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dieser Zeit
ERNST BLOCH
Erweiterte Ausgabe
SURRKAMP VERLAG
© Suhrkamp Verlag Frankfurt a m Main 1961
Meiner lieben Karola Piotrkowska
I N HALT
Vorwort 1935 .. 15
Nachschrift 1962 20
D ERSTAUB
Halb .
Muff .
Der Klatsch
Wissende Augen .
Schreibender Kitsch .
Haltlos ....... .
ERSTER TEIL
Der Matte . 31
Die Kragen 31
Kleine Stadt . 32
Künstlid1e Mitte 33
Beschreibender Schein
ZWEITER TEIL
D i e Dunkeln . . 45
Sprung zurück . 45
Rassentheorie im Vormärz . . . . . . . . . . . . 90
Schlußform:
DRITTER TEIL
GROSSBÜRGERTUM,
Zeitecho Stravinskij . . 23 2
Das Auge .. 28 I
Die Fiktiven . 2 8r
Namenregister . . . . 4r 1
ERBSCHAFT DIESER ZEIT
Vorwort zur Ausgabe 1935
Hier wird breit gesehen. Die Zeit fault und kreißt zugleich. Der
Zustand ist elend oder niederträchtig, der Weg heraus krumm.
Kein Zweifel aber, sein Ende wird nicht bürgerlich sein.
Das Neue kommt besonders vertrackt. Als solches wird es hier
beachtet, auch im Hemmenden. Vor allem jedoch im Bruch wider
Willen und einigen seiner schillernden Zeichen. Die sind, wie
selbstverständlich, durchaus nur an den Opfern, den betrogenen
und berauschten. Die Tauscher selbst, die Taten derer, die
Deutschland über sich hat, schillern nicht. Sie haben nur
das Gesicht und Amt, fürs Kapital, das sie rief, den möglichst
zweckdienlichen Grad von Schreck und Konfusion zu erzeugen.
Hier ist keine Neuigkeit, nicht einmal ein Bruch, in den einzu
haken wäre. Die Mächte, welche heute noch herrschen, sind sich
trotz allem einig.
Ein anderes aber sind die, unter denen sie betrügen. Die
Bauern und die anfälligen Kleinbürger, welche heute in meh
rerem Sinn nicht »sattcc werden. Sie sind in einer teils ver
nebelten, teils merkwürdigen Unruhe, wie man vor der Krise
nichts dergleichen sah. So besteht die Frage ihrer Anfälligkeit
oder eines immerhin vertrackten Neuen auch im wirklich oder
scheinhaftHemmenden. Ein antikapitalistischer »Triebcc ist auch
außerhalb der proletarischen Schicht, obwohl diese, theoretisch
wie praktisch, das wirkliche Werden voranträgt. Obwohl die
proletarische Befreiung und damit, letzthin, die aller Menschen
nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann. Der Tenor
dieser Blätter, der Standort, von dem untersudlt wird, ist des
näheren marxistisch. Gerade innerhalb dieses Tenors aber geht,
mittelbar, an der ideologischen Bewegung der klein-, erst recht
der großbürgerlichen kulturellen Schicht noch eine andere
Frage auf. Diese nämlich: Trägt das untergehende Bürgertum,
eben als untergehendes, Elemente zum Aufbau der neuen Welt
bei, und welche sind, gegebenenfalls, diese Elemente? Es ist eine
rein mittelbare Frage, eine des diabolischen Gebrauchs; als solche
16 Vorwort
auf Erden« keinen Platz, es gibt Fragen und Gehalte, die gerade
der wirklidl konkrete Begriff nidlt ohne weiteres auflöst, son
dern denen er vorher gerecht wird. Ein anderes freilich ist der
Grad der »Rettung« soldler Gehalte, vielmehr ihrer Ausrau
bung für einen anderen Zweck. Denn wer einmal marxistische
Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer nicht nur alles ideolo
gische Gewäsche, auch das, was nach der Kritik gegebenenfalls
übrig bleibt, ist ihm nicht happy end um jeden Preis oder die
elende Logik des Zwar-Aber. Sondern oft ergibt sich nur die
Warnung vor einem gefährlichen, vor einem lang noch verfüh
renden Schlupf- und Wetterwinkel irrationaler Art, diese aller
dings. Und das mittelbar npositive<e Erbe, welches bleibt, er
scheint desto stärker zum Bedenken oder als Bedenken; diese
>>Rettung<< gibt dann Stoffz u einem marxistischen Problern oder
zur Propaganda unter Anfälligen oder zur Neutralisierung.Will
man die Mittel verstehen und überwinden, die einem verelen
denden Bürger gerade gegen die echte Revolution gereicht wer
den, so muß man -diabolisch -in Bürgers Lande oder besser:
auf sein Schiff . Er hat nur noch ein Schiff; denn es ist die Zeit des
Übergangs. Das B u ch trage seinen Teil dazu bei, Länge und
Breite der bürgerlichen Endfahrt zu bestimmen, damit sie wirk
lich eine Endfahrt sei.
Locarno, I934
Nachschrift rg62
Seitdem sind fast dreißig Jahre vorbei. Aber die Zeit, aus der
das vorliegende Buch kam, steht immer noch lebhaft in der Luft.
Sogar wachsend lebhaft und das gerade bei jungen Menschen,
die sie doch nicht erlebt haben, die sie dafür fast sentimenta
lisch vermissen. Gemäß dem Ausdruck »golden twenties« und
der anderen, übrigens älteren Übertreibung, daß Berlin bis zur
Nacht von 1933 die geistige Hauptstadt der Welt gewesen sei.
Zweifellos aber ist die Zeit des Obergangs, durch die zwan
ziger Jahre illustriert, weiter eine geblieben, wenigstens der
Anlage, bestimmt dem Anruf nach.Dieser übergang von einer
Gesellschaft in die andere stumpfte die Klassenfronten nicht
Vorwort 21
Wir sind noch. Aber es gelingt nur halb. Der kleine Mann hält
zu vieles zurück. Er meint noch, für sich selber.
MUFF
Mehr als je lebt man mit ihm. Kinder werden dem Muff nicht
entzogen. Sie nehmen ihn weiter auf oder leiden solange, bis sie
selber wie der Vater sind. Auch wer nicht zuhört, merkt die
Gespräche des Spießers; da ist das Hocken am Eßtisch geblieben,
der Klatsch, der Besuch, das falsche Lachen und das echte Gift,
das sie untereinander streuen. Auch wer nicht mitatmet, den
grüßt die enge verbrauchte Luft. Sie dringt zum jungen Mann
nach unten, zu den schönen Leuten nad1 oben. Hält hier gut
still, dort gut taub.
D E R KLATSCH
Daß man es mit ihm mad1en könne, glaubt keiner. Die mit Pöst
chen würden sich das verbitten, nämlich von ihresgleichen. Nach
oben begehrt der kleine Mann keinesfalls auf, außer ganz all
gemein, gegen den grünen Tism und dergleichen. Desto leiroter
aber läßt e r im Haus aus, was ihn quält; uneigentlim, als Streit
mit den Schwächeren, als Klatsm gegen Nachbarn. Aum die
Bauern kennen Klatsm, süße Miene im Gesid1t, Gestank hinter
her. Dom das Landleben läßt ihn nie so bequem geraten, nie so
die Nacllbarsmaft selber werden wie im Mietshaus. Aus diesem
kriechen die Würmer jeden Tag; sie kommen aus dem Mehl, das
fehlt, aus den geliehenen Töpfen, aus der vielen Sitte, die dazu
z6 Wissende Augen
dient, sie verletzt zu haben. Klatsch kriecht die Treppen auf und
ab, hält diese Menschen zusammen, indem er sie trennt. Er ist
die sdliefe Art, unzufrieden zu sein, die falsch adressierte, die
Lust, zu kämpfen, ohne sich dem Gegner zu stellen. Stellt er sich
aber, mit eingestemmten Armen, dann zeigt sich, wieviel im ein
geschränkten Menschen ist. Dort, wo er ist, kann man ihm nichts
recht machen.
WISSENDE AUGEN
Ofter stehen kleine Leute noch satt auf. Dazu reicht es zuweilen,
nur dazu und mit Mühe. Aus dem Rechnen aber kam der knapp
Bezahlte nie heraus, und Sprünge macht er selten. Merkwürdig
nun, daß er das eingeschränkte Leben nicht nur billig, sondern
auch recht findet. Daß er der Schicht unter ihm nicht den Auf
strich aufs Brot gönnt; und die Oberen sind doppelt anerkannt,
wenn sie sparen. Was gar den Bettler angeht, so darf er über
Pfennige nicht hinauskommen; das ihm zustehende Maß an
Münze ist gering und vor allem: es ist nur für Brot. Der gütige
Spender leidet, wenn sich arme Kinder für den Pfennig Süßes
kaufen, wehe gar dem Bettler, der ein Scherflein, das keinem
Elend gewachsen ist, versäuft. Denn die milde Gabe verlangt,
daß der Nehmer noch viel bescheidener sei als sje selbst.
Aber auch kleine Leute spüren, daß sie nichts zu lachen haben.
Und trösten sich darüber, nämlich mit der Krankheit der ande
ren, die der Lust angeblich folgt. In Ordnung also, wenn Ver
gnügen sid1 an denen »rädlt<<, die es haben. Der »verlebte« junge
Mann gehört hieher, besonders auch die »wissenden Augen«;
letztere kommen gewöhnlidl bei Halbwüchsigen vor und dann
gern schwarz umrändert. Als madlte der Leib, ausgeredlnet die
ser, den Muckern die Freude, ihre Geschäfte zu besorgen. Als
l<äme selbst der Katzenjammer nicht von sdllechtem Schnaps,
sondern von der Ausschweifung. Doch die Kleinbürger hören
nicht auf, ihresgleidlen, erst recht nidlt ihresgleichen mit Krank
heiten zu untergraben, die ihr Rachetrieb erst gegraben hat. Wenn
eine Tanzerin stirbt, ist sie an den immer wilderen Reizen ihres
Lebens gestorben, und der Schmock setzt diese zur Schwindsucht
Aus Nah und Fern l7
Auch viel zu lesen, sagt der Mittlere, ist nicht gesund. Zu Hause
haben geplagte Väter sowieso keinen Platz, woran sie sitzen
könnten. Das Zimmer gehört der Hausfrau, die es reinigt, nid!t
dem Mann, der dort bloß gähnt und ißt. Das ungemütlid!e Zu
hause, die Flucht daraus haben derart beim Mittelstand ange
fangen, seit langem, nicht weiter oben. Am Stammtisch vertreibt
er sich den Abend mit Gerüd!ten und Geschwätz, lernt nur von
seinesgleichen, zerbricht sich keinen Kopf. Vor allem zwingt ihn
keine falsd!e Liebe, mehr wissen zu wollen, als man fürs Ge
schäft oder zum Spaß braucht. Vom Geschäft weiß der !deine
Mann nicht mehr, als daß es gut oder schlecht gehe, je nach den
))Zeitencc. Was aber den Spaß betrifft und eben die blätternde
Lektüre, so kommt die Abneigung des älteren Kleinbürgers
gegen brotlose Künste hinzu, die Unlust, diese ernst zu nehmen.
Sogenannte Grübler enden in der nAnstalt<<, weit weg vom
gesunden Mensd!enverstand. Freies Leben rächt sich an der
körperlichen Gesundheit, doch überflüssiges Denken am Kopf:
das also ist die andere Fabel des Kleinbürgertums. So war es
schon oberflächlich und kannegießerte, als überall noch der volle,
zusammenhängende Wissensstoff. Nicht nur der Abend im
häuslichen Kreis ist dem Mittleren zum Sammeln nicht einladend.
z8 Schreibender Kitsch I Haldos
Ihm stillte auch die » Woche«, die bildernde, lange schon das
geistige Bedürfnis, als gebildete Kreise durchaus noch zusam
menhängend lasen. Vom Kleinbürger, der schwätzt und blät
tert, ging, oft verblüffenderweise, das zerstreute Leben an.
SCHREIBENDER KITSCH
HALTLOS
Etwas wird anders. Von unten läuft ein Stoß weiter. Die Mitte
merkt sidt jetzt mindestens als arm. Zwar merkt sie das falsch;
denn es ist versdtieden, nie Geldgehabt zu haben oder sein Geld
verloren zu haben. Dodt zuweilen auch kommt die einzigartige
Lage, da ß Spießbürger das Leben erneuern wollen. Hier ist die
Luft vielleicht nicht mehr so dick wie früher. Doch sie weht
noch nidtt, sie staubt nur.
ERSTER TEIL
ANGESTELLTE U N D ZERSTREUUNG
D E R MATTE
Er mag nicht mehr. Aber er sieht nirgends, wie und wo. So läßt
sich der abhängige Mann weiter benützen. Hält sich für einen
anderen, als er ist.
DIE KRAGEN
Von selbst käme keiner. Doch später richtet er sich zurecht. Wer
sich verkauft, gibt sich zwar nicht mm i er ganz. Die Arbeiter
stehen feindlich zu dem, was mit ihnen geschieht. Aber der An
gestellte entspricht ganz dem Bild, das sich die Herren aus ihm
machen, das er aus sich machen läßt. Wie die Mädchen ihr trost
loses Leben führen (und der Abend betäubt nur für den näch
sten Tag). Wie die Männer untergeordnet bleiben, mißvergnügt
.
für sich, heiter im Verk ehr; wie keiner die unselbständige Grenze
überschreitet. Im Kragen des Tages, im billigen Vergnügen des
Abends, das eigens für sie gesteHt wird, fühlen sie sich als Bür
ger. Mit einem Pflichtgefühl, woran es nichts zu nagen und zu
beißen gibt, polieren sie noch ihre Ketten vaterländisch. In klei
nen Städten leben sie nur von gestern her, doch in großen haben
sie die Umzüge, falsch glänzendes Vergnügen dazu. So sind sie
nicht mehr die eingeschränkten kleinen Leute des stäubenden
Muffs, aber neue, außer sich seiende, abgelenkte. Die sich zer
streuen lassen, durch Kino oder Rasse, damit sie sich nicht
sammeln. Auseinandergehen, rufen Polizisten in schwierigen
Zeiten auf der Straße, circulez, messieurs. Das besorgen die
white collar workers schon allein, lassen es mit sich besorgen.
KLEINE STADT (1924)
Hier ist alles still, atmet nur noch kurz. Das blühende Land, mit
Bauern, reicht vergebens in den Ort herein. Wenige leben gern
in kleineren Städten, diese selbst leben kaum mehr. Und werden
völlig trostlos, wenn der Herbst kommt.
Die leeren Straßen, nicht einmal der Wind fühlt sich darin
wohl. Eine alte Tram klappert vom Bahnhof zum Marktplatz;
ihr inneres Licht beleuchtet müde Gesichter, die nicht heiterer
werden, weil sie sich alle kennen. Armselige Läden sind mit
Töpfen, billigen Kleidern, Abfall aus der Großstadt überfüllt;
viel zu viel Konserven altern dazwischen. Das Papiergeschäft -
bald wird Christbaumwatte in der Auslage liegen, drei Kerzen,
Briefpapier mit Tannengrün, etwas Stanniol. Immer weniger
Originale durchsetzen die kleine Stadt, immer weniger Sprache,
die noch im eigenen Saft kocht, immer weniger Landbrot, gute
alte Zeit in der Zeitung. Statt dessen herrscht die Phrase von
gestern, und wie die Läden ihre Konserven haben, so kommt die
öffentliche Meinung fertig gesetzt, frisch gekirnt, als Abhub aus
Berlin. Eine unsägliche Traurigkeit durchsetzt mit dem Herbst,
den schlecht beleuchteten Abenden die kleine Stadt; fruchtlos
erbittert macht sie die Menschen, die darin interniert sind. Der
Sommer hielt das Bild noch so weit, Geruch von Bergen und
Wiesen drang herein, der Himmel war hoch. Aber der Herbst
wirkt genau so einengend wie der Abend in der Eisenbahn,
wenn man keine Landschaft mehr sieht, bloß noch die paar Ge
sichter im Kupee unter der Lampe. Es gibt gewiß Ausnahmen,
kleine Städte mit Menschen, die sich eingerichtet haben, die im
Wein die Wahrheit und im Kino die große Welt finden. Aber
die meisten Krähwinkel sind heute so gehässig, tot und konven
tionell wie eine unglückliche Ehe. Hier ist frühes Altern und so
wenig Platz, daß es nicht einmal rechte Leere gibt, außer der
inwendigen, die sich der Handwerker, der Angestellte, der Chef
in geschiedenen Verbänden, geeintem Brustgefühl vertreiben.
Viele Kugeln rollen, jeder wirft die seine, doch alle meinen
den König. Freilich nur den nebenan, vor dem man falsch lächeln
muß.
KÜNSTLICHE MITTE ( 1929)
Anderswo ist der Tag nur lauter geworden, nicht voller. Das
Leben der großen Stadt schäumt mehr, schwindelt dafür besser.
Tauscht den schlecht Bezahlten, der alles bezahlen muß, was
man ihm vormacht. Die Arbeiter sind draußen in den Fabriken,
die Angestellten bewohnen die Läden, Büros, Straßen der gro
ßen Stadt selbst. Taglieh graues, abends zerstreutes Leben be
stimmt ihr Bild, füllt sie.
Kracauer ist mitten in diese Art, nicht da zu sein, gereist. Mit
einem einzelnen Blick, der durchdringt, wo andere nur berich
ten, gar plaudern. Mit einer Sprache, die sagen kann, was sie
sieht, die sich dicht, mit einer gewissen nüchternen Buntheit, an
die erkannte Sache ansetzt. Der Anfang ist mehrere Schritte vor
den üblichen wissenschaftlichen gelegt, kommt dadurch, im gan
zen Lauf, ebensoviel über das theoretische Ende hinaus, näm
lich tendenziös. Hier wird die wirkliche Lage der Angestellten
auf den Kopf getroffen oder vielmehr auf das falsche Bewußt
sein, das sie von sich hat. Die Masken, welche sich die Angestell
ten aufsetzen oder aufsetzen lassen, werden gezeigt und als
solche erkannt.
Merkwürdig nur, wie leicht sich der mittlere Mann darüber
täuschen läßt, wo er lebt. Die Angestellten haben sich in der
gleichen Zeit verfiinffacht, in der sich die Arbeiter nur verdop
pelt haben. Auch ist ihre Lage seit dem Krieg eine durchaus
andere geworden; doch ihr Bewußtsein hat sich nicht verfünf
facht, das Bewußtsein ihrer Lage gar ist völlig veraltet. Trotz
elender Entlohnung, laufendem Band, äußerster Unsid1erheit
der Existenz, Angst des Alters, Versperrung der »höheren«
Schichten, kurz, Proletarisierung de facto fühlen sie sich noch
als bürgerliche Mitte. Ihre öde Arbeit macht sie mehr stumpf als
rebellisch, Berechtigungsnachweise nähren ein Standesbewußt
sein, das keinerlei reales Klassenbewußtsein hinter sich hat; nur
mehr die Äußerlichkeiten, kaum mehr die Gehalte eines ver
schollenen Bürgertums spuken nach. Zum Unterschied vom Ar
beiter sind sie der Produktion viel ferner eingegliedert; daher
Künstliche Mitte
34
D E R GLÄNZ E N D E FILMMENSCH
Klar, diese neue Art ist leichter geworden. Sie könnte ihr Leben,
ihr fliehendes, sonst nicht bestehen. Schon der Sport läßt fede.cn,
der Film brachte Sinn für Gesten bei. Der Typ hat sich windig
verändert, um nicht zu sagen: seemännisch; ja, er will gar kein
Typ sein, sondern Person, und sie befehligt jeden Abend ihr
eigenes Schiff. Gegen die Abhängigkeit und Entwürdigung des
laufenden Bandes begehrt der lebende Mensch auf; hier aber
nicht als unterdrückte Klasse, sondern als Stand, der bessere
Zeiten gesehen hat, als Person im Stand. Durch diesen abge
lebten Schein hofft man, sich oben zu halten, und kopiert gerade
diejenigen, welche nach unten stürzen ließen, nämlich die echten
Herren, die edlten Personen von heutzutage. Das sind die in
dividuellen Wirtschafter selbst, die eigentlichen Mechanisierer
des Lebens; doch die Opfer verbinden sich mit ihnen, nicht mit
den proletarischen Genossen. Dem Ladenmädchen geingt l ohne
weiteres die rosafarbige oder gebräunte Dame, dem männlichen
Angestellten aber mißlingt der Herr. Denn die Dame blüht auch
auf dem erotischen Feld, nicht bloß auf dem sozialen, und ge
pflegtes Äußere kann hier manches ersetzen; doch der soge
nannte Herrenmensch ist heute keiner als der Herr des Profits.
Ja, nicht einmal die ))Ersd1einung« kann der Angestellte vom
Chef übernehmen (weil dieser sie meist nicht hat); also bildet
sich der neue Typ am Film, läßt den Sinn für Gesten zur bloßen
Filmperson zusammenschießen. So daß die Hämischkeit des frü
heren Kleinbürgers gegen Tänzerinnen, Lebenskünstler und
Unter dem Strich
dergleichen erlischt; auf der Straße wird wahr, was Ernst Blaß
einmal sang: Die Herren kommen wie aus Operetten. Vor dem
Film begann auch zuerst das Gefühl für Führer; wie keiner hebt
sich der Held dort oben aus dem Durd1schnitt, wie keiner ist er
von verrottetem Glanzlicht beschienen. Außerordentlich auch
die erotische Wirkung, die gerade von diesen falschen Personen
auf ebenso falsche ausging. Verlogene Nervenbündel wurden
bewundert als Kindweib; planlose Anhäufung von Fett zog als
gütiger Kraft:rnann. Erst redlt schlug der wirklich schöne oder
siegreiche Filmmensch in den Bann, der ihm zukommt. Je mehr
das Leben verfiel, je verlogener die Handlung war, die es er
setzte, desto leichter wurde der Kleinbürger zum Backfisch vor
Championen. An Boxern zog er sich physisch in persönliche
Höhe, an Filmhelden geistig. Der Chef hatte gewollt, daß er den
Proleten verließ, und Achtung vor sich selber befahl ihm zu
folgen. Kow..mt doch so mancher Held nicht minder aus kleiner
Gegend, um ihr desto schöner zu entsteigen: freie Bahn, wenn
nicht mehr dem Tüchtigen, so dem G!ücklidten. Nur Chaplin
bleibt arm wie zuvor und stellt den Herren ein Bein, ein besdlei
denes. Doch als lustig wird audt er genommen, und die Herren,
denen der anne Teufel recht märchenhaft entrinnt, glänzen im
Film gleich nebendran und sind mitnichten widerlegt oder gar
gesprengt. Selbst die kolportagehaften Wege, welche von der
Hütte in den Salon führen, bleiben Spiel. Schöne Gesten, nackte
Schultern, rasch wachsende und glücldiche Pilze, doch sie reizen
nodt umsonst.
