, die himmlische Gerichtsuhr schien sie
anzuschlagen. Die Förderung des Aufruhrwillens durch solche
Widerspiegelungen und Verankerungen seiner kann gar nicht
übersd1ätzt werden, und auch dieses steht fest: es war nicht der
Chiliasmus, der das ökonomisme Bewußtsein, die konkrete Be­
herrschung der Wirklid1keit damals verhindert hat. Er stand
diesem Bewußtsein durmaus nicht im Wege (wie etwa ein Kur­
pfuscher dem Arzt im Wege steht und dessen remtzeitiges Ein­
greifen verhindert), sondern: rein aus ökonomischen Gründen
war damals kein ökonomismes Bewußt3ein vorhanden, und
wenn der Chiliasmus nicht gewesen wäre, so wäre aud1 kein
revolutionäres Bewußtsein vorhanden gewesen, folglich über­
haupt keine Revolution. Und nicht wegen des Chiliasmus ging
diese Revolution zugrunde oder tief zur Manufakturperiode,
gar zum puritanischen Kapitalismus aus. Sondern umgekehrt:
der Chiliasmus hat - in rationalisierter Gestalt - bis zur Fran­
zösismen Revolution, wo nidlt länger, weite Massen dazu an­
gefeuert, daß sie mit ihrem derzeitigen »Sd1icksal« sid1 nicht
abfanden, daß sie revolutionäre Handlungen für den »Durch­
bruch des Reims« begingen. Die geringe oder gänzlich fehlende
Chiliasmus 145

Übereinstimmung dieser Handlungen, auch Zielbestimmungen


mit der Wirklichkeit liegt gewiß auf der Hand, j a gibt späten
Chiliasmen wie denen Weitlings, gar Fouriers, vom marxisti­
schen Standort zuweilen ein Kurioses. Eben weil sie in Zeiten,
denen ökonomisches Bewußtsein möglich geworden ist, Gegen­
wart wie nädlste Zukunft ais weiße Flecke oder unentdeckte
Landstridie behandelten; weil sie statt der Löwen, womit die
alten Kartographen ihre weißen Fled<e ausgeziert hatten, über­
schwängliche Palmzweige oder andere Abstraktionen bloßer
Wunschphantasie einzeichneten. Dennoch darf Phantastik we­
der die Gewalt alter Träume verdecken noch die Sprengkraft,
welche diesen - zum Bösen wie zum Guten - immer noch inne­
wohnt. Die Sprengkraft war überall dort, wo die Verheißung
nidu quieszierend wirkte, nicht wie innerlich-geistliches Lametta
oder gar wie kontemplatives Geflunker, sondern aufreizend wie
ein vorenthaltenes Gut und einleuchtend wie Schlaraffenland.
Bis allerdings auch hier ein Rattenfänger erschien, n n
i zwölfter

Stunde«, und ebenso herrlichen Zeiten entgegenführt wie sein


Vorgänger, nämlich dem Krieg. Keine Sdl.werter werden von
Hitier zu Sidl.eln, keine Lanzen zu Pflugscharen gesdl.miedet;
eher umgekehrt; dafür dauert das neue Tausendjährige Reid1
gleich mehrere hunderttausend Jahre, angeblich ohne Jüngstes
Gericht. Ein riesiges Maul, ein Maul wie eine Blutschüssel trinkt
den Behälter der gesamten Zukunft leer. Genau so vortrefflich
wie der Messiaskaiser, wie das Dritte ist so auch das Tausend­
jährige Reich in Deutschland verwirklicht. Es gibt deutsdl.en
Sozialismus, ausgeübt von viri spirituales ohnegleidlen; es gibt
Reichsbankwechsel aufs dritte Evangelium, zahlbar in Reich­
Gottes-Wahrung. >•Ich will zu deiner Obrigkeit den Frieden
machen und zu deinem Herrn die Gerechtigkeit« - dies Wort
aber scheint von der deutschen Überrasse noch nicht ganz er­
füllt. Und auch sonst hat das Dritte Reich Hitlers mit dem er­
träumten des Joarnim von Fiore ungefähr dieselbe Ähnlichkeit
wie sein Sozialismus mit dem Reich der Freiheit.
Zur Originalgesdllchte des Dritten Reiches

Fazit für einen Teil der konkret-utopischen Praxis

Alles fließt, aber der Fluß kommt jedesmal von einer Quelle her.
Er nimmt von den Gegenden, die er durchlaufen hat, Stoffe mit,
diese färben sein Wasser noch lange. Ebenso sind jener neuen
Form Reste einer älteren, zwischen Heute und Gestern ist kein
unbedingter Schnitt. Es gibt keine völlig neue Arbeit, am we­
nigsten als revolutionäre; die alte wird nur klarer weitergeführt,
zum Gelingen gebracht. Die älteren Wege und Formen werden
nicht ungestraft vernachlässigt, wie sich gezeigt hat. Besonders
Träume, auch die allerwachsten, haben eine Vorgeschichte, und
sie tragen sie mit sich. Bei zurückgebliebenen Schidlten sind diese
Reste besonders stark und oft vermufft, doch auch die revolu­
tionäre Klasse ehrt ihre Vorläufer und hört sie noch. Die alten
Formen helfen zum Teil, wenn richtig eingesetzt, am Neuen mit.
Daß sie äußerst wirksam sind, hat der Feind besser als die
Freunde bemerkt. Es ist fällig, einiges Alte wieder zum Eigenen
zu schlagen, das Gebot der Stunde drängt dazu. Der weiche
Hochmut, womit ein Kautsky über »Helden« oder »Pröbchen
apokalyptischer Mystik« lächelte und nichts als lächelte, ist
theoretisch-praktisdl zu Ende. Selbst ein so absurd und un­
demokratiscl1 ersd1einendes Gebilde wie der alte Führertraum
(um den »revolutionären« Kaisertraum außer acht zu lassen)
stellt sich in der Praxis - mutatis mutandis - nidlt als so dumm
dar. Die revolutionäre Klasse und ganz sicher die revolutionär
noch Unentsmiedenen wünsdlen ein Gesimt an der Spitze, das
sie hinreißt. Einen Steuermann, dem sie vertrauen und dessen
Kurs sie vertrauen; die Arbeit auf dem Sdllff geht dann leidlter.
Die Fahrt ist sicherer, wenn nicht jeder jeden Augenblick die
Richtung nachzuprüfen für nötig befindet. Das alles hat die Pra­
xis erwiesen, bei bestem demokratisdlem Gewissen; auf dem
Marsd:l muß eine Vorhut und eine Spitze sein. Solange der
Marsch noch theoretisd1 ist, tritt sie nid1t so in Ersdleinung,
doch in seiner Verwirklidlung sogleidl. Das Kommunistische
Manifest enthält noch kein \Vort von Führern, oder nur zwi­
schen den Zeilen, gleid1sam im mitgegebenen Dasein seiner Ver­
fasser, derer, die es erlassen haben. Doch sobald das Manifest
realisiert zu werden begann, leuchtete neben den stiftenden
Konkret-utopische Praxis 1 47

Vätern des Marxismus der Name Lenin auf, und die Erscheinung
Dirnitrofis in Leipzig hat der Revolution mehr geholfen als tau­
send Breittreter oder Referenten in Versammlungen. Derart
menschliche Dinge wie die Revolution lassen sich ohne sichtbare
Menschen, ohne das Bild wirklicher Personen (nicht Götzen)
kaum durchführen. In der klassenlosen Gesellschaft mag und
wird das überflüssig, ja völlig anders sein.
Die weiteren Träume der alten Zeit, die noch nebligen, sind
nid1t auch die simersten. Hat sich dom unter ihrem Namen ge­
rade das völlige Gegenteil eingestellt, das Gegenteil nicht des
Nebels, sondern des Traums. Muß aber deshalb der Keim mit
der Hülle preisgegeben werden, oder ist es nicht so, daß auch
der Traumkeim, recht herausgearbeitet, das ungeheure Falsifikat
widerlegt, das die Nazis mittels der Nebelhülle hergestellt ha­
ben? Die Frage ist praktisch und sie kommt gerade im Zeicllen
der beginnenden deutschen Volksfront zurecht, spezieller: des
mristlichen Antifaschismus innerhalb der Volksfront. Kurz vor
Hitler hat in Bedin eine öffentliche Diskussion stattgefunden,
zwischen dem Halb- und Edelnazi Hielscher, dem Jesuitenpater
Przywara, dem protestantischen Theologen Dehn, über das
Thema nReim und Kreuz«. Da stellte Dehn ( der damals bereits
von den Nazis verfolgte) aus seinen christlichen Prämissen fest,
daß das imperialistische Nazireich ndie Ideen des Friedens und
der Gerechtigkeit nirgends berüd<sichtige«; ja er spielte gegen
die Ode dieses Reichsbegriffs die kommunistische Lehre aus,
sofern in dieser doch immerhin heilsgeschichtliche Erwartun­
gen nad1klängen. Das Nazireich aber sei bar jedes menschlichen
Inhalts, es komme aus dem Dunkel bloßer Triebe, aus der Ge­
rissenheit bloßer Kapitalsinteressen, die dieser Triebe sich be­
dienen, und gehe ins Dunkel wieder zurüd<. Es lasse sich nicht
substanzieren, zum Unterschied von der kommunistischen
Reichsidee, von der ,,Idee« der klassenlosen Gesellschaft, bei der
es sim nicht zuletzt um eine aktuelle Umwandlung altduist­
licher und theologisch-ketzerisdler Fixierungen handle. Soweit
Dehn; soweit die Neutralisierung, ja möglidle Sympathie dieser
Männer für den Kommunismus. Wie immer dessen naltdlrist­
licheBestimmung« beridltigt und zured1tgewiesen werden mag:
hier ist der wimtigste Berührungspunkt zwisdlen christlidlern
Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

und kommunistischem Antifaschismus. Es ist das Amt der kom­


munistischen Propaganda (genauer: der revolutionären Tradi­
tionskompagnie, die sie mit sich zu führen hat), an dieser Stelle
nach dem Rechten zu sehen und die abergläubige Scheu der
Frommen vor der ))Gottlosenbewegung« zu korrigieren. Ohne
daß die Probleme des Atheismus bereits berührt werden müß­
ten, ohne die mindeste Verlegenheit, gar Unredlichkeit hat sol­
che Propaganda unter Bekenntnischristen und humanen Katho­
liken Platz. Viele Vorläufer des Sozialismus waren es aus
Christentun1; das verbindet beides, das ist eine gemeinsame
Wegstred{e z u dieser Zeit. Und spätere Zeiten, worin die bis­
herige Religion abgestanden sein wird, werden der Kraftquelle
leichter gerecht werden, die in der >>Freiheit der Kinder Gottes«
neben aller Vertröstung und Ausbeutungs-I deologie floß.
Die Frage wurde bereits gesu·eift, ob nid1t gerade der Nebel
die alten Träume den Braunen so dienlich machte. Zweifellos
hat die ökonomische Unwissenheit den Nazis ihren Betrug er­
leichtert, zweifellos haben sie die alten dunklen Worte hörnst
demagogisch ausgenutzt. Aber viel wichtiger ist die Frage, ob
diese Benutzung, dieser Mißbrauch nicht gerade deshalb so
leicht gelang, weil die echten Revolutionäre hier nicht Wache
gestanden haben. Ökonomische Unklarheit, kleinbürgerlicher
Muff und mystizistischer Nebel gehen gewiß trefflich zusam­
men; eines steht dem anderen bei. Aber deshalb brauchen öko­
nomische Klarheit und Kritik des metaphysischen Scheins noch
nicht den gesamten Umfang und Inhalt der irrational bezeich­
neten Gehalte a priori zu desavouieren. Das hatte zu Voltaires
Zeiten einen revolutionären Sinn, heute aber dient es, wie der
deutsche Effekt erwiesen hat, fast ausschließlich der Gegenrevo­
lution. Es ist auch gar kein Realismus in diesem Memanismus
des Nein; konträr: große Schichten der sozialen, ja physischen
W irklichkeit werden durch die mechanische Banalität aus­
gekreist. Die Zeiten dieser Borniertheit sind vorüber, das Ver­
ständnis wie die Anwendung des Marxismus erlangen immer
vollere Gegenständlichkeit, immer größere Weite und Tiefe. Zu­
gleich aber -und das ist jetzt bereits, an der Schwelle, wichtig zu
betonen - zugleich aber rid1tet die erlangte Weite und Tiefe
irrationale Verblasenheit viel gri.indlimer und kenntnisreimer,
Konkret-utopische Praxis 149

als der Aufkläricht je hierzu imstande war. Ja, sollte das


Unwahrscheinliche geschehen, daß infolge der Antibanalität der
Mystizismus weiter aufholt, dann wird gerade das Wissen der
Weite und Tiefe selber, als solches, an die Spitze der Opposition
treten, der Opposition gegen den Mystizismus. Denn mystizi­
stische Banalität ist um kein Haar besser, wohl aber um eine
ganze verkitschte Künstlermähne widriger als die rationalisti­
sche; Mystizismus ist die unwissende Karikatur der Tiefe, wie
der Aufkläricht die viertelsgebildete Karikatur der Klarheit
war. Vernunft ist und bleibt das Instrument der Wuklichkeit,
freilich jedoch konkret-materialistische Vernunft, die dem Gan­
zen der Wirklichkeit gerecht wird; folglich auch ihren kompli­
zierten und phantasievollen Bestandteilen. Wonach rechter Be­
griff also weiß, daß die schwierige Fahrt der Welt, daß die
vielen Unaufgelöstheiten ihrer Vergangenheit, daß die noch
nicht ersd1ienenen Horizonte ihrer Zukunft, - daß alle diese
Bestandmomente zur dialektisch-realen Tendenz keine Objek­
tive der Realschul-Aufklärung darstellen und ebensowenig der
Martin Buber- oder Keyserling-Mystik. Gründliche philosophi­
sche, das heißt wahrhaft marxistische Vernunft richtet und berich­
tigt sich im gleid1en Akt wie ihr Gegenspiel: die Windbeutelei,
den Mystizismus. Von diesem lebten die Nazis, doch sie konn­
ten eben nur deshalb so ungestört mit ihm betrügen, weil eine
allzu abstrakte (nämlich zurückgebliebene) Linke die Massen­
phantasie unterernährt hat. Weil sie die Welt der Phantasie fast
preisgegeben hat, ohne Ansehung hrer i höchst verschiedenen
Personen, Methoden und Gegenstände, zugespitzt gesagt: ohne
rechte Differenzierung zwischen dem Mystiker Ed<art und
dem »Mystiker« Hanussen oder Weißenberg. Es ist aber ein
währender Unterschied zwischen der Prophezeiung aus Kaffee­
satz und jener anderen Meister Eckarts, im ))Sermon von der
Geburt«, über die verborgene Herrlichkeit des Menschen: »Ich
werde in mir etwas gewahr, das erglänzt in meiner Vernunft;
ich empfinde wohl, daß es etwas ist, aber was es ist, das kann ich
nicht erfassen; nur soviel dünkt mich: könnte ich es erfassen, ich
wüßte alle Wahrheit.« Es ist dies das gleiche menschliche Herr­
lichkeitsgefühl, welches nachdem Thomas Münzer, den Jün­
ger Eckarts, Taulers, Susos, zum Ideologen des Bauernkrieges
150 Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches

gemacht hat; welches über Hunger und Skorbut hinaus gegen die
Verhältnisse protestieren ließ, worin der Mensch, nach Marxens
Worten, ein gedrücktes, verächtliches, verschollenes Wesen ge­
worden ist. Die deutsche Mystik des Mittelalters mit ihrer
Laienpredigt, ihrem praktischen Christentum, ihrem Drang
nach der »Offenbarung der Freiheit der Kinder Gottes« stammt
aus frührevolutionären Bewegungen des Bürgertums. Und der
vorhandene Nebel war keiner des gesamten Inhalts; dieser ent­
hielt vielmehr zielsetzendes Licht, dasselbe, das Münzer ganz
reziprok, mit wechselseitigem Funktionszusammenklang seines
Aufruhrs und seines Christentums im nHodwerursachten Auf­
ruhr« sagen ließ: ))So anders die Christenheit soll recht auf­
gerichtet werden, so muß man die wuchersüd1tigen Bösewichter
wegtun.« Derart ist der Nebel durchaus nicht ein und alles in
den alten Träumen (seien es die politisch-chiliastischen, seien es
die nur scheinbar individuellen der mystischen Knechtzerbre­
chung, Sohnwerdung, der Ladung mit immanenter Herrlich­
keit). So paradox es daher klingen mag: Ein großer Teil des
revolutionären Stolzes kam erst durch die deutsche Mystik in
die Welt, und christlich-humane Utopie spielte ihr vor.
Immer wieder freilich muß zwischen Nebel und Licht unter­
schieden werden, und das Licht berichtigt sid1 auch. Das gilt be­
sonders für die weitere Folge der utopischen Träume, für die
Verengerung, welche sie in den sogenannten Staatsmärcllen der
Neuzeit gefunden haben. Sie reichen von Thomas Morus bis
Weitling, um nach Marx ernsthaft zu erlöschen; Wissenschaft
löste sie ab. Über die Hälfte ist diese konstruktive Form der
Utopie subjektives Besserwissen gewesen, undialektisclles Po­
stulat, mythologische Übertragung eines unbewußten Klassen­
interesses in die »Endzeit« oder in ein »Fernland<< überhaupt.
Aber der Antrieb wie der Hintergrund dieser Gebilde ist hier
gleicllfalls ein anderes als die Hülle, in die sie sieb kleiden. So
sicher daher die Mängel des abstrakten Wesens feststehen, so
ökonomisch der Sozialismus von sold1er Art Utopie zur Wissen­
sdlaft fortgeschritten ist, so wenig darf doch auch hier der Kern
mit der Hülle verwechselt werden, so wenig wird er mit ihr ver­
nichtet. Lenin hat sogar im Begriff der Ideologie einen guten
Kern herausgearbeitet, einen Kern ohne Nebel und Betrug, und
Konkret-utopische Praxis 151

er hat ihn pointiert, als e r den Sozialismus die Ideologie der Ar­
beiterklasse nannte. Ebenso fällig ist die Rettung des guten
Kerns der Utopie (als eines Begriffs, der höchstens im Nebel,
niemals im Betrug lag); die konkret-dialektische, die in der wirk­
lid'len Tendenz e1·faßte und lebendige Utopie des Marxismus
ist diese Rettung. Die undialektisch herangebrachte Träumerei
war der Nebel der Sache, und im Nebel lagen - obwohl mit
Unterschieden - alle die Wunschzeiten und Wunschräume der
alten Utopie. Auch enthielten die Phantasmagorien, welche die
Sehnsucht nach einer besseren Welt in Zukunftszeiten oder
ferne Inseln oder unzugängliche Täler projizierte, überwiegend
nur die jeweiligen Klasseninhalte der jeweils unterdrückten
Klasse (wenn auch transparent für klassenlose Ahnungen über­
haupt). Auch standen die meisten alten Utopien in der ihnen
gegebenen 'Wirklichkeit still, sie schlugen aus ihr gleichsam nur
das Phlegma nieder und destillierten den Spiritus heraus, sie
kannten keinen Prozeß und keine Totalität der Erneuerung. Die
konkrete Utopie des Marxismus dagegen läuft mit dem Prozeß
der Produktivkräfte zu klassenloser Gesellschaft schlechthin in
der Tendenz. So stößt der Marxismus, bei sorgfältigster Ver­
mittlung mit der materiellen Tendenz, ins noch nicht Gekom­
mene, noch nicht Verwirklichte vor. Selbst das Glück, das
marxistisch seine Laufbahn hat, ist nicht das einer bereits vor­
handenen und nur reichlicher zugeteilten Art: wie die »Selig­
keit« in den geistlichen Utopien, wie die Langeweile eines dau­
ernden Sonntags in den bürgerlichen. Die marxistische Hoffnung
dagegen ist auch hier so produktiv, daß sie sich auf bloße my­
thologische Verlegungen eines bereits Gegebenen, obzwar re­
lativ besser Gegebenen nicht einläßt. Der Marxismus lehrt, daß
alles bisherige Glück in der bloßen Vorgeschichte, bestenfalls in
der Andeutung des Rechten steht; er hält sein Diesseits, sein
leibhaftiges Diesseits als ebenso offenes wie noch unermessenes.
Gerade das aber ist echte Utopie, und nur das holt aus den
Staatsmärchen, erst recht aus den Reichsträumen bleibende Vel­
leität, humane Phantasie heraus. Steht im engsten Zusammen­
hang mit allem, was in der alten Utopie an Echtheit enthalten
war, an nachwirkend befeuerndem Traum. Steht jenseits des sub­
jektiven Postulats, jenseits der mythologischen Fernverlegung
Nicht Hades, sondern Himmel auf Erden

fertiger Wunschinhalte. Doch die Sphäre selber ist von der


des Joachim von Fiore nicht absolut verschieden, noch ist sie
absolut verlassen. Mit anderen Worten: Das marxistisch ge­
führte Werk kritisiert die Ideologie der undurdlsdlauten NM­
wendigkeit, indem es sie durchschaut und vernichtet, aber die
Utopien der undurchschauten Freiheit, indem es sie durchschaut
und erfüllt. Die sozialistisdle Revolution ist von den vorher­
gegangenen durdl Wissensdlaftlichkeit und Konkretheit, durch
proletarischen Auftrag und klassenloses Ziel unterschieden, je­
doch ebenso grundsätzlid1 ist sie mit ihnen durch das Feuer und
den humanen Inhalt des revolutionären Antriebs und intendier­
ten Freiheitsreichs verbunden. Die so wenig verwirklichten
Träume dieses Reichs greifen nadl wie vor in die Gegenwart
ein, damit sie konkret beridltigt und erfüllt werden.

E. N I CHT HADES,
SONDERN HIMMEL AUF ERDEN

Sdlon morgen ist jedes Jetzt anders da. Möglich sogar, daß das
Elend etwas fällt. Dann hören viele kleine Leute auf, mit den
Wölfen zu heulen. Sie kehren in jene Mitte zurück, die ihnen
von neuem eine sein kann. Das bloße fladle Gestern, das sie sind
und gemeint haben, nimmt wieder auf.
Aber diese Ruhe, falls sie kommt, dauert kaum lange. Die Er­
holung dürfte kurz, sicher nicht mehr so fraglos sein wie die
früheren. Ein Stachel bleibt zurück, sowohl der Unsid:lerheit
wie der gewesenen Hetze und Verwilderung. Was sich jetzt
schon deutlich ändert, ist auch weniger das Elend als das Ver­
trauen auf Hitler. Sein riesiger Kredit bröckelt langsam ab,
Gläubiger und Gläubige murren, der Zahltag wurde zu oft
versäumt. Vielleicht werden ))enttäusdlte« SA-Proleten, auch
jüngere Teile eines proletarisierten und utopisierten Kleinbür­
gertums kommunistisch reif. Aber damit freilich sind die un­
gleichzeitigen Inhalte dieser Schidlt, wie sie hier angedeutet
wurden, noch nidlt selber unwirksam geworden.
Gegen diese wirkt das rote Mittel nur halb, meist nodl gar
Nicht Hades, sondern Himmel auf Erden 1 53

nicht. Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommu­


nisten völlig wahr, aber nur vonSad1en. Die Kommunisten stra­
pazieren oft gleichfalls Schlagworte, aber viele, aus denen der
Alkohol längst heraus ist und nur Schema drinnen. Oder sie
bringen hre
i richtigsten Zahlen, Prüfungen, Buchungen denen,
die den ganzen Tag über mit nichts als Zahlen, Buchungen, Büro
und Trockenarbeit verödet werden, also der gesamten ,, Wirt­
sd1aftcc subjektiv überdrüssig sind. Hier ist sprachliche und pro­
pagandistische Reform das Gebot derStunde: amHaupt, das sich
nicht verquarken oder versteinern darf, an den Gliedern, mit­
tels derer sich die Revolte auch unter Angestellten und Ungleich­
zeitigen fortbewegt. Selbst eine erwartbare Zuwendung zum
Kommunismus ist auf lange eine negative, eine bloße Enttäu­
schung an Hitler; diese allein sichert noch nicht die neue Treue.
Denn werden Losungen, die für einen Einbruch in die national­
sozialistische Front zu schwach waren, zur Umarmung der
Oberläufer ausreichen? Auf dem Land gibt es noch keine Ge­
treidefabriken, in der Stadt ist der Mittelstand zwar proletari­
siert, doch weit davon entfernt, proletarisch zu sein. Er ist weder
seinem ökonomischen Sein noch gar seinem Bewußtsein nach
proletarisch, spricht nicht die Sprache derProleten, hat ungleich­
zeitige Erinnerungen oder sucht sie und nirnt durffiwegs gehalt­
lose. Wie ein Fluch aber liegt es auf dem freidenkerischen Vul­
gärmarxismus, daß er den Proletarisierten ihren Vernunfthaß
geradezu bestätigt (als wäre alle Vernunft wie die kapitalistisch
halbierte von heute). In einer Zeit, einem Land, wo der Kapi­
talismus llWeiten Kreisen(( mit der sci1led1ten Rationalisierung
auch die Ratio diskreditiert hat, werden die eigenen Gefühls­
werte des Kommunismus kaum genügend betont, wird nicht auf
die echte und volle, die konkrete Ratio gewiesen; als der Be­
freiung von Wirtsffiaft, als dem Mittel gerade zur Vermensch­
lichung und Totalisierung des Daseins. Es wird vom elenden
))Materialismus« der Unternehmer nicht begreiflich genug der
dialektische Materialismus abgesetzt; es wird kaum genügend
betont, daß der kommunistisrne Materialismus keine Gesinnung
ist, sondern eine Lehre, daß er keine totale Okonomie nornmals
ist, sondern gerade der Hebel, um die beherrsd1te Wirtsffiaft
an die Peripherie zu stellen und den Menschen erstmals in die
1 54 Nidlt Hades, sondern Himmel auf Erden

Mitte. Statt dessen unterstützt mancher Vulgärmarxismus fast


das Zerrbild, das die Irrationalen von der »mechanischen« Ver­
nunft entworfen haben. Die Zeiten sind aber so wunderlich, daß
die Revolution nicht unmittelbar in die Verelendung eingreifen
kann, sondern - bei Proletarisierten - erst in Gefühls- und irra­
tionale Inhalte, in Gewäsch und Unwissenheit nicht nur, sondern
auch in Berauschungen und »Ideale«, welche dem Elend un­
gleichzeitig widersprechen. Hat man sich auf einige solcher
Inhalte bereits nachahmend eingelassen (was, in Ansehung des
Nationalismus etwa, das Original Hitler besser kann), so ist der
Fortgang kein anderer als dialektische Mobilisierung, als Ergrei­
fung des dialektischen Hakens, den alle diese zweideutig wider­
sprechendenBestände in sich haben. Es gibtkeinen erfolgreichen
Angriff auf die irrationale Front ohne dialektischen Eingriff,
keine Rationalisierung und Eroberung dieser Gebiete ohne ihre
eigene, auf den allemal noch irrationalen Revolutionsinhalt ge­
stellte ))Theologie«. Es ist nötig, daß Marxismus nicht mehr
als Kehrseite der ))Mechanei« mißverstanden werde, daß er jene
'liefen des Revolutionsinhaltes in sich belidltet, welche er Fein­
den zum Betrug, Ungleichzeitigkeiten zur Nutznießung über­
läßt, obwohl er selber und allein seinen Ursprung darin hat.
Diese Lage hat sogar ihre )>germanische« Parallele oder, den
Nazis gegenüber, folgendes Gleichnis: Als die Germanen einst
nach Süden und Westen zogen, strömten die Slawen in die leer­
gewordenen, ursprünglich deutschen Gebiete; mühselig, sagen
die Nazis, eroberten Ordensritter Ostelbien zurück. Als der wis­
senschaftliche Sozialismus Frankreich und England einbezog,
also die französische Aufklärung, die englische Okonomie, der
Vulgärmarxismus aber das Erbe der deutschen Bauernkriege wie
der deutschen Philosophie vergessen hatte: strömten die Nazis in
die leergewordenen, ursprünglich münzerischen Gebiete; müh­
selig erobern Bauernpropaganda, vertiefte Theorie die Fülle zu­
rüde Jeden Nebel, jede ))Irratio« bloß falschen Bewußtseins,
jede Mythologie vertreibend; doch der Bauer lebt, selbst der
pauperisierte Kleinbürger von heute ist sehr ernst zu nehmen,
und am ernstesten die Stimme des menschlichen Wozu (noch
über den nächsten Schritt hinaus ). Marx schreibt einmal im
18. Brumaire: »Durch die unzufriedenen. auf ihrer Parzelle
Aufklärung und dialektischeWeisheit I 55

verhungernden Bauern erhält die proletarische Revolution den


Chor, ohne den ihr Sologesang in allen Bauernnationen zum
Sterbelied wird«; dieser Satz ist auch unter Kleinbürgernationen,
gar unter »irrational« gewohnten, >>irrational« ausgehungerten,
von entscheidender Wichtigkeit. Der Primat des Proletariats
oder der beherrschten gleichzeitigen Widersprüche erweist sich
audl als kritisdl-dialektische Besorgung der ungleichzeitigen.

Aufklärung und dialektische Weisheit zugleich

Der Staub des Alten legt sich anders nicht. Er wird immerwieder
aufgeblasen, wo das Neue nidlt den ganzen Menschen hat. Es
geht darum nicht an, mit oft redlt billigem Verstand dort nur
ironisch zu sprechen, wo sid1 der teuerste immerhin zu wundern
hätte. Es geht nicht an, dicke Bücher über den Nationalsozialis­
i die Frage, was das
mus zu sd1reiben, und nach der Lektüre st
sei, das so auf viele Millionen Menschen wirke, noch dunkler als
zuvor. Das Problem wird desto größer, j e einfacher dem wasser­
hellen Autor die wasserklare Lösung gelungen ist; nämlich für
seine vulgärmarxistischen Bedürfnisse, die ihm genauso alles
vereinfachen wie den Nationalsozialisten ihre dumme Begeiste­
rung. Auch eine Kritik, die in dem »Sicheingliedern in die bäu­
rische angestammte Blutverwandtschaft«, in der »religiös-fana­
tischen Bindung an den Boden« ausschließlim ))öde Phrasen«
merkt, kreist gefährlime Tiefgänge älterer Ideologie abstrakt
aus, statt sie dialektism zu analysieren und praktisch zu fassen.
Die schöpferisd1e Form des Kommunismus ist statt dessen, ge­
rade sold1en Ungleichheiten gegenüber, Weisheit, jene dialek­
tische Weisheit, welche Rußland in vielem an den Tag legt.
Welche nicht ohne Grund solch genaue Fragen größerer Dialek­
tik agiert wie diese: kann das muffig gewordene Haus abgebaut
werden, um sim in einzelnen Stücken, etwa dem der Mutter,
sozial neu verwenden zu lassen? Oder kann die stockig gewor­
dene Bindung an den Boden aus einem Element des Familien­
Egoismus in Solidarität umgesetzt werden und dadurch zu einem
neuen Halt der Dorfkommune? Um Gehalte durch die große
Krise hindurchzuführen, der die Verhältnisse sie unterworfen
haben, müssen ihre bisherigen Träger, Verwendungen und
Nicht Hades, sondern Himmel auf Erden

Erscheinungen freilidl fremd geworden sein: aber was dann er­


scheint, ist kein Sowohl-als-auch nach Art des sozialdemokra­
tischen (das fast aus lauter Sowohl besteht), sondern jene Mitte,
von der Brecht sagt, sie gehöre zum Kommunismus, denn er sei
das Mittlere: »Der Kommunismus ist nicht radikal, radikal ist
der Kapitalismus.<< Es ist vor allem jene Mitte, die Oberzeugun­
gen vor der Weisheit preisgibt, kurz, die keine abstrakten Prin­
zipien kennt, wenn neue Inhalte herandrängen, sondern die als
einziges »Prinzip« selber nur einen Inhalt kennt, nämlich die
Herstellung der Bedingungen zum Sieg des Proletariats, zur
Herbeiführung der klassenlosen Gesellschaft. Bis dahin aber
kann die Unruhe nidlt eigen genug beachtet werden, welche
heute ebenso dunkeln läßt wie selber dunkelt. Die ))Zerstreu­
ung<< hatte nur n i glänzender Trübe gefisdlt, die nBerauschung<<
aber fischt in d1aotischer, als weldle viel zweideutiger und zu­
gleidl geladener ist. Oder was den Staub angeht, so jagt ihn
Lützows Jagd erst recht auf, doch eben nicht als den funkelnden,
unterbrechenden der Zerstreuung, sondern als Verhüllung und
übersteigerten Ausbruch zugleich, gleidlsam als Staub hoch drei.
Damit aber ist von neuem zugleich jene ArtAufklärung in Frage
gestellt, weld1e ihren revolutionären Ort einmal gehabt hat, in­
des heute, mit ihren Prinzipien, den neuen Ort verfehlt. In der
zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts hatte der mechanische
Materialismus, wenigstens in Deutschland, noch eine gewisse
revolutionäre Rolle gegen den Adel, gegen die mit ihm verbün­
dete Kirche, selbst gegen den großen Bourgeois und sein Haupt­
budl ))mit Gott<<; Marx also konnte die weiten nmetaphysi­
sd1en<< Erbschaften der dialektischen Methode - nidlt daß sie
fehlten - implizite lassen. Heute dagegen, wo gerade die groß­
bürgerlichen HauptgegnerderRevolution ))materialistisch<< sind,
wo sich kein Geldgeber der Nationalsozialisten an zynischem
Freidenkerturn irgend nur überbieten läßt oder es gar als Waffe
fürchtet: ist es gerade das >>Irrationale<<, welches anfälligen Bau­
ern und Kleinbürgern nicht zuletzt ihren Widerspruch fundiert
- und ihren Anschluß an den Marxismus ideologisch verhindert.
Die proletarisch-marxistisd1e Avantgarde hat einen »Glauben«,
wie er nie wirkicher
l war, aber der Kleinbürger, ob er noch so
verelendet ist, hört hi n nicht. Statt dessen haben die Nazis, wie
Aufklärung und dialektische Weisheit 157

sie die rote Fahne, ersten Mai, zuletzt sogar Hammer und Sichel
gestohlen, zum Zweck der Fälschung gestohlen und pervertiert
haben, besonders auch die weniger manifesten Symbole der
Revolution sich tauglich zu machen gewußt. Nicht als ob Philo­
sophie am Soziaismus
l etwas ))vermißte« oder mit Inhalten, die
nicht auf dem Boden der geschichtlich entscheidenden Klasse
gewachsen sind, ihn zu ))verbesserncc wünschte; sozusagen als
Marburgerei des Irrationalen. Wohl aber ist dieses die von allen
Seiten wiederkehrende Grundfrage: ob die weniger manifesten
Symbole und Inhalte der Revolution, womit der Nazi unter
Kleinbürgern krebsen geht, nicht nur deshalb so leicht zum Be­
trug dienen konnten, weil die Propaganda sie noch zu wenig in
die Auslage gestellt hat, weil die wohlbelichteten Hintergründe
des Marxismus noch zu wenig entwickelt und abgezogen worden
sind. So wird es ein konkretes Amt, das vermittelte Transzen­
dieren (aber: Transzendieren) im Marxismus urbi et orbi auch
zu zeigen; es wird Pflicht, sein Ultraviolett, die im dialektischen
Materialismus vermittelte Zukunfts-))Transzendenzcc, welche der
Marxismus implizite enthält, zum Zweck der Besetzung und
Rationalisierung der irrationalen Bewegungen und Gehalte auch
publik, explizit zu machen. Denn die marxistische Welt, worin
konkret gedacht und gehandelt werden kann, ist am wenigsten
mechanistisch, im Sinn des bürgerlichen Bornements, am wenig­
sten tatsachen- und gesetzeshaft im Sinn des mechanischen Ma­
terialismus. Sondern sie ist eine Bewegung, worin menschliche
Arbeit eingezahlt werden kann, ein Prozeß helfender Wider­
sprüche sodann und zu einem dämmernden, erzmenschlichen
Ziel: sie ist arbeitend, dialektisch, hoffend, erbend schlechthin.
Nichts zu vergessen, alles zu verwandeln, beide Kräfte sind
dieses Orts fällig. Charon freilich setzt nicht ganze Figuren, son­
dern nur Schatten über den Fluß; aber es ist Charon. Der Sozia­
lismus dagegen will nicht den Hades, sondern den Himmel auf
Erden; daher setzt er die gesamte Substanz der Geschichte über,
nach ihrem so berichtigten wie verklärten Leib. Vom dialekti­
schen Materialismus wird aller bürgerlich-feudale Anteil an den
Ideologien entlarvt, doch der unabgegoltene und nkulturelle«
Rest, als Substanz wider Willen, beerbt.
rsB Nicht Hades, sondern Himmel auf Erden

Beispiele der Verwandlung

Sieht man zurück, so gingen drei Züge im Jetzt quer. Sie tragen
frühe, wenigstens frühere Fahnen und Zeichen, solche, die wi­
dersprechen. Die 'Jugend sehnt sich nach Zucht und Führer, die
Bauernschaft setzt sich in Boden und Heimat stärker fest als je,
die verelendete Stadtmitte will sich den Klassenkampf ersparen
durch den Ständestaat, setzt Deutsd1land - ein bluthaftes, auf­
genordetes, nicht das jetzige - als Evangeium
l hinein. Diese drei
unzufriedenen Gruppen tragen alle ungleichzeitigen Inhalte
von heute; und sie tragen sie nach rechts. Dem Kapital freilich
ist letzthin äußerlich, ob Parlamente oder Generale >>regieren<<,
ob die Republik oder das Dritte Reich die Kulisse der wahren
Macht abgeben. Kein Zweifel hier, daß gleichzeitig-materiell
gesehen im National-nSozialismus « nichts vorliegt als nanti­
kapitalistische<< Demagogie völliger Verlogenheit und Wesen­
losigkeit; der einzige gleichzeitige Inhalt des Hitlertums ist
Herrschaft des Großkapitals durch verschärften Druck und
romantische Illusionen. Aber die Verführbarkeit eben durch
diese Illusionen, das Material dieser Verführbarkeit liegt noch in
anderer Gegend; hier sind Klasseninhalte ungleichzeitiger Ver­
elendung im bloßen Dienst und überwiegenden Mißbrauch
durchs Großkapital. Nur zum Teil ist daher rimtig, wenn
Lukacs schreibt: "Der Faseismus als Sammelideologie der Bour­
geoisie der Nachkriegszeit beerbt alle Tendenzen der imperiali­
stischen Epoche, soweit in ihnen dekadent-parasitische Züge
zum Ausdrud< kommen; jedoch alles Scheinrevolutionäre und
Scheinoppositionelle gehört auch dazu. Freilich ist dies Beerben
zugleich ein Umgestalten, ein Umbauen: was an früheren impe­
rialistischen Ideologien nur noch schwankend oder verworren
war, verwandelt sich ins offen Reaktionäre. Aber wer dem
Teufel des imperialistischen Parasitismus den kleinen Finger gibt
- und das tut jeder, der auf die pseudokritische, abstral<t-verzer­
rende, mythisierende Wesensart der imperialistischen Schein­
oppositionen eingeht-, dem nimmt er die ganze Hand<< ( >Größe
und Verfall des Expressionismus<, 1934 [ ! ] ) Diese Abkehr,
.

diese a priori fertige Analyse eines sonst so bedeutenden Denkers


hat zwar den Vorteil, entschieden über ihren Gegenständen zu
Beispiele der Verwandlung 1 59

kreisen und ihnen nicht den ldeinsten Finger zu reichen, doch


sie bringt auch nid1ts nach Hause; sie verwischt den Unterschied
zwischen kleinbürgerlieb-romantischer und proletarisch-kon­
kreter Opposition durch keine Brücke, doch sie schlägt auch
keine Enterbrücke. Eine ungleichzeitig-revolutionäre Opposi­
tion ist dennoch vorhanden, jener echte Bestand an ))irrationa­
len« Inhalten dazu, welcher, wenn er gegenwärtig den Anschluß
an die Revolution hindert, ja, eine restaurative Gefahrzone auf
lange bleibt, doch ebenso dem Kapitalismus auf die Dauer nicht
günstig bleiben mag. Viel Unwissenheit wird vergehen, wenn
der fascistische Betrug in bar an den Tag gekommen st; i viele
klassenmäßige und echtere Ungieichzeitigkeiten werden sid1 im
ProzeP der Revolution ausgleichen. Und wie es der Theorie
nicht zusteht, Forderungen zu stellen, statt die konkreten Mög­
lichkeiten der Tendenz zu sehen, so wäre es insipid, der Dialek­
tisierung ungleichzeitiger Widersprüche ein allemal idealisti­
sches Programm in extenso zu setzen. Insofern mußte auch die
gesamte hier versuchte Orientierung ))abstrakt« scheinen, sozu­
sagen; und zwar gerade deshalb, weil sie es nicht ist, weil sie
vermied, aus Abstractis voreilig zu konkretisieren. Indes ebenso
falscll wäre es, die vorhandenen Möglichkeiten des ))Hilfs­
trupps« künstlich zu verhindern; nocll falscller, bloß Sad<gassen
in der ))Irratio« zu finden, statt jener Explosivitäten der Hoff­
nung, die dem ökonomiscllen Revolutionsantrieb nie fremd wa­
ren und nicht künstlicll abgeschnürt werden dürften. Wie anders
haben Jungbursd1en das frühe Smwärmen aufgenommen, wie
verwandt stoßen andere zu armen Bauern und ihrer alten
Sprache vor. Wie anders hatLeninsRußland bereits Heimat und
Folklore einmontiert (die urkommunistischen Gentes scheinen
hindurch ) ; nicllt nur spießig oder angesetzt zeigen sid1 hier
die organischen Kräfte der Familie, die organiscll-historisch ge­
bliebenen der Nation umfunktioniert und in den Dienst einer
Volksgemeinschaft gestellt, aber einer echten. Wie konkret ent­
reißt selbst der Kampf gegen die >>Religion« dieser ihre Sehn­
süchte und Symbolkräfte: nicht sowohl, wie die Russen noch
agitieren müssen, »um den Himmel abzuschaffen« ( das gelang
hier wie dort dem Kapitalismus), sondern u m ihn endlich ))als
die Wahrheit des Diesseits zu etablieren« . Der Weg des Erbes
x6o Hitlees Gewalt

geht weiter, denn es gibt - wie nicht nur der Faseismus zeigt.­
viele Ruinen Roms, die keine sind oder bleiben. Ist doch die
Geometrie des Ungleichzeitigen so seltsam, daß noch das Dritte
Reich der Nationalsozialisten ebensowohl kleiner wie größer ist
als es selbst; an beiden und nur an beidem, an der Analyse des
Betrugs wie an der Herausführung des Substanzscheins, wird es
auf Dauer, ohne neue Masken, ohne Pseudomorphosen zu­
grunde gehen. Die Gesd1ichte ist nicht bloß Spuk und Keh­
richthaufen, auch nicht bloß Spreu, und alles Korn ist auf der
jeweils letzten Stufe, letzten Tenne bereits heraus: sondern ge­
rade daher, weil so viel Vergangenheit noch nicht zu Ende ge­
worden ist, poltert auch diese durch die Morgendämmerungen
der Neuheit. Die deutsche Walpurgisnacht verschwindet erst
und kommt in keinem neuen Jahr, wenn der erste Mai sie ganz
hell macht; auch bilden sich nMuseen der religiösen Vergangen­
heit« erst wirklich, wenn die echten Reliquien aus ihnen entfernt
sind. Wenn sie dem nHimmel auf Erden« dienen müssen und
den Willen zu ihm wachhalten. In einem anderen Raum als dem
des Opiumdampfs und nicht in keiner Religion, sondern in einer
Religion ohne Lüge.

E R I N N E R U N G : HITLERS GEWALT

April 1914, "Das Tage-Budw, Heft 15

Erst ging man kalt daran vorüber. Zuckte die Ad1sel über das
hämische Pack, das vorkroch. Über die roten Plakate mit den
faselnden Sätzen, aber dem Schlagring dahinter. Was früh mor­
gens grob ans Bett trat, den Paß zu fordern, schlug sich hier als
Partei an. Juden ist der Zutritt zum Saal verboten.
All das konnte wieder zurück sinken. Es war noch zu fremd
und zu wenig tief eingedrungen, das alte München lebte noch.
Hier war die Erbitterung gegen den Krieg am frühsten gereift,
hier war ins Stadtbild seit langem schöne Fremde hineingetragen
und blühte mit, wurde heimisch. Die finstere Erinnerung an
1 9 1 9, an Eisners Tod und den Einmarsch der Weißen konnte
Hitlees Gewalt 161

immerhin nod1 verblassen und die Roheit sich einkapseln, als


wäre sie nicht gewesen. Der geglüd<te Kapp-Putsch, die Ver­
jagung der sozialistischen l'vlinister freilich zeigte von neuem
gekräuselte Luft. Aber auch dieses ließ sich noch als Reaktion
eines Bauernlands, einer Bauernstadt gegen sehr ungeschickte
kommunistische Dilettantismen verstehen. Hitler sdllen dieser
Al<t ein Abgesang; je weiter man sich rein zeitlich von der Räte­
republik entfernte, desto sicherer schien Bayern wieder ins alte
Gesicht zu kommen.
Statt dessen, wie bekannt, wurde das Land von Tag zu Tag
bitterer. Die Bauern, die Stadtbauern, sind hier als Pöbel noch
da, primitiv, suggestibel, gefährlich, unberechenbar. Dieselben
Menschen, welche bei Eisners Begräbnis in zahllosen Trauer­
zügen die Straßen geschwärzt hatten, hetzten die Führer von
gestern in den Tod. Von heute auf morgen wechselten die Fah­
nengeschäfte den Sowjetstern mit dem Hakenkreuz; von heute
auf morgen stellte das Volksgerid1t, von Eisner geschaffen, Le­
vine an die Mauer. Hier schwankt der treulose Pöbel, wie
ihn alle Machthaber verachtet und gebraucht haben, und er
schwankt nidlt nur, sondern gewiß eben zeigte sich die Jagd auf
Tiere und Mensmen als seine eigenste Natur. Das waren nimt
nur verelendPte Kleinbürger, die bald diesem, bald jenem hel­
fenden l'vlittel zulangen, war aum kein organisiertes Proletariat,
nicht einmal relativ organisierbares, bei der Stange haltbares
Lumpenproletariat, sondern durchaus nur Lumpenpack, die
rad1sümtige, kreuzigende Kreatur aller Zeiten. Von der At­
trappe wird sie geblendet, von Studenten im Wichs, von der
Magie der Aufzüge, Paraden und klingendem Spektakel; aber
Votivbilder malt Bayern nimt mehr. Und so zweideutig, ein­
deutig wie der Pöbel sind die Zutreiber beschaffen, oft noch ver­
ächtlimer als dieser. Getaufte ungarische Juden wurden Spitzel
Hitlers, gekaufte »Demokraten« aus dem Material balleaniseher
Journalisten füllten die Reihen. Die echten Thersites und Vansen
wollten nicht fehlen, gaben dem Pöbel sein homogenes Haupt.
Dennoch aber weiß vom Ganzen noch nichts, wer nicht mehr
weiß. Der Fall liegt tiefer, Ekel und Witz sind jetzt nicht mehr
allein richtig. Denn abgetrennt von den scheußlichen Gaffern
und Mittätern glüht im Kern neue Jugend, ein sehr kräftiges
Hitlers Gewalt

Geschlecht. Siebzehnjährige brennen Hitler entgegen. Bier­


studenten von ehemals, öde, im Glück der Bügelfalte schwel­
gend, sind nicht mehr zu erkennen, es hämmert ihr Herz. Der
alte Burschenschafter steht wieder auf, Schills Offiziere wieder­
geboren, finden in Schlageter ihren Bruder, heldische Bünde mit
allen Zeichen irrationaler Verschwörung sammeln sich unter
einem geheimen Licht. Hitler, ihr Führer, hat die Schonung
seiner Richter und diesen possenhaften Prozeß nicht verdient;
aber selbst mit dem Witz Beriner l Rechtsanwälte ist ihm nicht
bei:wkommen, und auch Ludendorff, dies brutal beschränkte
Mannssymbol, lebt nicht auf gleicher Ebene mit ihm. Der Tri­
bun Hitler ist zweifellos eine höchst suggestive Natur, leider um
gar vieles vehementer als die echtenRevolutionäre, die Deutsch­
land 1 91 8 zitiert haben. Der abgematteten Ideologie des Vater­
lands gab er ein fast rätselhaftes Feuer und hat eine neue aggre­
sive Sekte, den Keim zu einer stark religiösen Armee, zu einer
Truppe mit Mythos geschaffen. Nicht daraus auch erklärt sich
die anhaltende Kraft des Hitlerschen Programms, daß hier Be­
freiung von Juden, der Börse, der Zinsknechtschaft des inter­
nationalen Kapitals, von dem vaterlandsfeindlichen internatio­
nalen Marxismus versprochen wird und ähnliche verworrene
Musik für die Ohren des urteilslosen Kleinbürgertums. Sondern
rückt hier die Wirtschaft an die Peripherie und die Staatsgesin­
nung wieder n i s Zentrum, so klingt damit zugleich die Musik
der alten, unbürgerlichen Zucht wieder auf, die säkularisierte
Ethik der Ritterorden.
So ist nicht gering anzuschlagen, wie Hitler die Jugend hat.
Man unterschätze nicht den Gegner, sondern stelle fest, was so
vielen eine psychische Gewalt s i t und sie begeistert. Gewiß aud1
zeigen sich von hier aus mancherlei Zusammenhänge mit dem
Linksradikalismus, solche demagogischer, formaler, wenn auch
nicht inhaltlicher Art. Dem bayrischen Pöbel wurde durch diese
Verwandtschaft (zumeist nur eine Windfängerische Kopie des
Sozialismus, auf primitive Instinkte abgestimmt) der Fahnen­
wechsel erst recht erleichtert. Bei den Kommunisten wie bei den
Nationalsozialisten wird wehrhafte Jugend aufgerufen; hier wie
dort ist der kapitalistisch-parlamentarische Staat verneint, hier
wie dort wird die Diktatur gefordert, die Form des Gehorsams
Hitlers Gewalt

und des Befehls, die Tugend der Entscheidung statt der Feig­
heiten der Bourgeoisie, dieser ewig diskutierenden Klasse. Es ist
vor allem der Typus Hitler und derer, die nach ihm sich bilden,
charakterologisch und formal stark revolutionär. Desto erkenn­
barer freilich auch sind die Ziele und Inhalte dieser Schar, trotz
aller Verworrenheit, nur der völlig gegenrevolutionäre Willens­
ausdruck versinkender Schichten und ihrer Jugend. Schon die
zwanzigtausend Dollar der Nürnberger Industrie zeigen an,
wie hier die Bourgeoisie sich gar nicht bedroht fühlt, wie sie der
neuen, scheinbar kapitalfeindlichen Staatsmystik ohne Schreck
gegenüberste!1t. Engels nannte den Antisemitismus den Sozia­
lismus der dummen Kerls, wobei das nichtjüdische Finanz­
kapital und vor allem das Grundkapital vortrefflich gedeihen.
Der Sozialismus des Kavaliers, der patriarchalisch-reaktionäre
Antikapitalismus, ist ein noch viel größeres Mißverständnis
oder vielmehr ein offener Betrug, um mittels des bloßen Gegen­
satzes zum Finanzkapital den sehr viel größeren Gegensatz zum
Soziaismus
l zu verdecken. Völkisch statt international, roman­
tisch-reaktionäre Staatsmystik statt des sozialistischen Willens
zum Absterben des Staates, Autoritätsglaube statt der in allem
echten Sozialismus latenten letzthinigen Anarchie - dieses sind
unvereinbare Gegensätze des positiven Wollens, stärker als die
scheinbaren Verwandtschaften der Form und der gemeinsamen
Verneinung des Gegenwartsstaats. Othmar Spann, der Öster­
reichische Soziologe, ein kleiner Kopist der Österreichischen
Staatstheologen des Vormärz, suchte dieser Art dem National­
sozialismus seinen Begriff zu schaffen; und was herauskam, war
vom Sozialismus so verschieden wie die romantische Staatsver­
götterung von dem Satz des jungen Engels: »Das Wesen des
Staates wie der Religion ist die Angst der Menschheit vor sich
selber.« Der Untertan rast umher, den der jahrhundertelange
Feudaldruck hergestellt, zurückgelassen hat, und sehnt sid1 als
formales Raubtier in den strengen Stall. Wühlt messianisd1e
Träume auf und pervertiert sie mit feudalen, radikalisiert die
stumpfe Mitte, um sie zu asketischen Rebellen zu machen, und
bezieht die Ideologie der ))Rebellion« von Metternichs Gnaden,
vom Urheber der Karlsbader Beschlüsse und Wachter der Hei­
ligen Allianz.
Hitlees Gewalt

Wohin also wird diese Unruhe noch treiben? Dreierlei trennt ·

sich ab, gesondert zu betrachten, und ja auch bereits mit sehr


versduedenem Tonfall behandelt. Unten treibt das kleinbürger­
liche Pack, wie es von Rot zu Weiß überlief und sich gern so
hämisdl wie begriffslos hetzen läßt. Darüber steht der Stoßtrupp
Hitlers und seiner Offiziere, gute kräftige Jugend, roh und von
dem sdleußlichen Hintergrund der Nachläufer infiziert, aber im
ganzen reinen Willens. Von der Börsenzeit, der Depression des
verlorenen Krieges, der Ideallosigkeit dieser stumpfen Republik
angeekelt. Hitler selbst hat hier in der bürgerlichen Jugend eine
durchaus unbürgerliche Bewegung entzündet oder wenigstens
angeblasen, eine gewisse asketische Energie geformt, die sich
immerhin vom Stumpfsinn der ersten deutschen Kriegsbegeiste­
rung, auch vom Oberlehrerpathos der gewesenen Vaterlands­
partei um einige Grade untersdleidet. Sehr verräterisch aber ist
zum Dritten wiederum die nationalsozialistische Ideologie und
Praxis. Sie sucht den Bourgeois durch den Ritter zu vertreiben
und erlangt nicht mehr, als daß sich der Bourgeois durch die
jungen Ritter erst recht geschützt und konserviert fühlt. Und
audl der Ritter selbst - er ist zwar menschlicher als der Bour­
geois, aber zur Zeit noch unwirklicher als dieser, noch abstrakter
und noch unklarer den Durd1bruch in die Wirklichkeit verhin­
dernd. Hitler, Hitlerismus, Faseismus ist die Ekstase bürgerlicher
Jugend: dieser Widerspruch zwischen Kraft und Bourgeoisie,
zwischen Ekstase und dem leblosesten Nationalismus macht die
Bewegung zum Spuk. Der wird nicht realer durch die mitge­
führten feudalen Gespenster, durch die Allianz von kräftig
gegenwärtiger Begeisterung mit längst versunkenen Ritter­
träumen oder altgermanisd1em Volkskönigsturn aus dem X.
Jahrhundert. Immerhin trägt die Hitlerjugend zur Zeit die ein­
zige ))revolutionäre« Bewegung in Deutschland, nachdem das
Proletariat durch die mehrheitssozialistischen Führer um seine
eigene, um die einzig gültige, widerspmchsfreie Revolution ge..:
bracht worden ist. Ein Teil des Faseismus in DeutsdUand ist
gleichsam der schiefe Statthalter der Revolution, ein Ausdruck·
dessen, daß die soziale Lage auf keinen Fall statisch ist. Die
ernten Volkstribunen aber fehlen oder bewähren für sim das
kluge Wort Babels: Die Banalität ist die Gegenrevolution.
SCHLUSSFORM

ROMANTISCHE HAKENBILDUNG

Was schal wird, geht auch leicht über. Wir meinen nicht nur die
Menschen, deren die Nazis ohnedies unsicher sind. Mißtrauische
Bauern, gekaperte Arbeiter, kurz, fascistische Fremdkörper so­
wieso. Diese Gruppen sind bereits unmittelbar anfällig, nur
nicht ganz so erwacht, wie sie das rufen. Werden sie von selbst
nicht rot, so bleiben sie, hungernden Magens, auch nicht braun.
Aber bereits, was an diesen träumt, ist zweiseitig. Zeigt
Sprünge, Stellen des Absprungs im »Geist« der Nazis selbst.
Einige dieser Widersprüche erschienen bereits: als solche des
»Dritten Reichs<< im Bürgertum, als solche echter »Ungleich­
zeitigkeit« schlechthin. Die folgenden Partien nun möchten in
mehreren anders üblichen Prämien des romantischen Gemüts,
vom Märchen bis zur Kolportage, ja, vom mancherlei ))Okkul­
tismus« bis zum Lebensmythos, gewisse Haken zeigen; Haken
ungereinigter Widersprüche zur bestehenden Welt, nicht nur
der Bindung an diese. Es gibt hier Phantasieweisen der »Pueri­
len« wie des ))Mythizistisd1en« , welche dem Nationalsozialis­
mus sich scheinbar leicht verbinden und dem Muff dennoch
suspekt, der häuslichen Wildheit zweideutig sind.
Denn die Flamme, welche in diesem Herd brennt, sieht sich
ebenso, mit langen Hälsen, nadl allen Seiten um. Auch als man
noch nicht entdeckt hatte, daß der Jude immer nomadenhart
sei und der Deutsche immer eine Wurzel, zogen Gesellen in die
Ferne, um später erst daheim zu sein. Selbst der Wandervogel,
ein heute so billiges Wesen, war einmal beste Jugend und nicht
so eingesessen wie die Alten; er zog den alten Volksliedern nach,
die er sang, und war ein Teil ihrer Unruhe, bevor er Schned{en­
frisur geworden ist. Bringen singende Erwerbslose ( die man
zwingt, romantisch zu sein) heute den wurzellosen Schlager
166 Die bunte Flucht

wieder aufs deutsche Volkslied zurück: so war doch gerade


dieses Volkslied schweifend und schwärmend wie keines, und
heimattreu derart, daß ihm nichts zu Hause schon Heimat genug
geworden war. So folgte der deutsche Geselle dem deutschen
Märchen nach, das in die weite Welt zieht, ins rebellisch Unbe­
kannte, in die Befreiung vom Druck, um das Glück zu finden.
Einen Haken hat die kindliche Flucht, hat die jugendliche Kol­
portage, einen anderen der kuriose Okkultismus, einen beson­
ders dialektischen die sogenannte Lebensphilosophie. Alle diese
sind dem stockig-autarken Zweck solcher n Volksnähe« oder
nlrrationalität« nicht günstig. Greifen die Hal<enbildungen auch
in den Schlamm nicht ein und lassen ihn durchaus unter sich: so
ziehen sie doch manchen Fisch ans Land, der nicht ins fasci­
stische Brackwasser gehört, auch manche Piratenkiste, die erst
die Vernunft öffnet und erbt. Benjamin bereits gab dazu Finger­
zeige; auch die »Spuren« haben gelehrt, was es mit Stoff neben­
bei, mit allerhand kleinen Geschichten, Märchen und Items an
Wundern des Teiches auf sich hat. Die Berauschung gescllieht
nur um der Lüge willen; dod1 der J alu·markt in ihr, die Glücks­
Kolportage, der Gang zu den »Anfängen des Lebens«, gar der
Waldrausch, Meerrausm des Pan tragen, wider die Absicht, rebel­
lische Zeichen. Das Märchen will heraus aus der völkischen Sage,
wohin es gebannt wird; Utopie des ersten nAnfangs« will heraus
aJJS dem Archaischen bloßer ,, Urzeit« .Welche entweder rettungs­
los vergangen und verschollen ist oder aber Einkapselung abge­
brochener, ungewordener Gehalte . Und die bleibendeBedeutung
dieser romantisch bezeichneten Gehalte enthüllt sich nicht selbst
romantisch, sondern nur aus der Intention des Ungewordenen,
noch nicht Gewordenen, kurz, nicht aus der gehaltenen Vergan­
genheit, sondern aus dem eingehaltenenWeg der Zukunft.

D I E BUNTE FLUCHT

Schon atmend gehen wir ein tmd aus. Im ersten bleibt man hier,
im anderen ist bereits ein Gang. Man zieht, schwimmend, die
Luft ein, während man ruht, stößt sie von sich, sobald man vor­
wärtsschießt. All das läuft in beiden Zügen hin und her.
Die bunte Flucht

Mit dem Saugen freilich fängt es an. Pftanzenhaft, ein Kind


steckt noch ganz im Haus. Aber wird es älter und hat es scheinbar
i geträumter Ferne. Und die meisten
keine Wahl, so sucht es sie, n
Kinder, weinen sie, so über ihre Eltern, über den Ort, wo sie
sind. Dessen Nähe ist nur selten die eigene, und schöne Weite
lockt früh.
In dieser Weite lebt noch das Nächste und zieht mit sich fort.
Sobald das scheinbar so häuslid1e Kind sid1 umsieht, ist es bereits
anderswo. Der Boden ist rutschender Sand, worauf es kriemt.
Die Fuge zwismen den Brettern, die Ritze zwischen Boden und
Wand ist vielverspredJ.end wie später keine Felshöhle. Versteck­
tes Osterei verstärkt die zahllosen Verstecke, woraus die elter­
ime
t Wohnung besteht und wohin das Kind sich wenigstens mit
den Augen flüchtet. Zugleim aber treibt das Suchen den Jagd­
hund im Kind an und einen, der die Beute nimt zurückbringt.
Aum das Sammeln ist keines des engen Im oder des in sim selbst
verliebten Geizes, sondern begleitet gerade die Flucht und unter­
stützt sie. Klid<er, Marmeln, Briefmarken werden hergeholt,
weil sie zu sich hinholen; Abziehbilder zeigen ihre unerwartete,
sehr erwartete andere Seite und werden deshalb geliebt. Nur
durd1 eine dünne Wasserhaut ist die Ferne hier getrennt, ist der
Eselskarren vorn und dahinter die Tanne mit dem Vogel, oder
die Familie beim Nachtessen und dahinter der feuerspeiende
Berg. Aus Muscheln rauscht seit alters das Meer, Silberpapier
leuchtet von seiner Küste, und das Kind glaubt sich daheim nicht
mehr gesehen, wenn es die Augen schließt. Ist diese Ferne eine
alte und liegt sie in Primitive, wie das Kind selbst, so ist sie dod1
im gleichen Zug eine weite. Das spielende Kind fährt nicht nur
in jener Welt umher, die dem Erwachsenen längst vergangen ist,
und die er bloß im Schlaf, mit der Schutzdecke des Schlafs
wieder erreicht, sondern Schreck und Zauber dieser Welt sind
ebenso entführend, exotism, ja, voll Hoffnung. Auch das sin­
kende Graben unter dem Hier und Jetzt fliegt ins Weite oder
enthält diesen Flug. Zwar wird bürgerlid1en Kindern stets die
Angst vor dem genährt, was sie ))rauben « könnte; ein Lied etwa
singt sie in Schlaf, ein merkwürdiges Lied vom Hündlein, das
den Mann gebissen habe und des Bettlers Rock zerrissen.
Doch der Bettler, den sie fürchten oder fürchten sollen, dessen
168 über Märchen, Kolportage und Sage

zerrissener Rock in Sicherheit wiegt, ist ihnen gar nicht der Arme
vor der Tür. Er ist innerhalb ihrer, als der Erwachsene in einer
oder mehreren Personen, wogegen das Kind sich wehrt, auch wo
es ihn liebt. Nun ••gehört11 das Kind den Eltern nidlt mehr, ist
unter seinesgleid1en und ihrem Traum. Der hat viele Gesichter,
gute und böse, das stockende eben ist unter den guten nicht.

ÜBER MÄRCHEN, KOLPORTAGE U N D SAGE

Der Däumling

Was ein Kind hört, lebt an ihm selbst. Sein Saugen wird anders,
wenn es am Buch gesmieht. Trotz wird frei und nur dasjenige
gespürt oder geliebt, was ihn unterwegs zeigt. Je bunter er her­
vorkommt und alles gutmacht, desto mehr sagt das Kind zu
allem Ja. Immer zieht die Sucht vor, um aud1 sim zu retten.
Die Hörer wandern mit, finden das Ihre träumend. Lesen
Märmen, voll kleiner und bunter Menschen wie sie. Oft waren
diese aus gutem Haus gegangen, öfter war alles so arm und
elend, daß man sich dareinfand, wenn der Rückweg abhanden
kam. Hänsel nimmt Gretel, Gretel nimmt Hänsel im Märchen,
nimt nur im Märmen an der Hand. Finden sie freilim ein neues
Haus, so wohnt die Hexe darin, sperrt wieder ein und brennt.
Andere Hexen befehlen dem Mädmen, das bei ihnen unter­
kommt, zu spinnen, Garn in einer Namt zu spinnen, das in
Jahren nimt zu bewältigen wäre. Die Angst ohne Ausweg ist in
diesem Bild märdlenhaft enthalten und gemeint; so wirkt aum
in der Fremde das Haus als Gefängnis, ja, als völlig ausgebro­
chene Gewalt des Banns. Aber sonderbar geht eben im Mär­
chen die Kraft des Auswegs wieder an, schwach und listig, stark
durch List, die versteht, das Böse zu betrügen, und hat das Recht
dazu. Hänsmen steckt der Hexe ein Hölzd1en durchs Gitter, so
daß sie glaubt, es sei sein dürrer Finger. Oder der arme Soldat
bohrt ein Loch in den Stiefel, den der Teufel mit Gold füllen
sollte, und stellt ihn über eine Grube: also muß der Böse bis zum
Hahnenschrei Gold sdlütten, ohne daß der Stiefel voll wird;
Die Silberbüchse VVinnetous

aber der Soldat sackt ein, und der Teufel fährt ab ohne dessen
Seele. Derart sind diese Märchen der Aufstand des kleinen Men­
schen gegen die mythischen Mächte, sie sind die Vernunft Däum­
lings gegen den Riesen. Erstes schweifendes Wesen schlägt hier
Raum für ein anderes Leben als das, wohin man hineingeboren
oder, gebannt, hineingeraten war. Statt Geschid< beginnt eine
Geschichte, Aschenbrödel wird Prinzessin, das tapfere Schnei­
derlein holt die Königstod1ter. Wo das geschieht, steht dahin,
es sd1webt ebenso wie die Zeit, worin der Triumph gesd1ehen
wird. Wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch; da
kein Kind den Tod versteht (Totsein heißt ihnen Verschwun­
densein, Abgereistsein), so leben die Glücklichen des Märchens
immerfort, nachdem sie glücklich geworden sind. Es war einmal:
das ist zwar ganz in der Nähe, aber in der der Kinder, also ist es
ebenso berauschend wie landfremd.

Die Silberbüchse Winnetous


Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, 3 1 . März 19z9

Auch was Knaben gern lesen, gerät ihnen gut. Faules, Gemadl­
tes, verlogene Gefühle haben da keinen Platz. Erscheinen sie in
kleineren Mengen, so werden sie nidlt wahrgenommen. Er­
scheinen sie in größeren, so liest die Klasse das Buch nicht fort.
Obwohl Karl May nie tat, was er von sich erzählt, nie dort war,
wo er jeden Straucll zu kennen vorgibt, findet ihn noch jeder
Junge rid1tig. Also muß an der Lüge etwas dran sein, nämlidl
der echte Wunsch nach Ferne, den sie erfüllt.
Nidlt immer gingen die grünen Bände so ungehindert um.
Zwar konnten Autos den edlen Pferden nicllts antun, Rih, dem
\Vind, Hatatitla, dem Blitz. Neben Tanks und Flugzeug steht
der Bärentäter unbewegt, so schwer, daß ihn nur Old Shatter­
hand heben kann; der Henrystutzen bleibt ein Wunder, mit
fünfundzwanzig Sdluß, denn er ist ein Traumgewehr . Aber es
läßt sicll nicht versdlweigen: als Träume schlecht im Kurs stan­
den, vor dreißig Jahren, wurde Karl May angesmossen. So be­
waffnet er war; und die Kanone stand in der »Frankfurter Zei­
tung«. Old Shatterhand flog auf, an Stelle seiner märchenhaften
Biographie trat der Polizeiberidlt. Karl May: ein Proletarier
Uber Mä�dlen, Kolportage und Sage

ohne Vorbildung, ein Lügner, der nie bei Indianern und Ara�
bero war, ein Verbrecher, der schon als Vierzehnjähriger mit
den Gesetzen der Feuerwehr in Konflikt kam. Ein entlassener
Zuchthäusler, ein Protestant, der katholische Geschäfte macht,
mit dem Kreuz in der Blutlache. Die Provinzpresse druckte das
nach, die Eltern packte das gebildete Grausen, die Abenteuer
verschwanden vom Weihnad1tstisch, die Welt wurde eng, die
Puritaner der Zeitung hatten den Shakespeare der Jungens be�
siegt. Obwohl das Verdikt längst verjährt ist, laufen seine Kate�
gorien noch in der Welt. Karl May gilt als anri.idlige Sache,
höchstens als UHrnummer ohne literarischen Wert. In den letz­
ten Auseinandersetzungen über Schmutz undSchund zeigte sich:
Rudolf Herzog bleibt ex lex, Karl May nicht.
Hier ist vor Jahren Unred1t geschehen, züchtig und unwis­
send. Bei Karl May werden Verbrechen oft am Ort wieder gutge­
macht, wo sie gesd1ahen. So wird hier in der gleichen Zeitung, an
erhobener Stelle, in veränderter Zeit, festgestellt: Karl May ist
einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der ,
beste schlechthin, wäre er kein armer, verwirrter Prolet gewe�
scn. Der Schuß, den die Wohlgesinnten damals abfeuerten, geht
umgekehrt, auf die Gesellsd1aft selbst. Beispiellos, wie dieser
Zuchthäusler zum Schriftsteller wurde; schon in der Zelle be�
gann er zu sdueiben: »Geographische Predigten« - Abenteuer
und Besserungswille, mit so leichter und frischer Hand. Karl
May ist aus dem Geschlecht von Wilhelm Hau:ff; nur mit mehr
Handlung, er schreibt keine blumigen Träume, sondern Wild�
träume, gleichsam reißende Märchen.
Die Knaben lesen über sein Schlechtes leid1t hinaus, weil die
Spannung hilft. Gerade ist der Held an eirien Baum gebunden,
der Führer der Feinde kommandiert »Feuer! « - und Seiten
schlägt man vor, um zu sehen, ob Karl May überhaupt
noch lebt, dasselbe Ich, das all dies doch erst gesduieben haben
mußte. Das Geschriebene verschwindet, so vorzüglich und rein
ist die Fremde nah. Oder die Spannung im ersten Band, ganz
rein aus dem Traum: Kara ben Nemsi kriecht durch einen Gang,
das geraubte Mädchen aus dem Palast zu befreien. Der Gang
wird zum Kanal, Schwimmen, Waten, faules Wasser, das schon
über die Augen geht, endlich Ausgang in den Hof, Kara ben
Die Silberbüchse Winnetous 171

Nemsi taucht auf - und schlägt mit der Stirn an ein Gitter, das
die Zisterne verschließt. Wie nun der Held das Gitter zertrüm­
mert, mit dem Kopf im Wasser und halb erstickt hochkommt,
eine Kugel pfeift um seinen Kopf: - die Handlung ist wie ein
Angsttraum, aus dem man sich nicht herausfindet, oder wie eine
Rettung, die man nicht müde wird, hundertmal zu hören. Echte
Kolportage läßt sich immer wieder lesen, weil man sie vergißt
wie Träume und weil sie dieselbe Spannung hat. Aber auch tech­
nisch ist vieles vortrefflich (ohne »aufzuwachen«, ohne aus Kol­
portage erwachsene Literatur zu werden ). Das Haus des
Schmieds in den »Schluchten des Balkan«: im Finstern kann man
alles greifen, bis in den Keller hinunter, wo der Schmied und
sein Weib gebunden unter Kohlen liegen. Die Exposition des
»Rio de La Plata« : mit der Straße von Montevideo, dem Ver­
folger, dem alten Orgelspieler, den Teesammlern, dem Pakt, in
den Urwald zu ziehen und dem unheimlichen Umschlag, der aus
Freunden Feinde macht, die ganze Exposition umdreht. über­
haupt das schluchtig oder gassenhaft Unheimliche, Basarhafte
ist ein Neues, das Karl May in die Indianergeschichte gebracht
hat; oder vielmehr, alle Reize der Indianergeschichte trug er n
i
den Orient, wo nicht bloß das Abenteuet der Fremde, sondern
auch ihr Geheimnis ist. Wmnetou hat nur die freie Prärie für
sich, alles frei und offen, Schleichen nur durch Gras, Wald, selten
die Stadt oder überfälle auf den Expreß, der die Stadt her­
bringt; einfache Sprache, in Spät-Cooperschem Papierdeutsch:
»Mitternacht ist längst vorüber und ehe noch der Morgen graut,
müssen die Yumas umzingelt sein.« Jedoch die Orientbücher
sind gesprenkelt mit den Merkmalen des städtisc.,en Fernge­
heimnisses, kurz, mit den tieferen Traumelementen der Kolpor­
tage, jenseits ihres ersten Merkmals: der Abenteuerlust und
Freizügigkeit. Abenteuerlust und Traumangst hier, Traumglanz
dort sind die Elemente der Kolportage des XIX. Jahrhunderts;
sehr zum Unterschied von den seßhaften Kalendergeschichten,
mit denen sich die Unerwachsenen oder Ausgesperrten vorher
die Zeit vertrieben hatten. Nirgends sind die Spannungen dieser
sehr dynamischen Literaturgattung stärker zu finden als bei
Karl May, selten vollständiger. (Das Erotische ausgenommen,
das der Westmann nicht braucht, der Orientfahrer nicht haben
172 Über Märchen, Kolportage und Sage

will, im Zölibat seines Muts.) Und das »Christentum« ? so etwas


merkt ein Gescheiter gar nicht, wenigstens in den Orientbänden
nicht, wo ihm der Islam lieber ist. Oder das Christentum ist ein
Stilmittel, das den Verbrecher immer wieder laufen läßt, sobald
man ihn hat, sobald also die Handlung zu Ende sein müßte; seine
Harmonie ist die Dissonanz, die den Traumstoff treibt.
Fabelhaft gesund ist alles, weite Fahrten und Luft. Ein sehn­
süchtiger Spießbürger, der selbst ein Junge war, duro.1stieß den
Muff seiner Zeit. Er kolportierte nicht die romantischen Ideale
des Bürgertums (feine Leute, Salonglanz), auch nicht die Rit­
tergeschichten aus dem Biedermeier. Sondern er kolportierte
nochmals den Indianerroman aus der Zeit Coopers, der revolu­
tionären Ideale ( als die Wilden noch bessere Menschen waren).
Der Flitter des Jahrmarkts kam hinzu, der echte Budenorient,
wie er zur Kolportage gehört, damit sich die Freizügigkeit nicht
in kruder Natur erschöpfe, sondern färbt und in Traumschichten
spiegelt. Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unter­
drückten Kreatur, die großes Leben haben will. Erst in den spä­
teren Büchern wurde Karl May verschroben und privat, die
Naivität war hin und er symbolisierte. Der Traum stieg aus der
Krankheit, deren Welt mit der der Jugend nicht mehr gemein­
sam war. Die Abenteuerlust fabulierte nicht mehr aus den vier
Wanden heraus, sondern Minderwertigkeitsgefühle, ja Schuld­
gefühle überkompensierten sich. Karl May wurde offenbar psy­
chotisch, übergoß mit Bedeutungen aus billigem Fett, selbst die
Pferde mußten dazu herhalten, sinnbildlich zu sein. Halef Had­
schi Omar wurde zur »Leibseele« vertieft, Old Shatterhand (der
doch schlimmstenfalls ein unschädlicher Wilhelm II. war) zum
»Menschheits-Ich « . Die schöne Sd1miede, wo sonst Sklavenjäger
und Mädchenräuber hielten, wurde zur »Geistersd1miede« zwi­
smen »Ardistan und Dschinnistan«, zwischen Diesseits und Jen­
seits. Freunde haben Karl May kurz vor seinem Tode besucht;
sowohl um die Silberbümse Winnetous zu sehen (die es wirk­
lid1 gibt), als um Karl May auf den alten Wegen zu treffen, der
Prärie, dem Traum-Stambul. Vergebens, Karl May war ein
kranker Mann, seine Reiseerzählungen sah er als »Aerostaten«
an, der gleichnishaft »Um den Dschebel Mara Durimeh und den
Mount Winnetou zu kreisen habe«; Mara Durimeh aber war
Traumscbein, Jahrmarkt ond Kolportage 173

eine alte Nestorianerin, die schon in Kurdistan jeden Jungen


langweilt. Die letzten Büdler sind also verloren, ungefähr vom
»Reich des Silbernen Löwen« ab; desto klarer bleiben die ande­
ren: Reiseerzählungen konkreter Phantasie, die jeden Baedeker
kreuzen. Sie sind genau der Jugendtraum von Ferne, ein trans­
ponierter Jahrmarkt, der Orient als Landschaft des Jahrmarkts,
der wilden und geheimnisvollen Buden. Die Orienterzählungen
sind besser als die indianisdlen, weldle dafür bekannter sind.
Beide wären nur dort zu l<ürzen, wo Kara ben Nemsi hier, Old
Shatterhand dort nicht schläft, wo er aus dem Traum fällt. Be­
rausdlung des Traums ist Karl May wie alle Kolportage, Berau­
schung gewiß aus Blut, dodl ebenso aus Ferne: womit der dop­
pelsinnige Fluß aud1 hier ersd1eint, der dialektisdle Fluß, der
auch durdl den See der Kolportage fließt. Nidlt um ihn zu
predigen, durdlstieß Karl May den heimisdlen Muff seiner
Zeit; und zweischneidig wie ein malaiischer Kris ist die unterdes
wieder so verbreitete, ertüdltigte, ))arisdl« ausgewertete Hel­
denlektüre. Ist audl Old Shatterhand nidlt das »Menschheits­
Im«, wozu ihn Kar! May zuletzt erhöht hatte, so ist er erst recht
nicht die Autarl<ie und Winnetou, sein roter Bruder, nicht der
Rassenhaß. Nur widerwillig kann Kolportage nach Hause ab­
gebogen werden, um aus dem Ferntraum, der sie ist, zu Deutsch­
land zu erwachen, nämlid1 zu einem Deutschland derStockigkeit
unter sich. Der Rappe Rih ist kein Militärpferd, sondern ein
Geschenk des arabischen Smeiks Mohammed Emin, und er
reitet ins Morgenland, nicht nam Samsen.

Traumschein, 'Jahrmarkt und Kolportage

\Vas um sie nidlt wums, schmeckt Knaben überall desto besser.