Wie geht sichs müßig auch hier. Viel Kraft, zu lesen, blieb ohne
hin nidtt übrig. Nur Leute, die am Tag nidtts getan haben, sind
abends geistreich. Läuft gar der Blick unter den Strich, gleich
kommt es nicht mehr genau darauf an.
Nicht bloß der Leser ist daran schuld, auch die ihn versorgen.
Schon von selbst zwar gehen die meisten Kaufleute nicht über
den Tag hinaus, worin sie blühen. Und abends spannen sie aus:
so sieht man den müden Mann, der vom Geschäft nadt Hause
Unter dem Strich 37
kommt, nur noch die gähnende Zeitung liest. Groß gedruckt das
Leben, das er hat, geplaudert ein anderes, das ihn zerstreut und
nichts angeht. Aber freilich tun die Männer, welche das Leben
unterm Strich der Zeitung schneidend und schreibend spiegeln,
erst recht das ihre hinzu, Spaß daraus zu machen, windig und
wendig. Teils scheinen sie zu nichts anderem nütze als zum
Schönschreiben oder Durchsehen von vielerlei, das sie nicht ken
nen. Teils sind sie überwertig, kriechen in ihrem Amt mürrisch
unter, bereit, es bei jeder Gelegenheit, wo sie Dichter werden
können, zu verlassen. Zur Mitte, die ihren Beruf gewählt hat
und ausfüllt, scheinen hier wenige geboren.
Also geht es stufenweise in den Spaß herab, dieser wird zu
nehmend beliebig. Der Handelsteil einer guten bürgerlichen
Zeitung stimmt noch halb, frisierte Berichte rauht er zuweilen
auf. Der politische Teil hat sozusagen Charakter, nämlich den
des Verlegerkapitals und der großen Inserate. Aber bereits die
Berichte dieses Teils werden desto phantasievoller, je ferner ihr
Schauplatz rückt, je dünner also das tatsächliche Wissen ihrer
Gegenstände wird. Derart beginnt bereits in mexikanisd1en,
indischen, chinesischen Gegenden, überall dort also, wo undeut
licher Markt und keine vertraute kapitalistische Ebene ist, das
Feuilleton. Um unter demStrich nun ganz und gar Unterhaltung
zu werden: Unterhaltung über Vorgänge, die den Geschäfts
mann nicht wirklich alterieren, die vor allem möglichst harmlos
oder ))bunt« dargestellt werden. Hier stehen die gesprochenen
Bilderehen unverbunden nebeneinander, ja, noch das Belehrende
hat unterhaltsam zu sein. Ausnahmen gibt es in zwei, drei
alten Blättern; sonst ist überall Kunst der Umgehung, Unlust
zur Sad1e.
Solche Feder kann und muß um alles tanzen. Das verblasene
bürgerliche Bewußtsein verbläst sich noch einmal. Dem mitt
leren Leser wird die Leere, worin er leben muß, mit lauter
ungenauen Stückc�en zugestellt. Der vermögliche Mann aber,
der aus dem Leeren gerade wirtschaftet, macht sid1 noch Gift
unschädlich, das bescheidene Gift eines Toller etwa, indem er es,
aus seinem Blatt, in anregenden Teilen nimmt. Und der Schrei
bend'e darf vorerst alles sagen, weil er nichts zu sagen hat.
EIN S I E G D E S MAGAZINS (192.9)
Immer weiter noch fällt die Mühe aus. Die Zeitung ist heiter
gesetzt, um desto angenehmer überflogen zu werden. Auf der
Fahrt ins Büro, in den Pausen eines Lebens, das kaum m
i Bett
zu sich kommt. Gar die Zeitschrift ist entweder keine mehr,
oder sie geht ein, wo sie eine bleiben will.
Nicht fünf Zeilen stehen über Gedichte, geschweige, daß man
diese selber läse. Nicht über dreißig Zeilen darf ein Roman be
sprochen sein, es sei denn, daß er den Bürger, wie er sich vor
stellen möchte, selber in den Bücherschrank stellt. Aufsätze, die
in Frankreich etwa, als einem unzerstreuten Bürgerland, sofort
magnetisierten, negativ oder positiv, sind hier gedruckt das
selbe wie nie gewesen. Vergeblich klagte einmal Stresemann
darüber, daß die Zeitsduift als Ergänzung der Tageszeitung
aussterbe und keine Gelegenheit ihm gebe, sich über das geistige
Leben des Landes zu unterrichten. In Frankreich sind die Bür
ger im Bewußtsein ihres ideologischen Zerfalls noch weniger
vorgesduitten; also werden Briands dort unterrichtet. Doch den
deutschen Druckraum hat die Reklame: bald ätherisch, bald ju
nonisch ist die Zigarette bebildert, Lärm legt sich um bedeutend
weniger als um ein Omelett und nur den Schriftstellern fehlt
Platz. Nähme man den Druckraum der Kosmetik, der Tabak
reklame zusammen, so könnte Deutsduand eine Zeitschrift ha
ben, wogegen die »Neue Rundschau « ein bloßer Verlagsprospekt
wäre. In Frankreich lebt noch der scharfe Kommentar, der raum
schlagende Essay; bei uns wirken ehemals große Revuen selber
wie »Creme, die dem Wind die Schärfe nimmt« oder »wie das
Wunder ausgeglichener Mischung, welche unser Araberformat
so bekömmlich macht«. Sie können daher von Mouson und
Reemtsma ersetzt werden; aber wer hilft Stresemann? Quod
licetJ ovi, non licet bovi - nur der Reichspräsident hat das Recht,
seit seiner Kadettenzeit kein Buch gelesen zu haben.
Daneben leben noch Blätter, die einen recht frisch, die anderen
nicht einmal ganz welk. Als Typ der ersten stehe etwa die »Welt
bühne«, der zweiten die »Neue Rundschau«; auch edlere gibt es,
halten noch die Zeit, da man von Armut als dem großen Glanz
von innen gesprochen und sich nichts dabei gedacht hatte. Linke
Ein Sieg des Magazins 39
ihm benützt wird, doch ebenso seine Leere mitenthält. Der Jahr
markt der Zerstreuung lenkt ab und betäubt, doch er ist immer
hin -ein Jahrmarkt. Bilder aus aller Welt unterhalten mit dem
Angestellten den Fluß, worin er sid1 befindet.
B E S C H R E I BENDER SCHEIN
Hier wird ein frischer Blick gern gesehen. Um den Preis, daß der
Sdueiber, der ihn hat, seine Leser nur scheinhaft antrifft. Jün
gere Darsteller, nicht mehr willens, auch nicht fähig, gebildeten
Sd:lein zu liefern, sudlen dafür einen anderen; den etwa der
Jugend an sich oder dessen, was sie »erlebt« hat. Dieser Stoff ist
eine Zeitlang der Krieg gewesen, genauer: das Fronterlebnis in
ihm, das kameradschaftliche, das gefährliche Dasein fern von zu
Hause. Kraft dessen man aus bloß mittelbürgerlichen Fragen
herauszukommen suchte, indem man sie in den Schützengraben
setzte. Der Kriegsstoff kam so, zehn Jahre nadl dem Krieg,
gerade redlt, um literarischen Bürgersöhnen, die es bleiben wol
len, den abgelehnten Schein ihrer Klasse zu ersetzen. Aber der
Krieg ist ihnen bezeidmenderweise (damit der Schein nicht
durchstoßen werde) ein bloßer Gefühlsstoff geblieben, obwohl
das Seelisdle an ihm das Geringste gewesen sein dürfte. Der
Kriegsinhalt war ein anderer als der des Fronterlebnisses ver
lassener, verzweifelter, gemeinschaftlicher oder heldischer Art.
Der Stillstand zeigt sich, bei so viel Erlebnissen, auch darin, daß
der Krieg den bürgerlidlen Stoffen kaum einen zugebradlt hat,
der nid:lt schon im Vorkrieg gewesen wäre. Das gilt, mit Ab
stand, zugleich für die literarische Eroberung der sogenannten
weiten Welt und der Mitte� in sie zu kommen. Hier ist zwar
weniger Seele, weniger Umsonst des Schreckens, mehr der groß
zügig zusammenreißende Blidc, den Auto, Flugzeug und Reise
ulster verleihen. Doch auch die Fernbücher, seien sie von Hauser,
seien sie vom immer noch vorhandenen Edschmid, stehen im
erfrischten Schein. Aud1 sie sammeln nur draußen, um zu Hause
desto exotischer zu zerstreuen; ohne Wildnis der Kolportage
und doch ohne Genauigkeit. Solche Bücher rufen das circulez,
Ersatz und neu
Nimt alle spielen hier mit. Der Bauer gewiß nicht, der Hand
werker und Kleinhändler wenig. Desto mehr die neue Mitte, sie
sumt ein Leben, das sie meint und nicht führen kann, im Ersatz.
Niemals nennen sich Kleinbürger untereinander so, beschimp
fen sich nimt einmal so. Auch das hängt mit dem Ersatz zusam
men, nach dem sie jetzt streben, vor allem in ihrer maßgebenden
Smid1t, den Angestellten. Wer nicht mittanzt, wird von ihnen
nicht Klein-, sondern Spießbürger genannt, und ist in der Tat ja
vorüber. Wendig sieht der Angestellte auf seiner leeren Straße
leerem, ablenkendem Glanz nam. So daß der gesetzte Bürger
ihm namläuft, vom Stammtism aufsteht, verwirrend unterwegs
ist. Der Staub des Tages sieht abends, als beleuchtet, recht bunt
und lockend aus. Das reizt, doch erfüllt nicht, macht nicht echter,
doch immer neuer Dinge begierig.
ZWEITER TEIL
Wollen nicht mehr mit. Oft nur, weil sie dazu nicht tauglich
sind. So bleibt der erbitterte Mann hier ganz zurüd!, blutig und
dunkel. Immer mehrere werden heute beides zugleich.
SPRUNG ZURÜCK
Er wirft sich allerhand schon selber vor. Das Leben ist hart, das
Volk braucht Reize. Neu solche, die man aus dem Leben derer
zieht, welche es noch schlechter haben. Schön ist bereits, arme
Hunde so zu hetzen, wie es die reichen mit einem selber tun.
Rohe, auch lachlustige Wut tobt sich dann aus. Gibt die Tritte
von oben nach unten weiter.
Findige Köpfe machen das jedem heute möglich. Hier ein Bei
spiel von unterwegs, es steht ( wie bald vielleicht ) für mehr. Die
Frankfurter Festhalle veranstaltete vierzehn Tage und länger
eine sogenannte Internationale Dauer-Marathon-Tanz-Meister
schaft. Die technische Leitung liegt in den Händen einer Kom
pagnie, zwisd:len die man nid:lt geraten möchte. Ross Amuse
ment Co.; klingt wie vom did{en Wallace aus dem Stall gezogen.
Etwa 25 Paare haben sich Tag und Nad1t, 45 Minuten pro
Stunde, in Tanzbewegung zu halten. Die übrigen I 5 Minuten
sind zum Ausruhen, Austreten, zum Essen oder Schlafen be
stimmt. Tänzer, die während der Tanzzeit die Toiletten auf
suchen, erhalten drei Minuten Freizeit, wofür sie während der
Ruhepause fünf Minuten weiterzutanzen haben. Die konh.-ur
rierenden Paare müssen die Füße während der ganzen Tanz
dauer in Bewegung haben; die eine Hand des einen Partners
stets auf dem anderen, wie beim Vergnügen, wie im Salon. Da
sind nid:lt die Wohltaten des Sports, sondern sämtliche Paare
sollen »ein gesellsd:laftlich würdiges Aussehen« bewahren. Die
Würde der engen Lackschuhe, der Kragen, der Balltoilette; spa
nische Stiefel zieht man aus dieser Würde und einen Knebel für
verzerrte Gesichter, die dadurd1 doppelt lustig werden. Sieger
der Meisterschaft ist das Paar, welches zuletzt auf dem Tanz
parkett zusammenbricht. An die 20Paare haben bereits umsonst
geschafft, manche nam über JOO Stunden Tanz. Sie tragen nichts
davon als ein krankes Herz und die Pfiffe der Galerie.
Soeben tretendiePaare wieder vor. Taumelnd aufdas schreck
liche Oval der Tanzfläche, von Aufsehern gestoßen. Im riesigen
Saal stehen zwei Zelte, aus Zuchthaus-Leinwand, mit kleinen,
blinden Glasfenstern darin. Hierunter verbringen die Tänzer
ihre 15 Minuten, seit Wochen, in einer Stinkluft Tag und Nacht,
Wut und Lachlust 47
Leben und leben lassen, das macht sich oft leicht. Aber geht das
Geschäft nicht wie gewöhnlich, dann wird der Sinn scharf. Haßt
alle, die dieselbe Ware verkaufen, sucht sie mehr als je zu ver
drängen. Nun sind viele Läden nebenan jüdisch, manche viel
leicht aud1 besser geführt. Also wird der Haß besonders loh
nend, auch durchsichtig: Juden raus, nämlich aus dem anderen
Laden. Und schlägt man das jüdische Kapital und lenkt darauf
ab, so rettet man vielleid1t das eigene. Seit die Klingel an der
Trir rostet, blickt der Krämer besonders blau.
Aber viele verbessern sich jetzt, blonden Haares, auch inner
lich. Der kleine Mann fühlt sich gerne adlig, das ersetzt ihm den
Aufstrich aufs Brot. Er fühlt sich hinter Pult und Ladentisch be
deutend besser, seit er ein Norde ist oder vollwertig in seiner
Blondheit wenigstens dem Blut nach. An sich in seiner Blondheit
herabblickend, blickt er zu sid1 ebenso auf; Teut macht ihm seine
Nacktheit stolz und stärkt Narzißmus unter den Kleidern, im
kärglichen Amte. Rassestolz wird zum Adelstick der Rotüre,
dient erst recht der schlauesten Demagogie: er schließt die ge
schundene Person völlig in ihren Blutring ein, gibt ihr deutsche
Ehre als Brot, durchkreuzt den Klassenkampf. Er macht aber
die rassig interpretierte »Nation« ebenso persönlich, zum Selbst
gefühl des einzelnen blonden Leibs; so daß der Teutone, vom
Blut befriedigt, nicht nach Mitbesitz an den anderen Reichtü
mern der Nation verlangt. Seltsam nur, wie gerade der mittlere
Deutsche das Blut so feiern mag. Lebten hier lauter Friesen,
dann stammte die rassige Rede wenigstens aus ebensolmem
Sachsen ohne Wald
so
sie ( nach Meinung der Antisemiten selbst ) so stark wie bei den
Juden. Der jüdische Bourgeois, der leere Intellektuelle stehen
auf einem andern Blatt, auf einem, das er mit lauter Ariern teilt,
weil es nicht zur Rasse, sondern zum Hauptbuch des Kapitalis
mus gehört: aber »Fremdheit« zum Juden, zur jüdischen Sub
stanz ab ovo? Allen, welche sich noch Christen nennen, oder
mindestens ihren Vorvätern war die biblische Welt doch einmal
recht vertraut und Jesus ihre Zuversicht. \>Veiche Lichter möchte
sich doch gerade der Antisemit aufstecken und wie allerhöchst
gar würde er illuminieren, wenn die Geschichte seines Volkes
das Erbauungsbuch der weißen Rasse geworden wäre; statt daß
er dies Faktum jetzt, mit erstaunlichem Erfolg, aus dem Be
wußtsein verdrängt. Abernoch die bewußten Abkehrer von der
Bibel, die ehrlichen Neuheiden des Landes, leben von jüdischer
Nähe, kopieren (so unfruchtbar, wie der Antisemit sich den
Juden wünscht und hinstellt, dazu ganz ohne Verständnis des
Sinns ) die Kategorie des »auserwählten Volks«. Die Nation als
Gegenstand des patriotischen Gefühls beginnt zwar erst mit der
Französischen Revolution, mit dem Sieg des französischen Bür
gertums, das die hochmütige Internationale des Adels zerbrach;
la grande nation Ludwigs XIV. enthielt noch keineswegs die
»Roture« mit, und Friedrich li. von Preußen fühlte keineswegs
deutsch. Aber so gewaltig nachher das deutsche Vaterlandsge
fühl auch durchschlug und so viel mittelalterliche Romantik die
Staaten des Hochschutzzolles, gar des Imperialismus verschönte:
der Mythos vom auserwählten Volk kommt den Deutschen
nicht aus ihrem Bürgertum, nicht einmal aus der Romantik des
alten Reichs. Sondern eindeutig aus der Bibel und ist das einzige,
was den wilden Olbaum der deutschen Heiden noch mit dem
echten Olbaum Israels verbindet, in den er einmal gepfropft
war, Als der Arische in den Kreuzzügen nach Palästina zog,
schlug er zu Hause erst Israel tot; will der Hakenkreuzler aus
erwähltes Volk sein, muß er heute das Original verleumden,
unter den Stiefel treten, zur >>Weltpest« machen und ausrotten,
um selber »auserwählt« zu sein, um überhaupt nur »Rasse« zu
haben. Die Rasse eines Nicht-Juden, welche er nun freilich hat;
sie ist für Sachsen ohne Wald, für die vielen jetzigen Sad1sen
des Reichs Blut und Wald geworden. Erst recht gibt es keine
Raubnacht in Stadt und Land
deutsche Kultur ohne die Bibel; ihr haben sich die besten Deut
schen nid1t weniger �>assimiliert« als die besten Juden sich wie
derum der deutschen Kultur. Jener eben, welche die Bibel in sid1
hat, und welche von Eckart bis - Mahler reicht. Doch eben sdlon,
was Rasse angeht: Rasse im organisch durd1gekod1ten Sinn
zeigen die Juden sicherer als die meisten Deutschen; und Rasse
in ihrem einzigen Wertsinn: als Auftrieb zur Menschenähnicll l
keit - haben gerade Juden deutlid1 genug gelehrt, um sie nicht
mit Tierzucht verwed1seln zu lassen. Oder mit dem Kampfbund
des gewerblichen Mittelstands oder mit den Raffke-Gesten,
»Raubtier«-Gesten des späten Kapitals. Was viele Juden als
Drohnen sind: es besteht kein Anlaß, sie zu schonen, doch auch
keiner, sie anders als die arischen Ausbeuter matt zu setzen.
Was viele Juden der Großstadt intellektuell geworden sind, dies
platt Kluge, Abstrakte, zu nichts Verpflichtende: es besteht eben
sowenig Anlaß, diese Art Intelligenz zu dulden, doch erst recht
keiner, den Kapitalismus als Grundgehalt zu übersehen, der
audl hier sicll aussingt und den Sdladen Josefs mit dem Sdladen
Teuts recht gut vereint. Daß so viele Juden aber diesem Scha
chergeist obliegen (nidlt mehr dodl als die ))Totengräber« der
)1deutsd1en Treu und Redlidlkeit<C): dieser Abfall ist erst recht
nid1t von Stinnes, sondern nur vom - Juden Marx her ridltbar;
und die bei Marx stehen, kennen gerade als Juden diesen Abfall
am wenigsten. Zu ihnen kehrt sidl vielleimt mandler deutsdle
Mann, wenn seine Recken genug jüdisc.!-te Reklame getrieben
haben. Wenn man im Warenhaus der Nazis (das alles zu führen
versprid1t) vergebens ein Stück Brot, einen Bissen Wahrheit zu
erhalten wünscllt.
Bis vor kurzem war der Bauer keinem fremd. Der Weg in die
Stadt, aus ihr heraus, war nah oder hatte Übergänge. Das dicke
Land selbst, man taudlte ein wie in Sclllaf, in sammelnden, bun
ten. Wer zu malen, ZU smreiben hatte, lernte die Stille nom von
anderer Seite lieben. Wie die Bauern taten die Maler ihr Tag-
Rauhnacht in Stadt und Land 53
werk, oft mit dem Frühesten; da stieg etwas aus dem Saft. Der
Boden trieb, seine mancherlei Früchte wurden in der Stadt
verkauft.
Jetzt dagegen ist der Boden gereizt, seine Menschen und er
selbst. Die wirtschaftlichen Ursachen sind nicht unklar, ihre Fol
gen desto erstaunlid1er. Die mittlere Stadt s
i t heute, zum Teil,
nur verödet, doch das Land wirft Schlamm auf. Die mittlere
Stadt ist zum Teil von Gebildeten bevölkert, denen im Um
bruch des Gewohnten nid1t geheuer ist und die deshalb innere
Werte pflegen. Aber das Land setzt sich qualitativ gegen die
Zeit ab, gräbt unter Bud1en (keine Judenbuche ist darunter )
nach verrotteten Schätzen. Die mittlere oder Plüschstadt ist auf
dem Weg Berlin nur etwas außerhalb geblieben, hinterläßt
jedoch, mit vielsagender Ausnahme Münchens, noch keine pathe
tische Leiche. Dagegen dem Land steigt alter Saft in längst ver
gessene Triebe, es nährt Nation�lsozialisten und völkische My
thologen, kurz, steht auf als Pastorale militans. Vor dem Krieg,
sagten wir, war es allem Treibenden verwandt, ganz gleich, zu
welchem Ende und in welchem Stockwerk es wuchs. Die Trieb
kraft aus dem Boden war stark, doch gleichsam neutral; Bilder
und Gedanken, obwohl sie gern auf dem Land ausgearbeitet
wurden, nahmen keine Ideologie davon an. DieMaler des ersten
expressionistisd1en Dokuments, des »Blauen Reiten<, wohnten
in Oberbayern, und die Murnauer Glasbilder waren ihnen keine
Folldore, sondern Zeugen der eigenen, höchst gegenwärtigen
Pbantastik. Heute jedoch beziehen gerade die Windjacken ihre
Dumpfheit aus Schwaben-Bayern, wenn auch mit Stockflecken,
und die »Kräfte«, die aus Heimat und Volkheit zutage treten,
dienen ausschließlich kleinbürgerlicher Reaktion. Die Murnauer
Glasbilder ( pars pro toto) sind zu Mahnmalen einer reaktionä
ren Heimatkunst oder zu Kellerfenstern einer Erdromantik ge
worden, die Marcs, Kandinskys Blauer Subjekt-Reiter gewiß
nicht gemeint hatte. Antiquitäten des Landes werden nicht mehr
als ein Stück heimisches Tahiti gesehen, gleichsam als koUegia
lische Wunderländer geliebt, von Mensdlen in der Richtung
Gauguins, sondern sie sind wieder »altdeutsdle Weinstuben«
geworden, bestenfalls Dekorationen eines finsteren Spuks.
Erst redlt ist Pan nicht mehr bukolisch wie vordem, zur Zeit
Raubnacht in Stadt und Land
54
nur allerlei Experimente der >>Montage« und sieht sie sich an.