Jeder träumt die Taten seiner bunten Helden, während er sie
liest, und vergißt sie einige Zeit nadl dem Erwamen. Dabei
kann dem Leser der Kolportage sogar das Bewußtsein fehlen,
daß er liest, genau wie dem Träumenden, daß er träumt. Mehr­
mals läßt sich ein solches Buch lesen und ist immer wieder ver­
gessen. Will sagen, immer wieder unbewußt vermählt und dem
Gespannten am Tag so neu wie ein Bild, das einmal schreckte
oder aber in längst vergangenem Kielwasser nacbglänzt. Sieht
1 74 Ober Märchen, Kolportage und Sage

man doch keine wirklichen Menschen, sondern derengewünschte


Abenteuer, offen erzählt.
Ein gleich offenes Stück, genau gehört es hierher, ist der Jahr­
markt selbst heute. Durch technischen Kitsch verfälscht zieht
immer noch liebliches Geläute. Auch er führt für Jugend und
»Volk« Süden her, orientalische Farbe dazu, und ist ein Abbild
der Kolportage. Wovon jede Erinnerung zeugt, jeder erneute
Gang durch die kindliche, uralte, medizinische, kriminelle, exoti­
sdle Rausdlwelt. Beginnt sie nicht sogleich gewürzt, für Nase,
Ohr und Auge zugleich? Die Waffeln duften, Zuckerstangen lie­
gen vielfarbig in ihren Mulden, zähe süße Schlangen hängen in sie
herab. Kokosnuß liegt geschnitten auf dem Teller, rote und grüne
Limonade ist aus farbigen Fläschchen zu saugen, als wäre sie
verboten. Gezuckertes amerikanisches Maisbrot wird in einem
kleinen Drahtgestell gar, das über der Spiritusflamme hin- und
herschwingt; Tiroler Alpenbrot türmt sich empor, braun, würf­
lig, leicht wurmstidlig und porös. Der kleine Affe auf der Stange
schultert den Degen oder sd1ießt; müde und friedlich, still auf
gerettetem Boot, sitzt der alte einarmige Bergmann neben sei­
nem schwarz ausgeschlagenen Schrank, und wie er dreht, bewe­
gen sich die winzigen Puppen im Kohlenbergwerk, die Glocke
klingt, der Förderkorb steigt, die winzigen Wagen rollen herbei
und das Geheimnis der gefährlichen Tiefe liegt am Licht.
Freundliche Brezelmänner durchteilen mit ihren Körben die
Menge; kalte verdrossene Hausierer stehen fest umher, um den
Hals den Kasten voll blauer Zwicker, schreiender Beutel und
Schweine zum Aufblasen, auf- und niedertanzender Indianer,
kitzelnder Pfauenfedern für Erwachsene, hölzerner Scheren­
griffe, die, zusammengeklappt, diagonale Hölzer in die Luft
treiben, mit zitternden Schmetterlingen am Ende. Zwischen
Luftballons zieht noch der große Götzendiener einher, den
Dudelsack wie einen Leichnam vor sich, worin es singt, auf dem
Rücken die Riesentrommel mit Triangel, weldle er vom Ellbo­
gen und der Ferse her gleichzeitig betreibt, auf dem Kopf aber
sitzt ihm ein ruhelos geschüttelter Glockenbaum: der Südwind,
die Südsee, welche an hundert Glocken schellt. Die Zigeunerin
sammelt, und die Italienerinnen halten Käfige mit Wellensitti­
chen im Arm, welche Glücksbriefe ziehen, der BologneserTeufel
Traumschein, Jahrmarkt und Kolportage 1 75

tanzt in seinem Glas auf und nieder, und auch er weiß die
Zukunft voraus, an einem unscheinbaren Tisch daneben hängen
kleine Schläuche nieder, die man in die Ohren stecken kann, das
Ganze sieht halb nach Schuhlitze, halb nach Tmtenfi.sch aus, da
dreht sich die Walze, und man hört, unendlich fern, den Aufzug
der Schloßwache in Berlin. Doch immer wieder schreit der
wahre Jakob gewaltig dazwisd1en, auf hohen Brettern nicht
fern von Laucks Waffelbude und dem recht versteckten Kasperl­
theater in der Hafenstraße; dem wahren Jakob aber zu Füßen
breiten sich aus, schichten sieb. hoch die Posten Makkohemden
und Unterhosen, die Schnupftücher, Bleistiftbündel, Notiz­
bücher, Hosemräger, Wamstuchdecken und Fleckenwasser, es
blitzen die Tombakketten mit Berlocke zur Dreingabe. Alte
dunkle Reime sagt er vor von Kain und Abel, auf der Wachs­
tuchdecke aber sind Adam und Eva zu sehen samt dem ganzen
Paradies, und würzige Bilder stehlen sich den Weibern, Bauern,
Schiffern, den berußten Hemshöfern, den Mützenmännern aus
dem Rheintal und der Gräfenau ins Herz. Das alles ist erst Vor­
hof oder Pylonenreihe der Budenstadt, ja: der Schiffsstadt, die
vor Anker gefahren ist und exotisches Apriori ausladet (dem
nichts mehr oder noch nid1ts entspricht). Im Innern aber leben
die »Schred{en des Orinoko«, mit Muschelgeheul und Meer­
weibchen im Schiffsrumpf, daneben »Seltene Menschen und ihre
Kunst«: Cowboys nicht nur und Einwerfen der Dame mit Mes­
sern vom Kopf bis zu den Füßen, auch Hermaphroditen und
ägyptische Goldweiber, lebende Aquarien, letzte Azteken und
Männer, welche sich in ihr Riesengedäd1tnis versenken. Re­
gungslos murmelt Madame Lenormant als Puppe hinter Glas,
doch einen Schritt weiter und Schichtls Zaubertheater folgt ihr
nach, der Doktor Faust ist nicht vergessen, das 11Treiben der
alten Brahmanen und Ägypter in ihren Tempeln und Extra­
hallen« . Weiß im Mantel steht Doktor Faust ( aud1 Dr. Arehi­
rnedes seit manchem Jahr), zaubert Blumen aus Straußeneiern,
bannt Schlangen zurück in die klappernden Truhen, welche
durch die Lüfte fahren. Samiel schwebt als rotes Gesicht durch
den kohlsd1warzen Raum: die Musik gibt soeben das letzte Zei­
chen, und Magneta erscheint, die entflohene ndiscll
i e Harems­
prinzessin als Königin der Luft. Es ist entführender Zauber
über Märchen, Kolportage und Sage

ohnegleichen, zweimal im Jahr schlug das geheime Mittelalter.


seinen Mantel zurüd{; dies Leben drang an mit der Miene eines
Gastgebers, der sich auf Kitsch und Grauen, auf Schreck der
Anatomie und Lüsternheit des Scheins, jedenfalls auf Überfluß
versteht. So ist der Jahrmarkt, so macht sein billiges, sein über­
fließendes Traumschiff auf den staubigen Plätzen fest. Noch
steht die eigentümliche Schönheit von Schießbudendamen vor
den Abendtempeln (mit Schminke, die sich als solche gibt, und
Augen wie emailliert); die Schönheit des Marsmädchens Adruide,
man muß sie enthüllt gesehen haben, wie sie das Bild hier draußen
zeigt, Adruide ist wild und jähzornig, wird darum gefesselt vor­
geführt, Adruide ist die originellste lebende Reproduktion des
Jahrhunderts. Barbarisch geht der Traum- und Vorhanggötze
über den Platz; Ordtestrions wirbeln die Fetzen zusammen, und
der Äquator zieht durch den eigenen Leib. Die Trompeten zwar,
welche Musikanten vor mancher Bude blasen: hemdsärmelig,
mit offenen Westen, dem steifen Hut auf dem Backenkopf, -
sind Dorf geblieben, Musik des dörflichen Biers. Und doch ist
lehrreich, in veränderter Zeit, in den Zeiten abnehmender, ja,
verschwindender bäuerlicher Folklore: je mehr Proleten gerade
eine Stadt hat, desto weniger ist dieser Volkszauber verschwun­
den, desto greller sehen seine Meßplätze aus, desto lebhafter ist
alte Folklore gerade in eine neue umgesetzt. Das Orchestrion
hat die Drehorgel schon lange vermehrt, nicht verloren, der
Jazz ist gerade wegen seiner Exotik, wegen der Primitive in
dieser Exotik dem Ländler näher, als die Nationalsozialisten
glauben (welche den Ländler nur als Salonstück kennen); selbst
die Elektrizität hat den Karussells nicht geschadet, sie vielmehr
aus einer ganz anderen Masse befeuert. Hier eben arbeitete
schon von Anfang an jener Doppelsinn von Folklore, welcher
heimische Sitte und städtisch abgestoßene Wunderschau zusam­
men erträgt; die dörfliche Kirchweih war die Bauernstadt (so­
gar die exotische ), der städtische Jahrmarkt macht Stadtbauern.
Und das XIX. Jahrhundert gab außer der Mechanik noch eige­
nen Schwulst hinzu: es brachte seine Litzen und Glasperlen, das
Ornament als Roheit und Gebrüll, die Musik als Kolportage,
das Lachgas des Orientalischen Irrgartens, die Paradoxien eines
Dampfkarussells in Barock (die nur hier eben keine sind); kurz,
Traumschein, Jahrmarkt und Kolportage 177

alle Traum-Montage des rätselhaften Jahrhunderts kam hier


lange vor dem Surrealismus nad1 Hause. Ein »Blauer Reiter«
mit dem Index Großstadt statt bayrismer Glasbilder hätte in die­
ser Welt ))Expressives« nod1 einmal; er hätte heimisme Südsee
aum hier, Wamsfiguren und die langgezogenen Wamsfiguren
der medJ.anischen Musik. Jahrmarkt wie Kolportage bewahren
derart entsd1eidende Kategorien verzerrt, die das bürgerlich­
gebildete \Vesen längst verloren hat; sie bewahren vor allem
Seinwollen wie das fehlende Leben, wie buntes Glück. Selten ist
))Barbarei« dem Juste milieu (das der Nationalsozialismus aus
ihr doch wiederherstellen will) so wenig günstig. Kolportage
aber, zu der jede Jahrmarktsstraße zurückkehrt, ist als Lektüre,
was der Marktzauber zum Teil optisch war. Sie ist, in ihren
Spannungen und Lösungen, orientalischer Irrgarten, entflohene
indisme Haremsprinzessin zugleich.
Auch dem Leser dieser Dinge ist daher nur wimtig, sich fort
zu träumen. Kaum nimmt er die Sprame wahr, worin Packendes
dom erst gesagt werden muß. Wie die Straße sich unmittelbar
in den Jahrmarkt hineinzieht, so sind auch die geschriebenen
Buden für Passanten da. Was »guten« Büchern so wesentlich ist:
gestaltet zu sein, keinen Stoff ohne Formung darzubieten, das
fällt an Kolportage ohne weiteres aus. Was vor »guten« Büchern
den Dummkopf, mindestens Laien kennzeidmet: Sprame und
Aufbau nid1t wahrzunehmen, diese selbe Unmittelbarkeit macht
vor Kolportage den Kenner. Die literarisme Unbildung der
meisten deutschen Kleinbürger (sie mögen lesen, so viel und so
lange sie wollen) ist derart mit der Frisdle nidlt verwechselbar,
die Jugend und »Volk« der Kolportage entgegenbringen. Nur
dann, wenn diese erwacht, wenn sie statt erzählter Spannungen
und Wunschphantasien wirklimes Leben zu herabgesetztem
Preis dichten will, entsteht verluderte Sprache statt überhaupt
keiner Sprache, Klischee der gleidlen Situationen statt Arabeske
der gleidlen Motive, kleinbürgerliche Moral statt des Glücks­
wegs durchNamt zumLidlt; nur dann entstehen »innere« Men­
sd1en aus Papier statt der hier einzig legitimen aus rasender
Handlung. Selbst wo Smund in einem dieser Büdler überwiegt,
ist er nebensämlidl; wogegen er substanziell gerade in der klein­
bürgerlidlen Warnliteratur zu Hause ist, in der Lektüre jener,
über Märchen, Kolportage und Sage

die aus ebensoviel Klasseninteresse wie schlechtem Geschmack


Kolportage mit Schmutz- und Schundgesetzen bekämpfen. Gibt
es kein ganz gutes, so erst recht kein ganz schlechtes Buch der
Abenteuer; dieser Schatz reinigt sich sogleich an der Traumkraft,
der er ohne viel Umwege entstammt, an gewissen ))urrecht­
lichen« Wunschphantasien, die die Erzählung selber sind. Aber
nicht nur das Unmittelbare der Spannung, auch deren Inhalt
selbst nährt sich aus dem Traum, und zwar in doppelter Gestalt.
Einmal ist der kreatürliche Wille n i ihr, der schreit, sodann der
Widersdlein dieses Willens in einer frühen Wunschwelt, die im
Traum überall durch die heutige Dingwelt durchscheint. Beiden
Eigenschaften des Traums: der kreatürlidlen Urspannung wie
den Arabesken der Versdlleierung, Einkleidung und Verwette­
rung ist Kolportage der näd1ste und treueste Ort. Sie wird
dieser Art der populäre Widerschein von Urmotiven der
Angst, der Rüd<kehr, des Muts, der Erwartung, Enttäuschung,
Rettung und anderer Erschütterungen des Willenslebens im
Spiegel gefährlicher Ferne oder abgrundreichen Glanzes. Das
hat weder Psychologie noch gegebene Wirldichkeit; es zeigt
lediglich das gärende Farbenwetter der Kreatur und draußen
den veränderbaren Bildnebel vorrealer Traumwelt. Die Ver­
schlingungen des Willens also sind in Kolportage allemal Jie der
Traum-Arabeske, freilich nicht die der völlig freischwebenden,
an welcher die ))Phantasie« ( man erinnere sich der Einleitung,
die Hauff seinen Märchen gibt) ohne Wille und Kreatur wäre;
sondern es ist jene Arabeske, welche in Abenteuern fließt, reitet,
fährt, welche ihre endlos möglichen Verschlingungen mithin sel­
ber dynamisch hat. Erst recht am Schluß; denn durch und mittels
all dieser Arabesken arbeitet immer wieder die Tonika der
Lösung, der Urwille der Rettung und des Glücks. Kolportage
hat in ihren Verschlingungen keine Muse der Betrachtung über
sich, sondern Wunschphantasien der Erfüllung in sich; und sie
setzt den Glanz dieser Wunschphantasie nicht nur zur Ablen­
kung oder Berausd1t1ng, sondern zur Aufl·eizung und zum Ein­
bruch. Daher eben wird Kolportage von der Bourgeoisie als
gefährlich, nämlich als Schmutz und Sd1und schlechthin ver­
folgt; daher vor allem ist Kolportage keine stille Kalender­
geschichte mehr, auch kein bloßer romantischer Ritterroman
Traumschein, Jahrmarkt und Kolportage 1 79

fürs kleine Volk Sondern sie ist der Wunschtraum nach Welt­
gericht für die Bösen, nach Glanz für die Guten; dergestalt, daß
am Ende dieser Bücher stets ein Reid1 der »Gerechtigkeit« her­
gestellt ist, und zwar eine der Niedrigen, denen ihr Rächer und
Glück kam. In der Freizügigkeit erst entstanden, ja, sinngemäß
aus ihr erst möglich, dringt so Kolportage seit hundert Jahren
steigend vor; sie hat die seßhaften Kalender, die Schnurren des
bedürfnislosen Volks überrannt; sie ergreift die Urstoffe der alten
Ritter-, Verfolgungs- und Rettungs-Epen, wenn überhaupt, so
nicht romantisch, sondern selbstbezogen und revolutionär. Die
Freiheit ersdteint hier als ihre eigenen Circenses, mit Sdturken,
die sie hindern, mit edlen Rämern, die sie ans Limt bringen.
Kolportage hat Gift, Dolch, Schändung, Brandluft Indiens und
als Stern darin die einzige gerettete weiße Frau, den Engel von
Delhi: doch indem sie so wild und primitiv sidt kontrastiert, ge­
sdlieht sie als bewaffnetes Märchen, als höchst aktivierte »Un­
terhaltung« an mythischen Mächten und vor allem als deren
Sturz. -
So verschieden auch hier der Zweck, wozu die rausdtenden
Stoffe brauchbar sind. Das gut entführte Mädchen freilid1 ist im
Leben selten, die freie Bahn dem Glücklichen lenkt ihre Leser
nur ab. Sie täuscht vor, es gäbe noch freizügiges Leben; als wären
die kleinen Leute nicht alle wieder Arbeitssklaven ohne Auf­
stieg (sofern sie nicht so frei sind, entlassen zu werden). Es ist
zwar menschlid1 richtig, auch sachlich Ietzterdings in Ordnung,
zu sagen: Laßt dem armen Teufel sein Vergnügen, der bei seinem
abendlid1en Preßsack mit Kara ben Nemsi von Bagdad nach
Stambul reitet. Doch politisdt allerdings ist eine Kehrseite der
Kolportage gerade heute nicht übersehbar; sie ist so aufdringlich
roh und matt zugleidl, wie die andere Seite feurig und unbe­
quem. Denn Glücksbilder können auch stillen und irreal berau­
smen; dazu kommt, im eigentlich nationalsozialistischen Zweck
und Gebrauch: Old Shatterhand trägt einen sehr deutsd1en Bart,
und seine Faust sdlmettert imperialistisdl herab. So daß hitle­
rism ertüdltigter Gebrauch nicht fern smeint (und Hitler in der
Tat auch diese Art Kar! May liebt und dem ,, Volk« erfüllt). Was
derart nationalsozialistische Wirkung von Kolportage angeht, so
;ei ein Passus aus Schlimters Jugendbericht: »Das widerspenstige
r8o über Märchen, Kolportage und Sage

Fleisch« hergesetzt; dieser ist das bezeichnendste Stück Hitler- .


puberrät ante rem. Der Maler Schlichter beschreibt seine jäm­
merliche Jugend, ihre Minderwertigkeit und Verschwültheit,
ihre Niederlagen kameradschaftlich, sozial und erotisch, er be­
schreibt die vergebliche Werbung um ein Mädchen und fährt
fort: »Auf dem ganzen Weg versuchte ich nun, sie in meine
Ideenwelt einzuweihen, ich schwärmte ihr von der Französischen
Revolution vor, schilderte die Ruchlosigkeit des Reichtums,
klärte über indische Mördersekten und chinesische Geheim­
bünde auf, erzählte von den Heldentaten Karl Mays und daß
auch für mich einst der große Tag komme, wo ich an der Spitze
zahlloser Reiterheeredie verworfene Welt einer Gott ent­
fremdeten Zvili
i sation i Trümmer schlagen werde.<< Der sub­
n
jektive Ernst dieser Phrasen liegt ebenso vor Augen wie der
unverkennbare, der von Schlichter eigens zitierte Einfluß der
Kolportage: nämlich ihrer wilden und wirren, dazu klein­
bürgerlich-moralisch interpretierten Freiheitsirratio auf ein
Milieu, das dem Nationalsozialismus, wie er dann kam, nicht
günstiger sein kann. Ohne Zweifel ist Schlichtcrs Bericht für
viele Kolportage-Einflüsse auf Pubertät, ja, noch auf jugendliche
Erwerbslose typisch; sowohl was den unnachahmlichen Spiegel­
berg-Tonfall wie die überkompensierung angeht, welche natio­
nalsozialistische Phantasterei und >>Idealismen<< aufweisen. Nimt
einmal der furchtbare Geheimbund fehlt im Kolportagesystem
des deutschen Fascismus: er ist der des Sdtut oder des Mahdi zu
Hause geworden, er ist die »Verschwörung<< des Freimaurer­
tums und vor allem der sogenannten Weisenvon Zion; Millionen
Deutsche glauben an einen jüdischen »Fürsten der Verbannung<<
und seinen llAuftrag an alle Juden, die Herrschaft Israels mit
allen Mitteln zu errichten<<. Das alles ist geglaubte, ja realisierte
Kolportage durchaus; solme Züge und Wirkungen hat sie aller­
dings audl, heute mehr denn je, Züge, worin sie (und die wilde,
wirre Freiheits-Irratio, die Fluchtlust, Marsd1lust, Lagerfeuer­
lust, deren sie der aussprechende Teil ist) zum Effekt von heute
ideologisch beiträgt. Jedodt eben, es gibt erst recht die andere
Seite der Kolportage, diejenige, welcher die angestammte Aut­
arkie durchaus, ab ovo, fehlt, dagegen Erinnerung der Franzö­
sischen Revolution, dazu ein gewisses Ex oriente lux nicht. Nur
Traumschein, Jahrmarkt und Kolportage x8x

dadurch überhaupt ist die finstere Phantasterei der Nazis, nur


dadurch ist diese ihre Gegenkolportage möglim geworden, daß
die bleibend revolutionären Spannungen und Inhalte der ernten
(im ausgedehntesten Sinn) dem Proletariat nicht zugeführt,
vielmehr: aus dessen neuer revolutionären Spannung und Welt
nicht neu entwickelt worden sind. \Vo das geschehen ist, wie in
einigen russismen Filmen, vor allem im »Potemkin «, mit
großem Abstand auch im »Sturm über Asien«, zeigt sich so­
gleich, daß nur hier die Sonne Lederstrumpfs leuchtet, nicht im
wahnsinnig gewordenen Familienroman. Kolportage im XIX.
Jahrhundert war gerade Flucht aus ihm; sie malte - wie un­
deutlich und klassenunbewußt immer - uneingelöste Jugend in
die Welt. Leser suchten hier Erzähler, welche ohne Urwald nicht
auskommen; welche für alles, was in Europa nicht geworden
war, draußen Entladungsräume hatten oder den Traumbasar.
Auffallend, nicht auffallend, daß es heute keine Jugendbücher
gibt, die mindestens weniger individualistisch sind. Weniger an
einem »Helden« hängen, weniger das individualistische Pionier­
land Amerika mitschleppen. Mehr zu national-revolutionären
Volksaufständen gehen, worin Boxer oder Mahdis unterdrückte
Völker fanatisiert haben; dieser Explosivstoff hat nod:l keine
Kolportage gezündet, hat den Lederstrumpf mit Sturm über
Asien noch nid:lt überholt und vermehrt. Und die Gegend, worin
Kolportage ihre eigentlich literarischen Enklaven hat, ist nicht
die kleinbürgerliche Wachliteratur, worin sie Schund wird, son­
dern durchaus die Gegend Poe (nach Seite ihres Choks ) die Ge­
gend Sealsfield, Comad, Stevensan (nach Seite ihrer Ausfahrt
und Abenteuer ) . Wobei sogar diesen Großmeistern fehlt, was
lediglich die Literatur der Enterbten (auf dem Marsch) haben
kann: nämlich Rettungs..:Stil, ja, uni an das größte Beispiel
Kolportage zu erinnern: Fidelio-Stil. Träumt also Kolportage
immer, so träumt sie doch letzthin Revolution, Glanz dahinter;
und das ist, wenn nicht das Reale, so das Allerrealste von
der Welt.
Über Märchen, Kolportage und Sage

Das Riesenspielzeug als Sage

Wäre es zu Hause anders, dann möchten Kinder nicht so grell


lesen. So aber brauchen sie Märchen, wilde Männer, befreiende
und glänzende dazu. Diese jedoch zeigen zuweilen viel herbere
Miene als die märchenhafte im Buch der Befreiung, als die ret­
tende. Das immer dort, wo sich andere deutsche Seiten aufschla­
gen, sagenhafte, von Herren kündend, nicht von kleinen oder
armen Helden, die sich ihnen entzogen haben. Hier brennen
Knaben nicht durd1, sondern es verschönt sich gewesene Angst,
gewesener Druck, befohlener Stall, ist er gleich im Haus des
Herrn, der sie nachher frißt oder schont, j e nachdem. Dies �lilde
gehört noch hierher, es ist zunächst ein völlig anderes als die
Kraft, ihm zu entrinnen.
Nicht nur Hänsel nimmt Gretel mit sich fort, auch größere
verführen es. Sie zeigen Gesichter, die sich an die Scheibe pres­
sen oder glänzende, allemal von oben her starrend. Es sind die
Gesichter der Sage; denn aud1 diese wächst im alten Land, ja,
Märchen und Sage sind so dicht und schlicht nebeneinander, als
zeigten sie nicht ganz verschiedene Zeit. Als bezeichneten sie
nicht ganz verschiedene Welt: das Märchen hineinleuchtend in
Kolportage, bezeichnet Revolte, die Sage, abstammend vom
Mythos, erduldetes Geschick. Ist im Märchen Aufruhr des Klei­
nen und meint es Aufklärung des Banns, bevor es eine gab, so
berid1tet die Sage still von Unabänderlichem. Hier nehmen die
Menschen hin, was mit ihnen gesmieht, und gehorchen; worauf
sie bestenfalls ))belohnt« werden. Setzt der Fährmann die Zwer­
ge über, so wird ihm ein großartiges Almosen; wo nicht, wird er
siedl. Wirft der Bergmann sein Beil in den goldhaltigen Stollen,
wohin der Berggeist eingeschritten ist, so bleibt der Stollen
offen; hat er die Regel nicht befolgt, dann ist wieder taube
Wand. Hochzeiter werden n
i der Sage wegen ihres >>Übermuts«
in Felsen verwandelt, geschwätzige Prinzessinnen, weil sie das
Schweigegebot übertreten haben, in Bäche. Selbst die guten
Geister sind zweideutig, als Nixen, gar Kobolde, oder launenhaft
despotisch, und der Umgang mit ihnen unterliegt einer Etikette,
die noch, wo sie rettend, entzaubernd ist, von den Geistern dik­
tiert wird. DieMitspieler aber sind allermeist geängstigte Bauern,
Das Riesenspielzeug als Sage

böse Grafen und Gräfinnen, die sie noch im Tod erschrecken.


Selbst wo Armen geholfen wird, wirkt in Sagen nicht die eigene
List oder die Ratio des gefundenen Auswegs, sondern von oben
herab segnen Stammherrn, belohnen erlöste Ritter in denArmen
wunderschöner Frauenbilder. Lehrreich derart für den puren
Herrenfrieden, Herrennutzen, den die Sage im Unterschied ztm1
allemal rebellischen Märchen stiftet, ist die elsässische vom Rie­
senspielzeug: der Bauer in der Schürze, auf dem Tlsch muß er
sein Geschick leiden schlechthin, ganz ohne List, und die Riesen
sind nicht dumm wie im Märchen, sondern spielende Edel­
fräulein und ernste Ritter als Väter, welche den Bauern wieder
zurücktragen lassen; denn »baut der Bauer nicht sein Ackerfeld,
so haben wir Riesen auf unserem Felsennest nichts zu leben<<.
Und bezeichnend für den mythischen Frieden, für den Frieden
mit dem alten Mythos ist der Weg, welchen noch die »Christia­
nisierung<< der Sagen genommen hat. Hier werden die alten
Dämonen, auch Götter, ihrem Grund nicht enthoben oder gar
der getaufte Mensch über sie gestellt, sondern sie bleiben als
verteufelte Ci-devant-Herren (vor denen man nun doppelt sich
zu fürchten hat). Oder sie werden gar, scheinbar, neu gebildet
und leihen der mythischen Straf-Dämonie, auch im Christentum,
neuen Hintergrund. So wird nicht nur Prinzessin llse das ge­
sd1wätzige Bächlein im Harz (dessen Nymphe sie vor Zeiten
i den T
war), es wird auch die brotschändende Frau Hütt n iroler
Berg versteinert (als dessen Göttin sie vor Zeiten geherrscht
und gebannt hatte ) . Nur der Akzent des Banns ist in der »chri­
stianisierten« Sage verschoben, der Bann nicht; so stammt noch
Gotthelfs halbmythisches Hagelwetter auf Uli, den sdllecht­
handelnden Knecht, von den Höhen der versteinerten Frau
Hütt, während die Gärten des Märchens allerdings nirgends da­
von betroffen werden. Denn eben: das Märchen ist, wie zu sehen
war, die List Hänschens, die List des armen Soldaten gegen die
mythischen Mächte, sogar noch gegen die moralisch getönten;
wogegen die Sage allermeist nur verkleinerte Mythologie dar­
stellt und nicht ihren Gegensatz. Das Märchen, sagten wir,
schwebt wie die Zeit, worin sein Triumph geschehen ist; und
wo er geschehen s
i t, steht dahin. Die Sage dagegen hat sich zeit­
lich wie lokal durchaus niedergelassen, sie ist moralisch wie die
über Märchen, Kolportage und Sage

Unterdrückung, stationär wie eine Chronik und passiv genau


wie das Zeremoniell ihrer Inhalte. Dem Märdten (wie dem ihm
verwandten Kasperltheater) gelten nidtt einmal die Polizisten
als Mensdten, alles ist gegen sie erlaubt. Der Sage dagegen sind
die Mensdten das gleidte mythisch, was sie zur Zeit der Brü­
der Grimm, zur Zeit der Reaktion, politisch waren: nämlich
Objekte, denen nichts erlaubt ist. Das Märdten ist ebenso die
erste Aufklärung wie es, in seiner Menschennähe, Glücksnähe,
das Muster der letzten bildet; es ist allemal kindliche Kriegs­
geschichte der List und des Lichts gegen die mythischen Mäd1te,
es endet als Märchen vom menschlichen Glück, als gespiegeltes
Sein wie Glück. Die Sage dagegen erzählt mythischen Bann, gibt
seine heteronomen Reize, ist eine Gespenstergeschichte älterer
Ordnung, ist das einzige Feld, woraus die Reaktion ihre Bilder
holen kann, sie mit dem Märchen in falsrner »Folldore(( · ver­
mischend. Die Welt des Märchens lebt in Kindern und dem
Apriori der Revolution; die Sagenwelt überlebt sich, nad1 ihrer
düster-panisdten Seite, in Träumen und Irren, nach ihrer hero­
isch-panischen in der Reaktion. Noch die Helden der Sage sind
zumeist ja keine mensdüid.len, keine prometheisdlen mit Span­
nung zu droben, keine Helden der Tragödie; es sind vielmehr
Natur-Dämonen, weldle mit anderen Naturdämonen um die
Herrsdlaft streiten, um die Herrsdtaft im unveränderten Reich
der Natur. Also trifft auch jede Folklore, weldte, wie heute
üblidt, Märchen und Mythos koordiniert (weil beide so nahe, so
gleidlmäßig nahe der »Natur« scheinen), an der Folklore nur,
was ihr Bann, nidtt, was ihr Wille zur Freiheit war. Wagner frei­
lich, mit seinen fascistisd1en Instinkten, sah audt im Märd1en nur
>>verkleinerten Mythos« (und der Sohn Siegfried folgte nach,
Humperdinck hat gar Hänsel und Gretel mit den Mitteln des
Nibelungenordtesters komponiert ); Klages wiederum, der
ahnungsvolle Reaktionär, sieht im Märdlen nur den »l<indlidten
Nebensdtößling des sdlauenden Lebens«. Dom eben das >> Volks­
tum« der Sage ist überhaupt keines als ein reaktionär konstru­
iertes und darüber hinaus ein bloßer Spiegel von Sdtred<herren
und Dämonien; während das wirkliche Volkstum der Märchen
heute noch in Kindern blüht und im menschlichen Glück. Wie
die Kolportage nicht Ritterromane fortsetzt, sondern höchstens
Das Riesenspielzeug als Sage 185

deren Abenteuer, als verwandelte, ins Groß-Märchen oder


Grob-Mär<nen der Befreiung einbringt: so stehen in der unab­
gelenkten » Volksromantik« überhaupt nur Bauernkriege, keine
Ritterburgen, nur Märchen derEntronnenheit, kein Aberglaube.
Die Aufklärung bat das Jenseits nicht heruntergestürzt, damit
die Reaktion das Diesseits wieder panisch mache.
Ja, auch hier suchten die Hörer Besseres, als die Herren mein­
ten. Helden, die sich in den Wald vertiefen und Gebannte
erlösen, wenngleich allzu huldvoll. Es gibt sogar lebende Über­
gänge zwisd1en den Schwachen des Märchens und den Gewal­
tigen der Sage, die dadurch aus ihr heraustreten. Der »edle
Räuber« vor allem bezeichnet diesen Übergang; lange vor der
Französischen Revolution hat das arme Volk die Fra Diavolo
geehrt, halb im Märchenton, halb sagenhaft von ihnen berich­
tend. Und Hauff, im schönsten Reim neu-alter Märchen und
frischer Kolportage, malt mit verwandten Farben sowohl den
kleinen Muck, als eine echte Märchenfigur, wie den Räuber
Orbasan, als den mächtigen Herrn der '\Vüste. Verwandt er­
scheinen die ziehende Sehnsucht des kleinen Mud<, der jeden
Scherben aufhebt, worin die Sonne glitzert, als sei er ein Dia­
mant, und der Glanz des edlen Räubers Orbasan, sein kriegeri­
scher Anstand, vor dem es dem Zaleukos immerhin »graute« .
Solch große Herren sind dann stellvertretend für die Rache­
oder Glückwünsche der Kleinsten und führen sie zum Sieg.
Das steigert sich sogar in mancher Spuksage: was Bauern sich
wünschen, wozu sie zu feig oder zu schwad1 sind, das erfüllen,
wie Steroberger an einem >> Vogelsberg-Gespenst« zeigte, Dä­
monen oder Gewaltige des Orts; freilich irregulär die einen,
illegal die anderen. Ein weiteres Mischwesen zwischen Märd:l.en
und Sage ist uneigentlich Mythisches in ihr, Mythisches, das
durchaus bannend und statisch wirkt und trotzdem nicht außer­
halb der Menschen. So »mythisch« in der Sage sind die taohaften
Gestalten, vor allem sehr alte, das Paar Philemon und Baucis
etwa: märchenhaft entronnen, obwohl naturhaft ruhend. Und ge­
wiß auch ist in dem sehr viel geringeren Tao Gotthelfs ein solches
Verhältnis; es entzieht streckenweise der Sage die Lokalität des
Banns, rettet das Lebenslicht, das menschlich eigene Lebens­
licht ruhig brennend drinnen wie draußen. Keine Korrektur
t86 Okkulte Phamastik und Heidentum

erfährt dadurch die Erkenntnis der Sage als einer überwiegen�


den Macht- Verehrung, Bann-Vergoldung; im Gegenteil: die
mythologisdte Natur-Dämonie der Sage erhellt an solchen
Einbrüchen, sei es der Kolportage, sei es der märchenhaften
Mystik, erst recht. Aber selbst in der Sage ist zuweilen mensd1-
licher Krieg und ein Sieg über Herren, der zu plündern gibt.
Selbst in der Sage trifft der verspukte Schuß zuweilen, wider
alle Regel des Anfangs, .den Schützen, der in Schreck versetzt.
Selbst die Sage hat den Rattenfänger von Hameln, den gerade
Kinder gut verstehen; auch sollen die Kinder, nadt einer Lesart
dieses wunderlimen Berichts, aus dem Berg glücklich wieder
hervorgeführt worden sein, in weiter Ferne. Vielleimt ist die
»Kolportage«, recht angewandt, noch einmal so stark, daß auch
sie den Mythos auflockert, wo er am dicksten ist. Nur aus der
reaktionären Romantik und zuletzt eben von Wagner stammt
die dumpfe Uniformierung, daß der Mythos ein vergrößertes
.Märchen, das Märchen ein verkleinerter Mythos sei; und die
Nationalsozialisten vollends verwischen die Grenze zwischen
Märchen und Sage, die Grimm nodt entsdteidend gesetzt hatte,
vollends. >>Mir war«, sagt Nestroy, >>mir war der verlorene
Sohn immer verächtlich; aber nicht, weil er ein Sdlweinehirt
war, sondern weil er wieder nach Hause gekommen ist«; - ge­
nau das Dynamit dieser Erkenntnis ist im Geist der ))Kinder­
und Hausmärdlen« , ist im gesprenkelten Rausdl der Anti-Sage
oder Kolportage. Die proletarisd1e Revolution ist der »phanta­
stisdlem Literatur meist feindlich; doch in Märchen und Kol­
portage haben Spannungen und Buntheit ihr brauchbares Re­
fugium, sie können von hier aus Truppen werden.

O K K U LTE PHANTASTIK U N D HE I D E NTUM

Der Tag der meisten ist öder als je. Lang schon läuft kein besse­
rer Brief ein, bleibt die Post aus. Dafür Sorge genug zu Hause,
das Dasein der Jungen geht nicht an, das der Mittleren wird
früh zu Asche. Selten war bürgerliche Kälte so lastend, nie die
Trir so zu.
Okkulte Phantastik und Heidentum

Desto heftiger der Wille, wenigstens versteckt durchzu­


bredlen. Die Pessimisten der letzten bürgerlichen Generation
waren zufrieden, schließlidl nur sdleinheilig trauemde Spieß­
bürger. Sie fühlten sich nodl stolz darauf, in ihrem Si nn »aufge­
klärt« zu sein, lobten nidlt nur, wie rechtens, die Wissenschaft,
weldle Illusionen zerstört, sondern die starre Leere dazu. Ihre
Formel war nidlt nur das entzaubernde ))Nichts als<<, sondern
der neue Zau b er des Mechanismus, die kalte V erzau ber u ng,
welche Druck u nd Stoß, Kampf ums Dasein, sinnlose Welt als
))ewig« setzte. Erst die Pessimisten der jetzigen bürgerlichen
Generation fühlen das Entsetzen dieses Nichts als eines ge­
schichtslos, fertig gemachten; und der Glaubensersatz von
»Kunst und Wissenschaft«, der dem Bildungsphilister genügt
hatte, wirkt nicht mehr als Trost. Denn im urtümlichen Glau ben
war weder Kunst noch Wissenschaft, sondern ein eigenes Be­
dürfnis, mit Sexualität und Rausch eng verschlungen; die Gegen­
stände aber, woran sich das reli gi öse Urbedürfnis gefaßt u nd
gestillt hatte, waren mit den Gegenständen der späteren Natur­
wissensdlaft nicht konform. Erstaunlich zwar, daß die mecha­
nis ch e Naturwissenschaft dies Urbedürfnis überhau pt a b bauen
konnte (nachdem keine s exu elle Aufklärung und Gynäkologie
j e die Libido entzaubert, gar zerstört hat), aber undenkbar, daß
dieselbe Wiss enschaft, die zerstörte, die gekommene Leere
sdlließen könnte, gar mit Mechanismus. Sie ist hierzu desto
weniger imstande, als sich diese Wissenschaft mit ihrem Bürger­
tum selbst zersetzt hat. Der quantitative Kalkül ist zersprungen:
so hält er den Mechanismus nidlt m ehr als Amen der Welt. Auch
von hierher br icht ins H a us Pha ntastik ein, dies es Falls völlig
okkult.
Zunächst sind darin nur sdllechte oder verdächtige Träume
sichtba r. Fl ucht aus einem Nichts ins andere, Fratzen, woran
m a n nicht einmal glaubt. Weshalb sie auch wissenschaftli ch er­
schei nen, sozusagen; denn s el bst das Abergläubische weiß m a n
hier mehr, a ls man es glaubt. Aus a Uer Herren Länder werden
derart Dunkelheiten geholt, besonders aus der eigenen Vorzeit.
Man bezieht Masken, durch die der Träger sich selbst chloro­
formiert; oft auch nur Räucherei, di e die Kleinen benebelt, die
Großen einnebelt. Alte Weiber beiderlei Geschlechts, Adel und
r88 Okkulte Phantastik und Heidentum

Kleinbürger, kurz, sinkende Klassen bevölkern besonders Stei-.


ners Welt; sie ist die verbreitetste und unreinlid1ste. Offenbar
verhindert nur der starke Anteil anderer Länder an der anthro­
posophischen Bewegung, daß diese geschlossen zu Hitler über­
geht. Nicht nur die sozialen Dilettantismen (»Dreigliederung«)
madlten sie dazu tauglich, auch die »Wesenheit Michael« in
ihrer Mitte. Welcher Steiner die Herrschaft des nächsten Zeit­
raums übergibt; sie wäre, trotz ihres hebräischen Ursprungs,
dem deutschen Michel desto leichter verbindbar, als dieser ja
noch keine Mythisierung bei den Nazis gefunden hat. All dies
Negative ist wahr, aber wah ist auch, daß die Kunden dieser
verkehrten Welt fü1· die schiefe zu Hause nicht ohne weiteres
tauglicher werden. Das »Okkulte« von heutzutage hat ein dop­
peltes Gesicht, und das fascistische, wie es sid1 seit 30 Jahren
auch hier vorbereitet, gibt nicht die ganze Fülle seines katastro­
phalen und abergläubischen Ausdrucks. Gewiß ist im gesamten
Vordringen des Dunkelsinns fascistische Reaktion, ja, ein totaler
Frontwechsel des »liberalen« Bürgertums gegen seinen ehe­
maligen Feind, den Obskuranten, Okkultisten. Diese Reaktion
war ebenso im Rausch der liberalen Presse vor dem >>Wundern
von Konnersreuth«, wie sie in den mancherlei Metaphysikfreu­
den der Einzelwissenschaft seit 1900 schon lebt: im Neovitalis­
mus, in der Konstitutionslehre, in dem mancherlei Ineinander
von Vrrchow und Paracelsus zugleich. Also ist auch der ökono­
mische Inhalt dieses unmittelbar fascistischen Dunkelsinns nicht
selber verborgen; und bezeichnend wirkt für das Negative dar­
an, daß das Anti-Marx-Institut Italiens »Akademie für fascisti­
sche Mystik<< heißt. Denn der analytische Materialismus mußte
einem Bürgertum immer fremder werden, je mehr es sid1 von
seinen revolutionären Zeiten entfernt hat, je kräftiger vor allem
das Proletariat Vernunft und Analyse gegen die bürgerliche
Welt selbst ansetzte. Jedoch damit eben ist weder der gesamte
soziale Inhalt noch gar der gegenständliche, der gleichsam natur­
bezogene Inhalt dieses Neu-Okkultismus erschöpft. Der soziale
nicht, weil die archaische Irratio der Vermissungen ebenso ein
riesiges Eingeständnis der bürgerlichen Leere darstellt oder
der gekommenen Schwäche des bürgerlichen Weltbilds. Der
Raum der springenden Mechanik füllt sich mit vorbürgerlichen
Okkulte Phantastik und Heidentum

Erinnerungen auch hier, mit Trümmern eines mannigfachen


Aberglaubens, die dem >>Sauberen(( Kalkül und >>systematischen
i t, mittelbar ge­
Zusammenhang« mindestens fremd sind. Hier s
nommen, ein eigenes Ferment des spätkapitalistischen Wider­
spruchs, trotz aller fascistischen Nützlichkeit des Augenblicks;
der Rausch vorkapitalistischer Denkarten, vor allem die Sprung­
welt des ))Wunders« und daß sie unter fertigen >>Tatsachen«
und >>Gesetzen« möglich sei, ist dem mechanisch geschlossenen
Kalkül des Kapitalismus eine Anomalie. Ebensowenig aber ist
der gleichsam naturbezogene Inhalt dieser Anomalie fascistisch
erschöpft; denn der Hohlraum, den sie in der Welt anzeigt, ist
genau der des >>Ding-an-sich-Problems«, also die mechanistisch
undurchdrungene Materie und jener Abgrund, woraus einem
Schelling noch Mythologeme kamen, einem Spätbürgertum
Anti-Mechanismus steigt. Kurz: unmittelbar gesehen ist der
okkulte Spuk gewiß nur Fascisierung des Bürgertums, Über­
gang seines unbrauchbar gewordenen Liberalismus ins autori­
täre und irrationale Lager. Aber mittelbar genommen ist hier
nicht minder ein Stück Widerspruch, welches das Spätbürgertum
selbst gegen seine Ideologie produziert hat; wird dieser Wider­
spruch mit Aberglauben, Unsinn, Archaismen auch sogleidl ent­
spannt, so eröffnet er doch wider Willen ein Segment mytho­
logisch bezeichneter (nur bezeichneter) Inhalte, die dem
mechanischen Segment mindestens fremd sind, ja, zum Teil
vielleicht unter jedem bisherigen Blick-Horizont liegen. Eine
Klasse ohne Zukunft, wie die bürgerliche, schafft zwar keine
neuen Gedanken zur Wtrklichkeit, gar zu den echt verborgenen
>>Horizont-Problemen« der Wirklichkeit (nach dem Ausdruck
von Lulcacs). Doch ist das Bürgertum, in all seinem lückenbüße­
rischen Eklektizismus, zum Ausverkauf alter, archaischer, viel­
leicht verdrängter, vielleicht auch unerledigter Inhalte aller­
dings noch imstande. Kein Vergnügen, in dies Negative von
höchst anderer >>Kolportage« zu gehen, von Mythen-Kolpor­
tage gleichsam; jedoch: es ist ihr gesunder, ihr paradoxer Ab­
gesang. Er hat zersetzte Mythen und Gärungselemente, macht
dadurch stellenweise Bedeutungen frei, die im alten Mythen­
system, im Banntypus der Mythen, nicht waren. Er ist insofern
nicht nur ein Narrenspiegel, erst recht nicht
einfache Reaktion,
Okkulte Phontastik und Heidentum

sondern steigt aus wankendem Boden. Okkultismus in seiner


verbreitetsten Erscheinung ist Reaktion, gemildert durch Un­
kraut; Kolportage aus Mythologie fehlt ihm nicht, Phantasterei
verwirrt die Sicherheit, und die Gegenstände der Pha..tastik
sind mehr als diese selbst.

Erlerntes Gruseln

Oft nimmt sich kleine Angst ganz leicht. Die Karten schlagen sie
auf, der Tisch klopft ihr zu. Es ist die innere Unruhe, die so
ärmlich sich ermuntert, Laut gibt. Eigene innere Kräfte weckt
gern der abergläubische Mann, die Frau fragt lieber, wie ihr
geschehen wird. Je zufälliger und undurchschauter ein Leben,
desto mehr scheint es mit einer Decke zugeschlagen, deren
Zipfel privat zu heben ist. Das geschieht leidend und nur mit
schrägem Blick ins unabwendbar Kommende. So wie Schüler
heimlid1, während der Pause, aus dem Notizbuch des Lehrers
in der Manteltasche ihr Fortkommen erfahren. Vor Jahren
schon hat Meyrink die Folgen solch gestörter Zucht in literari­
sche Form gebracht. Ursprünglich ein Witzbold, hat er das Gru­
seln erlernt; es gedieh zu feilem Spuk und feierlichem Kitsch..
Unterhaltende lrdid1ter tanzten hier auf dem sozialen Sumpf.
Die Leute ziehen am Abend aus, noch ohne zu sehen, wohin.

Science drolatique

Aber der beherzte Mann zwingt dem Dunkel sich selber auf.
Statt auf Karten zu hören und die Sprüche darum herum, greift
der abergläubische Wille selber in den Aberglauben ein. Nid1t
bloß in der nüchternen Weis e Coues, die sich auf recht dürre
Vorsätze beschränkt, sondern in der massiven der Christian
science. Diese ist Glaube an die Macht des Willens und über­
steigert zugleich die Vorstellung. Indem die rechte unablässig
den Menschen durchdringt, fallen die schädl.ichen Folgen der
falschen Vorstellung, der bloßen ))Annahme« fort. Denn diese
Annahme ist nur Sd1ein, und Scl1ein ist das Nid1ts; angenomme­
ner, nicht seiender Schein ist derart jede Krankheit, die leibliche
wie die des ( kapitalistismen) Sozialkörpers. Wogegen Glaube
Science drolatique

an die ))Gesundheit« oder das Gebet ein Transmissionsriemen


ist, der das erm.attende Individuum wieder mit dem Urdynamo
Gott verbindet. Weiber machen mehr einen medizinischen,
Männer mehr einen merkantilen Gebrauch von solchem ))Chri­
stentum« . Praktisch empfehlen sich diese weitverbreiteten
Glaubensartikel nicht nur naiv, am eigenen Leib, sondern mehr
noch sentimentalisch, nämlich sozial. Der Arme hat es sich selbst
zuzuschreiben, einer zu sein, seine falsd1e Annahme ist dasselbe,
was früher seine Faulheit oder Untugend war. Es ist eine sehr
praktische Glaubenshysterie mit höchst gesundem Jesus und
rein kapitalistischem Inhalt dieser seiner Gesundheit; sie erzeugt
keine Wundmale aus Glauben, sondern nimmt sie weg, nämlich
die Wundmale mangelnder Prosperity. Eingreifend, als magi­
scher Wille eingreifend, sind aber auch unchristlichere Geister;
diese holen sich aus den Lücken der Wissenschaft ihr Werkzeug,
sozusagen. Glaubten nicht völkisd1e Patrioten mit Abitur und
allem Zubehör, gerade diese, an den Goldmacher Tausend, als
an eine Art naturwissenschaftlichen Hitler? Amerikanisch-: Sek­
ten stellen ihre Betten in den Meridian, um vom Erdmagnetis­
mus zu profitieren; Tausend aber zeigte die ))langhinschwin­
gende Hand des Meisters<<, er lehrte, daß Blei nur durch seine
Schwingungszahl vom Gold versd1ieden und also in dieses zu
modulieren sei. Der Goldbaum im Ionern der Erde schlug in
Gedanken wieder aus, ja, der Mond gewann seinen Einfluß wie­
der auf das Wachstum des Silbers und die Sonne den höheren
auf das Wachstum des Goldes. Idealer wurden andere Felder
der Halbbildung bearbeitet, doch kosmischer Weizen hatte auch
hier zu blühen, und dunkles Wetter stand darüber. Das wild­
romantischste zeigt wohl Hörbigers sogenannte Welteislehre:
da wird Hagel zum Boten aus dem All, die Welt besteht aus Eis,
drei Monde haben der Erde bereits geschienen und dazwischen
war mondlose Zeit. Allegorische Deutung der Sagen ist aufs
neue in Schwung, dod1 nicht, um diese religiös auszusinnen,
sondern um kleinbürgerliche Visionen ganz großen Stils hinein­
zulesen und die Sage dann, mangels wirklicher Beweise ))natur­
wissenschaftli ch << zu verwenden. Die Offenbarung St. Johannis
etwa sei »zehn Millionen Jahre alt<< und keine Zukunftsvision,
sondern beschreibe ))den Niederbruch des Tertiärmonds auf
Okkulte Phantastik und Heidentum

die Erde«, - ein, wie Hörbiger sagt, »ebenso furchtbares wie


spannendes Schauspiel«. Jede geologische Epoche wird derart
durch einen Mondbruch abgeschlossen, jede neue durch eine
glückliche, eine mondlose Zeit eröffnet: bis ein neuer Begleiter
eingefangen, bis auch Luna, der nQuartärmond«, auf die Un­
glücklichen niedergegangen ist und Marseinfang bevorsteht.
Das sind die n Weltwenden<< für Halbgebildete oder der Reflex
apokalyptischer Stimmungen im Kleinbürgertum - eine spießig
ausgebosselte Phantasterei, die freilich nicht möglich wäre, hätte
nicht auch der Verstand der bürgerlichen Wissenschaft sich um
drei Monde vermehrt. Denn was ist am Welteis wunderlich,
wenn es nach Dacque - Sauriermenschen gegeben hat, die sich
des Tertiärmonds erinnern? Ein Mann der Zunft, eben der an­
gesehene Urzeitforscher Dacque, legt derart als Ergebnis vor:
es habe Mikroben- und Fischmenschen gegeben, Prosdenen
oder Menschen älter als der Mond, ja, der hürnene Siegfried sei
ein Saurier gewesen, er schwamm wohl von Xanten nach
Worms. Die Wissenschaften haben, wie J ean Paul vorhersah,
einen so hohen Gipfel erreicht, daß ihnen schwindelt. Der Wille
aus Christian science, die musikalische Chemie des Goldmachers,
die nüchterne Phantastik aus Urweltsage-all das ist dem Faseis­
mus als nStimmung« tauglich, als bürgerliche Ordnung nicht.
Der faule, auch tätige Zauber blüht über den Zaun und Bann,
den er mythisch erneuert, wirr-hinüber.

Geheimniskrämerei als Großbetrieb

Wirrer noch, wo der beherzte Blick völlig fernhin zu treffen


scheint. Dann herrscht Steiner, geschwätzig und viertelsgebildet,
hat Geheimes zu versenden. Man erfährt vom wenig did1ten
Leib früherer Menschen, und daß die heutigen Knorpeln des
Kindes dessen der Rest sind. Eine Abfolge von sieben mal sie­
ben Unterrassen innerhalb der sieben Wurzelrassen faßt das
Ganze der geschichtlichen Entwicklung ein, wobei die Welt
eine Schule ist und ihr Gang ein Pensum abarbeitet. Lehrer aber
sind die sogenannten Geisteswesen, von der Zeit an, als die Erde
noch feucht-innerlich war, bis zum fernen Ziel, wo auch sie
verengelt wird, nämlich zu Seelendunst. Alle parapsydlischen
Geheimniskrämerei als Großbetrieb I9J

Erscheinungen werden in dieser Zusammenfassung ausgenutzt,


seien es Wahrträume oder Yogi, die zur Decke schweben, oder
schäumende Medien. Als sei das Grauen ein religiöser Zustand
und das Gespenst ein Kronzeuge des wirklichen Grundes und
Hintergrundes. Gerade sogenanntes »Christentum « ist hier
völlig in verspukte Natur versenkt, zugleich auch (denn diese
Geheimwissenschaft ist modern) eine Art gnostischer Lücken­
büßer Haeckelscher Welträtsel geworden. Dies Sonnenwesen
Christus, wenn es sich in die Erde versenkt und sie mit kurz
begrabener Sonne tingiert, präparierte lange vor den Neuheiden
oder »deutschen Christen« einen Naturgott für nordischen Fas­
cismus: daher die Adaptierung Jesu auf Siegfried, der Bibel auf
nordgermanische »Einweihungen«. Selbst die sogenannte »Chri­
stengemeinschaftcc der Okkultisten sucht religiöse Erneuerung
durchs Erlebnis des »kosmischen Christus<< als einer »Sonnen­
kraftcc, als der )) Wiederbelebung des sterbenden Erdendaseinscc,
Zu diesem » durchkräftenden Lebensmittelpunktee hin findet der
Gottesdienst der Christengemeinschaft statt, der auch ))Men­
schenweihehandlungcc heißt; Steiners Mysterien sind jedes Orts
atavistischer Spuk, trivialgewordener Astralmythos, travestierte
))Naturwissensd1aftcc. Doch auch ihr Lager ist recht vielseitig:
Malerei, Farbenlehre, Tanzkunst, »Demeter-Bewegungcc in
der Landwirtschaft, Dramaturgie, Botanik, Physik, Geologie,
Astrologie, Säfte-Medizin, Geister-Medizin, Metallurgie, Sozial­
politik, Aristoteles, Urgeschichte, Astrophysik - kurz, alle Gei­
steszweige und Hexenbinsen werden hier, mit wahrhaft enzy­
klopädischer Konfusion, ausgerissen und zum Strauß gebunden.
Werden mit Luzifer-Gnosis erfrischt, mit Ahriman-Materialis­
mus kontrastiert, von einem Geistes-Auge genossen, das die
Erde schon kannte, als sie Saturn war, und wieder erkennt,
wenn sie »Vulkan« geworden ist, die nächste ))Geistesstufe«.
Hier arbeitet atavistisch-internationaler Großbetrieb, der im
Mut zur Superstition, in der Generalauslage zersetzter Mythen
jede Konkurrenz schlägt, heiße sie Cagliostro oder Eliphas Levi.
Natürlich führt dieser Betrieb, lange vor den Tausend, Hör­
biger, Dacque-auch gewisse schiefe Restbilder historischer Art;
wie das bei so viel Atavismus und seinem Ausverkauf nicht an­
ders möglich. Denn nur durch die Mitteilungen atavistischer,
194 Okkulte Phantastik und Heidentum

wenn aud1 kleiner »Hellseher« mögen dunkle Gehräume der


Vorwelt, Hexenglaube und Magie nacherfahrbar sein; selbst so
hohe Dunkelheiten wie Opfertrank, Grabkammer der Pyra­
miden, Sternbilder, Tierkreis, das Tau des Kreuzes oder das
I.N.R.I. (Igne Natura Renovatur Integra ) haben eine (heutzu­
tage) parapsydllsche Wurzel. Es gibt keinen Religionshisto­
riker, audl keinen Theologen mehr, der trotz aller babylo­
nisdlen oder astralwissenschaftlidl parallelisierenden Forschung
die religiösen Symbole oder gar die Vorgänge in den Mysterien­
kulten begreift (die mehr waren als bildliehe Ein.führungs­
kurse in mathematisd1e Geographie). Atavismen dieser Art
regenerierten bei der Blavatzki und anderen Steinerdrosen der
»Entsd1leierten Isis((, sie blühen bei immer vornehmeren Dun­
kelmännern bis herauf zur Parapsydlisdlen Gesellsdlaft oder
gar der Chymismen Rose (sieht man ins Dunkel, sagt Yeats, so
ist immer etwas darin ). Und Verblüffendes treibt zuweilen audl
in Steincrs uferlosen »Zyklen(( ; es gibt manch bizarre Erinne­
rung des mythisdlen Pfingstfests beispielsweise oder des unter­
bromeneu Natursmlafs, alter Erdriten und versmolleuer Kult­
orte. Diese Art Erinnerung bezeidlnet gewiß, bei allen guten
Geistern, bei Rama, Krisdma, Orpheus oder selbst Sweden­
borg, kein Erbe, wohl aber einen Hinweis, daß Theosophie, in­
dem sie imSdllamm wühlt und in vormals religiösem Smutt, ge­
gebenenfalls auch Tempelgänge durmschneidet, die die ehrlidle
Grabung nicht sah, und Figuren hebt, die der Religionshisto­
riker, sogar der Religionsphilosoph nidlt als solme erkannte,
erkennen konnte. Heute sind alle diese möglidlen Funde durdl
ihre unselige Erscheinungsweise mit solchem Degout behaftet,
daß kaum ein deutlid1es Interesse sie deutlich erkennen kann,
daß der philosophisdle Indizientrieb zwar sieht, doch ruffit
remt angreift; trotz mandl zweifelhafter Wunderlidlkeit, trotz
eines unzweifelhaften läppisch-riesigen Mythenzerfalls in der
Steinerwelt. Ist aber einn1al die Zeit gekommen, im Raum einer
unverdädltigen Sozialwelt zu sehen, was vom großen Dunkel
und den atavistismen Sdlleidlpfaden nom übrig blieb: dann
wird, vielleid1t, selbst auf Grotesken wie Theosophie oder
Anthroposophie ein Licht aus der wirktimen »Organismen
Weltnatur« fallen, die diese Grotesken dodl bezeichnen wollen;
Verborgene Qualität 1 95

und nicht bloß ein Licht aus Dummheit, Psychiatrie, sinkendem


Leben, sinkender Klasse oder allen vieren zusammen. Außer
dem weitest verbreiteten Narrenspiegel, ja sogar in ihm geht
dann möglicherweise ein anderer auf, einer aus den Abgründen
ausgelassener oder unbekannter »Natur«, ))Über-Natur«. Wie­
wohl also nicht eine einzige derSteinerschen Bezeichnungen, gar
))Zusammenhänge« und kaum eines seiner Bilder (aus der ata­
vistischen Merkwelt ) zurückbleiben dürfte, so wird doch ein
vorgeschrittenes Bewußtsein, das es mit Kolportage und Mon­
tage gut meint, auch an diesem Brud1gebilde der Phantasterei -
trotz seiner Jämmerlichkeit und ))Modernität« - nicht ohne
Wünschelrute und versuchte Goldwäscherei vorübergehen.
))Der Blitz als Aura des Gedankens eines Erzengels« - dieser
Satz Steiners überbietet den Dacqucschen Siegfried, den Sieg­
iried als Saurier durchaus; und er gibt nidtt nur der Psydtiatrie
zu raten auf, sondern auch dem Naturbild m
i Zeitalter der un­
tergehenden Medtanik. Erzengel zierneo zwar nidtt soldlern
Munde; dodl sofern es gar keine sind, sondern Mythen, auf dem
Kamm geblasen, auch abgebrochene, drunter wie drüber oku­
lierte Mythenzweige, hängt ein Stück Gnosis in die Leere hin­
ein und madtt sie erst red1t skurril.

Verborgene Qualität

Gut das, ins Trübe der anderen zu gehen und selbst darin zu
fischen. Nidlt nur Verbrechern ist ja das Dunkel tauglich, auch
Liebende wissen mit ihm etwas anzufangen. Darum ist ein Blick
wichtig, der, indem er Fortschritt will und kennt, diesen auch
verdeckt oder in Schleifen kennt. Viele Marxisten kehren sich
vielleimt allzu a limine von okkulten oder archaischen Erschei­
nungen ab, gleid1 als ob mit der Aufldärung von 188o die Welt
zu Ende wäre. Der oft so kühne, tiefblid{ende Engels sieht in
den Mythen (wenn nicht in Religion und Theologie insgesamt)
nur ))einen vorgeschichtlidlen, von der geschichtlidlen Periode
vorgefundenen und übernommenen Bestand von dem, was wir
heute Blödsinn nennen«. Und fährt fort: ))Diesen verschiedenen
falschen Vorstellungen von der Natur, von der Beschaffenheit
der Menschen selbst, von Geistern, Zauberkräften etc. liegt
Okkulte Phantastik und Heidentum

meist nur negativ Okonomis<hes zugrunde: die niedrige öko-·


nomische Entwicklung der vorgeschichtlichen Periode hat zur
Ergänzung, aber auch stellenweise zur Bedingung, selbst Ur­
sache die falschen Vorstellungen von der Natur.« Ein aufge­
klärter Satz und allzusehr vielleicht ein Kind seiner Zeit, der
bürgerlichen Zeit, als welche auf sämtlichen Stufen der Ge­
schichte eine einzige Wirtschaft sah, nämlich ihre eigene, die
kapitalistische, nur noch als unvollkommen; und ebenso folglich
eine einzige Natur, nämlich ihre eigene, die mechanische, nur
noch als metaphysisch entstellt. Der Satz überrascht bei Engels,
sofern seine ))Dialektik der Naturcc die mechanische Natur nach
vielen Seiten aufreißt und qualitative Geschichte hineintreibt,
nicht nur angereihte Entwicklungsgeschichte. Vor allem: ist
nicht konkret vermutbar, daß, wie die gesellschaftliche Bezie­
hung mindestens in den Gentes konkreter war als in späteren
Perioden, wenn auch unentwickelt und in ))Kinderformcc
(Marx ), - daß ebenso die Naturbeziehung der Primitive, also
die prälogische Denk- und Erfahrungsweise, andere Wirklich­
keit an der Natur getroffen hat, vielleicht mehr Wtrldich­
keit, als dies von der Klimax Magie-Metaphysik-Positivismus
her sichtbar wird? Macht doch die Geschichte des Ding-an-sich­
Problems auch späterhin gegen den allzu einfachen Fortschritt
mißtrauisch: die Linie Descartes-Kant-Hegel ist gerade, was
Konkretheit angeht, eher eine Linie: (mechanischer) Positivis­
mus - (historische) Metaphysik als umgekehrt. Unwahrschein­
lich, daß die Qualität sämtlicher Mythologien und Okkultismen
- nach ihrer bannenden wie zersetzten Seite - lediglich Hypo­
stasierungen undurchschauter Wirtsduft gewesen sind und nicht
audl. Mitspielen undurchschauter, in sich selbst noch undurch­
schauter Natur. Das Nichts - nicl.1t nur der mythologischen Be­
zeichnungen, sondern des Bezeichneten selbst - das quantitative
Nichts als Inhalt der ganzen Welt ist jedenfalls nur das Gegen­
extrem zu einem aus lauter mythologisdl.en Qualitäten beste­
henden All. Daß die Welt völlig leerer Mechanismus sei: diese
Behauptung hat sich heute schon als kapitalistisches Dogma ent­
hüllt, es war zur Entfesselung der maschinellen Produktivkräfte
ideologisch wichtig, bindet aber den Naturbegriff der folgenden
Gesellsd1aft mitnichten. Ob im mannigfachen Spuk, den der
Verborgene Qualität 1 97

mechanische Hohlraum jetzt aufwirft, bloß archaische Fratze


erscheint oder ob darin, stellenweise und archaisch verkleidet,
gewisse Bestimmtheiten aus dem med1anistisch ausgelassenen,
nicht mehr auszulassenden Teil der Welt sich zurückmelden:
diese Frage ist konkret erst traktierbar, wenn eine nicht mehr
kapitalistische Beziehung der Menschen zur Natur bürgerlichen
Mechanismus wie spätbürgerlichen Mystizismus zugleich ge­
sprengt hat. Aber vom Feind wäre immerhin zu lernen, daß man
das bürgerlich verengte und vermauerte Welt-Segment nicllt
länger hält als er selbst. Ebenso ist nid1t nur die Veränderung in
der Naturbeziehung lehrreim, welme sich in spätbürgerlicher
Malerei - von den Expressionisten bis Surrealisten - anzeigt; es
sind aum die anderen »Bilder« durchaus zur Kenntnis zu neh­
men, zur vollendet boshaften Kenntnis, welche ein Klages etwa
in die vergehende Bürgerwelt stopft, in den eklatant geworde­
nen Widerspruch der memanischen Welt zum lebenden, ganzen
Menschen. »Bist du bereit und reif, das Heiligturn zu betre­
ten, wo den verdächtigen Smatz Pallas Athene bewahrt?« -
so sdlrieb Sd1iller einem jungen Freunde ins Stammbud1, als
dieser sich der Weltweisheit widmete. Der Smatz war gerade
jenem Schiller verdämtig, der Weltfülle suchte, jene Fülle, wel­
che der bürgerlid1e Verstand damals schon fühlte, verloren zu
haben. Die Göttin des Begriffs ist dem Marxisten zwar keines­
wegs verdächtig und ihr Schatz am wenigsten; doch gerade die
dialektisch-materialistische Vernunft macht Smleifen, und ihr
Sieg ist desto konkreter, je sidlerer er audl die zweideutigen
Lebensgötter stellt und - beerbt. Man wird dem kein Wisdli­
waschi Steiners, nimt einmal Dacque insinuieren, wohl aber die
Ahnung, daß aum im Naturbegriff nodl nidlt aller Tage an­
organisdler Abend ist. Er enthält mehr als Druck und Stoß,
mehr als mechanisdle Erdsmollen, die um Feuerkessel schwin­
gen; er enthält auffi Verborgene und ZU vermittelnde Qualitäten,
die dem Automatismus des bürgerlichen Verstands paraphysism
sim entgegensetzen: Grauen etwa, panischen Schreck, panisches
Glück, »Natursdlönheit<< und was diese, noch immer unver­
standen, anzeigt.
GESÄNGE D E R ENTLEGENREIT

Der dichtende Blick kam in der Mitte lange recht freundlich an.
Diese verlangte Edelware, die ihr auf gut gemachte Weise ihren
Schein ausbreitet. Belesene Bildung glich gewisse äußere
Mängel aus, nicht genügend hohe wirtschaftliche oder soziale
Stellung. Vor allem aber: der Mittelbürger brauchte Gebilde,
die ihm sein verblaßtes Leben wenigstens konstruiert darstellen,
seine Fragen in Spielform, seine Ideale, als wären sie noch der
Rede wert. All das wurde ihm im J uste milieu durch Schrift­
steller des ebenso häuslichen wie friedlichen Scheins. Könner
wie Wassermann oder Thomas Mann eröffneten, in der Breite
des Romans, eine ganze Galerie diskutierenden Scheinlebens mit
al! seinen Fragen, außer der einen: woher denn dieses Leben und
diese Fragwürdigkeit stamme, und wie sie daher wirklich be­
schaffen sei. Kurz, hier gerieten, trotz starker Besorgtheit des
einen, trotz noch stärkerer Ironie des anderen, schön geschwun­
gene, schön geschlossene Konstruktionen, an denen alles stimmt
außer der Welt, die sie scheinbar so realistisch darstellen. Die
Fragen blieben auf der Symptomfläche, worauf sie ausgefabelt
sind; das dargestellte Leben dieser Ärzte, Staatsanwälte, Edel­
knaben, Zeitverlierer ist nid1t so wirklich wie ihre Beredsam­
keit, wie die angenehme Säure ihrer innerbürgerlichen Zwei­
fel. Nun aber ging das schwarzrotgoldne Publikum als Leser wie
Stoff dahin, auch die lesende Mitte ist wild geworden und wen­
det sich zum Teil gegen die Dichter ihres Juste milieu. Einen
besonderen Fall unter ihnen gab nur, zuweilen, Gerhart Haupt­
mann ab, und zwar negativ, weil er zuerst den Naturalismus in
blondgelockte Träume und versunkene Glocken umbog, posi­
tiver wegen der alten Gegend, worin manche seiner Figuren
hausen. Weid1 und verräterisch wie ein Sozialdemokrat hatte
dieser Diduer doch genau zuweilen das Halblidlt, das einer noch
echt ungleichzeitigen Welt zukam, nämlich der Schlesiens. Einer
Welt, besetzt mit Holztischen, Waldleuten, Sturm, Abend, ver­
schwimmendem Schneelicht, mit der Schenke Pippas im Rot­
wassergrund, mit Funken aus Glasöfen und dem dumpf gefüll­
ten Eulen Spiegel eines geisterhaften Deutsdlland. Mit Hannele,
-

das im Tode ihr Glüd< gefunden, mit armen Bestien und


Gesänge der Entlegenheit 199

der Gier verworren-unglücklicher Kältegötter, mit schmalen


Funken von Sehnsucht und Sonne. Insofern brachte Hauptmann
ein Stück »Rotwassergrund« in die Literatur, das wegen seiner
Menschlichkeit zum fascistischen Gebrauch nicht recht taugt,
obwohl es zurückgebliebeneFolklore, auch Geheimnis für nicht­
liberale Bildung mehrdeutig bereitstellt. Aber die barbarisierte
Mitte findet auch hier keinen Spiegel, sie kehrt das Wort Zivi­
lisationsliterat, das Thomas Mann einmal erfunden hat, bevor
er die Folgen sehen konnte, gegen die gesamte liberale Rasse,
mitsamt ihren »Brunnenteufen« oder Protuberanzen; sie ver­
langt weniger durd1gedrehten Schein. Darum findet selbst die
Versponnenheit des neuesten Thomas Mann ( als Mythologen)
wenig Pardon; obwohl alle Gehirnfragen des Zauberbergs in
den Josefbüchern höchst »irrationale« Urbilder geworden sind,
obwohl selbst das Zeitproblem des Zauberbergs sich in einen
veritablen Zeitmythos (des Uralt, des Immerwieder ) verwan­
delt hat. Aber ist ein Raum wie der des Josefromans auch ein
Zeichen der Zeit, so fehlt dieser, als fascistischer, doch der Zu­
gang; teils wegen des Gebildet-Verwickelten, Gelehrt-Parabo­
lischen der Mannsehen ,,Urzeit«, teils wegen der Ironie, die der
Liberalismus auch als »Goldwana-Kontinent<< nid:lt lassen kann
( "nicht ohne vernünftigen Beifall vernimmt man die Lehre« -
das bleibt seine Haltung selbst zur ,,Höllenfahrt« ).
Der schiere Rausch will statt dessen, was ihm sofort den
Sdlein macht, was Blut sehen läßt, dampfend. Hier hausen zu­
nädlst, in einzigartiger Mischung, gut wilhelminische Fest­
redner und sdllecht erneute ,,EJ..rpressionisten« durcheinander,
eine "Barbarei« ohnegleidlen. Ihr einer Ort ist die Brust des
Oberbürgermeisters oder folgende Festrede bei der Grund­
steinlegung eines Wagnerdenkmals in Leipzig: ,,Noch eine
zweite Schale wird den Eindruck dieses Monumentalblocks n i
die Stimmung opfervoller Weihe taudlen.« Ihr anderer Ort ist
die Tiefe deutscher Urnacht, Isolierung und Außermenschlich­
keit; so gibt der nationalsozialistische Dramatiker Dietzen­
schmidt seinem Schreibtisch folgende Topographie: ,,Nur diese
Verlassenheit und Einsamkeit, die Füße im Nidlts, die Stirne
in der Kälte der ewigen Sterne, nur daraus findet sich unver­
bogene Schöpferkraft.« Aber auch hodl über diesen Untertanen
200 Gesänge der Entlegenheit

geht Nacht, sie verläßt die hirnliehe Kunst, um gedruckte Runen


zu bilden. Sie ersetzt den Schein gebildeter Abstraktheit durch
den finster-alten der Barbarei, kennt keine ))Schriftsteller<< mehr,
nur ))Dichter«. Der Fascist Benn etwa parfümiert die Leere seit
langem mit Wort-Aromen, braut daraus eine Art laxen Zun­
genredens, schlägt chthonisches Nachtsalz und kleines Sonnenei
in die Hohlräume der Zeit, macht Wolkenschiebung wie Zeus,
ja, mehr noch: Mystikschiebung. Hat jenes griechisch-römisc.'le
Tertiär, jene (wie Benns Dichtung sagt) ))thalassale Regres­
sion«, welche sich auf Regression und Faseismus nicht minder
. versteht wie auf das Thalatta eines schäumenden Aquariums
oder Antiquariats. Heroisch aber, ganz und gar nicht tertiär,
sondern griechisd:l-römisch von Anfang an, wird die Maske seit
langem im Georgekreis. Keine Haltung hier und kein Thema
der Bedeutbarkeit, das die bürgerlid1e Zeit nidlt zu richten vor­
gibt, das sie nicht ebenso auf ein heroisches Eleusis zurichtet und
zurettet (scilicet: auf Hitler ). Derart strahlen scheinbare Ur­
erlebnisse statuenhaft: Tat und Freundschaft, Gestalten der Ju­
gend, Rittertum und die Sternträger ilires Schicksals, der dunkle
Sonnenmensdl, das Pantheon eines heroischen Sonnenzirkels.
Es ist vertikale Entlegenheit schlechthin, eine solche auch,
deren Pan harter Süden sein will, griechisch-römisch vollendete
Natur, nicht die romantische oder unausgehämmerte reiner Bar­
barei. Hier ist Geniemoral über den Nöten des massenhaften
Daseins, hier fühlt sich der Dichter, mitten in elendester Zivili­
sation, als Letzter aus edlem Stamm; ja, Zeit überhaupt ist Täu­
sd:lung, der Dichter tangiert ihre Gunst oder stoffliche Miß­
gunst nid1t im mindesten, sondern gehordlt Urklängen und
umsdlließt sie mit strenger Mauer. Daher soll nur Lyrik, Epos,
Drama Dichtung sein, nidlt so der Roman der >>Smriftsteller«;
denn nur die Gärten und Walder der Lyrik halten altes Wasser,
nur episroe Felsen, dramatische Blitze von einst sollen darüber
sein. Scheinbargegen die Zeit und doch so völlig mit ihr,mit dem
Pathos der Berauschung gehen Gesänge der Entlegenheit; näm­
lich der selber romantischen Flucht. Der Flucht in ))Urbilder« ,
die dem ))Blutschein« sd1on gemäß waren, als noch gar keiner,
in Wirklichkeit, floß, die ihm damals schon den Faseismus zeig­
ten, das formidable Kapital, die goldene Leere, die gesperrte
Gesänge der Entlegenheit ZOI

Zukunft. Heute gar meldet ein »Grunddichter« wie Benn nichts


anderes an und sieht unmittelbar nichts als die Frage: >>Was
erleben wir denn nun an diesen Räuschen, was erhebt sich denn
in dieser schöpferischen Lust, was gestaltet sich in ihrer Stunde,
was erblickt sie, auf welche Sphinx blickt denn ihr erweitertes
Gesicht? Und die Antwort kann nicht anders lauten, sie erblickt
auch hier am Grunde nur Strömendes hin und her, eine Ambi­
valenz zwischen Bilden und Entformen, Stundengötter, die auf­
lösen und gestalten, sie erblickt etwas Blindes, die Natur, er­
blickt das Nichts. « Das ist, in gelehrter Akademierede, wie Kla­
ges und Heidegger zusammen gelesen, wie strömende Panmixie
des einen, wie Nichts des anderen: doch nur, um zu diesem
Nichts zu gelangen (aus der » Frigidisierung« des heutigen Da­
seins), dazu hebt solch Trostes armen Fascisten ihr All an, dazu
bedarf es des >>Vorstoßes der alten, noch substantiellen Schich­
ten«, dazu eines »großartigen, halluzinatorisch-konstruktiven
( !) Stils, worin sich das Herkunftsmäßige, das Schöpfungsfrühe
noch einmal ins Bewußtsein wendet<< ? Dazu spricht Sprache fast
wie Utopie? - und ist doch nur eine der Flucht, des selbstgenos­
senen Taumels, der polemisch gesträubten, der rein antitheti­
schen, also substanzlosen Dämonik. Nichts dahinter, nichts an
Objekt und »Perspektive« als ewige »Differenzierung zwischen
den Formen und dem Nichts«; als Südsee-Zitate ohne Südsee­
Welt. Und der Georgekreis, die »equestrische Wissenschaft«,
die schöne Gestus-Mystik, die an geschlossener Erscheinung sich
Genüge tut, fast gleich, was erscheint: ob geölte Ringer und ge­
salbte Pagen, ob Morituri, in leicht ritterlicher Haltung, oder
Gott Augustus, purpurn lebendig auf goldenem Wagen - dieser
Gestaltenkult also und überalterte Marstall, diese Imitatio Dan­
tes, Goethes und des Sonnengötzen Elagabal dazu: ist selbst die­
se Kavalkade ästhetischer Rentner-Ritter anderswo abgestiegen
als im Nichts und feudalen Tierreich, ja, huldigt sie nicht dem
Spießerkönig als ihrer Löwen Kern, enthüllt sie nicht die Leere
ihrer dekorativen Strenge, besingt sie nicht seit alters, über Rom
und Magna Graecia, trotz aller »Zeitkritik«, die herrschende
Bande, als wäre sie das geheime Deutschland, ist ihr nicht das
formidable Kapital, mehr als je, das Tabu aller »Zeitkritik«, die
Zahlbank alles Scheins, der Grundstock aller »Hierarchie«? Mit
202 Attrappe mit Gift

dickem Beckenklang setzte dies Wesen die Irratio eines poeti­


schen Herrenreichs, setzte die vermeintliche Haltung des Baro­
berger Reiters; doch kein George-Pathos ist echt genug, um zu
erkennen: die »Idee« des Bamberger Reiters ritte heute nach
Osten, gerade nicht als Feind, sondern um in der Ritterschaft
eines ganzen Volkes zu kämpfen und denselben Drachen zu
werfen, den das Georgetum zu Hause mit römischen Orden
behängt. Selbst »Dionysoscc ist im Georgekreis und der explo­
dierten Rausch-Mythologie um ihn her »Frühgott« nur als
Sd1aum vor antiquarischem Mund, als »Schrei, der durch
güldne Harfe saust«, durch dieselbe Harfe, die hinter dem Gott
Augustus getragen wird, purpurn auf goldnem Wagen. Höchst
nützlich geht dadurd1 die andere Gestalt des »Frühgotts« unter,
die Lebensfackel, der Sturm gegen Drud< und Bann. Was sonst
in den »Archaicc als Vermächtnis, gar an »Ewe« enthalten sein
mag, steht auf einem anderen Blatt: die verkauften Dichter des
Faseismus werden es noch fehen, jedoch nimt mehr lesen. Die
Berauschung ist ein ahnungsvollerer Bürgerengel als die Ironie;
sie wohnt nicht am Zauberberg der gegenwärtigen Welt, son­
dern an ihrer Propagandastelle, zuweilen auch - erhabenen Hel­
denblicks, Hehlerblid{s - an der Bruchstelle. Und der Rausch
aus ihr pythisiert diese Welt jetzt ebenso, wie er thalassale
Träume macht, unfreiwillige Orakel.

ATTRAPPE MIT GIFT

Die Begier nach neuen Dingen ist da und schiebt sich zurück. Es
sind zu dem Angestellten, wie sich zeigte, gebundeuere Schich­
ten gestoßen. Der Bauer, sodann die ältere Mitte: Handwerker,
Kleinhändler, sogenannte freie Berufe. Diese Mitte hat halb­
wegs noch Pflug und Boden, Hobel und Werkstatt oder aud1
nur das gemietete Büro. Indem sie, als pauperisiert, doch mit
zurückgebliebenen oder ungleimzeitigen Bindungen, vorstieß,
änderte sid1 überall, auch bei Angestellten, die frühere Lust der
Zerstreuung. Die gute Stube kam wieder, die Besinnlichkeit,
Atuappe mit Gift 103

der Vater Zucht und Sitte, zuletzt - unter wie über der guten
Stube - rachsüchtige Roheit und archaische Berauschung. Die
Roheit wurde geleitet von stellenlosen Sadisten und abgedank­
ten Offizieren; die Berauschung goß vor allem der deutsche
Rasputin ein. Die Bauern und Kleinbürger wurden nid1t nur
auf Juden abgelenkt, der Konkurrenzkampf der Mitte nicht nur
durch durchsichtigsten Antisemitismus gemildert: es hatte auch
Undurchsichtigeres im Betrug Platz, die Gemeinschaft, die
))Seele«, der ))Führer«, das >>Schicksal«. So geriet der fascistische
Staat, der Wolfs-Staat ( der zwischen Wölfen und Sd1afen,
Kapitalisten und ihren Opfern ))vermittelnd« eingreift ); so
wurde Sozial-Demokr2tie ausgewechselt mit einer neuen
Attrappe, der Sozial-Autokratie. »Die Erschütterung, die heute
die Welt durchbebt, ist die Rache der Natur gegen den intellek­
tuellen Versuch, ihre Gesetze zu durchbrechen« ; war die feudale
Ordnung »gottgewollt« , so ist die kapitalistische aus der ))Na­
tur«. Berauscht glaubt der Mittelstand seine eigene »Natur«
darin zu finden, berausdu sieht er ihre Aufzüge auf der unifor­
mierten Straße, gläubig nimmt er den Brand Roms, den die
Kommunisten angelegt haben, gläubig die Versprechungen des
Volkskanzlers. Das Ganze ist kompliziert wie eine Buchfäl­
schung (mit Runen aus täglichem Blut) und einfach wie die
Wahrheit, wenn sie an den Tag kommt. Niedergehende Mitte,
ungleichzeitige, also stumpfe Widersprüche hier; Betrüger, Ver­
brecher, monumentale Winkelpropheten dort, die diese Wider­
sprüche deformieren und sie in den Dienst des Großkapitals
stellen; Niedergang eines Kapitalismus selbst, der sich formi­
dabel macht: - das sind die drei Momente des deutschen Fascis­
mus, und das dritte ist vorerst das herrschende unter ihnen.
Aber rasen Bestialität und Mythos audl in Sackgassen, so wird
den Palästen kaum dodl wohl, macht der Rausd1 in der erkann­
ten Sackgasse kehrt. Hunger stirbt audl bei ökonomischer Un­
wissenheit nidlt, Glanz der Berauschung sättigt und beruhigt
erst recht nicht, im Gegenteil; beide machen des Dritten Reichs
so lange begierig, bis nur das Vierte und Letzte übrig bleibt. Der
Staub, den dieExplosion des Ungleichzeitigen aufwirbelt, ist dia­
lektisdler als der der Zerstreuung; er ist selber explosibel. Sozia­
listischer Gebraud1 und die Kunst, Irrationales - unschädlich,
Attrappe mit Gift

mehr, helfend zu machen: das istder Abschied von den ungleich­


zeitigen Dingen; er ist ein konkreter, mit beherrschter Zukunft
noch in den Menetekeln dieser Vergangenheit.
DRITTER TEIL

GROSSBÜRGERTUM,

SACHLICHKEIT U N D MONTAGE
DER RUCK

Wir sind außer uns. Der Blick schwankt, mit ihm, was er hielt.
Die äußeren Dinge sind nicht mehr gewohnt, verschieben sich.
Da ist etwas zu leicht geworden, geht hin und her.

NEUES ECKFENSTER

An diesem ruht man kaum aus. Das Auge betrachtet nicht, es


wandert mit. Das große Fenster läßt nicht bloß Licht auf den
stillen Tisch fallen, sondern auf das Leben derer ohne ihn. Die
gleichsam froh sind, noch Arbeit zu haben.
Der Boden draußen ändert sich, als wäre er keiner. Zur Rück­
seite Blick auf einen Hafen; der Kai garniert sich von Stunde ;-:u
Stunde verschieden. Schiffe von weither decken das Wasser zu;
ein flach gewölbtes Verdeck, rauchende Kombüse, manchmal
wird ein dunkelblauer Mann sichtbar, meistens ein Spitzhund.
Krane fahren den Steg ab, drehen ihre Hebel und greifen ein.
Mit leeren Backen in Korn, Weizen, Kork, Schwefel, mit Ketten
um Steine und Eisenstangen. Die Händler sind fern, und der
Hund, der den Knochen verdient, bekommt ihn nicht.
Noch bewegter wird der Blick auf die andere Seite. Karren,
Autos, Elektrische, Menschen und Gefahr dazwischen. Auf dem
Hafen war immer etwas Mond sozusagen, gleitend; das Bild
der häßlid1en Straße dagegen ist grell, bitterer, klarer Alltag
und Durcheinander. Frühmorgens, spätabends Arbeiter, über
Tag Geschäftsleute, eine überalterte Dampfbahn schleicht als
offene Wunde hindurch. Zweimal die Woche Markt mit Ge­
müsen am Platz, auch mit Blumen und Orangen, die schlecht in
den Ruß passen und singen, was nicht hierher gehört. Echt ist
der Platz erst wieder, werden mittags die Stangen abgeschlagen;
208 Ludwigshafen-Mannheim

ein Lautsprecher spielt Märsche, ein Mann erzählt, wo es Betten


auf Abzahlung gibt, manchmal sieht man rote Fahnen, manch­
mal spielt die Heilsarmee. Die Straße und der Platz dahinter
sind durchaus wahr, als von heute, ohne falsches Licht, und im
Gewühl ihres Tuffs raucht es. Anders als dort, wo Herren und
Damen spazierengehen, wo Anlagen sind, so daß man gar nicht
mehr weiß, wo man ist. Hier weiß man es und hat keine Seide
zu spinnen. Die Luft geht frisch, durchaus nicht rem, doch sie
läßt nicht rosten.

LUDWIGSHAFEN-MANNHEIM ( 1928)

Sonst rußt das 01 mehr für sich. Oder nur dort, wo gehobelt
wird, liegen die Späne. Die Hobler wohnen in Mietslöchern, die
Straßen sind trostlos. Weit weg aber wohnen die Herren mit
dem von anderen verdienten Geld. Hatten Häuser wie Nippes,
bekleideten sich mit alter Form. Kein Laut von dem sauren Tag­
werk drang herein.
So trennten sich früher schon die Viertel, wo geschafft wird
und wo verzehrt. Zwar sprang die Technik auch in ältere, edle
Stadtteile vor, zerstörte das Bild. Die Zufahrtsstraße vom Bahn­
hof war meist eine andere als die von der Landstraße gewor­
den, verlegte die alte Achse. Aber immerhin starb die über­
kommene Stadtkultur nicht ganz; der Wall, der Ring wurde
bepflanzt oder gar Wohngegend. Der neue Wasserturm genierte
sich, in den achtziger Jahren, einer zu sein, wurde wie ein Hum­
pen gebaut. Aud1 gesellschaftlia.� rückte die Bourgeoisie ins
höfische Vergnügen ein, hatte ihre guten Konzerte, plauderte
in den Logen.
Schlecht aber erging es dabei neuen Städten, denen nichts die
Sduitte lenkte. Besonders wenn sie neben einer alten Kultur­
stadt liegen, wie Ludwigshafen neben Mannheim, auf beiden
Seiten des Rheins. Der Fluß trennte sd1on genügend, die bay­
risch-badische Landesgrenze hinderte erst recht jeden Ausgleich.
Ludwigshafen war derart verpflichtet, eine eigene Stadt zu
werden, nidlt etwa nur eine Vorstadt, worin die Abwässer der
Ludwigshafen-Mannheim 209

Industrie fließen. Bei seiner Gründung vor 7 5 Jahren war es


durmaus als Konkurrenz gegen Mannheim gedad:lt; so richtete
es sich auch weiter höchst gegenwärtig aus Eigenem ein. Hier
ist darum eine Stelle, bezeichnend fürs kapitalistische Jetzt
durd:laus, wo die Hobler in der Stadt selber wohnen, wo keine
schönen Häuser weit weg, erst recht keine früheren Stadtkultu­
ren das Jetzt überschwindeln. Die Badische Anilin- und Soda­
fabrik, der Kern von I. G.-Farben ( hierher verlegt, damit Rauch
und Proletariat nicht nach Mannheim bliesen), wurde das buch­
stäbliche Wahrzeichen der Stadt. Drüben lag das Schachbrett
der alten Residenz, heiter und freundlich gebaut wie zu Her­
mann und Dorotheas Zeiten; hatte statt der größten Fabrik das
größte Schloß Deutschlands, vielleicht weniger Wahr-Zeichen,
im XIX. Jahrhundert, doch eine schöne Dekoration, die der
Bourgeoisie Haltung gab. Wann immer sie bei Kaffee und Zi­
garre angelangt war und dem Höheren. Ludwigshafen dagegen
blieb der Fabrikschmutz, den man gezwungen hatte, Stadt zu
werden: zufällig und hilflos, vom Bahndamm im Kreis entzwei­
geschnitten, ein Zwickau ohne Hemmungen, nach dem falschen
Morgenrot von Biedermeier, das in seine Gründungszeit fiel,
ein äußerst nasser Tag. Die Anläufe zu »Kunst und Wissen­
schaft(( gerieten lächerlich, wurden alle von Mannheim abge­
fangen; es gibt in der zahlenmäßig längst perfekten Großstadt
heute noch kein Theater. Auf dem Marktplatz steht ein »Monu­
mentalbrunnen« (er heißt so); der ist grau, gelb, weiß, rot, weil
er sämtliche Sorten des pfälzischen Sandsteins enthalten sollte.
Männerköpfe, Wappensprüche, Säulen, Nischen, Urnen, Krän­
ze, Schiffchen, Kronen, Bronze, Becken, Obelisk, alles im mick­
rigsten Ausmaß - das Ganze ist vielleicht das schönste Renais­
sance-Denkmal des XIX. Jahrhunderts. Tausend gute Stuben
sehen von diesen Steinen auf uns herab; hier ist r896 in nuce
und in der Provinz. Und vom Bahndamm grüßt eine Trauer­
weide zum »Jubiläumsbrunnen« herüber (er heißt wieder so):
dort steht Gußeisen auf Tuffstein, die Bavaria verleiht der Lud­
wigshafenia die Stadtkrone, schräg unten lehnt Vater Rhein
grottenhaft, gießt spärlich Wasser aus seinem Füllhorn. Am
Bahnhof steht eine Schillerbüste, und die Berg-und-Talbahn
singt den Text dazu, Branntweinschenken heißen »Zur Pariser
210 Ludwigshafen-Mannheim

Uhr« und der theatralische Verein spielt den ))Scharfrichter von


Augsburg « : das istoder war bis vor kurzem dieses kleinbürger­
liche Wildwest am Rhein. Am feierlichsten Fluß Deutschlands,
mitten zwischen Speyer und Worms, mitten im Nibelungenlied
gleichsam, dicht neben J esuitenkirche, Rokoko-Bibliothek,
Schillers Hof- und Nationaltheater in Mannheim. Selten hatte
man die Wirklichkeiten und die Ideale des Industriezeitalters
so nahe beisammen, den SdmlUtz und das residenzhaft einge­
baute Geld.
Weshalb schreiben wir aber darüber mit so langem Anlauf?
Eben weil hier etwas umschlug, weil hervorkommt, wohin die
Zeit marschiert. Weil Ludwigshafen, das für mehreres steht,
plötzlich wichtiger geworden ist,- in der neuen Luft, als Mann­
heim. Da liegt, nein, da fährt nun die häßliche Stadt, aber sie
spektakelt so roh, Geld kreist und die I.G.-Farben dampfen. Da
ist etwas zur Front geworden, die alles an den Tag legt und sich
nicht mehr gebildet geniert. Selbst der Stadtgöttin Ludwigs­
hafenia wie auch dem Vater Rhein legte man jetzt einen Strick
um den Hals, am Jubiläumsbrunnen, und zog sie nieder, was
mindestens so symbolisch ist wie der Baumeister Solneß. Und
eine Vergnügungsmaschine soll an die romantische Stelle, ein
Theater dazu mit wechselnden Truppen, die gerade vorn liegen;
kurz, all der mischende Lärm, den die Bourgeoisie jetzt zuläßt
und der immerhin konkreter ist als Schiller und Ibsen, vom
Stamm Pensionsberechtigter gespielt. Die Knaben Ludwigsha­
fens habe Krane vor Augen, Jahrmarkt und Karl May, der
Mittelstand liest zwar auch hier seinen Rudolf Herzog, doch
ohne Glauben daran, die meisten lesen überhaupt nicht, doch
ihre Welt sieht aus wie Sinclair, manchmal auch wie Jack Lon­
don. Darin haben Wassermann und Thomas Mann, soignierte
Bürgerprobleme älterer Schicht, keinen Platz. Hier ist nur die
Rampe für Fabriken und was damit zusammenhängt, ist Roheit
und Gestank, doch ohne Stickluft. I. G.-Farben haben die Stadt
von Anfang an begründet, geben ihr jetzt erst recht das reine,
roh-kalte, phantastische Gesicht des Spätkapitalismus.
Städte dieser Art sollte man darum besonders wiegen. Im
Ruhrgebiet gibt es mand1e dergleichen, obzwar ohne so nah
srnarfen Gegensatz. Sie haben noch reaktionären Muff genug,
Ludwigshafen-Mannheim 211

den Stumpfsinn währender Kleinbürger, eine schauerliche Pro­


vinzpresse. Dennoch hat Ludwigshafen gegen den Typ Mann­
heim das ehrlichere Gesicht; seine Industrie zerstörte nicht erst
natürliche, kulturelle Zusammenhänge, sondern steht ab ovo
fremd zu ihnen. Da ist aufrichtigster Hohlraum des Kapitalis­
mus: dieser Schmutz, dieses rohe und todmüde Proletariat, aus­
getüftelt bezahlt, ausgetüftelt an laufende Band gestellt, dies
Projektemachen eiskalter Herren, dieser Profitbetrieb ohne
Legendenreste und Phrase, dieser schundig-kühne Kinoglanz in
den traurigen Straßen. So sieht es jetzt aus in der deutschen
Seele, eine proletarisch-kapitalistische Mischwirklichkeit ohne
Maske. Und rings um Ludwigshafen die dunstige Ebene mit
Sumpflöchern und Wassertümpeln, eine Art Prärie, die keine
Gütchen und Idyllen kennt, zu der Fabrikmauem und Feuer­
schlote bedeutend passen; die Telefonstange singt dazu. Das ist
ein guter Standort, um die jetzige Wirklichkeit zu sehen, um
mehr noch die Tendenz zu fassen, die sie ist und die sie auf­
heben wird. Ältere, gemütlichere Städte, PlüsdlStädte gleichsam,
haben diese Tendenz auch, dod1 nicht in solch traditionsloser
Luftleere. In so Jahren könnte auf dem kruden Boden eine Stadt
stehen, die sich gewasd1en, die sieb nicht einmal gewaschen hat,
sondern direktester Wud1s ist aus Schiffbau, Silos, Elevatoren,
FabriksaaL Die kommende Zeit hat hier mehr umzustoßen, aber
weniger anzuzünden als in der alten Kultur, die dafür mehr zu
plündern gibt.
Im jetzigen Schmutz blüht noch kaum etwas, der Rede wert.
An die vorgeschrittenste Stelle kommt nichts als dürftiger Ab­
hub Berlins, bestenfalls, hie und da. Dafür aber sind Sprung­
stellen da, die Berlin noch nicht hat, und in denen Improvi­
sationen nisten können, die kein ))Kulturwille« ahnt. Orte wie
Ludwigshafen sind die ersten Seestädte auf dem Land, fluktu­
ierend, aufgelockert, am Meer einer unstatischen Zukunft. Das
behaglid1e pfälzische Weinland, eine halbe Stunde von hier,
Hof- und Nationa!ilieater, die nahen Dome von Worms und
Speyer rücken vorerst fern. Die internationale Bahnhofhaftig­
keit schmilzt alles ein, hat weder die frühere Muse noch kann
sie sich am rezeptiven Genuß überkommener Bilder begnügen.
Der Nullpunkt, der schreit, das Chaos, das kalt und gegenwärtig
Berlin, Funktionen im Hohlraum

sich versd1iebt, ist dem Ursprung, der die Kulturbilder gemacht


hat, wahrscheinlich näher als das bloß >>gebildete« Bürgertum,
das sie im Eßzimmer aufhängt. Noch das Alte zu plündern, zu
Neuern zu montieren, gelingt vom Standort solcher Städte am
besten. Sie sind selbst ein Knotenpunkt; Arbeiter und Unter­
nehmer schürzen ihn klar, gleichzeitig, sad1lid1, zwischen sich
und Künftigem.

ÜBERGANG:
BERLIN, FUNKTIONEN IM HOHLRAUM

Dieser Ort zog zuerst wieder frische Luft ein. Arbeitete mit ge­
liehenem Geld, füllte sich die geflickte Tasche. Berlin hat in
Deutschland den Krieg gewonnen, die Stadt liegt spätbürgerlich
ganz vorn. Sie hat wenig ungleichzeitige Züge, im Sinn, wie wir
ihn kennengelernt haben; sie wurden ihr ganz zuletzt erst ein­
geführt und eingeredet. Berlin scheint vielmel;tr außerordentlich
>>gleichzeitig «, eine stets neue Stadt, eine hohl gebaute, an der
nicht einmal der Kalk recht fest wird oder ist. Soweit vorn frei­
lich eine kapitalistische Stadt auch l gt: sie ist vorerst nur

))gleichzeitig« im beschränkten, ja uneroten Sinn, nämlich im
bloßen Up to date. Fühlt sich der Unternehmer und Kaufmann
solcher Städte auch besonders auf der Höhe, »mitten im prak­
tischen Leben stehend((, gänzlich al pari mit der »Gegenwart«:
so hat doch selbst die relative Gleichzeitigkeit Berlins die Be­
schränkung, daß dem Bourgeois, wie Marx sagt, >>Geschick,
Kenntnis, geistige Einsicht und intellektuelle Hilfsquellen nicht
weiter reichen als seine Nase(( . Er liegt nur im Vergleich mit
älteren Klassen und mit Provinz an der Spitze, ist aber selbst
getrieben, selbst an eine spukhafte, dabei verdinglichte Waren­
bewegung angeschlossen, an eine Wirtschaft »stehender Tat­
sachen und Gesetze«. Dadurdl, daß ihm überhaupt nTatsachen
und Gesetzecc bestehen, nämlich statische oder gar ewige, ist der
Bourgeois nicht in der echten Gegenwart, sondern nur in ihr
als einem Caput mortuum, nämlidl im Produkt ihrer Verding­
lichung. Noch der Spätkapitalist, der am vorgeschrittensten up
Berlin, Funktionen im Hohlraum 213

to date ers<heint, befindet si<h um jenen Schritt hinter der echten


Gleidtzeitigkeit zurück, der Verdinglichung von der lebenden
Tendenz, bloßes Ausnutzen jeweiliger »Chancen« von der wirk­
lidten und konkreten Beherrsdtung des Prozesses trennt. Mit
anderen Worten: Gleichzeitigkeit ist keine, wenn sie ni<ht auch
übergleichzeitig ist; al pari mit der wirklichen Gegenwart steht
nicht der Kapitalist des unbeherrsdtten, wetterwendischen
Heute, sondern nur der Kenner und Beherrscher des Morgen
im Heute zugleich, kurz, der tätige Marxist. So hat also auch
die Gleichzeitigkeit Berlins, trotz der gewaltigen Vorgesdtrit­
tenheit und gleid1sam Unfertigkeit ihres Kapitalismus, unmit­
telbar gesehen, noch keine Wahrheit. Nur mit der Original­
quelle, sagt Burckhardt, geht der Geist die richtige chemisd1e
Verbindung ein; das auch im »gleichzeitigen<< Berlin. Wohl aber
mittelbar und von echter Gleichzeitigkeit her
lassen sich hier,
gesehen, Züge des Übergangs (des Morgens wider Bewußtsein
und Wille) besonders aktiv erkennen und betonen. Denn in der
relativen »Glei<hzeitigkeit<< des Großkapitals sind Arbeiter und
Unternehmer rein unter sich: Widerspruch der gesellschaftlichen
Produktivkräfte zu ihrer privatkapitalistischen Aneignungsform
ist hier auf homogenem Feld. Zwar zeigten sid1 bereits Staub,
Zerstreuung, zuletzt Beraus<hung im Auftrag des Großkapitals
genug; alle diese Momente des Betrugs wie der Anfälligkeit
wurden bereits als übergehend zu notieren versucht. Aber die
Navigation im Up-to-date-Meer, wenn auch in einem der un­
echten oder relativen Glei<hzeitigkeit, ist freilich leichter, sie ist
mittelbar darin »ZU Hause«. Mit andern Worten: das Morgen im
dezidierten Heute nimmt die Momente des Staubs, der Zerstreu­
ung, Beraus<hung relativ homogener auf; sie erscheinen dann
sozusagen als Staub hoch vier, nämlid1 im Schwung des Groß­
Sachlichkeit (die sich vergebli<h als Staub­
kapitals, in seiner
sauger gerieren möchte ) und vor allem in seinen Montagen. Die
Kulmination dieses Staubs hodl vier gesrnah an der zeitlichen
Bruchstelle zwischen der Zerstreuungs- und der Berauschungs­
welt, die die erstere ablöste, also um die Jahre 192 7-1929. Aber
die durchbrochene »Kultur« der herrschenden Klasse regiert
ebenso den ganzen Zeitraum, von der Markstabiisierung
l 1924
bis zur Hitlerstabilisierung 1933, und sie wirkt darüber hinaus.
214 Berlin, Funktionen im Hohlraum

An dieser Stelle übergreift der obere Fascismus ( als Haltung des


Großkapitals ) denNationalsozialismus (als Werbung der prole­
tarisierten Schichten im Dienst des Großkapitals); erst Fascis­
mus in diesem Sinn ist selbstverständlich die letzte Phase der
kapitalistischen Wirtschaft. Wo immer daher Konjunktur an­
geht, als Schein oder belebt durch Kriegsindustrie, sucht der
obere Faseismus auch erneuten Anschluß an die Technik und die
modernste »Ratio« in ihrem Gefolge. Dieser Anschluß ist im
Hitlerdeutschland durch die nicht »entartete« Spießerei samt
Narkose durchkreuzt oder erscheint nur als ein Moment unter
anderen in der Spannung Goebbels und Rosenberg, Flachdach
und Steildach, Stromlinie und Defregger-Kult; doch in Musso­
linis Italien wirkt gerade die »fortgeschrittenste« Architektur,
überhaupt ein völlig, bis zum Snobismus funktionalistisches
»Kulturleben«. Die stärker behinderte Faseismusklasse Deutsch­
lands tanzt nicht mehr so modern: dennoch hat sie selbstver­
ständlich einen anderen Ort erreid1t und bezogen als den der
Zerstreuung und Berauschung; vielrne!_u", in den dialektischen
Reflexen des Großkapitals überbieten sich diese beiden Mo­
mente durmaus und auf eigene Weise. Die wirklich letzte Phase
des Kapitalismus enthält, auf relativ vorgeschrittene Weise, das
Wendige der Zerstreuung und das Mischdunkel der Berau­
schung, kurz, sie enthält das Relativistische und Armaisehe zu­
gleim. Ersteres, als Moment der Zerstreuung, ist in der nackten,
scheinbaren, überbellen »Sachlichkeit<<; letzteres, als Moment
der Berausdmng, lebt vor allem in den Trümmer- und Misch­
figuren der mancherlei »Montage<<. Sachlichkeit und Montage,
so sehr sie dem Betrug dienen oder ziellose Assoziationen
machen, haben aber ebenso den Teufel im Leib: die Sachlichkeit
greift, wie jede Rationalisierung, zu anderen Produktions­
formen; und die Kombinationen mannigfacher Montage halten
keine abgel&ufenen Ganzheiten, keine verlogen angebeteten
»ewigen Werte«, sondern unterbrochene Trümmer, neu figu­
riert. Hier ist Unterbrechung und neue Fügung in einem Sinn,
der über die Auswechslung technischer Teile, gar über Photo­
montage weit hinausliegt und doch dieser Form nod1 gehorcht,
als einem wirklid1en >>Stückwerk«. Insofern ist Montage, nicht
Sachlichkeit die eigentlime Frumt des »Relativismus<<; denn sie
Der Schwung 115

imp1·ovisiert mit dem gesprungenen Zusammenhang, sie macht


aus den pur gewordenen Elementen, woraus die Sachlichkeit
starre Fassaden bildet, variable Versuchungen und Versuche im
Hohlraum. Dieser Hohlraum eben ist durch den Einsturz der
bürgerlichen Kultur entstanden; und in ihm spielt nicht nur die
Rationalisierung einer anderen Gesellschaft, sondern sic...i.tbarer
eine neut. Figurenbildung aus den Partikeln des chaotisch ge­
wordenen Kulturerbes. ))Schwunge<, ))Samlichkeit«, vor allem
»Montage« sind hier nun genauer zu bestimmen unc1 jedesmal
nach ihren zwei Seiten, nach ihrer unmittelbar kapitalistischen,
nach hi rer mittelbar brauchbaren. Danach folge eine variable
Galerie vielsagender Zeitphänomene, die aus dem »Relativis­
mus« Musik machen: vom »Sd1iffshaus« bis zu »Denkenden
Surrealismen«. Das ebenso abstrakte wie variable Berlin ist die­
sen Formen, zwischen Proletariat und Bourgeoisie, der immer­
hin vorgeschrittenste, der lehrreichste Ort. Lehrreich in der
Zerstreuung und Lockerung nicht nur, auch in den Vexier­
bildern geformter Lockerung oder des �xperiments, dem ein
spezifisch »Irrationales« nicht fehlt.