Aber es ist zusammen mit den Nationalsozialisten doch inquisi
torisch geworden, empfindlich gegen jede Art von >>Kultur
bolschewismus«, die den anderen deutlich nach sich ziehen
könnte; es hat sich in seiner Leere formidabel gemacht, hat nicht
den skeptischen Relativismus, wohl aber die skeptische Tole
ranz von früher durchaus gesperrt. Das Großkapital hat keinen
Dionysos des Muff, wie die Stadtbünde, die es heranpfeift, dod1
es beschützt und formuliert ihn desto bewußter. So geht auch in
der Großstadt die Reaktion bis zu den »chthonischen« Beständen
einer Vorzeit zurück; dort also, wo man sie am wenigstens ver
mutet hätte. Ja, sie geht- anders als im altnüd1ternen, seßhaften,
erdgebundenen Land - bis zum Berserker zurück und seinem
völlig dunkelnAmoklauf. Mag dieser auch allemal -beim Klein
bürger wenigstens, als dem Gros der Bewegung - in der guten
Stube von gestern und vorgestern vorläufig enden.
Die Frage ist, ob Wildes, das Leere verstopft, sie nicht ebenso
weiter aufreißt. Denn die Mitte ist buchstäblich irre geworden
und die Jungen wollen nicht nur in den Muff nach Hause. Ihrer
städtischen Wildnis verschwinden nicht 50 Jahre wie beim Zau
ber der guten Stube, sondern wie auf dem Land scheinen Jahr
hunderte zu verdunsten, Veitstanz beginnt auf der Straße. Man
sieht durchaus zwar: darin ist keinerlei ))Deutschland erwache« ;
das Naziturn bildet vielmehr einen Schutzraum für die wider
sprechende Unruhe, damit sie j a nicht erwache. Jedoch die Frage
mindestens bleibt: ob das beginnende Disparate und »Irratio
nale« des nationalsozialistischen Anblicks auch in der Stadt,
gerade in ihr, so sehr es den Widerspruch zum Kapital einkap
selt und die Hohlräume mythisch verstopft, nicht ebenso der
kapitalistischen Ratio sonderbar werden mag. Lasse man das
Nädme einen Augenblick beiseite: daß nämlich die fortschrei
tende Proletarisierung der Mitte ohnedies, das heißt, bei rich
tiger Führung, den nationalsozialistischen Nebel durchstößt; ist
er doch ökonomisd1 nichts in bar und kann es nicht sein. Aber
jetzt schon kann der Kapitalismus mit zwei »Wahrheiten« nicht
i rationalen hier, für sein Volk, mit
völlig Ruhe halten: mit einer r
einer abstrakt-mechanischen dort, im Betrieb. Der Kapitalismus
hatte keine andere Wahl als die, weldle er bis jetzt mit dem
Amusement Co., Grauen, Drittes Reich 61
Hier wirken Triebe, die die Not und das falsche Bewußtsein von
ihr nur freilegen, die aber nicht von heute snd.
i Sondern ein
Stück fossiler Mond scheint, darunter ist ein Weg, an den man
sich seltsam erinnert.
Was auf ihm herkommt, vor dem hatten nicht nur Juden die
Tür verriegelt. Gespenstisch steigen alte Fratzen auf und sind
doch wirklich: der Nazi etwa, der nach der Ankunft von Böß
die ganze Nacht vor dessen Haus getanzt hat, mit einem gelben
Pelz bis auf die Füße, war vor 500 Jahren, wenn Juden tot
geschlagen wurden, genauso wild und witzig. Mit einem Pelz
tanzte er, schaukelte und tobte er die ganze Nacht, weil auch
Böß, der Berliner Bürgermeister, in eine Pelzaffäre verwickelt
war; uralt aber ist der Geruch dieses Auftritts, trotz des elenden
Witzes, der schäbigen Dummheit seiner Anspielung, uralt und
schrecklich wie aus einem Angsttraum und den Abgründen, die
er streift. Und auch sonst: während kommunistische Exzesse, als
von einer neuen Schicht ausgehend, wenig deutsche Folklore
einmischen, erinnern nationalsozialistisdle sehr oft, selbst wenn
sie die schwerfällige Munterkeit des Tänzers nicht erreichen, an
rezente Vorzeit. Da sind mittelalterliche Gassen wieder, Veits
tanz, totgeschlagene Juden, Brunnenvergiftung und Pest, Ge
siebter und Gebärden wie auf der Verspottung Christi und ande
ren gotischen Tafeln. Wahrscheinlich ist diese Art Volkstiefe in
anderen Ländern ausgetrocknet ; nur dieLyndler amerikanischer
Südstaaten, Kukluxer, erwachende Magyaren und ähnliche zie
hen mit. Sagte Spengler die fascistische Zeit voraus, so hat er
doch darin geirrt, daß er sie kalt, mechanisch, aus den zivilisier
ten Weltstädten, kurz, aus völlig wachem und spätem Bewußt
sein aufbrechen ließ. Aber bei unseren Fascisten hat München,
nicht Berlin begonnen, die »organischste« Hauptstadt, nicht die
mechanisierte, und die Gewalt geht vom »Volk!< aus (im höchst
undemokratischen Sinn), von Metzgertänzen und rohester Folk
lore. Diese vor allem bricht in die Besitzangst und das Ressen
timent der Kleinbürger ein; sie garniert noch das Neu-Rom
jener Industriechefs, die die Metzgertänze bezahlen und ihr
allerhöchstes Faustrecht damit stärken. Die Primitive reimt zwar
nicht weiter als bis zur Pöbelfratze auf Kreuzigungen, doch diese
hat sie sehr gut konserviert.
Amusement Co., Grauen, Drittes Reich
sehr alten Bildern. Der Berserker artet aus, der in jede Richtung
marschiert, wo zu zerstören ist; seine irre Grausamkeit ver
stärkt den Rachetrieb des Kleinbürgers. Deutschland war im
mer, zum Unterschied von Frankreich, ohne Einfluß der Frauen,
ohne Maria; nun ist es völlig Anti-Blume geworden. Erberin
nerung hellerer Art kommt hinzu, genau als Mythos Drittes
Reid1; doch hat sie keine Kraft, in ihrem Feuer auch Licht zu
haben. Die abstrakte Roheit wird vielmehr stärker und gibt
dem Mythos Drittes Reich einen Blutgeruch, der seiner Ver
derbnis entspricht. Uralte Gebiete der Utopie werden so von
Veitstänzern besetzt, die germanische Blutromantik ist beim
Kleinbürger angekommen, hat sich ein ganzes Heer von Feme
mördern und »Kronenwächtern« erblasen. Walsungenblut, das
bisher nur musikalischen Aufguß hatte oder in Klages philoso
phisch kochte, ist plötzlich >>konkret« geworden, nämlich am
Rüclmand sinkender, im Sinken erinnerungsreicl1er Schichten.
Ihr Sinken läßt diese Schichten nur ökonomiscl1-sozial ins Pro
letariat herab, doch ideologisch kommt dadurch keine Neigung
zum Abbau, zur Analyse der Lage, zur Aufdeckung der Ursachen
und »Gründe« von heute. Sondern das Sinken verläßt erst recht
die dünne Verstandessdl.icht der »Neuzeit«, streift im Fall sehr
alte Triebweisen, Lebensformen und Überbauten, provoziert
daraus »Irratio «. So raub und kriegserotisch, so braumbar zu
gleidl für die finstersten Imperialismen, rief einer dieser jungen
Nazis aus: «Man stirbt nicht für ein Programm, das man verstan
den hat, man stirbt für ein Programm, das man iebt.«
l Unnötig,
in diesemAusruf die sdllechte Irratio zu betonen, die Unlust, ein
Programm zu verlangen oder zu verraten, wo gar keines ist, die
heroische Unwissenheit zurückbleibender Schimten, welche
eher den Tod wollen als die Einsimt ihrer Widersprüche. Nötig
freilich für uns Marxisten, den dunklen, den nicht nur von Un
wissenheit gehaltenen Fanatismus dieses Ausrufs ebenfalls zu
sehen und seine anders »zurückgebliebenen« Hintergründe; in
diesen eben smeint ein archaisdl-emotionaler allzu gegenwär
tiger Analyse nie ganz zugänglidler oder austreibbarer Rest.
Nidlt die »Theorie« der Nationalsozialisten, wohl aber ihre
Energie ist ernst, der fanatisch-religiöse Einschlag, der nicht
nur aus Verzweiflung und Dummheit stammt, die seltsam
66 Amusement Co., Grauen, Drittes Reich
Jeder Vorstoß gegen oben werde aber genutzt, gleich erst, wie
er kommt. Man kann zwar glauben, die wachsende Bewegung
führe von selber nach links, und der Rest gehe unter. Das hofft
nid1t nur der Sozialdemokrat, der immer alles über sich gesche
hen läßt, und dem alles »von selber« vergeht. Aum Kommuni
sten, kräftig beteiligt, glauben an einen Untergang der aktiven
Teile der NSDAP, an desto rasmeren, je mehr Hitler dem Kapi
tal dienen muß, das ihn als letzte Olung gerufen hat. Ein Bul
letin von 1930 lautet bereits: ll!n der Berliner KPD-Zentrale
herrsmtdie Zuversimt,daß man früher oder SpäterdenLöwen
anteil aus der Konkursmasse dieser politismen Monstre-Speku
lation ziehen werde. Man remnet in absehbarer Zeit mit einem
Namlassen der bindenden Kraft zwismen dem nationalsoziali
stischen und dem Sozialistismen Element der Bewegung, sobald
der Druck der wirtschafttimen Not den Nebel der Phraseologie
niederschlägt und das Flickwerk der Kompromisse und Smein
fassaden in seiner ganzen Armseligkeit erkennen läßt.« Also
baut man hier schon Bereitsmaftsstellungen auf, die die zerfal
lenen Bataillone Hitlers einmal aufnehmen sollen. Also besteht
die Hoffnung, daß die SA-Proleten und ein Teil der anderen
Pauperisierten kommunistisd1 landen, der Rest wird deutsm
national und das ganze war Blague (wie so viele bessere Bewe
gungen in Deutschland aum). Jedom: wir halten diese Hoff
nung in ihrer Ganzheit für verfrüht, und zwar nicht wegen des
antikapitalistischen, sondern wegen des ebenso antimemanisti
schen Widersprums, den die Bewegung in sim hat. Der erste
Widersprum, der der verelendenden Mittelsmimt zum Kapita
lismus, ist gewiß bald zu klären und brauchbar; er ist zwar noCJ.1.
keiner mit klarem Bewußtsein, wohl aber ein irrationaler, wel
cher vom Kapitalismus ebenfalls erzeugt wurde und der Ratio
des Kapitals auf die Dauer kaum bequem bleiben kann. }edod1
der zweite Widerspruch, der allgemeine zum »Medlanismus
überhaupt«, mamt, daß dem Angestellten auch der Kommunis
mus nom als Memanei dargestellt werden kann; als Fortsatz der
Entpersönlid1nng und Rationalisierung, ja, als bloße Kehrseite
68 Atnusement Co., Grauen, Drittes Reich
Wenn zwei dasselbe tun, tun sie nicht dasselbe. Wie gar, wenn
der eine des anderen Tun nachahmt, um zu betrügen. So heute,
wo der Nazi noch nicht zeigen kann, wie er wirklich aussieht
und was er wirklid:t will, sid:t also verkleidet. Er gibt sich auf
rührerisch, wie bekannt; der schrecklichste weiße Terror gegen
Volk und Sozialismus, den die Geschichte je sah, tarnt sid1 sozia
listisch. Zu diesem Zweck muß seine Propaganda lauter revo
lutionären SdJ.ein entwickeln, ausstaffiert mit Entwendungen
aus der Kommune. Billiger war das Betrugsgeschäft nidJ.t mehr
zu machen; denn selbst die herrenrassig-nationalistisd:te Parole
zöge nicht, wenn sie sich - sdJ.einbar dem wirklichen Bedürfnis
des Volkes entspremend - nicht vorab als eine antikapitalistische
gäbe. Wobei der Antikapitalismus der Thyssen, SdJ.röder und
anderen Auftraggeber des Nazismus verständlicherweise nimt
Masken genug auftreiben kann, damit ihn Rotkäppchen nicht
erkenne. Reimstagsbrand allein genügtnidJ.t, das Volk muß audJ.
glauben, daß Nero der Urdu·ist selber sei. So äffte die Hölle von
Anfang an mit Heilsfratze, noch und noch.
I . Man stahl zuerst die rote Farbe, rührte damit an. Auf Rot
waren die ersten Kundgebungen der Nazis gedrud{t, riesig zog
man diese Farbe auf der schwindelhaften Fahne aus. Die Plakate
wurden allmählich immer blasser, so daß sie den Geldgeber
nicht mehr schreckten. Die Fahne selbst trug ohnehin von An
fang an ihr schief gewickeltes, schräg verdrehtes Zeid:ten, und
nach ihm, nicht nach der Farbe, ist sie ja benannt. Docll als ein
tüchtiger Arbeiter das Hakenkreuz aus ihr heraussdmitt, blieb
meterweise roterSchein an dem Tuch noch übrig. Nur mit einem
Loch in der Mitte, aufgerissen wie ein Maul und völlig leer.
2.. Dann stahl man die Straße, den Druck, den sie ausübt. Den
und Mörder kann sim anders nicht sehen lassen als mit revo
luzzerhaften Reden und Kampfforrnen. Der Kleinbürger sieht
darin Sozialismus, der Großbürger besitzt daran Kulisse, und
für beides war dem Kapitalismus höchste Zeit. Denn die demo
kratische Attrappe der Weimarer Sozialdemokratie versteckte
den verelendeten Massen ihre Wirklichkeit nicht mehr. Also
mußte die Attrappe ausgewechselt werden und vom sozialdemo
kratischen nSozialismus«, mit Sozialisierungskonunissionen, auf
das viel radikaler scheinende Blendwerk des nazisciseben über
gehen. Doch freilich, es gelänge nicht einmal dieses Blendwerk,
und der Betrug mit ihm wäre nicht notwendig, wenn nicht
eben eine fortwährende revolutionäre Situation bestünde, die
man durch Diebstahl ihrer Embleme akut zu werden verhin
dert. Man muß bis Luther im Bauernkrieg zurückgehen, um
einem ähnlichen Betrug mittels pervertierter revolutionärer
Losungen zu begegnen (damals hießen sie: Freiheit des Chri
stenmenschen); und auch der Judas in Luther wird vom Satan
IIitler noch weit überboten. Das Erwachen aber aus der natio
nalsozialistischen Verzückung wird desto belehrender für ihre
Massen sein, je verheißungsvoller an antikapitalistischer Sehn
sucht die Verzüdrung war und je nschlagartiger« sich erweist,
daß ihre Inhalte auf dem geglaubten Naziboden am schlimmsten
mißlingen. Hitler brüllte, daß er sein Reich stabilisiert habe ))für
die Jahrhunderte, die nach uns kommen«, und nin zehn Jahren
gibt es keinen Marxismus mehr«. In zehn Jahren wird statt
dessen das Tausendjährige Reich gänzlich in die Hölle gefahren
sein - der Hund ist tot, die Taschenspieler werden keinen Geist
mehr rufen. Nur ein Menetekel wird stehen bleiben, - wehe je
der Diktatur, die das verkennt.
erschienen sein über das Thema: nLeben und Treiben der Hof
lieferanten<<, eine andere lautet: nDie Wegweiser im Zeitalter der
Völkerwanderung<<. Gar ein Lehrstuhl für Sterndeutung wurde
der Berliner naturwissenschaftlichen Fakultät vom Führer ))an
geraten<<. Bei solchem Stand der verzweifelten Wissenschaft läßt
sich auch aus der Mündmer Rede süße Frud1t brechen, der deut
sche Nobelpreis wartet. >>Streicher und Hellas« - ein würdiges
Thema, eine wahrhaft philosophische Erörterung; sie vor allem
wäre imstande, die Maßstäbe zu liefern, die nder hohen Grün
dung eines Tempels der Kunst angemessen sind<<. Kartoffeln
zieht man in Böotien, Eulen in Athen, aber griechische Men
schenfresser waren bisher unbekannt.
Unterdessen wurde der Münchner Tempel eingeweiht. nSo
einmalig<<, sagt sein Bauherr, »und eigenartig ist dieses Objekt,
daß es mit nichts verglichen werden kann. Es gibt keinen Bau,
von dem man behaupten könnte, er sei das Vorbild, und dies
hier wäre die Kopie.« Andere nennen das gleiche brutalisieren
den Neuklassizismus oder die Aurora in Öl. In weidlern Stil aber
das Gegenunternehmen - die Halle der ))entarteten deutschen
Kunst<< - gebaut ist, darüber ist noch nichts bekannt geworden,
obwohl hier wirklich ein Objekt vorliegt, das mit nichts ver
glimen werden kann. Allein sdlon das Nebeneinander dieses
))Tempels<< und dieser »Halle<< ist beispiellos, und man hat nichts
davon gehört, daß der Tempel vor Scham in Grund und Boden
versinkt. Hier könnte der Bauherr in der Tat Originalität be
haupten: eine ähnliche Nachbarschaft von Böse und Gut, von
Verrottung und Zukunft, von Kitschmuseum und Pinakothek
war noch nicht auf der Welt. Indem es noch keine solche Regie
rung in der Geschichte gab, gab es noch keine solche Verkehrung
der Werte. Im ))Tempel« namenlose Banalität (die paar besseren
älteren Werke, es sind sehr wenige, sehen drein wie Schubert im
Dreimäderlhaus ). In der ))Halle« beim Galgen dagegen hängt
alles, was der deutschen Kunst neuen Glanz und Namen ge
bracht hatte, Meister von Weltruf, Franz Mare vor allem, der
Stolz Deutsmlands, der große, verehrungswürdigo! Künstler, erst
Kriegsopfer, dann Opfer eines Marsyas, der endlid1 Apollo schin
det. Franz Marcs Wunderwerk ))Turm der blauen Pferde�<, wei
ter Nolde, Hecke!, Kirchner, Pechstein, Beckmann, Kokoschka,
Gaukleefest unterm Galgen
Nicht von Geld wird hier gesprochen. Eher von der Liebe, die
falsch landet. Große Gefühle sind auch sonst vor die unrechte
Schmiede gekommen. Tauschten sich lange genug, bis selbst die
Scham zu spät kam.
Junge Menschen sind leicht mit sich verführbar. Denn in
ihnen ist am meisten Hoffnung, und diese ist, außer dem Schau
dern, unser bestes Teil. Doch auch ein ganzes Volk ist seit alters
auf Hoffnung gestellt, die Juden. Diese suchten das gelobte
Land, und als sie es hatten, hörte der Wunsch danach nicht auf.
Das Buch Jesaias ist voll Verheißung des »Gottesknechts«, der
der zukünftige Retter sein wird. Als das Volk unter neue Knecht
schaft geriet, unter syrisd1e, dann unter römische, dann gar
unter die abendländische der Zerstreuung, wuchs der Messias
gedanke immer unerbittlicher, ohne Abschlag, verschmolz völlig
Große Verschwendung
Jetzt dod1 richtet man gutes Blut nur nordisch an. Die Rasse
sieht immer so drein, wie das Geschäft sie braucht. Darum ist
dies Nordisd1e nid1t nur blond sowieso, sondern treu, gefolg
sam, mit Herren besternt und geschmüd<t, an sie gläubig. Das ist
sein Gesicht, sagt man, seit je.
Wie aber, wenn vor Tische genau das Umgekehrte galt? Die
i Vormärz
Rassentheorie m
zum Forschen und Prüfen, Trotz und Zweifel. Dies spricht sich
deutlid:l in der Gesd:lichte der Nationen aus, weld:le die aktive
Menschheit bilden, der Perser, Griechen, Römer, Germanen:
Bei ihnen ist Freiheit der Verfassung, deren Element der stete
Fortschritt ist; Theokratie und Tyrannei gedeihen nicht; Wis
sen, Forschen, Denken tritt an die Stelle des blinden Glaubens.
Dagegen finden wir bei den passiven Rassen Scheu vor dem
Forschen, Denken, geistigen Fortschritt. Die passiven Nationen
haben . . . Seelenkunde, aber keine Philosophie, sie haben Heil
mittel und Kenntnis des menschlichen Körpers, dennoch aber
keine Medizin, mit einem Worte, eine eigendich lebendige WlS
sensmaft fehlt ihnen.« Kurz: das Urbum der nordismen Rassen
theorie pflegt dieselben billigen und abstrakten Antithesen, das
selbe Schwarz-Weiß wie seine Kinder, bloß mit umgekehrtem
Gehalt. Was heute schlimmste Zersetzung oder lntellektbestie,
war dem Edeling vor I 848 germanisfies Erbgut. Was heute
archaische Tiefe, war dem Urgobineau »mongolisch((, tiefste
hende Rasse, »Unter dem Einfluß von Schamanen stehen���,
kurz, nur unter Hitleriden vorhanden. Auch Hl'tlers Stellvertre
ter Heß aus Alexandria, der völlig konsequent die Kurpfusche
rei gegen die Medizin ausspielt, hätte beim Stammvater kein
Pardon gefunden. Alles Okkulte war hier niedere, schwarz
haarige Machenschaft- der Edeling ist per se aufgeklärt.
Soweit Herr Klemm, und soweit werde er hier ausgegraben.
Nicht als wären Bruchstellen nicht heute noch oder als hätten
sie nicht vor kurzem noch edreut. So im Geschimtsunterricht,
gerade im griechisch-römischen, bei den »aktivsten« arischen
Völkern. Welcher Jubel bei der Geburt der Republik, bei den
Tyrannen- und Königsmördern, bei Harmodios und Aristogei
ton, bei Brutus. Welche Verlegenheit beim Untergang der römi
schen Republik, bei der Vertagung des erbärmlichen Senats,
welche Verachtung, welch unrömisches Bild gab der Brandstifter
Nero. Welm Pathos wurde gegen die persische Gleichschaltung
aufgewendet, gegen die Proskynesis, die Despotie, den gottähn
lichen Humbug um die Herren. Wie warm wurde mit den Ma
zedoniern mitgefühlt, wenn ihnen der Nimbus des Großkönigs,
wie Alexander ihn um sim legte, verhaßt war. Fremd, fast hoch
verräterisch wirkten diese Gefühle im deutschen, gar königlich-
Mythos Deutschland 93
MYTHOS DEUTSCHLAND
UND DIE ÄRZTLICHEN MÄCHTE (193 3 )
Die weiche Art ist lang gewesen und dahin. Die neue fühlt sich
stählern, durchaus als Klinge. Sie ist es derart, daß sie wehrlos
Gemachte gut und gern tranchiert. Aber so vortrefflich der Typ
94 Mythos Deutschland
deutsche liegt in derTat zur Zeit besonders tief, noch unter der
französischen; also soll auch hier die Blutpflege heben. Ein
Aberglaube der großen Zahl liegt dieser Angst zugrunde; als
herrschte noch die liberale Zeit, die mittelkapitalistische, wo der
Unternehmer nicht Arbeitskräfte genugverwerten konnte, sei es
als beschäftigte, sei es als lohndrückende Reservearmee. Heute
reicht derErwerbslose zur Bildung dieser Armee durchwegs aus,
ja, ist gerade eine Gefahr für die kapitalistische Wirtschaft, min
destens ein Ballast. Dennoch betreiben die Nazis, wie so oft, eine
überalterte Ideologie; sie haben die »gesunden Ans,ichten« einer
zurückgebliebenen Schicht. Wobei die Stärkung des reaktionä
ren Haussinns freilich nicht außer Ansatz bleibt, erst recht nicht
der Auftrag zu Kanonenfutter. Daher wird die große Zahl - und
wieder von Geburt an - genau zugleich abgeteilt; in die Masse
nämlich der Geführten und in die kleine Schicht geborener Füh
rer. Die schlecht Weggekommenen sollen an ihrem eigenen Leib
schon glauben, daß sie es mit Recht sind und bleiben müssen.