Der Schwung

Schon lange geht es derart windig her. Der Unternehmer fährt


mit Schwung und braucht ihn. Das preßt nicht nur das Letzte
aus der Mannschaft heraus, smont gar nimts, überflügelt.
Sondern mit Schwung gibt sich Spätkapital auch den Schein,
tätig und urhebend zu sein, statt gehetzt an den Warenumlauf
angeschlossen. Die Leere und Entfernung, worin der Unter­
nehmer zu sich und den wirldü:hen Dingen steht, hebt sich durch
überdrehte Zeit zwar nicht auf, doch erträgt sich besser. Indem
die Stadt immer mehr Tempo einlegt, scheint sich aus diesem
der Stoff zu bilden, der sonst überall fehlt. Das hält sich an purer
Bewegung fest, ja, erholt sich an ihr, gleich, wohin sie fährt.
Zum Unterschied aber auch vom Bauer, Handwerker, Junker:
nichts kann auf sieb und dem Seinen weniger beharren als der
Unternehmer. Nichts ist sichtbarer erst seit kurzem so und ge­
macht, nichts weniger gewachsen, weniger naturgewollter Zu­
stand; obwohl der Unternehmer von solchem spricht. Diese
2!6 Berlin, Funktionen im Hohlraum

Bewegung, wenn sie auf den Großvater zurücksieht, kann


wenigstens nicht sagen, daß der Mensch sich nicht ändert.

Sachlichkeit, unmittelbar

Bei soviel Wind wurde die Luft recht dünn. Sachlich sein, heißt
hier, das Leben und seine Dinge so kühl als leicht zu machen.
Zunächst spricht sich darin nichts aus als Leere, und sie erschöpft
sich im Weglassen. Und gleich darüber zeigt sich der Betrug,
sofern die Leere derart vernickelt wird, daß sie glänzt und be­
sticht. Die Entseelung des Lebens, das zur Ware-Werden der
Menschen und Dinge wird poliert, als sei es in Ordnung, ja, die
Ordnung selbst. Hier ist neue Sachlichkeit die oberste, auch un­
kenntlichste Form der Zerstreuung; sie ist es als Ablenkung
durd1 »ehrliche« Form. Es ist aber nur die Ehrlid1keit des
Vordergrunds, und sie gibt keine Handhaben, nicht den gering­
sten Schnörkel zur weiteren Prüfung; ein glattes Gesicht schützt
krumme Wege. Wie jener Bauer, als er eine Geldsumme erhielt
und sie nachzählen sollte, nur bis 6o zählte und dann aufhörte,
weil die Summe bis jetzt gestimmt habe und gewiß auch weiter
stimme: so soll es der Prolet und Angestellte mit der Sachlichkeit
halten; die vorne solange stimmt, als man in den Hintergrund
nicht weiterzählt. Ihr Licht, ihre Heiterkeit, ihre Klarheit mar­
kieren den Teil fürs Ganze, das Schaufenster fürs Geschäft. Das
erklärt die aufdringliche Heiterkeit (in einem durchaus öden
Leben ), die aufdringlid1e Klarheit und Nüchternheit (vor einem
durchaus zweideutigen Hintergrund); das erklärt noch die auf­
dringliche Festigkeit der Form (in einem durmaus kritischen
und labilen Dasein). Selbst das Bestechende der Formverhärtung
entspridlt nodl der Erholung des Kapitals, die um die gleiche
Zeit geschah; Form und Kapital machten übereinstimmend, im
Namkrieg, fest. Erst damals erschien die falsd1e Festigkeit von
unten an bis oben hinauf, bis zu den Bildern hinauf, welme an
den Wänden hingen oder aum nicht mehr hingen ( damit selbst
die besmeidenste Phantasie nimt störe). Statt der expressio­
nistischen Träume, »Ballungen«, doch auch Gewitter stabilisierte
sich ein »Realismus« ohnegleimen, nämlich einer der wieder
gesetzten Welt, des Friedens mit dem bürgerlid1en Sein. Nam
Sachlichkeit, unmittelbar 217

Noske erst gaben sich gemalte Verdinglid:mngen, Iuft- und


schwerelose Schemen in Bildern a la Sehrimpf als klassische
Wirklid1keit. Der Fortgang gar führte zu einem Haß gegen
Phantasie, als wäre Noske Cromwell und die revolutionär-ex­
pressionistisme Zeit - vor der Erholung des Kapitals - eine
katholisdle gewesen. Also kam mit diesem Phantasiehaß zum
Betrug ein weiteres Motiv, nämliru das Muckerturn der neuen
Sachlichkeit, ihr puritanisruer Zug mitten im kessesten Sd1ein.
Eine Reprise von klassizistisdler Ruhe und Strenge ging durch
die Welt, durch jenes Dasein voll edler Einfalt, stiller Größe,
worin die Kapitalisten leben. Wie der einfadle Betrug mittels
der Heiterkeit wirkte, so paradiert dieser tiefere, klassizistisme
mittels Strenge, Ornamentlosigkeit, Puritanerturn sd1lechthin;
soldle Sachlichkeit hat ihr Ornament daran, keines zu haben. Sie
ist längst nimt mehr reine Zweckform, vielmehr überzogen mit
temnoiden Zieraten. Ihr masdünelles Modell ist längst zum
Selbstzweck geworden, dient als Ornamentersatz und wieder
zu keinem anderen Zweck als dem der Stärkung der Fassade.
Ihr dient smließlim das letzte Motiv der Sadüimkeit, nämlich
die weit getriebene und dom abgebrochene, also abstrakt blei­
bende Rationalität; diese entsprimt, in ihrer Abstraktheit, zu­
gleim dem groBkapitalistischen DenkstiL Sie entsprid1t der
>1kapitalistisd1en Planwirtschaft« und ähnlimen Anomalien,
womit das Kapital zu Formen von morgen greift, um die von
gestern am Leben zu erhalten. Die Sadllichkeit dieser Art er­
langt natürlidl, wie in der Wirtsmaft so in der Baukunst so in
der Ideologie, erst redlt nur Fassade; hinter den eingebauten
Rationalitäten bleibt die volle Anarchie der Profitwirtsdlaft.
Unter der Decke regt sich zwar manmes auch hier; die Geräte
werden einfam und genormt, die Masdline sdlafft serienweise,
die stählernen Zimmer werden praktism smledHhin, und wären
sie nicht so teuer, so wirkten sie fast klassenlos. Planwirtschaft,
genormte Temruk, Kollektive, Stadtgründungen und derglei­
chen sind objektive Widersprüche zur Klassengesellsdlaft und
müssen ihr, als Rationalisierung ohne Ratio, zur Krise gerei­
dlen. Aber gerade diese Ratio, als eine konkrete, fehlt hier; die
Samlimkeit bleibt daher notwendig - auf kapitalistismer Stufe
gesehen und gehalten - abstrakt, ohne Inhalt, bleibt ))exakte«
218 Berlin, Funktionen im Hohlraum

Fassade ante rem. Ein geistiger Ausdruck dieser neuen »Exakt­


heit« ist derart noch die sogenannte »empirische Philosophie((
(als lucus a non lucendo ), das ist: die völlig abstrakte, doch
gerade deshalb sich »exakt« erscheinende Philosophie der Neu­
Machisten. Mach schon lehrte und kannte keine andere Erkenti't­
nis als die des mehr oder minder angepaßten, nichts Wirkliches
bezeichnenden ,,Modells«. Sad1lichkeit von heutzutage, bloß
heutzutage, läßt derart auf allen Gebieten nur Fassade entste­
hen, Fassade aus unterernährter oder abgebrochener Vernunft.

Sachlichkeit, mittelbar

Ins Einzelne der hier brauchbaren Stücke führt noch nichts her­
ein. Was der bürgerlidlen Wrrtschaft anschlägt, läßt sich auch
mittelbar für Anderes nicht verwenden. Und gewiß verhindert
der Betrug, dem die Sachlichkeit dient, sie weithin, in kapi­
talistischer Wirtschaft störend zu sein. Nur das aber ist, im
strengen Sinn, mittelbar gebrauchbar, was im kapitalistischen
Ort selbst schon als verdächtig oder widerspruchsvoll erkannt
werden kann; hic falsum index veri. Beachtet man diesen
Grundsatz, dann trennen sich allerdings gewisse Partien der
Sachlid1keit; es trennt sid1 nämlich die Ratio von dem schein­
klaren Betrug, auch von der ldassizistiscllen Verfestigung. Zum
Unterschied von Scll einklarheit ist Ratio in anarchistischer Pro­
fitwirtschaft ein tätiger Widersprucll, auch wenn dieser Wider­
spruch gedrosselt liegt oder ein Leben unter der Ded<e führt.
Indem die Ratio freilich nur als eine abgebrochene und abstrakte,
nämlich als privatwirtschaftlich begrenzte in der kapitalistismen
Sachlichkeit vorkommt, indem sie zuletzt gar, in Roosevelts
Amerika, zur planmäßigen Verniduung der Produktivkräfte im
Interesse des kapitalistiscllen Systems dient, kurz, zur »Stabili­
sierung« der Krise: ersclleint auch sie keineswegs bereits als
voller Index des Wahren oder als einer, den man nur weiter so
zu Ende führen, ganz ))vernünftig(( machen müsse, um einer zu
werden. Die Grundbedingung zum konkreten Gehraum der
vielen ))systematisch aufgezogenen Sachen« von heute ist viel­
mehr die gescll ehene Revolution; ohne diese eben ist Ratio
nur die bekannte - Rationalisierung. Daher denn auch die
Sachlichkeit, mittelbar 119

sogenannten Regungen unter der Decke, nämlich die vielen


technisch-kollektiven »Ansätze« im Spätkapitalismus nirgends
bereits unmittelbar als »sozialistisch<< begrüßt werden können.
Gemäß sozialdemokratischer >>Modernität<< a la Giedion, auch
gemäß einer Architekten-Zuversicht, die überhaupt nicht aus
Politik, sondern aus tedmoid fortgeschrittenem Können und aus
dem Willen zu seiner Anwendung erwachsen st, i die aber gleich­
falls, wenn auch mit anderen Worten, eine Art >>friedlichen
Hineinwachsens des Kapitalismus in den Sozialismus« propo­
niert, wenigstens dieses Orts. Das aber scheint eine falsche Mit­
telbarkeit, nämlich gar keine; sieht sie in jedem Schiebefenster
schon ein Stück Zukunftsstaat, so überschätzt sie offenbar das
technism-neutrale, unterschätzt das klassenhaft-parteiische Ele­
ment. Sie überschätzt die neutrale Sauberkeit, Bequemlichkeit
des neuen Bauens, die Herkunft aus Fabrik, aus technischer
Zweckmäßigkeit und genormter Maschinenware. Sie unter­
schätzt, daß dies »gleichmäßige hygienische Wohnen<< noch kei­
neswegs auf eine klassenlose Gesellschaft ausgerichtet ist oder
auch nur potentiell ausgerimtet sein kann, sondern auf jungen,
modern fühlenden, gesdunackvoll klugen Mittelstand, auf seine
sehr spezifischen, keineswegs klassenlosen oder gar ewigen Be­
dürfnisse. Sie unterschätzt den Termitencharakter, den die neue
Sachlichkeit überall dort ausrid1tet und unterstreicht, wo - wie
in Arbeiter-, auch Angestelltensiedlungen-das Geld zur Babbit­
Umgebung nicht reicht; sie unterschätzt die Repräsentation, die
sich umgekehrt modernes Großkapital aus seinem »Funktiona­
lismus« herstellt. Falsche Mittelbarkeit unterschätzt auch das
schlechte Ornament, das mit der Schmucklosigkeit getrieben
wird, ebenso wie den Fassadencharakter und die ungeheuerliche
Leere, die diesen Gebilden eignet; diese ist der Preis, den das
Spätbürgertum für die Entmythologisierung auf diesen Ge­
bieten zahlt und für die Abkehr vom Schwulst des XIX. Jahr­
hunderts. Unmittelbar jedenfalls ist hier kein Erbe, sondern
erst recht nur eines der Mittelbarkeit; nodl der Genuß dieser
Architektur ist sich seiner Bedenken bewußt, ist bereit, seinen
Enthusiasmus gegen das bourgeoise Gift empfindlich zu machen,
das in den Stahlbauten Mussolinis immerhin reichlicher ent­
halten ist als in1 - Säulenmonstrum des Sowjetpalastes. Diese
2.2.0 Berlin, Funktionen im Hohlraum

Empfindlichkeit ist desto wichtiger, je mehr in der neuen Archi­


tektur die alte Gesellschaft vergangen scheint; je mehr Kapitäle,
Portale, Mittelrisalite und die anderen Reflexe feudaler Über­
ordnung zu verschwinden scheinen, je offener bewegliche Gleich­
ordnung das Zimmer- wie Fassadenbild bestimmt. übernahm
Rußland selbst verwandteste Elemente der Sachlichkeit, nicht
nur Technik also, auch » Gemeinschaftsschulen«, »kollektive
Stadtanlagen(( und anderes mehr: so hat es doch die sogenannte
Decke und den Rahmen, vor allem die Materie der Zuständigkeit
so entscheidend schon verändert, daß selbst die Formen dieser
Ratio nicht die gleichen sind oder bleiben können, geschweige
ihr Inhalt. Hierher eben gehört, daß die neueste russische Archi­
tektur, wenn schon Repräsentation notwendig ist, wenigerWert
auf Ingenieur-Kunst legt als auf den »heimischen Klassizismus<<;
man spürt in der Sachlichkeit bourgeoises Gift mindestens so
genau wie mögliche Zukunft. Ist allerdings aktive Revolution
geschehen oder auch nur in Gang, dann geraten die konkret­
rationalen Widerspruchskörper, Zukunftskörper im Kapitalis­
mus unvermeidlich in Vermittlung; sie befreien sich aus ihrer
Suspektheit und Abgebrochenheit, sie befreien sicl-. erst redlt
aus ihrer abstrakten Ode, aus dem inhaltlosen Einerlei ihrer
Architektur. Selbstverständlid1 ist kommunistisdle Sachlichkeit
nidlt nur die spätkapitalistische minus Ausbeutung; vielmehr:
fällt die Ausbeutung weg, so entfernt der unausdenkbare Un­
terschied Profit und Anarchie aus dem Hintergrund, den die
abstrakte Sachlichkeit nur zugedeckt oder vermieden hatte, so
wandelt er nom die leblosen Zweckformen in gesellschaftlieb
beseelte um, so erhalten die kalkweißen Mietsblöcke, worin
heute Arbeitstiere minderer Größe hausen, Farbe und ganz an­
dere Geometrie, nämlim von einem wirklimen Kollektiv. Das
die verschwindende Privatheit nicht wie heute zum Elend macht
und die gesellsdlaftliche Lebensform nicht wie heute zur Me­
dlanik oder zum Zuchthaus. Und im Hohlraum der Ideologie­
losigkeit ist statt des Zynismus hier frisme Luft, statt des Nihi­
lismus das Nichts an Schein, woraus sich ein All erst bilden kann.
Sogar die »Denkmodelle<<, mit denen der Funktionalismus, Re­
lativismus neusachlicher Ratio vor seiner starren Anarchie
spielt, sind dialektische Theoriestücke geworden, einer selbst
Montage, urunittelbar 211

dialektischen Tendenz konkret zugehörig. Keineswegs aber sind


diese Elemente unter der sogenannten kapitaistischen
l Decke
schon da, sid1er nicht als ausgebildete; sonst wäre die neue Sach­
lichkeit nicht so fassadenhaft und reflexiv. Hier ist für Refor­
misten also kein Erbe anzutreten, sondern die Mittelbarkeit
des Blicks und Gebrauchs ist die Revolution. Immerhin täu­
sdlen jetzt sdlon die nackt gewordenen Teilstücke nur mehr
Fassade vor, nicht mehr Zusammenhang aus Bildung, Theater
und Plüsch. Und die Ratio wird von kapitalistischer Sadllich­
keit so platt abgebrochen und pervertiert, weil sie ihr so gefähr­
Iidl ist oder wird, so vorwärtstreibend, so sehr Konsequenz
·

unter Kompromissen.

Montage, unmittelbar

Hier erst ist der Wind durd1aus, von überall weht er her. Teile
stimmen nicht mehr zueinander, sind lösbar geworden, neu
montierbar. Faßlim für viele war zunächst nur das gesdmittene,
neu geklebte Lichtbild ))montiert«; im Umgang mit Maschinen
ist das Wort freilim älter. Audl am mensd1lidlen Leib wird
Haut, werden innere Organe versetzt; dom leistet der versetzte
Teil am neuen Ort bestenfalls nur, was des Ortes ist, nichts an­
deres. In de.r technischen und kulturellen Montage jedocl1 wird
der Zusammenhang der alten Oberfläche zerfällt, ein neuer ge­
bildet. Er kann als neuer gebildet werden, weil der alte Zusam­
menhang sich in1mer mehr als scheinhafter, brüchiger, als einer
der Oberfläche enthüllt. Lenkte die Sachlimkeit mit glänzendem
Anstrich ab, so macht manche Montage ·das Durdleinander da­
hinter reizvoll oder kühn verscl11ungen. Samlirokeit diente als
oberste Form der Zerstreuung, die Montage erscheint kulturell
als oberste Form spukhafter Intermittenz über der Zerstreuung,
ja, gegebenenfalls als gleichzeitige Form der Berauschung und
Irrationalität. Insofern zeigt die Montage weniger Fassade und
mehr Hintergrund der Zeit als die Samlidlkeit; ebenso hat sie
die Paradestücke der Sachlichkeit nur als Trümmer. Sie täusmt
keine Stabilität vor, welcl1e den Vordergrund verhärten will;
ihre Form war vielmehr - bereits in der Stabilität - der Jazz, die
Revue, das Mosaik aus Fetzen, Lumpen und Lockerung. Der
222 Berlin, Funktionen im Hohlraum

Jazz mischte Maschine und Sentimentalität zugleich; aber wie


der Maschinentakt die Trommel Afrikas einließ (und wieder
doppelt: als Aufregung und Bann), so kannte die Sentimentalität
das ironische Zitat, trieb Chopio, gar den Pilgerchor in die
Frechheit des Stegreifs. Noch verblüffender als beim Jazz be­
rührt sich die Revue mit konkreteren Intentionen der Locke­
rung: die Revue wurde nicht bloß Zerfall des Zerfalls, wie ihn
die bloße Gemeinheit der späten Operette darstellt, sie hob
vielmehr - in der Kraft des vollendeten Unsinns - auch die Ein­
heit der Personen, den letzten Zusammenhang der Architektur
auf; die Bühne schien aus sogenannten Träumen oder als Kalei­
doskop regelloser Wünsche. Freilid1 zeigte der Ausgang an Jazz
wie an Revue, daß nicht hier schon das Material irgendwo
konkret durdl Montage verändert worden ist, sondern das
Großkapital lenkte beide wieder (ohne daß eine Materialver­
änderung geschehen wäre) in die kleinen Formen der Irratio
ab - hier der Militärtrommel, dort der Hitlerparade. Auch die
Montage also kann unmittelbar immer nur als Mittel enden,
den Hohlraum zuzubauen; war die Sachlichkeit Fassade des
Vordergrunds, so endet Montage dieser Art als Schloß-Restau�
rierung des Hintergrunds. Entsprach der reflexiven Sachlid1keit
die Mode des neuen Machismus, so lebt die Montage gleichfalls
von »Modellen« ( die sie anpaßt und variiert), so flickt sie vor
allem, als bürgerliche Leermontage, den Abgrund des n Existere((
mit den sogenannten ontischen Erlebnissen (im Gefolge der
Husserlschule, bei Heidegger und, wider Willen bereits über­
gehend, bei Jaspers ). Diese letzteren Montagen, mehr Kaleido­
skope, werden später, an ihrem Ort, noch beachtet werden; fast
spukt darin sdlon Joyce herein, in eine Professorenphilosophie,
die derlei gar nicht kennt. Ohne das Ineinander der Stände und
Dinge gäbe es desgleichen kaum Verständnis für die Metamor­
phosen-Mythologie des rezenten Klages; soweit diese auch -
durch willenlosen Traum und Archaismen- vom Nolens- Volens
der »Montage« getrennt ist. Unmittelbar freilidl, in ihrer
eigenen bürgertimen Wahrheit, sind alle diese durchkreuzten
Emotionen oder Hieroglyphen nur ebenso durchkreuzter und
verbauter Hintergrund. Aus Trümmern, die den Mut nicht fin­
den, zu phosphoreszieren, aus Teilen der alten Welt, die immer
Montage: höherer Ordnung

wieder nur zum Gebrauch in der alten Welt umfunktioniert


werden. So ist mindestens gewöhnliche Montage unmittelbar
nur eine geschlossene Flasche: gesdlüttelt, oder ein fertiger Rest:
gemischt. Trotz einer Zeit, die mit »Revue« und Folgen man­
chen Übergang zur Avantgarde zu nehmen schien.

Nochmals Montage: höherer Ordnung

Doch nicht nur leichte Form drängt hier, in Fluß zu kommen. Sie
schäumte schon dort, als Pinsel und Feder ganz hoch hinaus­
wollten, nämlich expressionistisch. Damals wollten alle Künst­
ler, als »innerliche«, ein sozusagen musikalisches Spiel treiben,
ein bewegliches, ein kreuzungsreidles. Diese Lockerung, dies
Eintun der Formen in den Schmelztiegel war eines der expres­
sionistischen Ämter; kurz vor, in und kurz nach dem Krieg. Da
die Form bei den damaligen Mitläufern mit dem äußeren jeden
Inhalt verlor, also im Gegensatz zur gemeinten Ausdrucksfülle
nichtssagend wurde, wurde freilich auch ihr Ineinander, Durch­
einander sehr oft starre Manier. Abstraktes Rebellieren tobte
sich dann aus, ohne einen andern Boden als den der bestehenden
Gesellschaft zu finden, nur als einer verneinten; in diesem Schein
lebte uferlose Bewegung an sich, uferloser Schrei gegen den
Krieg überhaupt, für den Menschen überhaupt. Die abstrakt
gesprengte Form stellte sich gerade im selbtsgenügsamen, im
musisch fixierten Zerfall wieder her, weil sie gegenstandslos
blieb, das ist, weil sie keinen Anschluß an wirkliches, !<Iassen­
haftes Versinken und Steigen, an andere Gegenstände fand, als
die abstrakt abgelehnten der kapitalistischen Dingwelt. Das
musikalische Kaleidoskop gerann in diesem uneigentlichen Ex­
pressionismus kunstgewerblich, fast zur Tapete, ja, schlug ge­
radezu in sein Gegenteil aus, nämlich in den sogenannten Kubis­
mus, das ist, in selbstzweckhaften Genuß an lngenieurkunst, in
die Verdinglidlung geometrischer Konstruktion an sich. Führten
vom Kubismus sehr rasch Wege in die neue Sachlichkeit, so
haben Noskes Feldzüge freilich auch den eigentlichen Expres­
sionismus beendet, diese erste und ecl1teste Form ungegenständ­
licher, anders gegenständlicher Traum-Montage in unserer Zeit.
Diese Montage war nicl1t die bucl1stäbliche im Kunstgewerb-
Berlin, Funktionen im Hohlraum

liehen (Uhrräder oder Holzklötze auf manchem Olbild), auch


nid1t der Münchhausen ganz beliebiger Titel (sieben aufein­
andergestellte Hutschachteln als Geburt Christi): der Expres­
sionismus im Original war vielmehr Bildsprengung, war auf­
gerissene Oberfläche aum vom Original her, nämlich vom
Subjekt, das gewalttätig aufriß und verschränkte. Dies Subjekt
bürgerlich-ästhetischer Opposition (gegen Zusammenhänge
der Oberfläche, bildhafte und stabile ) blieb also nimt, wie die
Mitläufer, bei jener Malerei, die sim noch mit Stolz eine nah­
strakte« nannte; nicht bei Kubismus und Tapete. Vielmehr
sumte es durmaus Anschluß an die Welt, freilid1 an eine andere
als an das Subjekt-Objekt undeutlicher Gärung und phantasti­
smerKristalle. Edlter Expressionismus (das Folkwang-Museum
in Essen bewahrt von ihm eine Sammlung wahrer Vulkanaus­
brüche) legte nicht nur subjektivistisme Intentionen in eine
weggeleugnete Materie, sondern überzog die Welt mit Krieg,
montierte ihre Brud1stücke zu Fratzen, montierte in die Hohl­
räume vor allem Exzesse und Hoffnungen stoffhaltiger Art,
archaische und utopisme Bilder. Aum dieser Expressionismus
hatte, obwohl er die Verdinglidmng sprengen wollte (statt sie
abstrakt zu ignorieren ), nom keinen überlegten oder verstan­
denen Anschluß an die Konkreszierung, nämlich an den revolu­
tionären Prozeß der Subjekt-Objekt-Vermittlung. Immerhin
hatte er, in der Avantgarde seiner Zeit, »Tendenz« genug im
Hintergrund; weshalb der »Blaue Reitercc des Expressionismus
besonders verdrängt worden ist, als die sozialdemokratische
Revolution den nEoden der Tatsachen« betrat. Aber auch heute
noch ist kein großes Talent ohne expressionistische Herkunft,
mindestens ohne deren�höchst gesprenkelte, höd:lst gewittrige
Nadlwirkung. Den letzten »Expressionismus« stellten die so­
genannten Surrealisten; eine kleine Gruppe nur, aber wieder
ist Avantgarde bei ihnen und: Surrealismus ist erst remt -
Montage. Bei 'Joyce, als dem Monument der »Surrealisten«, ist
Montage geradezu der Schlüssel aUer Wunderlichkeit, sie ist die
Besmreibung des Durd:leinander der Erlebniswirklichkeit mit
eingestürzten Sphären und Zäsuren. Die Sprache hier ist auf
nid1ts als Anfänge gebramt, auf verkommene Anfänge des
Klingklangs und in ihm nochmals kombiniert; die Handlung
Montage, mittelbar

läuft zwischen innerem Dialog ( der alles sagt, was der Person
durch die Sinne geht), Unterwelt, Querwelt und Überwelt ( die
wieder im engsten Leibkontakt stehen). Der Raum und Gegen­
stand der Handlung ist im n Ulysses« ein Tag unbedeutender
Personen (der aber mehr als tausendundein Tag sein möchte,
ja ein Omnia ubique in der Nuß). Zote, Chronik, Gewäsch,
Scholastik, Magazin, Slang, Freud, Bergsoo, Ägypten, Baum,
Mensch, Wutschaft, Wolke gehen in diesem Bildfluß aus und
ein, mischen sich, durchdringen sich in einer Unordnung, die
ihre Gestalt freilich bei Proteus sucht, im Durcheinander der
gärenden Natur, nicht mehr bei Prometheus, am expressiv
gärenden Subjekt. Als letzte Buchmagie wird Proteus selber
noch mit seinem Gegenteil tingiert, nämlich mit behaupteter
Symmetrie, ja, Durd1entsprechuog aller Teile; dergestalt, daß
nicht nur Leitmotive sich winden, sondern jedes Kapitel - in
der Kathedrale des Relativismus - Körperteilen, Farben, Mine­
ralien und dergleichen, mit ruhelos verdeckter Konkordanz, zu
entsprechen versucht. Die zerlegte Geige Picassos ist so, in
schwer durchschaubarer Breitstapelei, zur Wortkinetik gewor­
den; Relationen - nidlt gerade zu Dante, wohl aber zu den
Romantikern, geben dieser Art Montage das Mondlicht, worin
sie gedeiht. Heute ist das alles erst Bilderrätsel des gesprunge­
nen Bewußtseins; mit einer nTotalität«, die ihr All in Fetzen,
Gesprächsfetzen, Querschlägen ungerichteter Erlebniswirklich­
keit hat. Aber eine Welt, deren kurioseste Literatur die bürger­
liche Bildung so ausläutet, ist immerhin fähig, wenn sie keine
Dialektik treibt, diese an ihr betreiben zu lassen. Die konstitu­
tive Montage nimmt sich die besten Stücke, baut andere Zu­
sammenhänge daraus, und der Besitzer des früheren Zusam­
menhangs erfreut sich am neuen, falls dieser kein Flickwerk und
musischer Mythos bleibt, nicht mehr.

Montage, mittelbar

Ins einzelne der brauchbaren Stücke führt auch hier noch nichts
herein. Weniger der Betrug durch neue Ablenkung als der einer
ruhenden Verschlingung verhindert auch Montage, an Ort und
Stelle widersprechend zu sein. Wu hatten, bei der mittelbaren
:u6 Berlin, Funktionen im Hohlraum

SadJlidlkeit, nur das als mittelbar gebrauchsfähig bezeichnet,


was am kapitalistischen Ort selbst schon als verdächtig oder
widerspruchsvoll erkannt werden kann. Dieses ist auch hier das
Kriterium brauchbarer Erbstücke: sie müssen im Spätkapital,
das sie ausbildet, ebenso unvollkommen und verhindert wie
suspekt sein. Sie müssen das Irreguläre sein, nämlid1 en
i im
kapitalistischen Schoß entstandener Widerspruch aus echtem
Heute, aus Heute und konkretem Morgen zugleich. Das ist bei
Phänomenen der Montage gewiß oft der Fall; sonst hätte das
restaurierte Kapital nicht die mannigfachen expressionistischen
Aufrüttelungen und Schüttelungen gestoppt. Sonst würde Mon­
tage nurbeiJoyce erscheinen oder anderen »interessanten« Zer­
fallsfiguren und nicht auch bei Brecht, der sie geradezu als
Produktivkraft gebraucht. Nämlich als Unterbrechung des dra­
matischen Flusses und lehrhafte Versetzung seiner Teile, kurz,
als regiehaftes Politikum. Aber was bei der mittelbaren Sach­
lichkeit gesagt wurde, gilt auch hier: erst in und nach der Revo­
lution lassen sich Einzelheiten selbst herausmontieren. Einzel­
heiten des riesigen Improvisations- und Mischwesens, das die
Gebilde dieser Zeit, wie keiner anderen, in ihrem Fluß kenn­
zeichnet, in den Ornamenten ihres Relativismus, ihrer »Revue­
Kultur«. So wenig man aus der kapitalistischen Gleichzeitigkeit
jedes Erbe ablehnen darf, außer »der jeweils letzten Maschine«,
so wenig darf man umgekehrt jedes antinomisch Versehrte
schon als Leben unter der Decke notieren. So wenig sind erst
red1t aus einer bloßen ))Idee« von Montage Übergänge kon­
struierbar, bloß weil das gesprungene Bewußtsein des Spät­
kapitals hier Bilderrätsel aufgibt. Bilderrätsel und Vexierbilder,
die zum Teil dem Kapitalismus zwar irregulär sind, ihm aber
doch zum Glanz dienen, eben zum »interessanten« Glanz einer
geistigen Produktion, die regulär hier gar nicht mehr möglich
wäre. In und nach der Revolution freilich pointiert sich auch
die Braud1barkeit dieses Einzelnen, erst recht des ganzen Habi­
tus, und zwar ohne Gift; nur daraufhin lassen sich jetzt schon
))Montage-Gebilde« erinnern, damit sie im Begriff stehen,
nämlich in dem einer merkwürdig strudelnden Kultur-Ver­
gangenheit, die auch sozialistisch lange diese Form haben
kann. Was also i der
Montage, mittelbar, angeht: so fehlt ihr n
Montage, mittelbar 227

konkreten Zuständigkeit jeder Spaß leerer Kombination, jeder


Betrug des Kaleidoskops (um das Chaos des Hintergrunds
schlecht geheimnisvoll zu machen). Aud1 Montage ohne Ausbeu­
tung holt aus der zerfällten Oberfläche ihre Teile, setzt sie aber
nicht in neue Geschlossenheiten, sondern macht sie zu Partikeln
einer anderen Sprache, anderen Informationen, anderen Unter­
wegs-Gestalt der aufgebrochenen Wuklichkeit. Bei Brecht etwa
bestehen, dieserArt, unbedenkliche Verwendungen neumachisti­
scher Modelle; indes: wird jede eigne Form, erst recht jeder
materielle Inhalt ummontiert, so erscheint kein »angepaßtes«
Kaleidoskop, das nichts ändern will, es wird auch kein musisches
Chaos versucht. Sondern: die Montage des Bruchstücks aus dem
alten Dasein ist hier das Experiment seiner Umfunktionierung
in ein neues. Maschinelle, dramaturgische, gar philosophische
Montage ist mit mehr oder minder rascher Umfunktionierung,
das ist: mit dem Gebrauch kurzer und wegwerfbarer Modelle
gewiß nicht zu Ende. In den philosophischen Querbohrungen
Benjamins etwa zeigt sich: Montage holt sich das Ihre aus man­
chem Stegreif, der früher beiebig
l gewesen wäre, aus mancher
betonten Unterbrechung, die früher nur unbetonte Störung ge­
blieben wäre; sie holt eingreifende Mittel aus verachteten oder
verdächtigen Formen und aus Formen ehemals zweiter Hand.
Aus den Trümmer-Bedeutungen zerfallender Großwerke dazu
und aus dem Dickicht eines nicht mehr glatt arrangierten Mate­
rials. Montage hat den Zug zum Interim, zu neuer »Passagen­
bildung« durch die Dinge und zur Auslage von bisher weit
Entferntem; an anderen Stellen, so in manchen merkwürdigen
Versuchen der Surrealisten, von Max Ernst bis Aragon, ist sie
eine Art Kristallbildung am gekommenen Chaos, die die kom­
mende Ordnung bizarr versud1t zu spiegeln. Hier überall ist
nicht viel mehr als Programm, flüchtig, einsam und oft vorüber­
gehend; doch im meisten eben, was die zwanziger Jahre an
bedeutsamer Kunst und Wahrnehmung hervorgebracllt haben,
s
i t der Reiz dieses Programms oder die abgebrod1ene Teilnahme
an seinen Weiterungen. Schon die mi Selbsteinsturz des Bürger­
tums erscheinende Durdldringung und Vertauschbarkeit der
Teile liegt über der Gesdüossenheit seines bisherigen >>Welt­
bilds«. Ja, hier ist relativ vorgeschrittenes Bewußtsein noch
Die Leere

gegen jene Art vulgärmarxistischer Fertigkeit, die alles· recht


arbeitsteilig an seinem Ort weiß urrd alles recht abstrakt im
Rahmen. Relativismus, der den Sprung der geschlossenen Ober­
fläche anzeigt, Montage vor allem, die sich auf die unheimliche,
die experimentelle Figur dieserTrümmer versteht - so über­
liefert das Spätbürgertum noch »Kultur« oder läßt sie über­
liefern. Aus einem Guß gelingt auf diesem Boden nichts mehr,
er gelingt erst auf dem nächsten oder auf den Landzungen, die
der nächste ins Chaos hereinschickt. Doch ist der Guß geneigt,
mand1e Konkursmasse in sich aufzunehmen, vor allem eben
Bilderrätsel eines gesprungenen Bewußtseins, so wunderlich
und neu »den Menschen« meinend. Diese Art hat alles Negative
der Leere, doch sie hat auch, mittelbar, als möglich Positives:
daß sie Trümmer in einen anderen Raum schafft - wider den
gewohnten Zusammenhang. Montage im Spätbürgertum ist
der Hohlraum seiner Welt, erfüllt mit Funken und Überschnei­
dungen einer ))Erscheinungsgeschichte«, die nicht die rechte ist,
doch gegebenenfalls ein Misc:hort der rechten. Eine Form auc:h,
sich der alten Kultur zu vergewissern: erblickt aus Fahrt und
Betroffenheit, nic:ht mehr aus Bildung.

DIE LEERE

Keiner aber lebt sieb ein. Je weiter vorn im Neuen, desto kahler.
Die Wand im Zimmer sieht grau oder gelblich aus wie die
Straße, und der Boden ist sie. Glatt sc:hieben sich die Stühle,
nic:hts steht fest.
Kaum noch ist möglich oder nötig, recht zu wohnen. Das
leere Ich bildet sich keine Hülle mehr, um den darin zu bergen,
der ohnehin nicht zu Hause ist. Die Möbel versc:hwinden, lösen
sic:h in ihren bloßen Zweck auf, gehen an die Wand. Wie Lic:ht
an der \Vand, so wird die Hand am Schalter bald einen Tisch
andrehen, das tragende Feld seiner Platte, und ihn ausdrehen,
wird er nicht mehr gebraucht. Die neuen Straßen sind für sic:h ·

völlig leblos; wird eine alte Anlage abgerissen und eine frische
hingesetzt, so bleibt dennoc:h ein Loch. Nichts setzt sich an, der
Das Schiffshaus

Platz bleibt offen für das, was fehlt. Sehr trockene Art, nicht alt
zu werden, sie zieht um.

DAS S C H I FFSHAUS

Auch an diesem lernt man frieren. Drinnen wie draußen ist die
Wand nackt. Aber dafür sieht man das Innere offen, das Drau­
ßen bricht durch. Die dicken Stoffe sind gefallen, ein durchdrin­
gender Wille reist ab. All das möchte woanders sein als dort,
wo es so hohl steht.
Auch dies Haus hier täuscht nicht mehr vor, zu wurzeln. Rie­
men laufen um die Gesimse, aus blauem Stahl, nachts leuchtend.
Die betonte Breite ist keine mehr, sie erinnert eher an die Hun­
gerschlangen, welche vor den Geschäften gestanden haben und
nun hochgelaufen sind oder übereinander. Die Not zwingt zu
großen Blöcken, doch die offene Zeit bläst den Würfel an und
ändert seine Gestalt. Niedere Triren führen nicht mehr ins
sichere Haus, sondern an Bord. Kurven bilden einen Sdüffsbug,
die Schlangen ziehen Bänder um den Rumpf, selbst das flache
Dach, das so südlich aussieht, ist nicht so sehr dem Süden nach­
gebildet oder breitruhend, als vielmehr ein Verdeck. Treppen
von außen, eingenietete Rundfenste�: verstärken den fahrenden
Eindruck: das ganze Haus wird ein Sdllff. Hier kleben sich keine
Gespenster toter Stile an und spuken nach; ein Neues spukt
voraus, das ist und nicht ist. Jazz klingt vortrefflich zu Stahl,
und die Weisen Weills zeigen, daß der Stahl nicht stimmt. Das
Haus als Schiff verneint den Platz, worauf er steht; denn Schi.ffe
haben Lust, zu verschwinden. Die Ordre, wohin sie bestimmt
sind, wird nicht geöffnet, solange man noch kreuzt; erst später.
Doch einige Stücke daraus (ein lumpiger oder böiger Wind
pfeift durch) sind jetzt schon bekannt.
Z U R DREIGROSCHENOPER

Sehr viele sprach diese besonders heiter an. Sie hatten vergnüg­
ten Ulk, nahmen ihn mit nach Hause. Schlager dazu, süße und
bittere, merkwürdig geschärfte, doch nicht angreifend. Dies Un­
gefährlidle sdleint dort vor allem, wo der Bürger lacht. Die
Sdllager sdleinen dieselben, die er auch sonst tanzt, nur besser
zubereitet. Und die Bettler scheinen mit einer Lage einver­
standen, die sie so lustig noch singen und spielen läßt. Zum
frischen Ton tanzt manches, das es nicht nötig hätte.
Alles richtig, doch mit dem frischen Ton ist es wieder nicht
so weit her. Weill gelang eher, auf sehr lebendige Art, die
faulen Wasser auszuschöpfen, gerade die des Sdllagers. »An­
statt daß, anstatt daß sie zu Hause bleiben, brauchen sie Spaß«:
die falschen Tone, versetzten Rhythmen dieses Spaßes werden
auskomponiert und enthüllt. Dadurch wird die Triebbefriedi­
gung, die das Publikum sonst an Schlagern findet, verraten und
verräterism umgesetzt; nämlidl die Ware als Smlager hört auf,
und er erscheint als verhinderter Ersatz für ein Gut. Weill er­
reichte in leimter, ja vulgärer Maske viele, an die die vorge­
schrittene Musik nidlt herankam. Sind diese Vielen auch nur
zum kleinsten Teil Proleten, so madlt sidl Weill aus dem bes­
seren Klassengemisch, das zuhört, doch nicht >>Volkcc, das zu
singen wäre, sondern Zersetzung, die der leichten Musik bis
auf den Grund geht. WeiH ist nicht radikal eintönig und genau
wie Eisler, erst recht nicht ))musikantische<, nämlich falsch un­
mittelbar, wie die sozialdemokratische Urnatur Hindemith; er
nimmt noch weniger den Sdllager in Songgestalt auf, als wäre
er ein neues Volkslied. Ist er doch längst industrialisierte Ware;
gerade der neue, aus armen Negern und eleganteren Ur­
gefühlen, wurde besonders genormt und abgehoben, besonders
anonym und gegenstandslos in seiner Triebbefriedigung. Doch
ebenso ist im Schlager ein Seitensprung, ein Stück Hurengasse
und Juxkabinett neben der Prachtstraße; macht der Schlager als
Rhythmus, Melodie und Text auch völlig den genormten Zeit­
zug mit, so hat er darunter noch ein schiefes Gesidlt, ein kolpor­
tagehaftes, das mit größter Oberfläd1lichkeit die Oberfläd1en
sich abschminkt. Das Lumpenhafte des Schlagers bewirkt nicht
Zur Dreigroschenoper 2.3 1

bloß, daß er länger im Gedächtnis bleibt als das Mittelgut seiner


Zeit ( noch ganz frühe Schlager, wie Fisd1erin, du kleine, die
Holzauktion im Grunewald, Male, Male, lebt denn meine Male
nod1, der Rixdorfer, hängen im verwandten Unterbewußt­
sein ). Die Dreigrosdlenoper konnte audl an dies Lumpenhafte
sidl, kraft der gärenden Zeit, besonders genau anschließen: ihre
Bettler und Gauner sind nidu mehr soldle der Opera buffa, gar
des Lumpenballs, gar der Wohltätigkeit, sondern der zersetzten
Gesellsdlaft in Person. Daher, o falsdle Freunde, diese Töne,
daher Brechts höhnische Süße, geschärfte Leidltheit noch ein­
mal, daher die Weisen Mackie Messers und dieser1iger-Brown.
Daher die Stimme der Latte Lenja, süß, hoch, leicht, gefährlich,
kühl, mit dem Licht der Mondsichel; daher die Seeräuber-Jenny
und die dämonische Ballade, zu der sie endlich Luft bekommt.
Ohne den kühn gemad1ten Zerfall in Stravinskijs Geschidlte
vom Soldaten, wäre die Dreigroschenoper nicht; aber ohne den
gemeinen Zerfall, ohne die Sdllager seit r 88o erst iedu nicht.
Das >>Prickelnde« wie der Schmalz haben keine bessere Musik
mehr über sich als die, worin sie zitiert werden; die bredlende
Sdlönheit der Trompetenmelodie, beim Abschie<! Pollys vom
Räuber, wird zum Zitat eines Lebens, das nodl keinen Platz hat.
Der Versuch der Dreigroschenoper hat die smlemteste Musik
in den Dienst der heute vorgeschrittensten gestellt; und sie zeigt
sidl gefährlim. Aus der Hure im bürgerlimen Straßendienst
wurde eine anarchistisdle Schmugglerin, wenigstens eine an­
archistische.
Verschiedene Züge mengen sich miteinander, reiben sim. Der
kantigeTon und die dicke Luft, die gesrolossene Nummer und
der aufsässige Inhalt. Die vereinfadlten Ausdrucksmittel und
der äußerst VielstimmigeTraum der Seeräuber-Jenny, die fro­
hen Melodien und die blühende Verzweiflung; zuletzt ein Cho­
ral, der sprengt. Der Song handelt nicht, sondern beridltet zu­
ständlich, wie die alte Arie; doch ausnahmslos berichtet er einen
verfluchten Zustand (und den »verdammten Fühlst-du-mein­
Herz-schlagen-Text« ). Hier setzt sidl ein alter Keller als Haus,
zuweilen aucl1 setzt sicl1 ein neues Dad1 unmittelbar auf den
Boden; aus dem Quersmnitt beider läßt sid1 die Zukunft einer
Gesellschaft freilich noch nicht vorhersagen, gar betreiben. Der
231 Zeitecho Stravinskij

Genuß überhaupt, den solche Musik mit sich führt, steht der
Verwandlung der Gesellschaft - wenn nicht im Vleg, so nicht
immer auf dem Weg; ihr Ton hat nur bisweilen sein Schwert.
Hier sind künstlerische Grenzen überhaupt gezogen, auch Stär­
kerem als dem Versuch der Dreigroschenoper und ihren befrei­
ten Schlagerwaffen. Der Nagel. den noch die politisch geziel­
teste Musik und Dichtung auf den Kopf treffen, ist der gegebe­
nen Wirklid1keit nur sehr mittelbar einer zum Sarg. Aber kann
Musik Gesellschaft nicht ändern, so kann sie, wie Wiesengrund
mit Recllt sagt, illre Veränderung vorweg bedeuten, indem sie
»aufnimmt« und lautspricllt, was unter der Oberflädle sidl auf­
löst und bildet. Vor allem illuminiert sie die Antriebe derer, die
aurn ohne Musik in die Zukunft marschieren, dodl mit ihr Ie;ch­
ter. Weills Musik hat als einzige heute gesellsd1aftlidl-polemi­
sdle Sdllagkraft; und der Wind pfeift durdl, der ehrlidle Wind,
der ist, wo ihn keine Gebäude aufhalten, wo ringsum die Zeit
nodl keine Wirklichkeit ist. Den ))musikantischen(( Sängern hat
Weill, in ihrem eigenen >>Volk«, das packende Konzept verdor­
ben. Der Kanonensong zeigte, daß auch links Soldaten wohnen,
aber die richtigen. Und die Seeräuber-Jenny kam, auf Augen­
blicke, dem Herzen des Volks so nahe wie früher die Königin
Luise. Nichts zeigt klarer, wessen Schlager und die Lust des
mischenden Stegreifs jetzt fähig sind.

ZEITECHO STRAVINSKIJ

Was hohl ist, darauf läßt sich gut pfeifen. So audl hält es Stra­
vinskij mit sidl und dem seinen, er versucllte sdlon viel. Leere
trommelt betörend auf sicll selbst, bekleidet sich auch, zieht
Altes an, wird maskenhaft und tönt derart. Der Klang war erst
süß und glitzernd, dann schmelzend und heiter verwirrt, bis ein
Riß geschah. Er gesdlah 1 9 1 8 in der Geschichte vom Soldaten;
nirgends wurde dieses Jahr so zerfallen, so einsam und wichtig
irr notiert. Stravinskij aber ist die Maske, welclle immer anders
kann. Nichts hängt in seinem Spiel zusammen; eine treulose
Musik, eben dadurch heute audl ehrlidl. Der Klang ist jedesmal
Zeitecho Stl'avinskij 233

anders und, während sein Stück noch spielt, schon nicht mehr
ganz bei ihm.
Geschichte vom Soldaten: das zerfällt einen Mann, daß ihm
die Fetzen fliegen. Ein bewußter Ulk, der bald bewußtlos wird,
und woran Grauen ist. Der Soldat Josef hat 14 Tage Urlaub,
gibt dem Teufel seine Geige, nimmt ein Buch in Tausch, das vor­
geht. »Devisenkurse« liest er (genauer Schnittpunkt hier zwi­
schen Märchen und Teufelei ), Kurse die noch nicht da sind; als
Gast sitzt er beim Teufel drei Tage, aber es sind drei Wochen,
sein Mädchen zu Hause geht verloren, niemand zu Hause kennt
den Totgeglaubten und er liest in dem höllischen Buch, unselig,
seelenlos, ohne Musik, es regnet Titel, Noten, Gold. Und nun,
völlig aus der wimmernden, falschen, zerfetzten Partitur, aus
der genialen Falschheit ihrer Einsätze der Gewinn: Sieg des
Soldaten über den Teufel und das Böse unter dem Tisch. Die
Bühne wird hell, das ganze Theater, noch der Kronleuchter
flammt auf, mit halber Stärke, dem Orchester kommt ein Choral
sozusagen, lumpig und kariös, aber wahr und fromm wie »Ge­
lobt sei Gott« in atemraubender Kolportage, wenn Rettung
naht, der Freund, Bewaffnete, Licht. Doch auch dieses Glück
hält nicht, die errungene Prinzessin nicht, am wenigsten das
Heimatdorf; unter Musik aus lauter Agonie, im alten Bann und
vollkommenem Dunkel tappt die unersättliche Kreatur ihrem
Teufel nach ins Nichts. Und welche Szene aus Schizophrenie!
der Schnürboden ringsherum, ein offner Hohlraum, das jäm­
merlicheTheaterehen in seinerMitte, derVorleser dreifach mon­
tiert: als vom Soldaten berichtend, als Soldat oft selbst, als
Freund des Soldaten und Helfer der Szene, die in jedem Augen­
blick nicht weiß, wohin sie der Herr zum Tor hinaustreibt. Kaua­
ster mit Irrsinn dampftim Hoftheater, rauheTraumbilder ziehen
in seinem Rauch, der Vorhang des Theaterchens geht auf und
nieder, zeigt die Leinwände einer Moritat, dann Menschen
unbeweglich, dann handelnd, dann lebendig gewordene Wachs­
puppen in der Pantomine. Dies ganze verkehrte Wesen aber,
dies seltsame Gedicht des seltsamen Dichters Ramuz hat Musik
in Bilder niedergeschlagen, häßlich wie der Traum eines Irren,
blutig, zusammenhanglos, hell von unterirdischem Licht am Him­
mel und dann wieder eingestrichen, als die bezahlte Zeche der
2.J 4 Zeitecho Stravinskij

tiefen Nacht. Durchlöcherter Rhythmus überall, eine Orgie aus


falschen Tönen; Impression und Montage aus Lumpen und
Marche royal durcheinander, ein Hungertraurn, der aus Volks­
tänzen und Marktzauber von ehemals auf eine Landstraße zieht,
wo nur noch die Gespenster vergangeuer Musikparaden umge­
hen. In Stravinskijs »Petruschka« war noch der blühende Klang
des Jahrrnarkts, sah die Ballerina noch aus, wie ein Knabe sich
das \Veib vorstellt, war die sonderbare Süßigkeit der Drehorgel­
melodie, dies überstark Gefärbte, schmelzend sich Aussingende
bis zum Rest. Aber in der »Geschichte vom Soldaten« nächtigt
gerade die Folklore, und dieMusikdes böseSchlafenden erscheint,
die Welt des bis in den Tod Getriebenen und Schlafenden. Stra­
vinskij hat in ihren Bildern, in den gespenstischen Böen aus dem
Nachttraum, die die Kreaturbilder aufblättern und verwehen,
eine Art verlumpten Faust in Musik gesetzt, nämlich den Hun­
germann ohne Welt. Stravinskij, der Unzuverlässige, trägt hier
die zuverlässigste Maske, nämlich die desTodes; und seine Musik
ist der Sterbetraum einer Inwendigkeit, der kaum noch der Irr­
sinn, der Ulk des Irrsinns ein Boden ist, welcher den Fall aufhält.
Odipus Rex: Desto erstaunlicher hier der neue Ton, stählern,
sicher, vornehm. Statt der Lumpen starre Gewänder, statt des
Taumels dauernd weiße Ruhe.J edeSpurvonFlackern und Durch­
einander, aber auch von Wetter und menschlicher Unruhe ist
getilgt. Der Klang scharf hintereinander abgesetzt, Verschmel­
zung, gar Schwüle völlig vermieden ; keine Bewegung zwischen
den Menschen. Geschlossene Sätze, der minutiöse wie der Ge­
samtbau unerhört präzis, hart gerammt; eine Musik, die nicht
romantisch fließt, auch nicht zerbricht, wie in der »Geschichte
vom Soldaten«, sondern schlägt. Immer freilidl nur an Ort und
Stelle schlägt; das gilt für Melos wie Rhythmus wie für die
völlig auf sich beruhende Szene. Starr sitzender Chor, im Dun­
kel der bloßen Masse; Ödipus und Jakaste in musikalisdler
Blockeinheit, archaisdler Haltung; Figuren, an denen ihr Schick­
sal unentrinnbar sich aufspult und abläuft. Auch dies Maschinen­
wesen ist noch in der Musik, in ihrem nicht ohne Grund von ihr
gesetzten deterministischen Stoff. Hatte Stravinskij früh schon
maschinelle Neigungen, und fand er sein »Concertino<< erst
richtig gespielt, als es, wie er sagte, »lief wie eine Nähmaschine«:
Zeitecho Stravinskij 23 5

so ist diese erzmoderne Exaktheit hier der Exaktheit eines


Schicksalsstücks verschworen, das ebenso unentrinnbar ist. Mu­
sik bejaht hier wie dort das laufende Band der Notwendigkeit,
nobilitiert Fließarbeit ohne Pausen, Schicksal ohne Licht. Odipus
Rex, mit ))Psychologie weder davor noch dahinter, läuft derart
selbst als musikalische Schicksalsmaschine, in Beton einge­
schraubt. Oder in Marmor eingemauert: der ist zwar reich ge­
ädert, von italienischen Wendungen ( im Gesang der Jokaste ),
von altrussischen Vokalisen (im Gesang des Odipus und Teire­
sias ), doch die Starre bleibt selbst in der Schweifung, das maschi­
nell-armaische läßt kein unkontrollierbares Blühen frei. Diese
Starre ist der Tribut des späteren Stravinskij an die Pariser
Reaktion, ja, an die kapitalistisme Stabilisierung der Welt; dem
entstammt aum, was man den »Objektivismus« dieser Musik
nennt. Er ist betonte Entfremdung von aller Psymologie, dom
auch von allem Menschlichen; er ist eine ästhetische Entfrem­
dung, welche der wirklichen und unerträglichen des Betriebs,
der Zwangsläufigkeit Musik und damit gutes Gewissen zu ma­
chen bestrebt ist. Nicht ohne daß Cocteaus IateinischerText noch
ganz andere, ja, fast rätselhafte Elemente von Faseismus hinzu­
ließ und diese Elemente zugleid1 mit einer erzfranzösischen,
dabei phantastischen Erinnerung durchsetzt. In einer Zeit, wo
soviel Verdrängtes wieder aufsteigt, laufen auf dem Land nicht
nur ))pelasgische« Bilder um, sondern in der Stadt gewisser­
maßen ))attische« ; - sehr viel schwächer, auch mehr in Frank­
reich als in Deutschland und auch dort in bloßer Literatur, frei­
lich in empfindlicher und herb reaktionärer. Es ist eine seltsame
Zuflucht bürgerlicher Zivilisation zur Antike, woraus sie sich
herleitet; so vermehrt sich die kühle Welt von Vasenbildern,
welche Sadllichkeit, Wohnmaschinen, Hohlräume zuweilen
durchtönt, um eine Art Revenant-Musik aus dem Hades. Ein
anderes Stück Cocteaus ( Orpheus und Eurydike ), Kältemusik
wäre ihm freilidl fremd, mauert nicht nur moderne Notwen­
digkeit in antike ein, sondern montiert umgekehrt antiken Stoff
ins hellste Jetzt. Es setzt Eurydike platinblond und im Pyjama,
Orpheus mit Hornbrille und Polohemd, und zwar in ein fran­
zösisches Landhaus 1928: gerade dem modernen Prospekt aber
gehen griedlische Gestalten wie gerufen ein. Madame la Mort
Zeitecho Stravinskij

trägt Pariser Abendtoilette mit antiker Goldmaske bruchlos;


der alte Mythos hallt im Leben solch elegant-morbider »Gegen­
wart« wider, als wäre er ein Stück Prognose. Picasso, Stravin­
skij, Cocteau - sie sind, antiker Form sid1 nähernd, ein Drei­
klang geworden und die letzte Verfüluung zu »Maß«, die die
Obersd1icht der Bourgeoisie, in letzter Stunde, hervorgebradlt
hat. Nicht mehr gegen oder jenseits der Maschinen wie in der
Strauss-Hofmannsthalsdlen >>Antike<<, sondern mit ihnen. Der
Hohlraum füllt sim mit dämonischen Masken und Echorefle­
xen, mit einer erstarrten Montage masdllneller, antiker, byzan­
tinisdler, weiß-a1·cll aismer »Ordnung«. Odipus Rex, in Stahl­
ton und lateinischer Spradle, bezeichnet die hintergründigste
Fassade, zu der es die neueSadllidlkeit mitMontage gebradlt hat.

So verblüffend wirkt tönende Leere und das jetzt, wovon sie


hallt. Es ist eine genau großbürgerliche, jeder Stoß oder Einfall
von unten fehlt. Stravinskij hat mit Trommeln, die keine des
Fatums sind, seit der Histoire du soldat nimts mehr gemein, sein
Ort ist der der Entfremdung, mythologisierenden Entäußerung.
Dennocl1 ist er auch darin unzuverlässig, das Spiel der Entfrem­
dung steht dauernd auf düsterem Hintergrund, kann in Geläch­
ter und ganz offenbare Verzweiflung umsclllagen. Daher ist der
Bourgeoisie dieser ihr genauester Zeitgenosse und modisdlster
Musiker dennoch verdämtig; denn er hat immerhin das echte
falsdle Bewußtsein der Zeit. Auf der geoauen Höhe der groß­
bürgerlidlen Welt befindlidl, ist er trotz alles Objektivismus
nicht musikantisd1 und nid1t positiv; Stravinskij spielt in den
härtesten großbürgertimen Widersprücl1en, ohne Versucll einer
positiven Ideologie, einer musikalismen »Weltanschauung«.
Obwohl er der neuen Sadllicilkeit die Maschinenmusik, ja die
musika!ische Unmenschlicllkeit hinzugefügt hat, erscheint Stra­
vinskij der Bourgeoisie nicht weniger suspekt wie up to date:
der »Fascist» wirkt als »Kulturbolschewik«. Das erhellte, als
Klemperer, in den denkwürdigen Wintern der Krolloper, Odi­
pus Rex nach Berlin brachte. Lehrreich zusammen mit der Ge­
smichte vom Soldaten, zusammen mit Klemperers anderen
Taten der Reinheit, Exaktheit und Neugeburt. Unter dem Diri­
genten der Präzision, des feurigen und sauberen Hintergrunds
Zeitecho Stravinskij 13 7

klang auch der letzte Stravinskij, seiner Reaktion ungeachtet,


wie dämonische Gleid1zeitigkeit und wurde dazu. Die Bour­
geoisie findet in Stravinskij immer nocll Luxus, sogar ihren
höchsten, aber keinen Vertrauen erweckenden; vielmehr ist
Systemlosigkeit sein Name, die Härte eine in Masken und der
Stahlglanz einer über dem Spuk der Leere. Vor dem Odipus
bereits hat Stravinskij dessen Klassizität in >>Pulcinella« ironi­
siert; nach dem Odipus kam die Psalmensymphonie, ein Notbau
verblasener und scllleppender Gefühle. Die Beliebigkeit von
Haltung und Thema, die einen Richard Strauss schon in seiner
Blütezeit gekennzeidmet hatte, ist bei Stravinskij stählerne Un­
zuverlässigkeit und dadurch Genauigkeit geworden: nämlich
die einer in tausend und keinem Stoff explodierenden Spätkul­
tur. Stravinskij, von Revolution, ja, bereits von jedem konkre­
ten Experiment so weit entfernt, ist dennodl der präziseste
musikalische Spieler mit einer spätbürgerlichen Zeit geworden,
mit einem abstrakten, viel gebrodlenen, reflexreimen Raum.
Ein Wort nodl zu dem, was als mehr oder minder stählern
weiter umgeht. Fest, genau und hart stehen jetzt alle Stimmen,
die etwas zu singen, vor allem zu sagen haben. Auch WeiHs
Musik kehrt zur festen Nummer zurück, will darin nicht berau­
schen, sondern, so genau und umscllweiflos wie möglicll, unter­
streicllen. Aber die »dramaturgisclle Auswertung der geschlos­
senen Form« ist hier keineswegs selbst geschlossen; sie wurde
vielmehr revolutionärer Marsch oder zur Arie verfluchter Zu­
stände oder zum Protest gerade gegenVerdinglidmng und Men­
sdlenleere. In Weills »Bürgsmaft« etwa, keinem einwandfreien
Werk und einem mit musikantisch-objektivistischem Anschein,
brechen 'Wehmut und Nebel in die Gesd1lossenheit ein: jüdisdl
verdunkelter Süden im Klagelied der Mutter um ihre Tochter,
Musik des Nebelordens in den Räuberrufen an der Brücke, die
irreführen gleidl Naturstimmen, gleicll wehenden Naturstim­
men aus einem irischen Geistermärchen; gar Nebel auf dem
Fluß wird zur Kantate jener Ferne, worin die Mensdlen von
sidl selber sind, weldle sie ebenso nocll von gediegener Ordnung
und Erzklang trennt. So hat Weills Musik, als gegen Verding­
lid1ung stehend, zwar agitatorische Härte, antiromantisdle
Form, Bestimmtheit des Ziels durchaus, jedoch durchaus nicht
Zeited10 Stravinskij

Stravinskijs abstrakt (nämlim eben als Verdinglidlung) durch­


gehenden Stahl. Musiker andererseits, die immerhin exterrito­
rial zur Verdinglichung stehen, wie Alban Berg, erschweren den
Objektivismus (ohne Objekt) durm ein expressiv gebliebenes
Subjekt und seine Bestimmtheit eigener Art. Was Bergs » Woz­
zeckc< angeht, so ist Gegenstand seiner Musik weder die auto­
matische Härte eines Schicksals nodl bereits die erhabene einer
Kathedrale, sondern der arme, leidende Mensch, sondern der
Abgrund gerade des schutzlosen Wetters in und außer ihm.
Wind auf der Straße, die riesengroß aufspielende Angst des
Abendhimmels über der Stadt, der trübe Mond werden zur
Ausbreitung des Menschen oder zur Fata Morgana des schreck­
lich Allernächsten am Himmel; Wetter, nur dieses, ist im >> Woz­
zeck<< dramatis et musicae persona. Darum ist das Espressivo
hier ebenfalls nicht pathetisd1, sondern realistisd1, nämlid1 als
intensivste Bezeichnung des leidend vorhandenen Menschen;
Bergs Musik des Wozzedc-Mensd:len ist die Wettermusik seiner
Einsamkeit, seiner Unbestimmtheit und Trauer. So hat Bergs
Musik zwar realistisme Härte und Präzision durchaus, nämlich
am Abgrund sdmtzloserWetterhaftigkeit oder der armen Leute;
dodl wegen dieses konkreten Gegensatzes zu allem abstrakt
durmgehenden Stahl fehlt Stravinskijs abstrakter, dämonischer
oder verfrühter Stahlton erst recht, rechtens. Bergs Musik smlägt
den abstrakten Stahlton des Objektivismus gerade in der Rea­
lität; sie sd:llägt das Kollektiv ohne Mensd:len, welffies der Ob­
jektivismus setzt, mit Mensdlen ohne Kollektiv, als dem derzeit
realsten Zustand. Und die Härte selbst? - es ist ein sonderbares
Sdlauspiel, daß eben die Maskengestalt Stravinskij sie besitzt,
wogegen der allerstrengste, allerkonstruktivste, der Zwölfton­
Musiker Schönberg so billigen Kaufs nid:lt davonkommt. In der
Tat sprid:lt bei ihm ein unruhiges Idl, untergründig, triebhaft,
auf Reise, abseitig, es gibt auch ted1nisd1 keinen Grundton des
Bezugs, die herrschende Tonart versmwindet, die neue Strenge
wird eine des Wegs und der unerfüllten Bewegung, die darauf
geht. Sd:lönbergs Feinde mißverstehen daher den Neuerer als
letzten Romantiker, wo nid:lt als eine Art entsinnlid:lten Cho­
pin; die Strenge wiederum, womit das Atonale gebändigt, er­
sdleint ihnen idealistisdl, nämlidl abstrakt und selbstgenügsam
Zeitecho Stravinskij 2 39

geschlossen. Schönbergs Kenner dagegen sehen hier gerade die


Ausdrud<smusik des privaten bürgerlichen Individuums, ledig­
lich ihre eigenen Konsequenzen verfolgend, zur Aufhebung
gebracht; in der übersteigerung, welche »Subjektivismus<< und
nidealistische Systematik<< hier zugleich erfahren, wirkt jene
Dialektik, welche beide Erbschaften aus der Romantik legiti..'ll
überwindet. Gerade die vollkommene Expression erlischt, so­
fern ihrer Macht das gesamte musikalische Material unterwor­
fen ist; gerade der strengst entdinglichte Kontrapunkt wird auf
der anderen Seite, wie Haba sagte, zum Musikstil der Freiheit,
das heißt, wie Wiesengrund sagte, zur vollkommenen Durch­
konstruktion, als welche erst den nicht mehr mechanischen Men­
sehen freilegt. So ist Schönbergs Programm und die schwierige
Art seines Expressive zwar ohne rechten Zusammenhang mit
der Zeit, doch ein Ferment der Zukunft; auch wenn Schönbergs
Musik nur deren Rüstung und Erkundung, noch nicht realer
Einmarsch oder nBeethoven« ist. Dieser höhere Rang Schön­
bergs muß, sub specie saeculi, allerdings festgehalten werden,
im Gegensatz zum interessanteren Stravinskij, zum Wechsel­
Mosaik seiner Härte, zum Phosphor seiner Zeitkunst in archa­
ischer Maske und Archaismen. Nicht die Virtuosität Stravinskijs
also und nicht die Statik des atmosphärelosen Stahltons (wenn
auch durch Unzuverlässigkeit gemildert ) kommen an das Expe­
riment des Menschen, als des Objekts jeder konkret experimen­
tellen Musik. Der neurasthenische Stahl Stravinskijs konstruiert
nur die vollkommene Leere aus, wechselnde Leere gewiß und
eine in immer neuen Gebärden ersd1einende, Leere, in die er­
schütternde Musik eintönt, Schreie wie nie erhört, wenn Trom­
peten das Todessd1icksal der Jokaste verkünden, wenn unauf­
hörlidler Dreischlag der Pauken, wie in Finsternis ohne Ende,
den Weg des blinden, büßenden Odipus begleitet, - und doch
Leere, deren auffangbares Echo letzthin nur das Schid<sal bleibt,
die Verzweiflung an ihm oder seine festgebannte Feier, nicht der
Mensch. Stravinskij hat jeden Stoff, noch den Stahl seiner Musik
in den Moden und letzten Formen seiner Zeit, im Banntyp dazu,
in byzantinischer Religionssehnsud1t und voller Ungläubigkeit;
es fd1lt der wirkliche Prozeß, erst remt der Stoff des kommen­
den Hauses. Aber wie gegenwärtig auch, das ist: wie sehr auf
Romane der Wunderlichkeit

der Höhe der Bourgeoisie, mit welch treuloser Kunst des Echos
und der Verschlingungen zieht dieser bedeutende Musiker seinen
Weg. Kalt, anmutig kühn, eckig zuletzt wie ein Mäander und
ebenso fortlaufend; gestopft voll Larven wie ein Maskenball
und doch ebenso bewegt und unzuverlässig, ebenso improvisie­
rend, unheimlich und mischend. Stravinskij zeigt, was Volkslied,
Marche royal, archaische Schicksale im Maschinenzeitalter ge­
sduagen haben, was sie diesem zu sagen haben. Und der Riß,
den die Geschichte vom Soldaten in eine wohlige Tonkunst
bradlte, ist durch die Musik des automatischen Banns, die danach
folgte, nicht gerade schließbarer geworden.

ROMANE D E R WUNDERLICHKElT
UND MONTIERTES THEATER

Ein Kopf, der träumt, hat es hier vorn besonders schwer, zu sein.
Sdlwerer noch, sich stofflich auszugestalten, es faßt sich nichts in
der Leere. Junge Menschen mit der sogenannten höheren Anlage
wissen heute oft nicht recht, wohin. Taugt das Innen etwas,
bringt es ein wirkliches didlterisches Mehr ein, so kann es sich
nur schief an den Stoffen äußern, die heute großbürgerlich vor­
liegen. Nur mittelbar vor allem; die Dichter verhalten sid:l dann
durchschneidend, übertreibend und jedenfalls unterbrechend zu
ihnen. Die Form kann besonders einfadl sein, um hierhin wenig­
stens die Wirren nicht einzulassen. Sie kann auch besonders ge­
öffnet sein, um von den Wirren kein Wort zu verlieren. Das
entscheidet jedenfalls nicht mehr, die dargestellte Sache bleibt
in beiden Medien krumm. Je schärfer ein Blick, desto sicherer
wird er die Stäbe gebrochen sehen.
So vor allem an dem queren Ort, der dem Dichter groß­
bürgerlich übrig bleibt. Es gibt jetzt, als herrschend oder noch
während, kein anderes Dasein als das des Bruchs, der Verwer­
fung. Was 1 9 I 8 expressionistisch gewesen wäre, besteigt im
Nachkrieg einen Geisterzug, der kühl, träumerisch und grauend
in den Trümmern, Übersdlneidungen und Hohlräumen her­
umfährt. Hier sind Chiricos Turiner Plätze, in denen nichts als
Romane der Wunderlic:hkeit

haarscharfe Schatten stehen, und Salons, deren Parkett links in


Brandung ausläuft, rehts
< aber stehen Wand, Kamin, Pendüle im
Urwald; hier sind Aragons Paysans de Paris, lassen aus »dem un­
begrabenen Leichnam unserer Eltern« (wie Benjamin sagt) die
Bedeutungen einer noch namenlosen Zukunft singen. Populäre
Quellen hatte der Surrealismus im stummen Film, der ja selber
oft Zeug wie Träume war; esoterisch aber ist das Echo, das
seinen Freudianismen aus dem heutigen Hohlraum zurück­
geworfen wird, und worin er hauptsächlich seine Obj ekte findet.
Esoterisch sind erst recht Symbole, die nicht mehr in eine Über­
welt hinüberziehen, sondern die in die Porositäten der groß­
bürgerlichen Welt archaisch-utopische Ahnungen ineinander
einkörpern. Ganz nahe dieser symbolischen Bewährung, auch
Diesseitigkeit steht die stille, große Erscheinung Kafkas; hier
fand eine versunkene Welt oder bisher jenseitige am Leben in
dieser die unheimliche Wiederkehr. Eine versunkene Welt: sie
reflektiert alte Verbote, Gesetze und Ordnungsdämonen im
Grundwasser präisraelitischer Sünden und Träume, wie es im
Zerfall wieder vordringt. Eine bisher jenseitige Welt: sie kreist
in Kafkas Romanen, im »Schloß «, im »Prozeß«, als bestehende
Mythologie unbeherrschter Abhängigkeiten, »ferner fremder
Aufträge, in die man nie Einsicht bekam«. Selten wurden Angst
und Frommes dichter in der Nähe zusammengezogen, selten war
der Hausschutz durchwühlter, vertrackter. Die Surrealisten
selbst hatten zunächst als Einheit des Wollens nur die: Ver­
wesungsstoffe, Traumstoffe in die Zwischenräume der Welt zu
legen; dieser Surrealismus, ein ästhetisch abgesondertes Dynamit,
ist wohl vorüber. Aber �uch Dichter, die der Richtung bewußt
gar nicht nahesteben oder nur zu einem Teil, zeigen doch, daß
jeder kühne Auslauf rebus sie stantibus »Surrealismus « streift.
»Grotesk« wächst Traumbau in den Hohlraum hinein; dumpfer
Traumbau beiseite, erinnernder aus der ausgebreiteten Todes­
stunde her (wozu, bei Proust, ein Leben wurde), montierender
aus der Durchdringung gegenwärtiger Trümmer (bei Joyce ).
Hier ist dauernde Überschneidung des eingestürzten Vorher,
Nachher, Unten, Oben, und dahinter eine Finsternis.
Die Dichter, die so wunderlich ersd1einen, wurden deutsch
besonders sichtbar. Es sind zwar französische und ein irismer,
Romane derWunderlic:hkeit

der in Frankreich lebt, also in der relativ erhaltensten Gesell­


schaft. Auch hängen sie keineswegs untereinander zusammen,
der zeitgenössische Raum zwischen ihnen ist selber zersprungen:
aber sie wirken seismographisch, als Zeugen eines Objekt­
traums, den man in Deutschland besonders merkt; Green, Proust,
Joyce - lauter Bruchlinien des poetischen Ausgleichs. Green:
Ein Ich, das quälend träumt und sich nicht endet, geht die Angst
an. Diese Menschen sind dumpf wie Tiere, m�ist aus der kleinen
Stadt, es riecht nach fallendem Laub. Nach Stuben, aus denen die
Bewohner nie mehr herauszukommen scheinen, in deren Kreis
sie gebannt sind wie in Gräber, mit Plüsch und Spitzen ausge­
legt. Die Handlung geschieht nur an, fast in Individuen, doch
diese werden groß wie Fresken, ja, wie Landschaften; denn jedes
ihrer steht für eine Leidenschaft. Nichts mehr als diese einsamen
Süchte ist in diesem Raum, nicl1ts als das scl1leichende, bannende
Sclücksal dieser Sucht; kein Miteinander, kein Ausweg. Der Bann
ist dicht und bürgerlich unbewegt, er trocknet seine Menschen
aus und legt sie um, bevor es hell wird. Er erschöpft sie dicllt, bis
in den Tod, alle Dinge und Begebnisse werden zu Boten dieses
Drucks. Proust: Ein Ich, das eigenes und äußeres Leben zer­
rinnen sieht, faßt Verlorenes überscharf, schreibt den sterbenden
Glanz nach oben. Der Oberschuß dieses Dichters ist die Finesse
und Mikrologie seines Porzellanblicks, was dasselbe ist wie ein
alles versammelndes Gedächtnis. Es dringt zum intensiv Unge­
heuren des kleinen Nebenbei ebenso vor wie zur Nachreife einer
Zeit, die, während sie gelebt wurde, schon vergangen war; so
agiert das Kaleidoskop dieser großen Herren und Damen, dieser
Betrüger, Abenteurer, Helden des deluge, dieser bleichglühen­
den Spätwelt, an der alles wirklich scheint und alles Zwischen­
räume hat, worin die Gleichnisse nisten. Die Gleichnisse aus einge­
stürzten Sphären, die Planeten aus Restauranttischen, die Sonne
als Königsmumie am ausgewickelten Tag, die gesellschaftliche
Spielregel als Liturgie. Proust zerstückt die eigene Person in
unzählige Id1s, die nichts voneinander wissen und deren Welten
sim überscl10eiden; Proust sammelt nicht nur die Dinge der
verlorenen Zeit, mit Einzelheiten, die ihr empirischer Zusam­
menhang niemals gezeigt hatte, er dreht ebenso die vergangene
Zeit, gerade als solche, über sein vergehendes Ich zu einem
Romane der Wunderlicbkeit 243

Kuppelraum; dieser spannt postfesturn erst seine Bilder aus. Der


Faubourg St. Germain einer untergehenden Welt hat sich darin
erinnert und durchdrungen, ist zu den nicht mehr euklidischen
Mosaiken Proostscher und eigener Todesstunde niedergeschla­
gen. Auch Handlungen, die kein anderes Gefühl als Neugier
erwedcen, auch Miszellen, scheinbar nur aus dem Einsturz her
sidttbar geworden, scheinbar nur im Mosaik der Erinnerung
erstarrt, geben Rechenschaft vor einem nicht mehr vorhandenen
Richter. 'Joyce zuletzt: Ein Mund ohne Ich ist hier mitten im
fließenden Trieb, ja, darunter, trinkt ihn, lallt ihn, packt ihn aus.
Völlig folgt die Spradte diesem Zerfall nach, sie ist nicht fertig
und schon gebildet, gar geformt, sondern offen und verwirrt.
Was sonst in Zeiten der Ermüdung, in Pausen des Gesprächs
oder bei träumerischen, auch fahrigen Menschen spricht, sich
verspricht, wortspielt: hier ist es außer Rand und Band. Die
Worte sind arbeitslos geworden, aus ihrem Sinnverhältnis
entlassen, bald geht die Sprache wie ein zerschnittener Wurm,
bald schießt sie zusammen wie bewegtes Trickbild, bald
hängt sie wie Schnürboden in die Handlung hinein. So ist im
>>Ulyssescc bereits nwork in progresscc, Werkstatt und Dichtung
zugleich, doch eine Werkstatt, die ebenso krankt, verstaubt, zer­
fällt, sich dem Unterholz gleichmacht. Knapp folgt die Sprache
grammatischen Regeln, kaum je logischen (von heute); ihr Quell
soll sein primäre klang-bildhafte Beziehung, ihr Sinn die Ent­
fesselung und Erfassung unterbewußten Lebens; daran wird sie
wieder zum Leben erweckt, den Worten wird ihr prälogischer
Wert zurückerstattet. Unerheblich fürs Symptom und Symbol
des Werks, ob Joyce das gelungen ist, ob seine Verwilderung je
in den holden Wahnsinn des Gedichts übergeht; ob er überhaupt
ein ernster Autor ist und nicht etwa der Breitstapler einer un­
ausdenklichen Nicht-Idee, die Assoziation eines bürgerlichen
Erdgedächtnisses nach Untergang der Erde, nad1 einer kosmi­
schen Katastrophe; ob Ulysses, wenn er gleich nicht mit durch­
sichtigem Wandel vorleuchtet, so doch wenigstens die Logik
eines undurchsichtigen, eingestürzten bewährt. Der Stil des
Ulysses entspricht jedenfalls einer Welt ohne Aufsicht durchaus;
er ist Ferment-Aufnahme des Zerfalls, zunächst des Ich (im
nneren
i Selbstgesprädt), sodann des bürgerlichen Zusammen-
2 44 Romane der Wunderlic:hkeit

hangs der Gegenstände. Der bloße >>Monolog« von früher hatte


die Person in ihrem Ichbestand noch kenntlich gelassen, noch
intakt, noch voll bewußter Oberflächenzusammenhänge und
moralisd1er Decken; der »innere Dialog« bei Joyce dagegen hat
nicht einmal das Ich als Zeugen, fast noch der Körper des Spre­
chenden fällt fort, der die Sprache einschließt, und ein anonymer
Sturzstrom wird frei. So nackt und schamlos, so unverschönt
und ungeschlossen, daß alle bisherigen Naturalismen dagegen
Hofzeremonie werden und Döblins Romane, die manchmal
schon in den Bahnen solches Ci-devant-Planeten lagen, Schutz­
parks ermäßigter Wüdnis. Blasen aus Dampf aus dem Unbe­
wußten steigen hinzu; sie machen die irren Wortgebilde, füllen
die Ttefräume, die herrenlosen Schatzkammern, den Abgrund
unterm Gewäsch dieser Dutzendmenschen, fassen sidl höchstens
in der Architektur jener Romantik, worin zum ersten Male
mehrstöckige Spredlweise in einer einzigen war. Wieder also
lebt verdecktes Ordlester im Zugleich mit ganz anderer Szene,
Raunen von Leitmotiven lebt schief zur Oberfläche des Textes;
eingestandenermaßen ist die Wortkinetik des Ulysses eine rein
musikalische und zwar keine des südlichen
Ton-Frieses, sondern
des Wagnersehen Ton-Abgrunds unter dem Text. Wie in man­
d1en Programmsymphonien nach Wagner eilen auch hier Motive
ihrer späteren Gestalt prophezeiend voraus, andere versuchen
umgekehrt aus einem gewesenen Erdionern vorzustoßen und
nachträglich Kunde daraus zu bringen, Kunde aus Gräbern, aus
Gelehrsamkeit wie kreißende Erinnerung, aus Pornographien
und Mythologie. Zerstoßenes Glas von Kirchenfenstern liegt
um die Banalität jedes Sd1ritts, Cocktails steigen in Mythologie
und Ramses aus Huren, die künstlichste Montage verwandelt
sich zu einer Völkerwanderung der Objekte selber, mindestens
zum Spuk einer musischen Metamorphose. Das alles an betont
wenigen und gleichgültigen Mensd1en, dodl an vollrunden,
denen nichts ausgelassen wird, die ohne Komma ins Unendliche
reden, ohne Wissen ins Entlegenste aussd1weifen. Die Odyssee,
welche dem Menschen zuerteilt ist, geschieht hier, wenn nidlt in
jedem Augenblick, so dodl wild aktualisiert in 24 Stunden: da
sind die Freier, nämlidl der Frau Bloom, da ist die Nau­
sikaaszene, nämlidl die Begegnung des Herrn Bloom mit drei
Romane derWunderlichkeit 2 45

Mädchen am Strande; da ist die Zyklopenszene in der Höhle des


zwölften Kapitels, in der düsteren Kneipe, mit dem Sdlwätzer
Bloom und dem ))einäugigen« Nationalisten, der ihn hinaus­
wirft. Diese Welt eben geht gleich wirr nad1 unten wie sie quer
und nach oben sieb aufwirft: nach unten geht sie, indem die drei
Mädchen am Strande die Pensionssprad1e von x 900 sprechen,
den Marmeladestil am Weltmeer, indem Bloom selber, der An­
noncen-Odysseus, ein ungesdJ.lacbter iriscller Maulheld ist; quer
und nad1 oben aber reimt die uferlose Assoziation der plattesten
Edebniswirldid1keit - bis zu Gott Ptah in derTeetasse, bis zu
den wasserdurdJ.blinkten Palästen Altindiens in der Gespräd1s­
pause. Der Querbezug der ))Entsprechung<<, welcher die Men­
schen, Berge und Inseln gleidJ.sam zu durchstoßen versucht,
nadJ.dem sie sich aus ihren Ortern bewegt haben, ja, weld1er gar
die einzelnen Burokapitel in »regierende Edelsteine und Pla­
neten« zu machen beflissen ist, in ))Konkordanzen« des Tohu­
wabohu post rem: dies Astrologiewesen fixiert die Sprungwelt,
Mischwelt dennod1 nidlt. Sondern Astrologie zwisdlen den
Fetzen der Erlebniswirklichkeit, Scholastik in einem Jüngsten­
Bucb-Geridlt zeigen den anarchischen Gegenstand nur desto
srnärfer, die konl<rete Endlosigkeit sämtlicher Zwischengegen­
stände (und ihrer Hochzeit) nur desto heilloser. Proteus, das
Durd1einander der gärenden Natur, erscheint als Patron audJ.
dieses Endes; und ein einziger Tag, der Strom eines einzigen
Tags, wird dem Naturgott wieder sein Bett, dergestalt, daß nocil
die sechstausendjährige Welt der Geschidlte, mit Höhlen, irisch­
syrischen Bordellhuren, Eingeweiden aus Stein, Jesus aus Dreck,
Szeptern, Annoncen und Scillangen, in den Raum dieses ein­
zigen, dazu durchschnittlid1en Tags zurückkehrt. Eine taube
Nuß und der unerhörteste Ausverkauf zuglei<h; eine Beliebig­
keit aus lauter zerknüllten Zetteln, Affengescilwätz, Aalknäueln,
Fragmenten aus Nichts, und der Versuch zugleich, Srnolastik im
Chaos zu gründen; ein dies irae beliebig aus der Mitte heraus­
gerissen, ohne Gericllt, ohne Gott, ohne Ende, mit Traumabsud
gefüllt, mit Absud eines abgesunkenen Bewußtseins, mit gärend
neuer Traum-Essenz zugleich. Das ist die hohlste und die über­
füllteste, die haltloseste und die produktivste Groteske,Grotesk­
Montage der Spätbourgeoisie; HodJ.-, Breit-, lief-, Querstapelei
Romane derWundcrlichkeit

aus verlorener Heimat; ohne Wege, mit lauter Wegen, ohne


Ziele, mit lauter Zielen. Montage vermag jetzt viel, leicht bei­
einander wohnten früher nur die Gedanken, jetzt auch die
Sachen, wenigstens im Übersdl\vemmungsgebiet, im phantasti­
schen Urwald der Leere.