Man wird so in den Stand der Arbeitnehmer strenger und un
ausweichlicher geboren als früher in den Stand der Leibeigenen;
was zur Zeit der Leibeigenschaft gottgewollt war, ist fascistisch
naturgewollt. Umgekehrt herrschen die Wirtschaftsführer und
die politischen kraft ihres herrenrassigen Bluts; dieses allein
bestimmt den neuen Adel, die neue Elite der Ausbeutung. Herr
schaft über Menschen bleibt ewig; nachdem sie schwankend zu
werden droht, ist »auf Rassenlehre die ganze künftige Gesetz
gebung zu gründen«. Das deutsche Land aber fährt am besten,
weil es auch seine Kapitalisten als Deutsche und nur als Deutsche
hat. Das deutsche Volk ist den Nazis nicht schlecht genug, um
Marx zu dulden, doch gut genug für Stinnes oderThyssen. Aller
hand Träume umspielen die nordische Rasse dazu, mit Zügen,
die sie niemals hatte oder die sie nicht allein hat. Und das wirk
liche Gesicht des neuen Adels, wenn nicht sein Leitbild, ist alle
mal der verschönte Ausbeuter von heute.
Doch Blut wieder, ein noch schöneres als das gesunde, hält auch
zusammen. Der mittlere Mann, oft verletzt, findet sein Selbst. in
einem starken Volk wieder. Der zweite Ort, so deutsd1 zu sein,
ist derart das aufgenordete Vate1·land. Der mittlere Bürger, erst
recht seine Jugend, will gar nichts »Besonderes" mehr sein,
Mythos Deutschland
,
sondern ein Allgemeines sozusagen, nämlich ein auskömmliches
Rädchen und Glied im ganzen Volk. Individueller Aufsti�g,
freie Bahn dem Tüchtigen, Erfolge in freier Konkurrenz sind
kaum mehr möglich; also wirft sich das Geltungsbedürfnis
aufs allgemeine Volksgefühl, dem es schon zugehört, und über
steigert es. Falsch, zu sagen, daß hier in erster Linie der Einzel
mensch rebellierte und sich gegen die Vermassung wehrte als ein
kollektives Schicksal. Die »Seele« des Angestellten allerdings
wehrt sich gegen den Betrieb; in ihr sind gewiß auch individuelle
Strebungen von früher, aus der Zeit der freien Konkurrenz,
doch sie sind nicht mehr so wichtig, wie dies manche kleinbür
gerliche Intellektuelle, aus ihren eigenen individuellen Resten
heraus, glauben. Vielmehr liegt für den Haupttrupp der Nazis
das gesuchte Feld jenseits des Individuums wie des Kollektivs
(die ihnen beide als liberal und mechanisch erscheinen). Er
wünscht sind statt dessen kameradschaftliche Gruppen, als
Bünde, Lager, Gefolgschaften; diese geben dem Betrieb eine
täuschende Weihe, taufen ihn organisch um. Wird so das Be
wußtsein der Klassengegensätze höd1st idealistisd1 verhindert,
bleibende Ausbeutung, bleibende Mechanei höchst romantisch
getarnt: so wirkt die Blutlehre selbst fast wie ))Materialismus«,
freilich in einem kuriosen Sinn. Denn keineswegs ist hier der
nGeist« primär; er und sein Gefüge werden vielmehr »bis auf
den Grund abgebaut«, als wäre auch hier »Analyse«. Wie der
Nazi auf die Bauern zurückgreift, als den am meisten organi
schen Stand, so sind ihm die Leibärzte, Rassenä1·zte und Hygie
niker sozusagen seine Sozialwissenschaft. Sie sind ihm aum
staatstheoretisch wichtig; daher nicht nur das Pathos der Ver
erbung und Zuchtwahl, sondern vor allem das Nationalpathos
aus Blut. Fast besser noch als die protestantischen Staatstheo
logen zeigten sim so die deutschen Ärzte gleichschaltbar. Höchst
lehrreich verkündet gerade das nDeutsme Ärzteblatt« als eines
der vornehmsten medizinischen Organe: »Ehrfurcht vor unse
ren Vorfahren, vor dem Lebens- und Blutstrom der germani
schen Rasse muß unsere Seelen wieder hinausheben über das
individualistische und liberalistische Denken der Zeit.« Das
Volk wird derart auch medizinisch eine von Blut gefüllte Einheit,
ein rein organisches Stromgebiet, aus dessen Vergangenheit der
Mythos Deutschland 97
U N G L E I C H Z E I T I G K E l T UND P F L I C H T
ZU I H R E R DIALEKTIK (Mai 1932)
A. FROHER ZUSTAND
Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, da
durch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch
nicht mit den anderen zugleich.
Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nach
dem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine
Zeiten. Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schich
ten nam; leicht geht oder träumt es sich hier in ältere zurück.
Gewiß, ein bloß ungelenker Mann, der ebendeshalb hinter den
Ansprüchen seines Postens oder Pöstmens zurückbleibt, ist ein
fam als er selber zurückgeblieben. Doch wie, wenn er außer
dem, durch nachwirkende altbäuerliche Herkunft etwa, als Typ
von früher, in einen sehr modernen Betrieb nicht paßt? Ver
schiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben
gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen
wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig,
schief, von rückwärts her. Die Kraft dieses unzeitigen Kurses hat
sich gezeigt, sie versprach gerade, so sehr sie nur Altes aufholt,
neues Leben. Aum die Massen strömten ihr zu, weil das uner
trägliche Jetzt mit Hitler mindestens anders scheint, weil er für
jeden gute alte Dinge malt. Weniges unterwarteter, nichts ge
fährlicher als diese Kraft, zugleim feurig und kümmerlich,
widersprechend und ungleichzeitig zu sein. Die Arbeiter sind
mit sich und den Unternehmern nid:lt mehr allein. Viel frühere
Kräfte, von ganz anderem Unten her, beginnen dazwischen.
B . UNGLEICHZEITIGKEITEN, B E RICHTET
Eine Art fängt immer von vorn an. Die 'Jugend wendet sich vom
Tag meist ab, den sie hat. Den sie heute nicht hat, doch ihre
Träume kommen nicht bloß aus leerem Magen. Es unterstützt
sie ebenso Ieibhaft ein hohles Jungsein, das nicht gegenwärtig
ist. Junge ohne Arbeit sind leicht von rechts zu bezahlen und zu
verführen. Junge bürgerlicher Herkunft, doch ohne bürger
liche Aussicht, gehen ohnehin nach rechts, wo man ihnen eine
verspricht. Aber es ist doch bezeichnend, daß keineJugend bei der
einigermaßen gegenwärtigen Mitte steht; es gibt keine zwanzig
jährige Wirtschaftspartei. Der zwanzigjährige Zustand ist viel
mehr einem anderen als dem verdinglichten Leben von heute
zugewendet. Selbstverständlich gibt es keine Jugend an sich
oder keine, die so gleichartig, so unabhängig von den Zeiten
heranwüchse, wie Jünglingen zu allen Zeiten der gleiche Bart
wächst. Aber so sehr dieser Zustand in verschiedenen Klassen
und Zeiten ein verschiedener ist, so sehr noch die Worte, die ihn
beschreiben, heute andere sind als gestern, so deutlich tauchen
hier sehr frühe Leiber im Jetzt auf, schicken ein Stück vorge
schichtliches Leben herein. Holen Knaben Pfeil und Bogen nach,
so werden Jünglinge leicht bündisch, suchen damit Freunde und
vor allem einen Vater, der ihr leiblicher oft nicht war. An der
bürgerlichen Jugend gerät das leichter als an der proletarischen;
aber nicht nur, weil sie bürgerlich ist, sondern weil sie zerfalle
ner ist, folglichSpiele und Schwärmereien mehr durchläßt. über
und über mit sich selbst beschäftigt, sich selbst aufs äußerste
wichtig, zeigt diese Jugend zugleich mit ihrem Ruck ins roman
tische Rechts, wie äußerlich ihre schlecht gegenwärtige, ihre
sachliche Gebärde war. Die scharfe Luft der Jugend läßt linkes
Feuer, wenn es brennt, noch stärker brennen; doch wird rechts
»erneuert«, so ist die Jugend bürgerlicher und verführter Kreise
erst recht verführbar: das bluthaft, das organisd1 Junge ist ein
guter Boden für Nazis. Bünde von sehr altem Zuschnitt tauchen
auf ihm auf, bluthaftes, greifbares Leben in kleinen Gruppen,
mit einem gekannten Führer, nicht mit Nummern an der Spitze.
Der Geschmack dieser Jugend ist für gut geratene männliche
Eigenschaften besonders empfindlich, für Stärke. Offenheit,
106 Ungleichzcitigkciten, berichtet
Andere Art ist von ganz lang her, indem sie wurzelt. Lebt fast
noch genau wie die Voreltern, tut dasselbe wie sie. Es ist das
Bauerntum: auf dem Land gibt es Gesichter, die bei all ihrer
Jugend so alt sind, daß sich die ältesten Leute in der Stadt nicht
mehr an sie erinnern. Treibt Elend oder bequemere Gelegenheit
in die Fabrik, so ist doch ein bäurisches Sprichwort: Arbeit
taugt nichts, zu der man gepfiffen wird; gerade der Kleinbauer
denkt so, auch wenn er vorher nicht viel besser gelebt hatte als
sein Knecht. Zwar rechnet der Bauer vorzüglich, hat seine
Trachten, Möbel, viel alten Zuschnitt aufgegeben und keines
wegs nur gezwungen. Aber reagiert der Bauer auf wirtsdtaft
liche Fragen auch erfrischend nüchtern, sind die handgewebten
Phrasen, die er jetzt gebraucht, auch nicht alle bodenständig, so
ist das Nüchterne doch nicht von heute, so trägt überall, wo
Schweigen und Dumpfheit, Herkommen der Sitte und des Glau
bens statthat, der Bauer alte Tracht. Seinen wirtsChaftlich über
alterten Ort verteidigt er zäh, ist schwerer durch die Maschine
zu verdrängen als vor hundert Jahren der Handwerker. Er ist
schon deshalb schwerer zu verdrängen, weil er die Produktions
mittel noch in der Hand hat, auch die landwirtschaftlichen Ma
schinen nur als Hilfsmittel im alten Rahmen des Hofs und zu
gehörigen Ackers gebraucht; kein Fabrikant führt hier gegen
wirtschaftlich schwache Handwerker den mechanischen Web
stuhl und Entsprechendes ein, das nur der Kapitalist besitzen
Ungleid:!zcitigkeiten, berichtet 107
Seit einigen Jahren lernt, wie bekannt, auch die städtische Art,
nachzugehen. Eine verelendete Mittelsc.hidJt will zurück in den
Vorkrieg, wo es ihr: besser ging. Sie ist verelendet, also revo
lutionär anfällig, doch ihre Arbeit ist fern vom Schuß und ihre
Erinnerungen ma<hen sie vollends zeitfremd. Die Unsicherheit,
welche bloß Heimweh nach Gewesenem als revolutionären An
trieb erzeugt, setzt mitten in der Großstadt Gestalten, wie man
sie seit Jahrhunderten nicht mehr sah. Doch auch hier erfindet
das Elend nichts oder nicht alles, sondern plaudert nur aus,
Ungleichzeitigkeiten, berichtet 109
sind die der Familie und der »sauberen« Wirtschaft, sei es des
Vorkriegs, sei es eines Ständestaats; und den Nutzen hat die
großkapitalistische Oberschicht, welche gotische Träume gegen
proletarische Wirklichkeiten verwendet. Gewiß auch hatten
Dunkelheiten noch nie solch regen Verkehr mit Spießbürgern
zu erdulden, so viel Hämischkeit, Gemeinheit und störrigste
Provinz, so viel Edda auf Brandmalerei, so viel Wappensprüche
auf sächsisch. Aber dennoch sind hier, in der Wut von Millionen,
in der archaisch gewordenen Landschaft um sie, auch Felder an
derer Irratio. Lebende und neu belebte Ungleichzeitigkeiten,
deren Inhalt echt ist, deren Erscheinungen heidnische Roheit,
panische Natur mit sich führen. Aufstände älterer Sd1ichten
gegen die Zivilisation kannte man in dieser dämonischen Form
bisher nur im Orient, vor allem im mohammedanischen. Ihr
Fanatismus kommt jetzt auch bei uns, immer noch, den Weiß
gardisten zugute; solange die Revolution das lebende Gestern
nicht innehat und umtauft. Mit dem Rückgang Hitlers wird
vielleicht auch das Ungleid1zeitige schwächer scheinen: jedod1 es
bleibt als Kein1 und Grund der nationalsozialistischen wie jeder
künftig heterogenen Überraschung. Der Nationalsozialismus
hat genug Proletarisierte dämonisiert gezeigt; ihr lächerlid1-
entsetzlimes Bild soll nicht vergessen sein, nom weniger un
genutzt.
Viele von diesen gingen im Jetzt gewiß nur nacll. Blieben hinter
seinem Zug nur zurück, weil ihrGang zu lahm ist, obwohl sonst
ganz und gar von heute. Man wird darum keine ältere Art dort
scllon sehen wollen, wo bloß eine zurückgebliebene ist. Die zum
Heute zwar sclllecht steht, aber zu ihm gehört.
Der kleine Mann etwa hat Geld verloren und will es wieder
haben. Auf diesem Weg kann er verrohen und träumen, er liegt
dann aud1 geistig scllief, doch eben im Jetzt. Bessert sich ihm die
Lage, so wird das Wilde und Träumende ohnehin aufhören. Bes
sert sie sich nicllt, und Hitler, einmal an der Macht, enttäuscht,
llZ Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit
dann werden die Proleten, die mitlaufen oder es mit ihm ein
mal versuchen, ohnehin nach links abspringen, wo man sie
erwartet; der Kleinbürger aber wird mindestens nicht mehr
an Geister glauben. Da ist vieles nur falsch ungleichzeitig, kehrte
heute lieber als morgen zur guten Stube zurück, hat »gesunden«
Sinn mit Wut und Phrasen, doch keinen Veitstanz. Füllt sich mit
schönen Worten, lautem Spiel, glänzendem Unsinn; und will
doch, auf dem Grund dieser Trunkenheit, nur wieder ein Haus
tier sein. Man wird darum eine Bewegung, will man sie nicht
unterschätzen (was den meisten erst seit kurzem nicht passiert),
dod1 ebenso nidlt überall grell machen. Glauben, Gehorchen,
Kämpfen, das sind die fascistischen Tugenden? - vielleidlt, aber
das Gehordlen ist vielen die beste unter ihnen. Ordnung und
Hjerardlie der fascistische Baustil? - vielleicht, aber in der Ord
nung suchen viele ihre Ruhe, in der Hierarchie einen Posten. Ja,
man hat die nationalsozialistische Agitation, kaum mit Unrecht,
einen Appell an den inneren Schweinehund im Menschen ge
nannt: keine negative Bemerkung wieder kann gegenwärtiger
sein. Ein anderes sind die Bilder der stillerenInnerlidlkeit; wären
ihrer viele auch nicht so billig, so sähe man doch, daß sie nicht
älter als 3 o Jahre sein können und daraus abgestanden sind. Hier
merkt der kleine Mann nur nidlt, wo er ist, obwohl er durchaus,
auf ,geringe und betäubte Weise, im Jetzt ist. Sind viele dieser
Nebel also unerwartet und sonderbar, so nicht alt.
Doch ebenso ist nicht alles hier kleiner Mann, der sich täuscht.
Die Not bringt neben Frühe aus Muff auch echte, mit der zu
rechnen ist. Es gibt heute Galosd1en des Elends, weld1e so in
vergangene Zeiten führen wie im Märchen die Galoschen des
Glücks. Träfe das Elend nur gleidlzeitige Menschen, wenn audl
versdliedener Stelle, Herkunft und Bewußtsein, so könnte es sie
nicht in so verschiedene Ridltung marschieren lassen, besonders
nicht so weit zurück. Sie könnten die kommunistische Sprache
nidlt so wenig »verstehen«, als welche gerade völlig gleichzeitig
und genau an der vorgesdlrittensten Wirtschaft orientiert ist.
Gleichzeitige Mensdlen könnten trotz aller Mittelstellung, die
Echt ungleichzeitiger Rückstand I l3
ökonomisch dumm hält, trotz allen Scheins, der daran Platz hat,
sich nicht großenteils so archaisch verwildern und romantisieren
lassen. Gewiß lehnen sich die Mittelständler aud:t deshalb anders
gegen das zur Ware-Werden auf wie der Prolet, weil sie nur
mittelbar in der Produktion stehen. Auch weil der Angestellte
bis vor kurzem wenigstens noch nid:tt so annulliert, in seiner
Arbeit noch nicht so entäußert, in seiner Stellung noch nicht so
ungesichert war; überdies haben, zum Unterschied vom Pro
leten, kleine individuelle Möglichkeiten des Aufstiegs bestanden.
Aber wenn auch jetzt, nach völliger Proletarisierung und Un
sicherheit, nach dem Untergang der höheren Lebenshaltung und
aller Aussichten auf Karriere, die Angestelltenmassen nicht zu
den Kommunisten oder wenigstens zu den Sozialdemokraten
stoßen, im Gegenteil: dann reagieren offenbar Kräfte, welche
das zur Ware-Werden nicht nur subjektiv-ideologisch verdecken
(wie das bei einer nicht radikalisierten Mitte bis nach dem Krieg
allerdings allein der Fall war), sondern reaJ, eben nämlich aus
realer Ungleichzeitigkeit. Es wirken dann Antriebe und Reser
ven aus vorkapitalistischen Zeiten und Überbauten, echte Un
gleichzeitigkeiten mithin, die eine sinkende Klasse in ihrem Be
wußtsein rezent macht oder rezent machen läßt.
Haben sich hier doch nicht nur Bauern und kleine Leute, auch
höhere Herren frisch, nämlich alt erhalten. Die Straße, welche
das Kapital durchs »organische< überlieferte Land gebrochen hat,
zeigt als deutsche jedenfalls besonders viel Nebenwege und
Bruchstellen. Schon im Krieg hatte sich gezeigt, daß Deutschland
nicht nur großkapitalistisches Land ist und die Junkerkaste nicht
nur eine Attrappe; das mischte in den imperialistischen Krieg,
al!" den »Aufruhr der Produktivkräfte gegen ihre nationalstaat
liehe Ausbeutungsform<c, noch ältere Ursachen und Inhalte ein.
(Die deutsche Sozialdemokratie hatte das damals erkannt, ohne
freilich revolutionäre Konsequenzen daraus zu ziehen, nämlich
Kampf in erster Linie gegen die heimischen Junker und den
selbsttätigen Militarismus; den Wert dieser ungleichzeitigen Er
l<enntnis hebt aber ihre nicht vollzogene Konsequenz nicht auf.)
Deutschland überhaupt, dem bis I 9 I 8 keine bürgerliche Revo
lution gelungen war, ist zum Unterschied von England, gar
Frankreich das klassische Land der Ungleichzeitigkeit, das ist,
I I4 Ungleichzeirigkeit und Gleichzeitigkeit
Der Not fehlt zu essen und, in der Mitte, noch etwas Höheres
dazu. Das sie im jetzigen Leben nicht mehr finden kann, ja schon
lange in der Ode vermißt. Dies gewohnt, sdJ.ließlich »seelisch«
Vermißte widerspricht also gleichfalls dem Jetzt, ebenso stark
wie das fehlende Essen und nid1t nur wirtschaftlich. Weiter hat
jeder aufrührende Widerspruch, sogar sein Schein, zwei Seiten:
eine innere sozusagen, der etwas nicht paßt, eine äuße1·e, worin
etwas nicht stimmt. Die verelendete Mitte nun, überwiegend
nicht von heute, widerspricht dem Jetzt, das sie immer weiter
fallen läßt, innerlich dumpf und äußerlich mit Resten, die dem
Jetzt fremd sind. Das Widersprechende s i t hier also, innerlich
oder subjektiv, ein dumpfer, es ist ebenso in der Zeit selber,
äußerlidJ. oder objektiv, ein fremder und übriggebliebener,
kurz, ein ungleichzeitiger Rest. Als bloß dumpfes Nichtwollen
des Jetzt ist dies Widersprechende subjektiv ungleichzeitig, als
bestehender Rest früherer Zeiten in der jetzigen objektiv un
gleichzeitig. Das subjektiv Ungleich.zeitige, nachdem es lange
bloß verbittert war, erscheint heute als gestaute Wut. In ruhiger
Zeit war sie das Verdrossene oder Besinnliche des deutschen
Kleinbürgers, der sich vom Leben, worin er nicht mitkam,
sdümpfend oder innig zurückzog. Subjektiv ungleidJ.zeitig im
dürreren Sinn, aber ein Brennholz in der Wut sind auch die abge
fallenen Zweige der PflidJ.t, der Bildung, des ,,Stands« der Mitte
in einer Zeit, weld1e keine Mitte mehr kennt. Dem entspricht das
objek tiv Ungleidlzeitige als Weiterwirken älterer, wenn auch
jeweils letzte Stufe die einzige wäre, auf der die Dialektik zu
stehen, die konkrete Revolution zu geschehen hat. Das Funda
ment des ungleichzeitigen Widerspruchs ist das unerfüllte Mär
chen der guten alten Zeit, der ungelöste Mythos des dunkeln
alten Seins oder der Natur; hier ist, streckenweise, nicht bloß
klassenmäßig unvergangene, sondern auch materiell noch nid1t
ganz abgegoltene Vergangenheit.
D. Z U R ORIGINALGESCHICHTE DES
D RITTEN REICHES
der Ketzerei trafen; dennoch fehlte der Linken neben der Wolke
die Feuersäule am wenigsten; sie war im Impetus und Ideal der
revolutionären Sache. Die Inhalte des heutigen, des in Durch
führung begriffenen Sozialismus sind nicht mehr die theolo
gischen, klassenmäßig nicht einmal mehr die theologisch ver
kleideten von damals. Trotzdem mag der Sozialismus vor den
Träumen seiner Jugend Achtung tragen, ihren Schein tut er
ab, doch ihre Versprechungen erfüllt er. Deutschland hört noch,
wie sich gezeigt hat, auf die alten Retter- und Reichsträume,
selbst wenn sie von Betrügern vorgebracht werden, und es
hörte desto verführbarer darauf, als die sozialistische Propa
ganda vielfach kalt, schulmeisterlich, nur ökonomistisch war.
Zwei Glanzmotive haben vom zwölften bis sechzehnten Jahr
hundert das revolutionäre Bewußtsein erregt: die Motive des
Retters und eben des Dritten, zuletzt gar des Tausendjährigen
Reichs, in das der Retter-Befreier (meist als »Voll<skaiser« ge
dacht) führt.
Sich selber helfen die Armen erst langsam und spät. Der Wunsch
nach einem Führer dürfte der älteste sein. Es ist im Verhältnis
zwisd1en Kind und Vater und im Sud1en des jungen Menschen,
wenn der Vater ein Tropf war. Gruppentiere haben das stärkste
Männchen an der Spitze, J agdvölker, die noch gar keine Arbeits
teilung kennen, wählen einen Häuptling. Das erste Führerbild
im menschlich großartigen Sinn stellt Moses dar; er ist zugleich
ein Führer der Unterdrückten und einer ins gelobte Land. Doch
auch unter ganz anderen Verhältnissen gingen die Blid<e nach
vorn und oben, verschönten oft, was an der Spitze zu sehen war.
Alexander sollte bereits ein Retter sein, der Herr des alle ver
sammelnden Friedens. Vollends Augustus wurde als Friedens
kaiser gefeiert, als der sibyllinisch geweissagte Widerhersteller
des goldenen Zeitalters. Bekannt ist die Stelle Vergils, in der
4· Ekloge, über den Wunderknaben, der in Kürze erscheint, der
nach all der staatlich-sozialen Wirrnis das Glück der Urzeit her
aufführen wird. Die Aeneis spielte Augustus diese Retterrolle
zu; später wurde sie auf Trajan, Antonin und andere >> gute
Der künftige Befreier
Methodius war kurz vor Friedrich eben der Abt Joachim von
Fiore: seineSchule sowie andere verbreitete Prophetien sahen in
dem Kaiser das Zeichen der sozial-chiliastischen Wende. Der er
regten Phantasie durfte der Kaiser nicht tot bleiben, er war zwar
nicht in den Himmel gefahren, durchaus nicht, doch auch eben
sowenig in die Hölle, überhaupt keinen (transzendenten ) Ort,
von wo es keine Rückkehr gibt. Sondern die Legende brachte
den Kaiser in einen Berg, zuerst in den Ätna (vielleicht spukten
hier sizilianische Erinnerungen an die Empedoklessage nach),
dann, auf dem Zug gegen Norden, in den Kyffhäuser. Alte,
chthonische Bilder verbanden sich diesem uneigentlichen Grab:
auf dem Kyffhäuser war in vorchristlicher Zeit ein Bergkult zu
Hause, und der Berggott war ein Unterirdischer, wohnte in den
Höhlen des Ionern unter geheimnisvollen Schätzen. Friedrich II.
setzte sich an seine Stelle und viel später erst tauschte der Ketzer
kaiser seinen Platz mit Friedrich I. Barbarossa, dem Frommen,
Unbedeutenden, dem romantischen Inbegriff banaler Reichs
herrlidlkeit im Stil Wilhelms ))des Großen�� (als welcher dort
jetzt sein Denkmal hat). Indes selbst die pervertierte Sage hat
ihren ursprünglichen sozial-chiliastischen Zug darin erhalten,
daß sich der Kaiser allemal nur einfältigen Leuten aus dem Volk
zeigt. Ebenso ist ihr das alte Motiv verbunden, daß der Messias
kaiser, wenn er die Mächte der sozialen und Glaubensnot ge
demütigt hat, sich selbst demütigt, abdankt, nach Golgatha zieht
und dort Krone, Zepter und Schwert niederlegt ( vgl. Kampers,
Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage, r 895, S. r 04 ).
Ahnlieh wie Friedrich II. träumt auch Kaiser Karl, im Unters
berg; ja wo immer das Werk eines geglaubten Retters nicht
getan oder nicht zu Ende getan erscheint, hat der Volksglaube
aus dem toten Retter einen bloß entschwundenen gemacht,
einen Siebenschläfer, der auf seinen Tag wartet. Das Enttäu
schungsmotiv selber ist auch heute so wenig erloschen, daß !<einer
Vitalität, die in die Phantasie griff, ihr Tod gern geglaubt wird.
Der Inhalt des alten Sibyllenspruchs: ))Vivit, non vivitu belebt
sich in der Folklore immer wieder frisch. Noch den Tod so mo
derner Figuren wie Napoleon, auch Ludwig II. hat eine unge
sättigte Fama nid1t wahr haben wollen: Napoleon lebte der
Fama in der Maske eines Türkengenerals um 1822. fort, der
Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches
Das Glüd{ sahen die Mensdlen meist dort, wo sie nicht sind.
Essen, Wohnen, Lieben sind die einfachsten Orte, das hat sich
wenig gewandelt. Seit Klassen aufkamen, zweierlei Arten von
Das diesseitige E
vangelium 13 3
seinem Namen, aus seinem Werk vor allem hat sie in die Zu
kunft gewirkt.
Dreimal also glüht das Licht auf, und es brennt immer ge
nauer. Hierbei ist die Lehre Joachims vom dritten Status, dem
dritten Reiche diese: Das erste Zeitalter war das der Knecht
schaft des Gesetzes, das des Vaters und seines Alten Testaments,
der Laien und Verheirateten. Das zweite Zeitalter ist ein Mittel
zustand zwischen Fleisch und Geist, es wird eröffnet durch den
Sohn und sein N eues Testament, ist beherrsd1t von der Kirche
und ihren Klerikern. Das dritte Zeitalter aber, das dem Ende
der Welt vorhergeht, steht jetzt in der Geburt; es wird von
Mönchen bewohnt, das ist, von den viri spirituales, von der
,,Freiheit des Geistes«. Der Buchstabe des Evangeliums Christi
mit seiner Kirme und seinen Klerikern wird vergehen, die ur
christliche Gemeinde fährt vom Himmel auf die Erde, kommu
nistische Brudersd1aft und Friedensreich beginnen. Das erste
Zeitalter war das der »Furcht und Erzählung«, das zweite das
der ))Forschung und Weisheit«, das dritte aber wird das der
nLiebe und Erleumtung« sein, des totalen Pfingstfestes, der
))Ausgießung des heiligen Geistes«. Das erste Zeitalter lag in
der Nacht der Sterne, das zweite in der Morgenröte, das dritte
wird der volle Tag sein, mit dem heiligen Geist nicht von Gott
vater her, sondern vom Menschensohn (Joarnim, Concordia 5,
Cap. 7 7 ). So fremdartig dem heutigen Revolutionär diese Kate
gorien klingen mögen (noch befremdlirner als die erinnerten
Kaisergeburtstagsfeiern des vorigen Abschnitts ), so wenig darf
man sirn dadurch abschredcen lassen, den Glücks- und Freiheits
hunger, die Freiheitsbilder entrechteter Mensrnen in diesenTräu
men zu bemerken und auszuzeirnnen. Der Sozialismus hat eine
phantastisrn-großartige Tradition; fehlt ihm auf so frühen Stu
fen, wie selbstverständlich, jede Art von ökonomischemBlick, so
doch nicht einer seiner anderen Grundzüge: die Humanität und
den ihr verbundenenAdventsblick. Joachitisch ist der Satz: nMan
schmückt die Altäre, und der Arme wandelt in bitterem Hun
ger«; joachitisch die Ablehnung der ,,Furcht des Herrn«. Selbst
das kommende nZeitalter der Mönche« ist nicht so sehr als ein
asketisches gedacht denn als ein eigentumsloses und brüder
liches, als allgemeiner Kloster- und Konsumtionskommunismus.
IJ6 Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches
Alles fließt, aber der Fluß kommt jedesmal von einer Quelle her.
Er nimmt von den Gegenden, die er durchlaufen hat, Stoffe mit,
diese färben sein Wasser noch lange. Ebenso sind jener neuen
Form Reste einer älteren, zwischen Heute und Gestern ist kein
unbedingter Schnitt. Es gibt keine völlig neue Arbeit, am we
nigsten als revolutionäre; die alte wird nur klarer weitergeführt,
zum Gelingen gebracht. Die älteren Wege und Formen werden
nicht ungestraft vernachlässigt, wie sich gezeigt hat. Besonders
Träume, auch die allerwachsten, haben eine Vorgeschichte, und
sie tragen sie mit sich. Bei zurückgebliebenen Schidlten sind diese
Reste besonders stark und oft vermufft, doch auch die revolu
tionäre Klasse ehrt ihre Vorläufer und hört sie noch. Die alten
Formen helfen zum Teil, wenn richtig eingesetzt, am Neuen mit.
Daß sie äußerst wirksam sind, hat der Feind besser als die
Freunde bemerkt. Es ist fällig, einiges Alte wieder zum Eigenen
zu schlagen, das Gebot der Stunde drängt dazu. Der weiche
Hochmut, womit ein Kautsky über »Helden« oder »Pröbchen
apokalyptischer Mystik« lächelte und nichts als lächelte, ist
theoretisch-praktisdl zu Ende. Selbst ein so absurd und un
demokratiscl1 ersd1einendes Gebilde wie der alte Führertraum
(um den »revolutionären« Kaisertraum außer acht zu lassen)
stellt sich in der Praxis - mutatis mutandis - nidlt als so dumm
dar. Die revolutionäre Klasse und ganz sicher die revolutionär
noch Unentsmiedenen wünsdlen ein Gesimt an der Spitze, das
sie hinreißt. Einen Steuermann, dem sie vertrauen und dessen
Kurs sie vertrauen; die Arbeit auf dem Sdllff geht dann leidlter.
Die Fahrt ist sicherer, wenn nicht jeder jeden Augenblick die
Richtung nachzuprüfen für nötig befindet. Das alles hat die Pra
xis erwiesen, bei bestem demokratisdlem Gewissen; auf dem
Marsd:l muß eine Vorhut und eine Spitze sein. Solange der
Marsch noch theoretisd1 ist, tritt sie nid1t so in Ersdleinung,
doch in seiner Verwirklidlung sogleidl. Das Kommunistische
Manifest enthält noch kein \Vort von Führern, oder nur zwi
schen den Zeilen, gleid1sam im mitgegebenen Dasein seiner Ver
fasser, derer, die es erlassen haben. Doch sobald das Manifest
realisiert zu werden begann, leuchtete neben den stiftenden
Konkret-utopische Praxis 1 47
Vätern des Marxismus der Name Lenin auf, und die Erscheinung
Dirnitrofis in Leipzig hat der Revolution mehr geholfen als tau
send Breittreter oder Referenten in Versammlungen. Derart
menschliche Dinge wie die Revolution lassen sich ohne sichtbare
Menschen, ohne das Bild wirklicher Personen (nicht Götzen)
kaum durchführen. In der klassenlosen Gesellschaft mag und
wird das überflüssig, ja völlig anders sein.
Die weiteren Träume der alten Zeit, die noch nebligen, sind
nid1t auch die simersten. Hat sich dom unter ihrem Namen ge
rade das völlige Gegenteil eingestellt, das Gegenteil nicht des
Nebels, sondern des Traums. Muß aber deshalb der Keim mit
der Hülle preisgegeben werden, oder ist es nicht so, daß auch
der Traumkeim, recht herausgearbeitet, das ungeheure Falsifikat
widerlegt, das die Nazis mittels der Nebelhülle hergestellt ha
ben? Die Frage ist praktisch und sie kommt gerade im Zeicllen
der beginnenden deutschen Volksfront zurecht, spezieller: des
mristlichen Antifaschismus innerhalb der Volksfront. Kurz vor
Hitler hat in Bedin eine öffentliche Diskussion stattgefunden,
zwischen dem Halb- und Edelnazi Hielscher, dem Jesuitenpater
Przywara, dem protestantischen Theologen Dehn, über das
Thema nReim und Kreuz«. Da stellte Dehn ( der damals bereits
von den Nazis verfolgte) aus seinen christlichen Prämissen fest,
daß das imperialistische Nazireich ndie Ideen des Friedens und
der Gerechtigkeit nirgends berüd<sichtige«; ja er spielte gegen
die Ode dieses Reichsbegriffs die kommunistische Lehre aus,
sofern in dieser doch immerhin heilsgeschichtliche Erwartun
gen nad1klängen. Das Nazireich aber sei bar jedes menschlichen
Inhalts, es komme aus dem Dunkel bloßer Triebe, aus der Ge
rissenheit bloßer Kapitalsinteressen, die dieser Triebe sich be
dienen, und gehe ins Dunkel wieder zurüd<. Es lasse sich nicht
substanzieren, zum Unterschied von der kommunistischen
Reichsidee, von der ,,Idee« der klassenlosen Gesellschaft, bei der
es sim nicht zuletzt um eine aktuelle Umwandlung altduist
licher und theologisch-ketzerisdler Fixierungen handle. Soweit
Dehn; soweit die Neutralisierung, ja möglidle Sympathie dieser
Männer für den Kommunismus. Wie immer dessen naltdlrist
licheBestimmung« beridltigt und zured1tgewiesen werden mag:
hier ist der wimtigste Berührungspunkt zwisdlen christlidlern
Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches
gemacht hat; welches über Hunger und Skorbut hinaus gegen die
Verhältnisse protestieren ließ, worin der Mensch, nach Marxens
Worten, ein gedrücktes, verächtliches, verschollenes Wesen ge
worden ist. Die deutsche Mystik des Mittelalters mit ihrer
Laienpredigt, ihrem praktischen Christentum, ihrem Drang
nach der »Offenbarung der Freiheit der Kinder Gottes« stammt
aus frührevolutionären Bewegungen des Bürgertums. Und der
vorhandene Nebel war keiner des gesamten Inhalts; dieser ent
hielt vielmehr zielsetzendes Licht, dasselbe, das Münzer ganz
reziprok, mit wechselseitigem Funktionszusammenklang seines
Aufruhrs und seines Christentums im nHodwerursachten Auf
ruhr« sagen ließ: ))So anders die Christenheit soll recht auf
gerichtet werden, so muß man die wuchersüd1tigen Bösewichter
wegtun.« Derart ist der Nebel durchaus nicht ein und alles in
den alten Träumen (seien es die politisch-chiliastischen, seien es
die nur scheinbar individuellen der mystischen Knechtzerbre
chung, Sohnwerdung, der Ladung mit immanenter Herrlich
keit). So paradox es daher klingen mag: Ein großer Teil des
revolutionären Stolzes kam erst durch die deutsche Mystik in
die Welt, und christlich-humane Utopie spielte ihr vor.
Immer wieder freilich muß zwischen Nebel und Licht unter
schieden werden, und das Licht berichtigt sid1 auch. Das gilt be
sonders für die weitere Folge der utopischen Träume, für die
Verengerung, welche sie in den sogenannten Staatsmärcllen der
Neuzeit gefunden haben. Sie reichen von Thomas Morus bis
Weitling, um nach Marx ernsthaft zu erlöschen; Wissenschaft
löste sie ab. Über die Hälfte ist diese konstruktive Form der
Utopie subjektives Besserwissen gewesen, undialektisclles Po
stulat, mythologische Übertragung eines unbewußten Klassen
interesses in die »Endzeit« oder in ein »Fernland<< überhaupt.
Aber der Antrieb wie der Hintergrund dieser Gebilde ist hier
gleicllfalls ein anderes als die Hülle, in die sie sieb kleiden. So
sicher daher die Mängel des abstrakten Wesens feststehen, so
ökonomisch der Sozialismus von sold1er Art Utopie zur Wissen
sdlaft fortgeschritten ist, so wenig darf doch auch hier der Kern
mit der Hülle verwechselt werden, so wenig wird er mit ihr ver
nichtet. Lenin hat sogar im Begriff der Ideologie einen guten
Kern herausgearbeitet, einen Kern ohne Nebel und Betrug, und
Konkret-utopische Praxis 151
er hat ihn pointiert, als e r den Sozialismus die Ideologie der Ar
beiterklasse nannte. Ebenso fällig ist die Rettung des guten
Kerns der Utopie (als eines Begriffs, der höchstens im Nebel,
niemals im Betrug lag); die konkret-dialektische, die in der wirk
lid'len Tendenz e1·faßte und lebendige Utopie des Marxismus
ist diese Rettung. Die undialektisch herangebrachte Träumerei
war der Nebel der Sache, und im Nebel lagen - obwohl mit
Unterschieden - alle die Wunschzeiten und Wunschräume der
alten Utopie. Auch enthielten die Phantasmagorien, welche die
Sehnsucht nach einer besseren Welt in Zukunftszeiten oder
ferne Inseln oder unzugängliche Täler projizierte, überwiegend
nur die jeweiligen Klasseninhalte der jeweils unterdrückten
Klasse (wenn auch transparent für klassenlose Ahnungen über
haupt). Auch standen die meisten alten Utopien in der ihnen
gegebenen 'Wirklichkeit still, sie schlugen aus ihr gleichsam nur
das Phlegma nieder und destillierten den Spiritus heraus, sie
kannten keinen Prozeß und keine Totalität der Erneuerung. Die
konkrete Utopie des Marxismus dagegen läuft mit dem Prozeß
der Produktivkräfte zu klassenloser Gesellschaft schlechthin in
der Tendenz. So stößt der Marxismus, bei sorgfältigster Ver
mittlung mit der materiellen Tendenz, ins noch nicht Gekom
mene, noch nicht Verwirklichte vor. Selbst das Glück, das
marxistisch seine Laufbahn hat, ist nicht das einer bereits vor
handenen und nur reichlicher zugeteilten Art: wie die »Selig
keit« in den geistlichen Utopien, wie die Langeweile eines dau
ernden Sonntags in den bürgerlichen. Die marxistische Hoffnung
dagegen ist auch hier so produktiv, daß sie sich auf bloße my
thologische Verlegungen eines bereits Gegebenen, obzwar re
lativ besser Gegebenen nicht einläßt. Der Marxismus lehrt, daß
alles bisherige Glück in der bloßen Vorgeschichte, bestenfalls in
der Andeutung des Rechten steht; er hält sein Diesseits, sein
leibhaftiges Diesseits als ebenso offenes wie noch unermessenes.
Gerade das aber ist echte Utopie, und nur das holt aus den
Staatsmärchen, erst recht aus den Reichsträumen bleibende Vel
leität, humane Phantasie heraus. Steht im engsten Zusammen
hang mit allem, was in der alten Utopie an Echtheit enthalten
war, an nachwirkend befeuerndem Traum. Steht jenseits des sub
jektiven Postulats, jenseits der mythologischen Fernverlegung
Nicht Hades, sondern Himmel auf Erden
E. N I CHT HADES,
SONDERN HIMMEL AUF ERDEN
Sdlon morgen ist jedes Jetzt anders da. Möglich sogar, daß das
Elend etwas fällt. Dann hören viele kleine Leute auf, mit den
Wölfen zu heulen. Sie kehren in jene Mitte zurück, die ihnen
von neuem eine sein kann. Das bloße fladle Gestern, das sie sind
und gemeint haben, nimmt wieder auf.
Aber diese Ruhe, falls sie kommt, dauert kaum lange. Die Er
holung dürfte kurz, sicher nicht mehr so fraglos sein wie die
früheren. Ein Stachel bleibt zurück, sowohl der Unsid:lerheit
wie der gewesenen Hetze und Verwilderung. Was sich jetzt
schon deutlich ändert, ist auch weniger das Elend als das Ver
trauen auf Hitler. Sein riesiger Kredit bröckelt langsam ab,
Gläubiger und Gläubige murren, der Zahltag wurde zu oft
versäumt. Vielleicht werden ))enttäusdlte« SA-Proleten, auch
jüngere Teile eines proletarisierten und utopisierten Kleinbür
gertums kommunistisch reif. Aber damit freilich sind die un
gleichzeitigen Inhalte dieser Schidlt, wie sie hier angedeutet
wurden, noch nidlt selber unwirksam geworden.
Gegen diese wirkt das rote Mittel nur halb, meist nodl gar
Nicht Hades, sondern Himmel auf Erden 1 53
Der Staub des Alten legt sich anders nicht. Er wird immerwieder
aufgeblasen, wo das Neue nidlt den ganzen Menschen hat. Es
geht darum nicht an, mit oft redlt billigem Verstand dort nur
ironisch zu sprechen, wo sid1 der teuerste immerhin zu wundern
hätte. Es geht nicht an, dicke Bücher über den Nationalsozialis
i die Frage, was das
mus zu sd1reiben, und nach der Lektüre st
sei, das so auf viele Millionen Menschen wirke, noch dunkler als
zuvor. Das Problem wird desto größer, j e einfacher dem wasser
hellen Autor die wasserklare Lösung gelungen ist; nämlich für
seine vulgärmarxistischen Bedürfnisse, die ihm genauso alles
vereinfachen wie den Nationalsozialisten ihre dumme Begeiste
rung. Auch eine Kritik, die in dem »Sicheingliedern in die bäu
rische angestammte Blutverwandtschaft«, in der »religiös-fana
tischen Bindung an den Boden« ausschließlim ))öde Phrasen«
merkt, kreist gefährlime Tiefgänge älterer Ideologie abstrakt
aus, statt sie dialektism zu analysieren und praktisch zu fassen.
Die schöpferisd1e Form des Kommunismus ist statt dessen, ge
rade sold1en Ungleichheiten gegenüber, Weisheit, jene dialek
tische Weisheit, welche Rußland in vielem an den Tag legt.