Ein träumender Kopf bleibt das auch dort, wo er gänzlich kalt


verschwinden will. Wo er nicht Lust hat, zu betrachten, wie o
viele der Art vorher, nicht schöne Worte setzt, gar besonders
»eigene«. Sondern tätig eingreift. mit geschultem Satz reizt, in
Szenen wirkliche Handlungen vorprobt; wie Brecht. Dichtung
mit Beinamen bleibt deshalb doch, überhängende, nicht völlig
gedeckte, nicht völlig samlicbe; denn auch der Grenzraum zwi­
schen großbürgerlicher und kommender Welt, worin solche
Dichter handeln, ist nodl hohl, brauend hohl. Die dichterische
Handsdlrift wird sogar desto eigenwilliger, je mehr sie sich in
sachlichen Zügen, auch kollektiven Zügen verlieren zu können
glaubt. Auch ein Beispiel solcher Dichtung wider Willen ist
Brecht: sofern er keine Person sein will, sondern eine Einrich­
tung, ein kräftig wirkender, sachlich lehrender Einrichter von
lauter objektivem Draußen. Aber der träumende Überschuß
quillt hier gerade aus allen >>Worten<< : daher die abseitig einfache
Sprache, diese vertrackte Schlichtheit, diese Tropensonne auf
proletarischen Fragen, dieses Kirchenlied gleichgültiger Ungläu­
bigkeit. Und positiv: während der Abenteuerromantik, als dem
»Primären« Brechts, proletarischer Sinn oft nur augebogen
scheint, ist das Handlungs- und Traum-Plus genuin hier in der
List, womit Sachlichkeit und Montage zu Herstellungsmitteln
eines ganz anderen als des großbürgerlichen, noch so zersprun­
genen Gegenstands gebraucht werden. Damit rücken Abenteuer­
und Fernromantik in ein gekühltes und experimentelles Objekt;
aus dem fernen Schauplatz wird ein zukünftiger, aus der An­
ard1ie (dem besten Teil jeder Exotik) wird eine Art Labora­
torium, ein offener Versucbsraum. Der Gegenstand aber, den
Brecht mittels Sachlichkeit und Montage im Laboratorium der
Bühne vorerprobt, ist die revolutionäre Geburt der künftigen
Gesellschaft und Welt in der jetzigen. An diesem Gegenstand
gleicht sich die wild-kalte, mythisch-schnöde Begabungsrichtung
Romane der Wunderlichkeit 247

Brechts aus; vieles vertrocknet daran, vieles wird neu erfahrend,


auch logisierend, weise erfahrend, mit dem Willen zu immer
genauerer Zuständigkeit. Die »Sachlichkeit« liefert ihm die rela­
tivistischen Modelle; doch sie werden hier aus fassadenhaften
Mitteln, sich etwas zurechtzulegen, Rezepte, sich etwas vorzu­
führen. Die Montage macht gleichfalls kein musisches Kaleido­
skop, sondern verarbeitet Teilstücke der alten Gesellschaft, auch
freigewordene Möglichkeiten in ihr ( ))Mann ist Mann« ); sie
funktioniert sie zunächst in kommunistische Lehrmaschinen,
Versuchsmaschinen um. Das Theater verwandelt sich derart zu
einem Politikum, genauer: Brechts Regie erstrebt Leninismus
an Situationen und an den Problemen, welche sie aufwerfen.
Leninismus in dem Sinn, daß das Theater ein Studio wird für
jeweilige »Theorie« an jeweiliger ))Praxis« ; sein Handlungs­
spiel wird derart zu einer Vorprobe politischer Haltungen und
Theorien an gesetzten und wechselnden Situationen im locus
minoris resistentiae der Bühne. So wurde dem Brechtsehen »Ja­
sager« ein möglicher »Neinsager« von ihm hinzugefügt, so fan­
den die vier festen Entscheidungen seines Versuchsstücks ))Maß­
nahme« ebenfalls, bald darauf, ihre umgearbeitete, elastische,
unabgeschlossene Korrektur; so konfrontiert Brecht in der
»HeiligenJohanna der Schlachthöfe« gutmeinende Idee mit der
sehr andersartigen Wirklichkeit, wozu sie verholfen hat. Die
heilige Johanna - ein Stück Schiller, ein Stück Iodras Tochter in
Chikago und vor allem eine Naturchristin: doch was sie aus rein­
stem Mitleid und Helferwillen predigt, sperrt die Arbeiter aus
und macht den Fleischkönig noch reicher. Per saldo kanonisieren
die Kapitalisten Johanna so: ''Wir wollen sie groß herausbrin­
gen, denn sie hat durch ihr menschenfreundliches Wirken auf
den Schlachthöfen, ihre Fürsprache für die Armen, auch durch
ihre Reden gegen uns überschwierige Wochen hinweggeholfen.«
ltem: Herz ohne Wissen taugt nichts, Theorie an sich ist weder
gut noch schlecht, nicht einmal die Wahrheit ist wahr, sondern
die jeweilige sozialistische Praxis (aus der sie kommen, zu der
sie führen muß) entscheidet darüber. Der Zuschauer berauscht
sich an diesen )) Versuchen« nicht, sondern soll Stellung nehmen,
er findet kein kulinarisches Vergnügen, sondern eine Anatomie,
keinen Theaterabend, der in ununterbrochener Handlung schön
Romane der Wunderlichkeit

zur Neige geht, sondern oft unterbrochene, nicht-idealistisd1e,


wirklirue Handlung, konkrete Situationslogik, Praxistheater in
bar. Ein Leninist auf der Schaubühne macht derart den Versuch
des objektiv berichtenden und sich berichtigenden, des »epi­
schen« Dramas; zum Unterschied vom dynamischen, als dem
Selbstrausch eines »Idealismus«, der sich an nichts Außerern
bricht, der unaufhaltsam geschlossen steigt und seinen eigenen
Genuß erstürmt. Gemeint ist der Gegensatz zwischen der
Dynamik der bürgerlichen Revolution und dem konkreten
Experiment der proletarischen, das mmer i wieder seine Steine
des Anstoßes hat, und diese außerhalb der idealistisdl ge­
schlossenen Handlung, außerhalb des idealistisdl zwar »einbe­
zogenen«, realistisch aber unüberwundenen nSchicksalscc. Dies
epische Programm ist ebenso eine nützlidle Annäherung des
kommunistismen Anti-Liberalismus an vorliberale Formen, an
Balladenzeiten, deren »Bräudlecc erst die Haltung setzen und
dann den gegebenen Fall, ja, an Statikländer, deren nKlassikercc
die Theorie zur Erfahrung geben und ihren Konfuzius als wei­
sesten Praktiker zu haben sdleinen. Sucht freilich Brecht »Medi­
zin und Unterweisung<< nodl so weit hinter den Bergen: sie
sind stets fürs nädlste sdllechte Tal gemeint. Selbst das amerika­
nische, allzu stark mit Illusion und Desillusion betriebeneUtopie­
Stück nMahagonnycc, selbst dies anarchisdle Ensemble ( nhier
gibt es frischen Fleischsalat und keine Direktion« ) hat seinen
»Zug der Männer« in nächster Nähe, hat seine »Hier-darfst-du­
Schenke«, den Cantus firmus, an den man sidl halten kann, hat
das urmenschliche, erzmoderne Lied Jonnys vom Etwas, das
fehlt. Fremde Abenteuer, uralte Symbole sind dem Brechtland
so wenig fremd, daß sogar Dämonen nid1t fehlen: nur sitzen sie
in modernen Direktorialbüros, und die Glöckchen der Zauber­
flöte, die entzaubernden, günstig bezaubernden, sind hinein­
montiert in Lindberghs Maschine. Dieses macht sein Theater
allerletzt nodl zu einem umfunktionierenden, zu einem experi­
mentierend montierten; Echo und Überschneidung von Sym­
bolen verbinden Bredlt ebenso mit Cocteau, Kafka, selbst Joyce,
wie ihn gezielte Praxis vom Kaleidoskop trennt und Experiment
vom dichterischen Reflex.
Romane der Wunderlichkeit 249

So kommen wid1tige Dichter in den Stoffen nicht mehr unmit­


telbar unter, sonders nur sie zerbrechend. Die herrschende Welt
verbreitet ihnen keinen darstellbaren Schein mehr, der auszu­
fabeln wäre, sondern nur Leere, mischbaren Bruch darin. Der
großen Wunderlichkeit wie erst recht der bewußten Mischung
der Teile (zu bereits anderem Zweck) fehlt der idealistische
Lebensschein der mittelbürgerlichen Dichter; es fehlt ebenso das
Zungenreden der Barbarei, die auf der fascistischenWoge reitet.
Der Hohlraum ist der Avantgarde perfekt; zum Unterschied
von früheren Zeiten, als die bürgerliebe Welt noch revolutionär
war oder aber die Merkwelt eines ebenso gestaltbaren wie
gestaltenhaften >>Ausgleichs« ausgebildet hatte. Der Weg dahin
war noch jener vom Sturm und Drang zu Wtlhelm Meister, als
dem bürgerlichen Erziehungsroman an der >>Welt«; der ge­
glaubte Ausgleich kulminierte, wenn auch nicht mehr unmittel­
bar, als Hegels »Versöhnung des Subjekts mit . der Notwen­
digkeitcc. Im Sinn eines geglaubten »Logoscc der bestehenden
Gesellschaft, ja, in Nachfolge noch gefüllterer Zeiten, jener
mittelalterlichen nämlich, als die ionerste Sonne gerade im
äußersten Zenith zu stehen schien und, wie in der Welt Giottos,
die heiligsten Gegenstände sich ganz seßhaft ins Dasein nieder­
schlugen. Auf Goethe aber folgte, statt des weiteren Erziehungs­
romans, der französische der Desillusion; und heute gar, in der
perfekten Nicht-Welt, Gegen-Welt oder auch Trümmer-Welt
des großbürgerlichen Hohlraums, ist » Versöhnungcc konkreten
Dichtern weder eine Gefahr noch möglich. Kein anderes Verhal­
ten hier als ein dialektisches: entweder als Material für dialek­
tische Montage oder als ihr Experiment. Selbst die Welt des Odys­
seus wurde beim musisd1en Joyce zur Wandelgalerie des alles
zersprengenden, allzersprungenen Heute im kleinsten Kreis und
Querlauf, weil den Menschen etwas fehlt, nämlid1 die Haupt­
sache: ihr Gesicht und die Welt, die es enthält. Daher wird vor
allem Brechts verantwortliebes Drama zu einem der Unterbre­
dlUng und praktisd1en Montage: mit »Heldencc im Parkett,
nKatastrophencc in der Praxis, möglicher » Versöhnungcc erst in
einer anderen. Gesellschaft. Das Drama wird wieder heilend, ja,
philosophisch; dergestalt, daß es eine neue Art nKatharsiscc
bietet: nicht mit Gefühlen, sondern an Plänen, nicht mit großen
250 Ein Leninist der Schaubühne

Herren, sondern an Exponenten, nicht mit gewesenen Hand­


lungen, sondern an vorbereiteten.

EIN LENINIST DER SCHAUBÜHNE ( 1 9 3 8 )

Was immer wir machen, es könnt.e anders sein. Ein Bild ist nie
fertig gemalt, ein Buch nie zu Ende geschrieben. An dem soeben
ausgedruckten ließe sich noch der Schluß ändern. Und wäre es
soweit, dann finge die Mühe von vorne an.
Schwer zu unterscheiden, was daran eitel oder aber gewissen­
haft ist. Sehr oft dieses Verhalten nur nervös und geht nieman­
den etwas an als den Autor. Bei Brecht jedoch - und er ist ein
Matador des Verändems, des Umschreibens eines soi-disant­
Abgeschlossenen - liegt der Fall anders. Gebilde wie die »Drei­
groschenoper«, »Mahagonny«, gar »Mann ist Mann« sind
wirklich zu früh geschrieben, das heißt dem Stoff und seinen
Problemen noch nicht recht angemessen. Schreitet also Brecht,
als gewissenhafter und zusammenhaltender Autor, die Front
seiner Hervorbringungen ab, so fallen gewisse burleske, bald
anarchistische, bald wieder allzu kollektivistische Züge ( beson­
ders ni »Mann ist Mann « ) aus der Reihe. Doch wichtiger ist
eine andere Unfertigkeit, eine höchst positiv zu wertende, und
diese geht nicht nur den Autor an. Brecht will durch seine Pro­
dukte den Zuschauer selbst verändern, so wirkt auch der ver­
änderte Zuschauer (und Brecht gehört nun selbst dazu) auf die
Produkte zurück. Selten gab es weniger abgehobene Werke als
die Brechts; sie sind überhaupt keine im verdinglichten Sinn
dieses Worts, sondern - nach einem früheren Ausdruck des Au­
tors - »Versuche«. An Brechts Gesammelten Werken (Band I
und II, erschienen im Malik-Verlag, London ) ist folglich so­
wohl das Gesammelte wie das Werkhafte besonders zu verste­
hen. Das Gesammelte stellt keine Ernte dar, die zufrieden in die
Scheune eingefahren wird. Säen, Schneiden, Binden, Dreschen,
diese fortdauernden Arbeiten sind vielmehr noch alle erkenn­
bar. Das Stück »Mann ist Mann« beispielsweise konnte so wie
es »im Buche steht« als kollektivistische Propaganda mißver-
Ein Leninist der Schaubühne

standen werden. Jetzt lehrt Brecht in einer Anhangnotiz, die


anti-individualistisme Parabel des Stücks könne »ohne große
Mühe . . . statt in Indien in Deutsroland spielen« . Hier sind nicht
nur Brumstellen, an denen nachträglich weiter gearbeitet oder
auch nur umgedeutet wird, hier hat die Zeit etwas gelehrt, und
sie lehrt wieder in das Stück zurüdc. Also macht außer dem Ge­
sammelten auch das Werkhafte keinen Schlußstrich unter absol­
vierte Bemühungen; diese Gebilde formen vielmehr das richtige
Verhalten im sozialen Befreiungskampf, und sie formen es im­
mer neu.Sie sind Haltungs-Experimente auf dem Laboratorium
der Bühne, keine Stilleben dopo lavoro.
Der Wille zu verändern ist hier das Erste, er macht sich immer
wieder heraus. In ihm sind freilich verschiedene Züge, sie sd.1lie­
ßen sich nicht so schllcht, wie die Absicht ist, zusammen. Einsei­
tigkeit macht scharf zum Zweck; diese Einseitigkeit aber ist wie
alles Licht, aus mehreren Farben zusammengesetzt. Aus der
Farbe eines durchaus originalen Menschen; eines Dichters, dem
noch der schnödeste oder abgegriffenste Ausdruck wohl gerät.
Eines Jungen, der mit seinem Kipling durch Indien zieht, dom
auch die Bakerstreet nicht verschmäht, mit Sherlock Holmes am
Kamin und Dr. Watson, in afghanisehe Erinnerungen vertieft.
Eines Alten, der seine Klassiker liebt und aus ihnen zu lehren
vielstimmig wie ein Schauspieler, intolerant wie ein Priester. Am
eindringlichsten wirken zwei verschiedene Tonarten aus der
Zeit, eine an sich fragwürdige (nur Brecht konnte sie sich lei­
sten ) und jene großartige, politisch-revolutionäre, die Brechts
ganzes Schrifttum bestimmt. Der fragwürdige Tribut ist durch
eine gewisse Annäherung an die kahle, trod<ene Mode von ge­
stern bezeimnet. Mit der bürgerlichen nneuen Sachlichkeit« hat
Brecht nichts gemein, mit jener Verengerung und Verknappung,
die die Wahrheit als Dürre und die Realität als Phantasielosig­
keit verstanden hat; wohl aber mit der nicht-bürgerlich gemein­
ten, die als »Liquidierung« aufgetreten ist. Jedoch Brecht wußte
auch dieses ephemere Wesen zu beleben, mindestens schöpfe­
risch zu gebrauchen; Brecht hat, wie er von sich selber sagt, »die
Kühle der großen Wälder« , in denen seine Mutter ihn getragen
hat. Es ist das ersimtlich eine andere Kühle als die der »Liqui­
dierung«; Brecht will »kärgliche Sprache, reinlich die Worte
Ein Leninist der Sdtaubühne

setzend«, aber er will eben damit eine exakte Phantasie, die die
Dinge beim Namen nennt und sich nicht schmälern läßt. Brechts
Einfachheit hat dadurch gerade mit der abstrakten »Liquidie­
rung« nichts gemein; vielmehr es melden sich politische Säure
und Fülle. Deren Ausdrucksweise sieht nun genau so variabel
drein wie die Natur ihrer Gegenstände, sie klingt schnöde ( » da
können Sie etwas lernen, Brown« ), dann vertrackt ( » Das Le­
ben ist am größten, es steht nichts mehr bereit<< ), dann formu­
latorisch ( »Über das Fleisch, das in der Küche fehlt, wird nicht
in der Küche entschieden« ). Und wo die Natur des Gegenstands
selbst keine Einfachheit zeigt, bildet sich erhaben reicher Aus­
druck. Etwa in dem Zwiegesang von den Kranichen ( aus »Ma­
hagonny« ), einer Dichtung von außerordentlicher Kostbarkeit
und des späten Goethe nicht unwürdig ( »So unter Sonn und
Monds wenig verschiedenen Scheiben/Fliegen sie hin, einander
ganz verfallen« ). Es ist der Alte in Brecht, der seine Einfachheit
gebraucht oder bridtt; der Alte mit Lutherdeutsch und Realis­
mus aus Shakespeare; der Revenant aus den Bauernkriegen,
dann wieder der Besonnene aus Altchina, der in der Revolution
das Maß verehrt und von ihr sprid1t als einer Legende. Dieser
seltsam antiquarische Klang geht durch Brechts gesamtes Werk,
mischt sich wunderlich mit Tropensonne und Keßheit, bedeu­
tend mit Handlungs-Regie und Marxismus. Sehr oft besteht
Brecht aus der schwäbischen Spätgotik, der sein Habitus ange­
hört, eine Form, die im krassen Gegensatz zum Inhalt zu stehen
scheint; so im Gedichttitel »Hauspostille«, im »Choral« am
Schluß der »Dreigroschenoper« und in anderen Kirchenliedern
der Ungläubigkeit. Aber auch ein nod1 so aufgeklärter Inhalt
wirkt bei Brecht selten geheuer, es geht etwas um, und man
sieht, wieviel im Atheismus sted<t, wenn er nicht mehr bürger­
lich begriffen wird, als bloße behaglich gewordene Verneinung.
Derart mengen sich die Farben, mehr als ein einziger Prozeß
macht sich zugleich auf den Weg, fast könnte man sagen: i n
Brechts Schrifttum ist ein Stück sehr alter deutscher Bolsche­
wismus.
Den neuen, verschiedenen, fälligen zu betreiben, daran wird
hier von Fall zu Fall geprobt. Im Ernstfall wird ein Bühnen­
fall unterlegt; an ihm soll das richtige Handeln untersucht und
Ein Leninist der Schaubühne 253

modellhaft probiert werden. Das nun ist Brechts echter Tribut


an die Zeit, nämlich an diejenige, die mit der neuen Gesellschaft
schwanger geht. Und der Tribut kommt nicht nur aus der revo­
lutionären Solidarität des Autors, sondern auch aus seiner spe­
zifischen Begabung: aus der des konkreten Regisseurs. Sie ver­
bindet sich gründlich mit dem Lehrtrieb in diesem Dio'1ter, mit
dem Willen, die Bühne aus einer »Vergnügungsstätte« in ein
»Publikationsorgan<< zu verwandeln. Darum wendet sich Brecht
gegen die »aristotelische Einfühlungsdramatik<<, welche den Zu­
schauer seine Gefühle mit Genuß abreagieren läßt, statt ihn
eingreifend zu beeinflussen. Dieser Eingriff in das gesellschaft­
liche Verhalten des Zuschauers geht nach Brecht einzig von der
»Parabeldramatik<< aus und ihrem epischen, auf Gesten gestell­
ten, objektiv beobachtbaren Stil. Eines seiner Mittel, ja das
Hauptsächlichste ist die Montage, das heißt bei Brecht: das Her­
ausnehmen eines Menschen aus seiner bisherigen Situation und
die Umfunktionierung in eine neue oder die Ausprobierung
einer aus anderen Verhältnissen stammenden Verhaltensregel in
einem veränderten Verhältnis. Das Experiment mittels Montage
ist nicht abstrakt, kein >>zersetzender« Eingriff in eine angeb­
lich geschlossen zusammenhängende Wirklichkeit; vielmehr die
Wirklichkeit ist selber voller Unterbrechung. Sie ist in ihrem
durchgehends dialektischen Zusammenhang und eben wegen
seiner intermittierend, das heißt voller Sprünge und voll noch
nicht entschiedener, als fertig gesetzter Wendungen. Und von
hier aus erweist sich gerade der versuchte Leninismus Brechts,
das elastische Haltungs- und Handlungs-Experiment an Situ­
ationen, wie sie auf der Schaubühne manöverhaft hergestellt
werden. »Lehrstücke« dieser Art sind vor allem der »Jasager<<,
die »Maßnahme<<, die >>Heilige Johanna<< und die dramatische
Umarbeitung von Gorkis »Mutter<<; ihnen allen ist ( dialek­
tische) Umfunktionierung eines Elements gemeinsam. Im »Ja­
sager<< ist das Element alter Brauch, in der »Maßnahme<< eine
vierfache Moralität, in der »Heiligen Johanna<< die Predigt der
abstrakten Menschlichkeit, in der »Mutter« ist es die Mütter­
lichkeit. Von ihr wird gezeigt, daß sie in der Familie reaktionär
wirkt, in der Partei jedoch, wenn sie nach dorthin Platz gewech­
selt hat, progressiv, propagandistisch, konspirativ. Zweifellos
2 54 Ein Leninist der Sd:taubühne

ist dieser Lehrstückstil (durm Versdliebung der Situationen,


durch Stauung der dramatischen Welle, durch Herstellung
dessen, was man im vorigen Jahrhundert mit dem Ausruf:
»Tableau!« bezeichnet hat) eine der fruchtbarsten Erneuerun­
gen. Lebendigkeit ist hier unumgänglich, Lebendigkeit nicht
nur der Situationen, sondern vor allem eben des Elements, das
durchgeprobt, der Maxime, die konkret abgewandelt werden
soll. Wo allerdings die Maxime identisd1 bleibt und - infolge
ihrer allzu einleuchtenden Simplizität - am Anfang schon so
dasteht wie am Schluß, dort wird kein dialektisches Lehrstück
vorgeführt, sondern ein Beispiel auf ein Exempel; so in einem
der letzten Brechtdramen: »Die Gewehre der Frau Carrar«.
Auch das ist nützlich, nur hier wird nicht untersucht, erprobt,
varüert, sondern eine von vornherein haltlose Maxime ad ab­
surdum geführt. In allen anderen Lehrstücken jedoch hat das
Thema während seiner Durchführung etwas erlebt, und das
macht das Charakteristische der Brechtdramen aus; es sind Theo­
rie-Praxis-Manöver auf der Bühne.
Wird das klassenlose Ziel einmal erreicht sein, so wird man
aus Stücken dieser Art nicht mehr so viel zu lernen haben. Es
bleiben aber die Kostbarkeiten, aud1 Seltsamkeiten, die uns fort
und fort betreffen, als die beste Dichtung. Zu ihnen gehört der
erwähnte Gesang von den Kranichen, vor allem auch merk­
würdig tiefe Resultate, beunruhigend scharfe Bilder, wie sie fast
überall in Brechts Sduifttum sid1 ansetzen. »Unter unseren
Städten sind Gossen. In ihnen ist nimts und über ihnen ist
Rauch« - läßt sich die kapitalistische Leere malender sagen?
»Aber dieses ganze Mahagonny I Ist nur, weil alles so schlecht
ist I Weil keine Ruhe herrscht I Und keine Eintracht I Und weil
es nichts gibt I Woran man sich halten kann« - läßt sich für
Utopie eine demagogisd1ere, eine menschlichere Reklame fin­
den? Man lese auch in »Mahagonny« den Auftritt VIII ( »Alle
wahrhaft Suchenden werden enttäuscht« ) , und man wird eine
der dauerhaftesten menschlichen Belrundungen treffen, die es
gibt. Paul Ackermann wiederholt dort auf allen möglichen
Glücksstationen seinen unstatischen Refrain: »Aber etwas fehlt<<.
Das ist ein zentraler Satz, nichts bereits jetzt Vorhandenes macht
ihn bereits überflüssig, sinnlos. Paul aber hat sich ausgesprochen,
Der Expressionismus, jetzt erblid{t 255

kommt leider wieder mit nach Mahagonny. Und was das Lied der
Seeräuberjenny in der nDreigroschenoper(( angeht, so muß man
bis zu Gnostikern und Kirchenvätern zurück, um einer solchen
Phantasmagorie von Inkognito, Rache und Auferstehung zu be­
gegnen. Der Weltenrichter, den das arme Luder in der Spe­
lunke umkreist, ist ein Pirat - >>Und das Schiff mit acht Segeln I
Und mit fünfzig Kanonen I Wird entsdtwinden mit mir.« Item,
das Werk Brechts hat es in sich, es taugt und wirkt großen Teils
zum langsam verändernden, fortbetreffenden. Von diesem Werk
gilt, was ein Plakat von Mahagonny verspricht: »Dort wurde
gestern erst nach euch gefragt«. Und die Finsternisse antworten,
mit Ärger die Kapitalfreundlichen, die nicht gefragt wurden,
mit Torheit die Sdtematischen links, die es nicht verstehen.

Epitaph, 14. VIII. 1956:

Der Schlag, den uns Brechts Tod zufügt, ist durch Brecht sel­
ber gedämpft. Dem Leben wie dem Tod ist der Dichter mit
nüchtern-tiefer, klangvoll-genauer Weisheit gerecht geworden.
Ein anderer Westöstlicher Diwan, völlig neu und ebenso uralt,
Achtzehnter Brumaire und Laotse in Begegnung, das eine durch
das andere lesend und bewährend. Die Wolke, »sehr weiß und
ungeheuer oben«, von der Brechts nErinnerung an Marie A.«
spricht, wird nie vergehen. Sie ist er selber geworden, hoch und
nah, lauter Licht und ganz menschlich.

DER EXPRESSIONISMUS, JETZT ERBLICKT ( 1 9 3 7 )

Er drückt vermutlich noch immer etwas aus. Die entarteten


Bilder wurden von viermal so viel Menschen besucht wie die
artgerechten. Der Eintritt in die Schred<enskammer ist freilich
gratis, aud1 das muß bedacht werden, damit man das Ergebnis
nicht überschätze. Trotzdem ist wahrscheinlich: Mare zieht
mehr an als Ziegler, die neueste Verkehrung von Gut und
Schlecht gelang nicht. Der Deutsche lernt hier, sich seiner Her­
ren zu schämen, nicht nur an ihnen zu leiden.
Der Expressionismus, jetzt erblickt

Aber auch darüber hinaus wird ein Unrecht gutgemacht.


Wie viele wußten noch Genaueres von der seltsamen expressio­
nistischen Zeit und ihren Werken? Seit 1921 war der Expres­
sionismus verleumdet; Noskes Feldzüge, der Wunsch nach Ruhe
und Ordnung, die Lust an den gegebenen Verdienstmöglich­
keiten und an der stabilen Fassade haben ihn erledigt. Diese
Lust hieß ))Neue Sachlichkeit«; sie führte zwar von allzu verstie­
genen Träumen zuweilen wieder zur Welt zurück, aber sie ver­
schwieg den Wurm in dieser Welt, sie wurde buchstäblid:l die
Malerei übertünmter Gräber. Hausenstein und andere Kunst­
schwätzer beeilten sicl1, im Gefolge der nStabilisierung«, dem
Publikum verdäduig zu machen, was sie eben noch angebetet
hatten; die meisten deutschen Maler folgten der veränderten
Konjunktur. Fast einzig Klee, der wundersame Träumer, blieb
sich und seinen unwiderlegten Gesichten treu, er nagelte die
expressionistische Fahne an den Mast, und an ihm liegt es nicht,
daß sie nicht mehr als Fahne galt, sondern als bloßes Taschen­
tuch mit einem Monogramm. Auch bedenklime Reste der Ex­
pression blieben übrig, wie Benn, dessen großer Ausdrud{swille
zu lange auf den Urschleim von heutzutage gekommen ist,
ohne ))Fazit der Perspektiven«, es sei denn der nihilistismen.
So ging der Expressionismus in Deutschland zugrunde, im glei­
chen Land, das ihn vorher als deutschesten Ausdruck, als Musik
in der Malerei besaß. Der Surrealismus (wohin in Frankreich
und der Tschemoslowakei manches expressionistische Wesen
geflüchtet ist) fand in Deutschland wenig Widerhall. Die zerris­
sene Umwelt und das Phosphoreszieren an den Rändern - all
diese unheimliche Wirklichkeit fand offiziell keinen Ausdruck.
Oder der Ausdruck wurde, wo er halbwegs erschien, etwa in
der nDreigroschenoper«, behaglich mißverstanden, in anderen
Fällen verlacht. Auch Marxisten (damit das nicht verschwiegen
werde) wie Lukacs haben dem Expressionismus in Bausch und
Bogen ein wenig kenntnisreiches Etikett aufgeklebt. Sie de­
nunzieren ihn als nAusdruck kleinbürgerlicher Opposition«, ja
sogar, völlig schematisch, als nimperialistischen Überbau«. Aber
Mare, Klee, Chagall, Kandinsky kommen in dem Klischee
>>Kleinbürgertum« kaum unter, und am wenigsten, wo dieses
Klischee Spießertum, bestenfalls raunzendes, bezeichnen soll.
Der Expressionismus, jetzt erblickt 257

Und selbst wenn hier nichts als kleinbürgerliche Opposition


wäre (man wünscht sidl, den Kleinbürger kennen zu lernen,
dem Marcs ••Turm der blauen Pferdecc sein Ausdruck ist): was
steht dem Kleinbürger Besseres zur Verfügung als bestenfalls -
Opposition ( und gar soldle )? Daß aber der Nazi sich nachher,
gelegentlich, in der Anfangszeit, expressionistisdle Literatur­
reste beibog (Benn) oder Thingspiel-Industrie daraus machte
(Euringer ) , daran ist nicht Marcs ••Imperialismuscc schuld, son­
dern des Goebbels Sinn für wirkungsvolle Falsifikate (fast
gleich, woran sie geschehen). Und eben Hitlers letzte Attacke
beweist, daß selbst die sogenannte "kleinbürgerlidle Opposi­
tioncc nicht immer so verädltlich sein mag. Sie beweist erst recht,
daß die expressionistische Kunst - zuerst von Hausenstein, nun
viel großartiger von Hitler erledigt - keine Rechtfertigung des
Feinds enthalten hat, keine Ideologie seines Imperialismus und
seiner Ordnung. Die "Übereinstimmungcc einiger Moskauer In­
tellektueller schematischen Schlags mit Hitler ist folglich nicht
angenehm. Am wenigsten, wenn selbst in dieser Zeit noch rote
Fanfaren gegen den Expressionismus geblasen werden. Vom
Klassizismus her; diesen aber besitzt Hitler auch, er ist das Ideal
der Stümper und Oberlehrer geworden. Auch sind römische
Adler,Triumphsäulen und die andere "edle Einfalt, stille Größe«
von heutzutage gewiß genauso imperialistisch wie - Bechers
Lyrik um 1 9 1 8 oder gar die Zeichnung Klees: Angelus Novus.
Also ist wichtiger als je, über die so blutig gehaßten Bilder sid:l
klar zu werden. Was wurde 1912-22 gewollt, warum geht uns
das wieder etwas an, warum erscheint die Kunst dieser Jahre
Hitler so >mngesund cc? Der Schluß ist zwar nicht überall gültig,
daß das, wogegen Hitler kämpft, das Rechte sei. Denn Vieles,
wenn nicht das Meiste an Nazi-Urteilen ist so falsdl, daß nicht
einmal das Gegenteil wahr ist. Aber im Fall "entartete Kunst«
darf man vom Feind die Marschroute sich diktieren lassen, min­
destens bewirkt sein Angriff, daß das angegriffene Objekt in
unsere Nähe rückt und treue Betrachtung verlangen kann. So­
wohl seine schledlten, leeren, abgestandenen Züge wie die Be­
deutungen der wirklichen Expression sind heute überblickbar
geworden und frappant. Auf letztere, als auf das ehemalige Ori­
ginal, gegen das ja auch Hitler grundsätzlidl angeht, kommt es
Der Expressionismus, jetzt erblidct

vor allem an. Und dabei ist am sichtbarsten, nicht nur an der Ober­
Bäche, sondern wesentlich: es enthielt statt des daran herankon­
struierten >>Imperialismus(( durchaus Antikapitalismus, subjek­
tiv unzweideutigen, objektiv noch unklaren. Es enthielt objektiv
archaische Schatten, revolutionäre Lichter durcheinander, Schat­
tenseiten aus einem subjektivistisch-unbewältigten Orkus, Licht­
seiten aus Zukunft, Reichtum und Unabgelenktheit des mensch­
lichen Ausdrucks. Eine Kunst, die weder mit den überlieferten
Formen noch vor allem mit dem ringsum Gegebenen einver­
standen war, überzog damals die Welt mit Krieg. Dieser Krieg
hatte freilich keine anderen Waffen als Pinsel und Tube, als
direkten Schrei, und sein Schlachtfeld war die Leinwand oder
das musisch bedruckte Papier. Und die kriegführende Macht
bestand aus dem puren Subjekt, aus der emotionalen Not und
Wildnis des Subjekts, das sich mit seiner Laterna magica in eine
scheinbar gegenstandslose Welt projizierte. Die Bilder selbst
waren eben mit einer Mischung, die nur in Deutschland möglich
ist, im Dcut$chland Ossians, der Romantik und zuletzt noch des
sumpfblumigen, Freiheit träumenden Jugendstils, aus Archai­
schem und Utopischem zugleich hergeholt, aufgeholt, ohne daß
genau zu sagen gewesen wäre, wo der Urtraum aufhörte, das
Zukunftslimt begann. Und die scheinbar gegenstandslos ge­
machte Welt, auf die die Selbstentladung sich auftrug, gab den
»Kompositionen« oder >>Konstruktionen(( keinen Anschluß an
die wirkliche Welt; auch von hier aus war der Expressionismus
zum Teil ))abstrakte Kunst«, und zwar im schlechten Sinn dieses

Worts. Dem Negativen dieser Abstraktion hat Gottfried Keller


im ))Grünen Heinrich« schon längst eine Kritik angedeihen las­
sen, die alle berechtigte vorwegnimmt, obwohl das Objekt der
Kritik noch drei Menschenalter weit unter dem Horizont lag.
Auch der Grüne Heinrich hatte sich, »um eine Zuflucht zu su­
chen((, mit ))tiefer Zerstreuung(( ins gegenstandslose Wesen be­
geben, hatte sich Tage und Wochen hindurch in die Malerei
einer Art Spinnennetz versenkt, das durchaus »gewisse Ver­
knotungen in den Irrgängen seiner Seele(( aufzeigte und wohl
auch gewisse Inhalte des Unbewußten, tief Versteckten fing, bis
sein Freund, ein ebenfalls gescheiterter Maler, das Produkt
aufs beste ironisierte, mit Worten, die fast an den Panegyrikus
Der Expressionismus, jetzt erblickt 2 59

erinnern, womit auch der schlechte Expressionismus einst erho­


ben, in den gegenstandslosen Unsinn-Himmel erhoben worden
war. Um vom schlechten Expressionismus sich abzusetzen, den
bedeutenden aber desto nachdrücklicher vor der Verwerfung in
Bausch und Bogen, vorm Jubel in Bausch und Bogen zu schützen,
ist nichts ratsamer, als die prophetischen Worte aus dem »Grü­
nen Heinrich«, III. Kapitel »Der Grillenfang«, unterscheidend
zu wiederholen:
»Du hast, grüner Heinrich, mit diesem bedeutenden Werke
eine neue Phase angetreten und begonnen, ein Problem zu lö­
sen, welches von größtem Einflusse auf die deutsche Kunst­
entwicklung sein kann. Es war in der Tat längst nicht mehr aus­
zuhalten, immer von der freien und für sich bestehenden Welt
des Schönen, welche durch keine Reaität,
l durch keine Tendenz
getrübt werden dürfe, sprechen und räsonieren zu hören, wäh­
rend man mit der gröbsten Inkonsequenz doch immer Men­
schen, Tiere, Himmel, Sterne, Wald, Feld und Flur und lauter
solche trivial wirkliche Dinge zum Ausdruck brachte . . . Wohlan!
Du hast dich kurz entschlossen und alles Gegenständliche,
schnöd Inhaltliche hinausgeworfen! Diese fleißigen Schraffie­
rungen sind Schraffierungen an sim, in der vollkommenen Frei­
heit des Schönen schwebend: dies ist der Fleiß, die Zweckmäßig­
keit, die Klarheit an sich in der reizendsten Abstraktion! Und
diese Verknotungen, sind sie nicht der triumphierende Beweis,
wie Logik und Kunstgerechtigkeit erst im Wesenlosen ihre
schönsten Siege feiern, im Nichts sich Leidenschaften und Ver­
finsterungen gebären und sie glänzend überwinden?«
Soweit Keller, und wer zweifelt, daß Salz auch dumm sein
konnte ? In der Tat, hier blickt die Karikatur des Expressionismus
drein, das Wesenlose, worin Hochstapler sich angesiedelt haben,
die sechs Hutschachteln, übereinandergestellt, gemalt haben und,
der äußeren ,,Gegenstandslosigkeit« zuliebe, als ,,Geburt Christi<<
ausgeben konnten. Weniger naiv als der grüne Heinrid1 gras­
sierten damals also auch hohle Subjektivitäten, Privatsphinxe
ohne Rätsel, die aus der Leere ihrer spätbürgerlichen Welt Al­
lotria machten, aus der Abstraktheit sinnlose Hieroglyphen.
Fast unheimlich trifft hier der Hohn eines genauen großen
erzgegenständlichen Dimters; und genau diese Kehrseite der
z6o Der Expressionismus, jetzt erblicln

Abstraktheit ist es (sei sie eine kubistische oder symbolistische),


welche etwa als ))Fo1·malismuS<< abgelehnt werden könnte. Ganz
anders aber stehen die G1·oßtaten des Expressionismus da, ganz
anders wirken ihre Zeichen - als wirkliche Zeichen und als Zei­
chen eines (menschlich ) »Wirklichen« - auf uns ein. Da ist kein
Zerfall um seiner selbst willen, sondern Sturm durch diese vVelt,
um Platz für die Bilder einer echteren zu machen. Da ist der
Wille zur Veränderung nicht nur auf Leinwand und Papier ab­
gegrenzt, will sagen, auf Musisches, das sich genug daran tut,
musisch zu d1oclcieren. Da herrscht erst redlt keine Prävalenz des
Archaismen, Brütenden, kein gewollt Lichtloses und gefälscht
Diluviales wie oft bei Benn, sondern Einordnung des Nicht­
mehr-Bewußten ins Noch-nicht-Bewußte, des längst Vergau­
genen ins durchaus noch nidlt Erschienene, des archaisch
Verkapselten in eine utopisd1e Enthüllung, die ihm endlich
gerecht wird. Montage zudem von verpflanzten, umgestell­
ten Gesichts-, Weltteilen, die dadurch mehr verraten, als sie
am alten Platz konnten, dies wurde bei Picasso lang schon
begonnen. Die Bilder Chagalls, Marcs enthalten nicht Irratio­
nales schlechthin, sondern einen Rationalismus des Irratio­
nalen, eine Philanthropie des Irrationalen dazu, die sich seiner
erbarmt und es in den Menschen aufnimmt, der sich darüber
neigt. Wie eine Schuld, die er vergessen hat, steht all dies Brü­
tende vor der Expressio und vor dem Licht, das von hoch oben
und doch brüderlich in das sanfte oder brüllende Schweigen der
Kreatur hereinfällt, in das unübersetzte Zeugnis des Primitiven,
der Kinder-, Gefangenen- und lrrenkunst, in die stammelnden
Buchstaben von Berg, Tal und Sternhimmel. Auch war bei Klee,
Chagall, Mare keine Gegenstandslosigkeit schlechthin; der Ge­
genstand (Traumfische, Kälbchen im Leib der Mutter, Tiere im
Wald) wurde vielmehr entdinglicht, auf unsere Fabel gebradlt.
Und nirgends war ein Fortschritt mit dem Kopf im Nacken,
Fortschritt ins Nichts oder in menschenfeindlichen, kulturfeind­
lichen Urschlaf (bestenfalls mit der Unruhe des Dsd1Ungels),
sondern die Avantgarde von damals meinte auch in der Wild­
nis den Menschen, den freilich verborgenen oder heraufdäm­
mernden Menschen; kurz, sie betrieb die Geheimnisse der Hu­
manität. Sie erweiterte dieWelt im Menschen und den Menschen
Der E.xpressionismus, jetzt crbli<Xt

in der Welt, bis weit über den bisher bekannten Ausdruck hin­
aus; sie suchte den Schrei, der nid1t erst durch eine goldene
Harfe sauste, das ist, durch die Harfe der herrsd1enden Klassen
i res unehrlichen, dezimierenden Wohllauts. Das erst war
und h
edlter Expressionismus, gewiß noch eine innerbürgerliche Re­
volte, eine innermythologische Oberwindung der Mythologie,
aber eine, die aus der Nad1t zum Licht wollte und sich nicht
sdleute, lieber aus der Nacht der Unterdrückten als aus dem
bisher herrschenden Tag das Licht herauszudestillieren.
Die Bewegung war also nicht von ungefähr, ebensowenig hat
sie das Ihre bereits getan. Die Nazis haben von ihren Resten
Nutzen gehabt, freilidl nur von ihren sdlal gewordenen und
balbierten. Von dem Dunkel ohne Dämmerung, vom Archai­
smen ohne Utopie, vom schwindelhaften oder verworrenen
Schrei ohne mensdllidlen Inhalt. Und hier wie überall wäre
auch dieser partiale Nutzen nidlt entstanden, hätte man das
Irrationale nicht versumpfen lassen, statt es zu erforschen und
ibm konkret geredlt zu werden. Der Expressionismus, hat man
gesagt, sei so alt wie der künstlerisdle Ausdruck überhaupt; er
sei überall dort, wo das ungeregelte >>Gefühl« (gleidl welches)
den >>Verstand« überwiegt. Das ist zweifellos eine zu weite, eine
selber ungeregelte und vor allem inhaltlose Formulierung; nicht
nur die Form (gar die bloße Formlosigkeit), sondern der spe­
zifisdl mensdlliche Inhalt macht die gültige Expression. Das
menschlich Subjekthafte bildet ja gerade das Positive an der un­
leugbaren ( und bedenktimen) Subjektivität des Expressionis­
mus; ein unabgelenkt Mensdlliches wurde expressionistisdl laut.
Als Flud1t, Protest und Verwirrung, als neue Form und Sdlöp­
fung zugleich ward die Bewegung bei so erlauchten Namen wie
Gauguin, van Gogh, Rimbaud bereits angelegt; und unab­
gegolten, als Strom, der im Unterirdischen am wenigsten ver­
siegt, läuft sie im Surrealismus weiter. Deutlimer aber als der
Surrealismus (mit seiner Montage, seinen drohend zitierten
Bruchstücken aus dem neunzehnten Jahrhundert, seinem Phos­
phoreszieren ins Unbekannte) - deutlicher war der Expressio­
nismus ums Humane zentriert. Gegen die Karikaturen war
oben Keller herangezogen worden; als Zeugnis des original ex­
pressionistischen Antriebs sei hier nun die Betrachtung eines
Der Expressionismus, jetzt erblickt

philosophischen·Werks erwähnt, die in der letzten Blütezeit des


Expressionismus entstand und die Erzeugung seines Ornaments
reflektierte. Die Stelle lautet (Geist der Utopie, 1918, S. sof.):
>>Wir suchen den magischen Bildner, der uns selbst entgegen­
kommen, uns uns selbst begegnen läßt. Der neue Blick knetet
unkenntlich um und fährt wie ein Schwimmer, wie ein Zyklon
durch das Gegebene. Das sollen sich alle diese vor Augen halten,
die bei jedem expressionistischen Bild zu fragen haben, was es
darstellt, durch welche Mittel also ihrem Auge, das einer bloßen
photographischen Platte gleicht, eine Hölle nun wieder zu einer
Straßenecke zurückschrumpfen kann. Denn bereits seit van
Gogh wird es deutlich anders: wir sind plötzlich mit darin, und
gerade dieses wird gemalt; es ist zwar m
i mer noch sichtbares
Gewühl, immer noch Geländer, Überführung, Eisenbalken,
ziegelsteinerne Mauer, aber das überschneidet sidl plötzlich
sonderbar, der verworfene Eckstein schlägt mit einem Male
Funken, und das Gezeidmete in allen Erscheinungen, das unbe­
greiflich uns Verwandte, uns Verlorene, Nahe, Ferne, Saishafte
der Welt tritt in van Goghs Bildern ans Licht. Und nun geht es
weiter, sich selbst entgegen zu sehen, umbrennend weiter, Gras
ist nicht mehr Gras, das Vielfältige verschwindet und das Ge­
sichthafte siegt. Das Ding wird zur Maske, zum Begriff, zur
völlig deformierten, denaturalisierten Formel geheimer Ziel­
erregungen, das mensd1liche Innere und das Innere der Welt
rücken zusammen. Wies van Gogh noch aus uns heraus, spre­
chen bei ihm nod1 die Dinge, so heftig sie auch spremen, doch
sd1einbar nur von sich und nicht als Ed10 des Menschen, so
hallen wir plötzlich von ihnen zurüd<, so ist im neuen Expressio­
nismus der Mensch eine Kaspar-Hauser-Natur, die die Gegen­
stände lediglich als Erinnerungszeichen ihrer versteckten Ab­
kunft oder als Schriftzeichen zum Behalten und Aufbewahren
ihrer fortschreitenden Wiedererinnerung verwendet. Hier
können uns die Bildwerke, fremdartig bekannt, wie Erdspiegel
erscheinen, in denen wir unsere Zukunft erblicken, wie die ver­
mummten Ornamente unserer ionersten Gestalt. Das ist das­
selbe wie die Sehnsucht, endlim das Menschengesicht zu sehen,
und so kann es aum für das magische Bildwerk keine anderen
Traumstraßen mehr geben als solche, auf denen das Erlebnis
Der Expressionismus, jetzt erblickt

des sich selbst Entgegenreitens geschehen kann, und keine andere


Gegenstandsbeziehung als eine solche, die den geheimen Um­
riß des Menschengesichts in aller Welt widerspiegelt und derart
die abstrakteste Organik mit der Sehnsucht nach unserem Her­
zen, nach der Fülle des sich selbst Erscheinens verbindet.« So­
weit die damalige, der Expression nicht unverwandte Deutung;
und zweifellos bezieht sie sich auf Probleme der unausgeschöpf­
ten, der utopischen Humanität. Zweifellos sind und bleiben
diese Probleme im Zug der gesamten revolutionären Mobilma­
chung, auch der malerischen, die bewegendsten. Humanität un­
terscheidet den Sozialismus vom Fascismus; Grund genug, sich
einer Kunst in Ehren zu erinnern, die der Banause bespuckt,
einer Kunst, worin menschliche Sterne - wie unzureid1end, wie
seltsam auch immer - gebrannt haben oder brennen wollten.
EinAnderes noch macht diesen Rückblick neu und unvermeid­
lich. Vor uns steht das kulturelle Erbproblem; wodurch aber
ist es ein frisches Problem geworden, ein durchaus kühnes? Nur
dadurch, daß die expressionistisc.he Epome den Schlendrian, die
hergebrachten Assoziationen aus der Vergangenheit so gründ­
lich zerrissen hat. Die Menschen mit »unserer Vater Werke« im
vorigen Jahrhundert waren keine Erben, sondern Epigonen; auf
ihnen lastete Goethes Wort: >>Weh dir, daß du ein Enkel bist.«
Die Jugend aber, die sich in unserem Jahrhundert erneuert,
m
i mer wieder erneuert, hat die große Vergangenheit nimt als
Fluch, sondern als Zeugnis. Denn sie hat selber erfahren, was
Ausdruck in seiner Emtheit und Glut ist, und daß er ein Anderes
ist als das erstarrte, das ewig nur kopierbare objet d'art. Auch
dieses verpflimtet zum Dank an die »entartete Kunst«; der Epi­
gone freilich findet in der Vergangenheit nur einen »Formen­
smatz«, der Nazi gar nur den Kitsch, der er selber ist. Die
Expressionisten aber haben frismes Wasser und Feuer gegraben,
Quellen und wildes Licht, mindestens Willen zum Licht. Nicht
dadurch allein, doch im Gefolge dieser Erneuerung wurde auch
der Blick auf die künstlerische Vergangenheit erquickt, er leuch­
tet in neuer, damit jetzthaft aufgesprengter, gleichzeitiger liefe.
DISKUSSIONEN ÜBER EXPRE S S I O N I S M U S ( 1 9 3 8 )

Tr efflich, daß hier Kämpfe wieder beginnen. Vor kurzem schien


dies undenkbar, d e r >>Blaue Reiter« war tot. J etzt melden sich
nicht nur Stimmen, die sich seiner mit Achtung erinnern. Fast
wichtiger ist, daß sich andere über eine vergange n e B e w egung
so akut ärgern, als wäre sie eine heutige und stünde ihnen im
Weg. Sie ist gewiß keine so heutige, aber hat sie noch nicht aus­
gelebt?
Einer stellte das so dar, als spuk e sie nur in einzelnen älteren
H erzen fort. Ehemals waren diese jug endb ew egt, nun bekennen
sie sich zum klassisch en Erbe, leiden aber noch an gewissen R e ­
sten. Ziegler (im ))Wort«, Moskau, 1937, H e ft 9) sieht einen
besonders prägnant ersch einenden Expressionisten - B enn - i m
Faseismus enden und schließt daraus: ))Dieses Ende ist ges etz­
mäßig.« Die übrig en Expr essionist en wären nur nicht konse­
quent genug, es zu find en; heute ließe sid1 klar erkennen, wes
Geistes Kind der Expressionismus war, und wohin dieser G eist,
ganz b e folgt, führ e: in den Faschismus.« Danach wäre also der
neu erw eckt e Ärger an den Expressionisten nicht nur ein priva­
ter, sondern ein kulturpolitischer, antifaschistischer: die ))M en­
heitsdämmerung« von eh emals war eine - Prämisse Hitlers.
Hier passi erte nur Ziegler ( er heißt in Wahrh eit Alfred Kurella
und blieb so erhalt en) das Mißgeschick, daß Hitler einig e
Woch en, b evor Zieglers Ahnenforschung v e röffentlicht wurde,
in seiner Münchn er Rede und Ausstellung die Prämiss e gar nicht
wieder erkannt e. I m Gegenteil, wie b ekannt: rascher und sinn­
fälliger wurde eine falsche Herl eitung, ein eilig n egatives Wert­
urteil selten ad absurdum geführt.
Wurde es auch grundsätzlich, das heißt auf eine uns angemes­
sene Weise ad absurdum geführt? D i e Übereinstimmung, in der
sid1 Ziegler, zu seinem Schreck, mit Hitler fand, ist gewiß töd­
lich, aber d e r B etrüger in Münch en hätte ja einen Grund dafür
haben könn en ( man sieht freilich nicht, welchen), die Spuren
des Faseismus zu verwischen. Um die grundsätzliche Frage da­
her zu klären, ist es angezeigt, den chronologisch en Unfall des
Ziegl er-Artikels, aber auch den Artikel s elbst nicht einzeln zu
pointi eren, sondern j e n e >>Vorarb eit« des Ganzen aufzusuchen,
Diskussionen über Expressionismus

auf die Leschnitzer in seinem lyrischen Diskussionsbeitrag be­


reits hingewiesen hat. Wir meinen also den vier Jahre alten
Aufsatz von Lukacs: »>Größe und Verfall< des Expressionis­
mus« (Internationale Literatur, 1934, Heft I, wiederabgedruckt
in nSchicksalswende<C, Aufbau-Verlag, 1948, S. x8o- 13 5 ) ; darin
ist das Konzept für die neueste Grabrede auf den Expressionis­
mus. Wir beziehen uns in folgendem wesentlich auf diesen Auf­
satz; denn er liegt den Beiträgen Zieglers, auch Lesclmitzers
gedanklich zugrunde. Luk:lcs ist zwar in den Schlußformulierun­
gen bedeutend vorsichtiger, er betont, daß die bewußten Ten­
denzen des Expressionismus keine fascistischen waren, daß er
schließlich >>nur als untergeordnetes<< Moment in die fascisti­
sche >Synthese< einverleibt werden« konnte. Aber das Fazit
bemerkt trotzdem, daß ))die Faschisten - mit einem gewissen
Recht - im Expressionismus ein für sie brauchbares Erbe er­
blicken(( . Goebbels findet hier für das Seine »gesunde Ansätze<C,
denn ))der Expressionismus als schriftstellerische Ausdrucks­
form des entwickelten Imperialismus ( ! ) beruht auf einer irra­
tionalistisch-mythologischen Grundlage; seine schöpferische
Methode geht in die Richtung des pathetisch-leeren, deklama­
torischen Manifestes, der Proklamierung eines Scheinaktivis­
mus . . . Die Expressionisten wollten zweifellos alles eher als
einen Rückschritt. Da sie sid1 aber weltansmaulich nicht vom
Boden des imperialistischen Parasitismus loslösen konnten, da
sie den ideologischen Verfall der imperialistischen Bourgeoisie
kritiklos und widerstandslos mitmachten, ja zeitweilig seine
Pioniere waren, muß ihre sd1öpferische Methode nicht entstellt
werden, wenn sie in den Dienst der faschistischen Demagogie,
der Einheit von Verfall und Rückschritt gepreßt wird.« Man
erkennt: die Auffassung, daß Expressionismus und Faseismus
Kinder des gleimen Geistes seien, hat hier ihren grundsätzlid1en
Ausgangspunkt. Aud1 ist die Antithese: Expressionismus und -
sage man- klassisches Erbe bei Lukacs genau so starr wie bei
Ziegler, nur besteht sie weniger aus Feuilletoneifer, ist begriff­
lich fundiert.
Freilich nicht ebenso saclllicll, dem Stoff nacll; hier liegt man­
ches im argen. Wer Lukacs' Aufsatz zur Hand nimmt (was sehr
ratsam, das Originallehrt immeram besten), dermerkt zunächst,
266 Diskussionen über Expressionismus

daß in keiner Zeile ein expressionistischer Maler vorkommt.


Mare, Klee, Kokoschka, Nolde, Kandinsky, Grosz, Dix, Cha­
gall sind nicht vorhanden (um von musikalisdlen Parallelen,
vom damaligen Schönberg zu schweigen). Das überrascht desto
mehr, als nicht nur die Zusammenhänge zwischen Malerei und
Literatur damals die engsten waren, sondern die expressionisti­
schen Bilder viel bezeichnender für die Bewegung sind als die
Literatur. Zudem hätte sie eine wünschenswerte Erschwerung
des vernichtenden Urteils abgegeben, denn einige dieser Bilder
bleiben dauernd bedeutsam und groß. Aber auch die literari­
schen Gebilde sind weder in einer quantitativ noch qualitativ
zureichenden Weise beachtet; der Kritiker begnügt sicl1 mit
einer sehr geringen, wenig charakteristischen ))Auswahl«. Gänz­
lich fehlen Trakl, Heym, Else Lasker-Schüler; der frühe Werlei
wird nur hinsichtlich des pazifistischen Tenors weniger Verszei­
len zur Kenntnis genommen, ebenso Ehrenstein und Hasen­
clever. Wahrend von den frühen, oft bedeutenden Gedichten
Johannes R. Bechers nur versichert wird, daß es dem Autor ge­
lungen sei, die expressionistische Methode ,,allmählidl wegzu­
werfen«, werden Auchdichter wie Ludwig Rubiner durchaus
zitiert, jedoch wiederum nur zu dem Zweck, um an ihnen zu
erhärten, was- abstrakter Pazifismus sei. Hier tritt bezeichnen­
derweise auch ein Zitat aus Rene Schiekele an, obwohl Schiekele
niemals ein Expressionist war, sondern eben nur ein abstrakter
Pazifist (wie damals viele brave Dichter und Männer, Hermann
Hesse, Stefan Zweig dazu). Was aber ist nun das Material, an
dem Lukacs eine Expressionismus-Auffassung kenntlicl1 madlt?
Es sind Vorworte oder Nachworte zu Anthologien, ))Einlei­
tungen« von Pinthus, Zeitschrift-Artikel von Leonhardt, Rubi­
ner, Hiller und dergleichen mehr. Es ist derart nicht die Sache
selbst, mit ihrem konkreten Eindruck an Ort und Stelle, mit
ihrer nacl1Zuerfahrenden Vlirklichkeit, sondern das Material ist
schon selber ein indirektes, ist Literatur über den Expressionis­
mus, die nochmals literarisiert, theoretisiert und kritisiert wird.
Gewiß zum Zweck, ))die gesellschaftliche Basis und die aus ihr
entspringenden weltanschaulichen Voraussetzungen dieser Be­
wegung(( klarzustellen, aber mit der methodischen Begrenzt­
heit, daß ein Begriff von Begriffen, ein Essay über Essays und
Diskussionen über Expressionismus

Minderes gegeben wird. Von daher auch die fast ausschließliche


Kritik bloßer expressionistischer Tendenzen und Programme
(meist solcher, die erst die Literatoren der Bewegung formu­
liert, wo nicht hineingetragen haben). Sehr viele richtige und
feine Konstatierungen finden sich in diesem Zusammenhang;
Lukacs charakterisiert den Abstraktpazifismus, den Boheme­
Begriff der >>Bürgerlichkeit«, den >> Fluchtcbarakter« , die >>Flucht­
ideologie«, dann wieder die bloß subjektive Revolte im Expres­
sionismus, auch die abstrakte Mystifizierung des >>Wesens« der
expressionistisch dargestellten Dinge. Aber bereits die subjek­
tive Revolte dieser Bewegung ist kaum genügend erfaßt, wenn
Lukacs - an Hand der »Vorworte« - lediglich die »fanfaren­
hafte Überhebichkeit«,
l die »blecherne Monomentalität« an­
kreidet. Wenn e r inhaltlich lediglich »kleinbürgerliche Ratlosig­
keit und Verlorenheit im Getriebe des Kapitalismus« vorfindet,
»das ohnmächtige Aufbegehren des Kleinbürgers gegen sein
Zermürbt- und Zertretenwerden durch den Kapitalismus«.
Ware selbst nichts sonst zum Vorschein gekommen, hätten die
Expressionisten während des Weltkriegs wirklich nichts an­
deres zu melden gehabt als Frieden, Ende der Tyrannei, so wäre
das noch kein Grund, ihren Kampf, wie Lukacs tut, als bloßen
Scheinkampf zu bezeichnen, j a ihm zu attestieren, daß er eine
bloße »pseudokritische, abstrakt-verzerrende, mythisierende
Wesensart der imperialistischen (von mir hervorgehoben, E. B . )
Scheinoppositionen darstellte. Es ist wahr, Werfe! und andere
seiner Art haben ihren Abstraktpazifismus nach Kriegsende zu
einer Kindertrompete verwandelt; die Parole »Gewaltlosig­
keit« wurde dadurch, der neuen Lage, der Revolution gegen­
über, zu einer objektiv gegenrevolutionären. Aber das hebt den
Umstand nicht auf, daß diese Parole während des Krieges selbst
und vor seiner möglichen Umwandlung in den Bürgerkrieg eine
durchaus revolutionäre, auch objektiv-revolutionäre war, daß
sie von den Durchhaltepolitikern auch so verstanden worden ist.
Übrigens haben viele Expressionisten auch der »bewaffneten
Güte« ein Wort gesungen, der Peitsche Christi, die die Wechs­
ler aus dem Tempel trieb; so völlig begriffslos war diese Men­
schenliebe nicht. Gar die Mitteilung, daß der Expressionismus
den »gemeinsamen weltanschaulichen Boden des deutschen
168 Diskussionen über Expressionismus

Imperialismus« nicht verlassen habe, daß er infolgedessen dem


Imperialismus durch bloße ))apoiogetische Kritik« auch noch ge­
nützt habe, ist nicht nur einseitig und schief, sondern gibt
überdimensioniert schief ein Schulbeispiel für den banalen,
gerade von Lukacs bekämpften Soziologismus und Schematis­
mus. Doch wie gesagt, das von Lukacs fast einzigZitierte gehörte
gar nicht zum gestaltenden Expressionismus, wie er uns als Phä­
nomen doch einzig interessiert. Es gehört wesentlich zum ))Ziel­
Jahrbuch« und ähnlicher mit Recht verschollener Diatribe,
(wenn diese auch, unter Führung von Heinrich Mann, keines­
wegs imperialisierte ). Aber in den nach wie vor rätselhaften
Subjektausbrüchen, in den archaisch-utopischen Hypostasen der
damaligen Kunst ist, wie nicht erst versichert zu werden braucht,
auch bedeutend mehr als die )) USP-Ideologie« anzutreffen, auf
die Lukacs den Expressionismus zudem reduzieren möchte.
Subjektausbrüche ins nur Gegenstandslose sind zwar zweifellos
noch bedenklid1er, als sie rätselhaft sind; ihr Material aber ist
durch bloße >>kleinbürgerliche Ratlosigkeit und Verlorenheit«
kaum genügend umschrieben. Es ist ein anderes Material, zum
Teil aus armaismen Bildern, zum Teil aber aum aus revolutio­
närer Phantasie, aus kritischer und häufig konkreter. Wer Ohren
gehabt hätte zu hören, hätte in diesen Ausbrüchen ein revolutio­
när Produktives wahrnehmen können, aum wenn es ungeregelt
und ohne Obhut war. Auch wenn es noch soviel ))klassismes
Erbe«, das heißt zur damaligen Zeit: klassischen Smlendrian
))zersetzt« hat. Dauernder Neuklassizismus oder der Glaube,
daß alles, was nach Horneros und Goethe hervorgebracht wurde,
unrespektabel sei, wenn es nicht nam deren Vorbild, vielmehr
der Abstraktion daraus gemarot sei, dieses ist allerdings keine
Warte, um die Kunst der vorletzten Avantgarde zu beurteilen
und in ihr nam dem Rechten zu sehen.
Was überhaupt wird, bei soldler Haltung, an neueren künst­
lerischen Versuchen nicht abgekanzelt? Sie werden ohne wei­
teres der kapitalistischen Fäulnis zugeordnet und das nicht nur,
wie selbstverständlich, zu einem bestimmten Teil, sondern hun­
dertprozentig, in Bausch und Bogen. Avantgarde innerhalb der
spätkapitalistischen Gesellschaft gibt es dann nicht, antizipie­
rende Bewegungen im Überbau sollen nicht wahr sein. So will
Diskussionen über Expressionismus

es eine Schwarz-Weiß-Zeichnung, die den wirklichen Umstän­


den schwerlich gerecht wird, den propagandistischen erst recht
nidlt. Sie rechnet fast alle Oppositionen gegen die herrschende
Klasse, die nicht von vornherein kommunistisch sind, der herr­
schenden Klasse zu. Sie rechnet sie auch dann zu, wenn die
Opposition, wie Lukacs im Fall Expressionismus konsequenzlos
eingesteht, subjektiv gutwillig war und den Tendenzen des spä­
teren Faseismus entgegengesetzt fühlte, malte, schrieb. Im Zeit­
alter der Volksfront scheint eine Fortsetzung dieser Schwarz­
Weiß-Technik weniger als je angebracht; sie ist mechanisch, nicht
dialektisch. Der gesamten Abkanzlung und schlechthin negati­
vistischen Kritik liegt die Theorie zugrunde, daß seit der Be­
endigung des Weges Hegel-Feuerbach-Marx von der Bour­
geoisie überhaupt nichts mehr zu lernen sei, außer Technik und
gegebenenfalls Naturwissenschaft; alles andere sei bestenfalls
>>soziologisch« interessant. Daher werden selbst so eigentüm­
liche und bisher unerhörte Erscheinungen wie der Expressionis­
mus von vornherein als pseudo-revolutionär geridnet. Daher
werden den Nazis die Expressionisten als Vorläufer zugebilligt,
ja zugetrieben, Streichers Ahnentafel sieht sich völlig unwahr­
scheinlich, höchst verwirrend aufgebessert. Ziegler gar machte
eine Klimax aus Namen, die durch Abgründe voneinander ge­
trennt sind, er trennt sie aber nur durch Kommata und setzt hin­
tereinander, als Brüder des gleichen ))nagenden« Geistes: ))Bach­
ofen, Rhode, Burckhardt, Nietzsche, Chamberlain, Bäumler,
Rosenberg«. Luk:acs bezweifelt aus den angegebenen Gründen
jetzt selbst an Cezanne die malerische Substanz, und von den
großen Impressionisten insgesamt (also nicht nur von den Ex­
pressionisten) spricht Lukacs wie vom Untergang des Abend­
landes. Er läßt in seinem Aufsatz nichts von ihnen übrig als
))die Inhaltsleere . . . die in der Häufung wesenloser, nur sub­
jektiv bedeutsamer Oberflächenzüge künstlerisch zum Vorsdlein
kommt«. Riesig steigt dagegen der Klassizismus auf, bei Ziegler
sogar die Winckelmann-Antike, die edle Einfalt, stille Größe,
die Kultur des unzerfallenen Bürgertums, die Welt vor hundert
und noch mehr Jahren; sie allein sei das Erbe. Gegen solche Sim­
plifizierung darf wohl daran erinnert werden, daß die Zeit des
Klassizismus nicht nur die Zeit des aufsteigenden deutschen
270 Diskussionen über Expressionismus

Bürgertums war, sondern auch der Heiligen Allianz; daß Säulen­


klassizismus, der »Strenge« Herrenhaus-Stil dieser Reaktion
Rechnung tragen; daß selbst die Winckelmann-Antike keines­
wegs ohne feudale Gelassenheit ist. Es ist wahr: die laudatores
temporis acti halten bei Horneros und Goethe nicht ausschließ­
lich an. Lukacs verehrt Balzac aufs höchste, macht Reine als
nationalen Dichter kenntlich und ist gegebenenfalls von Klassik
so fern, daß er Mörike, der allen Freunden früherer Dichtung
als einer der ed1testen deutschen Lyriker gilt, im Reine-Aufsatz
einen »niedlichen Zwerg« genannt hat. Überall sonst aber ist
hier Klassik das Gesunde, Romantik das Kranke, Expressionis­
mus das Allerkränkste, und dieses nicht nur wegen des chrono­
logischen Decrescendo dieser Gebilde, sondern freilich aum -
wie Lukacs mit geradezu romantischer Beschwörung gesmlosse­
ner Zeiten betont-wegen des srnön Geschwungenen und Eben­
maßes, wegen des unzerfallenen objektiven Realismus, der die
Klassik eignet. Es ist hier nicht der Ort, auf diesen Punkt einzu­
gehen; gerade wegen seiner Wichtigkeit erforderte er die gründ­
lichste Behandlung, doch müßten dazu alle Probleme der dialek­
tisdl-materialistischenAbbildlehrezurSpradlekommen.Hiernur
soviel: Lukacs setzt überall eine geschlossen zusammenhängende
Wirklichkeit voraus, dazu eine, in der zwar der subjektive Fak­
tor des Idealismus keinen Platz hat, dafür aber die ununter­
brochene »Totalitätcc, die in idealistischen Systemen, und so auch
in denen der klassischen deutschen Philosophie, am besten ge­
diehen ist. Ob das Realität ist, steht zur Frage; wenn sie es ist,
dann sind allerdings die expressionistisdlen Zerbrechungs- und
Interpolationsversud1e, ebenso die neueren Intermittierungs­
und Montageversudle, leeres Spiel. Aber vielleimt ist Lukacs'
Realität, die des unendlich vermittelten Totalitätszusammen­
hangs, gar nicht so - objektiv; vielleimt enthält Lukacs' Reali­
tätsbegriff selber noch klassisdl-systemhafte Züge; vielleicht ist
die echte Wirklichkeit audl - Unterbrecl1Ung. Weil Lukacs einen
objektivistism-geschlossenen Realitätsbegriff hat, darum wen­
det er sidl, bei Gelegenheit des Expressionismus, gegen jeden
künstlerischen Versuch, ein Wel tbild zu zerfällen ( aum wenn
das Weltbild das des Kapitalismus ist). Darum sieht er in einer
Kunst, die reale Zersetzungen des Oberflädlenzusammenhangs
Diskussionen über Expressionismus

auswertet und Neues in den Hohlräumen zu entdecken versucht,


selbst nur subjektivistische Zersetzung; darum setzt er das Ex­
periment des Zerfällens mit dem Zustand des Verfalls gleich.
An dieser Stelle läßt, zuguterletzt, sogar der Scharfsinn nach.
Zweifellos haben die Expressionisten den spätbürgerlichen Ver­
fall benutzt und sogar weitergetrieben. LuHcs nimmt ihnen
übel, daß nsie den ideologischen Verfall der imperialistisdlen
Bourgeoisie kritiklos und widerstandslos mitmadlten, ja zeit­
weilig seine Pioniere warencc. Aber erstens stimmt das sehr
wenig, was den flachen Sinn des »Mitmachenscc angeht; Lukacs
selbst erkennt den Expressionismus an als einen n ideologisch
nicht unwesentlichen Bestandteil der deutschen Antikriegsbewe­
gung((, Sodann aber, was das ))Mitmachen« im produktiven Sinn
angeht, das eigentliche Weitertreiben des kulturellerz Verfalls:
gibt es zwischen Verfall und Aufgang keine dialektischen Bezie­
hungen? Gehört selbst das Verworrene, Unreife und Unver­
ständliche ohne weiteres, in allen Fällen, zur bürgerlichen De­
kadenz ? Kann es nicht auch - entgegen dieser simplistisdlen,
sicher nicht revolutionären Meinung - zum Obergang aus der
alten in die neue Welt gehören? Mindestens zum Ringen um
diesen Übergang; wobei lediglich immanent-konkrete Kritik,
aber keine aus allwissenden Vor-Urteilen weiterhelfen kann. Die
Expressionisten waren »Pionierecc des Zerfalls: wäre es besser,
wenn sie Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus hätten sein
wollen? Wenn sie den Oberflächenzusammenhang wieder ge­
flickt hätten (etwa im Sinn der neuen Sachlichkeit oder des
Neuklassizismus ), statt ihn immer weiter aufzureißen? Ziegler
wirft den Expressionisten sogar nZersetzung der Zersetzung((
vor, also ein doppeltes Minus, ohne in seinem Haß zu bedenken,
daß daraus gemeinhin ein Plus wird; für den Niedergang des
Klassizismus hat er überhaupt keinen Sinn. Erst recht keinen
für die seltsamsten Inhalte, die gerade im Einsturz der Ober­
flächenweit sichtbar wurden, und für das Problem der Mon­
tage. Ihm ist das alles ,,kläglich geleimtes Gerümpelcc, und eines,
das er den Fascisten nachträgt, obwohl sie es gar nicht haben
wollen und ganz seiner Meinung sind. Der Expressionismus
hatte gerade in dem Bedeutung, worin ihn Ziegler verurteilt:
er hat den Schlendrian und Akademismus zersetzt, zu dem die
Diskussionen über Expressionismus

»Kunstwerke« verkommen waren. Er hat statt der ewigen


»Formanalyse11 am objetd'artauf denMeoschen und seinenlohalt
verwiesen, der zum möglichst echten Ausdruck drängt. Daß sich
Schwindler gerade dieser ungesicherten und leicht imitierbaren
Direktheit bemächtigt haben, daß die allzu subjektivistischen
Durchbruchs- und Ahnungsinhalte nicht immer, ja sogar selten,
kanonisch waren, unterliegt keinem Zweifel. Aber eine gerechte
und sachliche Wertung muß sich an die wirklichen Expressio­
nisten halten und nid1t, der leichteren Kritik zuliebe, an Zerr­
bilder oder gar nur an die Zerrbilder der eigenen Erinnerung.
Der Expressionismus war als Ersdleinung bisher unerhört, aber
er fühlte sicl . durchaus nicht traditionslos; im Gegenteil, er
sudlte, wie der >>Blaue Reiter« beweist, durchaus seine Zeugen
in der Vergangenheit, er glaubte Korrespondenzen bei Grüne­
wald, in der Primitive, sogar im Barock zu treffen, er betonte
eher zu viel Korrespondenzen als zu wenig. Er sah literarische
Vorgänger im Sturm und Drang, hochverehrte Vorbilder in den
Visionsgebilden des jungen und des greisen Goethe, n
i » Wan­
derers Sturmlied«, der »Harzreise im Winter«, in »Pandora«
und dem späten Faust. Der E"-'Pressionismus hatte auch gar kei­
nen volksfremden Hochmut, wieder im Gegenteil: der »Blaue
Reiter« bildete murnauer Glasbilder ab, er öffnete zuerst den
Blick auf diese rührende und unheimliche Bauernkunst, auf Kin­
der- und Gefangenenzeichnungen, auf die ersd1ütternden Do­
kumente der Geisteskranken, auf die Kunst der Primitive. Er
pointierte die oordisdle Ornamentik, das heißt das wild ver­
schlungene Schnitzwerk, wie es sich auf Bauernstühlen und
Bauerntruhen bis ins achtzehnte Jahrhundert erhalten hat, als
ersten »organisch-psyrnischen Stil«. Er pointierte dies Wesen
als geheime Gotik und setzte es dem mensmenleeren, dem kri­
stallinismen Herren-Stil Ägyptens und gar des Klassizismus
entgegen. Daß der kunstwissensrnaftlidle Fad1ausdruck »nor­
disme Ornamentik«, ja selbst die Feierlimkeit, womit dies
Wesen expressionistism begrüßt worden ist, nirnts mit Rosen­
bergs Nordsmwindel gemein hat und nirnt seine »Anfänge«
darstellt, braurnt l<aum versichert zu werden. Um so weniger,
als die nordisrne Sdmitzkunst voll von orientalismen Einflüs­
sen ist; der Teppich, das »Liniengeschöpf« der Ornamentik
Diskussionen über Expressionismus 273

überhaupt, war dem Expressionismus ein anderer Zuschuß. Und


eben noch eines, das Wichtigste: der Expressionismus war bei
aller Lust an »Barbarenkunst« aufs Humane gezielt, er um­
kreiste fast ausschließlich Menschliches und die Ausdrucksform
seines Inkognito. Davon zeugen, vom Pazifismus ganz abge­
sehen, selbst noch die expressionistischen Karikaturen und In­
dustrialisierungen; das Wort »Mensch« wurde damals genau so
häufig gebraucht wie heute von den Nazis sein Gegenteil: die
schöne Bestie. Es wurde auch mißbraucht, da gab es auf Schritt
und Tritt »entschlossene Menschlichkeit<<, die Anthologien hie­
ßen »Menschheitsdämmerung« oder »Kameraden der Mensch­
heit« - lauter verblasene Kategorien, aber zuverlässig keine
vorfascistischen. Der eclltrevolutionäre, materialistisch klare
Humanismus hat allen Grund, diese verblasenen Kategorien
abzulehnen, niemand verlangt auch, daß er den Expressionismus
als Muster oder seinerseits als >>Vorläufer« nimmt. Aber es be­
steht ebensowenig Anlaß, ein neuklassizistisches Interesse durch
verjährten Kampf mit entwertetem Expressionismus interessant
zu machen. Was kein Vorläufer ist, kann deshalb - in seinem
Ausdruckswillen und seiner Zwischenzeiten-Existenz - jungen
Künstlern dennocll nähersteben als ein dreifach epigonaler Klas­
sizismus, der sich auch nod1 »sozialistischer Realismus« nennt
und so administriert wird. Erstickend wird das der Bild-, Bau-,
Schreibkunst der Revolution aufgesetzt und ist kein griechisch
Vasenbild dabei, sondern der spätere Bedler als roter Wilden­
bruch und Zieglerisches als das Wahre, Gute, Schöne. So irreal
wie möglich wird eine untergehende Welt aus Scherben-Inein­
ander, eine aufgehende aus Tendenz und Experiment mit fal­
schem Formmaß von gestern »abgebildet«. Selbst echterer
Klassizismus ist wohl Kultur, aber abgezogen, abstrakt-gebildet
gewordene; er ist Kultur, gesehen durch kein Temperament.
Immerhin regt die frühere Glut, audl als sold1e, noch auf. Ist
also der Expressionismus noch nidlt verjährt, hat er noch nidlt
ausgelebt? Mit dieser Frage wäre man, fast unfreiwillig, an den
Anfang unserer Betrachtungen zurückgekehrt. Die ärgerlidlen
Stimmen reichen gewiß noch nicht zur Bejahung aus, auch Zieg­
lers drei andere Probleme am Schluß seines Artikels verbreiten
hierüber kein Lidlt. Ziegler fragt zum Zweck einer anti-expres-
274 Diskussionen über Expressionismus

sionistischen Selbstprüfung erstens: »Die Antike: >Edle Einfalt


und stille Größe< - sehen wir sie so?« Zweitens: »Der Formalis­
mus: Hauptfeind einer Literatur, die wirklid1 zu großen Höhen
strebt - sind wir damit einverstanden?« Drittens: >>Volksnähe
und Volkstümlid1keit: die Grundkriterien jeder wahrhaft gro­
ßen Kunst - bejahen wir das unbedingt?« Es ist klar, daß auch
derjenige, der diese Fragen verneint, erst recht der andere, der
sie als unrichtig gestellt ansieht, deshalb noch keine »Reste des
Expressionismus« in sich bergen muß. Hit!er- diese Erinnerung
läßt sich bei so summarisch gestellten Fragen leider nimt vermei­
den - Hit!er hat ja die erste und dritte Frage bereits vorbehaltlos
bejaht und ist trotzdem nidu unser Mann. Aber lassen wir die
»edle Einfalt und stille Größe«, eine rein historisch-kontempla­
tive Frage und eine kontemplative Haltung vor Historischem.
Bleiben wir bei den Fragen »Formalismus« und »Volksnähe«,
so unsd1arf diese Probleme im vorliegenden Zusammenhang
auch gestellt sein mögen. Zuverlässig aber ist Formalismus der
geringste Fehler der expressionistischen Kunst gewesen (die
man nidtt mit der kubistischen verwechseln darf). Sie litt eher
an zu wenig Formung, an einer roh oder wild oder durchein­
ander hinausgesmleuderten Ausdrucksfülle; das Ungestaltete
war ihr Stigma. Dafür freilich auch die Volksnähe, die Folklore:
ganz im Gegensatz also zu der Meinung Zieglers, der sich
\Vinckelmanns Antike und den Akademismus, der aus ihr ge­
zogen wurde, als eine Art Naturrecht in der Kunst vorstellte.
Volkstürolim im sd1lecllten Sinn ist freilim aum der KitsdJ.; der
Bauer des neunzehnten Jahrhunderts vertauschte seinen ge­
malten Schrank gegen ein Fabrik-Vertiko, die uraltbunten Glas­
bilder gegen einen Öldruck, und hielt sicll für arriviert. Aber
diese übelsten Früdlte der Kapitalisierung wird man kaum als
volkhaft sprechen wollen; sie sind erweisbar auf anderem
Boden gewadlsen und verscllwinden mit ihm. Nicllt so sicher
ist der Neuklassizismus ein Gegenmittel gegen den Kitsch und
ein Element wirklicher Volksnähe; dafür ist er selber viel zu
sehr das >>HöhereC<, das unecht Aufgesetzte. Wogegen die Ex­
pressionisten allerdings, wie scllon bemerkt, auf Volkskunst
durchaus zurückgingen, Folklore liebten und ehrten, ja male­
risch zuerst entdeckt haben. Besonders Maler aus Völkern von
E
xpressionismus nochmals 275

junger Selbständigkeit, tschechische, lettische, jugoslawische


Maler fanden um I9 I 8 im Expressionismus eine Ausdrucks­
weise, die ihrer heimischen Folklore bezeichnend näher lag als die
meisten Kunststile bisher (vom Akademismus zu schweigen ) .
Und wenn expressionistische Kunst in vielen Fällen (nicht in
allen, man denke an Groszoder Dix oder auch den jungen Bred1t)
dem Betrachter unverständlich blieb, so kann das bedeuten, daß
Angestrebtes nicht erreicht wurde, es kann aber auch bedeuten,
daß der Betrachter weder die Auffassungsgabe unverbildeten
Volks noch die Aufgeschlossenheit entgegenbringt, die für das
Verständnis j eder neuen Kunst unentbehrlich ist. Ist derWille des
Künstlers für Ziegler maßgeblich, so war der Expressionismus
geradezu ein Durchbruch zur Volksnähe. Ist die erreichte Lei­
stung maßgeblich, so darf Verständnis nicht für jedes einzelne
Stadium des Prozesses verlangt werden: Picasso malte als erster
»geleimtes Gerümpel«, zum Entsetzen sogar des gebildeten
Volks; oder sehr viel weiter herab: Heartfields satirische Photo­
klebebilder waren so volksnah, daß mancher Gebildete nichts
von Montage wissen will. Und wenn der Expressionismus heute
noch zu Erregungen Anlaß gibt, jedenfalls nicht undiskutabel
geworden ist, dann scheint auch die » USP-Ideologie«, die heute
zuverlässig ohne Unterbau ist, nicht die einzige im Expressio­
nismus gewesen zu sein. Seine Probleme bleiben so lange denk­
würdig, bis sie durch bessere Lösungen, als es die expressionisti­
schen waren, aufgehoben sind. Eine Abstraktion jedoch, die die
letzten Jahrzehnte unserer Kulturgeschichte überschlagen
möchte, sofern sie keine rein proletarische ist, gibt diese besse­
ren Lösungen kaum. Das Erbe des Expressionismus ist noch
nicht zu Ende, denn es wurde noch gar nicht damit angefangen.

DAS PROBLEM
DES EXPRESSIONISMUS NOCHMALS (1940)

Der so betroffene Blick hat aufgehört, unmittelbar zu sein. Er


ist wesenhaft vermittelt, im gleichen Zug, wie es seine Gegen­
stände sind. Aber nun kommt solch wesenhafte Beziehung j e
Expressionismus nochmals

nach den Zeiten, in denen sie sid1 gegenständliffi eröffnet,


variiert vor: als jäh vermittelte und als breit vermittelte. Im
einen Fall wird gerade Übersehenes oder Zerfallenes vielsagend,
im anderen Fall schlägt sich das Ganze und Wesentlid1e erst in
der Breite des Zusammenhangs auf.
Jäh vermittelt, das kann gewiß auch unordentliffi vor sid1
gehen. Es ist dann vom Unmittelbaren eines bloß subjektiven
Erlebens bedroht. Doch allein schon der Zustand der Zeiten,
in denen die jähen, oft abbrechenden Blicke auf Verstecktes,
auffi Absonderliches bedeutend werden, zeigt, daß eine Same -
und zwar eigener Art - sich einmisffit. Jäh vermittelt gibt sich
eine wesentliche Beziehung vor allem in jenen Zeiten, wo in­
folge ungesid1erter Verhältnisse Löcher und Hohlräume im
bisher glatten Zusammenhang aufgehen; darüber und über das,
was darin auftaucht, geben die - sage man: unregelmäßigen
Künstler auf ihre Art Aufschluß. Eröffnungen dieser Art treten
seit dem Ausgang des Mittelalters immer wieder hervor, das
heißt, in den Hohlräumen, die infolge des langdauernden Ein­
sturzes einer alten Gesellschaft, vor allem aber der Ausschach­
tungen einer neu heraufkommenden entstehen, - so wie im
Zwielicht der Frühe Nacht und Morgen ineinander gemischt
sind. Wichtig sind selbstverständlich nur die Gestalten des über­
wiegenden, ja regierenden Morgenblicks, trotz aller Absonder­
lichkeit, die eben diesen nod1 ungeordneten Sprunggebilden eig­
net. Eine gemischte, doch trotzdem nicht unverwandte Reihe
zieht sich derart malerisch von Baidung Grien, von dem schein­
spaßhaft-grausigen Hieronymus Bosch zu den empört-reellen
Grotesken Goyas, zu zerlegend-epatanten Seltsamkeiten Franz
Marcs, Chagalls, Picassos. Dichterisch zieht sich eine, wie immer
selber unterbrochene, Reihe von Fran<;:ois Villon, diesem mittel­
alterlichen Anfang aller nunregelmäßigen Autoren« , zu dem
))wilden Apollo« im revolutionären Sturm und Drang, zu
den Frühwerken Bertolt Bred:lts. Hierbei sind ersichtlicher­
weise nicht die selber zerfallenen Zufallsautoren, die seiend
oder bleibend Dekadenten primär bemerkenswert (obwohl auch
sie skurrile oder stygisd1e Gegenstände gefördert haben moch­
ten, die nun ans Licht zu halten sind). Wichtig sind vielmehr die
Meister der wahren Vermittlung durch Jähheit: ins Nebenbei
Expressionismus nochmais 2 77

und die Heimatlosigkeiten des Hohlraumes einschlagend (ob­


wohl auch diese der Dekadenz der anderen vielfach einige Ge­
stehungskosten ihres Werks zahlen mußten, ja zuweilen noch
mit einem Fuß in ihr standen). Das ganze Wesen kulminierte
sinngemäß während rapider Einstürze des bürgerlichen Hauses,
während der Endkrise des Kapitals. Und indem bei der Krise
Abendrot ·und Morgenrot sich dialektisch überschneiden kön­
nen, waren Expressionismus, dann, wie Ernst Fischer mit Recht
hervorhebt, der Surrealismus zuweilen in der Lage, eine keines­
wegs nur subjektivistische, gar formalistische Montage gegebe­
nenfalls bereitzustellen. Recht entfernt von bloßer Kunst der
Dekadenz erscheint dergleichen im Opus des Kommunisten
Picasso, in all diesen spät-frühen Geburt-Allegorien aus Zer­
fällung, j a eben aus Zerfall. Es ist also keineswegs so, als wäre
solch jähe Vermittlung gar keine - Vermittlung, das ist: außer
Bezug zur zerrissenen Wirklichkeit selber, rebus sie non stanti­
bus. Oder als wäre hier, wie Luld.cs angibt, einzig Verzerrung,
Verkehrung eines an sich ausgewogenen, sozusagen allemal
formvollendeten Wirklichkeitszusamrrienhangs. Konträr: be­
reits die Welt Goyas, wie gar die ))Guernica«-Welt Picassos
haben auf zerrissene Erlebnisweisen durchaus nicht erst ge­
wartet, um voller Hohlräume, Folterkammern, Spannungsfigu­
ren zu sein. Unabhängig von bloßen Subjektivismen ist die
Wirklichkeit in Zeiten der Krise selber eine weithin zerspellte,
eine keinesfalls nur mit breit-ruhiger Ve1·mittlung treffbare. Die
Krise ist das Auseinandertreten der immer weiter verselbstän­
digten Momente, und wenn die Krise gemäß dieser großen
Marx-Definition auch ebenso ))die Einheit der gegeneinander
verselbständigten Momente manifestiert«, so das doch keines­
wegs als vorherige bürgerliche Klassik und ihre Reproduzier­
barkeit, gar Mustergültigkeit, gleich wie wenn in Zeit und
Inhalt nichts geschehen wäre. Das Marx-Zitat weist darauf hin,
daß die Dialektik als Einheit der Einheit und der Widersprüche
nirgends ihrer spotten läßt, aber es will selbstverständlich nicht
sagen, daß die Krise ein Ausbund von Ordnung und Einheitlich­
keit wäre. Letzteres vielmehr - und damit stellt sich der Über­
gang vom Jäh- zum Breit-Vermittelten her - ist nur in relativ
ruhigen Höhenzeiten einer gesellschaftlichen Stabilisierung
Expressionismus nodunals

darstellbar oder aber - konkretest - erst in einer Gesellschaft


nach gelungenersozialerRevolution, ohne Krisen, aber auch ohne
nennenswerte Schwierigkeiten des sozialen Aufbaus. Breite Ver­
mittlung also, diese glücklichere Weise wesenhafter Beziehung,
sie ist gewiß nid1t von Unordentlichem bedroht und vom Un­
mittelbaren eines bloß subjektiven Erlebens wie das Jäh-Ver­
mittelte. Wohl aber ist diese Weise in allen Obergangszeiten
von allzu Geordnetem bedroht, das ist von epigonalem Klassi­
zismus, der seine nur idealistisch-formale Totalität fälsdllidl
als realistisch ausgibt. Breite Vermittlung wirklich konkreten
und dann freilidl eben konkretesten Sinns ist nur dort möglich,
wo eine sozialistisch gewordene Welt nicht mehr voller Krisen
steckt, oder aber, in der bisherigen Vorgeschichte der Mensdlheit,
dort, wo der Blick sehr weitschauend von einem großen Kunst­
werk her ergeht, also auf der erlangten Höhe einer progres­
siven Kultur. Das gesdlah bei Giotto und Dante, philosophisch
bei Thomas, es gesdlah - bereits mit einer Fülle von »unregel­
mäßigem Autorentum« untermischt - in dem großen Roman
der Neuzeit, in Shakespeares Welt-Drama - bei relativem Totum
des gesellschaftlichen Zusammenhangs, bei utopisch-enteledleti­
schem Totum der Charaktere, Situationen, Handlungen zu­
gleich. Doch fehlen allerdings auch hierpointiert unterbredlende
Instanzen nidlt; denn in Wahrheit ist die Wirklichkeit audl in
Zeiten und Großwerken der breit möglichen Vermittlung nie
lückenloser Zusammenhang, sondern stets nodl - Unterbre­
dlung und stets nodl Fragment.
RELATIVISMEN UND LEER-MONTAGE

Der frische Zug ändert sich hier oben. Die Jugend liegt wirr
und böswillig zurück. Auch ihre Lehrer bauen seit langem ab,
aber ins schlechte Alte. Der Student trägt jetzt durchwegs das
Haus mit, dem er entstammt, am meisten das enge. übernimmt
die Wunsche, die Rachsucht, die ungelüfteten Meinungen der
sinkenden Mitte. Dem Denken weicht er aus, weil er erkennen
müßte, wie aussichtslos die Lage der Klasse ist, die er halten, in
der er fortkommen will. Nun suchen viele Studenten auf den
Universitäten eine Art Vater (meist, weil sie keinen ausreichen­
den zu Hause gehabt haben); sie suchen ihn dringender als eine
Geliebte. Die Lehrer aber, die dazu dienen, entstammen als jün­
gere meist derselben Mitte wie die Studenten, einer sinkenden,
gereizten, irrenden; als ältere, auch großbürgerliche, biedem sie
sich der Jugend nur an oder leben ohnehin im Kaiserwetter. Sie
verhalten sich zu den national-nrevolutionären« Studenten wie
die Schwerindustrie zu den SA-Truppen; sie sind die ideologi­
schen Statthalter der Schwerindustrie beim akademischen Sturm.
Klar, daß unter so rostigen Verhältnissen, im Bund mit so wel­
kem Bewußtsein die Studien nicht blühen. Der Ort überhaupt,
wo die nationalistischen Studenten sich Rats erholen, liegt nicht
mehr innerhalb der Universitiit, widerspricht jedenfalls ihrer
bisherigen, rational-humanistischen Tradition. Der Satz: nMan
stirbt nicht für ein Programm, das man verstanden hat, man
stirbt für ein Programm, das man liebt«, - dieser nationalsozia­
listische Grundsatz, ein Glaube nicht nur dumpfer Jünglinge
und bewußtloser Überzeugungs-Verschwender, sondern der
feurigsten nAkademiker« von heute, führt in derwischhafte
Feldlager, nicht in Hörsäle. So ist die n Vernunft« deutscher
Hod1schulen höchstens noch in ihren technisch-zweckhaften
Fämern, das nsystematische« Bildungsideal (aus der Zeit Hum­
boldts ) längst vorüber. Ja, selbst sozialistisch gesehen dürfte an
z8o Relativismen und Leer-Montage

den »Bildungsidealen«, an den Resten und Eiertänzen der philo­


sophischen Universität, wo sie noch, mit deutschnationaler
Überlieferung, besteht, wenig behaltbar und gewiß nichts re­
parierbar sein. Dem Sozialismus bleiben fast nur die technisch­
rationalen Fächer als unmittelbares Erbe, sie sind jedenfalls
zukünftiger als ein Bildungsideal, das nicht ohne Grund ge­
sprungen ist, hier relativistisch, dort irrational. Auch die junge
Kirche hat nicht die Tempel, sondern die Basilil{en bezogen.
Jedenfalls ging der humanistisch-ideale Überbau, den die Spran­
ger oder Rickert bisher noch besorgten, der »universitas litter­
arum« toto coelo verloren. Das Epigonenturn hat ihn gegen
die ökonomisch-politische Wirklichkeit nicht halten können,
nicht einmal gegen den mythischen Überbau, der jetzt besser als
der humanistisch-ideale Wirkliches verdeckt. Lehrreich jedoch,
jenseits der Eiertänze und des »Bildungsideals«, die immerhin
vorgesd1rittensten Zerfallsformen der bürgerlichen Philosophie
mittelbar zu mustern; sie hängen in der Basilika wie Konkurs­
artikel, auch wie nid1t-euldidisches, nicht-mechanisches Vergiß­
meinnicht, auch wie Tribute der Tugend an das Laster. Neuere
»Empiristen« müssen ohne weiteres die bürgerliche Ratio zer­
setzen und machen sie beweglich, nämlich mit Modellen. Doch
auch neuere Idealisten sind auf einen Nullpunkt bürgerlicher
Ratio geraten, nämlid1 aufs sogenannte »Existieren«; sie füllen
seinen abstrakten Abgrund teils mit emotionaler »Ontologie((
(aus spätbürgerlichen Stimmungen ) , teils mit »Chiffern« aus
eingestürzten Ordnungen. Unter dem Schein des Beginns ver­
kauft sich hier bürgerliches Denk-Ende, mit falscher Gebärde
oder »fragendem, ungedecktem Standhalten inmitten der Un­
gewißheit des Seienden im Ganzen« (Heidegger ), mit wesen­
losen Lösungen. Doch über die Triebanstalt und den Beschäfti­
gungen einer sterbenden Kamarilla ist recht bunte Agonie,
Logik und Metaphysik sozusagen einer fragenden Agonie. Ein
Blick, der sich auf Hohlräume versteht, wird hier darum, zu­
weilen, Probleme spüren, die auf der Kante stehen, und Sterbe­
material, das dem von - Joyce nicht immer ganz fernsteht. Es.
ist ein Ausverkauf von Relativsmus
i und Leer-Montage, mitten
im Untergang des bürgerlichen Wissensstolzes. Relativisten sind
Trumpf, ihr Erkennen wird klein geschrieben, sie sdueiben es
Das Auge I Die Fiktiven z8r

schließlich überhaupt nicht mehr zu guter Letzt. Sobald nämlich


Sphinxe (die immerhin, bei solcher Wahl, etwas besser sind als
allwissendes ))Es ist erreicht« ) Platz genommen.

DAS AUGE

Immerwieder fängt man nun von sich her an. Trägt ab, bis drau­
ßen überhaupt nichts mehr ist. In zerstückter, dürrer Arbeit
wurde bürgerliches Denken ohnehin schwach, bescheiden. Sein
Stoff ging nicht mehr in Begriffe ein; diese wurden sd1wankend,
der Stoff selber zerfiel in bloß Gesehenes oder wich ganz zurück.
Da glaubte Ziehen schon aus dem Bau des Auges zu wissen, daß
der Mensch die Dinge nicht wahrnimmt, wie sie wirklich sind.
Daß aucll jede erkennende Aussage über sie ein Wort ist und
nicht mehr. Wie die Dinge sind, läßt man g"!rne draußen und
dahingestellt. Desto leichter fällt es, wechselnd über sie auszu­
sagen, morgen anders als heute.

DIE FI KTIVEN

Andere zweifeln schon von vornherein, nur nicht an sich. Trok­


kener Schlamm von gestern kommt wieder auf, wird witzig und
allgemein. Macll lebt, seine Lehre von der Anpassung der Ge­
danken an die Tatsachen greift sogar recht organisch um sich. Ein
Vaihinger, mit der Lehre des Als-Ob, kam nad1 40 Jahren erst
nach Hause, st
i wieder zu Hause. Trifft eine Zeit, die ihre Be­
griffe völlig schwankend nimmt, nämlich als bloß fiktiv, und
sid1 dieses, wie nachträglich immer, testieren läßt. Erkenntnis
wird bloße fiktive Annahme; ihr entspricht real nichts und nicht
einmal sicher nichts. Wie eine Krankheit Schübe hat, so auch
der bürgerliche begriffliche Zerfall, und er wird immer leichter,
immer bequemer gedamt. Das bloße Als-Ob empfiehlt sich
schon deshalb, weil es alle bürgerlichen Grundsätze abzutragen
erlaubt. Es verwandelt die wissenschaftlichen Begriffe, selbst die
Die Empiristen

idealen Oberzeugungen höchst nützlich in Aktienpapiere, wel­


che je nach der gegebenen Lage schwanken. Das fingierende
Wesen trägt überdies für sich die Wahrheit ab, um sie weder
vorher noch nachher irgendwo besser anzusiedeln. Es macht den
Zweifel am heute faßbaren Sein zu einem an allem und jedem.
So durchzieht es große Teile des heutigen Denkens, leicht,
bequem, treulos. Steigt in alle gerade gangbaren Züge des Be­
griffs, um mit keinem zu Ende zu fahren.

DIE E M P I R I STEN

Aus dem Zweifel kommen Kühle, indem sie ihn gänzlich mit­
machen. Das reine Denken ist ilmen leer, das übrige Innen bloß
gefühlig, und was es >>erkennend« hinzugibt, gedichtet. Nur
zwei Denkweisen gelten hier als wirklich treffende: die neue
Logik, im mathematischen Sinn Russels, und das Verfahren der
einzelwissenschaftlichen, empirischen Forschung. Klar und deut­
lich - der alte Ruf vom Anfang des bürgerlichen Denkens, der
Ruf des abstrakten Kalküls kehrt derart wieder; ·freilich, was
die Kraft des Kalküls angeht, aus sich heraus Wirkliches zu er­
kennen, mit sehr gemindertem, sehr geschlagenem Anspruch.
Für den Kreis der »wissenschaftlichen« Philosophen gibt es
keine synthetischen Urteile a priori; Denken über die Erfahrung
hinaus greift in nichts, in Hirngespinste, in völlig gegenstands­
lose Reste mythischen Denkens. Es gibt nur analytische Urteile
a priori; diese machen die neue Logik aus, als ein gehaltleeres
Gefüge von Tautologien, die zwar bedingungslos richtig sind,
aber nichts über das, »was der Fall ist«, aussagen (Wittgen­
stein). Gehaltvolle Erkenntnis liefern einzig die empirischen
Wissenschaften, die synthetischen Urteile a posteriori, zurück­
führbar aufs Gegebene und daran allein als wahr oder falsch
entscheidbar. Dem Philosophen obliegt lediglich, die »Form«
der einzelwissenschaftlichen Fragen und Urteile bis zur äußer,..
sten Helligkeit logistisch durchzudenken; denn durch Philo­
sophie werden die wissenschaftlichen Sätze nur geklärt, durch
Erfahrung aber werden sie bewahrheitet. Philosophie wird so
Die Empiristen

zur puren Ordnungs-Kontrolle der Einzelwissenschaften; ihre


»Sinnforschung« ist eine der Form, mitnichten des Inhalts. So
klar dies gesamte Wesen ist, so unreflektiert ist freilich der Be­
zug, den es ZU dem älteren kritischen Empirismus hat, nämlich
zu Mach. Den Kreis um Schlick, Dubislav verbindet mit Mach
(dem zweiten Ahnherrn, nach Russe! ) die Ablehnung jedes
»vermenschlichenden« Denkens, die Tendenz, synthetische Ur­
teile a priori (also subjektiv-mythische) auch noch in den for­
malen Grundbegriffen, vor allem aus der Kausalität zu entfer­
nen. Dagegen scheint unklar, wie es die Empiristen mit dem
Modellgedanken des Machismus halten, das ist: mit der An­
passung von Gedanken an Tatsachen mittels eines Denkmodells.
Diese Un.ldarheit st
i desto merkwürdiger, als der Modellgedanke
das Einzige wäre, was den idealistischen Katzenjammer auch in
den Einzelwissenschaften zeigte, nicht bloß in dem, was man
hier metaphysische Überschreitung nennt. Doch gerade die kri­
tische Auflösung der Einzelwissenschaften selber scheint bei
den Empiristen noch en enfant zu sein; ebenso die Einsicht in
die Fragwürdigkeit jener Verdinglichungen, die einzelwissen­
schaftlich noch »Tatsachen« genannt werden. Wie das sehr zeit­
liche Subjekt hier unterschlagen wird, dem alles Gegebene doch
erst ,,gegeben« ist, so bleibt die gegebene Erfahrung selber
schlecht unmittelbar, ungeschichtlich und unveränderlich. �­
dere Logik als die der Gleichungen ist unbekannt; von Dialelhik,
die nicht einmal ein Mal in denselben Fluß steigen kann ( also
mit bestem Willen nicht tautologisch ist), wurde hier noch nidlts
vernommen. Je größer die Bescheidenheit vor der bürgerlichen
Wissenschaft, je kärglicher der Halt, den der Zweifel logistisch
und "wissenschaftlich« gefunden zu haben glaubt, desto unwis­
sender der "Hodunut« vor allen Denkern der Vergangenheit,
vor allen "Musikbeispielen«, welche mehr als a =a von sich ge­
geben haben. Die Nähe dieser abstrakten Strenge zur neuen
Sachlichkeit leuchtet ein; sie hat dieselbe menschliche Leere,
dieselbe Klarheit eines bloß äußerlichen Verstands, denselben
Verzid1t, in die "Hintergründe« der Erfahrung ( auch die Bewe­
gung ist ein Hintergrund) einzudringen. Dennoch geben manche
Marxisten diesem Denken, weil es so gleichzeitig scheint, respekt­
vollen Pardon; ja, auch die übrigen Denker der "Anpassung((
Die Empiristen

werden von ihnen als technisch vorgeschritten begrüßt. So


die sogenannten Behavioristen ( Watson ), weil sie ganz ohne
Innen auskommen und das Bewußtsein leugnen oder ins übrige
organische Verhalten zur Umwelt eingliedern. So die Pragma�
tisten (Schiller, J ames ), weil sie Wahrheit nur als biologische,
überhaupt als praktische Brauchbarkeit definieren und nur
insofern »Interesse« an ihr haben; so die Neu-Empiriker schließ�
lieh wegen ihres metaphysikfreien Denkens. Daher akzeptieren
manche Marxisten, trotz Lenins Warnung, hier ein Erbe; das
wasserklare Wesen scheint ihnen »der reifsten kapitalistischen
Entwicklung« zu entsprechen. In der Tat ist diese philosophische
»Sachlichkeit<< ein Stück England und USA, aber sie ist es auch
philosophisch, also nicht auf die beste Weise; sodann aber ist
ihr Ursprung ziemlich bemoost, nämlich Mach und das nicht
sehr amerikaaisehe Wien. Was Pragmatisten angeht, so ist ihre
behauptete Nähe zum marxistischen Denk-Praxis-Verhältnis
nur eine scheinbare. Denn nicht deshalb ist dem Marxismus
etwas wahr, weil es brauchbar ist, sondern die praktische Grund�
frage ist hier ebenso eine theoretische: nämlich ob eine Theorie
mit der wirklichen Tendenz übereinstimme; erst sofern sie mit
dieser übereinstimmt, ist sie auch wahr, und nur sofern sie der­
gestalt wahr ist, ist sie auch brauchbar. Was gar das Metaphysik­
freie der Logisten und Neu-Empiristen angeht, so stellt dieses
nicht Hegel auf die Füße, was einzig marxistisch wäre, sondern
wirft ihn hinaus, sagt a = a und traut im übrigen der bürger­
lichen Wissenschaft, als wäre sie lautere »Erfahrung<<. Schwan­
kend, doch unabweisbar geht in all diesem Verstand eben Mach
um; ebenso schwankend, doch freilich - qua Forschung von
heute - ebenso unabweisbar der Modellgedanke, der elastische
Relativismus. Dieser wirkt schief und ausdrücklich erst in gewis­
sen sozialwissenschaftliehen Reflexionen, fruchtbar in der mo­
dernen Physik.
LAXER, SOZIALER UND PHYSIKALISCHER
RELATIVISMUS

Auch Weiches löst gern auf, was anders als es selber ist. Ihm ge­
nügt das bloße Zählen, Greifen, Nennen, darin erschöpft es
sich. Was gegriffen wird, mag Brei sein und bleiben, ein ständig
fließend empfundener. Am sogenannten Id1 oder der Seele be­
gann dieser B ick
l sachlich zuerst, setzt sich seitdem mäßig fort.
Verworn etwa schwächte, vor langem schon, alle psychischen
Begriffe zu bloßen Namen ab, die nichts Seiendes bedeuten. So
überall setzt das Denken hier bloße Zeichen, die dem endlos
Empfundenen als dem Einzigen, was ist oder vielmehr sd1webt,
nur hinzugefügt werden. Daran wirkte Machs Modell zuerst
und wurde angewandt: das Icll ist nicht zu halten, docll auch
alles in und außer ihm ist nur webend Empfundenes. Oberall
schüttelt dies Weben den harten, stellenden Begriff ab, wie der
Hund das Wasser oder vielmehr wie das Wasser den Hund, als
nicht zu ihm gehörig. Es gibt keine für sich selbst umrissenen
psychischen Zustände, es gibt auch keinen wirklicllen Scllarlacll,
erst red1t keine psyclliscll geschlossenen Krankheiten, sondern
nur die Ansicht, den Namen von ihnen, der Erscheinungen bald
hierhin, bald dorthin zusammenlegt. Es gibt aud1 keine getrenn­
ten Leiber, Arbeiter, Unternehmer, Klassen; das ist die weitere
Folge solches rein ))phänomenalen« Blicks. All das existiert nimt
im unendlich Flüssigen der gegebenen Empfindung, es ist dar­
aus nur in herangehaltene, handliche Gefäße geschöpft. Begriffe
werden derart reflexiv wie nie, und zwar alle Begriffe, aus­
nahmslos; der Gedanke mad1t sicll klein. Nicht klein genug,
um nicht in ihm und seinen Folgen den schlauen Kreter sehen zu
lassen, der sagte, alle Kreter seien· Lügner. Indem er sich selbst
beschimpft und aufhebt, meint er, jede wirkliche Aussage zu
schlagen und aufzuheben. Und räumt doch nur jene bürgerlime
Sprache weg, die zu schwach geworden ist, um mehr zu sagen,
als daß sie nicllts mehr sagt.
Laxer, sozialer und physikalischer Relativismus

Soziale Reflexionen

Dies Denken wieder lockert endlos auf, um nicht handeln zu


müssen. Es versteht jede Stellung so gut, daß es für keine sich
zu entscheiden braucht. Bedenklich dies Wesen, wenn es, wie bei
Mannheim, sich an geschichtlichen Triebkräften versucht. Es
ist dann weniger >>versuchend« als betrachterisch entspannend,
nämlich Geschichte in die Standpunkte entspannend, die hinter­
einander die Zeiten über sich einnehmen. nGeschichte<<, sagen
derart Mannheim und seine Schu1e, »ist nur aus der Geschichte
selbst sichtban<, es gibt keinen Sprung aus dem notwendig teil­
haften, >>perspektivischen« Blick auf einen objektiv erfaßbaren,
durchgreifenden Gang des Geschehens. Das Machsd1e Modell
erscheint hier als eine Art Schicksal der Geschichte als Wissen­
schaft, nämlich als >>Soziologie<<. Das Modell nun, womit heute
Gesmid1te erfaßbar wird, ist vor allem das der Ideologie, das
heißt, der wirtsd1aftlichen Zuordnung. Jeweilige wirtsd1aftliche
Zuordnung bestimmt aber nicht nur die Inhalte, sondern, nach
Mannheim, aum noch den ökonomisch-materialistischen Be­
griff, den die Gescllid1te heuzutage, als im Industriezeitalter,
von sich selber nimmt. Diese heutige »Perspektive« sei selber
nur eine wirtschaftlim zugeordnete und bedingte, folglich keine
endgültige oder konstitutive; es gebe überhaupt keine endgül­
tige. So verbindet sich der bürgerliche Relativismus noch mit
dem Ideologiebegriff, den er aus Marx gelernt hat, um diesen
auf - Marx selber ,,anzuwenden«. Marx wird mit Max Weber­
sehern Nominalismus und >>Positivismus<< verbessert; reid11id1
Lukacs kommt hinzu und wird zu bürgerlidlern Gehraum taug­
lim gemacht, während Spenglers Kulturgruppen und Schelers
»Typenlehre« dem Zweck wieder dienen, daß dem Perspektive­
wesen unterwegs ein Halt sei. Also wird jene Ideologielehre,
die bei Marx ein Schlüssel zur bisherigen, dom erst recht ein
Hebd zur künftigen Gesmichte ist, nur nom zum Schlüssel:
und zwar zu einem auf Zeit; und gar zu einem, der den Hebel
selbst behebt. Alle Theorie, aucll die marxistisme, geht derart,
nad1 ihren eigenen ,,Prämissen«, in eine sogenannte Soziologie
des Wissens über und darin unter: es gibt ebenso eine ökono­
misdl zuordenbare und folglich relativierbare Strukturlehre des
Soziale Reftcxionen

proletarischen Gedankens von heute, wie es eine des konserva­


tiven zu Metternichs oder des chiliastischen zu Thomas Münzers
Zeit gegeben hat. Die Ideologen jeder Klasse, auch der proleta­
rischen, leben hier als diskutierbare, als logisch völlig gleich­
wertige in der Schmetterlingssammlung der Kontemplation.
übersteigert diese relativistische Sozialphilosophie den Histo­
rismus, so schafft sie erst redu jeden Ansd1ein von geschicht­
lichem Prozeß ab, mit ihm den durchgehenden Inhalt, welcher
sich in der Geschimte mehr oder minder konkret beriduigt. Der
Inhalt der Geschimte war marxistisch erkannt als die Beziehung
von Mensdlen zu Menschen und zur Natur; der Prozeß ist die
Dialektik der Klassenkämpfe. Mannheim dagegen bestimmt
nicllt nur die früheren Ideologien, welche über die Klassenherr­
smaft täusdlten und, als undurdlschaute, täuschen mußten, rein
formal: nämlich als Zuordnung bestimmter Bewußtseinsinhalte
zu bestimmten Gruppen, als Summe von Vorstellungen, welme
die bestehende Gesellschaft spiegeln und rechtfertigen. Sondern
indem dieser Relativismus seinem ganz formalen Ideologie­
begriff auch Marx unterworfen glaubt, entwurzelt er angeblidl
die marxistische Wahrheit und Wirklimkeit selbst; es entsteht
die alles begreifende Einfügung auch der proletarischen nideo­
logie« in Gruppenvorstellungen, deren eine so wahr ist wie die
andere, nämlich soziologisch wahr und nicht mehr. Übrig bleibt
nur der Magen, der sim nicht selbst verdaut, die Skepsis, welche
als letzter, leerster Endpunkt in sim selber spielt, ohne in An­
deres sich aufheben zu können als wieder in Skepsis. Übrig bleibt
die sogenannte Leidensmaft des Forscllens und ein Reßexions­
trieb, der in der Gesd1ichte alles sieht außer dem, was gesmieht;
übrig bleibt freilicll aum die Freude jener Parteien, die ihr
Programm nicht auf Erkenntnisse gegründet haben, sondern auf
Blutwille und Glauben, also der Fascismus, das katholisme Zen­
trum. Dabei mußte sich diese Auffassung sogar von ABC-Sdlüt­
zen des Marxismus ihre Kritik vorhalten lassen, als eine, die
bereits ntheoretism« einleuchtend die relativierende Entspan­
nung des Marxismus verbietet. Das Proletariat, so wurde Mann­
heim mit Recht entgegnet, hat eine völlig unvergleimbare
))Ideologie«, aber nidlt, weil es bloß glaubt, eine andere zu
haben, gar weil es so außerordentlicll viel klüger wäre denn die
288 Laxer, sozialer und physikalischer Relativismus

früheren Klassen. Sondern das unterscheidet die proletarische


»Ideologie« von anderen objektiv, daß es das materielle Interesse
des Proletariats ist, keine Verschleierung der Wirklichkeit zu
entwickeln, vielmehr Einsicht zu gewinnen in die reale� Trieb­
kräfte und die reale Tendenz dieser Wirklichkeit; indes es das
materielle Interesse aller früheren Klassen ebenso war, daß fal­
sches Bewußtsein gebildet und über dessen Grenzen nicht hin­
ausgelangt werde. Allerdings kennt die Mannheimsehe Sozio­
logie außer Ideologien auch noch mehr: sie übernimmt den
Utopiebeg1·iff aus dem »Geist der Utopie« und setzt ihn neben
die Ideologien; Utopien werden dann Vorstellungen, welche die
gegebene Gesellschaft nicht spiegeln und rechtfertigen, wie die
Ideologie, sondern unterwühlen und sprengen. Greift diese
richtige Definition auch über das bloße reflexive nStaatsmärchen«
hinaus, als das man Utopie bis vor kurzem allein verstanden und
kritisiert hat: so ist sie doch selber unvollständig und en�behrt
vor allem- in ihrem Formalismus - jeder klassenmäßigen Unter­
scheidung echter und toter Utopie. Kleinbürgerliche Utopien
von heute etwa unterwühlen und sprengen doch nur sehr unge­
fähr, erst recht erfüllen sie nicht Mannheims Kriterium: daß
Utopien nimmer der vVirklichkeit vorauseilen« oder die Wirk­
lichkeit von morgen werden. Lediglich die klassenmäßig genau
bestimmte nldeologie des revolutionä.ren Proletariats«, als die
Lenin den Marxismus bestimmt hat, dürfte auch echte Utopie
genug enthalten und genug Utopie von heute, um »die Wirk­
lichkeit von morgen zu werden((, Der Utopiebegriff der alles
begreifenden Soziologen hat jedenfalls den sozialen Relativis­
mus weder nunterwühlt« noch ))gesprengt«, worin sich in der
Tat die jetzige Gesellschaft ))spiegelt<< und »rechtfertigt« ; er
wird sogar ein Spiegel von Spiegeln. Es ist das gewisseste Zei­
chen soziolobischer Irrlehre und nicht etwa Furcht einer Er­
l<enntnis, wenn sich noch der Marxismus 11relativiert<<, wenn
sich der entdeckte Hebel der Geschichte zur bloßen Vorstellung
des niederen Proletariats zurückbildet, und hinter ihr ist werug
mehr als tausend anders mögliche Gruppenträume auch. Ist die
herrschende Klasse schon Spreu geworden und rettet sie nichts
vor dieser Erkenntnis, so ist dieser Klasse freilich nützlich, auch
alles Künftige als Spreu und Unwirklichkeit zu denken. Und
Physikalisd!.er Relativismus

kann doch nicht umhin, sich den historischen Leiebenschein


auszustellen; und umgeht den dialektischen, den konkret-utopi­
schen Ort so genau, als ob sie ihn sähe.

Physikalischer Relativismus

.Anders schließlich baut ein Denken ab, dessen Probe durchaus


auf äußere Dinge geht. Ein solches hat erst recht Begriffe auf
Abbruch, um sich mittels ihrer physische Anschauung zurecht­
zulegen. Atome, Äther, die physikalischen Grundbegriffe wer­
den im eigentlichsten Sinn Modelle, die sich immer wieder
neu durchbrechen und umbauen lassen, denen bestenfalls ein
nÄhnlid1es« in der Welt entspricht. Durd1aus siegte Mach in
der relativistischen Physik; Machs Modell-Anlage hatte Atom,
Äther, Kausalität immer schon als mythische Hinzufügung zur
reinen Erfahrung bezeichnet. Die wirksamste Form gaben dem
MadüsmusDuhem undPoincare; hier erscheint der Kalkül nicht
einmal mehr als denknotwendig, geschweige als naturnotwen­
dig. Die geometrischen Axiome und physikalischen Prinzipien
werden zu bloßer Übereinkunft, die Theorien liefern nur nSym­
bole<� für die Praxis, erheben keinen Anspruch mehr auf abge­
spiegelte physische Wirklichkeit. Diese Mischung von Impres­
sionismus und relativistisd1er Denkkrise ist in der neuesten
Physik zwar etwas zurückgegangen; Physiker wie Planck, Laue
und andere treiben von Mach fort einer mehr nrealistischen
Weltansicht<� entgegen, einer, die dem Atom Wirklichkeit gönnt,
auf Grund seiner möglichen Sichtbarkeit, und der Kausalität
Geltung wenigstens in der euklidischen Umwelt. Jedocll diese
))Realität« gelingt nur um den Preis, daß seit Planck und Ein­
stein der physikalische Relativismus in Ansehung des ganzen
Weltalls wächst. Nun zerfällt das Weltall selbst in drei Teile; das
gesclllossene System der Physik, mit allen seinen Grundprinzi­
pien, springt gerade im neuen nRealismus« dreifach und disparat.
Die atomaren Vorgänge bevölkern ein mikrokosmisches Gebiet,
worin die Quantentheorie herrscht, dergestalt, daß das Gesche­
hen im Kleinenunstetig und unregelmäßig ist, nur mehrstatistisch
erfaßbar, nicht kausal. Die astronomischen Vorgänge bevölkern
ein makrokosmisches Gebiet, worin die Relativitätstheorie
Laxer, sozialer und physikalischer Relativisa\.us

herrscht, dergestalt, daß Uhren und Maßstäbe, wie sie auf


der Erde üblid1 sind, im Himmelsraum versagen, daß in kos­
mischen Dimensionen weder Gleichzeitigkeit noch die Struk­
tur euklidischer Geometrie anzutreffen ist. Der euklidische
Raum bedingt weder die kosmisd1en Bewegungen, nod1 reicht
er überhaupt in diese herein; vielmehr sind die Zusammen­
hänge des kosmischen Raums variabel, und es ist die Gravita­
tion, welche den Massen die geometrischen Verhältnisse ihres
Raumes erst bestimmt und ihnen damit, von Ort zu Ort, ent­
sprechende Bewegungsmöglichkeit schafft. Die bisherige Mecha­
nik aber, die euklidisch-klassisdte, welche audt die der Technik
geworden ist, die Medunik der Kausalität und Gleichzeitigkeit
bleibt auf den Mesokosmos der menschlichen Umwelt. Mitte ­
Welt besdtränkt. In dieser Dreiteilung sind also - weit davon
entfernt, nicht relativistisch zu sein - ebenso die »Denkfqrmen«
erweitert (und folglich die »Aprioritäten« von früher selber
historisch gemacht), wie die Begriffe von Stetigkeit, Kausalität,
Raum, Zeit zu bloßen ,,Näherungen« anderer Erfahrung
gegenüber herabgesetzt. Der geschlossene Kalkül und seine von
einheitlid1en Gesetzen durd1waltete Welt ist also auch hier
durchaus zu Modellen gezwungen, zur Aufgabe sowohl der
Aprioritäten, weld1e angeblich für jede Erfahrung galten, wie
zur Kapitulation vor einer immer unbeherrsd1ter andrängenden
Materie, einem rationalistisdt immer weniger erzeugbaren,
systematisch mmer
i schwieriger ableitbaren Erfahrungs-Inhalt.
Eine andere Frage freilich ist, letzthin: ob dem naturphiloso­
phischen Relativismus dieser Zeit, so zweifellos er einer ist,
nicht dodt im Objekt ein ,,Reales« entspricht, nämlich eines,
das T1·ümmer als möglichen Objektzustand besitzt. Ist doch
ungestörter Relativismus in der Physik viel unwahrscheinlicher
als in der Soziologie (die mit ihren Bürgerproblemen sozusagen
mit sich allein ist). Wrrkt dod1 das nObjekt« im Stoffwechsel
zwisd1en Mensch und Natur unvergleichlich viel durd:tdringen­
der mit als in der sogenannten Geisteswissenschaft und ihren
freischwebenden ,,Perspektivismencc.
Es geht hier nur an, diese Frage anzudeuten, nid1t sie, die
weit führt, zu verfolgen. Sie beträfe noch einen ganz anders
lehrreichen Zerfall als den des bloßen Begriffs der äußeren
Physil<alischer Relativismus

Dinge. Sie ginge auf ein Taumeln der Dinge selbst, sei es, daß
dieses jetzt erst erkannt wird, sei es aber auch, daß dieses jetzt
erst, in solcher Stärke, ))erscheint((, Sicher zwar drückt auch der
Naturbegriff in erster Linie die Gesellschaft aus, worin er er­
scheint; ihre Ordnung oder Unordnung, die wechselnden For­
men ihrer Abhängigkeit. Diese Formen kehren auch im Natur­
begriff überbauhaft wieder; so ist der urwüchsige, der magische,
der qualitativ gestufte, zuletzt r:ler mechanische großenteils als
Ideologie zu verstehen. Die mechanische Naturwissenschaft war
sogar in besonderem Maß Ideologie der bürgerlichen Gesell­
sdlaft ihrer Zeit, zuletzt des Warenumlaufs; insofern wird
jetzt, mit dem Sprung dieser Gesellschaft, mit dem Andrang
unbeherrschter Materie gegen den Kalkül, auch ihr Naturbegriff
löcherig und fiktiv. Aber es ist bereits die schwere Frage, ob
dieser Naturbegriff, als verdinglichender und med1anischer,
nicht außerdem, jenseits der bloßen Ideologie, ein Stück selber
dinglichen, mecllanisierten Weltinhalt repräsentiert hat. Marxi­
stisdl wird diese Frage zum Teil bereits positiv entschieden, man
traut gerade der bürgerlichen Naturwissenschaft, qua Natur­
Wissensdlaft, zu, ein Stück Natur real erkannt zu haben; ob­
wohl sonst überall in bürgerlicher Kunst und Wissensd1aft nur
Ideologie erscheint, mit der Wirtschaft als einzigem Kern. Am
»Zerfall« bürgerliclle r Naturwissensdlaft dagegen, am Relati­
vismus Poincares, sogar an den Revolutionen der neuesten
Physik wird ein metasozialer Bezug marxistisdl oft verneint
oder nur widerwillig zur Kenntnis genommen. Das alte bürger­
lidl-materialistische Naturbild bleibt marxistiscll zuweilen be­
stehen; nicht nur als - im XVIII. Jahrhundert - revolutionär
geheiligt, sondern eben in der Form, wie es die gesättigte bür­
gerliche Haturwissenschaft, im XIX. Jahrhundert, vor ihrer
Krise, ausnahmslos innehatte. Gerade für den alten Materialis­
mus, sclleinbar noch in seiner Haeckelschen Form, hat Lenin
sein Budl >>Materialismus und Empiriokritizismus« gesd1rieben;
gegen Poincare und Macll. Vielmehr gegen deren Nachfolge
unter Marxisten, gegen jene ))Modernität«, welche audl noch
den marxistisd1en Materialismus als >>Metaphysik n
i der Natur­
wissenschaft<< abzuschaffen sucllte und die Dialektik (soweit
sieüberhaupt nochbekannt war) erst redlt. Unaufhörlichbetont
La.xer, sozialer und physikalischer Relativismus

Lenin gegen die Machisten: ))Nicht die Körper sind Symbole


der Empfindungen, sondern die Empfindungen sind Symbole
( richtiger: Abbilder) der Körper« (Materialismus und Empi­
riokritizismus, 1927, S. 316); Lenin preist Haeckels Welträt�el
ebenso als »Waffe des Klassenkampfs<< (1. c., S. 358)wie als
Beweis, daß echten Naturforschern keine »andere Erkennt­
nistheorie als die des naturwissenschaftlichen Materialismus
möglich sei« (1. c., S. 362 ). Aber es bezeichnet die Größe Lenins,
sich bei dem bloß ideologischen Charakter des physikalischen
Relativismus nicht beruhigt zu haben. Einzigartig zwar ver­
spürte er den Klassengerud1 der reinen, metaphysikfreien )) Er­
fahrungslehre«, aber wahrhaft dialektisch entdeckte Lenin in
dieser ))reaktionären Philosophie« zugleich eine veränderte, eine
notgedrungen elastische Haltung, eine Modell-Haltung in kon­
kreterem Sinn; mindestens auf Grund eines veränderten Objekt­
Bezugs. Mit Nachdruck wiederholt Lenin die Forderung von
Engels: der dialektische Materialismus habe jede epoche­
machende Entdeckung auf dem Gebiet der Natur- und Geistes­
wissenschaften aufzunehmen und sich daran zu bereichern. Diese
Forderung gilt Lenin auch angesichts der spätbürgerlichen Phy­
sik, sofern sie ihm selbstverständlich nicht nur I>SOziologischc<
interessant ist, nicht nur ideologischer Zerfall, idealistische Zer­
fallslehre; ja, diese Forderung gilt, in genau begrenztem Sinn,
sogar noch angesichts der physikalischen Machisten. >>Sie weisen
auf die Beschränktheit einer solchen Auffassung hin« ( der ato­
mistisd1-med1anischen Auffassung der Natur), >>auf die Un­
möglichkeit, sie als Sduanke unserer Erkenntnis anzuerkennen,
auf die Starrheit vieler Begriffe bei den Anhängern dieser Auf­
fassung. Dieser Mangel des alten Materialismus steht auch außer
Zweifel; Verkennung der Relativität aller wissenschaftlichen
Theorien, Unkenntnis der Dialektik, Überschätzung des mecha­
nischen Gesichtspunktes, - das warf auch Engels den früheren
Materialisten vor.c< Nur sagte sich Engels »VOn dem alten,
metaphysisdlen Materialismus los zugunsten des dialektischen
Materialismus, nicht aber zugunsten des Relativismus, der in
den Subjektivismus hinübergleitet« (1. c., S. 3 1 5). »Welche
Lustc<, fährt Lenin fort, nachdem er Duhems Belege besehen
hat, daß jedes physikalische Gesetz provisorisch sei, - >>welche
I
Physikalischer Relativismus 193

Lust, offene Türen einzurennen! - denkt der Marxist, der die


langen Betrachtungen über dieses Thema liest. Aber das ist
eben das Unglück der Duhem, Stallo, Mach, Poincare, daß sie
die von dem dialektischen Materialismus geöffnete Tür nidlt
sehen. Weil sie keine richtige Formung des Relativsmus i geben
können, gleiten sie von diesem zum Idealismus. Mit einem
Wort, der physikalische Idealismus von heute . . . bedeutet nur,
daß eine Naturforscherschule in einem Zweig der Naturwissen­
schaft zur reaktionären Philosophie hinabgeglitten ist, weil sie
nicht vermochte, direkt und von allem Anfang an sich vom me­
taphysischen Materialismus zum dialektischen zu erheben«
( 1. c., SS. 3 I 5, 3 I 7 ). Diesen Schritt aber gerade wird nach Lenin
die moderne Physik mad1en, als im Begriff, den dialektischen
Materialismus zu gebären, in freilich schmerzhafter und ver­
wickelter Entbindung. »Außer einem lebendigen und lebens­
fähigen Wesen kommen unvermeidlich noch gewisse tote Pro­
dukte, einige Abfälle zum Vorsrnein, die in die Kehrirntgrube
gehören. Zu diesen Abfällen gehört auch der ganze physikali­
sche Idealismus, die ganze empiriokritische Philosophie samt
dem Empiriosymbolismus, Empiriemonismus und dergleichen
mehr« ( l. c., S. 3 1 8 ) . Kurz, bei Lenin steht das Problem bereits
so, daß der mechanische Materialismus in vielem zwar ein Stück
Natur, wenn auch fehlerhaft und einseitig, »widerspiegelte«,
daß aber erst recht der relativistische »Zerfall«, außer seiner
ideologischenNichtigkeit, einStüd< konstitutiver Natur, nämlich
die des dialektisd1en Materialismus in sich wirkend habe. Lenin
also gibt nicht nur dem unzerfallenen, mechanischen Natur­
begriff die Ehre, die unzweifelhafte und relativ konkrete, den
Materialismus, wenn auch fehlerhaft und einseitig, wieder ent­
deckt und genauer erfaßt zu haben. Er unterscheidet auch den
eigentlich physikalischen Relativismus (der die mechanisdl ge­
schlossene und einheitliche Starre lockerte) genau von dessen
miserabler Philosophie, nämlich dem Empiriokritizismus (der
überhaupt keinen Begriff auf Natur konkret anwenden ließ).
Lenin erkennt im Elastischwerden physikalische Begriffe und
Prinzipien durchaus einen Übergang, einen forschenden Ober­
gang zum dialektischen Materialismus. Der Naturinhalt selbst
freilich hat, genau wie er ist, für Lenin immer bestanden,
294 Laxer, sozialer und physikalischer Relativismus

unabhängig von jedem menschlichen Naturbegriff. Wie das Be­


wußtsein der Zeiten nur die mehr oder minder trübe Spiegelunt,
der realen Klassenkämpfe und -Inhalte ist: so laufen die Natur­
vorgänge unabhängig vom Bewußtsein in dialektisch-realer
Notwendigkeit ab. Die historisch aufeinanderfolgenden Natur­
begriffe sind erst recht nur ihr Spiegel, geben sie erst recht nur
nach Maßgabe der jeweiligen Gesellschaftsform und ihrer Na­
turbeherrschung wieder. Die fortschreitende Verwandlung der
Dinge an sich in Dinge für uns (nach dem Ausdruck von En­
gels) berührt die reale Ordnung der Dinge nicht, sondern nur
die Erkenntnis dieser Ordnung; wobei materialistische Zeiten
die adäquatesten zu dieser Erkenntnis waren. Aber freilich
fordert gerade dieserSpiegel-Standpunkt seine dialektische Sub­
jekt-Obj ekt-Ergänzung: denn die »natürliche Notwendigkeitcc,
wird sie objektiv richtig erkannt, so ist ist sie beherrschbar, und
ist sie beherrschbar, so wird sie verändert; hier greift also der
Naturbegriff einer Zeit, und zwar bereits der kapitalistischen,
durchaus in Natur ein und läßt sie an Geschichte teilnehmen.
Weiterhin enthält die Ideologie einer Zeit außer der Verschlei­
erung von Klassenherrschaft ebenso einen unzweifelhaften
Überschuß qua Überbau, qua Kulturerzeugung, jenen Über­
schuß, der auch nichtrevolutionärer Vergangenheit gegenüber
das Problem des kulturellen »Erbes« aufwerfen läßt: sollte es
also ein Problem des Erbes auch in der Natur geben? Dergestalt,
daß in den einzelnen historisch aufeinanderfolgenden Natur­
begriffen - den urwüchsig animistischen, den magischen, den
qualitativ gestuften - außer der Ideologie aufgehobene Mo­
mente des großen Tendenzwesens Natur mitbezeichnet, mit­
informiert worden wären? Zweifellos ist der dialektische Ma­
terialismus die höchste bisherige Realeinsicht in die Natur; er
ist im Bezug auf die Natur ein erlangtes Ineinander von Taumel
und Notwendigkeit, vonobjekthaftem »Relativismus(( und »Ge­
setZ«. Indes der physikalische Relativismus von heute, als Zer­
fall der Med1anik vom Objekt her, macht auch für die Möglich­
keit früherer Bestimmtheiten als relativer Realbestimmtheiten
in der Natur empfindlich; so daß Naturdialektik nimt nur
dje mec:hanisme Naturwis'>enschaft von gestern, sondern eben­
so gewisse frühere, gerade qualitativ-gestufte Elemente als
Physikalischer Relativismus 2 95

aufzuhebendes, aufgehobenes, wo nicht die Mechanik überschie­


ßendes Material hätte. Das ist der Inhalt der schwierigsten, auch
gefährlichsten Frage, die am Anfang dieses Absatzes gestellt
wurde: was der Zerfall des mechanischen Begriffs fi.ir die natür­
lichen Objekte selbst auf sich habe. Diese Frage taucht bei der
Behandlung des physikalischen Relativismus und seiner Bedeu­
tung mi Umzug zwar auf, dod1 sie kann dieses Orts nicht mehr
als angedeutet, nicht mehr als ausgezeichnet werden; denn sie
sprengt den Rahmen des spätbürgerlichen Zerfalls ebenso, wie
sie den Rahmen jedes Mechanismus sprengt, wie sie ))Ausgelas­
senes(( im medlanischen Trümmerzustand wieder bemerkbar
mad1t. Der spätbürgerliche Geist hat jedenfalls auch hier einen
Hohlraum gebracht; er ist ein Flug über Luftlöcher geworden
und der geschlossene, abgeschlossene Bogen nicht mehr seiner.
Ganz anders als beim soziologischen Zerfall des Wirklichen,
viel direkter und positiver, gewinnt sich aus dem naturphiloso­
phischen ein Zerfall, ein Zweck der Übung, ein Zweck für den
Marxismus selber. Die neuenNominalisten haben keinen marxi­
stischen Inhalt mitzerstört, sondern nur einen, den der Marxis­
mus höchst uneigentlich mitberührt hatte oder zuweilen noch
mitberührt, den gerade Engels mit Feuer und Schwert verfolgt:
nämlich den Inhalt des quantitativ-mechaniscf?en Materialismus,
als eines fertigen, geschlossenen. Als Materialismus hat er die
mythische Jenseiterei im Christentum zerstört; aber als mecha­
nisch geschlossener Materialismus war er selbst wieder Mytho­
logie geworden. Eine astraHsehe zu herabgesetztem Preis; denn
die Hypostase des Geschidcs, der ))Notwendigkeit!!, der antiken
,,Ananke(( lebte in diesen fertigen Determinismen wieder auf.
Nach ewigen, ehernen Gesetzen muß aber kein Mensch seines
Daseins Kreise vollenden; auf die Dauer sind sie nicht ewig,
weder in Gesd1ichte noch in Natur. Wenn daher die naturphilo­
sophischen Relativismen und Intermittenzen dem zukünftigen
Menschen keinen Boden gebracht haben, gewiß nicht, so haben
sie ihm wenigstens einen falschen entzogen.
GRUNDSTOCK DER PHÄNOMEN O L O G I E

Nicht oft haben Denker ohne sich selbst begonnen. Das Abtun
seiner ist nur einzelwissenschaftlich üblich, gerät dann auch nicht
schwer. Denn Forscher brauchen nicht persönlich bedeutenJ zu
sein, nicht selber ein Stück Dasein außerhalb ihrer Arbeit zu
bedeuten. Ihre beste Eigenschaft ist Fleiß, Genauigkeit, Treue
im Kleinen; als ihr Glück gehört ihnen lediglich zu das Glück
des Findens. Dies Ichlose gilt nicht bloß für Mittlere, sondern
bis sehr hoch hinauf; ist doch der wissenschaftlichen Arbeit bis­
her wesentlich, unabhängig vom erlebenden und auffasse.nden
Subjekt zu sein. Eigene Farbe, vielleicht 'Tiefe besteht besten­
falls nebenher; ebenso Ortsgefühl seiner und seiner bürgerlichen
Lage in der Zeit. Daher denn die möglich nichtigen Erscheinun­
gen außerhalb ihrer Arbeit; daher zum Anderen die naiven
Urteile, sobald Gelehrte zum Tag sprechen oder Historiker poli­
tisch werden. Erst in letzter Zeit wurde ihnen wenigstens die
Klasse scharf, der sie zugehören.
Doch die eigentlichen Denker sahen selten so gesichtslos drein.
Ja, vielleicht zum erstenmal ist an Busserl der Fall, daß einer
ihrer Bedeutendes »leistete«, ohne es zu haben. Durch mühselige
Arbeit zunächst auf sprach- und zeidlenanalytischem Gebiet,
einem rein einzelwissenschaftlichen. (»Forscher« nannten sich
die Jünger der ersten Husserlschule mit Vorliebe; das Denken
war nodl mehr grammatisch, »die Rose ist rot« sein häufigster
Inhalt.) Sodann war das nicht vorhandene Personsein durch die
Neuscholastik überdeckt, wo nicht ersetzt, welcheHusserl durch
Franz Brentano überkommen war. Ein ganzes Herbarium ehe­
maliger Vitalität, die Fülle alter Gesamtansd1auung wurde da­
durch ins Forschen eingeliefert. So war in bestimmtem Sinn
auch hier nicht philosophische Person erforderlich, sondern wie­
der nur das Glück des Findens; die Aufnahme vergessener inten­
tio und adaequatio. Das durdltönende Plus, ohne das es keine
behaltbaren philosophischen Gedanken gibt, ist derart durch
eine Art Lombard ersetzt: und Husserl hat mit der geliehenen
Summe gearbeitet. Alle wichtigen Denker aber hatten ihr Plus
als durchtönend, als »personans«, als »Person« an sich selbst;
nicht in individueller oder audl eigenwilliger Weise, sondern
Grundstock der Phänomenologie 297

als »philosophisches Pluscc, bezogen auf eine Gesamtanschauung


und vor allem auf einen Grundinhalt, der das Denken des Klein­
sten bestimmt und sich zuordnet. Es gibt dies philosophische
Plus so wie es ein poetisches gibt; trotz der ganz anderen Hal­
tung, trotz des durchschlagenden Erkenntnis- und Wirklich­
keitswillens, welcher den philosophism eingezahlten Übersdtuß
vom poetischen trennt. Kurz, die bedeutenden Denker waren
stets ebensoviel >>Köpfe<<, als solche stehen sie nimt nur »auf der
Höhe ihrer Zeit<<, zeigen sie nimt nur das stärkstmögliche Be­
wußtsein der Zeitinhalte und der nächsten, sie heben auch in
ihrer Zeit Samverhalte herauf, welche darin nur angelegt sind
und des philosophismen »Durmtönensc< durmaus bedürfen.
Selbstverständlich gehört Husserl in nidtts zu den bedeutenden
Denkern (dieses genau bekannten Stils) und wird dodt wahr­
scheinlich, aus angeführten Gründen, ziemlidt lange als »Me­
thodecc behalten bleiben. Mit den eklektischen Bettelsuppen, wie
sie fünfhundert »Philosophem zu jeder Zeit aufgießen, um
ebenso weggegossen zu werden, hat Husserl nichts gemein.
Merkwürdig auch, welm verschiedene Züge, hier die Schelers,
dort die Heideggers, in schlidt.ter Bedeutungslehre präformiert
waren.
Aber das schwache Ich ließ sim bei dieser Denkart doch nidt.t
ganz verleugnen und wirkte ein. Als mittleres unter der Höhe
der Zeit, als eines, das allerlei Abgelegtes unvertreten, ohne
eignen Einsatz mit sidt. führt. Bürgerliebes Ich, das sich nur
scheinbar ausläßt, ist in der naiven Hinnahme alles dessen, was
»an sim einsimtig<< zu werden scheint und doch nur die Einsiebt
eines Warendenkens ist. Die mangelnde Gesamtanschauung
rächt sich vor allem in den Mitteln, womit der »subjel<tivecc,
also schwebende Idealismus »überwunden« werden soll. Bus­
serls »Logisd1e Untersumungencc begannen deskriptiv, gegen
jede psychologism-genetische Erklärung eines Samverhalts
(Lipps ), aber aum gegen jede transzendentale Erzeugung, wel­
che ihr Sein nur im Denkverfahren hat ( Cohen). Die Phänome­
nologie richtete sich gegen psymologische, relativistisdle Ideali­
sten so gut wie gegen transzendentale, gegen die quaestio fiendi
der Erkenntnis so gut wie gegen ihre quaestio juris. Ganz fern
dieser allemal noch subjektivistischen Bewegungen galt allein
Grundstock der Phänomenologie

die quaestio essendi: als Beschreibung unableitbarer psychi scher


Gegebenheiten, sodann als die eigentlich logische Untersuchuns
der )) Wahrheiten<r an sich. Die quaestio essendi löste sich m
i

Ganzen als versuchte Anschauung der Sachheit in den Sachen,


kurz, als Seinsordnung erfaßt durch » Wesensschau«. Bewrd3t­
sein überhaupt freilich, als »protestantische<< Subjektivität, blieb
in dieser scheinobjektivistischen Philosophie ebenso erhalten,
j a wurde beim späteren Husserl ebenso pointiert wie der Um­
kreis einer geschlossenen, ständisch, »katholisch(( gestuften Ver­
nunft. Einer Vernunft aber, welche den bürgerlichen Idealismus
nicht so sehr verlassen, als um den viel älteren platonisch-scl1ola­
stischen vermehrt hat; das geringe Personans ließ beide unent­
schieden nebeneinander. Der >>katholische« Objektivismus ist
gewiß stärker; doch die Katastrophe, die er in Husserls Schule
schließlich gefunden hat, ist im »protestantischen(( Bewußtsein
überhaupt bereits angelegt. Aus Husserls Schule kam nach dem
objektiven der nihilistische Scheler, zuletzt zog Heidegger die
Phänomenologie sozusagen verkehrt an, ihr Inneres nacl1 außen
gewendet, als Kierkegaard auf ontologisch - und a1l das m
i

Namen der Husserlschen Methode. Nur dadurch, daß in


Husserls Grundkonzeption kein Personans arbeitet, sondern
verschiedene aus verschiedenen Zeiten bloß aufgenommen
worden sind, konnten so verschiedene 11Bezüge zum Sein<< in
seiner Schule auch explodieren. Dies kam freilich erst zutage,
nachdem die Phänomenologie auch mate�·ial gegen den Relati­
vismus, als den subjektivistisch zerbrochenen Seinszusammen­
hang von heute, Krieg füh1·en wollte. Er endete beim letzten
Scheler mit der Niederlage der »katholischen Weltfüllec<, bei
Heidegger höchstens mit einem kleinen Sieg, mit einem Pyr­
rhussieg des existentiellen Subjekts, nominalistischen Objekts
in der Phänomenologie. Von Scheler bis Heidegger: es ist der
Rückzug des expansiven, weltfrohen Ich zum introvertierten,
zur einsamen Seele in des Teufels Wirtshaus, als das Luther die
Welt bezeichnet hatte. Es kam die »Konkretisierung<c des Be­
wußtseins überhaupt (das bei Husserl nur ein ganz allgemein
idealistischer Beziehungspunkt gewesen war) zur Ontologie
eines inneren Seins: durchbrochen von Bewegung, aber nihilisti­
scher, gekrönt mit Aussicht, aber zum Tode. Docl1 bevor auf
Grundstock der Phänomenologie 2.99

dieses eingegangen wird, folge eine kurze Erbschau der Hus�


serlschen Methode in ihren verschiedenen Arten und Möglich�
keiten. Wie diese 191 7 erschienen, als die Busserlschule noch
sozusagen unter sich war, und wie sie großenteils weiter erschei­
nen. Denn die Lehren einer Methode, welche dickste Scholastik
auf den Spuk eines Leerraums anwenden will, sind nicht gering.
So :mnpersonant« dieses Philosophieren ist (oder gerade des­
halb): es sind immer noch Handhaben darin, zum Teil bisher
unverwandte und solche, deren Zeit vielleicht noch nicht vor�
über ist.
,
Man weiß erstens genauer seitdem, was Meinen und Denken
selber seien. Sie wurden als Akte beschrieben, nicht aus wissen­
schaftlichen Früchten erst erschlossen. Zweitens machte Husserl
den Sinn der Worte scharf, wie er genau ihnen zukommt. Die
Sprache wurde auf ihre vorwissenschaftliche Bedeutung hin ver­
deutlicht, etwa auf das Zackige, das Löwenhafte und anderes an
sich. Wer sich bloß Begriffe verdeutlicht, weiß freilich noch
nichts über ihre wirklichen Gegenstände; sonst wäre auch der
wortklauberische Eulenspiegel ein guter, wo nicht der beste
Phänomenologe. Die bloße Bedeutungsanalyse des Löwenhaf�
ten ergibt selbstverständlich keine reale Erkenntnis der Löwen
(schon deshalb nicht, weil das Löwenhafte ja nicht bloß an
Löwen vorkommt, es gibt auch löwenhafte Männer, es gibt, wie
Keller sagt, den »goldfarbenen Löwen des Weins«). Aber ist
die wirkliche Welt auch kein Bilderbuch von »Bedeutungen«, so
bleibt immerhin sehr wünschenswert zu wissen, was unter
Löwenhaftem, besser noch, was unter Stück, Vertrag, Verbind�
lichkeit und ähnlichen Begriffen noch unterhalb ihrer »Anwen­
dung« zu verstehen sei. Die Kenntnis dieses formellsten »Sinns«
ist nützlich, obwohl seine Er�Kenntnis erst material geschieht,
möglicherweise auch, als ökonomisch-historische Erkenntnis,
vom formal�evidenten Sinn nichts mehr übrig läßt. Drittens
hob sich Husserls Phänomenologie ohnedies, über solche Be�
deutungen, auf die Sache selbst hin. Der intendierende Akt­
bezug auf etwas verschwindet, ebenso tritt der »protestanti�
sehe«, der neukantische Bezug des Bewußtseins überhaupt auf
dieser Stufe zurück. Vor allem aber wird die Existenz des Ge�
schauten »eingeklammert«; was dann noch übrig bleibt, ist der
300 Grundstom der Phänomenologie

objektive Sachverhalt, ist das sich in den verschiedenen Empfin­


dungs- oder Erinnerungsreihen stets als dasselbe gebende
»Wesen«. Der Blick treibt hier völlig nach außen, in das weite
Reich »schlichter, wie kategorialer Ansd1auungen«, in ei�e
strukturell genau vorgeordnete, jeder Subjektivität entzogene
»Wesenswelt«. Freilidl ist sie nicht nur der Subjektivität, son­
dern eben audl der Existenz entzogen; daher läßt sich mit Phä­
nomenologie von allen Gegenständen handeln, und sie ))ent­
sdlcidetcc sich für keinen, sie braucht an keinen zu »glauben«.
Der Primat der Ansd1auung über den Begriff, der Ontologie über
das endlose Methodisieren hebt die idealistische Unterernäh­
rung hier nicht auf: Die Diskutierbarkeit von allem und jedem
wird nur »anschaulich«. Die Wand, die ein Irrer halluziniert,
und die wirkliche Wand hier redtts vom Schreibtisdl ist nach
ihren ))Wesenskonstituentiencc dieselbe (so wie bei Kant hun­
dert möglidle und hundert wirkHdle Taler lllogism« dasselbe
waren). Ja, es wurde in Husserls Schule von Interessierten
eine Phänomenologie des Teufels geliefert, mit allen Bestimmt­
heiten seines - in Berichten, Sagen, Theologien vorkommenden
-Wesens; nur die Frage der Existenz eben wurde in kontempla­
tiver Zurückhaltung nidu gestreift. Und was den Primat der
Ansdlauung über den Begriff angeht, so ist es gewiß eine inter­
essante, aud1 scheinkonkrete Umkehrung, daß Anschauung nicht
mehr als ein zu überwindendes, Trübes am Anfang, sondern
am erfüllenden Ende steht; daß der Begriff bloßes Geld wird,
um Ansdlauung zu kaufen, bloße Intentionsspecies, die sich erst
in der schlichten oder kategorialen Ansdlauung »erfüllte<. Indes
aud1 die konstruktive Methode fehlt hier nicht so ganz wie vor­
gegeben, das Bürgertum kann nicht Konstruktionen völlig bei­
seitelassen, um ein reines Weltauge zu werden. Husserl hat nur
die erzeugende Konstruktion (gegen die sidl immer unaufhalt­
haltsamer das Ding-an-sid1-Problem erhob) durch gewisse An­
leihen bei der nachdenkenden Konstruktion der Sdlolastilcer zu
verbessern gesudlt. Er überbot nur den Neukantianismus, der
an der )) Impertinenz der Gegebenheit« ( Cohen) zugrunde ging,
durdl die gewiß qualitativere und stoffnähere Ratio der Scho­
lastik. Aber )) Wirlclidlkeit« ist damit nicht erschienen, sondern
lediglidl eine Art sinnlicher Logik, eine visuelle Kategorienlehre
Grundstod< der Phänomenologie 301

scholastisch-ständischer Ordnung. Viertens schließlich glaubt


sich dies Beschreiben eines Einblicks fähig, der an gewissen
hohen Begriffen ohne weiteres die äußere Anschauung hinter
sich läßt. Treusein etwa, überhaupt alle moralisch-religiösen
Begriffe erfüllen sich nicht als äußere Wesenheit, sondern nur
als innere an sich selbst; für jede äußere bleiben sie nvorbildlich<l,
Fragt Richard von St. Viktor, ob dieses der Prüfstein vollkom­
mener Liebe sei, daß beide Liebende wünschen, es möchte ein
Dritter an ihrer gegenseitigen Liebe derart teilnehmen, daß
dieser von beiden im gleichen Maß geliebt werde, wie sie sich
gegenseitig lieben: so bezeichnet diese Wesensdefinition eine
Einleuchtung »umweltlicher<<, »ontisch-normativer« Art, eine
Stelle, wo das Denken gleichsteht mit einem Sein, dem nicht nur
äußere Anschauung, sondern jede Realisierung erst nachkommt.
Hier intendiert kein nach außen zielendes Meinen und Denken,
sondern ein »Eingedenken<<, und es hat seine Evidenz nur am
eigenen Ort und an eigener Stelle, nämlich in moralisch-mysti­
scher Gestalt; - ein sehr fern gewordener Sinn der Phänomeno­
logie, in ihr heute nicht mehr vorhanden, aber trotzdem darin
angelegt.
So offene Fragen lassen sich an diese Denkart stellen, ist sie
doch selbst vierfach oder noch mehr geteilt. Aber die Wll'kung
der Platonismen war zunächst weniger offen, war gedeckter,
nämlich eine Füllung des wissenschaftlichen Hohlraumes mit
Formen. Als Formen der sogenannten Gestaltschau heben sie
nicht nur den abstrakten Kalkül, sondern auch jede Tendenz
auf: wo das Palmenhafte, Löwenhafte, Apollinische, Magische,
Faustische ins >>Wirkliche<< trat, wurde es sogleich ein »Gewach­
senes<< oder der Tendenz ein »Schicksal«. Gestalten sind logisch,
selbst geschichtlich unleugbar, aber nicht als unbewegte (als
diese verdienen sie das Kommando: Feuer! - denn sie sind das
Schibboleth purster Reaktion und »überwinden<< den Rela­
tivismus um den Preis rückläufigster Statik- und Ständestaats­
Ideologie). Gestalten in der Geschichte sind nur als Spannungs­
Figuren, als Tendenzgestalten, als Versuche der unbekannten
Lebensgestalt, die so wenig ist, daß gerade deshalb die Gestalten
immer wieder springen und die Geschichte weitergeht. Indem
mit oder ohne Husserl Wesensschau getrieben wurde, hat man
JOl Ontologien

in den weichenden Zusammenhang des Kalküls feudale Häuser,


einen ganzen Kranz reaktionärer Gesdtichts- und Schicksals­
burgen gesetzt. Das Löwenhafte und die andern weltlichen
Arten von ,,Morphe« sind aber weder im Begriff noch gar F
ihrer realen Erfüllung fertig, Ietzterdings überhaupt nicht seiend,
also keine Gestalt dessen, was sich in der Tendenz real gestaltet.
Jedoch auch die ,,unweltliche« Art des vierten und letzten Sinns
der Phänomenologie, worin die Definition schon der Inhalt zu
sein und vor allem der Prozeß zurückzuliegen scheint, als wäre
hier ein Moment völliger Gestalt: auch hier ist noch keine Be­
rührung mit dieser, noch nicht die Sache selber in natürlicher
Größe, noch nicht jene ,,Dedmng«, welche dieMakarie der Wan­
derjahre mit dem Sonnensystem (gar mit einem mystischen)
einzunehmen intendierte. Ernst und Tiefen solch eigentlicher
visio beatifica stehen hier nicht zur Frage: wichtig ist, daß die
Phänomenologie ein letztes Mal den Raum mit substanzialen
Formen füllen wollte; mit sonderbar säkularisierten ,, Visionen«,
ohne untere Materialgrenze, in konkreter Endlosigkeit. Wich­
tiger ist der bald darauf geschehene Sprung der ontologischen
Formenlehre in der Welt, beim Versuch, sie gegen den rela­
tivistischen Hohlraum zu halten. Die Dinglichkeit hörte auf,
Husserls ,,allgemeine Wahrheiten« wie die ,, Wesengesetze der
spezifischen Gegenstände« zogen sich bei zunehmender Rela­
tivierung auf die sogenannte Existenz und Existenzanalyse zu­
rück - die nEidetik der Sphären« stürzt ein. Und statt der rein
idealistischen Unterernährung bleibt lediglich eine unreinere
Ernährung: durch Erweis statt Beweis, durch schattenhafte An­
sdlauung statt des Begriffs.

nONTOLOGIEN«
DER FÜLLE UND VERGÄNGLICHKEIT

Da niemand dahinter, blieb dies neue Sehen lange matt. Es be­


gnügte sich damit, zweimal zwei als gleich vier zu haben oder die
Rose eben als rot. Erst zehn Jahre nach Husserl ging der Weg
weiter nach außen, und zwar mit Menschen, die wollten, was sie
Ontologien 303

zu sehen bekamen. Statt des Teilens und Auflösens ging der Be­
griff auf Ganzes; dieses wurde im Kleinen wenigstens gesucht.
Es kam, wie bemerkt, Sehen von »Gestalt«, das breitete sich zu­
näd1st nur einzelwissenschaftlich und harmlos aus, an einfachen
sinnlichen \Vahrnehmungen, am Ablauf von Krankheiten und
psychischen Vorgängen. Der Gestaltlehre ist hier das Ganze nur
mehr als die Summe seiner Teile und bleibt, als Melodie, auch
wenn alle seine Teile andere geworden sind. Das Ganze tritt, als
leibliche Konstitution, zu den Teilen auch in eine Art kausaler
Beziehung, so daß, wenn zwei Gestalten dasselbe leiden, es nicht
dasselbe ist. Wobei das analytische Denken dennom beibehalten
wird und sim auf eine Weise, die an wemselnde Modelle er­
innert, mit dem gestaltsehenden austausmt. So daß eben Bazillen
und Pemvögel, Analysen und Konstitutionen, Virchow und die
Temperamente zugleim goutiert werden. Etwas ärmlich schwebt
hier Gestalt nom in der Luft, ohne daß die Welt, die ziemlich
alte Welt zu sehen ist, worin sie allein möglid1 wäre. Ein selt­
samer Versum, rücksimtslos zu forsmen und dod1 komplex sein
zu können.
Er verlangt, in versduedenen Arten Sein wirklim zu gründen.
Das erst hält Gestalt als solme, als eine weder smeinbare und
zusammengesetzte nom im Fluß vergehende. Vor allem SeheZer
trieb hier Husserl material weiter, über die bloß begrifflime
Schau hinaus. Er hat zwar nimt das Zeichen gegeben, wohl aber
den Raum bestimmt, worin sim die ganze Gestaltlehre, von
Gelb, Wertheimer, Köhler, sogar Kretzsmmar angefangen bis
hinauf zu Spengler ausgebreitet hat. Und von hier wird vollends
deutlim, wozu, zu welmem Ende die scholastism-objektivisti­
sche Komponente Husserls heute braud1bar geworden ist. Die
wissensmaftlime Gestaltlehre derWertheimer und anderen Psy­
chologen ist davon abzutrennen ( Meinong etwa zeichnete die
Melodie und ähnlime Gruppen bereits als »Gestaltqualitäten«
aus, als weit und breit nom keine Statik simtbar war), Modell­
denken war eingemischt, aum Begrenzung auf ganz bestimmte
Erscheinungen. Kretzsmmar freilich oder die mannigfame
Konstitutionslehre stehen bereits im fascistischen Übergang;
dieser wird perfekt bei den veritablen Gestalt-» Visionären« wie
Spann, dann (geographism) bei Banse und Passarge, dann bei
Onrologien

Dacque und seinen biologischen Dominantarten, dann selbst­


verständlich bei Spengler und eben bei Scheler, in seiner anthro­
pologischen und anders numerierten ethischen Typenlehre. All
das übt mißverstandenen Goethe, überbaut ihn mit scholasti­
ziertem Platon, fügt gegebenenfalls Sippen-, Sprach-, Staats- un�
andere >>Bestands«-Theologie aus dem romantischen Vormärz
hinzu, nutzt die unleugbare Verführung des Ruhe-, die durch­
simtigere des »Ordnungs«-Begriffs; so fixiert sich >>Gestalt« als
Ersatz für »Gesetz«, als schlechthin invariante Wesenheit, als
feudale Stauwehr im historismen Fluß. W1r wiederholen: es
gibt selbstverständlich Gestalten m i logisch-kategorialen Sinn,
es gibt sie ebenfalls, wenngleim sehr relativ, in der einzelwissen­
smaftlimen »Erfahrung«, nicht nur als Melodie, auch als
>>Periode« in der Geschichtszeit, als nSpezies« in der Biologie, als
»ästhetisme Figur«, wo nid1t »Figurentendenu in der betrach­
teten Landschaft. Wir betonen aber desgleichen: das alles sind
nur relative Konstanten, ja, über die Hälfte, heutzutage, Reflexe
vonWarenbildern und undurchschautenProdukt-Fetischen; und
unterstreidJ.en das bei Husserl Gesagte: echte Gestalten sind in
Geschichte und Welt nur als Spannungs-Figuren, als Tendenz­
gestalten, als Versudle der unbekannten Lebensgestalt, die so
wenig bereits ist, daß gerade deshalb die Knotenbildung immer
wieder springt und die Geschichte weitergeht. Soviel über dies
Schibboleth und die - freilich temporäre - Rolle, die es m i
Schelerismus spielt.
Mit Scheler selbst lebte das gesamte Schauen erst auf, wurde
weltläufig. Er bradJ.te keine echte, aber e:ne interessante nPer­
son« in die Wesensschau von heute. Eine widerspruchsvolle und
gezeichnete, eine leidJ.t diabolisd1e aus der Großbürgerklasse,
aus der Ordnungsklasse, eine breit interessierte und nicht ohne
Phosphor. Sie zahlte ilire Farbe der Phänomenologie ein (statt
des formalen Bewußtseins überhaupt), sie erwies auch wider
Willen, was bei Husserl schon bemerkt wurde: daß nämlid1
Konstruktion in der Phänomenologie nicht fehlt: daß der er­
kenntnistheoretische Begriff, der der Anschauung vorhergeht,
je nachdem wie er zuvor eingesetzt und vor allem auskonstruiert
worden ist, die ihn erfüllende Anschauung bestimmt. (Bergson
etwa »versetzt sich gleidJ.falls in die Sadle«, trifft aber dort
Ontologien 305

lauter fließendes Leben, wo die Husserlschule, welche nicht


Schelling, sondern einen scholastischen Platon in ihrer Erkennt­
nisl<onstruktion hat, lauter Statuen llSieht«.) Scheler ließ diese
Konstruktion zwar unausgesprochen, implizite, als wäre sie völ­
lig in den intendierten Gegenständen selbst, nicht n i seinem
feudalen Idealismus; er gab den erkenntnistheoretischen Kate­
gorien bestenfalls nur eine ))auswählende« oder ))entdeckende«
Funktion, den ))ewig vorgeordneten« Wesenheiten gegenüber.
Aber gerade diese Wahl oder Entdeckung hat sich in Schelers
Entwicklung so oft verändert, und die Anschauung folgte der
veränderten Einzel- und Grundspecies so völlig nach, daß man
das ))Ewigecc nur in Schelers reaktionärer Erkenntnistheorie,
nicht in seinen so wechselreichen Statuen ))vorgeordnete< sieht.
Scheler begann mit Untersuchungen seelischer Akte, fügte so­
dann einzelwissenschaftliche Befunde bei, die die formale
Bedeutungsanalyse füllten und je nach katholischem Bedarf ))we­
sentlich« gemacht wurden. Danach folgte der Scheler einer ge­
planten )) Weltphänomenologie«, eines Gangs in den ))kosmischen
Gottesgarten reiner Wesensbestimmtheiten«, wobei Goethe sich
vortrefflich mit allen möglichen Ruhebildern zu verbinden hatte.
Hier eben eröffnete sich der Raum des Palmenhaften an den
Palmen, der geprägten Form, die lebend sich entwickelt, der sich
ausgestaltenden Morphe, Spengler hat sie danach recht über­
bietend an Kulturen illustriert und der analytischen Forschung,
auch allem Unvollendeten in der Geschichte entgegengesetzt.
Scheler indes ging diesem Gottesgarten weniger in der Welt
nach als in der Ethik; so brachte er, statt des kantischen Forma­
lismus, eine materiale Ordnung katholisch-sittlicher ·werte zur
Ersd1einung, eine lllnhaltsethik«. Diese materiale Ethik war
teils an bürgerlichen, teils an mittelalterlich-feudalen Wert­
haltungen als Wahrnehmung eines personalen Wertseins ge­
ordnet; von vitalen und geistigen Rangstufen bis zum Heiligen,
vom Willen in der Welt bis zum begnadenden Ideenhimmel
aufwärts. Die Religions-Metaphysik Schelers ( ))Vom Ewigen
im Menschen« ) fügte das Nacherlebnis der jedem zugänglichen
natürlich-religiösen Akte, die Rezeption der offenbarten Akte
und Akt-Inhalte hinzu; eine Flucht in höchste Substanzwerte,
eine versuchte Kathedrale in den Sümpfen des Relativismus. Zu
J06 Ontologien

den vielen Wegen nach Rom war hier einer der metaphysischen
Halbtalentiertheit gekommen oder jeneBeziehung, welche nicht
aus Glaube, sondern aus Systemschwäche die alt-transzendente
Ordnung in ihre halbschürige einsetzte. Mit historischer Groß­
artigkeit, selbst Korrektivgewalt leuchteten nun die Hierarchiet
des feudal-katholischen Idealismus auf, deren Ruhe die katho­
lisch befriedete oder zufriedene Welt durchwaltet. Doch gleich
danach kam gerade dieser Kathedrale der Sprung, kam Schelers
letzte Wendung und der Untergang des Objektivismus: uner­
füllte Akte rebellierten gegen das heilige Sein, der Gottesgarten
ewiger Ganzheiten verdorrte um die Gralsburg, Klingsors Zau­
bergarten drang vor, Parsifal schwang kein Kreuz darüber. Der
» Drang« hob die katholische Grundkonstruktion, die Möglichkeit
einer ideal-realen Ontologie in der Welt auf; der Relativismus,
gegen den sie gegründet war, hatte gesiegt. Und zwar, da
nach wie vor Dialektik der Geschid1te ausblieb, Statik weiter
herrschte, siegte der Relativismus sogar als theologischer End­
zustand; dem Untergang der bürgerlichen Klassenwelt gemäß,
auch noch in ihrer mittelalterlichen Armierung. Der letzte Sche­
ler mußte die Gottesruhe der Kontemplation, die Rentner­
existenz übernommener Frömmigkeit einem »moralisch-hero­
ischen Atheismuscc ausliefern, einem Gott, der nicht ist und den
Mensdlen nur mehr als Kämpfenden und ungarantiert Hoffen.:
den, nicht mehr als Gläubigen hat. »Das große Sehen, das durch
die Welt gehtcc, verlor seine Gegenstände, den gesamten Nach­
schein gestufter Harmonie. Der einsame Mensch in einer zusam­
mengebrochenen Ideenwelt: diese »Anthropologie« blieb das
letzte Wort und die Zuflucht einer Phänomenologie, welche
bud1stäblich mit Gott und der Welt ausgezogen war. Welche
allen Subjektivismen und Relativismen gegenüber strengste
Ontologie hatte gründen wollen, Lehre der ontischen Veste.
Bald danach ging ein anderes Sehen einwärts, schränkte sich
aber sogleich darauf ein. Heidegger hob von vornherein mög­
liches Sein nur als innen »befindlidlescc aus, ja, als ein auch hier
fragwürdiges, als Sein der Angst. Er lombardiert nicht Thomas,
sondern Kierkegaard; so eben brechen protestantische Züge in
der Seinsschau vor (die so lange nur katholische gekannt hat­
te). Protestantische, selbst augustinische Innerlichkeit (von
Ontologien 307

heutzutage), Zeit statt Raum pointieren sich jetzt in der Phä­


nomenologie. Freilich der Art, daß stärker noch als früher bloße
Worte, wenn auch des Innen, gepreßt werden. Es geschehen
ganze Erlebnisse an neu gemachten oder alt hergeholten Zei­
chen, an einer deutschtümelnden Sprache, die Gefühle von heute
mit verlorenen verstärkt. Seltsam einen sich gewisse seelische
Feinheiten, auch ein sturer Bauernernst mit der Lust, ihn zu be­
schreiben, ihn worthaft recht vorfindlieh zu mad1en; Heidegger
hat die Angst, indem er sie doziert. Seltsam ist dieser Ernst von
einem pedantischen Wandervogel getragen, dem ein Professor
für Angst und Sorge sich anschließt, als wäre das Lehrstoff wie
anderer auch. So entsteht eine Art gelehrter Katheder-Trauer,
die, obzwar sie das »Bewußtsein überhaupt völlig subjektiviert
hat, nicht aufhört, reine Begriffsschau zu sein. Dennodl wirkte
Heidegger erregend: die »Angst«, als Heideggers eine Existenz­
){ategorie, berührte den Zustand des Kleinbürgers, der keine
Stelle und Aussicht mehr hat; die ,>Sorge«, Heideggers andere
Kategorie, traf Großbürger, die in der Tat genau so, wie Heid­
egger »mensdiliche Situation überhaupt<< bestimmt, »ins Nichts
hinaus gehalten« sind. Vor allem erstrebt die subjektive Onto­
logie eine gewisse Nähe zum Nullpunkt des heutigen Seins,
nämlich zum nackten Leben; sie empfiehlt sich derart einer allge­
meinen Leere und bürgerlichen Alltäglichkeit als »existentiell<< .
Dieser »existentielle« oder noch »indifferente<< Ausgang ist zu­
gleich positiv kein anderer als der des privatwirtschaftliehen
Seins: Ich-selber-Sein und nur dieses erhebt sich gewissens­
mäßig-isoliert, lutherisch-düster gegen die ,, Verlorenheit ins
Man<< und die öffentliche Welt. So hat Heidegger die Innen­
architektur sinkender Schichten reflektiert, in einer angeblichen
»Analytik des Daseins überhaupt<<; so grub er aber auch dem
Irrationalen der Reaktion, der er zugehört, einen Kanal Blut ab
(oder höherer »Existenz(( ). Denn das Existere von Angst und
Sorge zeigt sich in der >>Analyse« ebenso als heroisch, nämlidl
als »ungedecktes Standhalten gegenüber dem Schicksal<< ; die
Elemente der Analyse aber bleiben die vorlogiseben der »Stim­
mung<<, der »Befindlichkeit(( ; die Logik der Existenz ist die Kon­
templation einer heillos gewordenen Subjektivität, eme der
dumpfen, verfallenen Emotion. Wie diese Existenzlehre jetzt
Ontologien

schon zu faulen beginnt, so fehlten ihr von Anfang an Vitalis­


men nicht; Subjektivität und Zeitlichkeit, diejenigen Katego­
rien, denen gerade die Phänomenologie zuerst ihren festen Ver,
nunftbau unzufälliger Wesenheiten entgegensetzen wollte, sind
hier allein geglieben, ja, die Ontologie selber geworden. Die
vielen »noetisch-noematischencc Ideen Husserls sind dahin; das
große Sehen, das nach Scheler durch die Welt ging, hat sich
gänzlid1 ins dumpfdunkle Existieren zurückgenommen. Die
Kategorien der Wesensschau schrumpfen zu solchen der gesetz­
ten »Eigentlichkeitc<; sie transzendieren auch, als bloß im blin­
den, sinnleeren »Leben« bleibend, allesamt nicht weiter als nur
zum Tod. »Geworfenheit<< ist die letzte Existentialkategorie
des Menschen, und zwar Geworfenheit in den Tod, als in einen
unabänderlichen, statischen Zustand, als in die einzige Zukunft,
.
die auf den Menschen zukommt. Heidegger war ins Subjekt
gegangen, um den Relativismen der äußeren Wesenswelt von
vornherein zu entgehen, um das Menschsein als Anfang einer
Frage zu haben und nicht, wie Sd1eler, als Ausgang einer Kata­
strophe: aber der ersten Gefahr hier, dem Vitalismus und seinen
Folgen, ist er bereits erlegen. Wie Wiesengrund mit Recht be­
merkt, wußte sich Heidegger auch der zweiten großen Bedro­
hung jeder materialen Ideen-Phänomenologie - der durch
Historismus - nur dadurch zu entziehen, daß er die Zeit selber
ontologisierte; wodurch Schelers Ewiges im Menschen paradox
sich auflöst: es entsteht die Fundamental-Ontologie de1· Ver­
gänglichkeit. Die » Wesenheiten« sind damit zwar nicht ver­
schwunden, doch aus ihrem Ideenhimmel zu einer Art matter
Ideenhölle von Angst, Sorge, Geworfenheit, Tod übergegangen
- das Ewige ist bloß noch diese Zeitlichkeit. Eine konternplierte
Zeitlichkeit dazu, eine »Zeit« im Zentrum, welche weder zur
Gesd1ichte nodt zur Dialektik hingelangt; eine 11praktische Phi­
losophie« ( als auf die 11 lwnkrete Bedrängnis der menschlichen
Existenz« bezogen ), welche lediglich Anweisung zum Hinneh­
men der Gesetztheit enthält, niemals zum Handeln. Als Frage
taucht zuletzt freilich auf, wieso die Bourgeoisie, welche sonst
Zerstreuung und Berauschung durchaus der lllnnerlichkeitcc hin­
zufügt, bei einem ihrer modischsten Philosophen soviel Kierke­
gaard und Finsternis duldet, wenn auch gemildert durch der
Ontologien

Betrachtung strenge Lust. Aber erstens ist Heideggers Philoso­


phie, wie bemerkt, durchaus eine begriffliche geblieben, eine
Trauer besprechende, mit der sich leben läßt. Ganz gleich, wie
stark das llOntische« Erlebnis, das Luther-Erlebnis der Ge­
schöpflichkeit in ihr war: es zeigt sich, was kontempliertes Fra­
gen von Sorge,Sünde,Schuld llWeiß«; nämlid1 alles und dadurch
nichts. Begriffsschau, wenn auch emotionierte, siegt am Ende
doch über das dumpf-dunkle Existenzsein; die Selbstbetreffung
wird zum Zweck einer kontemplativen Wissenschaft verwandt,
nämlid1 der Onto-logie, wenn aud1 einer mit lauter Vitalitäts­
Inhalt. Die Sorge Heideggers ist nicht Selbstbetreffung, Selbst­
bezichtigung m
i Existenzsinn Kierkegaards, sondern Objekt
einer Daseins-Analytik; sie ist kein lllnteresse<< mehr, sondern
nteressant,
i gelehrt, objektiv, sie heißt 11die Einheit der tran­
szendentalen Struktur der innersten Bedürftigkeit des Daseins
im ( !) Menschen<<. Empfahl sich so Heidegger der liberalen
Bourgeoisie durch einen Ernst, der keinen marot, durro Re­
flexionsgefühle, die nicht einmal Gefühle bleiben, geschweige
Praxis werden: so empfahl er sich zweitens einer Iascistisch
gewordenen durch das alte protestantische Erbgut der mensch­
lichen Nullität und die Finsternis des ihr Gesetzten. Alles Dasein
ist Geworfensein in den Tod; zu diesem aber gibt es nur das
Verhältnis der !>Vorlaufenden Entschlossenheit<<, welche nicht
das Geringste am llZu-fall« ändert. Welche lediglich den Be­
stand des individuellen Selbst nommals bestätigt, gegenüber der
Verlorenheit ins Man: der erfaßte Tod als das erfaßte Sein-zum­
Ende ist die radikale Individuation. Und auch darin ist der Tod
nicht, wie bei Kierkegaard, ein Zeid1en der existentiellen Para­
doxie, er erschüttert nirot die Subjektivität zur Hinnahme des
Bibelworts; er ist vielmehr ein bloßes Auslaufen der Existenz,
die bloße Finsternis des feierlimen Zu-falls. Formuliert Heid­
egger das ))Dasein in seiner Unheimlichkeit<<, bestimmt er 11das
ursprüngliche geworfene In-der-Welt-Sein als Unzuhause«, so
formuliert er dies . Überantwortete zugleich als identisch mit
dem Zu-fall des ganzen Daseins überhaupt; er kennt kein Ele­
ment in ihm, das sich der Unheimlid1keit und dem Unzuhause
entgegensetzt. So ist das Dasein selber seine eigene Unheimlid1-
keit, so ist es dem Tod restlos überantwortet, alle »vorlaufende
JIO Ontologien

Entschlossenheit« kommt nur dem Tod und sonst nichts unter


die Augen, es gibt keinen Trost gegen den Tod als die positiv
erkannte und anerkannte »schlechthinige Nichtigkeit« des Da­
seins selbst, das im Tod sich nicht vernichtet, sondern repräse�
tiert. Also wird mit der Unverbindlichkeit auch die absolute
Nichtigkeit zum Frieden der Bourgeoisie, zum Frieden, den die
Entmutigung des Veränderungswillens, die metaphysische Ver­
absolutierung des eigenen Unbehagens schafft. Der ewige Tod
am Ende macht den jeweiligen Gesellschaftszustand »des Men­
schen« so gleichgültig, daß er auch ein kapitalistischer bleiben
kann. Die Bejahung des Todes als eines absoluten Schicksals und
des einzigen Wohin ist der Gegenrevolution von heute das­
selbe, was ihr früher die Vertröstung auf ein besseres Jenseits
war. Unendlich fern, nicht einmal gestreift ist in dieser »Onto­
logie des SubjektS<< die Tendenz, in der Verzweiflung Empörung
zu gründen, in der Empörung Hoffnung anzutreffen (als wel­
che in der Welt noch nicht zuschanden wurde). Es fehlt jedes
))sich selbst in Existenz Verstehen«, das gegen den blinden
Lebensbegriff, gegen den menschlich unvermittelten Natur­
status - gerade aus »Innerlichkeit« - ausbräche. Das Pathos des
Subjekts ist in dieser Ontologie lediglich leidend, individuell
und geht, mit völlig verdinglichtem »Schicksalsglauben«, zum
Tode. Ein anderes Subjekt als das der individuellen und ver­
dinglichten Klasse wird vielleicht nicht mit Heidegger finden,
daß keine Strenge der Wissenschaft heranreicht an den Ernst
der Heideggerschen Metaphysik, wohl aber, daß der Ernst jeder
Metaphysik sich zu bewähren habe an der Liquidierung der
vitalen Geworfenheit, des mortalen Schid<sals. Als neues Ele­
ment sticht zwar das »Subjekt« in dieser Ontologie hervor (statt
der arkadischen Gottesruhe im Weltgarten). Aber als Heid­
eggersches Subjekt hat es, trotz seines »Daseins überhaupt«, nur
den Charakter, ein sehr ephemeres zu sein; es ist das Subjekt
des introvertierten Bürgertums im Abstieg oder des zäh gehal­
tenen in seiner akzeptierten Nichtigkeit. Daran ist die »Be­
fremdlic:hkeit des Daseins«, die Grundierung mit Angst und
Tod, das Hineingehaltensein ins Nichts, die metaphysische Frage
nach dem Grund oder wie sonst Heidegger Leere und Spuk
dieser Zeit verabsolutiert, keineswegs konkret erfahrbar. Das
ExistenzerheBung und Symbolschau 3ll

echte ))Subjekt« ist nicht dieser bürgerliche Spätmensch (unter


der Maske des Daseins überhaupt ), sondern heute nur der
unterdrückte, versd10llene und ebendeshalb wendende Mensch
( als dessen stärkster Umschlagspunkt das Proletariat signiert).
Und ebenso: als wirklich zeithaft ist das Subjekt nicht vereinzelt
da, spiegelt sich nidlt in formalisierten Gefühlen, vitalisierten
Lutherwinkeln; sondern die Zeit seines Seins ist die Dialektik
der Geschichte, die dialektische Hoffnung aus lauter Klassen­
geschichte. Heidegger hat statt dessen (und freilich auch statt
des vormaligen Gottesgartens) nur das Labyrinth spätbürger­
licher, sehr gepreßter, sehr heilloser Subjektivität. Es ist alles
Labyrinth, einschließlich eines Leitfadens hind,mh bis zum
Minotauros am Ende - und der Ariadnefaden fehlt.

E.XISTENZERHELLUNG UND SYMBOLSCHAU


))QUER ZUM DASEINu

Auch manch älterer Blick sucht hier, was ihm nod1 geblieben sei.
Nimmt sieb selbst ins Auge, spiegelt erst recht einsam und er­
innernd. Sind die wirtschaftlid1en Verhältnisse sicher, sagt 'Jas­
pers, so breitet sid1 der Sinn aus und vergißt, bedingt zu sein.
Sind sie unsicher (wie heute doch scheint), so wendet sich
J aspers, als letzter Phänomenologe, erst remt von ihnen ab -
ins rein Mensmliche, einsam Höhere und Gebildete. Der ))Sinn«
ist dann allein bedingt vom jeweiligen Träger, vom frei wählen­
den Menschen, er drängt sid:t nicht mehr auf. Wissenschaft als
Beruf hat ohnehin nicht bekennerisch zu sein, doch auch Philo­
sophie wird nur mehr als Philosophieren anerkannt, und höch­
stens als sokratisches. Ja, in seiner >�Psyd:tologie der Welt­
anschauungen« hatte Jaspers nicht einmal so viel zugegeben,
sondern war noch völlig unwertend, einzelwissenschaftlich­
positiv. Er besd:trieb die großen Gedanken als rein psychisd:te
Gebilde, wie sie nun einmal da sind, ordnete sie bestimmten
Typen zu, blickte nur durch diese Typen auf die Welt, führte
Sinn zum Aussuchen, entsd:tied sich nicht oder nur unmerklich
und glaubte außer an die psychologisd:te Wahrheit an keine.
J I1 Existenzerhellung und Symbolschau

Seitdem freilich ist Kierkegaard vorgedrungen, die Universität


erfuhr die >>Krise der Reflexion«, das ist, sowohl den Bankerott
der bürgerlichen Ratio wie den ertrinkenden Willen zum Halt:
also erscheint statt Philosophieren Philosophie wieder selbit
und, wie bei Heidegger, als nexistentielle«. Das Existentielle
jedoch wird hier - seiner psychologistischen Herkunft gemäß -
ein zerrissenes und lediglich ratendes Wesen; diese Krisis der
Reflexion will - mit einem Liberalismus, der zur bürgerlichen
Anarchie übergeht - jeden Einzelnen nur sehen lassen, wie er
es treibe oder (den Glauben betreffend), wie er es halte. Statt
riskierter Ontologie verbleiben ethisch nur Appell und Wahl,
metaphysisch nur mögliche Betreffbarkeiten durd1 vieldeutige
nChiffer«. Ratend, sagten wir, ist dieser >>existentiell« gemil­
derte und gefärbte Agnostizismus; er ist es sowohl im unauf­
dringlichen Sinn einer appellierenden Beratung (nämlich
Suchender durch eine Sud1e, die selber nur durch Nichtw·issen
philosophierend zu sich kommt), wie ratend im letzten Sinn
einer Erratung, einer Chiffer-Deutung des Welt-Seins. nExi­
stenzialphilosophie« auf dies'!r Stufe kennt folglidl keine
Gewißheit, weder wissenschaftliche (diese gilt nur fürs unper­
sönliche Bewußtsein überhaupt und seine positivistisdlen Ge­
genstände) nodl die eines prophetisdlen Pathos auf dem Kathe­
der. Sie gibt audl den apodiktischen Anspruch der �>Evidenzenci
auf, den die Phänomenologie, l<raft eines mittelalterlichen Ge­
meinschafts- und Glaubensbilds, noch für ihre Schwelt, Ein­
Sichtsweit behauptet hatte. nExistenz« gar bei Jaspers ist völlig
protestantisch geworden; denn sie ist nur n i einzelnen kommu­
nizierenden Menschen, sie vergewissert sich auch methodisch
allemal nur als Selbstbetroffenheit von Sinn. In diesem Subjekt­
raum freilidl trägt sich recht sonderbare Breite zu, eine, die auf
>>existentieller Basis« wenigstens gebildete Gestaltordnung sich
einzufügen versucht; das streift dann sozusagen, in protestanti­
scher Enge, eine Art katastrophierten Katholizismus. Statt der
Schelerschen Gestaltsmau erscheint �>Symbolschau, quer zum
Dasein«; diese nennt Jaspers >>eingeschmolzen in die Bewegung
der existenziellen Vergewisserung der Transzendenz«.
Denken beginnt hier als Frage nach dem, immer noch nach
dem, was das Sein schlechthin sei. Rech.t unwichtig, dabei zu
Existenzerhellung und Symbolschau JI3

verweilen, recht schwach auch der sittliche Ruf an Menschen


>>auf demselben Wege«. Denn nicht jeder wandelt auf dem Weg
dieser Sorgen, nicht jeder im orphischen Schlafrock durch das
»Gesetz des Tags und die Leidenschaft zur Nacht«. Nur Bürger­
gefühle grüßen in diesen Teilen von Haus zu Haus, gespenstisch
weltfremd; kein Licht wirklicher Analyse fällt herein. Sd1on
die » Weltorientierung«, womit J aspe-s einsetzt, hat von der
einzig positiven Orientierung, der marxistisd1en, kein Wort
vernommen. Die »Existenzerhellung«, womit ein moralischer
Band fortfährt, verewigt dafür die »Daseinsantinomien« ( des
Bürgers) als existentielle Bestimmungen »menschlicher Unvoll­
kommenheit schlechthin«. Hier ist die Parallele zu Heideggers
Sein zum Tode oder zu der totalen Entwertung, welche auch
Liberal-Fascisten, wenn sie den Aufschwung nicht goutieren, im­
mer noch zur Verfügung halten. Doch gesprenkelter ist der dritte
Band der Jaspersehen Bemühung; denn die »Transzendenz« ,
welche hier ersd1eint, ist immerhin zerrissen und wirr be­
lebt, wirr geflickt zugleich. So mag sie als echteres Zeichen
der Zeit beachtet werden, als Phänomenologie in voller Durch­
kreuzung; sie ist ebenso bodenlos wie sie, in dieser Gegend, als
Ineinander überrascht. Hier ist unbedingtes Sollen selbst als
formales Cadre unhaltbar geworden, erst recht fehlt J aspers,
als dem ehrlichen Spätbürger, jeder Sprung in religiöse Wirk­
lichkeit, jede verbindliche Ontologie des Seins als Sein. Einzig
bleibt die existentielle Betroffenheit durch Zeichen, »Chiffern«,
Symbole, mittels derer sich die völlig unfaßliche Transzendenz
(das ist: das Sein als Sein) einem inneren Bereitsein »schwe­
bend« kundtut. Daher kann wissenschaftliches Bewußtsein, als
Bewußtsein überhaupt, die Chiffern »nicht einmal hören, ge­
schweige verstehen« ; doch der Abgrund in diesen, leer für den
Verstand, vermag sich »für Existenz« zu füllen. »Denn das
transzendierende Zeitdasein des Menschen vermag als mögliche
Existenz die Einheit von Gegenwa1"t und Suchen zu werden:
eine Gegenwart, die nur als das Suchen ist, das nicht abgeschnit­
ten ist von dem, was es sucht.« Metaphysischer Gegenstand ist
folglich nie das ens absolute absconditum der Transzendenz,
sondern nur eben deren Chiffer, womit sie den existentiellen
Menschen im Augenblick, auch mitten im \Veltsein anrührt,
Existcnzerhcllung und Symbolschau

»um ihn geradezu vor das Ungewußte zu stellen«. Die mythi­


sd1en Bilder, worin ursprüngliche Schau sich gefaßt hatte, sind
erloschen; der Positivismus, sagt Jaspers, hat sie mit Recht aus
der Welt der Wißbarkeit vertrieben. Aber bricht diese We"tt
des wissenschaftlichen Bewußtseins an ihren Grenzen zusam­
men, dann ist die Welt der Mythos-Bilder, diese zuerst nur
autorative Objektivität, in der Sprache existentieller Zerrissen­
heit und Schmelzbarkeit (als allgemein werdender Sprache)
neu ergreifbar. Einheit des substanziellen Grunds ist dieser
Sprache nicht erreichbar, wohl aber jene echte Symbolik, welche
nicht wie bloße »Symboldeutung« von einem Bild zum anderen
herumgeschickt wird, um schließlich in einem bereits Gewußten
zu landen ( sei es die Libido oder primitiver Ackerbau oder auch
frühere Sternkonstellationen ). Sondern echte Symbolik bricht
ihre Geschichte quer durchs bereits Geordnete und empirisch
Wirkliche hindurch; sie kennt nur einen unerschöpft sich
verschlingenden Wirbel der Tiefe und landet, statt im Sein als
erkannter Sache, in einem Abgrund des Indefinitiven. Das Mit­
tel, diese Sprache zu entziffern, ist folglich nicht mehr der Be­
griff, sondern die echte physiognomisme Phantasie: ihr hat alles
Dasein »ein unbestimmtes Schwingen und Sprechen, scheint
etwas auszudrücken, aber fraglich, wofür und wovon« ; ihr ist
))in der Straßenpfütze und im Sonnenaufgang, in der Anatomie
eines Wurms und in einer Mittelmeerlandsd1aft . . . etwas, was
mit dem bloßen Dasein als Gegenstand wissensduftlid1er Er­
forscllung nicllt erschöpft ist«. Was bei Jaspers dann freilich,
nacll soviel besd1eiden-hod1gemuten Worten, als Beispiel seiner
Chiffern ersclleint, hätte des riesig-verborgenen Raums nicht
immer bedurft. J aspers, als der frühere Logiker der psychiatri­
smen Diagnostik, versteht zwar ohne Zweifel mehr vom phy­
siognomiscllen Verstehen als mancher Klages; aum bestechen
einen redlimen Denker der Existenz nimt so sehr die mytholo­
giscllen Bilder (aus Literatur) als die wirklicll erfahrbaren ( aus
heutiger Existenz und unmittelbarer Wirklimkeit ) . Ebenso
überrasrot der Trieb, Chiffern quer in die Welt einzumontieren,
am alten Klassifikator durd1aus; war der zweite Teil dieser
nPhilosophie<<, die sogenannte Existenzerhellung, überwie­
gend nur Seelsorge aus dem Vorkrieg, so ist die Welt als Chiffer
ExistenzerheBung und Symbolschau

in der Tat ein gegenwärtiges Problem. Dennoch sind die spezi­


fisch hier angezogenen Chiffern, so die der Natur, durchaus nicht
frische Bildschau, sondern ebenfalls voll abgestandener Bürger­
gefühle, voll verabredeter Assoziationen, dazu in einer Sprache,
welche, trotz ihrer metaphysischen Seelsorge, doch nicht die des
intendierten Tiefenwirbels sein dürfte; denn sie ist, mitsamt
ihren Inhalten, seit der Romantik tausendmal gesagt worden
und besser. Wieder erscheint hier der bodenlose Versuch, mit
spätbürgerlicher Ratio, nur weil ihr der Boden unter den Füßen
fehlt, >>Metaphysik<< zu treiben; wieder vor allem erscheint das
Hoffnungslose substanzieller Vermittlung (das nur dem völlig
undialektischen Denken dieser »Transzendenz« hoffnungslos
ist) als »ewiges Schicksal«. Wie die angebliche Nichtigkeit des
irdischen Daseins, so ist auch die Nachtmystik des »Scheiterns«
(die hier die Erfahrung des substanziellen Grunds umgibt), an
sich bloße Verabsolutierung des bürgerlichen Untergangs und
ebenso reaktionär; dasselbe gilt für die »ewige Unerforschlich­
keit<< des ontischen Seins. Doch unerwartet immerhin ging die
existentielle Phänomenologie von der »Einsichtigkeit<< zur
»docta ignorantia<<, von der scheinbaren Fülle adäquat ver­
gegenwärtigter Gestalten zum Bild von Sais. Nun steht sie da
mit leeren Händen, steht freilich, letzthin, auch mit Handlinien
da und kreuz und quer erscheinenden Chiffern. Erst hat Onto­
logie den psychologischen Relativismus besiegt, dann zwingt
der objekthafte Relativismus des Hohlraums die Ontologie
selbst, zu Symbolen der Einzelheit und Vergänglichkeit sich zu
flüchten; ja, Ontologie überhaupt vergeht, ihr prätendiertes
festes Wissen vom Sein zerspringt zur zerrissenen, zur zer­
reißenden und kateidoskopierenden Erfahrung vom Sein als
Schweben. In Ordnung derart und ein lehrreicher Abgesang,
daß gerade Phänomenologie noch den Hohlraum erfährt, daß
Gestaltschau als - Chifferlesen endet (in einem Trümmerfeld
subjekt-objekthafter Ontologie). Billig hört ihr bei ihren Chif­
fern die Frage auf, noch billiger verharrt sie dem jeweiligen
Chiffer-Sinn gegenüber in bloßer einschichtiger Kontemplation;
gratis gar bleibt das »Unerforschliche<< gänzlich außer histo­
risch-dialektischer Subjekt-Objekt-Vermittlung. Doch führte
solche Phänomenologie den Schein fertiger Gestalten selbst ad
Tribut der Tugend an das Laster

absurdum; sie weiß von ihnen nichts mehr, sie reißt sie aus jeder
Hierarchie heraus, sie stellt sie als Schriftzeichen ( nid1t mehr als
Statue n) in ein versuchtes »Diesseits als Wunden<. Erjagt hier
spätbürgerlid1es Gefühl nichts als sich selbst, wird das Probte tri
einer dialektischen »Bilderlehre« am Einzelnen wie am Ganzen
diese »Metaphysik<< vorübergehen, so am kosmisdlen Sdlrift­
problem (dem die Phänomenologie Zoll zahlt) nicht.