Welche nicht ohne Grund solch genaue Fragen größerer Dialek
tik agiert wie diese: kann das muffig gewordene Haus abgebaut
werden, um sim in einzelnen Stücken, etwa dem der Mutter,
sozial neu verwenden zu lassen? Oder kann die stockig gewor
dene Bindung an den Boden aus einem Element des Familien
Egoismus in Solidarität umgesetzt werden und dadurch zu einem
neuen Halt der Dorfkommune? Um Gehalte durch die große
Krise hindurchzuführen, der die Verhältnisse sie unterworfen
haben, müssen ihre bisherigen Träger, Verwendungen und
Nicht Hades, sondern Himmel auf Erden
sie die rote Fahne, ersten Mai, zuletzt sogar Hammer und Sichel
gestohlen, zum Zweck der Fälschung gestohlen und pervertiert
haben, besonders auch die weniger manifesten Symbole der
Revolution sich tauglich zu machen gewußt. Nicht als ob Philo
sophie am Soziaismus
l etwas ))vermißte« oder mit Inhalten, die
nicht auf dem Boden der geschichtlich entscheidenden Klasse
gewachsen sind, ihn zu ))verbesserncc wünschte; sozusagen als
Marburgerei des Irrationalen. Wohl aber ist dieses die von allen
Seiten wiederkehrende Grundfrage: ob die weniger manifesten
Symbole und Inhalte der Revolution, womit der Nazi unter
Kleinbürgern krebsen geht, nicht nur deshalb so leicht zum Be
trug dienen konnten, weil die Propaganda sie noch zu wenig in
die Auslage gestellt hat, weil die wohlbelichteten Hintergründe
des Marxismus noch zu wenig entwickelt und abgezogen worden
sind. So wird es ein konkretes Amt, das vermittelte Transzen
dieren (aber: Transzendieren) im Marxismus urbi et orbi auch
zu zeigen; es wird Pflicht, sein Ultraviolett, die im dialektischen
Materialismus vermittelte Zukunfts-))Transzendenzcc, welche der
Marxismus implizite enthält, zum Zweck der Besetzung und
Rationalisierung der irrationalen Bewegungen und Gehalte auch
publik, explizit zu machen. Denn die marxistische Welt, worin
konkret gedacht und gehandelt werden kann, ist am wenigsten
mechanistisch, im Sinn des bürgerlichen Bornements, am wenig
sten tatsachen- und gesetzeshaft im Sinn des mechanischen Ma
terialismus. Sondern sie ist eine Bewegung, worin menschliche
Arbeit eingezahlt werden kann, ein Prozeß helfender Wider
sprüche sodann und zu einem dämmernden, erzmenschlichen
Ziel: sie ist arbeitend, dialektisch, hoffend, erbend schlechthin.
Nichts zu vergessen, alles zu verwandeln, beide Kräfte sind
dieses Orts fällig. Charon freilich setzt nicht ganze Figuren, son
dern nur Schatten über den Fluß; aber es ist Charon. Der Sozia
lismus dagegen will nicht den Hades, sondern den Himmel auf
Erden; daher setzt er die gesamte Substanz der Geschichte über,
nach ihrem so berichtigten wie verklärten Leib. Vom dialekti
schen Materialismus wird aller bürgerlich-feudale Anteil an den
Ideologien entlarvt, doch der unabgegoltene und nkulturelle«
Rest, als Substanz wider Willen, beerbt.
rsB Nicht Hades, sondern Himmel auf Erden
Sieht man zurück, so gingen drei Züge im Jetzt quer. Sie tragen
frühe, wenigstens frühere Fahnen und Zeichen, solche, die wi
dersprechen. Die 'Jugend sehnt sich nach Zucht und Führer, die
Bauernschaft setzt sich in Boden und Heimat stärker fest als je,
die verelendete Stadtmitte will sich den Klassenkampf ersparen
durch den Ständestaat, setzt Deutsd1land - ein bluthaftes, auf
genordetes, nicht das jetzige - als Evangeium
l hinein. Diese drei
unzufriedenen Gruppen tragen alle ungleichzeitigen Inhalte
von heute; und sie tragen sie nach rechts. Dem Kapital freilich
ist letzthin äußerlich, ob Parlamente oder Generale >>regieren<<,
ob die Republik oder das Dritte Reich die Kulisse der wahren
Macht abgeben. Kein Zweifel hier, daß gleichzeitig-materiell
gesehen im National-nSozialismus « nichts vorliegt als nanti
kapitalistische<< Demagogie völliger Verlogenheit und Wesen
losigkeit; der einzige gleichzeitige Inhalt des Hitlertums ist
Herrschaft des Großkapitals durch verschärften Druck und
romantische Illusionen. Aber die Verführbarkeit eben durch
diese Illusionen, das Material dieser Verführbarkeit liegt noch in
anderer Gegend; hier sind Klasseninhalte ungleichzeitiger Ver
elendung im bloßen Dienst und überwiegenden Mißbrauch
durchs Großkapital. Nur zum Teil ist daher rimtig, wenn
Lukacs schreibt: "Der Faseismus als Sammelideologie der Bour
geoisie der Nachkriegszeit beerbt alle Tendenzen der imperiali
stischen Epoche, soweit in ihnen dekadent-parasitische Züge
zum Ausdrud< kommen; jedoch alles Scheinrevolutionäre und
Scheinoppositionelle gehört auch dazu. Freilich ist dies Beerben
zugleich ein Umgestalten, ein Umbauen: was an früheren impe
rialistischen Ideologien nur noch schwankend oder verworren
war, verwandelt sich ins offen Reaktionäre. Aber wer dem
Teufel des imperialistischen Parasitismus den kleinen Finger gibt
- und das tut jeder, der auf die pseudokritische, abstral<t-verzer
rende, mythisierende Wesensart der imperialistischen Schein
oppositionen eingeht-, dem nimmt er die ganze Hand<< ( >Größe
und Verfall des Expressionismus<, 1934 [ ! ] ) Diese Abkehr,
.
geht weiter, denn es gibt - wie nicht nur der Faseismus zeigt.
viele Ruinen Roms, die keine sind oder bleiben. Ist doch die
Geometrie des Ungleichzeitigen so seltsam, daß noch das Dritte
Reich der Nationalsozialisten ebensowohl kleiner wie größer ist
als es selbst; an beiden und nur an beidem, an der Analyse des
Betrugs wie an der Herausführung des Substanzscheins, wird es
auf Dauer, ohne neue Masken, ohne Pseudomorphosen zu
grunde gehen. Die Gesd1ichte ist nicht bloß Spuk und Keh
richthaufen, auch nicht bloß Spreu, und alles Korn ist auf der
jeweils letzten Stufe, letzten Tenne bereits heraus: sondern ge
rade daher, weil so viel Vergangenheit noch nicht zu Ende ge
worden ist, poltert auch diese durch die Morgendämmerungen
der Neuheit. Die deutsche Walpurgisnacht verschwindet erst
und kommt in keinem neuen Jahr, wenn der erste Mai sie ganz
hell macht; auch bilden sich nMuseen der religiösen Vergangen
heit« erst wirklich, wenn die echten Reliquien aus ihnen entfernt
sind. Wenn sie dem nHimmel auf Erden« dienen müssen und
den Willen zu ihm wachhalten. In einem anderen Raum als dem
des Opiumdampfs und nicht in keiner Religion, sondern in einer
Religion ohne Lüge.
E R I N N E R U N G : HITLERS GEWALT
Erst ging man kalt daran vorüber. Zuckte die Ad1sel über das
hämische Pack, das vorkroch. Über die roten Plakate mit den
faselnden Sätzen, aber dem Schlagring dahinter. Was früh mor
gens grob ans Bett trat, den Paß zu fordern, schlug sich hier als
Partei an. Juden ist der Zutritt zum Saal verboten.
All das konnte wieder zurück sinken. Es war noch zu fremd
und zu wenig tief eingedrungen, das alte München lebte noch.
Hier war die Erbitterung gegen den Krieg am frühsten gereift,
hier war ins Stadtbild seit langem schöne Fremde hineingetragen
und blühte mit, wurde heimisch. Die finstere Erinnerung an
1 9 1 9, an Eisners Tod und den Einmarsch der Weißen konnte
Hitlees Gewalt 161
und des Befehls, die Tugend der Entscheidung statt der Feig
heiten der Bourgeoisie, dieser ewig diskutierenden Klasse. Es ist
vor allem der Typus Hitler und derer, die nach ihm sich bilden,
charakterologisch und formal stark revolutionär. Desto erkenn
barer freilich auch sind die Ziele und Inhalte dieser Schar, trotz
aller Verworrenheit, nur der völlig gegenrevolutionäre Willens
ausdruck versinkender Schichten und ihrer Jugend. Schon die
zwanzigtausend Dollar der Nürnberger Industrie zeigen an,
wie hier die Bourgeoisie sich gar nicht bedroht fühlt, wie sie der
neuen, scheinbar kapitalfeindlichen Staatsmystik ohne Schreck
gegenüberste!1t. Engels nannte den Antisemitismus den Sozia
lismus der dummen Kerls, wobei das nichtjüdische Finanz
kapital und vor allem das Grundkapital vortrefflich gedeihen.
Der Sozialismus des Kavaliers, der patriarchalisch-reaktionäre
Antikapitalismus, ist ein noch viel größeres Mißverständnis
oder vielmehr ein offener Betrug, um mittels des bloßen Gegen
satzes zum Finanzkapital den sehr viel größeren Gegensatz zum
Soziaismus
l zu verdecken. Völkisch statt international, roman
tisch-reaktionäre Staatsmystik statt des sozialistischen Willens
zum Absterben des Staates, Autoritätsglaube statt der in allem
echten Sozialismus latenten letzthinigen Anarchie - dieses sind
unvereinbare Gegensätze des positiven Wollens, stärker als die
scheinbaren Verwandtschaften der Form und der gemeinsamen
Verneinung des Gegenwartsstaats. Othmar Spann, der Öster
reichische Soziologe, ein kleiner Kopist der Österreichischen
Staatstheologen des Vormärz, suchte dieser Art dem National
sozialismus seinen Begriff zu schaffen; und was herauskam, war
vom Sozialismus so verschieden wie die romantische Staatsver
götterung von dem Satz des jungen Engels: »Das Wesen des
Staates wie der Religion ist die Angst der Menschheit vor sich
selber.« Der Untertan rast umher, den der jahrhundertelange
Feudaldruck hergestellt, zurückgelassen hat, und sehnt sid1 als
formales Raubtier in den strengen Stall. Wühlt messianisd1e
Träume auf und pervertiert sie mit feudalen, radikalisiert die
stumpfe Mitte, um sie zu asketischen Rebellen zu machen, und
bezieht die Ideologie der ))Rebellion« von Metternichs Gnaden,
vom Urheber der Karlsbader Beschlüsse und Wachter der Hei
ligen Allianz.
Hitlees Gewalt
ROMANTISCHE HAKENBILDUNG
Was schal wird, geht auch leicht über. Wir meinen nicht nur die
Menschen, deren die Nazis ohnedies unsicher sind. Mißtrauische
Bauern, gekaperte Arbeiter, kurz, fascistische Fremdkörper so
wieso. Diese Gruppen sind bereits unmittelbar anfällig, nur
nicht ganz so erwacht, wie sie das rufen. Werden sie von selbst
nicht rot, so bleiben sie, hungernden Magens, auch nicht braun.
Aber bereits, was an diesen träumt, ist zweiseitig. Zeigt
Sprünge, Stellen des Absprungs im »Geist« der Nazis selbst.
Einige dieser Widersprüche erschienen bereits: als solche des
»Dritten Reichs<< im Bürgertum, als solche echter »Ungleich
zeitigkeit« schlechthin. Die folgenden Partien nun möchten in
mehreren anders üblichen Prämien des romantischen Gemüts,
vom Märchen bis zur Kolportage, ja, vom mancherlei ))Okkul
tismus« bis zum Lebensmythos, gewisse Haken zeigen; Haken
ungereinigter Widersprüche zur bestehenden Welt, nicht nur
der Bindung an diese. Es gibt hier Phantasieweisen der »Pueri
len« wie des ))Mythizistisd1en« , welche dem Nationalsozialis
mus sich scheinbar leicht verbinden und dem Muff dennoch
suspekt, der häuslichen Wildheit zweideutig sind.
Denn die Flamme, welche in diesem Herd brennt, sieht sich
ebenso, mit langen Hälsen, nadl allen Seiten um. Auch als man
noch nicht entdeckt hatte, daß der Jude immer nomadenhart
sei und der Deutsche immer eine Wurzel, zogen Gesellen in die
Ferne, um später erst daheim zu sein. Selbst der Wandervogel,
ein heute so billiges Wesen, war einmal beste Jugend und nicht
so eingesessen wie die Alten; er zog den alten Volksliedern nach,
die er sang, und war ein Teil ihrer Unruhe, bevor er Schned{en
frisur geworden ist. Bringen singende Erwerbslose ( die man
zwingt, romantisch zu sein) heute den wurzellosen Schlager
166 Die bunte Flucht
D I E BUNTE FLUCHT
Schon atmend gehen wir ein tmd aus. Im ersten bleibt man hier,
im anderen ist bereits ein Gang. Man zieht, schwimmend, die
Luft ein, während man ruht, stößt sie von sich, sobald man vor
wärtsschießt. All das läuft in beiden Zügen hin und her.
Die bunte Flucht
zerrissener Rock in Sicherheit wiegt, ist ihnen gar nicht der Arme
vor der Tür. Er ist innerhalb ihrer, als der Erwachsene in einer
oder mehreren Personen, wogegen das Kind sich wehrt, auch wo
es ihn liebt. Nun ••gehört11 das Kind den Eltern nidlt mehr, ist
unter seinesgleid1en und ihrem Traum. Der hat viele Gesichter,
gute und böse, das stockende eben ist unter den guten nicht.
Der Däumling
Was ein Kind hört, lebt an ihm selbst. Sein Saugen wird anders,
wenn es am Buch gesmieht. Trotz wird frei und nur dasjenige
gespürt oder geliebt, was ihn unterwegs zeigt. Je bunter er her
vorkommt und alles gutmacht, desto mehr sagt das Kind zu
allem Ja. Immer zieht die Sucht vor, um aud1 sim zu retten.
Die Hörer wandern mit, finden das Ihre träumend. Lesen
Märmen, voll kleiner und bunter Menschen wie sie. Oft waren
diese aus gutem Haus gegangen, öfter war alles so arm und
elend, daß man sich dareinfand, wenn der Rückweg abhanden
kam. Hänsel nimmt Gretel, Gretel nimmt Hänsel im Märchen,
nimt nur im Märmen an der Hand. Finden sie freilim ein neues
Haus, so wohnt die Hexe darin, sperrt wieder ein und brennt.
Andere Hexen befehlen dem Mädmen, das bei ihnen unter
kommt, zu spinnen, Garn in einer Namt zu spinnen, das in
Jahren nimt zu bewältigen wäre. Die Angst ohne Ausweg ist in
diesem Bild märdlenhaft enthalten und gemeint; so wirkt aum
in der Fremde das Haus als Gefängnis, ja, als völlig ausgebro
chene Gewalt des Banns. Aber sonderbar geht eben im Mär
chen die Kraft des Auswegs wieder an, schwach und listig, stark
durch List, die versteht, das Böse zu betrügen, und hat das Recht
dazu. Hänsmen steckt der Hexe ein Hölzd1en durchs Gitter, so
daß sie glaubt, es sei sein dürrer Finger. Oder der arme Soldat
bohrt ein Loch in den Stiefel, den der Teufel mit Gold füllen
sollte, und stellt ihn über eine Grube: also muß der Böse bis zum
Hahnenschrei Gold sdlütten, ohne daß der Stiefel voll wird;
Die Silberbüchse VVinnetous
aber der Soldat sackt ein, und der Teufel fährt ab ohne dessen
Seele. Derart sind diese Märchen der Aufstand des kleinen Men
schen gegen die mythischen Mächte, sie sind die Vernunft Däum
lings gegen den Riesen. Erstes schweifendes Wesen schlägt hier
Raum für ein anderes Leben als das, wohin man hineingeboren
oder, gebannt, hineingeraten war. Statt Geschid< beginnt eine
Geschichte, Aschenbrödel wird Prinzessin, das tapfere Schnei
derlein holt die Königstod1ter. Wo das geschieht, steht dahin,
es sd1webt ebenso wie die Zeit, worin der Triumph gesd1ehen
wird. Wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch; da
kein Kind den Tod versteht (Totsein heißt ihnen Verschwun
densein, Abgereistsein), so leben die Glücklichen des Märchens
immerfort, nachdem sie glücklich geworden sind. Es war einmal:
das ist zwar ganz in der Nähe, aber in der der Kinder, also ist es
ebenso berauschend wie landfremd.
Auch was Knaben gern lesen, gerät ihnen gut. Faules, Gemadl
tes, verlogene Gefühle haben da keinen Platz. Erscheinen sie in
kleineren Mengen, so werden sie nidlt wahrgenommen. Er
scheinen sie in größeren, so liest die Klasse das Buch nicht fort.
Obwohl Karl May nie tat, was er von sich erzählt, nie dort war,
wo er jeden Straucll zu kennen vorgibt, findet ihn noch jeder
Junge rid1tig. Also muß an der Lüge etwas dran sein, nämlidl
der echte Wunsch nach Ferne, den sie erfüllt.
Nidlt immer gingen die grünen Bände so ungehindert um.
Zwar konnten Autos den edlen Pferden nicllts antun, Rih, dem
\Vind, Hatatitla, dem Blitz. Neben Tanks und Flugzeug steht
der Bärentäter unbewegt, so schwer, daß ihn nur Old Shatter
hand heben kann; der Henrystutzen bleibt ein Wunder, mit
fünfundzwanzig Sdluß, denn er ist ein Traumgewehr . Aber es
läßt sicll nicht versdlweigen: als Träume schlecht im Kurs stan
den, vor dreißig Jahren, wurde Karl May angesmossen. So be
waffnet er war; und die Kanone stand in der »Frankfurter Zei
tung«. Old Shatterhand flog auf, an Stelle seiner märchenhaften
Biographie trat der Polizeiberidlt. Karl May: ein Proletarier
Uber Mä�dlen, Kolportage und Sage
ohne Vorbildung, ein Lügner, der nie bei Indianern und Ara�
bero war, ein Verbrecher, der schon als Vierzehnjähriger mit
den Gesetzen der Feuerwehr in Konflikt kam. Ein entlassener
Zuchthäusler, ein Protestant, der katholische Geschäfte macht,
mit dem Kreuz in der Blutlache. Die Provinzpresse druckte das
nach, die Eltern packte das gebildete Grausen, die Abenteuer
verschwanden vom Weihnad1tstisch, die Welt wurde eng, die
Puritaner der Zeitung hatten den Shakespeare der Jungens be�
siegt. Obwohl das Verdikt längst verjährt ist, laufen seine Kate�
gorien noch in der Welt. Karl May gilt als anri.idlige Sache,
höchstens als UHrnummer ohne literarischen Wert. In den letz
ten Auseinandersetzungen über Schmutz undSchund zeigte sich:
Rudolf Herzog bleibt ex lex, Karl May nicht.
Hier ist vor Jahren Unred1t geschehen, züchtig und unwis
send. Bei Karl May werden Verbrechen oft am Ort wieder gutge
macht, wo sie gesd1ahen. So wird hier in der gleichen Zeitung, an
erhobener Stelle, in veränderter Zeit, festgestellt: Karl May ist
einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der ,
beste schlechthin, wäre er kein armer, verwirrter Prolet gewe�
scn. Der Schuß, den die Wohlgesinnten damals abfeuerten, geht
umgekehrt, auf die Gesellsd1aft selbst. Beispiellos, wie dieser
Zuchthäusler zum Schriftsteller wurde; schon in der Zelle be�
gann er zu sdueiben: »Geographische Predigten« - Abenteuer
und Besserungswille, mit so leichter und frischer Hand. Karl
May ist aus dem Geschlecht von Wilhelm Hau:ff; nur mit mehr
Handlung, er schreibt keine blumigen Träume, sondern Wild�
träume, gleichsam reißende Märchen.