TRIBUT D E R TUGEND AN DAS LASTER

Alle diese versdliedensten Denker strebten danach, zweifelsfrei


zu sein. Sie begannen, wie bemerkt, angeblich von vorn, also mit
Bedenken an allem und jedem. Doch dieses hohlräumige Gefühl
beruhigt sidl bald an den eigenen Funden, mögen sie logistisch
oder ontologisdl gewesen sein. Die Empiristen kamen ihrem
abstrakten Zweifel mit der klaren und distinkten Erkenntnis zur
Hilfe, also immer noch mit dem alten Kalkül, wenn auch mit
einem, der sir.h auf logistische Gleichungen beschränkt hat. Die
Phänomenologie dagegen glaubte zweifelsfreien Boden in der
schlidlten oder kategorialen Anschauung, in einer Art höherem
»Empirismus« gleichsam. Der die Anschauung den bloßen
Erfahrungen der Einzelwissenschaft entgegenhob, der eine
materiale Gewißheit versprach, ein materiales Apriori in den
gegenständlichen Wesenheiten selbst. Beide so grundverschie­
dene Lehren sind sich - über den Relativismus hinweg - in der
Apodiktil< noch einig; wobei die Empiristen immerhin in der
nicht-logistischen, i n der offenen »Erfallrungs-Erkenntnis«
modelll1aft waren oder wenigstens relativistisdl anfällig. Beiden
gemeinsam ist auch der Kult der »unmittelbaren Gegebenheit«,
im Sinn eines an Ort und Stelle, unhistorisch, undialektisch
Erfaßbaren; wobei sowohl das Subjekt, dem etwas gegeben ist,
geschichtslos als identisch gefaßt wird, wie erst recht das gege­
bene Objekt (hier des empirischen, dort des phänomenologi­
schen »Befunds «). Aber nun ist die Oberfläche so viel weiter
gesprungen, daß sie keinen Kalkül, erst recht keine Ontologie
der unmittelbaren Gegebenheit mehr erträgt. Die Empiristen
Tribut der Tugend an das Laster 317

hatten bereits doppelte Buchführung, eben die der Logistik hier


und der offenen Erfahrung dort. Die Phänomenologen zogen
auf breiterem Feld Konsequenz: Smeler griffzum unmittelbaren
Drang und räumte den Ideenhimmel; Heidegger besd1ränkte
die Frage nam dem zweifelsfreien Boden auf die Frage nam
dem »eigentlichen« Selbst. Er stellte zwar diese Frage nur um
der n Wiedergrundlegung des Seins im Mensd1en« willen, doch
die unmittelbare nGrundbefindlidlkeit<< ist hier nidlts als Angst,
Sorge und anderes ephemer ersd1einendes Erlebnis, hinaushän­
gend ins Nichts. Alle diese Neuanfangenden oder Jakobiner des
Spätbürgertums kamen also aus der abstrakten Zweifelei nur um
den Preis einer konkreteren heraus: des Tohuwabohu im spät­
bürgerlichen Hohlraum. Am Ende bei Jaspers gar, in dieser nMe­
taphysik«, ersdlien bereits die kurioseste Mischung, eine Melange
von »Symbolen« oder eine Leer-Montage; - hier ist fast Tribut
akademisd1er Tugend an ein ungekanntes und unbekanntes,
doch unabweisbares Laster. »Man muß«, lehrt Kierkega.ard,
»klüger als die Klügsten sein und dann gegen die Klugheit han­
deln«: unsere phänomenologischen Denkbeamten sind das
Erstere nicht, das Zweite aber sdleint, stellenweise, ihr »Schick­
sal«. Oben, im Übergangskapitel: »Berlin, Funktionen im Hohl­
raum« ( S. 2. n), wurde gesagt: »Unrnittelbar freilich, in ihrer
eigenen bürgerlidlen Wahrheit, sind alle diese durchkreuzten
Emotionen oder Hieroglyphen nur ebenso durchkreuzter und
verbauter Hintergrund.« Jetzt, wo es um den Gebrauch dieser
Ragouts geht, um ihre Dialektik wider Willen und Begriff,
n
i teressiert derTribut der Tugend an das Laster oder der Einfluß
des Hohlraums gerade auf jene nOntologie«, die auszog, ihn
zuzudecken. Sonderbar gerät, bei Jaspers vor allem, aus eklek­
tismer Bettelsuppe zuweilen Bumstabensuppe, aum Schüttel­
reim, auch Chiffer-Montage. Die echte philosophische Montage
kommt selbstverständlich von ganz anderer Seite; dom sie kann
nicht umhin, über Ontologie als Chifferdeutung, über wahre
Tempelsümpfe in der Akademie dialelrtisd1 überrasd1t zu sein.
Der Garant aller echten philosophismen Montage ist freilich
niemals ein anderer als der erkannte dialektische Prozeß; und
das »Unerforschliche« liquidiert sieb, sobald seine ))Symbole«
endlim in rechter Richtung gelesen werden, nämlich von oben
318 Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten

nach unten, nämlich von ihrem gar nicht so transzendenten


l>Himmel« herunter auf die Erde. Dazu reicht das bürgerliche
Denken nicht aus; es bleibt, auch was >>Montage<< angeht, ..jp
bloßer dumpfer, vorlogischer ))Stimmung<< . Die Chiffern spielen
ein verworrenes, dabei isoliertes Ineinander, und die >>Chiffern­
schrift« ? Sie ist keine, außer als dialektische Verschlingung von
Zerfalls->>Bildern<< und ihren Zerfalls-Objekten. Als solche
bringt sie derZerfall herauf, doch erst in einer neuen, wenn auch
gänzlich umgestülpten Ordnung wird sie, gegebenenfalls, lesbar.
Lesbar an Spannungsgestalten, Tendenzfiguren von unterwegs,
aber alle voll versuchten Bedeutens jenes ausstehenden Gehalts,
der kein >>Gehäuse«, wohl aber das Haus sein könnte.

ANHAN G: SPENGLERS RAUBTIERE


U N D RELATIVE KULTURGÄRTEN

Nicht nur trauernd sieht dieser Mann, wie alles hingeht. Er ist
ebenso zufrieden damit, in der Leere red1t scharfen Wind
zu machen. Blühende Wege ging Spengler geschichtlid1, fürs
Heute bleibt ihm nur der wilde Mann. Der kalt anfängt, dann
so fortfährt, als hätte es nie geschichtlichen Bau und Kleider
gegeben. Der Bau vergeht, wamsend tierisch tritt das soge­
nannte Leben vor.
Zuerst sollte der heutige Mensch zwar kalt, doch auch red:tt
geschäftlich sein. Spengler, selbst alles betrachtend, gönnt dies
anderen nicht, sondern preist die Tat. Eben die großkapitali­
stische, auch die des technischen Verstands; für Wildnis schien
1 9 1 8 die Lust vorbei. Aber auch unblutige Wildnis wurde nid:tt
gestattet; da der Sommer der Kultur vorüber, war sinnlos, zu
malen, zu musizieren oder zu did1ten. Keine >>Zeit<< im Abend­
land mehr zu Traum; diese These setzte ein Bürger, dem seine
untergehende Klasse jede ist und sein besiegtes Land das Abend­
land schlechthin. Die Untergangsthese sollte durch kein Allotria
in1 Unterrimt, durm keine phantasievolle Berufswahl gestört
werden; das verlangten Spenglers Lehrplan und das duo­
nologische Schicksal. Im Pauschal erhielten alle künftigenTalente,
Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten 319

jahrhundertelang, ohne Ansehen der Person, Kontorstuhl und


Polytechnikum auf den Leib geschrieben. Wobei derSoldat nicht
fehlt, der Sieger über >>Geld und Geist«; dom eben: auch er ist
nicht aus dem frisch-fröhlichen Krieg, nicht mehr sterngläubiger
Dämon, sondern Techniker, ein Cäsar der Maschinenschlacht.
Das war das erste Bild des heutigen Menschen und seiner Spitze;
später, 1921, in der Schrift »Pessimismus?«, kamen noch einige
Erlaubnisse dazu, doch ohne das nrömische Gesicht« zu ändern.
Als sich Spengler dagegen verwahrte, bloß Untergang zu sein,
gestattete er, als »Optimist«, - nicht Rosen, doch Astern aufs
Grab. Fröhliche Astern gewiß, der Heiterkeit entsprechend,
welche die deutsche Scheinblüte nach dem Krieg verbreitete,
und welche sie zur Dekoration gebraucht hat. Der »Cäsarcc gilt
zwar weiter, den »Wir Deutsche noch gebären werden<c, jedoch
ein deutscher Roman wird gleichfalls gestattet, auch eine nPosse
großen Stils«, ja, sogar eine »deutsche Carmenmusik, voller
Rasse und Geist, sprühend von Melodie, Tempo und Feuer, bei
welcher Mozart und Johann Strauß, Brudmer ( ? ! ) und der
junge Schurnano sich nicht schämen würden, als Ahnen genannt
zu werden«. Fröhlicher Kehraus ohne Zweifel und so wildver­
gnügt, daß auch Offenbad1 sid:t nicht schämen würde, als Ahne zu
ersd1einen; hat er docll alldas schon, ironisch, zusammenkompo­
niert, was Spengler um den Stahlhelm tanzen läßt. Oder besser
eben: um Großkapitalisten und Direktoren; denn Spenglers
>>Mann der Tat<<, sein großes Vorbild ist und bleibt der schwer­
industrielleRäuber, der Imperialist. Mit der Sehnsudle des Ober­
lehrers blickt Spengler auf Cecil Rhodes, den »ersten Vertreter
des letzten abendländischen Stils«, - hier aber beginnt audl
schon das letzte Pathos in Spenglers Jetztzeit, r 93 2 angekündigt
(dem ridltigen Jahr), in seiner Smrift: n Der Mensch und die
Technik«. Dies letzte Pathos gilt nicht mehr dem alten Geschäfts­
mann, sondern dem blutigen: der Mensch erscheint als Raubtier
und zwar als erneuertes. Damit ist die Geschäftsfreude, auch der
Preis der Technik, den Spengler 1918 verliehen hatte, endgültig
abgetan. Der Krise und dem veränderten Interesse des Profits
entsprecllend ideologisiert sicll nunmehr die gedrosselte Erfin­
dung, der verbrannte Kaffee, der Mascllinensturm; wie bei Kla­
ges, nur bedeutend wilder, tritt ein >>Urmensch« in die Nacht.
320 Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten

Beim Lob des Kontorstuhls war noch die Frage: ob es dazu sol�
ches - Umwegs bedurft hätte, ob es dreier »Kulturseelen«
bedurft hätte, um solche rochers de tombac zu stabilisieren?
Jedoch noch stärker erscheint diese Frage vor der Raubtier�
Philosophie berechtigt, zu der Spenglers Schau zuletzt zerfällt;
und noch weniger bleibt von aller abendländischen Kultur zu�
rück. Spenglers Mann der Spätzeit ist nid1t einmal Zivilisations�
bestie, wie nod1 Cecil Rhodes, sondern eine ganz nackte, eine
dampfende vor allem; ja, eine Art Mißgeburt, ein Krokodil mit
heißem Blut. So oberflächlich und summarisch, wie selbst an ihm
ungewohnt, dekretiert der Spengler von t93 2 ,, Vitalismen«,
deren Falsmheit nur noch von ihrer Banalität, deren Banalität
nur noch vom Zynismus hemmungsloser Ausbeutung übertrof­
fen wird. Nun sondern sich endgültig die Böcke von den Schafen,
nun herrscht die ))vornehme Gesichtsethik« des Raubtiers über
die ))feige Gerud1sethik« der Beute. Nun ist »die eigentliche
Menschenseele jedermanns Feind«, denn »sie kennt den Rausch
des Gefühls, wenn das Messer in den feindlichen Leib schneidet,
wenn Blutgeruch und Stöhnen zu den triumphierenden Sinnen
dringen«. Nun ist, in kaum glaubhafter Hysterie, jede Greuel­
propaganda über Deutschland bestätigt; und zoologischer Un­
sinn aller Art kommt recht, um die ))Nacht der langen Messer«,
welche die Nazis verkündet haben, vorweg zu ideologisieren.
,,War' nicht das Auge sonnenbaft, wie könnt' die Sonne es erblik­
ken<<, sang Goethe und wußte noch nichts von der ••Gesichts­
ethik« des letztenDeutschen oderdem l'art pourl'art desMords.
Im ,,Untergang des Abendlandes«, als Antiquar, war Spengler ein
Gesang erhabener Stile, eine Sammlung von Kulturgärten quer
durch die bebaute und durdlformte Erde; nun lehrt der Anti­
quar, den man mit Herder und Hege! verglichen hat, den .Men­
sdlen als Gebiß, den Nebenmenschen als Rohkost, und alles
andere: die Athenamünze, die arabische Kuppel, die abendlän­
dische Geometrie der Nacht- ist so vergangen, als wäre es nidlt
einmal gewesen. Windelband sprach einmal vom ))Didlter F.
Nietzsme« als dem nnervösen Professor, der gern ein wüster
Tyrann sein möchte«. Dieser Satz ist an Nietzsche ein Skandal,
aber am letzten Spengler kommt er nach Hause. Bei ihm lebt, als
Subjekt des ,,germanischen Endes<<, nicht einmal die blonde
Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten

Bestie, sondern die kranke, nicht der träumende Urmensch der


Romantiker, sondern der dekadente Mörder, nicht Cäsar, son­
dern N ero. Also begrüßt Spengler I 93 3 , im >>Jahre der Entschei­
dung« und seiner allerletzten, gleichgenannten Schrift, die
»nationale Umwälzung« als eine »herbeigesehnte«, und es plagt
ihn nur Sorge, daß sie nicht »starke Rasse« genug zeigen könne.
))Als die Arbeiter aus dem Krieg nach Hause kamen, entstand
überall in der Welt trotz der gewaltigen Menschenverluste die
Wohnungsnot, weil ( ! ) das siegreiche Proletariat ( ! ) jetzt nach
Art der Bourgeoisie wohnen wollte und das durchgesetzt hat«;
und mit ähnlicher Stärke des Gefühls, Tiefe der Erkenntnis prä­
zisiert der letzte Spengler seines Pudels Kern: »Die Arbeitslosig­
keit steht überall genau im Verhältnis der politischen Tarif­
löhne.« Dergestalt fürchtet der Philosoph des Herrenklubs an
Thyssen zuviel »Sozialismus«, er fürchtet, daß die »nationale
Umwälzung« sich ausruhe auf den Vorschußlorbeeren eines
Raubtiers, das noch nicht gebissen hat; daß sie nicht »großen
Stils« genug ausbrechen könne gegen die ))weiße Weltrevolu­
tion« oder den Klassenkampf, gegen die »farbige« oder den
Rassenkampf und alle beide zusammen. »Der Ekel tiefer und
starker Menschen an unseren Zuständen und der Haß tief ent­
täuschter könnte sich schon zu einer Auflehnung steigern, die
Vernichtung will. « Das erste wahre Wort in der »preußischen«
Ideologie, doch nicht so gemeint; die erste Absage fast ans Hit­
lertum, doch nur, weil Spengler dem Demagogen die Bestie
nicht glaubt und dem großen Maul des Massenjubels nicht das
aristokratische Gebiß. Das Großkapital mit seinem Spengler
will keine »Apotheose des Herdengefühls«, will sich als einsam
herrschende Bestie, ja, als einziges Leben auf der Erde, und die
Arbeitermasse gestorben zur Maschine. »Deutscher Carmen­
musik«, mit Bruckner aL Ahnherrn, dürfte der Tanz um solche
Monstren nicht leicht sein. Die Musik der abendländischen Kul­
tur reicht zu diesem ihrem »Untergang« nicht aus, ja, er reicht
nicht einmal zu Spenglers »Untergang des Abendlandes« hin,
worin die abendländische Musik immerhin kein Schlachthaus
garniert hatte, sondern »Morphologie«.
Zwar auch hier war schnöder Ton, nur der vorsichtigen Hand
etwas zu nehmen da. Das Nichts der Kälte war mindestens
3 22 Spenglers Raubtiere und .relative Kulturgärten

sprachlich beteiligt, in den falsch geknappten Sätzen, die her­


risch sein sollen und bloß schnoddrig sind. Was man in den
neunziger Jahren glänzende Schreibweise genannt hatte, das,
wurde hier die Phrase als Tagesbefehl. Höchst Anfechtbares
erschien dabei genau, höchst Allgemeines präzis: »Form ist
Angst<< oder >>Weltgeschichte ist Stadtgeschichtecc oder »Opti­
mismus ist Feigheit« oder »Kulturen sind Pflanzen« oder gar
»Kulturen sind Pflanzen<<, »Leben ist Kriege< und Ähnliches
zahllos, so daß summarischer Brei wie gegossen stand. Dabei
war die Grundhaltung, hinter der militärischen Maske, durch­
aus betradltend, geschmäcklerisch und genießend; diese Haltung
ließ nicht etwa Geschichte aufs Heute zulaufen (das eben nur
noch die Praxis der vorgeschichtlichen Bestie kennt ), sondern
verweilte einsammelnd, zusammenschauend, historisch durch­
aus an Ort und Stelle. Dadurch fehlt, zum Glück, das brutale und
schwachsinnige Larifari des Publizisten Spengler auch; kaum
oft vermutbar, daß dieser und der fingerspitzige Antiquar die­
selben seien. Fürstenhöfe des XVIII. Jahrhunderts kannten als
eigene Hofd1arge den » Verwahrer der Schildkröten<<; eine sol­
che Charge ist der Historiker Spengler mit seinen vielen Mis­
zellen, und freilich aud1 ein Verspeiser der Schildkröten und ein
amüsanter Verwandler gesammelter Geschichte zu gleichzeitig
gedeckten Tischen. Die geschichtlichen Triebkräfte selber wur­
den zerstört, so Unvornehmes wie Ökonomie überhaupt nicht
entgegengenommen, die Zeiten liefen ab, letzthin unbewegt, in
Autarkie. Hier berührt sich die relativistische Soziologie (Mann­
heim) mit Spengler und umgekehrt: wie diese schaffte er jeden
Anschein von geschiclltlichem Prozeß ab, erst recht jeden durch­
gehenden Inhalt, jede durchgreifende und übergreifende »Ein­
heit in der Geschid1tecc. Was bei Mannheim die verschiedenen
soziologischen Strukturen in der Zeit, das leisteten die Kultur­
kreise Spenglers, die isolierten Landschaftsgärten jeweiliger
Kultur im Raum: nämlich die Zersprengung der Geschichte, die
Aufhebungdialektisd1durchgehenderGlieder. Überhaupt ist der
Primat des Raums über die Zeit ein untrügliches Kennzeid1en re­
aktionärer Sprache; von den illustrierten Beilagen angefangen,
welche sich »Volk und Raume< nennen (Beilagen der Linksblät­
ter hießen »Volk und Zeit<< ) bis zu Nadlers » raumhistorischer
Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten 3 23

Methode« und Keyserlings geographischen Meditationen.


Höchstens ist bei Spengler das »raumhistorische Schicksal«
nicht so unmittelbar an den Boden geknüpft, sondern mehr
an die >>Kulturseele«, welche über verschiedenste Länder dahin­
zog und sie einte. Bagdad und Cordova liegen arabisch im glei­
chen Raum und fügen sieb ihm ein; auch gedeiht auf italieni­
schem Boden, unter Pinien, ebenso gut antike Zivilisation wie
faustische Kultur. Dennoch herrscht bei Spengler Primat des
Raums durchaus: wenn nicht mittels der Landschaft, so mittels
der »kulturellen Physiognomie<<; diese bringt sogar einenExzeß
von »Gestalt«, von »Morphologie« und eben jener Statik,
welche, unter dem Schein des Lebens, jeder nGestaltschau« an­
haftet. Das Gesetz, wonach eine Kultur angetreten, ist bei
Spengler erst recht ein inneres Raumschid<sal und gleichsam ein
erhobener Boden: mit fester Flora, mit der Naturbestimmtheit
organischen Blühens und Verwelkens seiner Früchte, mit vier
Jahreszeiten über sich wie imNaturgebäude. Es gibt sobei Speng­
ler überhaupt keine Zeit außerhalb des jeweiligen Kulturraums;
und diese seine Zeit ist nichts als der kraftlose Schatten einer
vorgeordneten Entfaltung, welche in allen Kulturen denselben
Schicksalsweg nimmt, denselben Anfang, dasselbe Ende, und
nur das Kultursymbol ist jeweils verschieden. Selbst die »my­
thologische Urzeit«, weld1e Bad1ofen nicht weit genug an den
Anfang der Geschichte legen konnte, ist hier aus dem einheit­
lichen Nacheinander der Zeit herausgehoben; sie beginnt in
jeder Kultur neu, in der »nebligen Merowingerzeit« jeder Kul­
tur, »WO ihr Symbol geboren wird aus dem Dämmer geschichts­
loser Frühe<<. Hier überhaupt ist kein Unterschied eines
Nacheinander zwischen Ägypten, Griechenland, Abendland:
»Synchronismen« sind Alexander und Napoleon, Granada und
Rokoko, Pergarnon und Bayreuth; daher denn aud1 die Zeiten
selber nicht in der Zeit sind, sondern Raumwirbel in der ewig
unbewegten, grundhaftunberührten Substanz. »Alles Drängen,
alles Ringen ist ew'ge Ruh in Gott dem Herrn<< : mit diesem
Goethesatz wird Kulturzeit, ja, noch jedes Kultursymbol isoliert
auf sid1 selber; zugleich wird das zerfallene Schweben dieser Sym­
bole fälschlich geweiht, nämlicll als Schweben im unberührten,
im ewig unerkennbaren Raum. Dergestalt bleiben schöpferische
/

Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten

Zeit, unbekannte Zukunft erst recht ausgeschieden, der Pro­


zeß zerfällt, fängt sich in statischen Gebilden, ohne den min­
desten Bezug ihrer relativ wahren Inhalte auf einen übergrei­
fenden. Dies Vielheitliehe und Unterbrochene entspricht also
nicht nur dem Relativismus getrennter »sozialer Strukturen«,
sondern cum grano s:llis, als >>Weltbild<<, auch dem physikali­
schen Rela.tivismus; dieser setzte ( mit mehr >>Berechtigung<< )
mehrere Welten sogar in die Natur, mikro-, meso-, makrokos­
mische, mit eigenen Gesetzen und ohne erkennbaren Bezug auf
übergreifende »Mechanik<<. Spenglers >>Morphologie(( ist eine
Summe variabler, doch beschlossener Geschichtsfiguren, und
die Figuren hängen wie Sternbilder beziehungslos im ewig tran­
szendenten All.
Also gingen hier schon viel falsche Blicke in Leben, das keines
hat. Wirtschaftliche Anlässe, gar Ursachen fallen ohnehin, wie
man sah, außer Acht. Aber es fehlt auch jeder andere Bezug zum
Werden, zur Erfahrung des Werdens, zur Frage des Neuen.
Spengler kennt keine anderen als museal aufspießbare Gehalte,
ja, sie sind ihm an Ort und Stelle schon gerahmt. Es fehlt außer
dem Organ fiir Wirtschaft auch das für schöner bildende Trieb­
kräfte, wie sie kulturell Gewordenes aus sich herausgesetzt haben
und mit ihm nicht abgegolten sind. Der Historiker Spengler ist
dergestalt kein rückwärtsgewandter Prophet, sondern ein vor­
wärtsgewandter Antiquar. Und dieses ganze statische Gefängnis
dazu, der Reflex der Entselbstung, bürgerlich-mechanischen
Verdinglichung über der ganzen »Geschichte<< . Bei so viel ''her­
rischen<< Reden, so viel Raubtiergeste: wie viel historische Peit­
sche zugleich, wie viel automatisches Schicksal in Worten und
Lehren wie dieser: >>Nur Träumer glauben an Auswege; das
Schicksal des Menschen ist im Lauf und muß sich vollenden,
Optimismus ist Feigheit.<< Auch motorisch mithin, nicht nur
>>visionär<c herrscht völlige Beziehungslosigkeit zum Phänomen
der Zeit, »heroisch<c-höhnische Freude am gesetzten Bann. In­
dem Spengler so die Zeit austreibt, kommt er freilich einem
Bürgertum zurecht, das immer mehr sowohl Geschichte verließ
wie erst recht kausal-genetisches Denken von unten herauf.
Insofern ist Spengler nicht nur relativistische Soziologie, mit iso­
lierten »Strukturen<<, sondern ein Zentrum aller reaktionär-
Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten 3 25

statischen geworden; denn er hat gezeigt, wie man noch histori­


schen Fluß - scheinbar gerade in voller »Historie« - gerinnen
läßt. Ebenso istdie >>Physiognomik« ein Mittel zu dieser Entzeit­
lichung und die >>Morphologie« das Medium des Raums: sie ist
es, welche »Sinngebilde« am stabilsten der kausalen Genese und
gar erst der Dialektik enthebt. Merkwürdig auch hier, wie weit
diese offenbare Fascisierung von Geschichte schon zurückreicht,
wie sehr bewußte Reaktion von heute eine ungewußte von
gestern pflückt. Mit dem spezifisch historischen >>Verstehen((
hatte die genetisch-kausale Abkehr schon bei Dilthey begonnen,
sie führte zu Windelband-Rickerts »Grenzen der naturwissen­
schaftlichen Begriffsbildung<< (nämlich zu den Grenzen der Na­
turwissenschaft an der Geschichte, an den »idiographischen
Wertgebildem der Geschichte ) ; sie bekam zuletzt noch schola­
stischen Zuschuß durch die Phänomenologie oder die Schau
»platonischer Wesenheiten«. Dies » Wesenswissen« setzte sich
besonders hoch gegen alles bloß »induktive Wissen<< ab, mithin
gegen die analytisch-kausale Methode des XIX. Jahrhunderts
(das der Faseismus so »organisch<< verachtet). Vor allem ent­
fernte es als »Ganzheitswissen<< den gefährlichen Marxismus
viel erhabener aus der Diskussion als die bloß relativistische
Soziologie a la Mannheim, als die bloße Anwendung des »Mar­
xismus<< auf sich selbst; so entstand gar, hinter Spengler, die
sogenannte »sinnhafte Soziologie<< (bei Sombart, Freyer, Gottl­
Ottlilienfeld und anderen Fascisten), setzt sich völlig außer
genetisch-kausalen Strom, ja, außer verstandesmäßige Ableit­
barkeit (der Sinngebilde) überhaupt. Leider ist die Katastrophe
des gestalthaften Wesenwissens an der bürgerlich vorliegenden
Welt ( eine Katastrophe, welche mit Scheler bereits begonnen
hat, in Heidegger, auch Jaspers sich fortsetzt und von der man
in den vorigen Kapiteln das Nötige gehört hat) - leider ist diese
vorgeschrittenere Phänomenologie den soziologischen Nutz­
nießern der älteren noch unbekannt geblieben. Aber auch so ist
es ein Sonnenfleck der »kausalfreien Morphologie<< - vor und
nach Spengler-, daß ihr Erscheinen in diesem Zeitpunkt gerade
ökonomisch-l<ausal so sehr »verständlich<< ist; nichts erweist
Kausalität stärker als der Fascismus, wenn er sie leugnet. Und
ein zweiter Sonnenfleck ist die Beschränkung des genetischen
p6 Spe!_lglers Raubtiere und relative Kulturgärten

Hasses auf Kausalität allein, statt auch die Dialektik expressis


verbis anzugreifen; denn diese ist dem Marxismus mindestens so
eigen wie die verachtete induktiv-kausale Methode. Dialektik
freilid1 ist weniger als Kausaldenken eine naturwissenschaftliche
Subalternität, auch keineswegs eine Frucht des XIX. J ahrhun­
derts, sondern Platons und Hegels; dennoch - so wenig ange­
nehm ein Kampf der neuen Idealisten gegen Platon und Regel
sein mag -: die Ablehnung der einfachen Kausalität ist unfair,
wenn sie deren Seitenstück, der sehr vornehmen, wenn auch
materialistisch gewordenen Dialektik ausweicht, als wäre sie
den Morphotogen ganz unbekannt. Wie dem immer sei: Speng­
lets Morphologie war dem Kausalhaß die bequemste Erfüllung,
das ausgeführteste Gemälde, war die vollkommenste Abriege­
lung des dialektischen Bewegungs- und Einheitsgedankens vor
allem. Daher denn Spengler zwar den massivsten Glauben an die
jeweiligen Einheitspunkte pflegt, an die ))Symbole« einer Kul­
tur; doch er ketUlt keinen Einheitspunkt der Kulturerzeugung
überhaupt, welche diese ))Symbole« doch erst hervor und zu
Hilfe gerufen haben mag. Er sieht zwar - inkonsequent genug ­
in die völlig isolierten Kulturen hinein, ja, er arbeitet mit über­
greifenden Sphärenbegriffen wie Kunst, Mathematik, Religion
durchaus, er hat sogar solch Übergreifendes wie ))Christentum\(
in dreifacher Ausgabe: nämlich arabisch, faustisch und russisch.
Doch der Geschichtsprozeß selbst zerfällt in Kulturgärten oder
))Kulturseelen«, die untereinander ebenso unvermittelt sind wie
mit dem Menschen und seiner Arbeit ( als der durchgehende-n
Materie der Geschichte ) wie mit der Natur (als dem anders
Durchgehenden oder Übergreifenden, worein diese Geschichte
gestellt ist). Historischer Relativismus wird hier - mit großer
Kunst - statisch, indem er sich in Kultur-Monaden fängt; das
heißt, in Kulturseelen ohne Fenster, ohne Verbindung mitein­
ander und mit der Natur, aber voller Wandspiegel innen.
Daher also erbt Spengler so wenig von dem Glanz, den er
zeigt. Übrig bleibt ihm das Raubtier, sonst ist Vergessen oder
kurzer, vergangener, hoffnungsloser Geschmack, vielleicht ein
Raubtier mit Geschmack. Je näher Spengler dem Jetzt oder
))existentiellen« Fragen des Überhaupt kommt, desto absurder
sinkt das Niveau, das er als Antiquar durchaus noch innehielt.
Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten 317

Der Bestialitätsphilister ist niederträchtig, der Staatsmann


Spengler zum Lachen, doch auch der Morphologe von unter­
wegs verliert Haltung, wenn Licht von heute irgendwo nur in
sein Antiquariat fällt. Dann nennt unser Staatsmann den Ma1·c
Aurel ein »altes Weih«, das Raubtier findet Lao-Tse und Buddha
nidu lebensbejahend genug, wogegen Bernard Shaw als der
letzte - faustische Philosoph erscheint. So behält Spengler von
fremden Kulturen überhaupt nichts übrig, von den eigenen, ger­
manischen, faustischen nur die Bestie, den Witzbold und die
>>Übergangserscheinung« des Sozialismus. Unsere Kulanz ist
sprid1wörtlich, dod1 als der Kutscher Tycho de Brahes sich einst
verirrt hatte und der Astronom ihm den Weg zeigen wollte:
••Herr«, rief der Kutscher, 11am Himmel mögt ihr euch ausken­
nen, doch auf Erden seid ihr ein Narr.« Spengler kennt sich
zwar nur im Museum der Geschichte aus und gar nicht am
Himmel oder höchstens an einem solchen, der die Geschichte zu
Rotiertrommein herabsetzt, von Schid<salssternen betrieben.
Dennoch gehen, was das Jetzt angeht, Spenglers Rezepte gleich­
falls vor jedem organisierten Kutscher zuschanden; und das
Überhaupt? - ••Kulturen sind Pflanzen, sonst nichts«, sagt die
wütende Geschichtsphilosophie und schneidet sie ab. Bleiben die
Einzelheiten der Morphologie, manch schönes Kapitel, manche
gescheite Bemerkung, manche amüsante Parallele, mancher
Querblick vor allem, wider Willen, und der Fund der narabi­
sdlen Kultur«. Das Herbarienhafte dieser Bildungsgärten liegt
zutage, ebenso wie die biologische Regression, ebenso wie die
Stabilität ohne Fenster, ohne Utopie. Nur wenn ein Eroberer
einträte, der mit den »Symbolen« und vielen Symbolzeugen
etwas anderes anzufangen wüßte als ihre unbetroffene und iso­
lierte Betrachtung; wenn die >>Kuppel und die Alchymie«, der
>>gotische liefenraum und die Analysis als Geometrie derNacht«
in einem versammelten und bezogenen Bedeutungsraum unter­
sucht werden könnten: wäre ein Erbe da, aber eines, das gerade
der Neu-Geschlossenheit dieses Relativismus widerspricht; näm­
lim das Erbe möglimer Bruch-Symbole unseres gemeinsamen
und unbekannten Gesimts. Erst dann könnte ohne Lüge und
Stockung die relative >>Statik« bezeichnet werden, welme im dia­
lektisdlen Prozeß allerdings auch Wirbel smlägt, Verknotungen
J28 Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten

eines historischen » überschusses«, spärliche Paradiese aus man­


cherlei »Kultursymbolen«. Unzweifelbarer Querblick auch
hier, begegnetes Ineinander von Einzelheiten; die stürzende,
mischende Spätzeit kann - trotz aller >>Morphologie« - nicht
anders. Reizvoll das Picasso-Bild des apollinischen Querblicks:
Pinie, Münze, Polis, Statue, Nahiarbe, Flachdecke, euklidische
Geometrie. Träumerisch das Kaleidoskop des magischen Quer­
blicks: Höhle, Kuppel, arabisches Märchen als kuppelhaftes
Schweben des Jenseits im Diesseits, Goldgrund des Mosaik,
Goldgrund der arabischen Naturwissenschaft als der Alchymie,
Sakrament der Taufe. Aufregend die Rimbaud-Mischung des
faustischen Querblicks (der Fern- und Tiefendimension ): Wilde
Jagd, Turmuhren, Langschiff, Apsis und himmelhohes Netz­
gewölbe, Sakrament der Buße, Perspektive und die blaue Fern­
farbe, Kontrapunkt und Analysis, Erfindung des Fernrohrs, des
Scheckverkehrs, der Weltwirtschaft, der Linienzüge in Uner­
meßlichkeit. Die Grundsubstanz dieser Syzygien bleibt unstim­
mig, schon wegen der genießerischen, kontemplativ geborenen
Analogie-Kunst, die hier nSynopsis« treibt; der Versuch immer­
hin ist aus später Misch-Perspektive, und er wäre eben unvoll­
ziehbar, hätten nicht Seitenteile, Trümmerstücke der Betrachtung
gewisse Bedeutungen verraten, welche der geschlossene Gipfel­
blick früherer Kontemplation nicht sah. Es sind aber nur Trüm­
mer der Betrachtung, und sie sind zu lauter stillgewordenen
))Kulturseelen« gerahmt; sie sind zudem in einer Nacht, deren
faustische >>Unendlichkeit« dem Bürgertum pures Nichts ge­
worden ist. Spengler addiert die nKultursymbole«, trotz ihrer
inneren Syzygien, nur tot nebeneinander; keines vor allem hat
anderes zu sagen oder auszusingen als seinen eigenen, imma­
nenten, ästhetizistischen »Sinn<<. Kurz: erst dann, wenn nicht
mehr Tote ihre Toten begraben, bildet auch ganz andere »Mor­
phologie« einen Leib, einen durchgreifenden oder einen, dem
das Erbe lebt. Erst dann ist nicht mehr geschichtliche, sondern
einverleibte Folge, eine Folge durchgehender Menschen- und
Kultursymbole, die der Geschichte das Verschwinden nimmt,
eine Folge von Versuchsgestalten der menschlichen Gestalt,
Schellingisch gesagt: von Silberblicken des herausgekochten
menschlichen Metalls. Bis dahin ist »Morphologie« nur ein
Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten 329

Zeichen, dieses allerdings, und ein gefährliches, vom fascistischen


Feind. Es ratet aber zugleich, daß Dialektik, auf ihrem Marsch
und während der Taten ihrer Entzauberung, die real bleibenden
Schatzhäuser nicht zu besetzen vergesse. Außer den Höhlen des
Ungewordenen und der gärenden Unbestimmtheit, außer den
Erbstücken des revolutionären Bewußtseins sind, rätselvoller
Weise, auch noch die Schatzhäuser stehender Kultur. Von wel­
cher der Feind ein verzweifeltes Inventar macht, nachdem sie
ihm nicht mehr gehört.
P H I L O S O P H I E N VON UNRUHE,
PROZESS, DIONYSOS

DER KLUGE RAUSCH

Auch sonst hält das Ich nicht still. Daher sein Wühlen; von ihm
her beginnt nun, nodunals, eine Suche von vom. Doch mit an­
derer Lust als der blassen des Zweifels. Statt seiner fassen sich
Triebe, die nichts zerfällt. Es muß ihnen vielmehr Platz ge­
macht werden.
Das alles war im Rausd1 bereits, als dumpf. Licllt fiel nur
scllief, gleichsam zufällig herein. Hier nun erscheint es an Ort
und Stelle, als eigenes, das sozusagen Dunkel denkt. Dies Denken
geht in sein Gegenteil, um darin aufzuhören. Zieht seinen Sclllaf
nicht nur über Müde, aucll über Wache, am Morgen, wenn es
schon hell wird. Wenn alle Bilder ein Heute spiegeln, auch dort,
wo sie sich abkehren. So später Sdllaf stärkt selten, träumt nur
unruhig. Dünne Wand überall, wirrer Lärm dringt herein.

D E R GESPRENKELTE URFLUSS

Mancher scheint sicll ohne Blick schon richtig. Ratet dem Kopf,
sich zu legen, in Traum zu legen. Dahin zog Klages vor allem,
bequem, mit papierenem Gesang, auch verführend durcllaus.
Das bewußte Ich soll aufgegeben werden, dann crsmeint ein
Abgrund sozusagen. Worin alles Rausch ist; einer, der sich nicht
vorwärtsbewegt, der auf der Stelle tritt, vielmehr, auf der Stelle
quillt. Jede Art Wachheit, die gesamte Kultur wird als bloßer
gehemmter Trieb verneint. Der Denker Klages will sie mitsamt
der Wurzel abtragen.
Der gesprenkelte Urfluß 33 1

Diese ist ihm verstandeshaft schlechthin, von Anfang an. Der


ursprüngliche Mensch steht gegen den bewußten, gezüchteten,
zuchtvollen, Seele holt auf gegen Geist. Der heutige, gänzlich
ausgelaufene Betrieb ist nur das Ende von Zerstörungen, welche
von vornherein im Willen und Verstand angelegt waren. Alles
dermaßen Gezüchtete ist dekadent, Wachheit die Krankheit an
sich, Geist eine Überwucherung der grauen Hirnrinde. Zahllose
Worte verwendet Klages gegen das Bewußtsein, das das Leben
immer wieder in Ichs und Teile zerfällt; es hat von Anfang
an eine zersetzende, zerstörende, analysierende, atomisierende
Funktion. Nur das Ticken des Ich tötet den Strom, nur die Selbst­
sucht und das Ich-Bewußtsein, das ihr entspricht, bringen den
Abfall von der Lebensganzheit; geistige Kultur überhaupt ist ein
einziger Irrweg von den Lebensquellen fort, die moderne Groß­
stadt der Lohn zehntausendjähriger Instinl<t-Zerstörung. Der
Mensch ist als einziges Wesen aus dem Instinkt und Lebensstrom
herausgetreten, gerade als homo sapiens. Noch die Primitiven
.
meistern ihre Seele nicht, sondern fühlen sich von ihr, als einer
allgemeinen, als einem Bilderstrom, als einer objektiven Macht
gespeist und abhängig. Aber in der »Geschichte« dxang das
molochitische Wesen des Bewußtseins vor, sperrte die .Menschen
in sich ein, fraß die Gemeinschaft mit ihresgleichen wie mit dem
lebenpulsenden, bilderdurchfluteten All. Nur Kinder, Dichter,
Seher, Weise sind zuweilen noch ein Nacl1ldang aus der Urfülle
des Lebens, aus der Weltseele, als diese noch auf Erden ging, aus
der Erdseele, als diese noch die Menschen durchströmte. Aber
sonst hat sich Denken an Stelle der Schauung gesetzt, Begriff an
Stelle des Symbols; bei Platon bereits verschüttete »die bestän­
dige Scheinwelt verdinglichter Begriffe« die »Wirklichkeit stets
augenblicklicher Bilder«. Zwar bahnt sich Klages im Buch »Vom
kosmogonismen Eros« selber den Weg durch eine begriffliche
Vorbetrachtung (mit übrigens recht sorgfältigen Unterscheidun­
gen ), doch derTrieb predigt mit Dichterzitaten und Archäologie
gegen den Geist und schließt mit einer Stelle, die unüber­
trefflich zugleich den schaumigen Duktus dieser Predigt wieder­
gibt. »Wir fassen rückblickend zusammen: in der ekstatischen
Wallung zieht das Leben auf Befreiung vom Geiste - die Voll­
endung besteht im Erwachen der Seele und das Erwachen der
332 Der gesprenkelte Urßuß

Seele ist Schauung- sie schaut aber die Wirklichkeit der Urbilder
- Urbilder sind erscheinende Vergangenheitsseelen zum Er­
-

sdteinen bedürfen sie der Verbindung mit demBlute leibhaftLe­


bendiger - die geschieht im Ereignis der Schauung, das deshalb
eine mystische Hochzeit ist zwischen hingegeben empfangender
Seele des Schauenden und dem zeugenden Dämon - wieder
zu sich gekommen, weiß der Ekstatiker, wenn anders er sich zu
besinnen vermag: daß die Welt der Tatsachen bloß ein schwer
zerreißliebes Hirngespinst ist, die Welt der Körper eine Welt
der Symbole, sdllechterdings wirklich aber die Ausgeburten -
des von der Urwelt befrud1teten Schauens, angesidtts deren
Vergehen und Sterben Wandlung bedeutet.« Kurz, die Seele
befreit sich in allerhand seliger Wallung; hingerissen in dieser
werden das Ich und der Verstand (Geist), hinreißend aber ist
allein das panische Leben.
Immer wieder wird betont, daß dies Leben zugleich alles sei.
Nämlich die Seele des wahren Innen; wo und wie freilich drüd.rt
sie sidt aus? Trübe Wandervögel gehen damit um, deren Motten
ins Licht fliegen. Oder ältliche Räuschlinge oder phantasielose
Kahlköpfe, die ein Haarmittel anpreisen, das ihnen nicht hilft.
Das gesdtieht am dürren Holz, doch audt Klages, ein entsdlie­
dener Wochenend-Philosoph, hat Zeiten, wo die Tiefe seiner
Begeisterung eine ebensolche des Niveaus wird oder verrät. Da
ersdteinen Sätze wie dieser: nMöge sich denn das Buch zu den
alten Freunden diesen und jenen neuen gewinnen!« oder: ))So
dürfen wir der Hoffnung Ausdruck geben, es möge die Neuauf­
lage ohne Gehaltseinbuße an Verständlimkeitgewonnen haben.«
Das mag noch mit den begrifflidten Voruntersudtungen des
Anti-Begriffs zusammenhängen; obzwar man eher ein Wörter­
buch zu Xenophons Anabasis so eingeleitet vermutete als den
Kosmogonischen Eros. Aber auch innerhalb seiner, im durch­
gehenden Preislied ekstatischer Bildschau, crsmeinen gerade
))Bilder« folgender Art: ))die gefangennehmende Durchblutung
eines Stoffes«, es ersmeinen Gleichnisse aus dritter Hand und
abgestandene Geschmacklosigkeiten, Provinzpathos von vor­
gestern: ))in fliederduftender Sommernamt bei ungewiß flak­
kerndem Limterschein«. Es erscheinen Sätze von solcher Kraft
zu untersmeiden Edttes und Falsches, von solcher Echtheit
Der gesprenkelte Urßuß 333

selber wie dieser: ll Wem je auch nur einmal zu rascherem Klop­


fen das Herz bewegte die wolkenbeschattete Meeresferne, die
Böcldins ( ! ) Pinsel erwachen ließ in der schmerzlichen Trunken­
heit seines Tritonenblicks« und dergleichen mehr. Steht dieser
Satz ( 1930 noch geschrieben) für viele und zeigt er, was Böcldin
an Ekstase auf sich hat, so sind doch selbst die besseren über­
wiegend nur Nachklang der Jahrhundertwende, ihres sich
>>Auslebens« und der Spielart eines dionysischen Bürgertums
sozusagen. Die wunderbare Franziska Reventlow hat solcher
Klageszeit sd1on in statu nascendi ihre Parodie geschrieben; einer
Zeit, worin »Eros« und llKosmoscc Atelierfeste geschmüd{t hat­
ten, bevor sie lächerliche Salonworte und ernsthafte Windjacken
geworden sind. Die ))pelasgische Urstoie des Lebens« wird der­
art sichtbar als Münchner Diluvium von 1900: der Hohlraum
von heute füllt sich mit Stimmungen aus Kunst und Literatur
von damals; Böddin erschien bereits, er mischt sich mit Wagner
im Jugendstil, ja, mit Stefan George, als wäre dieser Bruno Wille .
Übrig bleibt die Sucht, ursprünglich zu werden, was dasselbe
s
i t, wie endlich zu leben. Der spätbürgerliche Hunger findet da
drinnen allerhand, worauf Proleten, denen es am Nötigsten
fehlt, noch gar nicht kommen. Daß der heute bewußte Mensch
nicht der ganze ist, merkt er als bürgerlicher untergehend und
taucht nun ganz unter; wovon sogleich. Übrig bleibt weiter die
Sucht gegen das Selbersein von heute, gegen ein künstliches Da­
sein, wor.an kein Segen mehr ist. Das Glück ist rückwärts in der
völligen Entspannung, in Boheme, die die Nacht zum Tag macht,
in Freilicht erst recht, das der städtischen Unwirklichkeit ent­
rinnen läßt. Gern gehen hier Kapitalisten mit, schon um der
Proleten willen, denen das Vorwärts verleumdet wird und das
Kollektiv llnaturhaftcc umgefälscht; doch auch um ihretwegen
lieben sie Moratorium der Technik (als Maschinensturm der
Besitzenden), Sonne dazu, um das Vakuum auszufüllen. Der
Weg ins lebend Innere, drinnen wie draußen, wirkt sogar noch
weiter: er zieht Frauen an, als Liebende wie als Mütter, die müde
Jammerschelle schmüd<t sich mit Grün, jenes Urgefühl täuscht,
das nocl1 Männer zu Frauen macht, nämlich verschießend vor
Pan. Pans Anschein tritt aus dem Sonntagmorgen ins Zentrum
des Lebens; wo Professoren nur das sogenannte »Naturschöne«
334 Romantik des Diluvimn

behandelt hatten, lockt Klages absolut, setzt die Klimax Böcklin,


Wagner, Nietzsche, lehrt einen mit Winterstürmen und Wonne­
mond versetzten Nietzsche. Wieweit das mit den Höhlen des
Mutterrechts verträglich ist ( weldle beim Kenner Bachofens
gleichfalls nicht fehlen) steht dahin; genug: ein kosmischer Fluß
schwemmt Lesefrüchte ans Land, Zweige, Zitate. Mythologis­
men. Ja, er gibt sich als Bilderstrom, herfließend von der Urwelt
und nach Art eines archaischen Kaleidoskops; wovon ebenfalls
sogleich. Zwar sind zitierte Bilder nie so frisch wie neue, doch
eben sie füllen, undeutlich, eine undeutliche Lücke aus, alter
Ersatz tobt, als wäre er uralter. Wunderliche Zeit, weld:te so er­
schüttert ist, daß sogar antiquarischer Staub Klangfiguren bildet.
Welche so in Fluß ist, daß nod1 der zahme Sonntagmorgen wild
über die Ufer tritt.

ROMANTIK DES DILUVIUM

Das also gibt vor, lauter bunter Trieb zu sein. Lauter alter und
breiter, der das Heute scheinbar ausläßt. Zuerst war Klages
nicht so allgemein oder zeitlos; er sah sich, auf seine Weise,
durmaus in1 Leben um, gerade unter den einzelnen Iehen von
heute. Schriftdeutend, charakterforschend, winzige Teile eines
individuellen Daseins isolierend. Andere Triebfedern des Heute
wurden nid1t bemerkt, andere Instanzen nicht gedeutet. Über­
stieg Klages daher die Mauern der Handsduift, des Charakters,
so lag die gefundene Burg nid:tt mehr in der Zeit, sondern ganz
und gar rückwärts. Der Trieb ohne Verstellung, der Charakter
ohne Zaum stampfte dann allerdings vorgesduchtlicll. So näm­
ich,
l wie der miide Bürger sid:t als gewesenen Mensd:ten wünscht
und denkt, wie ihm Wildes und Buntes nachglühen. Die guten
Züge dieses Anfangs werden derart aus erbitterten Träumen
gemalt. Nicht so sehr aus Fülle, die selber eine ist und daher
vergangene trifft, zur Sprache bringt.
DerMensch soll hier nur ein ganzer sein, wo er rast. So voll und
ursprünglid1 war er angeblich vor zehntausend Jahren und mehr,
nämlich als rauschhaft. Aber hat es diesen »ursprünglichen«
Romantik des Diluvium 335

Menschen, diesen Most ohne Behandlung je gegeben? Und


wenn es ihn gegeben haben sollte, lebt irgendwo ein Zeuge
dessen, geht es irgendwo zu diesem unbekannten Adam zurück?
Noch der letzte Buschmann ist kein alter Adam, sondern auf
seine Weise gekerbt, gebrochen, gezüchtet, tätowiert. Wo
immer Menschen sichtbar werden, primitiv, griechisch oder wie
sonst, sind sie erst nach der Mannbarkeit auf ein Leitbild hin
bestimmt worden; »ursprüngliche« Natur ist daran nirgends.
Nur was an Rosen und Tauben gezüchtet wurde, nur diese
»Dekadenzen« oder »Sublimierungen« oder nParadoxe<< gehen,
sich selbst überlassen, wieder auf die wilde Heckenrose, wilde
Felstaube zurück. Doch der Mensch, durch so viel Kulturen von
seinem Ursprung getrennt, findet zu sich als vorgeschichtlicher
Kreatur keinen Weg. Sucht er ihn mit Libertinage, so kommt
nichts als eine Art konstantinopolitanischer Straßenhund her­
aus, an dem Rückstand aus tausend Arten, aber kein Urtyp zu
finden ist. Sucht er den Weg mit Romantik, so entsteht ein auf
Flaschen gezogener Urwald, mit Inhalten, die einer leeren Sehn­
sucht, ungeregelten Dichtung, vollen Philologie entstammen,
jedoch keiner Intuition, die selber urgewachsen wäre. Denn
eben: zum Unterschied von der Heckenrose, Felstaube hat es
den Urmenschen nie gegeben, als einen bewußten oder gar am
Anfang schon definitiven; gerade der »wahre« Mensch war stets
ein Nebel, ja, ein Problem seines Bewußtseins. Er ist als solches
durch immer neue Umbrüche seiner versuchten Lösung gegan­
gen, gerade durch immer neue rationale Leitbilder seiner Iden­
tität. Gerade durch immer neue »Klärungen«, und Bestim­
mungsversuche seines »Wesens«; man kennt die Abfolge dieser
Bestimmungen, man sieht, wie der Mensch in den verschiedenen
>>Kulturen« allemal sein wechselndes Leitbild hatte. Niemals ist
der Mensch ein fertiger Besitz gewesen, sondern allemal eine
Variable über X; auch der dionysische Zustand ist nicht »Ur­
sprung«, sondern der Versuch einer Bestimmung, dem andere
ebenso vorhergegangen sind wie ihm andere folgten und folgen
werden. Wäre irgendwo schon der wirkliche Mensch erschienen,
dionysisch, so stünde die »Existenz« nicht immer wieder vor
der Frage, wie sie leben solle, was sie zu tun habe, welche un­
bekannte Speise auf dem Lebensherd koche. Unsere Welt ist
Romantik des Diluvium

jedenfalls, gerade im radikalen Abbau aller komplexen und my­


thologischen Trümmer, auch der »dionysischen«, an einen reinen
Nullpunkt gekommen, der, wenn er schreit, nicht nach zeit­
fremden Masken schreit. Weder nach Blutschein noch nach Erd­
mythos ( der bloß noch Hitlertum aus sich heraussetzen kann),
noch nach Himmelsmythos (der bloß noch Sonnenglast sagt,
jedoch, bei allen Abgöttern, kein Ostarafest mehr begehen
kann). Gerade die echten metaphysischen Umtriebe, die dem
Großbürgertum noch geblieben und dialektisch braud:lbar sind
(so bei Bergson, dem eigentlichen Vitalisten), verbinden sich
heute mit Wachheit, ja, mit >>Zivilisation«, nicht mit verärgerter
Provinzseele, nicht mit Lenbachtum, das statt Ttzian Diluvium
kopiert. Die schlecht Entzauberten, die sich deshalb ab Bewußt­
seinsfeinde erscheinen, haben mi dionysischen Bewußtseinsrest
noch nie Anderes gefunden als Archäologie, und wollten sie hier
Substanz, so stießen sie erst recht auf heilloses Vorbei. Gerade
die Wurzel zu allen »Mythem : das erstaunte Geheimnis des
Menschen und der Welt - wandert immer wieder neu durch
den Bewußtseinsraum und ist heute näher ausgegraben, unver­
deckter durch falsche Räume als je; so wie sich die wirkliche
Substanz von Mensch und Welt nur m i Geschichtslicht, nicht am
»Anfang« faßt, verwirklicht und berichtigt. Klages hat nur das
Verdienst, statt >>Angst« und »Sorge« auch »Leben« gezeigt zu
haben; im Dasein eines »Subjektscc, das bürgerlich und groß­
bürgerlich kein »Leben<< mehr hat, und deshalb schöne Leid1en
gräbt. Aber erst die Klasse mit Zukunft wird auch dionysische
Vergangenheit gebrauchen und besitzen können. Erst diese Zu­
kunft schlägt aus dem Rausch heraus, was nicht Bestie oder
Phrase ist, sondern noch mögliche Gärung.
Der Mensch soll weiter nur ein ganzer sein, wo er schwärmt.
Damit wird er sichtig, nachtsichtig, dem Ich entrüd<t, die Seele
wird schauend. Das geschieht im Glück der Kinder und Dichter
einsam, doch der eigentlich schöpferische Rausch, der erotische,
schmilzt Körper, Seelen,Welt völlig in eins. Dies überhaupt sind
die drei großen Schmelzweisen des Rausches: die heldische, die
erotische und die magische; ihr Orgiasmus führt allemal Ich und
Geist wieder in Entrückung. Der Ichtod des heldischen Rau­
sches geht durch den Kriegertod des Leibes, der Ichtod des
Romantik des Diluvium 337

magischen Eros durch » wollüstig-selige Ekstasis << ,worin die Seele


ihr Bild wie das ihrer Schau-Inhalte von der Tunehe der Jahr­
tausende befreit. Der heldische Rausch hat einem ganzen Zeit­
alter der spätpelasgischen Menschheit den Namen des Heroen­
zeitalters gegeben; der magische Rausch kulminiert gleichfalls
in purer Hingabe: also nicht etwa in Willenskraft und Zauberei,
sondern in Totenkult und Gestirndienst. So verweiblicht Klages
noch Heldentum und Magie; er halbiert Nietzsches Heroismen,
indem er ihnen den Willen zur Macht entzieht; er »halbiert<<
Nietzsches Teleologie: der Mensch ist nicht etwas, das über­
wunden, sondern bloß etwas, das archaisch umgangen, entzielt
werden muß. Klages halbiert noch Bad1ofens Pantheismen,
indem er wesentlich nur ihr Nachtseite gelten läßt, nämlich das
Mutterrecht und die Erdgöttin, Apollo gilt nur ohne »Apollo­
nismus((. Halbiert ist sogar noch die Nachtseite, sofern Klages
alles Leid und Negative, alle Härte und Menschenfeindschaft
daraus entfernt; sein pantheistisch-mythischer Vitalismus ist
ebenso ein - monistischer, ein Lebens-Monismus mit dem Beha­
gen Böcldins, fast Haeckels. Gegensatz ist lediglich der Geist,
und dieser steht, als Daimon ex machina, außerhalb des Lebens;
Biozentrik ist ohne Schmerz, wie im Traum, ist erdseelischer
Zusammenhang mit dem unbewußten Walten, ist voller Ein­
klang mit dem rhythmischen Ausgestalten des Lebensstroms
und seiner Bilder, seiner puren Bilder. »Gezüchtet(( ist nach
Klages auch das heroische Denken des »Ethikers<<, dessen Ob­
jekt die Person des Menschen in ihrem Widerstand zur Welt
bildet: urtümlich allein das kosmisch-organische Bildsehen des
»Metaphysikers<<, dessen Objekt das Ableben der Natur ist.
Man hat Mesmers »Allfl.uidum<< wieder, ohne Heilkraft, doch
ästhetisch; man hat den »siderischen Sturm(( des Paracelsus,
ohne medizinische Praxis, doch mit fascistischer. Denn der Feind
auch hier bleibt die Vernunft, sowohl als moralische wie als in­
tellektuelle, sowohl als Selbstbeherrschung wie als » Vergei­
stigungsschwindel«, sowohl als Sokrates wie als Jesus. »Wessen
der Geist sich bemächtigt, das ist unfehlbar entzaubert, und es
ist mithin zerstört, wenn es dem Wesen nach ein Geheimnis
war. Die geistige Bemächtigung ist Frevel am Leben, und dar­
um trifft den Frevler der rächerisd1e Rückschlag des Lebens.
Romantik des Diluvium

Dieser Satz wird wahr bleiben, solange es eine Menschheit gibt,


und er wird sich furchtbar bewährt haben, wann die entartete
Menschheit an der rationalistischen Entzauberung Res Lebens
verendete.« Sokrates und Jesus waren auch bei Nietzsche die
Schibboleths dieses Verderbs; aber Sokrates wird bei Klages der
erste Vertreter der ))rassefeindlid:len und internationalen Ver­
nünftigkeit« überdies, und Jesus gar verleumdete nicht nur das
»prachtvolle Menschentier<<, sondern sein Wachen und Beten
verschüttete nach Klages auch die »gebärerische Zone heiliger
Mythen, die vor dem Blidc des Weihelosen ein Dickicht schauer­
voller Mythen barg<<. Der Sinn des ))Metaphysikers« mag diese
Mythen als Urgut meinen und die Menschen, welche ihre Ent­
rüdmng daran haben, als archaische; doch bei Klages werden es
mehr wagnerianische, jene, von denen es im »Geist der Utopie«
heißt, sie seien ))tanzende Schiffe, die widerstandslos das Leid,
den Kampf, die Liebe und Erlösungssehnsucht h i res unter­
menschlichen Meeres mitmachen, und über die in jedem ent­
scheidenden Augenblick die Weltwoge des Schopenhauerschen
Willens hinweggeht«. Dergestalt eben betont Klages konse­
quent die ))wollüstig-selige Ekstasis« als einzigen Quellpunkt
echter Erleuchtung, als genuine Vermählung des Lebenswillens,
der hier Lebenstrieb genannt wird, dod1 in gleicher Art mit dem
Menschen durchgeht, als Widerstand h i n absetzt. Gewinn wird
dem Schauenden freilid1 dies: >>Wer die Form des Personseins
in der Ekstase sprengt, für den geht m i selben Augenblidc die
Welt der Tatsachen unter und es aufersteht ihm mit alles ver­
drängender Wirklichkeitsmadlt die Welt der Bilder.« Diese Bil­
der nun - zentralster Teil der Schwarmschau - haben bei Klages
vier Bestimmungen; alle vier wollen sie von bloßen Begriffen,
auch Ideen unterscheiden. Sie sind erstens inwendig geschaut,
der Mensdl ist mit ihnen träumend m i inneren Blühen und
Wachsen einer Blume selbst. Sie sind zweitens nur im augen­
blicklichen Erleben und ein einziges Mal da, fließend mit dem
Augenblidc ihres Erlebtwerdens, und ein Nu, der den Menschen
und die Welt im gleichen Anfang verschmilzt. Bilder werden
von der Seele empfangen, und was sie befruchtet, mit einem
Blitz befruchtet, ist die außermenschichl ersdleinende Seele; so
daß Bilder nicht das begrifflich festhaltbare Wasserding oder
Romantik des Diluvinm 339

Waldding, sondern Erscheinung der Erlebnisseele sind: als


Woge, die von innen schwillt und sich hebt, als das Sturmver­
fangene des Baums, als der Wald, »während er flammt in Glu­
ten der Abendsonne«. Drittens duldet das Bild keine mögliche
Nähe, keine Greifbarkeit wie das Ding, sondern ist Ferne
schlechthin, seine Höhenzüge sind allemal blau umflort. Was
aber in dieser Bildferne erscheint, die eigentümliche Klangfarbe
der Sehnsucht in ihr, was an den Sternen gerade durch Abwe­
senheit glänzt und sie zu begehren verbietet: diese Ferne ist alle­
mal zugleich das Urvergangene. In der räumlichen Distanz eines
Gegenstandes erscheint seine zeitliche (Zeit ist die Seele des
Raums, Raum der Leib der Zeit) ; und zwar erscheint sie nicht
etw·a als Ferne der Zukunft, die bei Klages zum unwirklichsten
Hirngespinst wird, sondern lediglich als Ahnenbild, als Toten­
kult des im Gegenstand geschauten Fernbilds -: l>Wolkenwand­
lerisch über Bergesfirnen, im täuschend entlegenen Sterngefun­
kel zieht ewig abschiednehmend ewig die Vorzeit vorüber«.
Wegen dieses eigentümlichen und verhangenen »Ferndufts«
sind Bilder nach Klages auch nur durch Symbole wiedergebbar;
diese sind die Schriftzeichen, um sich ekstatisch erschauter Bil­
der in den Zwischenräumen der Nüchternheit zu erinnern: ))ist
der Begriff der Ausgangspunkt der wissenschaftlichen For­
sdlung, so das Symbol der Ursprung des Mythos«. Viertens
schließlich ist das Bildleben nidtt still, sondern sdtießt immer
neu auf seiner uralten Stelle durcheinander. Bilder »existieren«
nid1t wie Dinge, sie sind vielmehr in dauernder Verwandlung;
statt der toten Begriffsdinge des Verstandes »ist der Grundzug
des gesamten I\-:ythoswesens die Metamorphose11. So beschreibt
Klages - orphisches Griedtenland: ))Alles bewegt sich und wan­
dert, kündet sidt an, entfaltet sich und entschwebt, und so lebt
es denn; Triebe und Wünsd1e, Verlangen nach Sättigung oder
Begattung, Krieg und Verbrüderung ballen das Luftige, lösen
das Feste, ziehen das himmlische Feuer in die Umarmung der
Sümpfe, senden als Nebel das nährende Naß in die Gluten der
Sonne. Der Glaube an Allebendigkeit, an Panmixie und unab­
lässige Wandlung durchblutet den Mythos wie die Systeme der
frühesten Denker.« Kaleidoskope also auch hier, in der neuen
))Sumpfzeit«, weldle Klages im Hohlraum reflektiert: »Das Bild
Romantik des Diluvium

des Menschen löst sich in die Meteorilien, die Meteorili�n gerin�


nen zum Bild des Menschen. Farben, Formen, Klänge, Geräusd1e,
Düfte scheinen in ihm zumPandämonium aller Bildelemente ver�
schmolzen; und dennoch leuchtet es schimmernd und überklar,
einem bald drohenden, bald verheißenden Antlitz ähnlich.((
Metamorphose ist derart die letzte Bildbestimmung; Metamor�
phose auf einer imaginären Bühne, der die Urzeit ihren Ha�
schisch hereinschickt, ihren Proteus freilich auch. Wieder ist ein
Tribut gestaltschauender Tugend an das hohlräumige Laster
unverkennbar; wieder auch ist dieser Tribut auf dem Boden
bloßer Kontemplation, ja, eines effiminierten Ästhetizismus
nicht auszahlbar. Wieder kann erst eine Klasse mit Zukunft den
))Fernduft des Horizonts(( und die »Bilderc<, welche darin ste�
hen, gebrauchen unddasVerkapselte heraussprengen: nämlich die
in eine unabgegoltene Vergangenheit eingekapselte Zukunfts�
bedeutung der Bilder. Wieder, vor allem, macht das Spätbür�
gerturn - Metamorphose frei, jenes wohlbekannte Wesen, das
man Traum-Montage hier nennen könnte, wäre nicht so viel
(scheinbare) Bewußtlosigkeit dabei. Bei Klages utopisiert sich
nur Vergangenes als solches und ewig; der Traum des Vergan�
genen wird zur Vergangenheit des Traums, zum Totenkult, we�
niger noch: zum Totenkult der - Totenkulte selber. Zukunft,
sagt Klages, ist lediglich eine nach vorn projizierte Vergangen�
heit; zum Teil völlig richtig, aber dahin zu ergänzen, daß es
Vergangenheit, welche lebt, Tote, welche erweckbar sind, leuch­
tende Chöre der Vorwelt anders auch gar nicht gibt.
Das letzte Wort zu diesem Trieb, vor allem zu seinen Bildern,
ist noch nicht gesprochen. Noch lange nicht; denn hier ist ein
geladenes Feld, und es reicht viel weiter als das späte Schwär­
men oder gar als die alten Mahnmale. Sehr träumerisch will dies
Bürgertum aus dem verdinglichten Begriff heraus; sehr wenig
aber, das liegt auf der Hand, kommt es über schönen Rauch hin­
aus. Die Unlust dieser Betrad1tungsweise, Bilder ernst zu neh­
men, ist evident; sie hängt aufs genaueste mit dem bloßen Fern­
Rausch zusammen. Dieser wird von Klages zwar als Vehikel der
Sehnsucht selber begrüßt; aber gerade die alte Zeit, wo echte
Bilder noch lebten, oder jene neue, die sie echt innehat, zeigt den
Wunsch, sie auch tätig-nahe zu erfüllen. Die echte Klangfarbe
Romantik des Diluvium 34 1

der Sehnsucht schlug im Volkslied bekanntlich so aus: ))Wenn


ich ein Vöglein wär, fiög ich zu dircc; und die Griechen gar, an
deren Lebenskult Klages mitlebt, kannten überhaupt keinen
Eros der Ferne, ihre Welt ist Leib, Polis, Küstenschiffahrt des
Begriffs. Ja, selbst die romantische Ferne sprach noch von
künftigem, von erreichbarem Glück,sie zog nicht,wie der Klages­
sehe Karneval, bloße Sdleinrenten aus einem längst vergangenen,
noch in der Vergangenheit fiktiven Kapital. Hat die Klagessche
Bilderlehre das Ding recht vital zu hintertreiben versucht, so
gibt ihr Ästhetizismus dem Bild selbst doch wieder Dingcharak­
ter, nämlid1 den des Faktums: nidlt mehr im Sinn eines ))Ge­
machten«, wohl aber eines längst 11Gewordenen« und Gewese­
nen. Die Brücke zur Zukunft, an der gerade Nietzsches sämtliche
Traumstätten gelegen waren, sind abgebrochen, die Teleologie
schrumpft zum Tao der Urzeit, das Kinderland wird zum blü­
henden Antiquariat, Zukunft überhaupt - mit einem Mut der
Paxadoxie, der an Nonsens grenzt - aus der Welt herausgeleug­
net. Und das Alleben, das romantische Alleben, wohin die riesige
Metamorphose inlmer wieder zurückkehrt, in ebenso breiter,
wie hoffnungsloser Unbestimmtheit des Seins und Ziels? Von
dieser Lebendigkeit gilt erst mit Fug, was Jean Paul einmal, in
einem Brief an Jacobi, von Schellings Weltseele bemerkt hatte:
nDas Positive, worauf ich durch das ganze Bud1 hoffte, weiß er
nicht weiter anzugeben, als daß es im Allgemeinen überall sitze
und sich bei glüddichen Anlässen als Vieh etc. zeige<<; so biozen­
trisch ist die Sinnlosigkeit - nid1t Schellings, wobJ aber eines
Panvitalismus beschaffen, der aus dem Leben den Menschen
herausläßt und aus dem Menschen Werwölfe, Traumbilder,
Ahnenkult, Tierkult macht. Die Frage nach wahr und falsch ist
Fascisten ohnehin unbeliebt; sie entfällt im Traum, sie verlischt
im Ästhetizismus, und die Klagessche Mythologie läßt sie erst
recht verlöschen. Die Panmixie des richtungslosen Sinns spürt
unter ihren Elementen selbst keinen Unterschied der >>Bilder« :
nämlich, ob sie von I>Dämonen« sind oder von dem, was sie ver­
scheucht. Wo alles hinnehmend, alles nur urvergangenes Sehen
ist, wird alles auch zu Sage und Bann; dergestalt, daß das Mär­
chen etwa, dieses Feuer gegen die Raubtiere des Mythos, nur
als verkleinerter Mythos bei Klages erscheint, nur als »der
Romantik des Diluvium

kindliche Nebenschößling des schauenden Lebens<C. ErJt recht


lebt im Kaleidoskop des Ästhetizismus noch keine Dialektik; als
welche ja nicht statthat, wo Gegenstände selber zum urbild­
liehen Ein und Alles werden, sondern (selbst mythisch) nur dort
j
ist, wo das Ein und Alles in jedem Gegenstand diesen ebenso
als Widerspruch zu dieser Allheit entwickelt und im Wider­
spruch auf den Weg schickt, auf einen von Figuren begangenen,
nicht von Fernbildern beschienenen. Dennoch, wir wiederholen:
das letzte Wort zur Bilderlehre, gerade in der archaischen Ver­
kapselung und »Panmixie<C, worin sie dem Hohlraum erscheint,
ist noch nicht sprechbar. Klages, ein dionysisdles Grabgeläute
der bürgerlichen Kultur, ist ebenso die ausgeführteste, die kon­
sequenteste Romantik einer älteren, ja, der ältest bekannten ­
sub specie des spätbürgerlichen Hohlraums. Nicht grundlos
erscheint selbst an dieser Stelle, im Zentrum dieser Stelle, das
Wesen Panmixie; ein »orphisches Griechenland« im spätkapita­
listischen Flucht- und Mischraum. Ein weiches Wesen und ganz
aus Masken, jedoch die Masken tragen Symbole und erinnern
aus dem Scheinfluß, worin sie sind, daß auch der echte voller
Bildversuche ist, voller Gleidmisse eines All im Unterwegs.
Konkrete Dichter haben solche Bilder stets notiert, Denker nur
nebenbei oder als Hilfsmittel: ihr weittragender Erkenntnissinn
steht aber, nach Abzug des Kalküls, vor der Tür; denn oft sind
die Spiegelungen eines unbekannten Endes, eines nodl nicht
vorhandenen Alls im kleinsten Detail. Dazu taugen die bloß
archaischen und vor allem konternpliert archaisch gehaltenen
Bilder eines Klages nicht, wohl aber die echten: teils aus Archa­
ismen ausgewickelt, teils neu im Unterwegs entstanden, gerade
aus dem Exodus des Unterwegs. Insofern tauchen sie aus der
Unruhe der Dialektik auf, sie betten sich unterwegs schon ein
als ebenso weitertreibende wie ,,bedeutungsvolle«, als Tendenz.­
Gestalten nicht nur, sondern fast schon als mögliche Tendenz­
Endgestalten; solche »Symbole(( sind und bleiben Knoten in der
Analyse, kleine Azoren im Prozeß. Fragt man nach diesen
echten Bildern, so ist hier nicht der Ort, sie zu entwickeln; nur
so viel: es sind bereits die im Märchen enthaltenen Wunsch­
bilder, es sind vor allem die Hoffnungsbilder des betroffenen
Staunens (nur dies ))Schaudern(( st i ))der Menschheit bestes
Romantik des Diluvium 343

Teil«), es sind auch jene »Formen« der Erhabenheit, welche,


wie Kant sagt, eine Ahnung unserer künftigen Freiheit über­
mitteln. Und gerade diese Bilder werden nur von der Höhe des
fahrenden Bewußtseins her konkret sichtbar, von jenem Neu­
esten her, das das ))Älteste« allein mit sich führt, um es - in
voller Wachheit - aufzulösen und zu beerben. Bei Klages selbst
gesd:lleht das mitnichten, seine Rückschau ist, an Ort und Stelle,
vom echten Bild so getrennt wie das Moratorium der Technik
(um des Kapitals willen) vom sozialistischen Zweistundcntag.
Falsches Waldweben schwärmt in der Brust, »dämonisch-eksta­
tisches Verhältnis zur Welt« erleichtert nur den weniger ekstati­
schen Verhältnissen das Geschäft. Die Rechnung des Daseins ist
dem Kapital zu schwierig geworden; wie wenn ein Schulknabe
Gleichungen zu lösen h2t, aber das X wird eine riesige Bruch­
zahl, und er merkt daran den falschen Ansatz: so wachsen dem
kapitalistischen Kalkül die Kompliziertheiten über den Kopf,
und seine Irrationalen verlassen die Schule, ziehen aufs Urland
der Triebe oder des Eros, der alles begonnen. Es hat aber kein
vorhanden und schon ))wirklich« gewesener ))Urmensch« je
gelebt, jeder vermeintlich alte Adam war stets nur der »}esus«
einer vorhergehenden Brechung und Bestimmung des mensch­
lichen Kreatur-Dunkels: daher ist alles ))Erste, wirklich Älteste«
noch unbekannt, ist, wie wir sagten, ein dauerndes Problem des
Bewußtseins und als gelöstes, als »Urwirklichkeit des Men­
schen«, als die ganze ))Urwirklichkeit« selbst erst am Ende da.
Gerade der wirkliche Anfang (der im archaischen bestenfalls
spukte oder eingehüllt umging ) lebt immer nur auf den Gipfeln
des wachsten Bewußtseins, nicht im Aufguß des Unbewußten,
das man mit Recht ))Entspannung« nennt. Oder wie ein arabi­
scher Philosoph gesagt hat, Ibn Tofail, derselbe, der den ersten
Robinson geschrieben hat (den frisch anfangenden Menschen):
))Der Lebende ist des Wachenden Sohn.«
IMAGO ALS SCHEIN AUS DER >>TIEFE«

MandunaJ quälte ich den Vater, er soUe die Mappe


bringen lassen. Und manchmal war ich nicht dazu zu
bringen, noch ein Blatt mehr zu sehen, lief mitten drin
fort und wurde gescholten. Ich könnte es auch heute
nicht sagen, ob mir die Erinnerung an diese schwarzen
Zauberblätter lieb und kostbar oder verhaßt ist. Aber
nahe gingen sie mir, in mich hinein drang eine Gewalt
von ihnen, und ich glaube, ich werde auf dem Totenbett
noch sagen können, was für einen Hintergrund das
Meerwunder hat oder der Einsiedler mit dem Toten­
schädel. •Das ist das alte Deutschland", sagte mein
Vater, und das Wort klang mir fast sduuerlich.
Aus der Romantik

Seitdem geht der tl'äumende Trieb noch tiefer um. Man baut
auch seelisch den Tag ab, um zu diesem Dunkel herunterzu­
stoßen. Ärzte zum Beispiel bewundern an Irren das Dunkel oft
mehr, als sie es heilen; so in mancher neueren Schule, in der
Jungs vor allem, die aus Freud ausgebrochen ist. Auch hier ist
der untere Mensch der wirkliche und der Kopf nur richtig,
wenn er wieder singen kann, was die Leber meint. Oder das
Herz; denn die Lichter werden umgestellt und sie bescheinen
sehr alte Dinge. Mancherlei Traum spült sie von unten herauf,
er kann nicht unbewußt genug sein.
Zwar auch Freud war nad1 unten gegangen, ja, er nahm zu­
erst den Traum als Weg. Erst recht setzte er den Trieb als
Grund, den Geist als Reflex; aud1 seine Welt ist dunkel und der
Trieb als Libido genügend >>irrational(<. Aber baute Freud auf
den Grund ab, so geschah das nicht mit den Mitteln des Grunds,
sondern mit hellstem, analytischen Bewußtsein. Und der Gang
ins Unbewußte war ihm erst recht nicht die Heilung, sondern
heilend ist allein das schärfste Bewußtsein, sofern es die ))Kom­
plexe«, also gerade die Unbewußtheit des Unbewußten durch­
sticht. Dagegen nun gehen heute die Liebhaber des Traum­
dunkels an, die Prinzhorn, Jung, Klages, die offenen oder
Krypta-Fascisten der Psychologie. Sehr interessant hier, wie
die Fascisierung der Wissenschaft gerade jene Elemente Freuds
ändern mußte, die noch der aufgeklärten, materialistischen
Periode des Bürgertums entstammen. Das fängt schon mit dem
Imago als Schein aus der »'Iiefea 345

Trieb selber an, er ist bei Jung nicht nur geschlechtlich, sondern
gierig, wild und träumend schlechthin. Vor allem ist das Unbe­
wußte hier nicht mehr individuell, also kein erworbener Zu­
stand im einzdnen, gleichsam liberalen Menschen, sondern ein
Schatz der rezent werdenden Urmenschheit; es ist ebenso nicht
Verdrängung, sondern gelungene Rüd{kehr, nicht Ursprung
der Neurose, sondern gegebenenfalls deren Heilung. Freud geht
diesen DQnkelfreunden gerade zu wenig weit zurück; denn e.r
sieht nur die gefälschte Person des XIX. Jahrhunderts und
glaubt sie geheilt, wenn er sie auf den bürgerlich-normalen
Menschen von heute bringt. Er sieht die Verlogenheiten der
Plüschzeit in theoretisd1 ziemlich ähnlicher Linie wie die dichte­
rische oder religiöse nLüge«, nämlich beides nur als uSublimie­
rungen«, mit verdrängter Libido als Kern. Jung dagegen über­
springt diese aufgeldärte, auch allzu aufgeklärte Entzauberung
und sucht das Recllt, ja, genau: das Urrecht der künstleriscllen
Phantasie, der religiösen Mythen; er sucht es eben im Unbe­
wußten, als dem nunabdingbaren« Urwert der Traumwelt.
Bereits die sexuelle Libido wird hier bürgerlich geschönt, Jung
nennt sie uLiebe«, manchmal auch >>psychische Energie«
schlechthin; das klingt nid1t mehr anstößig. Therapie aber ist
Rückkehr ins Unbewußte mit bestem Gewinn, das heißt: der
neurotiscll Amoralische hat seine verdrängte Anständigkeit zu­
rückzunehmen, aber der Neurotiker aus Moral ( der häufigste
Fall) muß sich mit seinem unterirdischen Dämon gerade da­
durch auseinandersetzen, daß er sich mit ihm zusammensetzt.
Das nAcherontische<<, das Freud seiner Traumdeutung nur als
Motto vorgesetzt hatte, wird dergestalt von seinen fascistischen
oder krypto-fascistischen Namfolgern, von den Benutzern
Bacllofens und der Romantik ins Tempelinnere selbst gebramt.
Wobei freilich die ebenso unabdingbare Bedeutung einer Person
den Dunkelfreunden einen Streidl spielt, den sie noch im Tem­
pel selbst verspüren. Denn eben der alte Freud, der Lehrer des
nTodestriebs«, pflückt kraftseiner bedeutenden Person zuweilen
Früchte des Altwerdens, geht gerade in »Tiefen« , wie sie seit
dem letzten Goethe kaum formuliert worden waren: wogegen
Jung, mit seinem »ozeanischen Gefühl«, mit einer Tiefe, die sich
unaufhörlich als solme bekennt, die aus lauter Tiefe noch »alle
Imago als Schein aus der »'Iiefe«

Religionen bejaht«, entweder nur antiquarische Lesefrüchte


nach Hause bringt oder die Tiefe in solcher Allgemeinheit be­
redet, in solch abstrakter Allbetroffenheit, folglich Unbetroffen­
heit, - als wäre gerade hier Aufldäricht und Fore!, wenn auch
ein Fore! der Mystik. Schließlich finden die Jungs am N�tional­
sozialismus so viel gute Kerne, daß dieser fast wie eine Sonnen­
blume aussieht und sie - beleuchtet. In Träumen erscheint, aus
Träumen gebiert sich das verlorene Land des ))instinkthaft siche­
ren Lebenssinns«.
Ein älterer Mensch jedenfalls als der heutige wird hier zu
wecken versucht. J ungs Kranke klagen nicht, weil sie ihre ge­
schlechtlichen Triebe nicht ausgelegt haben. Ihrem Dasein fehlt
vielmehr der ))Sinn « : bis zu vierzig Jahren leiden sie an der
Unfähigkeit, ihr Leben in Angriff zu nehmen, nachher finden
sie sich mit dem ihnen Gewordenen nicht ab. Jung heilt diese
Kranken aber nicht, indem er sie allergrößtenteils als Patienten
der heutigen W1rtschaft und Gesellschaft begreift. Sondern nur,
indem er ihrer ))abgeschnittenen Seele« mythische Verbindun­
gen schafft (und durch diese ))Ergänzung« den Kapitalismus
erst recht befestigt). Das Ergebnis ist eine » Umlagerung der
Persönlichkeit im Sinn einer Neuzentrierung, bei welcher das
Ich dann nicht mehr den Mittelpunkt der Persönlichkeit bildet«.
Der Kapitalismus-Patient hat vielmehr einen Ansdtluß ans All
gefunden, an jenes All zuletzt, das im Kollektiv-Onbewußten
einer archaischen Menschheit ruht und unser Verlust, also unsere
Krankheit ist. Die Mutterbindung etwa in vielen Neurosen ist
keine an die individuelle Mutter allein, wie Freud lehrt, sondern
an ein uraltes, generelles Mutterbild. Dieses wird in Jungs
Sdtule nicht durch Aufklärung beseitigt, sondern durch Mythi­
sierung verstärkt, damit es seine Heilkraft entfalte: es ist ))Ima­
go«, mehr noch: der ))Archetyp<< der Erdmutter, der sich im
individuellen Komplex jeweils belebt. So sind überall, durch das
mechanisierte Dasein, erst recht durch ))kindischen Aufklärungs­
wahn<<, wesentliche Bedürfnisse ihrer Befriedigung und ihrer
Korrelate beraubt, nämlich der mythischen. Und: wie das X1X.
Jahrhundert, ))nur als dünne Staubschicht über dem Uralter der
Seele liegtc<, so verschafft die Erweckung dieses armaiseben All­
gefühls Jüngeren eben den Übergang in die Aktivität, Älteren
Imago als Schein aus der »'liefe• 347

den Anschluß an ei nen v erlorenen >>Lebenssinn «.Ungeheuer lich.


w ird von h ier aus der Heilwert kü nsderis ch.er oder r e ligiöser
»Phantasie « betont; denn sie vor a llem führt ja jene Gestalten
herauf, de ren der jeweilige Zeitgeist ermangelt. S ie vor allem
belebt die »Ar ch.etypen der a lten Tr iebb ilderwelt « und »über­
setzt s ie in gegenwärtig verständliche Sprache «, damit das bloße
Bewußtsein s ie fasse. »Wer mit Urbi ldern spricht, spricht wie
mit tausend Stimmen, er ergreift und überwältigt , zug le ich
erhebt e r das, was er bezeichnet, aus dem Einmaligen und
Vergänglicllen in die Sphären des im mer Seienden , er erh öht
das persönliche S ch icks a l zum Schicksal der Men schheit, und da­
durch löst er auch in uns a lle jene hilfreichen Kräfte, die es der
Menschheit je u nd je ermög li cht haben, s ich aus aller Fä hrnis zu
retten und die längste Na cht zu überdaue rn.« Kurz, der »ho lde
Wahnsinn « in Kunst und R e ligion ist kein Symptom von Krank­
heit, sondern ein Symbol von Heilung; im Opiat ur vergangener
Träume ist hi er die let zte, die substan zie llste Kompensation
einer »unbefr iedig ten Gegenwart «. Jung beschwert we nig, daß
ni cht a lle Neurotiker Ph ilosophen s ind, deren Grü be lei der
»Lebenssinn « ist . Daß sich darun ter auch - Erwerbslose befin­
den, denen nicht erst die Neurose den Übergang in die » A ktivi­
tät « er schwert.Daß aber ein Mar xismus lebt, der die Krankheit
des »Lebenssinns « n ich t m it Seelsorge behebt, sonde rn mit
R e v o lutionen zerstört. Wie dem immer sei, dieser Krypta­
Faseismus reimt Kunst a ls Religionsersatz, Religio n a ls Lebens­
ersatz und beides für eine müde Bourgeoisie ; es ist David Fried­
r icll Straußens »Alter und neuer Glaube << in mystagogischer
Ausgabe.Es is t ein Äs thet izismus, der alle »Archetypen <c wahl­
los liebt, wenn sie nur recht t ief im Altertum stecken , im rnöglicll
u r vergangenen, zeitfreien, prozeßentrückten . So e n tsteht »Psy­
chosynthes e < c , nämlich s ynthetische Versammlung und Führung
zum »Erbschatz ursprünglicllen Fühldenke ns <e; so s ind im
Archaikum sämtli che Kategorien schöpferis cher Phantasie vor­
auf enthalten, un vermehrbar . Schütte lt freilich auch solch t iefe
Urseele ndi e dünne Staubsch icllt des XIX. Jahrhunderts «, ja,
>>fünftausend Jahre Zi vi lisation« m ühelos ab, so gehen ihr die
paar Jahre Fas eismus immerhin erstaun lich nahe und haben die
Ka tegorien ihrer Phantasie offenbar doch vermehrt, nämli ch
Imago als Schein aus der »'Tiefe«

um die des Abschüttelns selber, um Tarzan in der Psych blogie.


Unter Archaismen läßt sich gut munkeln, laut bramarbasieren,
wenig verwirklichen, vor allem geschieht nichts Neues unter
ihrer Nacht. »In jedem dieser Bilder« , sagt C. G. Jung, »ist . . .
ein Stück Leid und Lust, das in der Ahnenreihe sich ungezählte
Male ereignet hat und durchschnittlich auch immer denselben
Ablauf nahm.« Imago ist also nicht einfacher Schein, sondern
Schein aus der »Tiefe«; und diese »Tiefe« ist bei C. G. Jung eine
hoffnungslose, angeblich urgewesene. Sie begrenzt daher nicht
nur künstlerische Phantasie, sie ekrasiert erst recht revolutio­
näre oder den Vorstoß ins noch nicht Bewußte, noch nie Ge­
dachte, nie Erfüllte. Alle Heilung sowohl wie alle Schöpfung
ist Rückverbindung mit den alten Mächten und Bildern des
Lebens, ist gerade - Nichtschöpfung.

Selbst diese Flucht, wenn sie wirklich zu Ende ginge, käme


dort nicht an, wohin sie geht. Die Jungs sind sehr gefühlig und
genießen das Dunkel nur wahllos von außen, sonst merkten sie
seine Schleife. Das Archaische nämlich ist nicht so dumm wie der
Blutmythos (der dafür hübscher ist), nicht ganz so wesenlos
wie dieser ad hoc gebaut. Diese Psychiater freilich haben die
»urtümliche« Phantasie bloß als gebildete Phrase und haupt­
sächlich als Opiat; sie haben das »Fluidum« von Klages, so wie
dieser es aus der Romantik hat oder äußerstenfalls aus der
»Dithyrambik des Untergangs «. Darum sagt Klages im dritten
Band seines Geist-Seele-Buches, 1932, von den dithyrambischen
Ta ten mit Recht (obwohl er die liberalen meint) : »Die Erde
raucht vom Blut Erschlagener wie nie noch zuvor, und das
Affenmäßige prunkt mit den Spolien aus dem zerbrochenen
Tempel des Lebens.« Malt der erste Teil des Satzes Kapitalis­
mus plus Mord, so illustriert sein letzter den telepathischen
Diebstahl auch nid1t übel, womit » Urseelen« echte vorwegneh­
men, Tarzan-»Urbilder« Geheimnis kopieren. Doch wo das
Bürgertum weniger müde und diebisch war, in den revolutio­
nären Anfängen seiner Phantasie, im Sturm und Drang, vor
allem bei Hamann, als dem wirklichen Magus des Nordens,
zeigte sich im Archetypisd1en gerade die vertrackteste Dialektik.
Es zeigte sich: jeder Weg ins »Unbewußte des Anfangs« ist
Imago als Schein aus der >Tiefe« 349

ebenso, streckenweise, ein Verkapselter ins noch nicht Bewußte


dessen, was in den Menschen steckt und in ihrer Geschichte noch
nicht wurde. Gerade im kollektiv-archaisch Unbewußten, das
eine reaktionäre Psychiatrie gegen Freuds bloß persönlich Un­
bewußtes ausspielt, ist selber - neben unvordenklichem Unsinn
und Aberglauben - ein noch nicht Lautgewordenes verkapselt;
ein Ungewordenes im Menschen, das selbst in den größten
))Offenbarungen« historischer Kunst und Religion noch nicht
herauskam. Auch dies noch nicht Lautgewordene ist zwar in
brütenden Bann ganz anderer, nämlich völlig versunkener und
verschlackter Art eingehüllt; die reaktionäre Brauchbarkeit des
••Mythos<< stammt ausschließlich von diesem Bann. Jedoch dar­
über hinaus, ja, in der Einkapselung einiger Mythenbilder selbst,
ist zuweilen eine Märchenchiffer noch ungewordenen Lichts
und der utopischen Glücksländer, Bedeutungsländer, welche es
beleuchtet. Daher das Auftauchen dieser ••Primitive« in allen
Zeiten ed1ter Revolution und eben auch in der Betrugszeit,
Mischzeit der fascistischen >>Revolution«. Daher aber auch ein
Dasein dieser »Primitive« in allen noch nicht ausgekoruten Kul­
turen, selbst wenn sie wesentlich eine der Herrenschicht waren.
Das schaffte noch, vom Atem der Völkerwanderung her, die
geheimnisvollen Ornamente der Gotik, ihre Wälder und ge­
drungenen Traumlöwen, den gesamten überfüllten Dunkel­
glanz, vor allem im alten Deutschland. Gerade die Gotik zeigt
aber auch, daß echt aufgeholte ••Primitive« keine urvergangene
bleibt oder zu bleiben hat: ihre Traumlöwen liegen Maria zu
Füßen, keiner Kybele der Steinzeit. Hat die Gotik auch große
Teile aus dem »mythischen Urgedächtnis« (oder aus der Gnosis)
rezipiert, so hat sie christlich rezipiert, mithin gerade von einem
neuen Ur-Sprung des Anfangs her. Unzweifelhafte >>Arche­
typen« wie die Mutter und das Kind, die Heilige Nacht, den
Weinstock und die Reben, die Auffahrt des Menschensohns
hat die Gotik keineswegs im Diluvium belassen oder auch nur,
wie Jung sagen würde, nin die Sprache der Zeit übersetzt«, son­
dern ganz und gar verwandelt. Aus solchen Urbildern schlug
die Gotik lediglich ,, Verheißungen« heraus, zu denen sie die
offenbarende ••Erfüllung« zu besitzen glaubte. Ihr Schlüssel ist
nicht der unsere und gewiß nicht der letzte, doch die wahllosen
Imago als Schein aus der »liefe.

Liebhaber des Archaischen an sich besitzen überhauptl keinen


Schlüssel, wollen und können keinen haben. Denn die -einzige
Wahlverwandtschaft sowohl zum fruchtbar Archaischen wie
sein einzig möglicher Schlüsselraum ist die Hoffnung der Zu­
kunft als der noch gärenden Wirklichkeit. Autochthone Anwe­
senheit im "Chthonischen<< würde sich nicht auf Seite der Urver­
gangenheit legen, wie die empfindsamen Ärzte von heutzutage
oder die Romantiker der Romantik oder die Philosophie von bei­
den zusammen. Hamann zum Beispiel, den wir schon nannten, ·
dürfte sich echter auf >>lrratio<< verstanden haben als Jung
oder Klages; vor allem auch lebte er noch im bürgerlichen Sturm
und Drang, nicht in den Umtrieben der Reaktion (die aus Sturm
und Drang nur das Längstgewesene hört). Gerade der "Magus
des Nordens<< aber sagt: >>Wer will vom Gegenwärtigen ridltige
Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige zu wissen? Das Zukünf­
tige bestimmt das Gegenwärtige und dieses das Vergangene,
wie die Absicht Beschaffenheit und den Gebrauch der Mittel.<<
Und ebenso: ))Das Feld der Geschichte ist mir daher immer wie
jenes weite Feld vorgekommen, das voller Beine lag, - und
siehe! sie waren sehr verdorret. Niemand als ein Prophet kann
von diesen Beinen weissagen, daß Adern und Fleisch darauf
wadlsen und Haut sie überziehe.<c Also meint Hamann: wie erst
Poesie das W!:thrhafte Urelement der Sprache abgibt, so ist Pro­
phetie das Urelement aller Gesd1ichtsschreibung. Das ist zwar
purster Idealismus von oben herab ( den Grenzen der damaligen,
der bürgerlidlen Revolution entspredlend, zumal in Deutsch­
land ); doch wie anders als bei Jung und Klages gärten im echten
Sturm und Drang die Archai, gärten sie zur Zukunft hinüber
und in nid1ts als diese. Nur der reaktionären Irratio, als dem
))Sturm und Drang<< der Reaktion, ist der Archetypus, den sie
streift, nicht der Anfang, sondern umgekehrt die Urgewesen­
heit schlechthin. Die reaktionäre lrratio bleibt im Gefängnis
bloß mythischer Urbilder, so des Sonnen-Penis oder der großen
Erdmutter; vergebens leben ihr auch andere Archetypen, so die
gewiß nicht weniger phantasievollen vom Zug aus Agypten
nach Ka11aan oder die bedeutend germanischere vom Schlaraf­
fenland. Solche Urbilder jedoch - als die des >>MärchenS<< im
))Mythos<< - vermeidet ein wahlloses Lobrednerturn temporis
Bergsons Elan vital 35 1

acti durchaus. Weil in ihnen das Stichwort zu hören wäre, das


die Träume der Urzeit wirklich an den »Anfang« setzte, nämlich
in die sozialistische Revolution. Erst der Anfang, den diese mit
der menschlichen Geschichte macht, holt auch die »Primitive«
konkret auf, der Gewalt ihrer Märchenbilder, Glückstraum­
Bilder gemäß. Dieser echte Anfang wirft die Schlacken weg, de­
ren sich die Reaktion zusammen mit dem Brennstoff erinnert
und nur deshalb zusammen erinnert, damit man die Brennstoff­
Archetypen nicht entdecke. Die Brennstoff-Archetypen sind
ausschließlich solche des menschlichen Glücks; so haben sie Uto­
pien in sich und wollen weniger erinnert werden als realisiert.
Das Schlaraffenland etwa heilt dann wirklich »von den Schäden
der heutigen einseitigen Gesellschaft«. Doch nicht, indem es sie
ergänzt, sondern indem es sie aufhebt; denn ein rechter Arche­
typus drängt aus dem Bild zum Dasein, aus dem Opium zum
Licht. Kurz: das rechte Urbild liegt nicht als gewesen unterhalb
des Bewußtseins, sei es des Einzelnen, sei es der historischen
Menschheit; es ist vielmehr in Fahrt, ein summum bonum revo­
lutionär-dialektischer Fahrt und wandelt sich mit ihr.

BERGSONS ELAN VITAL

Von hier ging die ganze lebende Lust erst an. Als verwandter
Blick auf Fließendes, möglichst mitten in ihm darin. Das Erleb­
nis, worin ein Stück Zucker vergeht, ist bei Bergsan denkend
geworden. Hat seinen Quell im ungeteilten inneren Strom, als
dem gleichen, der im Ionern aller lebenden Dinge hochsteigt.
Mittels seiner läßt sich in diesem Ionern zugleich auftauchen:
mitlebend, mitverstehend, hineinversetzt, sympathisd1. Der Be­
trieb, dem es gut geht, gibt sich als schwunghaft und blühend.
Flüssig wie das Leben, noch flüssiger will hier Denken sein.
Ein Wallen und Fluten instinktiver Kenntnisse, die sich jeder
Wendung anpassen. Getroffen wurde damit das Erlebniswirk­
liche zunäd 1st, das Durdleinander seines Jetzt und Vorbei.
Sodann aber setzte sich ein Begriff ein, der das bloß erlebnis­
wirkliche Belieben so ausrichtete wie füllte: der des gärenden,
352 Bergsons Elan vital

zeugenden, unendlichen Lebensantriebs. Dieser Begriff stammt


aus der deutschen Romantik, allererst zwar aus der Freizügigkeit
also der Französischen Revolution. Schelling bereits hatte Fich­
tes »unendlich tätiges Ich« allgemein vitalisiert (da ihm in
Deutschland gar nichts anderes zu tun erlaubt war), Schopen­
hauer verteufelte denselben Vorgang. Nach hundertJahren nun
holt Bergson den alten Antrieb wieder auf seinen ersten, freilich
sehr veränderten Boden: das romantische Alleben wird zum
unternehmerhaften Elan vital. Der »Verstand«, als Funktion
des erlöschenden Lebens trifft selber nur Erloschenes an, näm­
lich Dinge, Atome, Materie, kurz »geometrischen Ballast« im
Leben. Nur die »Intuition« wird dem Leben mit Maßanzügen
gerecht ( statt mit quantitativer Konfektion ) ; sie trifft als Elan
logique denselben Lebensschwung draußen real. Für den Berg­
son des Elan vital existieren keine Dinge, keine berechenbaren
Ursachen, nicht einmal Zwecke: wie das Ich frei ist, der Geist
schöpferisch, so ist sein Lauf draußen (der Weltlauf) bestän­
diger Wechsel, beständige Neuigkeit des Werdens, Freiheits­
kurve ohne Plan. Der Weltgeist ist nach Bergson »die Rakete,
deren erloschene Schlacken als Materie niederfallen«; Bewußt­
sein bleibt als ihr Funke zurück, durchdringt einige Schlacken
und läßt sie zu Organismen aufglühen, zu Pflanzen, Tieren,
Menschen, zu ebensoviel Lebensströmen, welche durchs Bett
der Materie fließen, sich reich verzweigen, Widerstände, Ab­
drängung, Rückschläge erfahren, bis der Urimpuls dereinst ohne
Capita mortua gelungen ist. Helle, sozusagen jugendliche, nach
vorn gerichtete Elemente fehlen hier sichtlich nicht. Doch noch
ersichtlicher ist der leere, sidt selber schwingende Schwung ge­
nau der des Unternehmers, der reussiert; als solcher war er in
sämtlichen Feuergarben und Heldenleben des jungen Jahrhun­
derts, vom Glühlala Dehmels bis Richard Strauss; als solcher
ging er zuletzt - mit abgezogener Konjunktur und folglich als
Gewalt - in die »Willenskraft« des Faseismus ein, in die Theo­
rien der Bergsonsdtüler Sorel und Gentile, in die Praxis der
»Augenblicksbeherrschung« und »spiritualen Freiheit«, welche
alles angeblich zu aller Zeit kann. Elan vital bei Bergson selbst
ist noch der einer Bourgeoisie, welche ihre Widersprüche baga­
tellisiert; weldte die »Materie« ihrer wachsenden Entäußerung
Bergsens Elan vital 353

aufs Debet-Konto des ganzen Weltalls setzt, um sie leichter


zu ertragen; welche die Dialektik ihres Untergangs mit einem
Saltovitale überspringt. Elan vital auf dieser Stufe hat den Un­
ternehmer nodJ. in höchster Blüte des Schwungs, doch in
abnehmender seiner ))Erfahrung«, seines Kalküls; so bleibt der
Schwung leer, wird eine Antithese, die sich seitwärts in den
Dschungel schlägt und inhaltlos verabsolutiert. Das ist der merk­
würdige Fall eines neuen Sd1openhauer mit den reflexiven
Gehirnfunktionen (die nidJ.ts wirklich erkennen) und dem
Ding an sich als Wille zum Leben. Nur hineingetrieben in Zeit
und Geschichte, nur bejaht durdJ. eine Philosophie, die kein
Leid, keine Kraft zu wenden, keine Menschentiefe und derart
auch keinen konstituierenden Menschengeist über dem Leben
kennt und anerkennt.
Doch unterdes hat sich hier gerade der Mensch über das
sogenannte Leben gehoben. Denn in seinem letzten Buch schlug
Bergsan selbst eine überraschende Kurve ein, eine unvorher­
sehbare, die in derTat )) Neues « brachte. Dies Buch lehrt ))offene«
Gesellschaft statt der familienmäßig oder clanhaft gebundenen
und letzthin vermufften. Es lehrt bewegte, ))offene« Religion
statt der Fabeln über bannende und fertige Mächte des Jenseits;
das Fünklein im Menschen geht als sprengend auf. ))Les deux
sources de l a morale et de la religion« (ein kleines Vermächtnis,
nimt nur ein Spätwerk) zeigen einen Elan, worin der Citoyen
sid1 erinnert, nicht nur der Entrepreneur ins Leere rast. Vor
allem ist der Dschungel verlassen, derselbe, den der Lebensphi­
losoph als erster inszeniert hatte; Bergsans Spätwerk bietet dem
Rausch buchstäblich die Stirn. Alle hellen Elemente von früher
sind nun neu pointiert: der impressive Elan, der immer nach
vorn sim schlug, nie rüd<wärts; der Bewußtseinskult als erfrisch­
tes oder erhaltenes Stüd< aus der bürgerlichen Revolution. Merk­
würdig berührt sich sogar der Ausgangspunkt dieses Philoso­
phierens mit seinem jetzigen Endpunkt; die extrem idealistische
))Unabhängigkeit des Geistes vom Gehirn« berührt sich mit
einer fast marxisierenden )) Überwindung der Naturschranken
durch planhaftes Bewußtsein«. So hat Bergsous Philosophie
zwei Gesichter erlangt; und das zweite preist, selbst im Jahr
1932, keine Technik-, keine Bewußtseinsflucht an (wie vom
354 Bergsens Elan vital

\
großen Vitalisten doch erwartbar gewesen wäre). Die erste Phi�
losophie Bergsons bleibt wesentlich eine des Unterneh'mer�
schwungs, eine der vielen Scheinimpulse des Vorkriegs, wohinter
nid1ts steckte als Rekordbruch, Ziellosigkeit und Verdeckung
des einzig wirklichen Ziels: des Profits. Die zweite Philosophie
dagegen reduziert den Unternehmerschwung - quixotehaft und
leicht großartig - auf Zielinhalte der Französischen Revolution
zurück; ja, der späte Bergson kennt beherrschte Technik (zum
Unterschied von der »tragikomischen Halbheit des heutigen
Zustands«) undZieldenken, wenn auch eines verblüffender Art.
Was dem ewig Neuen, folglich ewig Leeren des Elan vital -:las
Fremdeste war, nämlich Plan und Zielinhalt: das siegt zuletzt,
gemäß Bergsons phantastischer Weltdefinition: »l'universe une
macbine a faire des dieux<<. Eben mittels der technischen Ver�
nunft vollzieht sich der Übergang aus den >>organischen<< Gesell­
schaftsweisen, geschieht der Sprung aus der nsociete close« in
die menschlich gewordene der nsociete ouverteu. Denn die
soziale Entwicklung hat sich nach Bergson in die societe close
von Familie, Stamm, Nation verkapselt, in eine gegen alles
Fremde abgeschlossene, nur sich selbst, nicht die Totalität wol­
lende Gemeinschaft. Gerade diesem Naturzustand, einem Still­
stand gegenüber, der sich souverän, gar die organische Fülle
selber dünkt und doch nur habitude ist, bejaht Bergson die
sprengende Technik, als ebenso geleitete wie vernunfthaft orga­
nisierte. Als organisierte mit dem Zweck: den Elan vital aus den
societes closes zu einer societe ouverte überzuführen, den Le­
bensstrom aus den Partialitäten bloßer Natur-Abhängigkeit zu
einer Freiheit zu befreien, welche nid1t einmal eine halber Men­
schen ist, sondern ganzer -Götter. Der offenen Gesellschaft ent­
spricht daher die »dynamische Religion<< : wie das red1te Leben
sid1 von Familie und Clan abhebt, so wendet sich die rechte
Frömmigkeit von den Göttern des Banns ab. Die »Liebe« des
NeuenTestaments steht übertreibend auf gegen die (völlig juri­
stisch gefaßte) »Gerechtigkeit« des Alten; dynamische Religion
ist Mystik, nicht Mythologie, ist Kampf gegen alle Hypostasen
der Abhängigkeit, gegen alle Fabelwesen unwissender Selbst­
entfremdung, gegen alle Transzendenz der Gewordenheit. Sie ist
Mystik des im eigenen Ionern zu entdeckenden Lebens: so löst
Bergsans Elan vital 355

sich ihr Subjekt, auf abstnkt durchtrennende Weise, von der


Natura naturata des Gewordenen, hängt sich auf ebenso abstrakt
vitalistische Weise in die Natura naturans des Sprengend-Wirk­
lichen, in die ))J eanne d' Are des produktiven Glaubens« oder
der Gottwerdung unserer selbst. Hiezu aber gibt die societe
ouverte den ersten Raum und die Technik- gerade als Postulat,
wo nicht Funktion der »Freiheitsmystik« - das breiteste Signal.
Daß der Lebensstrom auf die Hemmung der Materie stieß, dies
ist der Grund, weshalb er nur zur Schaffung von Menschen und
nicht von Göttern gereicht hat. Daß geleitete Technik die Hem­
mung der Materie völlig aufhebt, in einer societe ouverte jen­
seits des bloßen Profit-Nutzens, jenseits der partialen und abge­
schlossenen Egoismen, jenseits der Individuen und auch noch
jenseits der >>organischen« societes closes - das ist die Mobil­
madlung zum Reim der Freiheit (wie der späte Bergson sie sich
interpretiert: als Kreuzung von Anardlismus und Katholizität).
Eine romantische Perspektive gewiß, aber fast auch eine bewegte,
kolportagehaft-spannende ( Evanston in Johannes V. Jensens
Chikago-Roman »Das Rad« könnte die >>Welt als Götter­
maschine« kreiert haben); hier ist nicht des mindesten geist­
feindliche Romantik mehr oder Lebens-Irrationalität schledlt­
hin, wie beim »Kosmiken< Bergson von ehedem. Während seine
Naduhmer beim ))organischen Wachstum« halten, gar ins Dilu­
vium zurückgingen, steht der Schöpfer der Lebensphilosophie
dem Mut der fortgeschrittensten Tedlnik nicht fern, ja, er visiert,
wenn auch mysteriös, eine ebenso gegenindividuelle wie gegen­
nationale - Planwirtschaft. Wie von bourgeoisen hebt sich der
neue Elan vital auch von folkloristischen Bünden ab, wie vom
Kalkül so von der dunkeln Dämonie; denn diese ist ihm nur eine
sdllechte Lebensform, eine heidnisch durdlraunte oder ange­
glühte, dodl nicht durd1geglühte und folglich überwundene
>>Materie«. Ganz anders wie die "Naturphilosophie<< Bergsous
ist folglich seine »Ethik<< vom Impuls der bürgerlidlen Revolu­
tion noch erfüllt; auch die durchbrennende Jungfrau, auch die
letzte, die Scheinemanzipation des Bürgertums: der >>Jugendstil<<
klingen in ihr vernehmlich nach. Völlig richtig bemerkt der
Marxist Horkheimer: »Bergson steht selbst heute dem impres­
sionistisdlen Ursprung seiner Philosophie noch näher als der
Bergsous Elan vital

politischen Funktion, welche seine Grundgedanken krafr der


geschichtlichen Entwiclclung inzwischen genommen haben.cc
Der Ästhetizismus des Unternehmerschwungs ist vorüber, doch
ohne daß Bergson mit Ästhetik und Unternehmertum auch den
Elan preisgegeben hätte (nämlich den rechten). Ratio der Intui­
tion fehlte schon vorher nicht (der Urimpuls war immer höch­
stes Bewußtsein, Licht), nun wirkt sogar eine Art Eingriff in
die Weltrakete. Damit ist kein Saulus zu Paulus geworden (so
zentral ist Bergson nicht und so genau sein Übergang erst recht
nicht), doch die Irratio hat, sozusagen, eine Art roten Tag in
ihrem spätbürgerlichen Kalender.

Wir, mit unseren aufbauenden Kräften, sind jetzt mehr als das
bloße Leben. An uns kräftig Gesammelten allein ist, zu raten, zu
helfen, zu entscheiden, was nAuftriebcc ist. So geht es gerade zur
Tat, j a zur erst verachteten Maschine hinaus, zum Vergewal­
tigen des Lebens, damit es Leben sei. L'homme vital gleicht nicht
jenem horazischen Bauern, der vergebens darauf wartet, daß
der Fluß abfließt; er wird noch weniger vor den ewigen Türen
des ewigen Lebendigseins antichambrieren statt die Zeit zu
überholen und den Mangel ihres Wohin zu füllen. Der beschleu­
nigende Mitgang, um anzukommen, vertieft sich so gut und
besser als die nlntuitioncc in den Fluß, in die Dauer und das Wag­
nis des Prozesses; aber er nimmt ihm die Eitelkeit des unabge­
schlossenen Affekts, die ziellose Apotheose der Unordnung. Die
Aktion, welche die >>Tendenz« logisch verdeutlicht und real be­
herrscht, führt gerade in eine andere Tiefe des Lebens, des vom
Rationalismus des Irrationalen, durchstrahlten Lebens, als sie
das bloße Beteuern des noch rein vitalistischen Bergson gewon­
nen hatte, der das »Lebencc stets nur im Gegensatz zu »Begriffcc,
»Zwange<, »Ballast«, »Mechanismus« definiert hatte oder so
hilflos negativ wie Ovid das Chaos: damals gab noch keine
braune Kuh süße Butter. Seit freilich Bergson menschliche Be­
stände in den Elan gebracht hat (seien es selbst übermensch­
liche), ist auch die »schöpferische Unordnung« (das ist der
Un-Sinn: Zweck oder Ziel mit Kausalbann als »mechanischcc
gleichzusetzen) fast verschwunden. Die Angabe einer überall
vorhandenen, nur »vom Schlaf der Weltmaterie belauertencc
Bergsons Elan vital 3 57

Freiheit war noch grotesk; die Angestellten wußten wenig da­


von, und es war nicht die Weltmaterie allein, welche sie am
Lebensschwung gehindert hatte. Jedoch was als Seinsbehaup­
tung radikal antimarxistisch war: derselbe »Indeterminismus «
blickt als Hoffnungsbild derWelt, als Oberwindung ihrer Natur­
schranke durchaus nicht bloß abstrakt drein. Der marxistische
Begriff der beherrschten Notwendigkeit unterscheidet sich von
den spiritualen Anarchien und Phantasien Bergsous gewiß
grundsätzlich. Dennoch ist der Unterschied des neuen Bergsan
zu Vitalismen a la Klages, selbst zu seiner früheren rein natu­
ralen Freiheitsfeier bedeutend; er ist größer als der der societe
ouverte, des »zentral beherrschten und organisierten Maschinis­
mus« zum marxistischen »Endziel«. Auf der Hand liegt gewiß
die Donquixoterie des Bergsansehen Utopisierens: die Bürger,
an die er sich wendet, dieselben, welche vorher wollüstig und
erlebnisdunkel sich ins ewigNeue ( ewigAlte) versenken ließen,
mad1en keine soziale Revolution; und von Proletariat, gar von
Klassenkampf ist entscheidend nicht die Rede. Wenn sich die
Völker selbst befreien, sagt Schiller, dann kann die Wohlfahrt
nicht gedeihen; auf die Frage, wer denn sonst sie befreien soll,
weist auch Bergsou nur auf den )}erträumten Genius einer gro­
ßen schöpferischen Persönlichkeit«. Hier also ist nicht bloß die
Naivität des Lebensstroms erhalten, als vor allem sein »Helden­
sinn«, sein Carlyletum, seine Personalität noch an der Schwelle
der societe ouverte, wenn nicht weiter. Da Proletarier und Dia­
lektik fehlen, übergibt Bergsou die zentral planende und orga­
nisierende Führung des Industrieapparats (welche die »Mensch­
heit« befreien soll) Heiligen und Heroen, welche den )}Sprung
des Geistes « einer ))in tausendjähriger Trägheit erstarrten
Masse« vorzumachen imstande sind, hoffend, »diese werde, ihre
Trägheit abschüttelnd, folgen« . Sehr also liegt fern, aus dem
Nikodemus auszurauben, was er anders meint; sehr nahe dage­
gen die Einsicht in die teils liberal-anarchistischen, teils personal­
papistischen Grenzen des französischen Vitalismus, auch wenn
er, als organisiertes Menschenleben«, katholisch blüht. Jedoch
hindert das nicht, im letzten Bergsan eine der überraschendsten
Kapitulationen des organischen Vitalismus vor dem - sage man:
organisierenden und anthropologischen zu begreifen; und eine
Der Impuls Nietzsd:\e

Unruhe, welme die ·»Entdinglichung<< zwar träumerisch, doch


mit Flucht nad:l vorne betreibt. Diese Art Lebenskult landet
durchaus nicht im Urwald oder Pan, auch nid1t in seinen franzö­
sischen Parallelen; sie verläßt die »naturhafte(( Warme der Fami­
lie, die zur zweiten Natur gewordene Begeisterung der Nation.
Und die »großen Genien((? das Mißverständnis der Masse? die
Allianz von Französischer Revolution mit einer Intelligenzkirche
� la Auguste Comte, die Anarchie mit papistischer Impuls­
spitze? Der »Sprung des Geistes(( verläßt selbst im Kuriosum
die brutwarme oder rasende Ananke, setzt sid1 ins offene
Leben Aller, nicht ins unendliche Alleben; dieses Paris ist diese
Messe wert.

D E R I MP U LS NIETZSCHE

Hier griff das schlecht lebende Ich sid1 selber an. Das bürgerliche
Ich, das sich will und nicht will, je nachdem, ob es von sich genug
hat oder nicht genug von sich bekommen kann. Der Ruf Leben,
er sagt so wenig und meint so viel, ging von Nietzsche aus. Die­
ser schrie die Leere, die sonst nur an sich litt.
Über Weiche kam das zuerst, sie sted{ten sich einen Mann an.
Ein herrsdlendes Idl, das man im Traum werden mödlte, dem
man, wach, dient. Die Herren selbst aber fanden im Übermen­
schen bald das Ihre, den nackten und verklärten Ausbeuter.
Ohne Gefühle des Mitleids, ohne humane Phrase; so hat der
übermensdl gewirkt, so fühlte er sidl tatsädllich. Nietzsdle
meinte es anders: er malte das Vornehme (statt des Guten) zu­
künftig unbestimmt. »Wirf den Helden nidlt fort in deiner
Seele(( ; jedoch die blonde Bestie, in dieser Zeit verkündet, konnte
gar keine Seele haben und war imperialistisch. Insofern ist der
Übermensch ehrlich; aus seiner Klaue erkennt man nicht den
Löwen, wohl aber den Unmenschen, und wessen man sich von
ihm zu versehen hat. Die Lüge fiel ab, die laue Mitte hörte auf,
in einer Zeit bereits, die die Peitsche nur gebraucht hatte, wenn
sie zum Weibe ging.
Weiter aber ist der harte Mann hier ebenso gelöst wie er
Der Impuls Nietzscbe 359

brennt. Im Menschen erneuert sich das allemal wilde X unter


dem Haustier, nämlich der »Trieb«, welcher entbehrt. Auf dem
Nullpunkt des mechanischen Daseins sind nicht nur die ver­
schiedenen übermenschlichen Bestien, es erinnert sich auch Dio­
nysos. Das Raubtier tropisch, nicht kalt, der thrakische Wald
gegen den kalten verdinglichten Bürger. Dionysos als Zeichen
für abstrakt-phantastisme Flucht in Anarchie: damit erst be­
greift man Nietzsches ernste Gewalt auf die Zeit. Damit erst hat
Nietzsche seine Zeit in Parolen gefaßt, in Parolen undeutlicher
Gegenbewegung des »Subjekts« gegen die Objektivität, welche
es vorfindet. Sokrates, Apollo und Zivilisation, selbst Jesus
rückten negiert zusammen; Dionysos nahm einen Amoklauf
gegen alle noch so weit entfernten »Domestizierungen((. In sei­
nem Namen blühen seitdem Sport, Tanz, Kriegsfurie, Jugend­
bünde, »Urdämonen« (rezent oder zitiert), Naturgefühle; das
war »der Abbau des moralischen und intellektuellen Phäno­
mens«. So auch ist Dionysos nicht bloß der hemmungslose Re­
flex des Kapitals, das Zucht, Maß, Recht, Bürgertugend beizei­
ten acybauen läßt, sondern er ist formale Ausschweifung in ein
unbestimmtes Außersicbsein, Außer-der-Zeit-Sein schlechthin.
Selbst Anfänge der bürgerlieben Revolution, nämlich Rousseau,
zeigten sich wieder, jedoch gänzlich umgekehrt orientiert, wie
zu den Antipoden verlegt: statt des schäferliehen Morgens kam
ein panischer, statt des arkadischen Gärtchens ein sausender Pal­
menhain, statt des kühl anfangenden Lichts das uranfängliche,
nächtig-heiße. So wurde Romantik auf Brand gesetzt, Armais­
mus auf die Bestie, Philologie auf ein trunken ausfahrendes
Schiff. Das Schiff ist angekommen; nun gilt es, nicht in Ansehung
des »Übermenschen« (der ist bereits sonnenklarer Faseismus ),
wohl aber der Dionysiaka, die Beute zu teilen. -
Nicht auf unsere Seite fällt die Flud1t aus der Zeit, die Lust,
wirr verkleidet zu sein. Glühende Worte, besonders alte, erset­
zen heutige Gefühle, so daß keiner mehr weiß, was die Uhr
zeigt. Nicht auf unsere Seite fällt die Maske, der förmliche Fest­
zug, als der sim der Protest gegen die Zeit doch anläßt und
bewegt. Makart war im vorigenJ aluhundert auch dort, wo man
ihn bekämpfte, auch dort, wo ein Verkleideter dem anderen
Schauspielerei vorwarf. Nietzsme gegen Wagner: als sich die
Der Impuls Nietzsc;be

Zusendung von Parsifal und Zarathustra kreuzte, kreuzten sich


nicht nur, wie Nietzsche meinte, Degen, auch Maskenzüge. Wie
wagnerverwandt, maskenhaft und dekorativ zeigte gerade
Zarathustra seinen griechism-persisch-biblischen Goldschnitt:
intellektuelle Rechtsmaffenheit in Gestalt eines persischen Reli­
gionsstifters lehrt mit Bibelsprache den Antichrist. Eine Sprache
äußerster Berauschung (wenn auch mitromanischem Gesdunack
und reinem Fond) preist Carmen contra Wagner, Bergluft con­
tra Wahnfried, Tapferkeit contra Barockkreuz und Himmel­
reich: und ist doch der gleiche Kopientraum, worin damals das
Bürgertum lag, oder bloßer Cameval de Venise gegen den dicken,
deutschen. Selbst die großen Geschichtsgestalten, an denen
Nietzsche Verehrung des aus sich rollenden Menschen und Ver­
achtung der Masse lehren will, an denen er zudem den echten
Dionysos bremst, sind über die Hälfte mehr Legendenbilder des
damaligen Renaissancismus als ))Exempla der Vornehmheit«.
Nicht auf unsere Seite fällt selbst die echte Maske, nämlich die
des trunkenen und höhlenhaften Dionysos, worin Nietzsche
sprang. Sie war keine des bloßen Festzugs, sondern eine scha­
manische, eine, die vergessene Kräfte auf den Träger herabzog.
Aber diese Mischung wieder von Sprengpulver und Räucher­
werk, von Morgen und Urvorgestern, von >>freien Geistern«
und thrakischem Nibelungenring, von Revolte und Archaismen.
Dionysos steht für ein sehr allgemeines ortloses Subjekt, das in
den bisherigen Bestimmungen durch Moral und Intellekt nicht
satt wurde, in den bürgerlichen am wenigsten; doch wie dunkel
bleibt er im bloß archaischen, scheinbewegten Protest. Der ))An­
tichrist<< gar gibt sich völlig als Lichtfeind, wo nicht als noch viel
älterer Mythologe; so ist die Morgenröte des Nietzsche-Lebens
nicht ))Apollos rötliche Smwester, die mit erhobener Fackel den
Erdkreis beleuchtet«, sondern völlig das Gegenspiel Apollos
und bleibt in der Nacht. Dionysos zieht nicht, wie der wirkliche,
von Indien nach Griechenland, sondern bleibt m i Dschungel;
Sokrates, Apollo, Jesus ( mit Verwischung aller Grade) werden
nicht als die aufgeschlagenen Augen des Dionysos (des gärenden
Mensch-Subjekts) geschaut, sondern nur als seine Untergänge;
ja, der fernhintreffende Apollo steht da als bloßer Gott des
menschlichen Haustiers. Indes: >>Wettre hinein, o du, mit deinen
Der Impuls Niet�sche

flammenden Rossen, Phöbus, Bringer des Tags, in den unend­


lichen Raum!« - dies singt Kleist, obwohl er sich auf Penthesi­
leen verstand, auch auf die »granitene Bahn des Siegs<<, und
gerade deshalb: denn Dionysos ist in Wahrheit der Bruder Apol­
los, und seine Spannung ist die zu >>Zeus«, zu Druck, Gesetzt­
heit und Bann, zur Ruhe, nicht zum Licht. Nicht korybantisch
trüber Lärm, in betrunkenen Höhlen und künstlichen Anfän­
gen, sondern revolutionäre Dialektik der Gesdüchte ist für
»Dionysos« - als den Grundwiderspruch des Menschen zur
Entfremdung und Entäußerung-der Kult, welcher ihm zugleich
ein Weg ist. Auf die richtige Seite der Beute kommt daher nicht
Dionysos als bloße frühere Bewußtseinsstufe, blutbesudelt,
kreißende Ananke und Mordnatur, Höhlen-Gegensatz zum
Licht. Sondern gerade ein Dionysos als Zeichen des Ungekom­
menen, Ungewordenen im Menschen, als Gott derGärung, aber
der weinsuchenden, lichtrufenden. Auch dieser Gott wird bei
Nietzsche laut, zuerst wieder nach langem Schweigen; bei einem
anderen Nietzsche freilich als dem der Masken, Bestialismen und
Mythologie, bei jenem Teleologen, der seinen Posten vergebens
an der Brücke zur Zukunft bezogen hat, dessen Gesichte mit
wilder Blendung von einer Welt beschienen sind, die noch nicht
da ist. Die Hymne der Barbarei, das Paradies unter dem Schat­
ten (vergangen er) Schwerter, die Agitation d�r Renaissance­
bestie und alles noch versetzteren »Instinkts« schlägt sich in
jedem Wort mit dem: Dorthin will ich, mit dem Blauen des
Genueser Schiffs, mit der Ausfahrt in unterdrüd{te Weite, mit
einer besseren Welt als der den Sklaven und - den I-�erren ge­
wordenen. Dann leuchtet die Musik eines noch nid1t gelebten
Lebens auf, macht sich das Nicht-Entsagenkönnen, die Uner­
sättlichkeit der Hoffnung schöpferisch, um ihre tausend Fla­
schen und Essenzen ins Werk zu gießen; dann zieht ein umwen­
dendes Wollen, ein motorisches Denken des Neuen herauf, das
der Welt ein Ziel setzt. Ein abstraktes Ziel bei Nietzsche, ein
privates, aristokratisch-reaktionär tingiertes und vermummtes,
eine romantische Utopie, ohne Kontakt mit der Geschichte, gar
mit der heute entscheidenden Klasse; aber die Geschichte nimmt
sich ihren Kontakt selber, die List der Vernunft ist groß. Der
Totentanz des romantisch-reaktionären Gefrierfleisches lehrt
Der Impuls Nietzscfle

nichts, jedoch »Dionysos« ist gerade der »Sklavenmoralcc ein


nicht unbekannter, ein fröhlicher, vor allem ein sprengender
Gott. Saturnalien hießen die Feste der antiken Sklaven, und der
Weinstock J esus, so völlig ihn die Kirche ermäßigt hat, zeigte
im allerchristlichsten Bauernkrieg weniger Sklavenmoral als
den Herren lieb ist. l>Dionysoscc ist eines der kräftigsten, wenn
nicht das kräftigste Zeichen des Menschen, der noch außer sich
ist und falsche Formen zerbricht: .und er ist es nicht an einem
fertigen, großkapitalistisch visierten Anfang der Geschichte,
sondern immer nur in ihr darin, an ihren neuen Einsatz- und
Wendepunkten.
Zwar noch weiter hinaus hört hier ein dunkel unruhiger
Mensch das Seine. Zum Teil, wie wir sahen, der bürgerliche
l\tlensch von heute, als Angestellter, der die Peitsche träumt, als
Herr, der sie hat. Wille zur Macht ist darum das letzte Wort,
wozu sich das »Leben<<, dies alles verwischende, bei Nietzsche
entschloß. Unbestimmt wie das »Lebencc ist aud1 der Macht­
inhalt zu dem es sich aufgipfelt; ebenso unbestimmt der » Willec<,
wozu sich der dionysische »Triebcc nun schärft. Dem Monopol­
kapital, ebenso dem imperialistischen Krieg fehlt zwar das Ver­
ständnis für diesen Machtwillen nicht. Doch ideologisiert
Nietzsche auch in dieser letzten Phase - nach Übermensch und
Dionysos -nicht bloß Imperialismus, sondern formale, inhaltlich
unbestimmte Emportendenz dazu. Eine gegen das Glück, gegen
den untragischen Menschen, der Glück in der Welt meint, und
freilich auch gegen jede Macht, die die Welt ändern will, statt
sie - unverändert-zu beherrschen. So entstand das Da capo des
Heroen zur gewordenen Welt; so entstand, um den Augenblick
zu weihen, um das Leben mit sid1 und nur mit sich zu potenzie­
ren, die sonderbare Lehre von der Wiederkehr des Gleichen.
Diese Lehre ist an sich keineswegs neu, eher banal und oft selber,
bis zur Weisheit zechprellender Studenten, bei Hans Sachs und
Hebel, wiedergekehrt; doch einmalig ist ihr herrisch-physika­
lischer Gebrauch. Nun spiegeln und vermehren sich rückwärts
wie vorwärts die Spitzen des Lebens zu einem wahren Lanzen­
wald ihrer selbst; wäre nicht aud1 die Vergangenheit, welche im
Heute sich wiederholt, dann wäre freilich jede Tat ein schöpfe­
rischer Akt, welcher den freien Willen zum Da capo in sich hat.
Der Impuls Nietzsdle

Da aber - was Nietzsches Zukunftswille ganz seltsam nicht


wahrhaben will -, da aber das Heute, bei ewiger Wiederkehr,
doch ebenso längst schon determiniert ist: so wird der Heros des
Da capo zum Knecht des längst Gewesenen, ja, der Vergangen­
heit aller Vergangenheiten, und der Sturm auf den künftigen
Himmel erlangt nur den Bann längst abgelaufener, immer wie­
der ablaufender Erdentage. Die Emportendenz bloßer Spitzen
oder Großheroen ohne Band untereinander, ohne Kuppel all­
gemeiner Inhalte erzeugt so, im Willen, diese Tendenz mit sich
selbst zu wölben, nur verödendes Diesseits und schreckliches
Jenseits, nämlich eines ohne Durchbruch; es entsteht das Bild
einer aus endloser Wiederholung imitierten Ewigkeit. Das ist
eine Anomalie im Flußwort Leben, worin Nietzsches Philosophie
sonst vorwärtsschießt; eine Anomalie erst recht am Expeditions­
charakter dieser Philosophie, an der Feuernatur des Weltkerns,
womit der sprengende Dionysos im Bund stehen mag. Das all­
zusehr schon seiende ))Raubtier« Übermensch, der Individualis­
mus heroischer Geschichtsfiguren, gar die völlig statuierende
Wiederkehr des Gleichen: Dionysos weiß hier mit einem Male
zu genau, was er will, weil er ni Wahrheit zu wenig weiß, zu un­
bestimmt weiß, was er will. Indem sich die formale Empor­
tendenz an Feudal- und Statik-Bildern faßt, dankt sie zu einer
Art barbarischem Klassizismus ab. Auch läßt nur dieser statisd1e
Nietzsche geschehen, daß ebensolche Deutung, Bertrams etwa,
ihn gesunden Leibes schon nach Weimar schafft, zu Göttern,
Helden und George. Der andere Nietzsche sucht nicht bloß un­
gebleichtes, sondern in utopische Feuer gesetztes Diesseits: »Tau­
send Pfade gibt es, die noch nie gegangen sind, tausend Gesund­
heiten und verborgene Eilande des Lebens. Unerschöpft und
unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschen-Erde.« Ge­
rade diese ( uneingelöste) Diesseits-Teleologie überwächst den
Spitzen-Befehl an die menschlid1e, den Kreis-Befehl an die
Weltgeschichte; das Herz der Erde ist von Gold und im Dies­
seits alles, dod1 dieses Diesseits wurde am wenigsten schon ent­
deckt und ausgezahlt. Also lehrt Dionysos, gerade auf Dauer,
keine einsamen Spitzen, keine ewige Wiederkehr; denn er ist
eher zu viel als zu wenig schäumend das Problem des unfertigen
Mensd1en und seiner Welt. Nur als dieser Nietzsche, nicht als
Der Impuls Nietzsche

der Statuarier, zu dessen Feier sein verfestigtes Unterwegs fal­


.schen Anlaß gibt, ist Dionysos da, ist er das Ende des geschlos­
senen Weltblicks und ebenso bereits, positiv, Zeichen des -
Anti-Nichts. Nur in diesem Bezug ist gewiß, daß Nietzsche, ja,
summarisch gesprochen, daß die ))Subjektivisten « der Neuzeit
in so verschiedener Gestalt: Münzer, Kant, Kierkegaard, Feuer­
bach, Nietzsche, daß die gründlichen Humanisten und Atheisten,
in denen das ausgelöschte Jenseits fruchtbar und auf die Zukunft
des Menschen zurückgebracht worden ist, - daß also auch der
zum Wohin und Überhaupt ausfahrende Nietzsche noch lebt,
wenn die großen Systematiker der geschlossenen Welt lange zu
Ende erfahren sind. Das Iumen naturale wurde hier feurig, die
Erkenntnis nimt mehr kontemplativ, die Welt hörte auf, ein
bloßes Rätselspiel für den wissenschaftlichen Intellekt zu sein.
Luft vom anderen Planeten ist dieser Nietzsche kaum, doch ge­
wohnte vom bürgerlichen auch nid1t. Gibt es keinen Willen zur
Macht mehr, keinen bürgerlich bestimmten, nicht einmal einen
bürgerlich unbestimmten: so begegnet man Dionysos oder dem
glühenden Kern im ••Menschen« neu.

Heiß zog sich dieser Wille zu leben auf sich selbst, nämlich
aufs Wilde zurück Teils, größten Teils, weil er als bürgerlicher
beim Denken, beim geschimtlichen Weitermachen nur zu ver­
lieren hat. Teils aber auch, weil in der Tat das nBewußtsein« nur
ein Licht auf dem Weg ist und nicht der Wanderer selbst. Als
der Wanderer ersdlien bei Nietzsche Dionysos, das ist der
mythologische Name für das historisch verdrängte, unterschla­
gene, geschwächte, mindestens abgelenkte nSubjekt«. Am Le­
bensgott erst, der sich überhaupt nicht aufs Bewußtsein einließ,
der auf keinerlei Analyse hörte, der ihre Sprache a limine nicht
verstand, schien der Nihilismus ohne Macht. Ja, gerade aus dem
Abbau des Abbauenden selber, aus dem radikalen, nämlich vor­
logischen Anfang selber schien das Grundwasser zu steigen, das
kein Begriff mehr verdampft. Freilich: aus welchem nAnfang<<
stieg das? - doch nur aus einem, den die Flucht vor jedem Begriff
aufzudecken scheint, in einem erträumten Außerhalb von
Gesd1ichte und Vernunft. Weiter: welches ))Subjekt« erschien in
Nietzsches ))Trieb«, nLeben«, sogar in Dionysos? - doch nur das
Der Impuls Nietzsdte

selber schlecht bestimmte ( wn nicht als »Raubtier« bestimmte)


zwischen Vnmensch und Übermensch, kurz, wie zu erfahren war,
ein ungefähres Subjekt und nicht der exakte Nullpunkt, der
schreit. Das »Subjekt« des Dionysos im Menschen, ist es gewiß
nicht klassenmäßig völlig faßbar, nämlich in der jeweils revolu­
tionären Klasse, heute also im Proletariat, so ist es erst recht
nicht alle Klasse oder gar die jeweils herrschende. Deshalb su­
chen lehrreicberweise, großfascistische ,, Nietzsche-Interpreten« ,
wie etwa Bäumler, Dionysos selbst nC'1ch in der unbestimmten
Fassung zu eliminieren, die er bei Nietzsche gefunden hat; die
herrschende Gewalt wird hier seine Abdankung und ,,Be­
stimmtheit«. Dionysos kann aber nur schaffen als Krieg gegen
jede Entäußerung, als das feuerhaft-revolutionäre Element
jeder Erhebung gegen ,,zeuscc; und nur insofern, als gegen
jedes Innen, :Außen und Oben gerichtet, das nicht das des völlig
befreiten Menschen ist, ist Dionysos zugleich der Antichrist.
-

Nietzsche zwar richtet den Antichrist nur gegen Apollo und die
Folgen, nur gegen den klugen und Lichtgott; er trennt, -biblisch
gesprochen, den Baum des ,,Lebenscc vom Baum der ,,Erkennt­
nis« auch hier. Wer aber ist der wahre Antichrist, den Nietzsche
so seltsam in Dionysos feiert, als den Weinstock des aufgehen­
den Lebens? Antichrist dieses Sinnsist die erste Schlange, welche
vom Apfel essen ließ, indes auch jene zweite, lichtbringende,
welcher ,,zeuscc am Kreuzesstamm zum zweitenmal den Kopf
zertrat: der wahre »Antichrist(( des dionysischen Sinns, des Eritis
sicut Deus ist-J esus. Das ist ))Dionysos, der Gekreuzigte«, dar­
auf dringt die einzige Erkenntnis, aus den 'liefen der christlichen
Ketzerei, und zwar der ältesten, ))ophitischen «, schlangenkun­
digen, weld1e der ,,Auferstehung und dem Lebeace gemäß wird.
Dieser Christus ist der Verkünder einer unbekannten mensch­
lichen Glorie, heller als daß sie der gegebene Leib noch equi­
librieren könnte, gar die jetzt seiende Welt. Er ist die Eroberung
der Menschenglorie noch hinter dem geringsten und unerwartet­
sten Fenster, und gerade dort, gerade m i Paradox des ganz und
gar Unerwarteten, nicht im zufriedenen Maß des bereits Er­
schienenen, Herrschenden, Satten, wozu ihn die Kirche gefälscht
und entspannt hat. Der Jesus der Ketzer, also der echte, der Jesus
von dem die ))Ophiten« als Grundketzer geglaubt hatten, es sei
Der Impuls Nictzsdte

die Paradiesesschlange seine Raupe gewesen, so wie diese, am


Baume der Erkenntnis hängend, die Raupe der Göttin Vernunft
ist: in diesem Jesusbild ist auch das Leben des Dionysos oder der
Trunk eines Reichs, das weder vori dieser ( gewordenen ) Welt
ist noch auch von jener ( menschenfernen, schicksalhaften).
Solche Berührungen und 110phitische« Erinnerungen, zu Paulus
feindselig, in der Geschichte des ))siegreichencc Christentums
unterschlagen, waren in Nietzsches letzten Visionen allerhöchst,
in 11Dionysos, dem Gekreuzigten«. Spuren dieser Schlange sind
wieder in heutigen Ruinen; denn Dionysos ist nicht die Ruine
oder die Nacht, wohin die Reaktion flüchtet, nicht die dampfende
Natur 11am Grunde«, sondern - als auf die Fahnen der Revo­
lution gesetzt - die Feuerschlange oder der utopisd1e Blitz. Der­
gestalt kann das von Nietzsche am Übermenschen, gar am letz­
ten Dionysos Intendierte recht betreffend, ja einschlagend von
frühchristlichen Ketzern her verstanden werden. Samt dem
Zeus, der tot ist, Prometheus also nicht mehr an den Felsen
schmiedet. So stark emergiert hier wieder das alte Eritis sicut
deus, aud1 mit allem Ineinander von Hybris und menschlich­
übermenschlicher Frömmigkeit sui generis. Diese Art Anruf in
Nietzsche könnte gerade christologisch mehr zu denken geben,
als der 11blonden Bestie« und anderen Banalitäten der Roheit,
aber auch der Duckmäuserei lieb ist. Denn nicht alles, was sich
11Antichrist« nennt, steht dem Christos, der nicht Staub frißt
sein Leben lang, nicht im Grab bleibt den ganzen verhängten
Tod lang, so völlig fern.
DENKENDE SURREALISMEN

Hier s
i t dauernde Überschneidung des eingestürzten
Vorher, Nachher, Unten, Oben, und dahinter eine Fin­
sternis. Romane der Wunde1·lichkeit und montiertes
Theater (S. 141)

D I E HAND IM SPIEL

Zu viel sieht man um das her. Es ist sehr bunt, was oben zerfällt.
Schreit, träumt, schlägt nach links und rechts zugleich. Kommt
aus der Leere nicht heraus, sondern macht sie fratzenhaft. Kräu­
selt selbst die Flucht, welch� zurück will.
Geht alles schief, so bleibt auch der Fluß nicht gerade. Formen
brechen und schillern, Rauch von heute wallt auf, Nebenbei
macht sich wichtig. Eben die »Revue(( kommt derart, über den
Masken, denkend wieder; sie wird als Form logisch benutzt, um
Ineinander zu spiegeln. Eine philosophische Hand wie die Ben­
jamins greift in dies Niedere hinein und in das Nebenbei, das
es kenntlich macht, zeigt daraus Dinge her, auf die ein vernünf­
tiger Mann vor zehn Jahren kaum gekommen wäre. Wie in der
Dichtung, so im Gedanken taucht Wunderliches auf, betrifft sich .

Und nicht bloß der Dämmer spukt, der heute oben ist. Auch
die Zeit, woher wir kommen, die der Eltern; sie geht gespen­
stisd1 auf und nieder. Doch ebenso mittelbar wurde das vorige
Jahrhundert merkwürdig; nämlich malerisch, poetisch, philo­
sophisch, als surrealistisme Entdeckung. Sie liefert Reizstoffe,
man weiß noch nicht, für was; sie befruchtet einen höhnischen
Zauber, man weiß noch nicht, wozu. Das geschieht in einer
Garde, die aus der Oberschicht ausbrach, die mit der eben ver­
gangeneo Zeit ihr Felder düngt. Was damals gefiel, bekommt
heute den Ausdruck grauenvoller,- dod1 wichtiger Träume; was
damals fühllose Mischung aller Stile war, wird heute quer mon­
tiert. Desto merkwürdiger, als die meisten dieser Benutzer
Revueform in der Philosophie

kommunistisch gerichtet sind; der Akt darüber ist keinesfalls


geschlossen. Morgen kann mehr darin enthalten sein, als das
Wesen heute vorzeigt.

REVUEFORM IN D E R PHILOSOPHIE ( x 9z8)

Wo sie sich bildet, geht man recht heiter mit. Dann stört etwas,
wird gleich nebendran anders, biegt von neuem um. Derart er­
geht es uns beim ersten Versuch, den Benjamin dieser Art unter­
nommen hat. Spielende Vergleiche fehlen nicht, obwohl sie es
könnten. Auch die ernsten kommen nicht immer nach Hause,
vielmehr auf die Straße, die hier läuft.
Anderes ist teils zu eigen, teils klingt es unnötig an Altes an.
Eben in der Schrift ))Einbahnstraße«, die Benjamin erscheinen
ließ, und die hier als Typ für surrealistisd1e Denkart steht. Ihr
Ich ist sehr nahe, aber wechselnd, ja, es sind recht viele lebe;
ebenso setzt fast jeder Satz neu ein, kocht anders und anderes.
Die Schrift bedient sich höd'lSt moderner Mittel, mit später Gra­
zie, für oft abseitige oder verschollene Inhalte. Ihre Form ist die
einer Straße, eines Nebeneinander von Häusern und Geschäf­
ten, worin Einfälle ausliegen.
So etwas mochte nur heute wachsen, ohne selber ein Nebenbei
zu sein. Nur heute läßt sim innere, vor allem gegenständlime
Schrulle wichtig nehmen, ohne daß sie einsam, unmitteilbar,
unfaßbar bleibt. Denn weithin ist die große Form abgestanden;
altbürgerliche Kultur mit Hoftheater und geschlossener Bildung
blüht nicht einmal epigonal. Von der Straße, dem Jahrmarkt,
dem Zirkus, der Kolportage dringen andere Formen vor, neue
oder nur aus verachteten Wmkeln bekannte, und sie besetzen
das Feld der Reife. Genau brach der Clown ins sterbende Ballett,
die leichte Wohnmaschine in die lange schon toten Stile, durch­
brochene Revue in den alten, schön gesmlossenen Bühnenbau.
Unmittelbar enthielt Revue zwar wenig außer ihrer ))Lod{e­
rung« ( und aum diese läßt sich wieder festsmrauben ). Kein
neuer ))Mimus« ist aus der Rt.vue entstanden, sie diente über­
wiegend Amüsierpöbel und war amorph wie dieser. Aber
Revueform in der Philosophie

mittelbar freilich konnte »Revue« gebraucht werden, als eine der


offensten und wider alle Absicht ehrlichsten Formen der Gegen­
wart, als Abdruck jenes Hohlraums, worin sich nichts mehr
ohne Lüge schließen läßt, worin sich nur noch Teile begegnen
und mischen. Der mittelbare Eindruck der Revue kam gerade
aus der sinnlichen Stärke und Bewegtheit unverkitteter Szenen,
aus ihrer Wandelbarkeit und Verwandlung ineinander, aus ihrer
Berührung mit dem Traum. So ging diese Form als Hilfsmittel
in sehr andere Kunst, von Piscator bis zur Dreigroschenoper;
selbst neue Aspekte des >>Stegreifs«, der Taten linker Hand fehl­
ten nicht. Bei Benjamin wurden diese Taten philosophisch: als
Form der Unterbrechung, als Form für Improvisation und
plätzHebe Querblid{e, für Einzelheiten und Bruchstücke, die
ohnedies keine »Systematik« wollen. Sinnspruch, Unterwei­
sung, Dialog, Traktat - das waren immer schon philosophische
Formen außerhalb des Systems, lange vor den neuzeitlichen
Systemen und nod1 in ihnen darin. Nun zieht, mit dem bürger­
lichen Vernunftprinzip a priori, auch das System ab, das seinen
idealistischen Zusammenhang einzig aus diesem Vernunftprin­
zip bestritten und entwickelt hatte. Das geschlossene Lehr­
gebäude vergeht im selben Akt wie der abstrakt-geschlossene
Kalkül des Bürgertums; dergestalt, daß Nietzscbe das System
sogar »Wille zur Unehrlichkeit« taufen konnte. So fanden Sirn­
meis fragend-fragwürdige Impressionen Platz; so ist selbst in
den akademischen Pilgerchor, der unentwegt »Systeme« singt,
eine Art Hörseiberg eingebrochen: in Gestalt s9genannter Exi­
stenzphilosophie - mit Komplexen, doch ohne System. Ganz
anders dezidiert erscheint »Revue« in Benjamins kleinem Form­
versuch; sie erscheint als überlegte Improvisation, als Abfall des
gesprungenen Zusammenhangs, als Folge von Träumen, Apho­
rismen, Losungen, zwischen denen höchstens quere Wahlver­
wandtschaft wünscht, da zu sein. Ist also >>Revue«, ihrer metho­
dischen Möglichkeit nach, Reise durch die hohlgehende Zeit,
so reicht Benjamins Versuch Photos dieser Reise oder besser
gleich: Photomontage.
Immer neue Ichs, sagten wir, sind hier zu sehen und löschen
sich aus. Ja, gegenständlich geht überhaupt niemand redlt auf
der Straße, ihre Dinge scheinen mit sich allein. Was ahnungsvoll
37 0 Revuefom1 in der Philosop�e

den Busen füllt, das spricht sich nur in äußeren Bruchstücken


aus; diese formen sich zu Schildern und Auslagen. Eben zu
der Einbahnstraße: nicht als beliebigem Gebilde, als leerer
Platzstraße, wie es deren in bloßen Träumen gibt, sondern als
philosophischem Leitfaden und Bazar. Das ergibt die seltsarpste
Form, worin je Gedanken ausgebreitet worden sind; die Kapitel
heißen: Tankstelle, Frühstücksstube, Normaluhr, Halteplatz für
nicht mehr als drei Droschken, Galanteriewaren, Nr. 13, Fund­
büro, Maskengarderobe und so fort. Dem entsprechen die
philosophierten Bruchstücke, welche an diesen Stellen, in diesen
Auslagen untergebracht werden und doch ebenso wieder, mit
höchster Variabilität, vertauschbar sind. Kathedralen etwa zei­
gen sich als ))Religionsbahnhöfe«, zeigen sich sogleich wieder
mit Allegorie-Blicken verhüllt wie diesem: ))Schlafwagenzüge
in die Ewigkeit werden zur Messezeit hier abgefertigt<<. Kritik
am ))Religionsbahnhof<< gewiß, doch ebenso läuft der Zug um­
gekehrt, nämlich aus der Ewigkeit und ihrem Mythoswesen in
den Bahnhof ein, um hier Konterbande auszuladen. Dieser
Sprachstil hat jene Fülle von Verkopplungen gedanklich, welche
von Max Ernst bis Cocteau den Surrealismus ausmacht: die Ver­
kopplung von Dort mit nächstem Hier, von brütenden Mythen
mit dem exaktesten Alltag. Erneut taurot so die Frage nach dem
Ich oder Wir auf, das auf dieser Straße doch nicht so unmensch­
lich wechseln oder fehlen mag. Das bleibende Ich auf der Straße
ist allerdings nur der schlendernde Leib, also primär nidlt Ohr
oder Auge, nicht Wärme, Güte, Staunen, sondern ldimatopathi­
scher Tastsinn und Geschmack. Läßt sich eine Kategorie von
Bachofen hier anwenden, so hat ein chthonischer Geist in diesem
Straße-Denken, genauer: Passage-Denken sein Gehäuse gefun­
den. Wie Segelschiffe in der Flasche stecken, wie Blütenbäume,
schneebedeckte Türme im Spielzeug drehbarer Glaskugeln ein­
geschlossen und verwahrt scheinen: so stecken hier Philoso­
pheme der Welt unterm Glas der Schaufenster. Noch den Kos­
mos hat dieser Geist nur mit n i nerem Geschmacksblick oder
Blickgeschmack, j a spricht ihn mit Leibrausch aus (Kapitel
))Planetarium« ). Leibnahe Traumstraße mit Läden, in denen
der Geschmack der Zeit, mit Häusern, in denen Mischinhalte
der Zeit kondensiert werden - das ist oder könnte sein die
Revueform in der Philosophie 3 71

Landschaft dieses Versuchs. Hier ist deshalb nicht bloß eine neue
Geschäftseröffnung von Philosophie ( die vordem ja ){eine Läden
hatte), sondern eine Strandgut-Orgie dazu, ein Stück Sur­
Realistik der verlorenen Blicke, der vertrautesten Dinge.
Sieht man aufs kleine Ganze zurück, so steht es für manches,
das heute nicht kam. Ein Denker spürt Einzelnes genauestens
auf, prägt es scharf aus, um dennoch kaum zu sagen, wofür denn
die Münze gilt. Er gibt Schriftbild-Werte ohne bürgerlichen
Kurs, ohne noch faßbar anderen; sichtbar ist anarchische Bedeu­
tung und die Bedeutung sammelnder, im Zerfall wühlender,
rettender, doch substanziell unausgerichteter Betroffenheiten.
Der gleiche Blick, der zerfällt, läßt den vielfältigen Fluß zugleich
gefrieren, verfestigt ihn (mit Ausnahme seiner Richtung) , elea­
tisiert noch die Phantasie Variantester Verschlingung; das macht
dies Philosophieren gleichmäßig medusisch, gemäß der Defini­
tion Medusas bei Gottfried Keller: als »der Unruhe erstarrtes
Bild«. Geht aber »Revue« mit Strom durchs surrealistische Phi­
losophieren hindurd1, dann kommt durchaus, an den geretteten
Trümmer-Bedeutungen, ein anderes 11Kaleidoskop« ans Licht.
Denn die Hohlräume unserer Zeit (wie bereits des XIX. Jahr­
hunderts, dessen Spuk-Allegorie ins surrealistische Philosophie­
ren überall hereinragt ) liegen nicht im selber Leeren, sondern
im Reich konkreter Intention, materialer Tendenz, als einer
keineswegs unbestimmten. Benjamins Philosophie läßt jede In­
tention den »Tod an der Wahrheit« sterben, und die Wahrheit
gliedert sich in gestillte »ldeencc und ihren Hof: die 11Bilder<<.
Indes gerade echte Bilder, die scharfen Angaben und präzisen
Tiefen dieses Schrifttums, seine zentrale Abseitigkeit wie die
Funde seiner Querbohrung wohnen nidlt in Sdmeckenhäusern
oder Mithrashöhlen, mit einer Glassdleibe davor, sondern im
öffentlid1en Prozeß, als dialektische Experiment-Figuren des
Prozesses. Das surrealistische Philosophieren ist musterhaft als
Schliff und Montage von Bruchstücken, die aber recht plura­
listisch und unbezogen solche bleiben. Konstitutiv ist es als Mon­
tage, die an wirklichen Straßenzügen mitbaut, dergestalt, daß
nid1t die Intention, sondern das Bruchstück an der Wahrheit
stirbt und für die Wirklichkeit verwertet wird; audl Einbahn­
straßen haben ein Ziel.
.
RETTUNG WAGNERS
DURCH SURREALISTISCHE KOLPORTAGE (1929)

Schräg wird Nahes seit je am besten gesehen. Das ist beiderseits


möglich, doch links sind die jüngeren Augen. Der Blick von
dieser Seite lockert Gewohntes oder biegt es neu. Hindert den
mittleren Genuß, trennt, was verfilzt war, geniert sich der
Frische nicht, sondern spricht sie aus. Dadurch rücken Dinge
zusammen, die weit voneinander entfernt schienen.
Heute kräuselt sich viel Schönes, rollt auch auf. Nicht am
schlechtesten von kindlichen Eindrücken her, oft werden sie im
Zerfall besonders richtig. Das Gefühl eines Knaben wird derart
lehrreich, der sechs Stunden in Wagners Ring aushalten mußte.
Seitdem haßte er diese Musik; sie sah aus wie die gute Stube,
war auch genau so seßhaft und langweilig wie der Besuch darin.
Da hörte er später, ganz gelegentlich, den Matrosentanz aus
dem Holländer, die großartige None, die Piccoloflöte als Boots­
mannspfeife. Gleich wurde das Stück wild, bunt, kolonial; Karl
May und Richard Wagner schüttelten sich die Hand.
Ein Wort zuvor, damit der Händedruck nicht zu früh stimme.
Weder Wagner noch Karl May sind in diesem Zusammenhang,
was sie dem Leser sind, der sich über ihre Conductio wundert,
sd1licht ärgert oder auch schlicht freut. Wagner ist eine Ver­
legenheit, das ist ja klar, aber Ironie an ihr ist billig, unverschämt
und hilflos, wird nirgends gemeint. Und Karl May, an sich
schon einer der spannendsten, buntesten Erzähler, steht gut für
'Jahrmarkt, Kolportage, für Wesen also, deren Improvisation
und Grelle man wichtig, fast ernst zu nehmen hat. >>Rettung«
Wagners durch Karl May bedeutet also keinen Witz auf einem
Leichenschmaus, sondern ein lebendiges Stück. Manch surreali­
stisdler Versudl sieht ja die gute Stube, den grandiosen Salon
des XIX. Jahrhunderts auf dem 'Jahmzarkt; kurz, hier ist eine
Zuspitzung fälliger Tendenzen. Wagner in Kolportage ist die
Übertragung der genialsten Fragwürdigkeit auf die Ebene einer
heutigen Frage.
Betrachte man zunächst die gute Stube, aus der jeder Junge
floh. Sie ist widerlich geblieben, aber ein Rätsel geworden, Wag­
ner mit ihr. Das erste gefühlte Merkmal der guten Stube ist der
Rettung Wagners 373

Traum, worin sie steht. Er überzieht heute das Bild ihrer Nip­
pes; die Kindheit, woher er stammt, hatte in dem selber Hohlen
und Spukhaften des vorigen Jahrhunderts sehr guten Platz. Ja,
auch die Erwachseneo lagen damals im Bett, das Bürgertum lag
im Adelsbett; außerstande seine eigene Form zu haben, träumte
es alte Kultur nach, mit überfülltem Magen, ohne Zusammen­
hang mit dem sehr nüd1ternen Arbeitstag. Der Kapitalismus
und seine Technik, der die überkommene Kultur zerstört hatte,
gestand sich noch nicht; neue Kräfte, die gerade aus dem kultu­
rellen Hohlraum hätten schaffen können, waren noch nicht ge­
kommen, vom Einsturz regierte nur der Staub daraus, der sich
zu dekorativen Wolken bildete. So kam dieser Traumkitsch
(nach dem Ausdruck Benjamins), aus allen Stilarten überein­
ander gelegt, diese unsägliche Übersdmeidung historischer Ge­
sichter, diese eigentliche Kitschmythologie, an der nicht einmal
mehr ideologisme Wahrheit ist. So kam vor allem das zweite
Merkmal der guten Stube, an und über dem Traum: nämlim der
vollendete Schein. Dieser aber ist, außer der bloß subjektiven
Lüge, nicht nur Flucht und widerlichstes Falsifikat, sondern er
entzauberte die Mythen, die der Kapitalismus zerstört hat,
nochmals durch vollendeten nästhetischen« Nicht-Ernst an ilmen.
Ohne das ebenso Auflösende wie Abhebende, Objektive dieses
Falschtons wäre die Musik im Biedermeier oder formalen Epi­
gonenturn untergegangen, privat, gesellschafts- und inhaltslos;
Mendelssohn, Schurnano und Bessere sind davon das Zeichen.
So jedoch verband sich Musik mit der Traumkollektive der Zeit,
fand sich mit ihren Scheinsymbolen zusammen: mit Fronten
und Interieurs, die nicht grundlos Alkoven, Schreckverstecke
und wollüstig waren, mit Handel und Gewerbe als veritablen
Göttern, am Bankportal ausgehauen, mit Renaissance, die im
XVI. Jahrhundert keine Portieren hatte, die man aber m
i XIX.
nur als Portiere verstand, mit der Ludwigshafenia als ngeglaub­
tercc Stadtgöttin, mit Traumgewirr und Bruchemblemen, mit
der Edda als maskiertem Zeitinhalt. Aus Dekoration kam diese
seltsame Form von »Allegorie((, die gar keine ist, wenigstens
nicht im üblichen Sinn, wie man ihn vom Klassizismus her kennt.
Im überfüllten Schein des XIX. Jahrhunderts sind Traumtränke,
Kyffhäuser, Fafner keine Versinnbildlimung von Abstraktionen,
374 Rettung Wagners

wie es noch die Allegorie des Biedermeier war, also keine Ab­
mattung von geschauten Symbolen zu bekleideten Begriffen.
Sondern die Fülle historisch-mythischer Art eben ist die Einle­
gung scheinsymbolischer Nachgeburten in Traumkitsch; der
ist von allen Göttern verlassen, im guten wie schlechten Sinn,
schwebt aber dennoch in einer Zwischenschicht von »Maske­
rade«, die mit vollem Nicht-Ernst Symbol-Mythen reprodu­
ziert, nicht mit halbem Ernst Allegorien denkt. Auch das eigen­
tümlich »Große<< der Zeit, ihrer Zimmer, Bildformate, Möbel,
vor �llem Wagners selber stammt aus Maskenschein oder viel­
mehr aus dem dekorativen Mythos darin, der seinen panhaften
Raum hindurchwarf. Der Schein selbst wirkt schon m i ersten
Schwindsehen Dekorieren, sättigt sich an der Theater- und Hi­
storienmalerei, wird dreidimensional in der großen Oper, kul­
miniert vierdimensional bei Wagner, allegorisiert sich wieder
bei Klinger und Böcldin, erheitert sich bis zu dem leichten Glüh­
duft bei Strauss, stabilisiert sich zu dem so ganz anderen, gefrore­
nen Wagner-Dunst im George-Kreis, zum hohen Goldschnitt.
Aber das Grundwerk des guten Stuben-, des großen Salonscheins
ist und bleibt der Ring: er steht in so dichter Theatralik, daß er
fast etwas von Wirklichkeit an sich hat, weshalb Wagner seinen
absoluten Schein ja auch gegen Meyerbeers Halbheit ausspielen
konnte, das ist, gegen den bloßen Effekt als »Wirkung ohne Ur­
sache«; Wagner kämpfte gegen Meyerbeer mit fast den gleichen
Gründen, womit Nietzsche wieder den »Schauspieler« Wagner
entlarvt. Wagners Musik hat ihre »Echtheit« gerade in diesem
vollendeten Schein; nicht nur nach seiner illusionistischen, son­
dern, worüber jetzt drittens zu sprechen ist, auch nach seiner
physiognomischen Seite, gegen das Sicht- und Sinnproblem hin.
Als vollendeter der guten Stube ist er zugleich ein rätselvoller,
zum Rätsel gewordener Schein, eine Hieroglyphe im Hohlraum
des XIX. 'Jahrhunderts. Bereits den E>..'Pressionismus hat nur die
Kürze seines Lebens daran gehindert, in Kleinbürgertapeten
von r88o Ausdrücke zu entdecken, die außer plumper Melange
und einfältiger Kopie noch ein Anderes sind. Das Glüd< des
Kitsches, der Gartenlaube, der gestellten und doch nicht völlig
irrealen Schönfassade gehört gleichfalls hierher; diese Zeit hatte
ein Auge für das auch objektive Mischlicht um die Dinge. Als
Rettung Wagners 3 75

Lebenshaltung unerträglich, als »Stil« das uns Fernste, geistert


das XIX.Jahrhundert doch in den Hohlräumen weiter, die das
XX. mit ihm gemeinsam hat; diese und ein freilich ehrlicheres
Wissen um sie, auch ein konkreteres »Scheinen« sind aus dem
Einsturz der alten Kultur geblieben. In Frankreich, wo Wagner
nie abstarb, auch die nDekoration« nie so lebensfern war, geht
der Surrealismus wieder merkwürdig in diesen Traumbasar, in
ein Getümmel von Symbolen kreuz und quer, denen er das Blut
wirklicher Dinge zu trinken geben möchte, damit ihre Tenden­
zen erscheinen und den Symbolen das dingliche Herz schlage.
Verstünde man also zu raffinieren, so dürfte nicht nur der Bie­
nenstock wirklicher alter Kultur, sondern auch Wagners Wachs­
figurenkabinett noch manchen seltsamen Honig enthalten. In
demTohuwabohu von Kitschschemen steckt unter anderem eine
Pseudomorphose, deren Tage buchstäblich nicht gezählt sind,
und eine Hieroglyphe, die auf Deutung wartet.
Soviel über die gute Stube, wie sie zu wundern gibt, und das
reicht schließlich schon aus. Wie sehr ernst, wenn (was bevor­
steht) der 'Jahrmarkt in sie einbricht; denn dieser betrachtet den
Kitsch nicht, sondern legt ihn um. Früher besorgte das, mythi­
schen Mächten gegenüber, das Märchen, mit dem hilflosen, den­
noch siegreichen Hänsel, auch Kasperle. Das Märchen wird beerbt
von der Kolpo1·tage (die dem Jahrmarkt so nahesteht); die
mythischen Mächte sind ihr der Scheinkitsch der Besitzenden
geworden, und �ie plündert die gute Stube aus, zwirbelt die Dä­
monen des Plüschvorhangs, bis ihn das Dienstmädchen als Braut­
mantel sich umhängen kann. Die Kolportage ist folglich die
eigentlichste Rettung Wagners, über dem Traumkitsch an ihm;
sie ist die Bootsmannspfeife, an der der frische Wagner-Eindruck
begann, an der nichts rätselhaft, aber auch nichts staubig ist.
Auch die Kolportage stammt aus dem XIX.Jahrhundert, ist
gleichfalls ein Traum, doch (wie im Kapitel der nBerauschung«
ausgeführt und hier erinnerbar): keiner der Satten, sondern der
Gespannten und Wartenden. Sie schiebt gleichfalls alte Stoffe
ineinander und reproduziert sie, doch die Ritterromane, sogar
Mythen, die sie umwandelt, sind in einen Wunschtraum einge­
setzt, der alles in bar meint, in keinen aus Erinnerung und pathe­
tischer Flucht. Der Kolportagetraum ist deshalb ein revolutionär
Rettung Wagners

fundierter, ein wetternder Bildnebel von befriedigter Rache und


erfülltem Wunsch, mit viel Spannung, Handlung und großarti::.
gern Triumph am Ende. Weite Reisen, sehr ferne oder sehr glän­
zende Schauplätze sind der Kolportage wesentlich; keineswegs
nährt sie sich zu Hause redlidl, sie ist nicht die stille Schnurre,
bettachtsame Kalendergeschichte des seßhaften Volkes, sondern
ein Produkt der Freizügigkeit, erst mit ihr entstanden. Die Anti­
pathie des heutigen Bourgeois nicht gegen Schmutz, aber gegen
Schund wird so verständlich; die Kolportage läßt Unerwachsene
und Proleten Glanz vorträumen, kurz, sie reizt immer noch
mehr auf, als sie (was nur ihre bürgerliche Funktion ist) über
den Betriebskerker tröstet. Begreift man also schon das Märchen
als Antizipation von Freizügigkeit, als Kampf und Sieg von
Hänsel und Gretel, vom sdllauen Soldaten über Hexen, Teufel, ·
mythische Verstrickungen schled1thin: so wird auch der Held,
den sich die Kolportage wählt, immer märdlenhaft sein, ein tap­
feres, schlaues Kasperle riesengroßen (aber nie großkopfigen)
Stils, selbst wo er sich aus dem ))Mythos«, vielmehr aus dem
vollendeten Schein des Mythos ausstaffiert hat. Noch die wie
immer problematischen l>Erlösungen« Wagners gehen in das
happy end eines Wunschtraumes, an dem viel Indien, viel ver­
schwimmende und quietistisd1e Herrlichkeit, aber kein eigent­
licher ))Mythoscc mehr st,
i der als solcher immer gegen oder
wenigstens außerhalb der Menschen und für die himmlischen
Mächte steht. Hebt man ihr die Stelzen ab, so müßten sich aus
Wagners Traumbarbarei gerade die circenses des menschlichen
Einbruchs, kolportagehaften Glanzes gewinnen lassen, jene cir­
censes also, welche so spannend darin pfeifen oder auch donnern
oder mit Harfenklängen ins nirwanische Grafenschloß ver­
schweben. Die Kolportage überhaupt ist, was an unserer Zeit
fast unmittelbar fruchtbar sein kann; denn am Glanz des Jahr­
markts ist nichts mehr verlogen, die Kolportage ist wahrhaft
volksnah, ist unser Boden und Luft, Voll{s- und Kirdlenlied ge­
worden. Man versteht große Werke kaum mehr anders als mär­
chenhaft mit Kolportageschein, und l>Fideliocc wurde die Orien­
tierungssäule jeder Kolportage: von der Dreigroschenoper, der
der Bote des Königs nidlt fehlt, bis zur Geburt neuer Meta­
physik aus dem Geist der Kolportage. Mehr als ein Weg führt
Rettung Wagners 377

aber auch von der Räuberbraut zur Wagnersehen Schwüle, von


den Traumverschlingungen der alten Kolportage, den beliebig
dehnbaren, zur unendlichen Melodie, von Captain Marryat zu
dem schlagenden, drohenden, ruhelosen Meer des Fliegenden
Holländer und dem Frauenhimmel über seiner überfiutung.
Mehr als ein Weg führt von den Haddedihns, bei denen Karl
May gleichfalls nicht war, zu den Germanen des Rings, von der
Silberbüchse Winnetous zu Nothung und seinem Kampf gegen
den weißen Vater, vom Traum-Orient zur IGtsch-Edda: - diese
Wege müßten auch umgekehrt begehbar sein, damit Wagner
ganz auf sein Seeräuberschiff gerate, mit acht Segeln, fünfzig
Kanonen an Bord und der sonderbaren Hafen-Kemenate des ge­
stillten Wachtraums. Wiesengrund bemerkte bereits (im nBer­
linerOpernmemorial«, 1930 ) : »Wer Klemperers Holländersah,
wird gestehen müssen, wie wenig blasphemisch solche Zuord­
nung ist; daß sie allein es vermag, Wagner endlich vom Staub
des Metaphorischen, ausgehöhlt Symbolischen, muffig Geweih­
ten und romantisch Kostümierten zu reinigen und den Fond an
Aktualität zu mobilisieren, der bei Wagner heute zum Greifen
nahe liegt.« So geriete vielleicht der nldealismus« Wagners ge­
fährlid1 und materiell, das ist: das ursprünglich Revolutionäre
wäre zurückgeholt und aus Schein der nMythologie« die Rache­
und Utopie-Kolportage herausgeschärft.

Freilich ist dies Frische leichter allgemein zu raten als bestimmt


zu tun. Es ist sehr merkwürdig, daß man an Wagner nod1 nicht
konkreter sein kann, daß alles über ihn Gesagte zwar in der Luft
liegt, aber auch in der Luft liegen bleibt. Die gesamte bisherige
Zeithaltung zu Wagner ist Verlegenheit oder Vemeinung; prak­
tisch bleibt trotzdem (oder deshalb ) jeder Regisseur und Diri­
gent des Rings ein Medium, aus dem die unveränderte Makart­
Zeit spricht. Man ist völlig außerstande, die Zauberfiöte, Fidelio,
j a selbst die zeitlich so nahe Carmen zu spielen, wie sie in ihrer
Zeit gespielt wurden, obwohl das nicht das Schlimmste wäre;
aber vVagner bleibt, obwohl es das Schlimmste ist, ein Makart­
Strauß, ein Klara Ziegler-Museum. Solches stammt nimt nur
daher, daß der Bayreuther Fundus so völlig erhalten ist und
drückt; auch nicht nur aus der Tyrannengeste Wagners, die
Rettung Wagners

angeblim nicht Gelockertes hat, also nicht sim erneuert und die
Zukunft aufruft. Wagners symphonische Oper war gerade ihrer '
Zeit eine absolute Sprengung, an deren Eklat man nicht zu er­
innern braucht. Hat sich diese Sprengung in Wagners Werk auch
bald gesetzt und dogmatisiert, so ist Wagner doch zum Unter­
schied von anderen Routiniers und zeitgebundenen Kompilato­
ren ein musikalisches Genie schlechthin, mithin eine Gestalt, die
per definitionem genii nicht an Ort und Stelle bleibt. Denn nur
Talente bleiben an Ort und Stelle, sind fertig, voll ausgeschöpfte
Vergangenheit, können also auch für uns vergangen sein; indes
Genie in einem Werk ist das noch Weiterarbeitende in ihm, das
uns weiter Betreffende, der Beitrag einer Zeit zur Zukunft und
dem noch ungewordenen Überhaupt. Folglich scheint nicht so
sehr der Bayreuther Fundus zu drücken, als: man hat die »Genie­
weise<< Wagners noch nicht gefunden, bleibt infolgedessen in
seiner Vergangenheitsweise, spielt ihn als sonderbares Gemisch
von Kassenmagnet und Ballast, vonWunderwerk, aufgedonner­
tem Mittelvaleur und widerlid1ster Epoche. Dazu kommt der
Gegensatz Wagners zur Nummernoper, die wieder auftaucht,
zur Musik als Rosine, zur Lust an Abwechslung, Handlungs­
fülle, Minutenszene. Das riegelt erst recht ab und hält Wagner,
trotz der einleuchtendsten Irritierung, in seiner Zeit, als wäre er
Meyerbeer oder Spontini (an denen man sich freilich nicht zu
ärgern braucht, weil sie in der Tat »vergangen« sind ). Darum
herrscllt Schlendrian und abstraktes Schweigen, ein Ruhenlassen
Wagners, gar ein fauler >>Patriotismus<! an seinem Makart­
Strauß und Kaisermarsd1, jedoch keinerlei Erbschaft. Die einzig
versuchte Aktualisierung ist die durcll Striclle, zuletzt gar durch
den Vorschlag, den größten Teil des Rings zu sprechen und nur
die Höhepunkte singen zu lassen. n Wer sich diesen Film an­
sieht«, stand auf einem Plakat zu den >>Brüdern Karamasow<<,
>>erspart sicll die zeitraubende Lektüre des umfangreimen Ro­
mans<<; wenig anderes meint die verkrampfte Anti-Pathetik der
neuen Wagner-Saclllichkeit auch. Ist Wagners Ring nicht Dosto­
jewskijs Ernstfall, so sind seine einzelnen Akte doch sympho­
nisch gebaut, so exakt nacll dem Sonatensatz ausgewogen, daß
der Strid1 nur Beethoven, nicht Wagner aus Wagner austreibt.
Die bloß geminderte Quantität sclllägt noch nicht in die Qualität
Rettung Wagners 379

um, die man hier braudlt, vielleicht ahnt. Nur zum entschiede­
nen Frisch-und Links-Aspekt ist die Zeit bereits reif: soll heißen,
Wagner ist heute von seinem unmittelbaren Zustand eotgiftbar.
Er braucht eine andere »Stimmung((, selbst Bruckner und Mah­
ler, an denen ja viel Wagnerisches rein wurde, helfen der ge­
wordenen Fettmusik noch nicht dazu, das Dynamit zu werden,
das sakrale, das sie zuweilen zu sein verdient.
Erst müßte die liebe Leiche darum mit Essig gewaschen wer­
den. Wagner braucht seineo Offenbach, den er ohnedies schon
in sid1 hat, gegen den er deshalb keinenSpaß verstand. Die Kd­
und leeren Pathosszenen müssen so hodl hinausgetrieben wer­
den, daß sie von selber herunterfallen. Es ist nicht möglidt, das
Schlechte, gar Sächsische an Wagner zu lieben, so wie man etwa
Banalitäten an Verdi liebt, ja, ihn um dieser Dingewillen beson­
ders liebt, den freundlich tiefen Geist. Wagner ist dafür zu
anmaßend, an den Blößen eines Gewaltzwingers ist nichts Rüh­
rendes wie an den Schwächen eines Geliebten; vor allem sind
aum die Schwämen Wagners sächsisch, nicht italienisch. Vieles
wirkt bereits als Offenbach nodtmal parodiert, so daß, wie bei
doppelter Umkehrung, der Ernstfall herauszukommen scheint;
dies müßte zum unfreiwilligen Offenbach in Wagner zurück­
gebradtt werden. Es ergäben sim dabei »Parodie<< und echtes
Pathos im gleidten Werk, oft an den gleichen Gestalten, gestaffelt
und gewiß sonderbar, doch jedenfalls als echter Zustand im
Werk, den man jetzt nur zudeckt. Das macht keinen quantita­
tiven, sondern einen qualitativen Strich im Ring, den einzig
sinnvollen. Sodann müßte der wirklich »bedeutende<< Schwulst
in Grund und Boden varüert werden, eben das Klara Ziegler­
Museum, das fremd gewordene, die Kitsdtmythologie der guten
Stube. Gerade aus unserer Umgebung haben wir alle diese
Stücke entfernt, und eine der besten Taten neuerer Ingenieur­
konstruktion ist, uns vom kitschmythischen Bau des »wonnigen
Hausrat« befreit zu haben. Aber wie bemerkt: einen Schritt
weiter lebt das im Raum fort, nidtt seiner Gemütlidlkeit, son­
dern seiner Unheimlichkeit nadl, als Hieroglyphe. Dient die
Ingenieurkonstruktion dieser Zeit dazu, daß der gelcommene
Hohlraum nun wenigstens nidtt einstürzt, so bildet - unter
anderem - das XIX. Jahrhundert genug Symbolstoff, der im
Rettung Wagners

Hohlraum schwebt, auch dialektisch leuchtet, auch Fragmen�e


neuer Sub�tanz bezeichnet. Versuche mit offenem Bühnenraum
wären darum lehrreich, mit sichtbaren T-Trägern um die Kitsch­
mythologie und ihre Requisiten; völlige Illusionsleere umher,
Blockhaus, Rheinterrasse, Brünhildenfels, vu par un surrealiste,
in der Mitte. Und auf jeden Fall kann jetzt schon Kolpo1·tage in
Wagner einbr�chen, Jahrmarkt, Zirkus, Rummelplatz in ihr
darin; der machte das Klara Ziegler-Museum bereits seiner Zeit
kriminalisch oder trug es in die weite Welt. Man muß Wagner
hören lernen, wie man Karl May verschlang, mit ihm auf den
Jahrmarkt gehen. Dann hören die Phrasen auf, weil sie noch
greller werden, auch das Züchtige verlieren, das sich feierlich
nennt. In Leningrad wurde Lohengtin hinter Schleiern und als
Kinderstück gespielt; wie es heißt, mit der reinsten und richtig­
sten Wirkung. Das wäre dann gleichsam Rettung Wagners
durch Christoph von Schmidt, durch den Verfasser der »Oster­
eier« und HHeinrich von Eichenfels«; eine Biegung weiter n
i
den Rätseln der Kinderzeit: und der Ring erscheint als Prärie­
musik, als Surrealistik des vollen Traumscheins, als befreite Kol­
portage im Zuhörerraum und in der Regie. Das H Unvornehme«
dieser Musik, das man immer fühlte, das »Nicht-Legitime«, das
ihr gerade von der gutenStube vorgeworfenwurde, zeigtMesse­
lärm an 'Vagner, offenbare Kolportage genug. Beir.1 hart seiner
Propheten, er hat die Festwiese nicht so gemeint, an Ort und
Stelle, aber dieser Ort und diese Stelle stehen nur als Aufgabe
und Problem. Auch blüht auf dem Jahrmarkt noch keineswegs
die gesuchte HGenieweise« Wagners, doch immerhin besser als
in den Plüschstädten und ihrer Repräsentation eines nicht mehr
Vorhandenen. Waldvöglein singt sein Ansichtskartenlied, Sieg­
fried zieht durd1s wilde Kurdistan, Berg- und Talbahnmusik
klingt unter Walhall, das Vorstadtkinoplakat reicht mit grellsten
Szenen, pastosen Schicksalen auf die Bühne - der Nibelungen­
freund merkt die Absicht und ist nicht verstimmt.
HIEROGLYPHEN D E S XIX. JAHRHUNDERTS

Wo viel stürzt, bleibt manches krumm hängen. Es wird dann


deutlicher sichtbar als vorher an der Wand oder zusammenhän­
gend. Die Franse bebt, der Mann um das Kind tritt vor. Ver­
gessenes dringt an und fängt sich in den Zad<en vormals glatter
Gefühle. Auch Gewohntes liegt schief, sieht dann befremdend
drein.
So reißen sich die Tage auf, woher wir kommen, Ja, der Leib
des vorigen Jahrhunderts beginnt wieder zu kreißen. Bringt
neben Früchten eines bloß zurückgebliebenen Geschmad<s auch
frischen Kitsch. Doch ist diese neue gute Stube, obwohl heute
sehr sich�bar, meist nur nachträglich oder nachgeholt; sie ist in
kleinbürgerlichen Schichten noch unmittelbar lebend, nicht mit­
telbar zitiert. Lehrreicher daher und hier allein gemeint ist die
mittelbare Betroffenheit von den Dingen des XIX. Jahrhunderts;
als solche gerade der Avantgarde eigen. Seit Aragons »Paysans
de Paris<<, seit Benjamins seltsamen Briefmarkensammlungen
und Passagen taucht die Elternzeit (und zwar in der Weise, wie
man als Kind in sie versenkt war) stets erwachsener auf. Was
früher nur der Alp der Schulträume war, ist die freiwillige Lust
einer gebannten Rückkehr geworden. Jeder Zug, jedes Gerät
st
i dazu redlt: eine Vase von damals am Fenster, zwischen den
Quasten des Vorhangs - und der Erwachsene hat es leicht, sein
Kindergrauen, Kinderdämmern mit den Rätseln dieses Kitsches
zu verbinden. Denn das XIX. J al1rhundert steckt an sich schon
voller Traum, Gemisch und Gemunkel; heutige Erinnerung legt
das Gewesene nur weiter aus. Die Form, worin dies Jahrhundert
vergangene Zeiten nachträurnte, nachbildete, mischte und er­
setzte, schießt zur Hieroglyphe zusammen.
Die meisten Kleinen wollten damals anders scheinen, als sie
sind. Bereichert euch, war der Ruf der fünfziger Jahre, er ist den
folgenden geblieben. Bürger, über Nacht groß geworden, wuß­
ten nicht, wie das zu halten sei, ihr Kitsch wurde daher noch
größer. Man vergißt hier nicht, sondern gleich anfangs sei be­
merkt: der Wille, sich zu bereichern, hat auch Wirkliches ent­
bunden. Als Wid1tigstes zuerst: der bürgerliche Sieg r 789 hat
die industriellen Produktivkräfte entfesselt, von r83o ab wälzt
Hieroglyphen des XIX. Jahrhunderts

die Maschine das Leben um. AuCh mit neuen Formen fühlte die
Industrie schon weit vor; durchs ganze Jahrbundert ziehen sich,
oft verblüffend, Versuche aus Glas, Eisen, unabgegrenztem, luft­
durchspültem Raum. Giedion bat dies »Bauen in Frankreich«
gleichsam ausgegraben; »WO das XIX. Jahrhundert sich unbeob­
achtet glaubt, wird es kühn«. Ein großer Sonderfall schließlich
ist die WISsenschaft dieses Jahrhunderts, ihr Wille zu positivi­
stischer Genauigkeit und die Dienste, die sie mit ihrer riesigen
Materialsammlung dem Marxismus fast unmittelbar erweisen
konnte. Aber vom Sonderfall der Wissenschaft abgesehen ( des­
sen Grenzen, dessen eigene Übergänge zum kontemplativen
Schein aufzuzeigen hier zu weit führen würde): ist Offenheit
in allen ideologischen Äußerungen dem Jahrhundert seine Ano­
malie und Plüsch seine Regel. AkademischeArchitektur hinderte
die sogenannte funktionelle durchaus, dicke Stile lagerten sich
über die »Combinaisons aeriennes« ( deren Möglichke:ten Oc­
taveMirbeau I 889 schon erkannt hatte ) ; »Ornament« vor allem
verblendete ( im wörtlichsten Sinn) die Konstruktion. Der Wi­
derspruch zwischen der immer stärker beginnenden gesellschaft­
lichen Produktionsweise ( der Industrie ) und der privatkapita­
listischen Aneignungsform - dieser Widerspruch erschien in
zwei Gesichtern: dem ingenieurtechnischen hier, dem dekorativ­
individualistischen dort oder der Anarchie der »Stile«. Nur daß
es gar keine zwei Gesichter waren; denn das erstere schämte sich
seiner Existenz, kam gar nicht auf, während die historische De­
koration Zimmer, Haus, Lebensform, Kunst, Kultur von der
Wiege bis zum Grabe beherrschte. Auch erleichterte dieselbe
Weltwirtschaft, weld1e die eisernen Ausstellungshallen bauen
ließ, ebenso einen historischen Warenmarkt, nämlich die ver­
logene Weltausstellung »aller Zeiten und Stile«. Der Schwindel,
den man seit Einführung der festen Preise im Geschäft überdeckt
hatte, brach nunwenigstens im Leben wieder vor. Die historische
NaChahmung aber, ein anderer Grundzug des Jahrhunderts,
entsprang der Lust des Parvenu, im eroberten Adelsbett zu
träumen, feudal sich aufzudonnern. In Deutschland vor allem,
bei politisch fortbestehendem Adel, in der altertümlichen
Dekoration dieses Reichs, blühte der bourgeois gentil'homme,
zoo Jahre nach Moliere, mit ungeahnter Pracht; seine innere
Hieroglyphen des XIX. Jahrhunderts

Unsicherheit wie sein historischer Traumschein bestimmten Ge­


sellschaft wie Kultur. Kurz: handelten die meisten dama igen l
Menschen nüchtern und bürgerlich, so verdeckten sie es oder fan­
den keine Form dafür. Daher das eigentümlich verlogene, süß­
liche oder läppische Spiel, die Feinsliebchen, die man pflückte, die
Bettelarmbänder, die man sich schenkte. Daher der Goldschnitt,
Frau Wirtin und die sangeslustigen Jägerburschen (während
seit einem halben Jahrhundert schon die Eisenbahn lief, gab der
Dichter Scheffel »dem Roß die Spornen<< und ritt ins Neckar­
tal). Daher die hochrote Hausfrau am Herd, doch außerhalb
der Küche ihr perlendes Gelächter, im Reifrock mit Puffärmeln;
daher die Kompmente
il schnurrbartstreichender Schwerenöter.
Daher der Riß zwischen Alltag und Dekoration, das Schein­
leben auf Plüschsesseln, beschienen vom Glanz der Gas-Flam­
beaux; daher das Vestibül der achtziger Jahre mit Schnitzerei,
Marmorpracht und einem pneumatischen Ttirschließer, der seuf­
zend ins Sdlloß fällt und die Wirklichkeit dämpft. Daher das
gedrechselte Tischlein im Salon, mit aufgeschlagenem Buch dar­
auf und zieren Kettchen, die von der Platte herunterhingen;
daher die lebensgroße Photographie auf der - Staffelei, mit
gerefftem Vorhang darüber. Daher die goldenen Äpfel der
Kunst in silbernen Schalen aus Papiermache, die Prachtausgabe
und die bayrischen Königsschlösser, errichtet gegen eine Wuk­
lichkeit, der ästhetisch am besten die Flucht vor sich selbst gelang.
Ein Eigenes lieferte die Geldpracht freilich auch: nämlich weich­
lichen Festgenuß, im Leben, wie in der Kunst. Dem Ruf: }) Berei­
chert euch!« entsprach letzthin ein Hedonismus, der bei Sd1o­
penhauer und Hartmann die gesamte Weltansd1auung durchzog;
er reduzierte fast sämtliche Weltprobleme auf Bilanzfragen,
aufs Konto von Lust oder Unlust, auf Optimismus oder Pessi­
mismus. Von daher wieder mußten die Frauen »weiblich<< sein,
mit Büste, Hüfte, Taille, fetten Armen und ahnungsvoller Ver­
hüllung. Stiefeletten liefen drüd{end und gepeinigt mit herz­
förmig geschweiften Rändern; vaginale Rüsd1en besetzten Son­
nenschirme, Jäckchen, Schleppen, Culs de Paris, - noch im
Parkgras saß das Lila des Rhododendron nicht anders als die Rü­
sche an der Schleppe eines großen Kleids. So wollüstig bauschte
die Portierenzeit, daß ihre Frauen uns allesamt entgegenbicken l
Hieroglyphen des XIX. Jahrhunderts

wie Figuren aus dem »Pschütt« oder der ))Vie de Budapest«;


trotz der · durd1dringenden Bürgerlichkeit im Hauptberuf.
Nicht anders die Herren, mit engen Hosen und Vollbart: im
Bart nistete frisierte Smwüle, im Schlafgemam brannte die
Ampel, im ganzen Zeitalter schwellte, dämpfte, log das Plüsch.
Es war das J aluhundert der Nüchternheit und ebenso des
Schwulstes, der sie übertäuben sollte; das Jahrhundert der wol­
lüstigen Fabrikanten und ihrer Traum-Melangl' im Adelsbett;
das Jahrhundert einer ,,Stilkunst«, die als historisches Masken­
geschäft im der trostlosen und entgegengesetzten Straße stand.
Dies Wesen grüßte von Haus zu Haus, aber auch smummrig
und versteckt. Der Mensm verhüllte sich, noch alle Dinge lagen
in Etuis wie in einem Bett. Wie genau überhaupt verbanden sich
Angst und verkromener Betrug mit diesen Wohnungen, wie
gefährlich schlug sich Kriminelles darin nieder. Schön sah Ben­
jamin dies Element des Jahrhunderts: die ll Singende Gasflamme<<
oder den ,,langen Korridor, der dem Opfer die Fluchtbahn vor­
schreibt((; so war die hochherrschaftliche Wohnung nimt nur
der reiche Smauplatz des Nehmens, sondern auch der einleuch­
tende des Genommenwerdens, des Kriminalromans. .Hinzu trat
als dickster Glanz des Profitsalons, daß die Reichen von damals,
nid1t gesättigt von Zugbrüdre, Spinnrädern und anderer Renais­
sance, aum noch Orient braud1ten. auch nom Kelimsegel quer
durch Zimmer brauchten, die Perserteppiche am Boden, die
Zimmerpalme inmitten, Kameltaschenmuster auf ailen Polstern
und Kanapees. Was immer im Biedermeier den Orient entdeckt
hatte, den Kashmirshawl und die türkisgrünen Wände: das bal­
kanisierte hier, der Balkan im Kapitalismus wurde zum ,, Khanat
des faulen Zaubers«. Derart war der Salon, und die Straße
setzte die Künstlichkeit fort, zugleim mit neuer Abwandlung
der Grundmotive des Jahrhunderts, als welche sind Unecbtheit
und üppir, großer T1'aumschein im Adelsbett. Sieht man diese
Riesenfenster und Balkone, die Stein-Nippes als Ungeheuer,
das gußeiserne Grobzeug und die Karyatiden vor Bankpalästen,
so scheint ein neues Volk hergewandert, eine barbarische Zivili­
sationsrasse statt der zart-kultivierten des Biedermeier; um im
Abstand weniger Jahre Deutsd1land mit Greueln zu verwüsten,
die ihresgleid1en sumten und nimt fanden, außer im Traum-
Hieroglyphen des XIX. Jahrhunderts

Talmi, in der Stil-Melange aus allen Zeiten und Völkern. Es ist


die Straße der Weltausstellungen und ein Historismus, worin
jeder jedes konnte, der Baumeister nicht bloß riesig baute, son­
dern romanisch, gotisch, renaissancistisch durcheinander, je nach
Auftrag, und die äußere Größe der inneren Uferlosigkeit ent­
sprach. Einsam die französischen Impressionisten, ohne Einfluß
das ehrlich-große alte Handwerk der Leibl oder Gottfried Kel­
ler: die damalige Kunst bestand aus Maskenball. Der reichte
vom neckischen Genre bis zum ebenso theatralischen Riesenfor­
mat; nur eines Wagners Genie machte fast mythische, kaum
noch mythische Maske daraus. Die letzte (bereits gesprenkelte )
Scheinwelt des XIX. Jahrhunderts war der Jugendstil, war dies
Glühlila in Müdigkeit, als solches noch in Wagnerepigonen
nachklingend und merkbar bis zu Klages. Jugendstil war die
Scheinempanzipation eines Bürgertums, das- bald sozialdemo­
kratisch, bald nietzscheanisch aufgestachelt - doch nichts mehr
in sich zu emanzipieren fand als Flucht und Ausleben, als selt­
same Sumpfmotive zugleich, als Sumpfschein des gebärenden
Anfangs im faulenden Ende. Die Ornamente früherer Jahrhun­
derte waren innere Figur, die sich nach außen brachte; die Deko­
rationen, welche das XIX. Jahrhundert aus dem alten Orna­
ment sich holte, sind nicht einmalgute Falschmünzerei geworden.
Das freilich auch aus hieroglyphischem Grund und einem, der
mit den Wunsch- und Ersatzträumen des Bürgertums, mit der
Zutat des Kollektivtraums genau zusammenhängt. Denn das
XIX. Jahrhundert kopierte ja nicht nur, auf gelehrte Weise, die
Vergangenheit, sondern materialisierte zugleich seinen Traum­
schein aus ihr: es ist historische Kopie plus Architekturtraum
einer entsd1lafenen Geschichte.