Die Knaben lesen über sein Schlechtes leid1t hinaus, weil die
Spannung hilft. Gerade ist der Held an eirien Baum gebunden,
der Führer der Feinde kommandiert »Feuer! « - und Seiten
schlägt man vor, um zu sehen, ob Karl May überhaupt
noch lebt, dasselbe Ich, das all dies doch erst gesduieben haben
mußte. Das Geschriebene verschwindet, so vorzüglich und rein
ist die Fremde nah. Oder die Spannung im ersten Band, ganz
rein aus dem Traum: Kara ben Nemsi kriecht durch einen Gang,
das geraubte Mädchen aus dem Palast zu befreien. Der Gang
wird zum Kanal, Schwimmen, Waten, faules Wasser, das schon
über die Augen geht, endlich Ausgang in den Hof, Kara ben
Die Silberbüchse Winnetous 171
Nemsi taucht auf - und schlägt mit der Stirn an ein Gitter, das
die Zisterne verschließt. Wie nun der Held das Gitter zertrüm
mert, mit dem Kopf im Wasser und halb erstickt hochkommt,
eine Kugel pfeift um seinen Kopf: - die Handlung ist wie ein
Angsttraum, aus dem man sich nicht herausfindet, oder wie eine
Rettung, die man nicht müde wird, hundertmal zu hören. Echte
Kolportage läßt sich immer wieder lesen, weil man sie vergißt
wie Träume und weil sie dieselbe Spannung hat. Aber auch tech
nisch ist vieles vortrefflich (ohne »aufzuwachen«, ohne aus Kol
portage erwachsene Literatur zu werden ). Das Haus des
Schmieds in den »Schluchten des Balkan«: im Finstern kann man
alles greifen, bis in den Keller hinunter, wo der Schmied und
sein Weib gebunden unter Kohlen liegen. Die Exposition des
»Rio de La Plata« : mit der Straße von Montevideo, dem Ver
folger, dem alten Orgelspieler, den Teesammlern, dem Pakt, in
den Urwald zu ziehen und dem unheimlichen Umschlag, der aus
Freunden Feinde macht, die ganze Exposition umdreht. über
haupt das schluchtig oder gassenhaft Unheimliche, Basarhafte
ist ein Neues, das Karl May in die Indianergeschichte gebracht
hat; oder vielmehr, alle Reize der Indianergeschichte trug er n
i
den Orient, wo nicht bloß das Abenteuet der Fremde, sondern
auch ihr Geheimnis ist. Wmnetou hat nur die freie Prärie für
sich, alles frei und offen, Schleichen nur durch Gras, Wald, selten
die Stadt oder überfälle auf den Expreß, der die Stadt her
bringt; einfache Sprache, in Spät-Cooperschem Papierdeutsch:
»Mitternacht ist längst vorüber und ehe noch der Morgen graut,
müssen die Yumas umzingelt sein.« Jedoch die Orientbücher
sind gesprenkelt mit den Merkmalen des städtisc.,en Fernge
heimnisses, kurz, mit den tieferen Traumelementen der Kolpor
tage, jenseits ihres ersten Merkmals: der Abenteuerlust und
Freizügigkeit. Abenteuerlust und Traumangst hier, Traumglanz
dort sind die Elemente der Kolportage des XIX. Jahrhunderts;
sehr zum Unterschied von den seßhaften Kalendergeschichten,
mit denen sich die Unerwachsenen oder Ausgesperrten vorher
die Zeit vertrieben hatten. Nirgends sind die Spannungen dieser
sehr dynamischen Literaturgattung stärker zu finden als bei
Karl May, selten vollständiger. (Das Erotische ausgenommen,
das der Westmann nicht braucht, der Orientfahrer nicht haben
172 Über Märchen, Kolportage und Sage
tanzt in seinem Glas auf und nieder, und auch er weiß die
Zukunft voraus, an einem unscheinbaren Tisch daneben hängen
kleine Schläuche nieder, die man in die Ohren stecken kann, das
Ganze sieht halb nach Schuhlitze, halb nach Tmtenfi.sch aus, da
dreht sich die Walze, und man hört, unendlich fern, den Aufzug
der Schloßwache in Berlin. Doch immer wieder schreit der
wahre Jakob gewaltig dazwisd1en, auf hohen Brettern nicht
fern von Laucks Waffelbude und dem recht versteckten Kasperl
theater in der Hafenstraße; dem wahren Jakob aber zu Füßen
breiten sich aus, schichten sieb. hoch die Posten Makkohemden
und Unterhosen, die Schnupftücher, Bleistiftbündel, Notiz
bücher, Hosemräger, Wamstuchdecken und Fleckenwasser, es
blitzen die Tombakketten mit Berlocke zur Dreingabe. Alte
dunkle Reime sagt er vor von Kain und Abel, auf der Wachs
tuchdecke aber sind Adam und Eva zu sehen samt dem ganzen
Paradies, und würzige Bilder stehlen sich den Weibern, Bauern,
Schiffern, den berußten Hemshöfern, den Mützenmännern aus
dem Rheintal und der Gräfenau ins Herz. Das alles ist erst Vor
hof oder Pylonenreihe der Budenstadt, ja: der Schiffsstadt, die
vor Anker gefahren ist und exotisches Apriori ausladet (dem
nichts mehr oder noch nid1ts entspricht). Im Innern aber leben
die »Schred{en des Orinoko«, mit Muschelgeheul und Meer
weibchen im Schiffsrumpf, daneben »Seltene Menschen und ihre
Kunst«: Cowboys nicht nur und Einwerfen der Dame mit Mes
sern vom Kopf bis zu den Füßen, auch Hermaphroditen und
ägyptische Goldweiber, lebende Aquarien, letzte Azteken und
Männer, welche sich in ihr Riesengedäd1tnis versenken. Re
gungslos murmelt Madame Lenormant als Puppe hinter Glas,
doch einen Schritt weiter und Schichtls Zaubertheater folgt ihr
nach, der Doktor Faust ist nicht vergessen, das 11Treiben der
alten Brahmanen und Ägypter in ihren Tempeln und Extra
hallen« . Weiß im Mantel steht Doktor Faust ( aud1 Dr. Arehi
rnedes seit manchem Jahr), zaubert Blumen aus Straußeneiern,
bannt Schlangen zurück in die klappernden Truhen, welche
durch die Lüfte fahren. Samiel schwebt als rotes Gesicht durch
den kohlsd1warzen Raum: die Musik gibt soeben das letzte Zei
chen, und Magneta erscheint, die entflohene ndiscll
i e Harems
prinzessin als Königin der Luft. Es ist entführender Zauber
über Märchen, Kolportage und Sage
fürs kleine Volk Sondern sie ist der Wunschtraum nach Welt
gericht für die Bösen, nach Glanz für die Guten; dergestalt, daß
am Ende dieser Bücher stets ein Reid1 der »Gerechtigkeit« her
gestellt ist, und zwar eine der Niedrigen, denen ihr Rächer und
Glück kam. In der Freizügigkeit erst entstanden, ja, sinngemäß
aus ihr erst möglich, dringt so Kolportage seit hundert Jahren
steigend vor; sie hat die seßhaften Kalender, die Schnurren des
bedürfnislosen Volks überrannt; sie ergreift die Urstoffe der alten
Ritter-, Verfolgungs- und Rettungs-Epen, wenn überhaupt, so
nicht romantisch, sondern selbstbezogen und revolutionär. Die
Freiheit ersdteint hier als ihre eigenen Circenses, mit Sdturken,
die sie hindern, mit edlen Rämern, die sie ans Limt bringen.
Kolportage hat Gift, Dolch, Schändung, Brandluft Indiens und
als Stern darin die einzige gerettete weiße Frau, den Engel von
Delhi: doch indem sie so wild und primitiv sidt kontrastiert, ge
sdlieht sie als bewaffnetes Märchen, als höchst aktivierte »Un
terhaltung« an mythischen Mächten und vor allem als deren
Sturz. -
So verschieden auch hier der Zweck, wozu die rausdtenden
Stoffe brauchbar sind. Das gut entführte Mädchen freilid1 ist im
Leben selten, die freie Bahn dem Glücklichen lenkt ihre Leser
nur ab. Sie täuscht vor, es gäbe noch freizügiges Leben; als wären
die kleinen Leute nicht alle wieder Arbeitssklaven ohne Auf
stieg (sofern sie nicht so frei sind, entlassen zu werden). Es ist
zwar menschlid1 richtig, auch sachlich Ietzterdings in Ordnung,
zu sagen: Laßt dem armen Teufel sein Vergnügen, der bei seinem
abendlid1en Preßsack mit Kara ben Nemsi von Bagdad nach
Stambul reitet. Doch politisdt allerdings ist eine Kehrseite der
Kolportage gerade heute nicht übersehbar; sie ist so aufdringlich
roh und matt zugleidl, wie die andere Seite feurig und unbe
quem. Denn Glücksbilder können auch stillen und irreal berau
smen; dazu kommt, im eigentlich nationalsozialistischen Zweck
und Gebrauch: Old Shatterhand trägt einen sehr deutsd1en Bart,
und seine Faust sdlmettert imperialistisdl herab. So daß hitle
rism ertüdltigter Gebrauch nicht fern smeint (und Hitler in der
Tat auch diese Art Kar! May liebt und dem ,, Volk« erfüllt). Was
derart nationalsozialistische Wirkung von Kolportage angeht, so
;ei ein Passus aus Schlimters Jugendbericht: »Das widerspenstige
r8o über Märchen, Kolportage und Sage
Der Tag der meisten ist öder als je. Lang schon läuft kein besse
rer Brief ein, bleibt die Post aus. Dafür Sorge genug zu Hause,
das Dasein der Jungen geht nicht an, das der Mittleren wird
früh zu Asche. Selten war bürgerliche Kälte so lastend, nie die
Trir so zu.
Okkulte Phantastik und Heidentum
Erlerntes Gruseln
Oft nimmt sich kleine Angst ganz leicht. Die Karten schlagen sie
auf, der Tisch klopft ihr zu. Es ist die innere Unruhe, die so
ärmlich sich ermuntert, Laut gibt. Eigene innere Kräfte weckt
gern der abergläubische Mann, die Frau fragt lieber, wie ihr
geschehen wird. Je zufälliger und undurchschauter ein Leben,
desto mehr scheint es mit einer Decke zugeschlagen, deren
Zipfel privat zu heben ist. Das geschieht leidend und nur mit
schrägem Blick ins unabwendbar Kommende. So wie Schüler
heimlid1, während der Pause, aus dem Notizbuch des Lehrers
in der Manteltasche ihr Fortkommen erfahren. Vor Jahren
schon hat Meyrink die Folgen solch gestörter Zucht in literari
sche Form gebracht. Ursprünglich ein Witzbold, hat er das Gru
seln erlernt; es gedieh zu feilem Spuk und feierlichem Kitsch..
Unterhaltende lrdid1ter tanzten hier auf dem sozialen Sumpf.
Die Leute ziehen am Abend aus, noch ohne zu sehen, wohin.
Science drolatique
Aber der beherzte Mann zwingt dem Dunkel sich selber auf.
Statt auf Karten zu hören und die Sprüche darum herum, greift
der abergläubische Wille selber in den Aberglauben ein. Nid1t
bloß in der nüchternen Weis e Coues, die sich auf recht dürre
Vorsätze beschränkt, sondern in der massiven der Christian
science. Diese ist Glaube an die Macht des Willens und über
steigert zugleich die Vorstellung. Indem die rechte unablässig
den Menschen durchdringt, fallen die schädl.ichen Folgen der
falschen Vorstellung, der bloßen ))Annahme« fort. Denn diese
Annahme ist nur Sd1ein, und Scl1ein ist das Nid1ts; angenomme
ner, nicht seiender Schein ist derart jede Krankheit, die leibliche
wie die des ( kapitalistismen) Sozialkörpers. Wogegen Glaube
Science drolatique
Verborgene Qualität
Gut das, ins Trübe der anderen zu gehen und selbst darin zu
fischen. Nidlt nur Verbrechern ist ja das Dunkel tauglich, auch
Liebende wissen mit ihm etwas anzufangen. Darum ist ein Blick
wichtig, der, indem er Fortschritt will und kennt, diesen auch
verdeckt oder in Schleifen kennt. Viele Marxisten kehren sich
vielleimt allzu a limine von okkulten oder archaischen Erschei
nungen ab, gleid1 als ob mit der Aufldärung von 188o die Welt
zu Ende wäre. Der oft so kühne, tiefblid{ende Engels sieht in
den Mythen (wenn nicht in Religion und Theologie insgesamt)
nur ))einen vorgeschichtlidlen, von der geschichtlidlen Periode
vorgefundenen und übernommenen Bestand von dem, was wir
heute Blödsinn nennen«. Und fährt fort: ))Diesen verschiedenen
falschen Vorstellungen von der Natur, von der Beschaffenheit
der Menschen selbst, von Geistern, Zauberkräften etc. liegt
Okkulte Phantastik und Heidentum
Der dichtende Blick kam in der Mitte lange recht freundlich an.
Diese verlangte Edelware, die ihr auf gut gemachte Weise ihren
Schein ausbreitet. Belesene Bildung glich gewisse äußere
Mängel aus, nicht genügend hohe wirtschaftliche oder soziale
Stellung. Vor allem aber: der Mittelbürger brauchte Gebilde,
die ihm sein verblaßtes Leben wenigstens konstruiert darstellen,
seine Fragen in Spielform, seine Ideale, als wären sie noch der
Rede wert. All das wurde ihm im J uste milieu durch Schrift
steller des ebenso häuslichen wie friedlichen Scheins. Könner
wie Wassermann oder Thomas Mann eröffneten, in der Breite
des Romans, eine ganze Galerie diskutierenden Scheinlebens mit
al! seinen Fragen, außer der einen: woher denn dieses Leben und
diese Fragwürdigkeit stamme, und wie sie daher wirklich be
schaffen sei. Kurz, hier gerieten, trotz starker Besorgtheit des
einen, trotz noch stärkerer Ironie des anderen, schön geschwun
gene, schön geschlossene Konstruktionen, an denen alles stimmt
außer der Welt, die sie scheinbar so realistisch darstellen. Die
Fragen blieben auf der Symptomfläche, worauf sie ausgefabelt
sind; das dargestellte Leben dieser Ärzte, Staatsanwälte, Edel
knaben, Zeitverlierer ist nid1t so wirklich wie ihre Beredsam
keit, wie die angenehme Säure ihrer innerbürgerlichen Zwei
fel. Nun aber ging das schwarzrotgoldne Publikum als Leser wie
Stoff dahin, auch die lesende Mitte ist wild geworden und wen
det sich zum Teil gegen die Dichter ihres Juste milieu. Einen
besonderen Fall unter ihnen gab nur, zuweilen, Gerhart Haupt
mann ab, und zwar negativ, weil er zuerst den Naturalismus in
blondgelockte Träume und versunkene Glocken umbog, posi
tiver wegen der alten Gegend, worin manche seiner Figuren
hausen. Weid1 und verräterisch wie ein Sozialdemokrat hatte
dieser Diduer doch genau zuweilen das Halblidlt, das einer noch
echt ungleichzeitigen Welt zukam, nämlich der Schlesiens. Einer
Welt, besetzt mit Holztischen, Waldleuten, Sturm, Abend, ver
schwimmendem Schneelicht, mit der Schenke Pippas im Rot
wassergrund, mit Funken aus Glasöfen und dem dumpf gefüll
ten Eulen Spiegel eines geisterhaften Deutsdlland. Mit Hannele,
-
Die Begier nach neuen Dingen ist da und schiebt sich zurück. Es
sind zu dem Angestellten, wie sich zeigte, gebundeuere Schich
ten gestoßen. Der Bauer, sodann die ältere Mitte: Handwerker,
Kleinhändler, sogenannte freie Berufe. Diese Mitte hat halb
wegs noch Pflug und Boden, Hobel und Werkstatt oder aud1
nur das gemietete Büro. Indem sie, als pauperisiert, doch mit
zurückgebliebenen oder ungleimzeitigen Bindungen, vorstieß,
änderte sid1 überall, auch bei Angestellten, die frühere Lust der
Zerstreuung. Die gute Stube kam wieder, die Besinnlichkeit,
Atuappe mit Gift 103
der Vater Zucht und Sitte, zuletzt - unter wie über der guten
Stube - rachsüchtige Roheit und archaische Berauschung. Die
Roheit wurde geleitet von stellenlosen Sadisten und abgedank
ten Offizieren; die Berauschung goß vor allem der deutsche
Rasputin ein. Die Bauern und Kleinbürger wurden nid1t nur
auf Juden abgelenkt, der Konkurrenzkampf der Mitte nicht nur
durch durchsichtigsten Antisemitismus gemildert: es hatte auch
Undurchsichtigeres im Betrug Platz, die Gemeinschaft, die
))Seele«, der ))Führer«, das >>Schicksal«. So geriet der fascistische
Staat, der Wolfs-Staat ( der zwischen Wölfen und Sd1afen,
Kapitalisten und ihren Opfern ))vermittelnd« eingreift ); so
wurde Sozial-Demokr2tie ausgewechselt mit einer neuen
Attrappe, der Sozial-Autokratie. »Die Erschütterung, die heute
die Welt durchbebt, ist die Rache der Natur gegen den intellek
tuellen Versuch, ihre Gesetze zu durchbrechen« ; war die feudale
Ordnung »gottgewollt« , so ist die kapitalistische aus der ))Na
tur«. Berauscht glaubt der Mittelstand seine eigene »Natur«
darin zu finden, berausdu sieht er ihre Aufzüge auf der unifor
mierten Straße, gläubig nimmt er den Brand Roms, den die
Kommunisten angelegt haben, gläubig die Versprechungen des
Volkskanzlers. Das Ganze ist kompliziert wie eine Buchfäl
schung (mit Runen aus täglichem Blut) und einfach wie die
Wahrheit, wenn sie an den Tag kommt. Niedergehende Mitte,
ungleichzeitige, also stumpfe Widersprüche hier; Betrüger, Ver
brecher, monumentale Winkelpropheten dort, die diese Wider
sprüche deformieren und sie in den Dienst des Großkapitals
stellen; Niedergang eines Kapitalismus selbst, der sich formi
dabel macht: - das sind die drei Momente des deutschen Fascis
mus, und das dritte ist vorerst das herrschende unter ihnen.
Aber rasen Bestialität und Mythos audl in Sackgassen, so wird
den Palästen kaum dodl wohl, macht der Rausd1 in der erkann
ten Sackgasse kehrt. Hunger stirbt audl bei ökonomischer Un
wissenheit nidlt, Glanz der Berauschung sättigt und beruhigt
erst recht nicht, im Gegenteil; beide machen des Dritten Reichs
so lange begierig, bis nur das Vierte und Letzte übrig bleibt. Der
Staub, den dieExplosion des Ungleichzeitigen aufwirbelt, ist dia
lektisdler als der der Zerstreuung; er ist selber explosibel. Sozia
listischer Gebraud1 und die Kunst, Irrationales - unschädlich,
Attrappe mit Gift
GROSSBÜRGERTUM,
SACHLICHKEIT U N D MONTAGE
DER RUCK
Wir sind außer uns. Der Blick schwankt, mit ihm, was er hielt.
Die äußeren Dinge sind nicht mehr gewohnt, verschieben sich.
Da ist etwas zu leicht geworden, geht hin und her.
NEUES ECKFENSTER
LUDWIGSHAFEN-MANNHEIM ( 1928)
Sonst rußt das 01 mehr für sich. Oder nur dort, wo gehobelt
wird, liegen die Späne. Die Hobler wohnen in Mietslöchern, die
Straßen sind trostlos. Weit weg aber wohnen die Herren mit
dem von anderen verdienten Geld. Hatten Häuser wie Nippes,
bekleideten sich mit alter Form. Kein Laut von dem sauren Tag
werk drang herein.
So trennten sich früher schon die Viertel, wo geschafft wird
und wo verzehrt. Zwar sprang die Technik auch in ältere, edle
Stadtteile vor, zerstörte das Bild. Die Zufahrtsstraße vom Bahn
hof war meist eine andere als die von der Landstraße gewor
den, verlegte die alte Achse. Aber immerhin starb die über
kommene Stadtkultur nicht ganz; der Wall, der Ring wurde
bepflanzt oder gar Wohngegend. Der neue Wasserturm genierte
sich, in den achtziger Jahren, einer zu sein, wurde wie ein Hum
pen gebaut. Aud1 gesellschaftlia.� rückte die Bourgeoisie ins
höfische Vergnügen ein, hatte ihre guten Konzerte, plauderte
in den Logen.
Schlecht aber erging es dabei neuen Städten, denen nichts die
Sduitte lenkte. Besonders wenn sie neben einer alten Kultur
stadt liegen, wie Ludwigshafen neben Mannheim, auf beiden
Seiten des Rheins. Der Fluß trennte sd1on genügend, die bay
risch-badische Landesgrenze hinderte erst recht jeden Ausgleich.
Ludwigshafen war derart verpflichtet, eine eigene Stadt zu
werden, nidlt etwa nur eine Vorstadt, worin die Abwässer der
Ludwigshafen-Mannheim 209
ÜBERGANG:
BERLIN, FUNKTIONEN IM HOHLRAUM
Dieser Ort zog zuerst wieder frische Luft ein. Arbeitete mit ge
liehenem Geld, füllte sich die geflickte Tasche. Berlin hat in
Deutschland den Krieg gewonnen, die Stadt liegt spätbürgerlich
ganz vorn. Sie hat wenig ungleichzeitige Züge, im Sinn, wie wir
ihn kennengelernt haben; sie wurden ihr ganz zuletzt erst ein
geführt und eingeredet. Berlin scheint vielmel;tr außerordentlich
>>gleichzeitig «, eine stets neue Stadt, eine hohl gebaute, an der
nicht einmal der Kalk recht fest wird oder ist. Soweit vorn frei
lich eine kapitalistische Stadt auch l gt: sie ist vorerst nur
�
))gleichzeitig« im beschränkten, ja uneroten Sinn, nämlich im
bloßen Up to date. Fühlt sich der Unternehmer und Kaufmann
solcher Städte auch besonders auf der Höhe, »mitten im prak
tischen Leben stehend((, gänzlich al pari mit der »Gegenwart«:
so hat doch selbst die relative Gleichzeitigkeit Berlins die Be
schränkung, daß dem Bourgeois, wie Marx sagt, >>Geschick,
Kenntnis, geistige Einsicht und intellektuelle Hilfsquellen nicht
weiter reichen als seine Nase(( . Er liegt nur im Vergleich mit
älteren Klassen und mit Provinz an der Spitze, ist aber selbst
getrieben, selbst an eine spukhafte, dabei verdinglichte Waren
bewegung angeschlossen, an eine Wirtschaft »stehender Tat
sachen und Gesetze«. Dadurdl, daß ihm überhaupt nTatsachen
und Gesetzecc bestehen, nämlich statische oder gar ewige, ist der
Bourgeois nicht in der echten Gegenwart, sondern nur in ihr
als einem Caput mortuum, nämlidl im Produkt ihrer Verding
lichung. Noch der Spätkapitalist, der am vorgeschrittensten up
Berlin, Funktionen im Hohlraum 213
Der Schwung
Sachlichkeit, unmittelbar
Bei soviel Wind wurde die Luft recht dünn. Sachlich sein, heißt
hier, das Leben und seine Dinge so kühl als leicht zu machen.
Zunächst spricht sich darin nichts aus als Leere, und sie erschöpft
sich im Weglassen. Und gleich darüber zeigt sich der Betrug,
sofern die Leere derart vernickelt wird, daß sie glänzt und be
sticht. Die Entseelung des Lebens, das zur Ware-Werden der
Menschen und Dinge wird poliert, als sei es in Ordnung, ja, die
Ordnung selbst. Hier ist neue Sachlichkeit die oberste, auch un
kenntlichste Form der Zerstreuung; sie ist es als Ablenkung
durd1 »ehrliche« Form. Es ist aber nur die Ehrlid1keit des
Vordergrunds, und sie gibt keine Handhaben, nicht den gering
sten Schnörkel zur weiteren Prüfung; ein glattes Gesicht schützt
krumme Wege. Wie jener Bauer, als er eine Geldsumme erhielt
und sie nachzählen sollte, nur bis 6o zählte und dann aufhörte,
weil die Summe bis jetzt gestimmt habe und gewiß auch weiter
stimme: so soll es der Prolet und Angestellte mit der Sachlichkeit
halten; die vorne solange stimmt, als man in den Hintergrund
nicht weiterzählt. Ihr Licht, ihre Heiterkeit, ihre Klarheit mar
kieren den Teil fürs Ganze, das Schaufenster fürs Geschäft. Das
erklärt die aufdringliche Heiterkeit (in einem durchaus öden
Leben ), die aufdringlid1e Klarheit und Nüchternheit (vor einem
durchaus zweideutigen Hintergrund); das erklärt noch die auf
dringliche Festigkeit der Form (in einem durmaus kritischen
und labilen Dasein). Selbst das Bestechende der Formverhärtung
entspridlt nodl der Erholung des Kapitals, die um die gleiche
Zeit geschah; Form und Kapital machten übereinstimmend, im
Namkrieg, fest. Erst damals erschien die falsd1e Festigkeit von
unten an bis oben hinauf, bis zu den Bildern hinauf, welme an
den Wänden hingen oder aum nicht mehr hingen ( damit selbst
die besmeidenste Phantasie nimt störe). Statt der expressio
nistischen Träume, »Ballungen«, doch auch Gewitter stabilisierte
sich ein »Realismus« ohnegleimen, nämlich einer der wieder
gesetzten Welt, des Friedens mit dem bürgerlid1en Sein. Nam
Sachlichkeit, unmittelbar 217
Sachlichkeit, mittelbar
Ins Einzelne der hier brauchbaren Stücke führt noch nichts her
ein. Was der bürgerlidlen Wrrtschaft anschlägt, läßt sich auch
mittelbar für Anderes nicht verwenden. Und gewiß verhindert
der Betrug, dem die Sachlichkeit dient, sie weithin, in kapi
talistischer Wirtschaft störend zu sein. Nur das aber ist, im
strengen Sinn, mittelbar gebrauchbar, was im kapitalistischen
Ort selbst schon als verdächtig oder widerspruchsvoll erkannt
werden kann; hic falsum index veri. Beachtet man diesen
Grundsatz, dann trennen sich allerdings gewisse Partien der
Sachlid1keit; es trennt sid1 nämlich die Ratio von dem schein
klaren Betrug, auch von der ldassizistiscllen Verfestigung. Zum
Unterschied von Scll einklarheit ist Ratio in anarchistischer Pro
fitwirtschaft ein tätiger Widersprucll, auch wenn dieser Wider
spruch gedrosselt liegt oder ein Leben unter der Ded<e führt.