Wo viel stürzt, sagten wir, bleibt manch Krummes hängen. Das


merkt sich vor allem an der vorigen Zeit, bloßer Ekel drückt sie
nicht mehr aus. Nach dem Ekel war das Lachen gekommen, der
oft sehr kunstgewerbliche Spaß an den komischen Kleidern und
Sitten des Plüsch. Ekel wie Lachen waren nicht sehr tief gegan­
gen, sie lagen in einer gewissen Zone des Schweigens; nun aber
wird das vorige Jahrhundert als Rätsel hörbar, lauter, wenn­
gleich noch spukhafter als vorher. Das hörende Subjekt ist
Hieroglyphen des XIX. Jahrhunderts

zunächst, noch ohne Deutung der Folgen, das Kind von damals
im Erwa'chsenen; dessen Reaktion ist Grauen und selber win­
kelige, echoreiche Betroffenheit. Denn Kindheit, wir sagten es,
fand nie so viel Zacken und Verzierungen wie im XIX. Jahrhun­
dert, so viel Verstecke, die schred{ten und verbargen, so viel
Traum der Späte, der archaischen der Frühe sich ansetzen ließ.
Doch vor allem ist die Zone des Schweigens passiert, weil die
Dinge des XIX. Jahrhunderts jetzt erst zerfallen, weil sie faulen
und dunghaft phosphoreszieren. Der Nationalsözialismus tut
das Seine als Gespenst, um die gute Stube recht unmittelbar zu
nutzen. Er lehnt gerade die »in die Zukunft weisenden« Ele­
mente des XIX. Jahrhunderts ab, also sein erstes oder Ingenieur­
Gesicht; doch nahe lebt er im zweiten, im Plüsch. Und je deut­
licher die bisherigen Machtmittel zur Unterdrückung des
wirklichen Sozialismus versagen, je genauer das Großkapital
fascistischer Diktatur bedarf und der Narkos� dazu, als der
Diktatur in anderer Gestalt: desto häufiger auch aktualisiert es
den Festschein und Maskenball des vorigen Jahrhunderts, desto
geschickter wieder kann Dekorationsmalerei siegen. Die mittel­
bare Rezenz dagegen, die seltsame Avantgarde des Surrealismus,
welche für ebenso seltsame, neu-symbolischeZwecke Haut-gout
destilliert, hat das XIX. Jahrhundert forensisch: als Chok und
Objekt, als lebendig gewesenes Wachskabinett und Spuk, als
Ausgrabung und »Antike« mit Totenflecken. Gaslicht kleinbür­
gerlich über dem Eßtisch und dem Vertiko daneben; Gaslicht
großbürgerlich über bärtigen Fräcken und Plüschrondells. Gas­
licht kleinbürgerlich auf den Stichen und Öldrucken der Zeit,
auf dem Mädchenengel, der ein Kind vor demAbgrund behütet,
auf dem savoyardismen Hirtenknaben, auf dem wasserrosigen
See und der geschmückten Gondelfrau, auf dem rot und grün
erleuchteten Ballsaal des Hintergrunds, worin Paare tanzen in
Decollete und Frack; Gaslicht großbürgerlich über Makartbil­
dern, deren alabasterne Arme zu Leichenweiß verderbt sind,
deren Komposition als wilder Plunder zerfällt. Diese Gebiete
geben jetzt erst, durch Chok und Zerfall, ihre Bedeutungen frei:
als Hieroglyphen des Scheins und der Überfüllung, als Stil­
Melange und bodenlose Mythologie. Dergestalt hat der Sur­
realismus am XIX. Jahrhundert seine Empfindlichkeit, seinen
Viele Kammern im Welthaus

Acker und sein Kolosseum. Der Inhalt der Ausbeute aber ist
gerade die völlig zerfallende Traumstil-Melange, und das Mit­
tel, womit deren Hieroglyphen verstärkt werden, um seltsam
betreffend, vielleicht sogarlesbar zu sein, ist diabolische Montage
der damals schon kreuz und quer durchschossenen Ornamente.
Die Photographien auf Staffeleien, die Thermometer auf Helle­
barden, die rätselvolle Schreckenskammer der Zeit: dies Jahr­
hundert ist näher als die Kindheit, ferner als China. Aber Sur­
realisten wie Max Ernst, Chirico, Aragon, Benjamin entzünden
ein Kaminfeuer in der Chinesischen Mauer, rücken den kleinen
Goldstuhl aus der Konditorei heran, und die Chinesische Mauer
umschließt eine Zeit, die das Experiment des Menschen aus
Abhub ist. Ausrufer auf Jahrmärkten pflegen vor mancher Bude
zuzuraunen, hier seien zu sehen ndie Geheimnisse Griechen­
lands«. Sie sind es im XIX. Jahrhundert nicht, doch die Zeit
enthielt andere Geheimnisse, nämlich die halbwüchsigen der
damals Erwachsenen; sie war spießbürgerlicher Tempel aus
Alkoven, ein neumythisches Alt-Mexiko aus lauter nBudapest«.
Kein Zweifel: verworfene Ecksteine (nicht immer blasphemi­
schen Sinns ) dürften im Trümmerfeld noch findbar sein. Auch
ist die Fauna der Ornamente groß, und das Löwenhaupt am
Kanapee hält den Ring nicht mehr fest. Das Bergwerk dieses
XIX. Jahrhunderts liefert keine Kunstwerke wie die vorigen,
aber Urbilder, Archetypen (menschlicher Expression) aus
Einsturz.

VIELE KAMMERN IM WELTHAUS (1918)

Da draußen rührt sich zu vieles ohne uns. Nicht immer ist


schlecht, daß Benanntes wieder entläuft. Desto eigener fällt es
auf, gehört nicht mehr so verabredet zusammen. Grünt oder
welkt ganz anders dahin, als man denken mag.
Ja, schon dies Grün hier kommt nur bei sich vor. Die Blumen
duften vielleid1t und nträumen«, wie man das nannte, aber wer
weiß, wozu und worin. Die meisten Tiere leben fern, nicht in
unserer Welt, in der oder gar zu der sie sich kaum bewegen.
Niemand hat die Wege des Fischs, wie er sie schwimmt, was er
Viele Kammern im Welthaus

auf ihnen sucht und sieht. Es gibt'auch bedeutend weniger Haus­


tiere, als man das wahr oder vielmehr falsch haben will. Die
Katze kreuzt niemals unseren Weg, auch nicht zum Unheil,
selbst der Hund geht nicht mit. Und wenn sein Bellen noch so
sehr den Bettler verneint, das Geld bejaht, das er beschützt.
An uns als Kindern sieht es nicht viel gerader aus. In der
.
kleinen, wogenden Lage, die wir kaum noch träumen, damals,
als Türklinken wie Fliegenköpfe aussahen. Und wieder die
Frauen um uns, sie mögen noch so sehr männliche Sprache als die
ihre erlitten, erfahren und schließlich selbst ergriffen haben: an
ihnen bleibt Duft aus völlig fremden Gärten genug. Das blanke,
üppige Weib, ein gefährliches Fremdwunder, und zugleich die
Freundin, das alter ego im wahrhaft dialektischen Akt der Liebe.
Schon der Nebel an Frauen, sehr deutlich zu fühlen, ist ein
anderer als der männliche, und ebenso die Richtung, in der er
gefragt sein will. Man hat Frauen nicht entwertet, wenn man
sie Sphinxe ohne Rätsel nannte oder ihre »unergründliche Halb­
heit« stellte, man hat damit nur unseren Rätselbegriff, selbst
diesen, an ihnen entwertet. Nicht die keusche Magd, nicht die
donna graciosa, nicht die gleichberechtigte Reformschwester,
nicht das Girl, nicht die Genossin schließt das Unbestimmte am
Weib auf, kaum das ihr selbst schon Gegebene. Weibliches Lie­
besgefühl hat einen seltsam abgewendeten Blick, noch in der
Wollust, gerade in h i r; die Mutterschaft wirkt wie in dunkle
Kreise eingeweiht, ein Reservat, nicht mitzuteilen, kaum einzu­
beziehen. Mindestens nach Liebe und Mutterschaft hin liegt die
weibliche Spindelseite außerhalb des männliches Blicks. Sie ist
seiner Schwertseite neben-, oft übergeordnet, nicht als Variante
beigelegt.
Näher zu uns, so stimmt kaum am menschlichen Leib die
Reihe, nicht einmal als krumme. Die blutigen Muskeln unmittel­
bar unter der dünnen Haut, sogleich sehen wir anders aus, sind
uns ganz und gar nicht ähnlich. Was ist nicht alles sonst noch im
Leib zusammengepackt an zuckenden, schlagenden Röhren,
Knollen, Wurmbewegungen der Eingeweide; das geht mit dem
Menschen, wie er sich gibt, schwer in eins, von den Ausschei­
dungen zu schweigen. Kaum zu glauben, daß in diesem blutigen
Inneren das menschliche Leben gekocht wird oder im Gehirn
Viele Kammern im Welthaus

das Denken; an einer Geißlersehen Röhre wäre der Übergang


»verständlicher«, gleichsam homogener, oder an einer blitzen­
den Maschine, - l'homme machine, er ist dieses nicht. AudJ ober­
halb dieser Tiefsee, an der Oberfläche des Leibs als ihrem dek­
kenden Spiegel, mit so ganz anderem Ausdruck, gibt es noch
Unterbrechung genug. Die Geschled1tsteile etwa sind dem
Kanon des nackten Menschen fremd, wie wir ihn seit den Grie­
men haben. Weichtier und Schlange gehen darin um, sprechen
sich nur pornographisch aus, am Rand der Spradle, derb, pikant
oder sdnvülstig. Die Geschledltsteile unterbrechen den apollini­
schen Umriß, und der barodce, der ihnen näher steht, bekleidet.
Erst remt hat der Liebesakt sein eigenes Reidl, einen Raum mit
offenem Boden und offener Decke, aber ohne Fenster und Tag­
licht, kreist darin mit reflexhafter »Barbarei«. In der heutigen
Stadt werden wenigstens am >>Werktag« Erschütterungen von
der Stärke der Sexualität nicht laut; oder nur an Abenden, in
Luxusstraßen und Lid1tblendungen, uneigentlid1, vorspielhaft,
zum farbig-streuenden Allotria entspannt. Vielleimt wird die
bürgerlidle Welt durch Hunger, sicher nicht durch Liebe betrie­
ben; audJ in ihre Kunst, Religion sind Liebesblicke nur uneigent­
lich eingemismt worden und nidlt als widltigste Motoren. Bei
den Griechen herrschte wenigstens nodl Spannung, im gotischen
Christentum FeindsdJaft zwisdlen Dionysos und Apollon, zwi­
smen der unterweltlidlen Dämonie, in die Eva riß, und Maria­
Christus. Sinnenglück rivalisierte immerhin noch mit Seelen­
frieden, in der heutigen Welt steht es völlig sd1ief zum bloßen
Arbeitstag. Maria-Christus war noch der raubende Fludltver­
such aus Dionysos heraus, das überlegene Experiment, aum
aus dionysisdlen Phiolen gereinigtes Wasser in ein neues
Leben zu gießen; Minnedienst kam von daher und darmwirkte
eine ganze Kultur, bis hin zum Rokoko. Dem bürgerlid.1 ge­
wordenen »Geist« dagegen ist Dionysos völlig disparat, frei­
lim dadurdJ desto schärfer auch als das Ausgelassene fühlbar.
Dabei ist »Dionysos« nur einer, wenn auch ein Starker von
vielem, woran unser gewohntes Lebensgefühl, abstrakter Ratio­
nalismus versagt.
Wird die Liebesnad1t nid1t hell, so ihre Frucht noch weniger,
obzwar sie sich mitten am Tag trägt. Bizarr ist das Kind im
3 90 Viele Kammern im Welthaus

Mutterleib, die unsagbare Schlafwelt des Embryo, von Schwan­


geren auf die Straße, in Geschäfte, auf Bälle getragen. Der An­
fang einer Welt, j a der Welt überhaupt dumpft und glüht hier in
einer wachen Frau; Nullpunkt der Vorgeschichte fährt gegebe­
nenfalls zwischen zwei Stationen der Straßenbahn, im kühlen
Alltag des Jahres 1928. Dies unvergleichliche Zugleich läßt sich
j a freilich homogeneisieren; entweder modern, indem Gynäko­
logen vom Embryo handeln, als liefe auch im Mutterleib eine
Straßenbahn, oder mythologisch, indem Kabbalisten auf dem
Haupt der Frucht ein Flämmchen sahen, den »Engel«, der sie
führt. Aber die letztere Einordnung ist schon lange gesprungen
(so wie Dionysos als Gott in einem »Göttersystem« gesprungen
ist); und sie gab auch nur ein bunteres Haus, mit eingemischten
Farben der Urwelt, wo überhaupt noch kein mögliches Haus
statthat. Zudem: können die Gynäkologen die Mysterien des
Anfangs nicht ordnen, so brachten Kabbalisten umgekehrt das
Dasein der höchst irdischen Welt nicht unter, in der das Engels­
wer!< doch eingeschlossen ist. Der Chok, der Reinhardt, einen
jungen Naturforscher, in Kellers »Sinngedicht<< überkommt, als
er die Liebesgeschichte seiner Eltern hört, der er seinen Ur­
sprung verdankt, ist der erfahrene, nicht nur kontemplative Be­
griff dieses seines eigenen Anfangs, als eines Weltanfangs mitten
im zivilisierten Hochzeitshaus, ja mitten in der bekannten,
scheinbar sich selbst genügenden Urbanität. Die Liebeszeit der
Eltern erregt nicht nur aus freudianischen, sondern auch aus
metaphysischen Gründen diesen Chok. Der Ekel der Kinder,
sich ihre Eltern im Liebesakt vorzustellen, aber auch der Schreck
der Eltern am beginnenden Liebesleben ihrer Kinder hat außer
den verständlichen noch diese dunkleren Gründe: hier sind Fall­
türen in der Welt, Orte, an denen die gewohnte Wirklichkeit
ihren Boden verliert. Aud1 die kirchliche Kultur kann das
embryonale Dasein aller Menschen und immer wieder aller
Menschen nicht in Form bringen, in eine, die die scheinbar kon­
tinuierliche, noch in ihren Revolutionen kontinuierliche Ge­
schichte nicht auf Abgründe setzt. Sie hat nurfür den Augenblick
des Übergangs die Taufe; doch die ungeheuerlime Spukwelt
vorher, ein umgekehrtes Totenreich, mitten unter Lebenden
herumgetragen, bleibt ohne Licht.
Viele Kammern im Welthaus 391

Fast überflüssig zu sagen, wie sehr erst der Tod bricht und
verdunkelt. Der Beilhieb ins Mark, so daß dasselbe Fleisch ver­
west, das sich zuerst so seltsam gebildet hat. Da liegt nun die
bittere Leiche, nicht mehr eingeschlossen in die Welt wie die
Frucht, wie das Kälbchen m
i Leibe der Kuh, die man zur
Schlachtbank fährt: sondern der denkende Mensch ist selber an
den Urort des Alogos gefahren, dicht neben der Stadt auf dem
Friedhof. Man hat den Tod in die organische Substanz selbst
einbezogen, ihn gleichsam an die Spitze eines eigenen Triebs,
des Todestriebs gelegt. Nicht nur als Sehnsucht des hohen Alters,
sondern gerade auch als Tendenz der Jugend, als mineralische
Tendenz gleichsam, die das Ich auslöschen, allhaft oder starr
vergehen lassen will. Auch in der Askese soll ein solcher Ver­
nichtungstrieb wirken, nicht in der Askese der Arbeit, die es sich
sauer werden läßt, auch nicht in der Askese der Weltflucht um
eines inneren Lichts oder der Überwelt willen, wohl aber in der
baren Abtötungslust, die gleichsam eine Völlerei des Todestriebs
sein kann und an der die Religion eine Ideologie ist. Ebenso gibt
es gewiß mehrere Weisen, mitte1st derer der Tod in die psychi­
sche Substanz einbezogen oder wenigstens von ihr gebraucht
wurde. Entweder direkt, wie bei den Ägyptern, als den Ver­
ehrern der Starre, der Statuarik, der Osirislehre, oder indirekt
und gleichsam dialektisch in den Phänomenen des »Liebestods«,
zuhöchst des »Opfertods«, auch der echten Askese. Ästhetisch
gehört das Phänomen der Tragödie hierher, wie sie den Tod
zum Rahmen eines herausgetriebenen Lebenssinns macht. Je­
doch wie richtig oder falsch auch diese Phänomene gedeutet sein
mögen: selbst ihre Einflechtungen geschehen immer nur am
Rand des Tods, an seiner zurecht gelegten Schauseite, nicht m
i
Zentrum. Er bleibt das fremde Nicht-Ich schlechthin, das Irra­
tionale in der Ratio jeder Kultur, selbst der ägyptischen, selbst
der christlichen; der Tod ist der Prototyp jedes »verhängten
Schicksals«, als eines ebenso ungewollten wie fremd eingreifen­
den wie unbegriffenen. Noch fremder als der Vormensch reicht
so der Nachmensch und sein Leichenreich in den BegrifFstag,
wird davon überhaupt nicht mehr oder nur mit ungeheuerster
Entfremdung überboten. Das aufgeklärte Lebensbewußtsein
kapituliert vor dem Tod, das kirchliche durchhaut ihn, aber
39 2 Viele Kammern im Welthaus

nirgends ist .der gordische Knoten wirklich verschlungen in.


den Sieg.
So viel ließe sich dem schlichten Grün noch nachtragen, mit
dem hier zu staunen begonnen wurde. Eine Skizze, weniger: ein
kleiner Katalog müßte so entstehen, sehr unvollständig und
wissentlich ungeordnet. Ein Katalog des Ausgelassenen, jener
Inhalte, die im männlichen, bürgerlichen, kirchlichen Begriff­
system keinen Platz haben. Die aber im selben Maße wieder
hervortreten müssen, als das System revolutionär gesprengt
wird oder »relativistisch« selber springt. Und infolgedessen -
gegen den abstrakten Rationalismus - existentielle Inhalte
erscheinen, die gewiß nicht jede Ratio sprengen, aber eine
existentiellere und konkretere brauchen. Elende treten vor, die
schlimmer als das Vieh gehalten werden und sich nicht dagegen
regen, weil sie gänzlich draußen stehen. Dienstmädchen, so
schwach und sprachlos, daß sie nicht mit dem Leid, sondern daß
das Leid mit ihnen ins Wasser geht. Dirnen, Zuhälter, bürgerlich
Unbestimmte und Unterbestimmte des Verbrechens, Gestank,
Madenleben und eben »unsäglich« verkommene Buntheit in den
südlid1en Hafenstädten. Und im Seßhaften, gefährlicher Aus­
gelassenen: noch die Bauern marschieren außer Reib und Glied,
in ihrer Nüchternheit, die keine ist, in ihrem Besitz, der nicht
kapitalistisch ist und also nicht umschlägt. Der Adel ist erst recht
kein Vorbei, vom Bürgertum linear überrannt, sondern das
XIX. Jahrhundert ist nocll ein Handgemenge bestehender
Gewalten, unter denen die Restauration, auch innerhalb des
Bürgertums, nicllt die geringste war und bleibt. Und wieder
herauf, zu Beständen mit tieferem Dunkel oder Licllt: sind denn
die Juden Spreu geworden, nachdem das Korn Jesu heraus ist?
Niedere, aucll höcllste Religionen strotzen noch im vollsten Ne­
beneinander, in den Lagunen der Südsee, mit Kannibalen be­
haftet, in den geheimen Klöstern Indiens; sie landen weder tat­
säclllich noch substanziell im »Primat« des Christentums, als
wäre bereits aller Dämmerungen Tag. Erschreckend, doch reli­
giös erschreckend ist in ihnen das »Numinose« enthalten, ein
Menetekel aller Theologie, die weiß, was es mit bloßem Ratio­
nalismus des Herzens und Geistes auf sich hat. Mit nichten
ist auch die »Naturschranke« überwunden, wie es sich der
Viele Kammern im Welchaus 393

Kapitalismus wünscht, der hier vergebens der Nachfahre der


alten Zauberei ist. Der bloße Kausalnexus, von dem unser Leben,
unsere Begegnungen und die daraus anhebenden Schicksale ab­
hängen, sieht nicht nad:l konkretem Produktionsbudget aus, das
den vVildwud1s der »Natur<< überwindet. Und ebensowenig,
nad1 der anderen Seite, den Abgrund des Unfalls: die Einstürze,
Zusammenstöße, Explosionen im Bereid1 der Technik, der im­
mer nod1 abstrakten, nid:lts durd:lbohrenden; gar die kosmische
Schutzlosigkeit jenseits all der neumagisd:len Triumphe. Und
auch sonst: wie disparat an sich selbst steht auch im Kleinen im­
mer noch Naturhaftes zum wamsenden Generalnenner, der es
nichts angeht. Da hebt sich das Wasser so öd und sd:lwer, der
Fels lastet, schweigt und starrt auf seine namenlose Weise, un­
endlich rollt die Wogenprozession aus der Nad:lt in die Nad:lt,
ungesd:läftig in dunklen Geschäften, es flammt die bleiche Blitz­
ader, wie sie Dicl1ter sehen und Philosophen nicht durchdringen,
bis auf die feinste Einzelheit in solcher Eile ausgebildet, dod:l
von unfaßbar kurzer Dauer; die Sterne brennen als Argusaugen,
die keine sind, als Götter, die keine sind, als Feuerklumpen,
Strahlungskörper, die keine sind, mitten in der ungeheuren
Anderheit der Weltnacht: kein Begriff, weder einfühlend noch
dichterisch noch qualitativ noch quantitativ, setzte diesem Ober­
maß an Rätseln ein Ziel; selbst die Fragestellung blieb hier bindl
vor Irratio: als der riesigen Anforderung an die Vernunft, die
das Geheimnis nid:lt auflösen kann, ohne ihm gerecht zu wer­
den. Selbst die Mystik gab mit allen ihren Sonnenwerdungen
oder Gottiefen der ))Natur « kein Haus. Faßt man die Welt nach
der einen Seite, so entrinnt sie nach der anderen, verlegt immer
wieder ihre schlechte Unstellbarkeit. Was heute Elektrizität ist,
dies breit rationalisierte Wesen, war den Gried:len gewiß nur ge­
riebener Bernstein, aber dafür ist alle alte Magie wieder bis auf ein
kleines Stück dilettantischen Bernsteins zurückgegangen, und die
alte Magie war auch nur Stückwerk. Wie dunkelt erst der Kern
der Natur, Menschen im Herzen. Der Beweger des Menschen­
gesd:licks ist unbekannt, sogar noch der Beweger des Hungers
und der Ökonomie, wie sehr erst das Subjekt der ))Kultur«, all
der Täuschungen, auch Glanzbilder eines wechselnd adäquaten
Bewußtseins, in dem das echte verborgen ist. Im Kleinen,
394 Viele Kammern m
i Welthaus

Winzigen geht oft noch am genapesten das Herz des Existierens


auf; das hat schon an der Art, wie diese Pfeife da liegen mag, die
Instanz seines ·Schlags: doch nur erst ein großes Staunen, wenn
auch das letzte und höchste, faßt sich daran. Völlig im Nebel,
noch ohne Lampe des Begriffs, ist das Subjekt des Existierens
überhaupt. Dieser Weltodysseus ist nicht nur der Philosophie,
sondern damit sich selber nod1 unbekannt, heißt noch Niemand
oder Subjekt ohne Gesicht, Tendenz ohne gestellte Materie;
sein Ithaka liegt unter dem Horizont.
So hart drängt reichlich Anderes an, links, auch redlts. Geht
nicht unter einen Hut, steht quer, ist sperrig zu einem allzu rasdl
oder verabredet sammelnden Begriff. Dieser zeigt sim so als ab­
strakt, er läßt aus, mit einer Art numerus clausus, was nicht in
seinen Zusammenhang paßt. In seinen abgegriffenen, dadurch
doppelt glatt gewordenen, in ein Bezugssystem, das als männ­
liches, bürgerliches, als immer wieder quantifizierendes sehr viel
Unterbegriffenes im Vielen hat. Das Viele vagiert hier als das
Einzelne, das nimt als Besonderes unterkommt; vorzüglich das
qualitativ Besondere ist dann so wenig audl das Besondere eines
Allgemeinen, wie das Allgemeine das Allgemeine dieses Beson­
deren sein kann. Der heutige Zerfall des Oberflächenzusammen­
hangs macht für dergleichen besonders empfindlich: freilich aber
nicht zum Zweck einer Abdankung des Allgemeinen, weiterhin
Ganzen, sdüießlid1 gar Einen. Wenn das Ganze nicht die Wahr­
heit ist, so nur nicht das allzu fertig geschlossene Ganze, wohl
aber das offen gehaltene. Als eines, das sowohl nach unten wie
nach vornhin begrifflid1 bisher Unterprivilegiertes einläßt, das,
aus wirklidler Vornehmheit, gegen das bloß >>Beiherspielende«,
wie selbst Regel zuweilen sagt, nicht vornehm tut. Ein so er­
fahrener Pluralismus ist dann gerade Anforderung an die Unitas
und zu ihr hin; er macht sie durdt Erschwerung erst unverab­
redet. Das Ganze dieser Einheit ist also nicht das bereits um­
fassend Wahre, sondern einzig das noch ausstehend Wahre; dies
Totum gibt es noch nicht, außer in utopischer Experiment­
Beschaffenheit. Sein Eines (wie es nottut, also noch nidlt ge­
lungen ist) steht erst in der vielfältig versuchten Prozeß­
Richtung auf es hin. Nur derart, aber genau derart kann
pluralistischer Reichtum kein Störendes sein, bleibt auch sein
Viele Kammern im Welthaus 395

Kontingentes, versucherisch gesehen, nicht chaotisch Nebenbei,


sondern wird umgekehrt ein Weisendes und Zeugenhaftes von
unterwegs fürs Ganze, das wahr wäre. Solch Zeugenhaftes gibt
statt des abkappenden Schemas mithelfende Fülle zur Abbildung
des Prozesses, stärkt vor allem das Gewissen-Wissen, daß die
Welt noch unfertig sei und ihr All-Eines, genau dieses, am
wenigsten abgefertigt. Was nid1 tzuletztdann auf die dialehsehe
i
Methode einwirkt, als der des unabgeschlossenenProzeß-Inhalts
selber. Statt des bequemen Stoffs gehört zu konkreter Dialektik
unbequemer, also nid1t nur einer an homogen gewordenen oder
auch ab ovo homogenen Widersprüchen, aum Widerständen.
Sie trifft den unbequemen, doch sonderlich konkreten Stoff aum
dort, wo nicht alles in Reihen läuft, wo es Kreuz und Quer gibt,
Ungleid1Zeitigkeiten, ja Disparatheiten. In den vielen Kammern
des Weltgebäudes, den genau durdl Zerfall ab-, also aufgedeck­
ten, den in Montage nimt nur subjektiv zusammengeschobenen,
nistet soldl eigenes Außersid1sein, gegebenenfalls Negativsein
viel, auch ohne vorausgesmick:te Thesis. Statt des immer glei­
chen Dreitaktes Thesis, Antithesis, Synthesis, woran immer der­
selbe und ein allzu sicherer Segen ist, ersdleint dann ein wechsel­
reimer, audl stark synkopisierter Rhythmus. Statt des einlinigen
lebt ein vielzeitiger, vielräumiger Prozeß, worin seine keines­
wegs homogene Materie sich ausgestaltet und herausexperi­
rnentiert. Die Welt arbeitet derart gerade in der dialektismen
Methode pluralistisch, dom erst recht als Mu1tiversum versus
Unum nondum inventum. Einer Einheit also zugewendet, die
ebenso als das immerhin fehlende (nicht etwa völlig abwesende)
Vollkommene im ebendeshalb Unvollkommenen, das heißt:
seinem Vollkommenen, Unangemessenen umgeht, latent ist.
Dem muß Tag und Nacht der Gedanke geöffnet sein, ein Ratio­
nalismus der ins Offene bezogenen Kontingenz und dialektischen
Geladenheit zugleich, eine utopisme Erfahrenheit, die weder
abstrakt entflieht noch irrational kapituliert.
Dazu aber muß der Begriff so spürsam wie eingedenkend sein.
Auch das kann aus dem Einsturz gelernt werden, sofern man
nidlt selber zu ihm gehört. Und wie die Gesellschaft, so schlägt
auch die von ihr abhängige Welt immer wieder neue Seiten auf.
Das kann sogar, wenn auch zu einem noch nicht bestimmbaren
Viele Kammern im Welthaus

Teil, in der von uns relativ unabhängigen Welt, sie induzierend, ,


ihr korrespondierend, der Fall sein, Also nicht nur durch tech­
nische Vermittlung von heutzutage (die durchaus keine bereits
konkrete zu sein braucht), durch ihre oft nur listige Umleitung,
künstliche Verbindung gesetzhafter Naturzusammenhänge. Son­
dern es gab Zeiten-und sie könnten auf höchst rationaler Ebene
wiederkommen -, wo die Menschen ein kosmomorpheres Ver­
hä!tnis als das der List hatten, als das bloßer >>Beherrschung<<,
»Ausbeutung« der Naturkräfte. Bis zu diesem, noch sehr aus­
stehenden, j a sehr hypothetischen Verhältnis freilich bleibt der
größte Teil der anorganischen Welt, humanistisch gesehen, frei­
lich ein Niemandsland; das heißt, es ist mit dem Menschen und
seiner Geschichte, obwohl es sie rundum umgibt, keineswegs
konkret vermittelt, keineswegs daran angeschlossen. Ja, das
Agens der Dinge selber, dasX, das sie treibt und worin ihr Wesen
zugleich latent ist: dies eben wurde als »Weltodysseus« bedeutet,
der selber noch Niemand heißt, samt einem »Ithaka«, zu dem
dies Fahrende noch keineswegs eine gebahnte Zukunft des Er­
reichens hat, das sich während der richtigen Fahrt und durch sie
aus seiner Tendenz-Latenz sogar erst hebt. Aber das Selbst­
problem des unfertigen Daseins hat im Bau seiner möglichen
Lösung manche Bausteine, die die bisherigen Bauleute verwor­
fen haben. Philosophieren muß also viel mitnehmend sein kön­
nen, um andererseits wieder jene eingedenkende Einseitigkeit
erprobend zu halten, die scharf macht zum Zweck. Nicht mit
viel abseitig bleibenden Kammern zuletzt, sondern mit der
Einheit einer Wohnung als Welt, die so erstrechen:he de 1' espace
perdu nicht mehr nötig hätte. Das ist ein noch völlig irrealer
Grenzbegriff des Unum; außerhalb seiner bleibt daher der Blick
aufs Uneingemeindete ein gutes Mittel gegen Armut der Um­
fassung. Totum relucet in Omnibus: doch eben nicht als beruhigt
generalisierendes, sondern nur als utopisch zentrierendes kann
Totum widerleud.1ten. Wobei es dem Begriff wohltut, wenn er
im geringsten Detail Zeugen sammeln will und kann.
AKTUELLE QUERE: ANGST VORM })CHAOS(( ( x 93 2 )

Sie hemmt heute weit. Es ist doch die zwölfte Stunde, sagt man.
Hinter ihr �er Abgrund, vor dem man steht oder gerade gestan­
den hat. Vor dem im letzten Augenblick noch der Wagen zu­
rüd<gerissen wurde. Dankbar wird man darum braun, blickt
auch immer wieder nach oben.
Was unten wohnen mußte, hatte zum Schaden mehr als
nur Spott zu ertragen. Unten sollte fast ohne Unterschied dum­
mer Pöbel sein, das Pack, der faule, fred1e, unmusikalische
Sklave. Ein zeitgenössischer Schilderer erzählt von den zielbe­
wußten Bauern des Bauernkriegs, als sie auszogen, sie »wußten
nit warum, die blinden, elenden, verstockte Leut«. Was immer
Lumpen trägt, Schnaps säuft, die sd1werste und sd1mutzigste
Arbeit schafft, weder Bildung noch Manieren zeigt, hat dies Mi­
nus als Folge seiner angeborenen Roheit und nicht die Roheit als
Folge seines sozialen Minus. Ocli profanum vulgus et arceo,
singt Horaz., der Sohn eines Freigelassenen; dies Oberlehrer­
gefühl ist geblieben, wo immer Menschen dienenden Standes
erscheinen, die den Respekt vergessen. Freche Dienstboten, tük­
kische Bettler, gar meuternde Matrosen finden von Horaz bis -
Jack London kein Pardon. »Weh denen«, singt Schiller, »die
den ewig Blinden des Lichtes Himmelsfackel leihen«; der Rit­
tersmann begehrt auch im sozialen Abgrund nicht zu schauen,
was die Götter gnädig bedeckt mit Nacht und mit Grauen.
Frauen der Revolution sind, die Sturmglocke läutend, durchaus
Hyänen; die sexuelleAngst und dasMißtrauen des Kleinbürgers
vorm allemal ungeordneten Weib steuern damit der Revolution
eine besonders chaotische Note bei. Conze, in seinem vielseitigen
Buch »Der Satz vom Widerspruch<<, hat die lehrreichsten dieser
Beispiele zusammengestellt, sie zeigen allesamt den >>Pöbel<< als
minderwertig von Natur aus. Seit Jahrhunderten wiederholt
die herrscl1ende Klasse, daß die Massen keinen Verstand, kein
Urteil haben, daß sie, wie Sombart es ausdrückt, >>intellektuell be­
scluänkt, kurzsichtig, leicl1tgläubig<<, sogar kritiklos sind. Ortega
y Gasset, der Schönscl1wätzer und mißvergnügte Fascist, stellt
fest: »Heute wohnen wir dem Triumph einer Überdemokratie
bei, in der die Masse direkt handelt, ohne Gesetz ( !), und dem
Angst vorm »Chaos.

Gemeinwesen durch das Mittel des materiellen Drucks ihre


Wünsche und GClichmacksrichtungen aufzwingt.<c Die Masse
wird förmlich definiert als »die Gesamtheit der nicht b12sonders
Qualifiziertenc< (denn dem Bürger, der ehemals selbst aus
Unterschichten kam, ist selbstverständlich, daß nur »Mangel an
eigener Initiative" in der Masse hält); Ortega y Gasset fährt
fort: »Grundverfassung ihrer Seele ist Unzulänglichkeit und
Unbelehrbarkeit, es ist ihr angeborener Fehler ( !), nichts zu
berücksichtigen, was außerhalb ihres Horizontes ist, weder Tat­
sachen noch Personen. 11 Vollig die heutige Chaosangst, vielmehr
das nur durch Verachtung gemilderte Schreckensbild sozialer
Volksfront malte aber bereits Macauly voraus. Er prophe­
zeit das »bolschewistische Chaos11 völlig als homo homini
Iupus: »Es würden da sein viele Millionen von menschlichen
Wesen, zusammengedrängt auf einen engen Platz (?), beraubt
aller jener Hilfsmittel, die allein es ihnen möglich machen, auf
einem so engen Raum zu existieren. Handel, Fabriken und Kre­
dit werden tot sein. Was könnten sie anders tun, als für die bloße
Erhaltung ihres Lebens zu kämpfen und sich gegenseitig in
Stücke zu reißen, bis Hungersnot und Epidemien im Gefolge
der Hungersnot die sdlrecklidle Bewegung in eine noch schreck­
lichere Ruhe verwandeln?11 Macauly, auch Luther, auch Scho­
penhauer - die Liste wäre lang und mit zahllosen Varianten fort­
setzbar; doch darin ist sich die jeweils herrschende Klasse einig,
daß die Masse nur Wolf oder Esel oder eine Kreuzung von
beiden sei.
Aud1 geistig sozusagen wird der Gegner schlimmer als nichts.
Malt die Angst ihn blutig, so die Unwissenheit schwarz. Die
Faulheit und Freßlust des Pöbels kann ja nicht anders als - mate­
rialistisch sein. Dies Wort wird dem Kleinbürger lediglieb im
plattesten Sinn vorgesetzt, und er hört den gemeinsten heraus.
Was immer der Kleinbürger flieht und wovon er umschlossen
ist, das gerade schreibt er dem »materialistischen(( Proleten zu.
Jeder Begriff geht darum durcheinander: »Materialismus<� als
Vollerei; als egoistische, nur auf den eigenen Vorteil bedacltte
Gesinnung; als Welt-Rückführung auf mecltanischen Tod. Da­
bei verschlägt nichts, daß Vollerei der geringste Fehler des Pro­
leten ist, daß die Märtyrer der Kommune recht wenig auf ihren
Angst vorm •Chaos« 399

persönlichen Vorteil geachtet haben, daß dialektischer Mate­


rialismus Mechanik zuschanden schlägt. Der Kleinbürger
reagiert alles Widrige vom Kapitalismus ab, n
i dem er es »mate­
rialistisch« nennt; und das »bolsd1ewistische Chaos«, als Praxis
der Materialisten, ist dadurch doppelt belastet. Vor zwei Gene­
rationen war: das anders, als das liberale Bürgertum noch seinen
Scheinkampf mit Weihwasser und Säbel hatte. Heute dagegen,
an solchem Kampf nicht mehr interessiert, hat es den Materialis­
mus sichselberverämtlichgemacht, verstehtsid1: bloß theoretisch
verächtliru, und den Drang des Idealen, zuletzt des Irrationalen
emanzipiert. Seitdem geschieht jede Erwähnung des Materialis­
mus von oben herab, immer mit dem Affekt, die Arbeiterbewe­
gung zu treffen; er wird abgetan als flach, grob, kraß, seicht,
dürr, banal, seelenlos, geistlos, kulturlos, grau, langweilig, tot,
längst überwunden, kurz seine Charakteristik besteht lediglich
aus summarischen Beschimpfungen. Die Tage sind fern, da Win­
delband Demokrit noch als einen mit Platon und Aristoteles
ebenbürtigen Denker behandeln konnte; erst recht ist der
ahnungsvolle Ernst vergangen, womit Hege! die französischen
Materialisten ausgezeichnet hatte. DerMaterialismus wird nicht
nur rein als mechanischer verstanden und in der ohnehin bar­
barischen Form der Büdmer und Molesmott, er wird auch zum
hoffnungslosen Unstern gemacht, j a eben zum grauen Elend
schlechthin. Kein Wort dringt besseren Herren vom Novum
des dialektischen Materialismus an die Ohren, kein Wort von
den Unterschieden, welche dieser gegen den bürgerlichen Mate­
rialismus, gar gegen den epigonalen der Moleschott und Häckel
setzt. Der Kleinbürger wäre voller Welträtsel, kennte er die
echten Affekte, die gerade der dialektische Materialismus gegen
die verplatteten Affen des meruanisruen kehrt. Gegen die nReise­
prediger und Karikaturisten Vogt, Molesmott und dergleichencc,
gegen ihren nFlor zur Zeit der tiefsten Erniedrigung Deutsm­
lands und der offiziellen deutschen Wissenschaftee (Engels, Na­
turdialektik, S. I 5 I). Dem timtbedürftigen Kleinbürger mömte
erst recht die »idealstecc Überraschung winken, wenn nicht die
plumpePropaganda der Vulgärmarxisten, die gerissene der herr­
sd1enden Klasse in Ansehung des Materialismus derart blockier­
ten. Völlig fern von dessen historisd1-dialektisd1er Gestaltung,
Angst vorm »Chaosr

Umgestaltung, Umgestaltbarkeit, detektivisch und hoffend


zugleich. So aber wird materialistische Geschichtsauffassung,
vom akademischen Lehrbuch bis zum Zeitungsartikel, nur a Ia
canaille definiert; will der >>Gebildete« hier sich Rats erholen,
dann erfährt er: »Verlangen nach Geld« gelte bei Marx als ein­
ziges Motiv des Menschen, die Bewegungen der Geschichte
würden von Marx »ausschließlich auf solche des Unterbaus, auf
mechanische (!) Gesetzlichkeit« reduziert; Okonomie und
nichts als Okonomie sei der »Inhalt der Geschichte« und werde
es bleiben ( ! ). Neuerdings gar wird Marxismus, außer mit
Ludergerud1, auch mit dem der - Verwesung ausgezeichnet, in
einzigartiger Umkehrung der wirklichen Situation, worin sich
Kapital und Marxismus befinden. Die ungebändigte Irratio der
Vitalisten, die gehalteuere der sogenannten Gestalttheoretiker
schreiben dem Marxismus, als einem »Produkt des liberalen
Jahrhunderts«, seinen Leichenzettel; dergestalt, daß der »Gebil­
dete«, wenn er auf Formen sieht, vom bloß »haptischen« Mate­
rialismus, von dieser Pöbelei des Tastsinns, degoutiert Abstand
nimmt und sich gänzlich an den »optischen« Idealismus hält, an
die Welt der Gestalten, Formen und allemal vornehmeren Per­
sönlichkeiten. Gestohlen wird vom Marxismus genug, weil er
die Wi rklichkeit ist und weil nicht einmal der Betrug, soweit er
in der Wirklichkeit gesdlieht, ohne ihn auskommt. Aber die
Lehre wird tabu, Abgrund, Pöbelphilosophie, das Ende der
Kultur. Wie dem Bauern und Kleinbürger, obwohl er nichts zu
verlieren hat als seine Sdmlden, die Republik der »Habenichtse«
pures Grauen ist, so wird ihm eine sogenannte Gottlosenbewe­
gung, obwohl er an gar keinen rechten Gott mehr glaubt, zum
Zero, ja zum Minus schlechthin. So erscheint ihm im marxisti­
schen »Abgrund« kein blühendes Diesseits, kein unbekanntes
Wunder der Befreiung, sondern ein eiskaltes Chaos.
Aus der Lage selber, worin der kleine Mann lebt, wird hier
nicht alles klar. Sie verschleiert ihm zwar den Weg ins Freie, doch
sie verteufelt ihn nicht geradezu. Das bewirkt erst ein älteres,
ungleichzeitiges Wesen, eine - zu allem anderen - abergläubi­
sche Furcl1t vor dem » Unten«. Uralte Mytl1ologien, allerneueste
Auffrischungen ihrer kommen der Unwissenheit zuletzt noch
zu Hilfe, werden zum Dienst neuer Teufelsfurcht mobilisiert,
Angst vorm >>Chaos«

schließen sich an die gewesene an. Dieser war das Böse allemal
unten und das Licht bei den Herren, die zähmen. Da kriecht die
biblische Schlange auf dem Boden, muß Staub fressen ihr Leben
lang, sticht den Menschen in die Ferse, und er hat ihr den Kopf
zu zertreten. Da ist vom Sündenfall her das lüsterne Weib, muß
hart gehalten werden wie alle Begehrlichkeit, ist die Rotte
Korah und die große Hure von Babylon, die ebenfalls aus dem
Abgrund herauf will. Da ist das Chaos selber als Zustand von
Anfang an, der kosmische Untergrund der Welt und als solcher
drohend, wo immer die Bande braver Scheu, frommer Scheu
sich lösen. Auch dionysische Umkehr dieser Wertungen kommt
gegen die alteingefahrene, sozusagen vaterrechtlich eingefah­
rene Reaktionsbasis nicht auf. Destoweniger als »Dionysos«
gänzlich zu einem Herrengott gemacht worden ist, zu einem
besonders skrupellosen, und dem Volk durchaus die »Sklaven­
moral« bleibt, unter irrationalen Phrasen, die es lediglich
betäuben sollen. Gerade die Lebensangst des üblichen Klein­
bürgers aber will Sicherheit; gerade die Ungleichzeitigkeit des
dämonisierten Kleinbürgers, welche faktisch frühere Be­
wußtseinslagen streift und im Blutrausch steht, mindestens
in archaischen Träumen, will gestaltlos vorgestelltes Chaos
nicht, sondern geht dagegen an. Sie will als subaltern Führung
und Gefolgschaft, als dämonisiert Drachensieg und deutschen
Stern; Jubel von »Panchaotikern« schlechthin ist selten. Schwer
unterscheidbar, ob nicht auch die religiösen Wertgefühle, welche
den Begriff Materie in seiner langen Urgeschicllte begleitet
haben, in der heutigen Chaosangst, Materialismusangst stellen­
weise rezent sind; mindestens in der »gebildeten«. Das Verdikt,
welclles die Kirche der Materie angedeihen ließ, reicht bereits
aus; denn die Kirche überliefert sie dem Bewußtsein (und heute
dem Unbewußtsein ) als »Nid1tsein«, als all das »Unvollkom­
mene«, welches die »Nachtcc den Gestalten der Schöpfung bei­
fügt. Sie überliefert die vaterrechtliche, die platonisch-mythische
Gleid1setzung von Materie mit Fleisch, Dunkelheit, verdäch­
tigem Stoffdes Abgrunds, sie überliefert ebenso ))Ideecc alsForm
und einziges Licht. Das alles ist Beisteuer zur Chaosangst, wo
immer sie im Interesse der herrschenden Klasse liegt. Die christ­
liche »Bewegungsumkehr der Liebecc, wonadl die Seele nicht
402 Angst vorm »Chaosc

nach dem glänzenden Gott der Spitze sich erstreckt, sondern m


i
Drunten ihren Eros und ihre Objekte hat: diese Bew.egungs­
umkehr scheint heute weniger im Interesse der herrschenden
Klasse, obwohl Scheler von ihr spricht. Der Kleinbürger er­
schrickt vor dem proletarischen Zustand, dem er sich nahe sieht,
den er als einen schlechterdings ewigen betrachtet, wie alles in
seiner Welt. Und die Oberschicht befördert sämtliche Reflexe
der Mythologie, welche vor dem Abgrund zurückschaudern, -
als wäre er einer.
Doch auch das Gefühl der zwölften Stunde lebt fort. Eine ge­
sellschaftliche Ordnung, worin alle Kleinen leiden, trägt sub­
jektiv wie objektiv ihr Ende. Daß es ihnen nicht so mythisch
verdunkelt scheine, dazu kann der sogenannte Abgrund nicht
angemessen genug beleuchtet werden. Das gelingt nicht durch
Proletkult oder durch Nichtswissenwollen von der bürgerlichen
Kultur, weil sie eine der Bürger ist. Der Proletkult ist auf die
abstrakte Blindheit, womit die herrschende Klasse das Proleta­
riat wertet, großenteils nurdie ebenso abstrakte Antwort (wenn
auch der interessierte Schmutz der Blindheit fehlt). Ebenso­
wenig taugt Vulgärmarxismus zur Illumination; denn er unter­
streicht, was nldeenlosigkeit<< angeht, nur den Hades, den die
herrschende Klasse als 11Marxismus« vorführt. Ist der Marxis­
mus kein Abgrund, so ermangelt er doch nicht der n Tiefe«; es
hilft also nichts, die Angst vorm Chaos durch das Pathos der
Flachheit zu vertreiben. Der Wille zum Nationalsozialismus
kann längst durchlöchert sein, wenn ihm nur der abergläubische
Nid1t-Wille zu echtem Sozialismus sicher s
i t, der Schredr vor
dem »Abgrund«, worin dodl sicherer der Mensch vorkommt als
auf jenen Höhen, die von ihm leben. Der Verstand wirft den
verteufelnden Mythos nur, wo er schon schwach geworden ist,
aber exakte Phantasie der Vernunft greift ihn dort an, wo er
blendwerkt und zudeckt. Nidlt grundlos wirkt aller gekom­
mene Schredren als fascistisch, und wo er als Sozialismus auftritt,
als dessen Vernichtung und nie, wie beim Fascismus, als Konse­
quenz. Also gehört zur exakten Phantasie der Vernunft auch die
Kraft, jede Diagnose eines sozialistischen Abgrunds Lügen zu
strafen; denn es ist immer das Fascistische selber, das breit Be­
drohende schlechthin, das vor ihm warnt und in ihn hineinführt.
FAHNE R O T U N D G O L D ( 1 9 3 2 )

DerTag ist leer. Die Arbeit fehlt. Der Dienst ist hart. Das Volk
braucht Reize. Der Nazi malt sie in die Stickluft, wie das >>Volk«
es wünscht, das Kapital befiehlt. »Arbeiter« der Stirn reichen
dem Arbeiter der Faust die Hand (sonst nichts ); große Kuxen­
besitzer rufen Glückauf! und haben recht, als wackere Berg­
leute. Allen anderen zeigt sich, hinter den Rache-Exzessen, dem
Phrasen-Portal immer nur die gleiche traurige unabgestellte
Wirklichkeit. Techniker sehen Maschinen gedrosselt, die Mil­
lionen Brot schaffen könnten, sehen Erfindungen verhindert,
weil sie dem Profit im Wege stehen. Ärzte haben Menschen
für eine Hölle gesund und leistungsfähig zu machen, heilen
Krankheiten, die aus den Lebensbedingungen der heutigen
Gesellschaft immer wiederkommen wie Wunden im Krieg. Juri­
sten sprechen Recht als nackten Ausdruck der Gewalt; der fasci­
stische Staat duldet sie nur noch als Metzger höherer Ordnung
oder als Sophisten des Verbrechens. Lehrer, Künstler, Schrift­
steller finden keine Kultur mehr auf dem Boden des Kapitals,
es sei denn eine ironische oder wunderliche, eine, welche die
Heimatlosigkeit, die direkte Objektlosigkeit selber ist. Trotz­
dem steht kleinbürgerliche Gewohnheit jeder dieser Einsichten
im Wege. Trotzdem formt eine ganz kleine Schicht Interessierter
die revolutionäre Lage reaktionär und bedient sich derer, die
das XIX. Jahrhundert >>Desperados« genannt hatte. Trotzdem
aber auch hätte Reaktion niemals so weit verführen können,
wären ihre Mittel nicht gesprenkelt und widerspruchsvoll wie
die Lage selbst, wäre ihre Kunst nicht so ungestört geblieben,
im Dunkeln zu munkeln. Die »irrationalen« Bedürfnisse von
heute, gewiß, auch sie entstammen letzthin der wirtschaftlichen
Lage, doch nicht so glatt und einfach, sind darum auch nicht so
glatt und einfach behandelbar, behebbar. Wahrend der paar
Jahre »Sachlichkeit« hatte mancher Fortschrittsfreund behaup­
tet: >>Unsere Zeit ist ein schlechter Nährboden für Gespenster«;
es hat sich gezeigt, ein wie guter sie ist. Denn gäbe es unter den
pauperisierten Schichten nicht ebensoviel ausgehungerte Phan­
tasie wie beleidigten Standesdünkel, ökonomische Unwissen­
heit und wirkliche Not: dann wäre unmöglich gewesen, die
Fahne rot und gold

nRevolution« derart reaktionär, die Reaktion derart lemurisch


zu betreiben, mit Gott, Führer, Vaterland und Feuerwerk. So­
wohl rezeptivwie »elementar« phosphoresziertdas trübeWesen
des Untergangs; dieser Phosphor schönt nod1 seinen Gläubigen
den Betrug, läßt erst recht die Eisenkonstruktionen und Mon­
tagen der Oberschicht im Hohlraum glühen. Ohne dies wilde
und verquerte Wesen wäre weder die >>Suppenlogik mit Knö­
delgründen« (die Heine als die wirksamste beim Volk ansah)
so uneinsichtig in den Tag hinein verhindert noch die nseelische
Vermissung« so völlig gegen Marxismus kehrbar statt gegen Ka­
pitalismus, gegen die Heilung statt gegen die Krankheit. Im ( un­
gestört) Irrationalen steckt das Scheinmittel, welches die nVer­
kleinerungdesMenschen« (Nietzsche) beheben soll, und welches,
wie zu sehen war, so gefährlid1, so phantastisch oder lehrreich
verfängt. Es verfinge aber nicht dermaßen ntotal<<, steckte in den
Begeisterungen des Rausches, in den Experimenten des Einstur­
zes nicht auch ein anfälliges >>Element«, dessen anfällige Seite
Marxisten eben allzulange unbetont gelassen haben. Außer
daß fallierten Bürgern das Rot fremd ist, kennen sie erst redlt
nicht das Gold an der roten Fahne, die Goldfigur von Sichel und
Hammer im Rot. Fremd ist ihnen die Poesie der Prosa, die Poe­
sie, welche durch Prosa erst aufhört, eine verlogene zu sein.
Fremd ist ihnen der Traum ( auch ohne Schlaf), das Glüd{sbild
(auch ohne Behagen im Muff), die Erneuerung des ganzen Da­
seins ( audl ohne Belebung des abgestandenen), die Phantasie
des Horizonts (auch ohne dunklen Schwindel), die Fata Morgana
des Wohin und Wozu (auch ohne ausgeführte Lüge). Gerade
marxistisdl aber ist der Weg mit der Tendenz nie genau einer,
wenn er nicht, wie in die nGanzheit<< der augenblicklichen Situ­
ation, so in die wahre Ganzheit der menschli<nen Hoffnung und
Latenz eingetragen ist. Es gibt nationalsozialistisdlen Betrug
zahJlos; es gibt Religionen, deren nHimmel« die Armut nur ver­
tröstet, Philosophie, deren >>Metaphysik« nur die Physik der
Ausbeuter ist, hoch droben. Dieser Hinlmel und diese Metaphy­
sik sind enthüllt, und zwar zu neunzig von hundert Teilen Chlo­
roform dahinter statt Rosen und Rosengerud1. Aber das Feld der
»Vermissungen<< ist damit noch nicht leer geworden, weder
von gegenwärtigen Verführungen zum Falschen, wie sie der
Glaube ohne Lüge

Nationalsoziaismus
l zeigt, noch von zukünftigen. Gerade marxi­
stische Dialektik ist kein immanenter Mechanismus; gerade sie
hat - vom subjektiven Faktor ganz abgesehen - als materiellsten
Motor: daß die Hauptsache, nämlich das wirkliche menschliche
Leben, in keinem Klassenzustand bereits geworden ist. Daher
der Wille, der human-vermehrende und nicht nur ökonomisch­
freilegende Wille, die Klassengesellschaft n
i die sozialistische
überzufübren, nachdem alle ihre äußeren Bedingungen nicht
schlecht gereift sind. Daher die Losung, das Wozu und Ober­
haupt, das man noch nicht kennt, als dauernde Frage zu halten.
Der Mensch lebt nicht von Brot allein, besonders wenn er keines
hat. Hat er es, dann s
i t der Traum des Mehr erst recht fällig
und rot.

GLAUBE O H N E LÜGE

Nur der unzufriedene Mensch kann fromm sein. Vergeblich,


sich neuheidnisch an ein angeblich schon überreich gegebenes
Leben zu halten. Völlige Lüge, sich mit den Bildern eines über­
lieferten Jenseits aufzufrischen, das unvorhandene Leben drü­
ben als seiend und fertig, als Ersatz und Ausgleich malt. Wir
schweigen von dem verdorrten jüdischen Gesetz, dem nicht nur
die lax gewordenen Juden entfliehen. Wir sd1weigen noch mehr
von der wässerigen Feuerseele des sogenannten liberalen Pro­
testantismus, der Glauben zu herabgesetztem Preis abgibt. Der
nicht etwa ein gequälter Rechenschaftsbericht moderner Lau­
heit, Entspanntheit, Glaubensferne geblieben ist, sondern bil­
lige Zufriedenheit damit und Ausweid1en ins Gemüt. Auch hat
das liberal-protestantisd1e Individuum sehr rasm aufgehört, im
Pathos der ))Entscheidung(( oder der immer neuen 11Krisis(( zu
stehen. Es kapitulierte fast noch rascher als das orthodoxe, so­
bald ihm der fascistische Machtstaat die Korrespondenz, wo
nicht den Himmel zu solcher Art Innerlichkeit befohlen hat.
Dieser letzte Protestantismus erkennt Rasse und Staat als von
Gott gesetzte Lebensordnungen an« und weiß nur, daß llin
einer Welt der Sünde alle diese Ordnungen keine ausschließliche
Gültigkeit und keine erlösende Kraft haben((; womit aufs neue
Glaube. ohne Lüge

die dünne Innerlichkeit oder die Seele im Sack sich der übrig- .
keit verbindet, sich christlich mit sich selber tröstet. Womit der
Lutherstaat aufs neue in seiner Härte, Roheit und Totalität sich
mythologisiert: als gottgesetzte Repressalie gegen den Sünden­
knecht, als Repressalievor allem gegen den proletarischenKnecht,
der so wenig besitzt, daß er nicht einmal einen Glauben hat
und eine innere Manier. Allerletzt zwar murrt ein Pfarrernot­
bund, weil er zuviel seines Staates sid1 gegenübersieht. Dod1 der
Lutherzorn selbst ist reaktionär vom Meister an; was dem An­
fang identisdt war, kann der Folge nidtt weit entlaufen, die
Treue ist das Mark der Ehre. Es wäre ebenso das beste, an der
großen katholisdlen Kird1e mit vollendeter Erfahrung vorbei­
zugehen. Ihr Geist, ehemals sdllau, audt kühn, bunt und weit,
heute »harmonisdt« und ausgebissen, ist einer der Sparkasse
geworden, nid1t der Verwandlung. Die Fragen und Willens­
impulse, welche gegen das Zur-Ware-Werden des Mensdlen,
gegen die Mechanisierung durch Kapitalismus angehen, die
Antinomien, weldte der katholisdte Christ besonders ungleich­
zeitig in dieser Gesellsdtaft erlebt, werden nid1t nur, wie stets,
mit Trost aufs ausgleichende Jenseits behoben, sondern dazu
nodl mit Draperien aus einer längst gerichteten Gesellschaft,
nämlich der feudalen des Mittelalters. Nicht einmal bei dieser,
immerhin relativenEntgegensetzung zumJetzt bleibt die Papst­
kirche, vielmehr: sie ist praktisch vollkommener Modernismus,
sie bejaht und verteidigt den Kapitalismus und drosselt nur die
Revolutionselemente an ihm, nämlich die proletarischen »Ex­
zesse«, die Akkumulation, die Dialektik. Die Kirche möcllte den
Kapitalismus nur auf gewisse mittelständisdle Wirtsdlafts- und
Denkstufen zurückbringen, damit er desto sicllerer verewigt
werde; weit davon entfernt, den praktisdten Mechanismus ab­
strakt abzulehnen oder aber konkret zu Ende zu treiben, wählt
die Kirche einen unweisen Kompromiß, eine Harmonie aus Un­
vereinbarkeit, nämlich praktisdlen Modernismus mit gotisd1er
Verzierung. Sie wählt einen Andachts-Kapitalismus, einen mil­
den Profit mit ebenso milden Evangelien, einen sanften Beton
mit korrekten Symbolen aus dem thomistischen Musterbuch; so
fehlt das »Transzendierende« gerade, das »Transzendierendecc
im Jetzt, welche eine höllisdte Gegenwart sprengt. Darum auch
Glaube ohne Lüge

spürt die Kirche am Bolschewismus nur den Kampf gegen das


Kapital, sonst nichts; sie beschützt ein Religionsopium, das aus­
nahmslos im Dienst des Zaren gedampft hatte. Das ))soziale«
Rom merkt nicht den allerchristlidtsten Impuls in jenem Mate­
rialismus, der die Schaffung der klassenlosen Gesellschaft be­
treibt; es will eher mit einem kapitalistischen Materialismus
untergehen, der sich christlich nennt, als daß es ein praktisches
Christentum erkenne, das mit theoretischem Materialismus sich
verwirklicht. Die Papstkirche war öfter im Begriff, die Zusam­
menhänge mit Christentum zu schwächen und nur noch ihren
historischen Zarismus zu erinnern; also wurde sie Konkordat
mit jeder Reaktion, sei es in Mexiko, Spanien, Österreich oder
Deutschland. Also protestierte sie nicht gegen Arbeitermord
und Judenhetze, sondern nur gegen die Minderung ihrer Or­
ganisationen und Gewohnheiten; also lockerte sie das un­
heilige Konkordat nicht wegen der zehn Gebote oder wegen
des Sakraments der Taufe, sondern weil der ))Possesismus« be­
droht schien und Ahab dem Saul die Totalltäten stört. Was ein
mutiger Kardinal in Deutschland an Negationen predigt, wird
durch die Positionen eines anderen in Österreich, durch Gottes
Segen über dieses Österreid1, mehr als wettgemacht und ent­
hüllt. Nur Rußland bleibt dem allzeit wachen Klassensinn der
Papstkirche fremd, nur der Glaubenskrieg um einen Hin1mel
auf Erden, um einen endlich konkret vermittelten Himmel. An
diesem Zusammenstoß mi� Rußland (er ist gefährlicher als der
mittelalterliche mit dem Kaisertum) wird die Kirche zugrunde­
gehen oder - auf lauter Trümmern kapitulieren; denn gerade
was sie von den Reichen der bisherigen Welt zum Teil noch
unterscheiden mochte, ist, mit dialektischer Immanenz, minde­
stens im Anhub der anderen Seite. Und noch der durch­
schnittliche Glaube, der Restglaube dieser korrekt gewordenen,
dieser prächtig aufgezogenen Restwelt, dieser riesigen Über­
lieferung aus Katakomben, römischer Kaiser-Antike, Scholastik
und Feudalherrn, Mystikern und Diplomaten, Scheiterhaufen
und erlauchtem Kunstsinn, Inquisition und allbeherrschender
Geistesweite: sie haben keinen Gott mehr, die behaglichen
Mystiker von heutzutage, die von den Renten der ihnen
gewordenenWelt sich ernähren, sie sind fast allesamt Atheisten,
Glaube ohne Lüge

nur unehrliche, modern-gotisd1 drapierte oder Gläubige des


Gestus, weil er erzogene Gewohnheit ist und wohliges Gepränge
den Hohlraum verdeckt; Gott aber liebt einen einzigen ehrlichen
Atheisten, der weiß, was das heißt, mehr als Tausende dieser
Frommen. Bleiben gewisse religiöse Probleme länger als ihre
»Aufklärungen«, erst recht länger als ihre mythologisch ab­
schließenden Dogmen: so dürfte eine so genannte Kirche, wenn
überhaupt, doch nur als Ort dieser Probleme »zeitentronnen<<
sein (oder von den »Pforten der Hölle« unüberwältigt, die sie
sich jetzt, mehr als je, selbst eröffnet hat). Auch ohne �lerus
wird in der ldassenlosen Gesellschaft die Frag� des Wohin und
Wozu brennen, ja, sie wird die mächtigste sein und unerbitt­
licher als heute, wo ein großer Teil des Bürgertums - aus klar­
sten Klassengründen - sie kastriert hat. Sie auf Jugend und
Diluvium zurückstaut oder auch auf »Naturrecht des Eigen­
tums«, »Ständestaat« und andere runde Thomismen. Dann
wird vielleicht - nicht die ökonomisch entzauberte und über­
flüssig gemachte Kirche, nicht dies alte Herrschaftsinstrument,
wohl aber eine Erziehungs- und Lehrmacht (wo nicht Glaa­
bensmacht) des Wohin jene Sorgen entgiften und jene Fragen
erhellen, die die Menschen auch nach getaner Arbeit nicht gut
ruhen lassen. Nietzsche sagt: »Ich weiß nid1t aus noch ein; ich
bin alles, was nicht aus noch ein weiß, seufzt der moderne
Mensch« - dieser Mensch ist auch der religiös bedürftige von
morgen, der Mensm im Westchor des Anti-Nimts. Je mehr der
Alltag stimmen wird, desto fragwürdiger bleibt der Tod, der ins
Leben hereinfällt und seine Ziele bleicht; desto vermittlungs­
werter der Raum, worin menschliches Leben emportreibt. Er
kann entsetzlich leicht verfehlt werden, ja, hier haben sich nicht
nur namentlim-fascistische Moloms aufgetan. Daher die Lo­
sung, kraft des utopismen Gewissens und Wissens, das auf der
Wacht steht, dem Abgezielten immer wieder seinen anverwem­
seibaren Weg zu beziehen, den dialektischen zum mensmlichen
Haus, das sich dem Weg selber unabdinglich mitteilt, damit er
einer sei. Davon kann aber nicht nur moralisch, sondern im glei­
chen Zug metaphysisch nimt groß genug gedacht werden, genau
in Ansehung des Glaubens ohne Lüge, des Wozu, das ebenso in
die exakte Phantasie greift. Mit jener alten Aufklärung, die den
Glaube ohne Lüge

Menschen am wenigsten ausließ, und jener neuen, endlidJ fäl­


ligen, die sidJ beim Licht gerade auch aufs Latente versteht,
ohne Auslassung seiner dunkleren Tiefen. Es gibt riesige Tau­
schung der Unwissenheit, Betrug an falsdJer Phantasie, Weih­
rauch über durchschaubaren Gefühlen. Doch es gibt auch rote
Geheimnisse in der Welt, ja nur rote.
NAMENREGISTER

Adomo, Theodor 3 77 Buddha 317


Alexander der Große 91, 119 Burdchardt, Jacob 169
Amalrich von Bena 134
Antoninus Pius, Kaiser u8 Caligu!a, Kaiser So
Aragon, Louis u7, 241, 381, 387 Campendondc, Heinrich 83
Aristoteles 193, 399 cezanne, Paul 83, 269
Augustinus, Aurelius 141 f. Chagall, Mare 83, zs6, 16o, 266, 276
Augustus, Kaiser 118 Chamberlain, Heuston Stuart 91, ::.69
Chaplin, Charlie 36
Bachofen, Johann Jakob 55, 269, 313, Chirico, Giorgio 140, 387
334.337. 345· 370 Chopin, Frederic zu, 138
Baldung, Hans, gen. Grien 176 Cocteau, Jean 235 f., 248, 370
Balzac, Honore de 270 Cohen, Hermann 197, 300
Banse, Ewald 303 Comte, Auguste 358
Bart6k, Bela 86 Conrad, Joseph 181
Bäumler, Alfred 169, 365 Conze, Eberhard 396
Becher, Johannes R. 257, 166, 173 Cooper, James Fenimore 171 f.
Beckmann, Max 81 Coue, Emile 190
Beethoven, Ludwig van 53 f., 378 Courths-Mahler, Hedwig 83
Benjamin, Walter 166, 141, 367 ff.,
373.381,384,387 Dacque, Edgar 191 f., 195, 197, 304
Benn, Gottfried 84, 100, zoo f., 156f., Daniel, Prophet 130, 141
164 Dante zox, 278
Berg, Alban ::.38 Defregger, Franz v. 83, 214
Bcrgson, Henri 304. 336, 351 ff. Dehmel, Richard 351
Bertram, Ernst 363 Dehn, Günther Karl 147
Blaß, Ernst 36 Demokrit 398
Blavatzki, Helene 194 Descartes, Rene 196
Blum, Robert 78 Dietzenschmidt, Anton Franz 199
Böcklin, Amold 333 f., 337, 374 Dilthey, Wtlhelm PS
Börne, Ludwig 11.4 Dimitroff, Georgi 147
Boscb, Hieronymus 176 Dix, Otto 83, 266, 175
Brecht, Bert 17, 156, u7, 231, 246 ff., Döblin, Alfred 144
175 f. Dostojewskij, Fedor 64, 139, 378
Brentano, Franz 196 Dubislav, Walter 183
Briand, Aristide 3 8 Duhem, Pierre 289, 291 f.
Brudmer, Anton 54, 319, 31r, 379
Buber, Martin 149 Edcart, Johann (•Meister Eckart«)
Büchner, Ludwig 399 p, 101, 149
4 1 2. Namenregister

Edsdunid, Kasimir 40 Hamann, JohannGeorg 102, 348, 350


Ehrenstein, Albert 166 Hartrnann, Eduard von 383
Einstein, Albert 189 Hasenclever, Walter J.66 .
Eisner, Kurt 16of. Hauff, WUhelm 170, n8, 185
Engels, Friedrich 163, 195 f., 292 f., Hauptmann, Gerbart 198 f.
295. 399 Hausenstein, Wuhelm 156 f.
Ernst, Max 117, 370, 387 Heart1ield, John 275
Hebel, Johann Peter 54,362
Feininger, Lyonel 83 Hecke!, Erich 8z
Feuerbach, Ludwig 21, 169, 364 Hege!, GeorgWUhclm Friedrich 115,
Fichte, Johann Gottlieb 351 138, 196, 249. 269, 184, 320, p6,
Fischer, Ernst 177 394. 399
Fore!, August 346 Heidegger, Martin 74, 1or, 112, 280,
Fourier, Charles I45 2.97 f., 306ff., 3 1 1 ff., 3 17 ,3 25
Franz von Assisi 1 3 6 Reine, Heinrich 170, 404
Freud, Sigmund 344 ff., 349 Herder, Johann Gottfried 3lO
Freyer, Hans 74. 325 Henog, Rudolf r70, 1 1 0
iedrich I., Kaiser 89, 13 I
Fr Heß, Rudolf 91
Friedrich II., Kaiser 130 f. Hesse, Hermann 166
Friedricll ll., König von Preußen 5 1 Heym, Georg 166
Hielscher, Kurt 147
Gaoguin, Paul 261 Hiller, Kurt 166
Gelb, Adhemar 303 Hindernith, Panl 130
Gentile, Giovanni 351 Hindenburg, Paul von 71, 89
George, Stefan 101, 201 f., 333, 363, Hitler, Adolf 67, 71 ff., So f., 84, 86,
374 89, 91 f., IOI f., 104, I I I, I]l, 139 f.,
Giedion, Siegfried 116, 382 147, I53 f., 16off., 179, 188, zoo,

Giotto di Bondone 149, 278 2. 03, 157, z64, 274


Gobineau, Joseph Arthur Graf 91 Hofmannsthal, Hugo von 136
Goebbels, Joseph 71 f., 76, So, 84, 139, Hofer, Karl 83
214, 257. 165 Hölderlin, Friedridt 84
Goethe, Johann Wolfgang von 83, Homer 268, 270
201, 249, 151, 268, 270, 272, 304 f., Hora:t 396
po, Jl], 345 Hörbiger, Hanns 191
van Gogh, Vincent 83, 161 f. Horkhcimer, Max 355
Gör
ing, Hermann 139 Hugo von St. Viktor 13 3
Gorki, Maxim 153 Humperdinck, Engelbert 184
Gotthelf, Jeremias 55, 183, 185 Husserl, Edmund u2, 196ff., 308
Gottl-Ottlilienfeld, F. von Jl5
Goya, Francisco de 2 76 f. Ibn Tofail 343
Green, Julien 241 Ibsen, Henrik 63, 139
Grosz, George 83, 266, 175
Grünewald, Mattbias 83 Jacobi, Friedrich Heinrich 341
Grützner, Eduard 83 James, Willian1 184
Jaspers, Karl zn, 3 I I ff., ] l6 f., P5
Haeckel, Ernst 191, 337, 399 Jean Paul 341
Namenregister 413

Jensen,Jobannes \7.355 Leonhacd, Rudolf 166


Jesaias, Prophet 86, 141 f. Lessing, Gotthold Epbraim 13 7 ff.
jeSUS 56, 87, 101, 119 f., I34f., 141 f., Lipps, Theodor 197
337 f., 359 ff., 365, 392 London, Jack 397
Joacbim von Fiore 63 f., IJI, 133 ff., Ludcndorff, Ericb 89, 162
139· 145· 157 Ludwig II., Königvon Bayern 13 I f.
Jobannes, Apostel t38, I91 Ludwig XI\7. 5 I
Johannes dcrTaufer 130 Lukacs Georg 158, zs6, 165 ff., zn,
Joyce, James 1H, 114ff., 141 ff., 186
148 f., 280 Luther, Mar�n 75, 140, 298, 398, 4o6
Jung, Carl Gustav 84, 344 ff.
Macauly, Thomas Babington 398
Kafka. Franz 141, 148 Madx, Ernst 183 ff., 189 191 ff.
,

Kandinsky, Wassily 53, 83, 156, 166 Mahler, Gustav p, 54, rot, 379
Kant, Immanue! J96, 300, 343, 364 Makart, Hans 359, 377,386
Kar! der Große 13 I f. Manet, Edouard 83
Kautsky, Karl 146 Mann, Heinrich 168
Keller, Gottfried 54, 158 f., 161, 199, Mann, Thomas 198 f., 1 to
371, 385, 390 Mannheim, Karl z86ff., 311, JZ5
Keyserling, Hermann Graf 149, 313 Mare Aurel 317
Kierkegaard, Sören 198, 3o6, 308 f., Mare, Franz 53, 81 f., 85 f., 155 f.,
JI2,J17, J64 z6o, z66, z76
Kipling, Rudyard 251 Marx, Karl t8, 21, p, 72 , 95, 97, I 14,
Kirdmer, Ernst Ludwig 82 u8, tso, 154, 156, I69 ff., 196, 111,
Klages, Ludwjg 65, 84, 184, 197, 201, 269, 177, 186 f., 400
zu, 314, 319, 330 ff., J36 ff., ]48, May, Kar! 169 ff., 179 f., 1 to, 371,
350, 357· 385 377. ]80
Klee, Paul 83, 256 f., 16o, z66 Mazzini, Giuseppe 88
Kleist, Heinridx von 3 6 I Meinong, Alexius 303
Klemm, Friedeich 91 ff. Mendelssohn-Bartholdy, Felix 373
Klemperer, Otto 236, 377 Mesmer, Pranz Anton 337
Klinger, Max 3 73 Metternidt, Clemens Fürst von 163,
Köhler, Wolfgang 303 187
Kokoschka, Oskar 82, 166 Meyerbeer, Giacomo 3 74, 378
Kracauer, Siegfried 33 ff. Meyrink, Gustav 190
Kretsdtmcr, Ernst 303 Mirabeau, Gabriel-Honorc Riqueti,
Kurella, Alfred 164 f., 174f. Graf von 78
Mirbeau, Ocrave 382
Laotse 255, JZ7 Modersohn-Becker, Paula 83
Lasker-Schüler, Else 166 Moeller van den Bruck, Artbur 64,
Laue, Max von 189 1:1.], IJ9
Leib!, Wilhelm 384 Molesdtott, Jacob 399
Leibniz, Gottfried Wilhelm 93 Moliere, Jean Baptiste 3 81
Lenbadt, Franzvon 336 Montanus 143
Lenin, Wladirnir lljitsch 78, 147, ISO, More, Tbomas 1so
184, 188, 29I ff. Mörike, Eduard 270
Namenregister

Moses n8, 130 Rickert, Heinrich z8o, 315


Mozart, Wolfgang Amadeus 3 19 Rimbaud, Artllur 161, 318
Münster, Hanns A. 76 Rohde, Erwin 169
Münzer, Thomas 140, 149, 187, 364 Rosenberg, Alfred 84. 13 9, u4. 269
Mussolini, Benito 86, 2. 14, 2. 1 9 Rousseau, Jean-Jacques 54. 11 I, 3 59
Rubiner, Ludwig 166
Nadler, Josef 3 1 2 Rudbeck, Olof 93
Napoleon I. 1 3 I f. Russe!, Bertrand 2.81
Nero, Kaiser 70, So, 92.
Nestroy, Johann I86 Sabbatai Zewi 87 ff.
Neumann, Therese 108 Sachs, Hans 86, 361
Nietzsche, Friedeich 57, I03,169,J20, Scheffel, Viktor von 381
334· 337 f., 341, 3 5 8 ff., 369, 374. Scheler, Max 1 86, 297 f., 303 ff., 308,
404, 408 3 1 1, 316, 315, 401
Nolde, Emil 82, 266 Schelling, Friedeich Wilhelm -Joseph
Norden, Eduard n9 von ns, 138 f., 305, p8, 341, 351
Noske, Gustav H?, 2.13, 2.56 Schickelc, Rene z66
Schiller, Ferdinand C. S. 284
Offenbad1, Jacques 57, 3I9, 379 Schiller, Friedeich von 93, 103, 2.47,
Origines, Kirchenvater 63, 133 357·397
Ortega y Gasset, Jose 397 f. Schlageter, Leo 161
Ossietzky, Carl von 39 Schlick. Moritz 183
Ovid 356 Schmidt, Christoph von 380
Schmitt, Carl 74
Paracelsus, Theophrastus 188, 3 37 Schmitt-Rottluff, Karl 83
Passarge, Siegfried 303 Schönberg, Amold 2.38 f., 166
Paulus, Apostel I38, 366 Schopenhauer, Artbur 93, 3 p. f., 383,
Pechstein, Max 8z 398
Petrus, Apostel I38 Schrimpf, Georg 2. 1 7
Picasso, Pablo 83, 2.36, 160, 175 ff., Schubert, Franz 54
p8 Schumann, Robert 319, 373
Piscator, Erwin 369 Schwind, Moritz von 374
Pitt, William d. Ä. 78 Sealsfield, Charles 18 1
Pitt, Williarn d. J. 78 Shakespeare, William 2.78
Planck, Max 189 Shaw, Bemard 32.7
Platon 304 f., p6, 3 Jl. 399 Simmel, Georg 369
Poe, Edgar Allan 1 8 1 Sokrntes 3 37 f., 359 f.
Poincare, Rayrnond 189, 2.9 I f. Sombart, Werner 3 15· 397
Prinzhorn, Hans 344 Sore!, Georges 3 5 1
Proust, Marcel 2.41 ff. Spann, Othmar 163, 303
Przywara, Erich 147 Spengler, Oswald 186, 303 ff., J I 8 ff.
Spinoza, Baruch 101
Ramakrischna 194 Spontini, Gaspara 378
Reventlow, Franziska 3 3 3 Spranger, Eduard 180
Rhodes, Ceci1 3 t 9 f. Stalle, John Bernhard 193
Richard von St. VIktor 133, 301 Steiner, Rudolf 188, I92. ff., 197
Namenregister

Stevcnson, Roben Louis I8 I Wassermann, Jakob I98, 2IO


Stinnes, Hugo 95 Watson, John Broadus 284
Strauß, David Friedrich 347 \Veber, Max 286
Strauß, Johann 319 Weill, Kurt 1.3off., 237
Strauss, Richard 2 3 6 f., 352, 374 Weißenberg, Joseph I49
Stravinskij, Igor 23 I ff. Weitling, Wuhelm 145, ISO
Streicher, Julius 82, 139. 269 Werfe!, Franz 266 f.
Stresemann, Gustav 3 8 Wertheimer, Max 303
Suso, Heinrich 149 Wessel, Horst 7 I
Swedenborg, Emanuel 194 Wienbarg, Ludolf 88
Wiesengrund siehe Adorno
Tauler, J ohann I49 Wildenbruch, Ernst von 1. 73
Telesphorus von Cosenza r 36 Wilhelm I. r3 I
Thomas von Aquin 278, 3o6 Wtlhelm ll. 74. 84, 171.
Tbysscn, Brüder 7o, 72, 77, 95, 3 1. 1 Wtlle, Bruno 333
'Iizian 336 Wind<elmann, Johann Joachim 169 f.,
Toller, Ernst 37 274
Trajan, Kaiser 128 Winckler, Josef 100
Trald, Georg z66 Windclband, Wilhelm po, 31.5, 399
Tydto de Brahe 327 Wirth, Johano Georg August 88
Wittgenstein, Ludwig 281
Vaihinger, Hans 28 I Weltmann, Ludwig 9 I
Verdi, Giuseppe 379
Vergil u 8 f. Yeats, William B. I94
Verworn, Max 185
Villen, Fran�ois 276 Ziegler, Adolf zss. z69
Virchow, Rudolf 188, 303 Ziegler siehe Kurella, Alfred
Vogt, Karl 399 Ziegler, Klara 377, 379 f.
Ziehen, Theodor 281
Wagner,Richard 8s, 244,333 f., 359 f., Zola, Emile 7 8
3 71.ff., 385 Zweig, Stefan 166
Die erste Auflage dieses Budles erschien 1935
im Verlag Opredlt & Helbling, Zürich.
Der Text der neuen Ausgabe ist in der Janson-Antiqua gesetzt.
Satz und Druck besorgte die Druckerei und Verlagsanstalt
Konstanz Am Fischmarkt.
Buchbinderische Verarbeitung von Karl Hanke, Düsseldorf
Schutzumschlag von Joacbim Romann
Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten
Erstes bis drittes Tausend 1962.
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main

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