Indem die Ratio freilich nur als eine abgebrochene und abstrakte,
nämlich als privatwirtschaftlich begrenzte in der kapitalistismen
Sachlichkeit vorkommt, indem sie zuletzt gar, in Roosevelts
Amerika, zur planmäßigen Verniduung der Produktivkräfte im
Interesse des kapitalistiscllen Systems dient, kurz, zur »Stabili
sierung« der Krise: ersclleint auch sie keineswegs bereits als
voller Index des Wahren oder als einer, den man nur weiter so
zu Ende führen, ganz ))vernünftig(( machen müsse, um einer zu
werden. Die Grundbedingung zum konkreten Gehraum der
vielen ))systematisch aufgezogenen Sachen« von heute ist viel
mehr die gescll ehene Revolution; ohne diese eben ist Ratio
nur die bekannte - Rationalisierung. Daher denn auch die
Sachlichkeit, mittelbar 119
unter Kompromissen.
Montage, unmittelbar
Hier erst ist der Wind durd1aus, von überall weht er her. Teile
stimmen nicht mehr zueinander, sind lösbar geworden, neu
montierbar. Faßlim für viele war zunächst nur das gesdmittene,
neu geklebte Lichtbild ))montiert«; im Umgang mit Maschinen
ist das Wort freilim älter. Audl am mensd1lidlen Leib wird
Haut, werden innere Organe versetzt; dom leistet der versetzte
Teil am neuen Ort bestenfalls nur, was des Ortes ist, nichts an
deres. In de.r technischen und kulturellen Montage jedocl1 wird
der Zusammenhang der alten Oberfläche zerfällt, ein neuer ge
bildet. Er kann als neuer gebildet werden, weil der alte Zusam
menhang sich in1mer mehr als scheinhafter, brüchiger, als einer
der Oberfläche enthüllt. Lenkte die Sachlimkeit mit glänzendem
Anstrich ab, so macht manche Montage ·das Durdleinander da
hinter reizvoll oder kühn verscl11ungen. Samlirokeit diente als
oberste Form der Zerstreuung, die Montage erscheint kulturell
als oberste Form spukhafter Intermittenz über der Zerstreuung,
ja, gegebenenfalls als gleichzeitige Form der Berauschung und
Irrationalität. Insofern zeigt die Montage weniger Fassade und
mehr Hintergrund der Zeit als die Samlidlkeit; ebenso hat sie
die Paradestücke der Sachlichkeit nur als Trümmer. Sie täusmt
keine Stabilität vor, welcl1e den Vordergrund verhärten will;
ihre Form war vielmehr - bereits in der Stabilität - der Jazz, die
Revue, das Mosaik aus Fetzen, Lumpen und Lockerung. Der
222 Berlin, Funktionen im Hohlraum
Doch nicht nur leichte Form drängt hier, in Fluß zu kommen. Sie
schäumte schon dort, als Pinsel und Feder ganz hoch hinaus
wollten, nämlich expressionistisch. Damals wollten alle Künst
ler, als »innerliche«, ein sozusagen musikalisches Spiel treiben,
ein bewegliches, ein kreuzungsreidles. Diese Lockerung, dies
Eintun der Formen in den Schmelztiegel war eines der expres
sionistischen Ämter; kurz vor, in und kurz nach dem Krieg. Da
die Form bei den damaligen Mitläufern mit dem äußeren jeden
Inhalt verlor, also im Gegensatz zur gemeinten Ausdrucksfülle
nichtssagend wurde, wurde freilich auch ihr Ineinander, Durch
einander sehr oft starre Manier. Abstraktes Rebellieren tobte
sich dann aus, ohne einen andern Boden als den der bestehenden
Gesellschaft zu finden, nur als einer verneinten; in diesem Schein
lebte uferlose Bewegung an sich, uferloser Schrei gegen den
Krieg überhaupt, für den Menschen überhaupt. Die abstrakt
gesprengte Form stellte sich gerade im selbtsgenügsamen, im
musisch fixierten Zerfall wieder her, weil sie gegenstandslos
blieb, das ist, weil sie keinen Anschluß an wirkliches, !<Iassen
haftes Versinken und Steigen, an andere Gegenstände fand, als
die abstrakt abgelehnten der kapitalistischen Dingwelt. Das
musikalische Kaleidoskop gerann in diesem uneigentlichen Ex
pressionismus kunstgewerblich, fast zur Tapete, ja, schlug ge
radezu in sein Gegenteil aus, nämlich in den sogenannten Kubis
mus, das ist, in selbstzweckhaften Genuß an lngenieurkunst, in
die Verdinglidlung geometrischer Konstruktion an sich. Führten
vom Kubismus sehr rasch Wege in die neue Sachlichkeit, so
haben Noskes Feldzüge freilich auch den eigentlichen Expres
sionismus beendet, diese erste und ecl1teste Form ungegenständ
licher, anders gegenständlicher Traum-Montage in unserer Zeit.
Diese Montage war nicl1t die bucl1stäbliche im Kunstgewerb-
Berlin, Funktionen im Hohlraum
läuft zwischen innerem Dialog ( der alles sagt, was der Person
durch die Sinne geht), Unterwelt, Querwelt und Überwelt ( die
wieder im engsten Leibkontakt stehen). Der Raum und Gegen
stand der Handlung ist im n Ulysses« ein Tag unbedeutender
Personen (der aber mehr als tausendundein Tag sein möchte,
ja ein Omnia ubique in der Nuß). Zote, Chronik, Gewäsch,
Scholastik, Magazin, Slang, Freud, Bergsoo, Ägypten, Baum,
Mensch, Wutschaft, Wolke gehen in diesem Bildfluß aus und
ein, mischen sich, durchdringen sich in einer Unordnung, die
ihre Gestalt freilich bei Proteus sucht, im Durcheinander der
gärenden Natur, nicht mehr bei Prometheus, am expressiv
gärenden Subjekt. Als letzte Buchmagie wird Proteus selber
noch mit seinem Gegenteil tingiert, nämlich mit behaupteter
Symmetrie, ja, Durd1entsprechuog aller Teile; dergestalt, daß
nicht nur Leitmotive sich winden, sondern jedes Kapitel - in
der Kathedrale des Relativismus - Körperteilen, Farben, Mine
ralien und dergleichen, mit ruhelos verdeckter Konkordanz, zu
entsprechen versucht. Die zerlegte Geige Picassos ist so, in
schwer durchschaubarer Breitstapelei, zur Wortkinetik gewor
den; Relationen - nidlt gerade zu Dante, wohl aber zu den
Romantikern, geben dieser Art Montage das Mondlicht, worin
sie gedeiht. Heute ist das alles erst Bilderrätsel des gesprunge
nen Bewußtseins; mit einer nTotalität«, die ihr All in Fetzen,
Gesprächsfetzen, Querschlägen ungerichteter Erlebniswirklich
keit hat. Aber eine Welt, deren kurioseste Literatur die bürger
liche Bildung so ausläutet, ist immerhin fähig, wenn sie keine
Dialektik treibt, diese an ihr betreiben zu lassen. Die konstitu
tive Montage nimmt sich die besten Stücke, baut andere Zu
sammenhänge daraus, und der Besitzer des früheren Zusam
menhangs erfreut sich am neuen, falls dieser kein Flickwerk und
musischer Mythos bleibt, nicht mehr.
Montage, mittelbar
Ins einzelne der brauchbaren Stücke führt auch hier noch nichts
herein. Weniger der Betrug durch neue Ablenkung als der einer
ruhenden Verschlingung verhindert auch Montage, an Ort und
Stelle widersprechend zu sein. Wu hatten, bei der mittelbaren
:u6 Berlin, Funktionen im Hohlraum
DIE LEERE
Keiner aber lebt sieb ein. Je weiter vorn im Neuen, desto kahler.
Die Wand im Zimmer sieht grau oder gelblich aus wie die
Straße, und der Boden ist sie. Glatt sc:hieben sich die Stühle,
nic:hts steht fest.
Kaum noch ist möglich oder nötig, recht zu wohnen. Das
leere Ich bildet sich keine Hülle mehr, um den darin zu bergen,
der ohnehin nicht zu Hause ist. Die Möbel versc:hwinden, lösen
sic:h in ihren bloßen Zweck auf, gehen an die Wand. Wie Lic:ht
an der \Vand, so wird die Hand am Schalter bald einen Tisch
andrehen, das tragende Feld seiner Platte, und ihn ausdrehen,
wird er nicht mehr gebraucht. Die neuen Straßen sind für sic:h ·
völlig leblos; wird eine alte Anlage abgerissen und eine frische
hingesetzt, so bleibt dennoc:h ein Loch. Nichts setzt sich an, der
Das Schiffshaus
Platz bleibt offen für das, was fehlt. Sehr trockene Art, nicht alt
zu werden, sie zieht um.
DAS S C H I FFSHAUS
Auch an diesem lernt man frieren. Drinnen wie draußen ist die
Wand nackt. Aber dafür sieht man das Innere offen, das Drau
ßen bricht durch. Die dicken Stoffe sind gefallen, ein durchdrin
gender Wille reist ab. All das möchte woanders sein als dort,
wo es so hohl steht.
Auch dies Haus hier täuscht nicht mehr vor, zu wurzeln. Rie
men laufen um die Gesimse, aus blauem Stahl, nachts leuchtend.
Die betonte Breite ist keine mehr, sie erinnert eher an die Hun
gerschlangen, welche vor den Geschäften gestanden haben und
nun hochgelaufen sind oder übereinander. Die Not zwingt zu
großen Blöcken, doch die offene Zeit bläst den Würfel an und
ändert seine Gestalt. Niedere Triren führen nicht mehr ins
sichere Haus, sondern an Bord. Kurven bilden einen Sdüffsbug,
die Schlangen ziehen Bänder um den Rumpf, selbst das flache
Dach, das so südlich aussieht, ist nicht so sehr dem Süden nach
gebildet oder breitruhend, als vielmehr ein Verdeck. Treppen
von außen, eingenietete Rundfenste�: verstärken den fahrenden
Eindruck: das ganze Haus wird ein Sdllff. Hier kleben sich keine
Gespenster toter Stile an und spuken nach; ein Neues spukt
voraus, das ist und nicht ist. Jazz klingt vortrefflich zu Stahl,
und die Weisen Weills zeigen, daß der Stahl nicht stimmt. Das
Haus als Schiff verneint den Platz, worauf er steht; denn Schi.ffe
haben Lust, zu verschwinden. Die Ordre, wohin sie bestimmt
sind, wird nicht geöffnet, solange man noch kreuzt; erst später.
Doch einige Stücke daraus (ein lumpiger oder böiger Wind
pfeift durch) sind jetzt schon bekannt.
Z U R DREIGROSCHENOPER
Sehr viele sprach diese besonders heiter an. Sie hatten vergnüg
ten Ulk, nahmen ihn mit nach Hause. Schlager dazu, süße und
bittere, merkwürdig geschärfte, doch nicht angreifend. Dies Un
gefährlidle sdleint dort vor allem, wo der Bürger lacht. Die
Sdllager sdleinen dieselben, die er auch sonst tanzt, nur besser
zubereitet. Und die Bettler scheinen mit einer Lage einver
standen, die sie so lustig noch singen und spielen läßt. Zum
frischen Ton tanzt manches, das es nicht nötig hätte.
Alles richtig, doch mit dem frischen Ton ist es wieder nicht
so weit her. Weill gelang eher, auf sehr lebendige Art, die
faulen Wasser auszuschöpfen, gerade die des Sdllagers. »An
statt daß, anstatt daß sie zu Hause bleiben, brauchen sie Spaß«:
die falschen Tone, versetzten Rhythmen dieses Spaßes werden
auskomponiert und enthüllt. Dadurch wird die Triebbefriedi
gung, die das Publikum sonst an Schlagern findet, verraten und
verräterism umgesetzt; nämlidl die Ware als Smlager hört auf,
und er erscheint als verhinderter Ersatz für ein Gut. Weill er
reichte in leimter, ja vulgärer Maske viele, an die die vorge
schrittene Musik nidlt herankam. Sind diese Vielen auch nur
zum kleinsten Teil Proleten, so madlt sidl Weill aus dem bes
seren Klassengemisch, das zuhört, doch nicht >>Volkcc, das zu
singen wäre, sondern Zersetzung, die der leichten Musik bis
auf den Grund geht. WeiH ist nicht radikal eintönig und genau
wie Eisler, erst recht nicht ))musikantische<, nämlich falsch un
mittelbar, wie die sozialdemokratische Urnatur Hindemith; er
nimmt noch weniger den Sdllager in Songgestalt auf, als wäre
er ein neues Volkslied. Ist er doch längst industrialisierte Ware;
gerade der neue, aus armen Negern und eleganteren Ur
gefühlen, wurde besonders genormt und abgehoben, besonders
anonym und gegenstandslos in seiner Triebbefriedigung. Doch
ebenso ist im Schlager ein Seitensprung, ein Stück Hurengasse
und Juxkabinett neben der Prachtstraße; macht der Schlager als
Rhythmus, Melodie und Text auch völlig den genormten Zeit
zug mit, so hat er darunter noch ein schiefes Gesidlt, ein kolpor
tagehaftes, das mit größter Oberfläd1lichkeit die Oberfläd1en
sich abschminkt. Das Lumpenhafte des Schlagers bewirkt nicht
Zur Dreigroschenoper 2.3 1
Genuß überhaupt, den solche Musik mit sich führt, steht der
Verwandlung der Gesellschaft - wenn nicht im Vleg, so nicht
immer auf dem Weg; ihr Ton hat nur bisweilen sein Schwert.
Hier sind künstlerische Grenzen überhaupt gezogen, auch Stär
kerem als dem Versuch der Dreigroschenoper und ihren befrei
ten Schlagerwaffen. Der Nagel. den noch die politisch geziel
teste Musik und Dichtung auf den Kopf treffen, ist der gegebe
nen Wirklid1keit nur sehr mittelbar einer zum Sarg. Aber kann
Musik Gesellschaft nicht ändern, so kann sie, wie Wiesengrund
mit Recllt sagt, illre Veränderung vorweg bedeuten, indem sie
»aufnimmt« und lautspricllt, was unter der Oberflädle sidl auf
löst und bildet. Vor allem illuminiert sie die Antriebe derer, die
aurn ohne Musik in die Zukunft marschieren, dodl mit ihr Ie;ch
ter. Weills Musik hat als einzige heute gesellsd1aftlidl-polemi
sdle Sdllagkraft; und der Wind pfeift durdl, der ehrlidle Wind,
der ist, wo ihn keine Gebäude aufhalten, wo ringsum die Zeit
nodl keine Wirklichkeit ist. Den ))musikantischen(( Sängern hat
Weill, in ihrem eigenen >>Volk«, das packende Konzept verdor
ben. Der Kanonensong zeigte, daß auch links Soldaten wohnen,
aber die richtigen. Und die Seeräuber-Jenny kam, auf Augen
blicke, dem Herzen des Volks so nahe wie früher die Königin
Luise. Nichts zeigt klarer, wessen Schlager und die Lust des
mischenden Stegreifs jetzt fähig sind.
ZEITECHO STRAVINSKIJ
Was hohl ist, darauf läßt sich gut pfeifen. So audl hält es Stra
vinskij mit sidl und dem seinen, er versucllte sdlon viel. Leere
trommelt betörend auf sicll selbst, bekleidet sich auch, zieht
Altes an, wird maskenhaft und tönt derart. Der Klang war erst
süß und glitzernd, dann schmelzend und heiter verwirrt, bis ein
Riß geschah. Er gesdlah 1 9 1 8 in der Geschichte vom Soldaten;
nirgends wurde dieses Jahr so zerfallen, so einsam und wichtig
irr notiert. Stravinskij aber ist die Maske, welclle immer anders
kann. Nichts hängt in seinem Spiel zusammen; eine treulose
Musik, eben dadurch heute audl ehrlidl. Der Klang ist jedesmal
Zeitecho Stl'avinskij 233
anders und, während sein Stück noch spielt, schon nicht mehr
ganz bei ihm.
Geschichte vom Soldaten: das zerfällt einen Mann, daß ihm
die Fetzen fliegen. Ein bewußter Ulk, der bald bewußtlos wird,
und woran Grauen ist. Der Soldat Josef hat 14 Tage Urlaub,
gibt dem Teufel seine Geige, nimmt ein Buch in Tausch, das vor
geht. »Devisenkurse« liest er (genauer Schnittpunkt hier zwi
schen Märchen und Teufelei ), Kurse die noch nicht da sind; als
Gast sitzt er beim Teufel drei Tage, aber es sind drei Wochen,
sein Mädchen zu Hause geht verloren, niemand zu Hause kennt
den Totgeglaubten und er liest in dem höllischen Buch, unselig,
seelenlos, ohne Musik, es regnet Titel, Noten, Gold. Und nun,
völlig aus der wimmernden, falschen, zerfetzten Partitur, aus
der genialen Falschheit ihrer Einsätze der Gewinn: Sieg des
Soldaten über den Teufel und das Böse unter dem Tisch. Die
Bühne wird hell, das ganze Theater, noch der Kronleuchter
flammt auf, mit halber Stärke, dem Orchester kommt ein Choral
sozusagen, lumpig und kariös, aber wahr und fromm wie »Ge
lobt sei Gott« in atemraubender Kolportage, wenn Rettung
naht, der Freund, Bewaffnete, Licht. Doch auch dieses Glück
hält nicht, die errungene Prinzessin nicht, am wenigsten das
Heimatdorf; unter Musik aus lauter Agonie, im alten Bann und
vollkommenem Dunkel tappt die unersättliche Kreatur ihrem
Teufel nach ins Nichts. Und welche Szene aus Schizophrenie!
der Schnürboden ringsherum, ein offner Hohlraum, das jäm
merlicheTheaterehen in seinerMitte, derVorleser dreifach mon
tiert: als vom Soldaten berichtend, als Soldat oft selbst, als
Freund des Soldaten und Helfer der Szene, die in jedem Augen
blick nicht weiß, wohin sie der Herr zum Tor hinaustreibt. Kaua
ster mit Irrsinn dampftim Hoftheater, rauheTraumbilder ziehen
in seinem Rauch, der Vorhang des Theaterchens geht auf und
nieder, zeigt die Leinwände einer Moritat, dann Menschen
unbeweglich, dann handelnd, dann lebendig gewordene Wachs
puppen in der Pantomine. Dies ganze verkehrte Wesen aber,
dies seltsame Gedicht des seltsamen Dichters Ramuz hat Musik
in Bilder niedergeschlagen, häßlich wie der Traum eines Irren,
blutig, zusammenhanglos, hell von unterirdischem Licht am Him
mel und dann wieder eingestrichen, als die bezahlte Zeche der
2.J 4 Zeitecho Stravinskij
der Höhe der Bourgeoisie, mit welch treuloser Kunst des Echos
und der Verschlingungen zieht dieser bedeutende Musiker seinen
Weg. Kalt, anmutig kühn, eckig zuletzt wie ein Mäander und
ebenso fortlaufend; gestopft voll Larven wie ein Maskenball
und doch ebenso bewegt und unzuverlässig, ebenso improvisie
rend, unheimlich und mischend. Stravinskij zeigt, was Volkslied,
Marche royal, archaische Schicksale im Maschinenzeitalter ge
sduagen haben, was sie diesem zu sagen haben. Und der Riß,
den die Geschichte vom Soldaten in eine wohlige Tonkunst
bradlte, ist durch die Musik des automatischen Banns, die danach
folgte, nicht gerade schließbarer geworden.
ROMANE D E R WUNDERLICHKElT
UND MONTIERTES THEATER
Ein Kopf, der träumt, hat es hier vorn besonders schwer, zu sein.
Sdlwerer noch, sich stofflich auszugestalten, es faßt sich nichts in
der Leere. Junge Menschen mit der sogenannten höheren Anlage
wissen heute oft nicht recht, wohin. Taugt das Innen etwas,
bringt es ein wirkliches didlterisches Mehr ein, so kann es sich
nur schief an den Stoffen äußern, die heute großbürgerlich vor
liegen. Nur mittelbar vor allem; die Dichter verhalten sid:l dann
durchschneidend, übertreibend und jedenfalls unterbrechend zu
ihnen. Die Form kann besonders einfadl sein, um hierhin wenig
stens die Wirren nicht einzulassen. Sie kann auch besonders ge
öffnet sein, um von den Wirren kein Wort zu verlieren. Das
entscheidet jedenfalls nicht mehr, die dargestellte Sache bleibt
in beiden Medien krumm. Je schärfer ein Blick, desto sicherer
wird er die Stäbe gebrochen sehen.
So vor allem an dem queren Ort, der dem Dichter groß
bürgerlich übrig bleibt. Es gibt jetzt, als herrschend oder noch
während, kein anderes Dasein als das des Bruchs, der Verwer
fung. Was 1 9 I 8 expressionistisch gewesen wäre, besteigt im
Nachkrieg einen Geisterzug, der kühl, träumerisch und grauend
in den Trümmern, Übersdlneidungen und Hohlräumen her
umfährt. Hier sind Chiricos Turiner Plätze, in denen nichts als
Romane der Wunderlic:hkeit
Was immer wir machen, es könnt.e anders sein. Ein Bild ist nie
fertig gemalt, ein Buch nie zu Ende geschrieben. An dem soeben
ausgedruckten ließe sich noch der Schluß ändern. Und wäre es
soweit, dann finge die Mühe von vorne an.
Schwer zu unterscheiden, was daran eitel oder aber gewissen
haft ist. Sehr oft dieses Verhalten nur nervös und geht nieman
den etwas an als den Autor. Bei Brecht jedoch - und er ist ein
Matador des Verändems, des Umschreibens eines soi-disant
Abgeschlossenen - liegt der Fall anders. Gebilde wie die »Drei
groschenoper«, »Mahagonny«, gar »Mann ist Mann« sind
wirklich zu früh geschrieben, das heißt dem Stoff und seinen
Problemen noch nicht recht angemessen. Schreitet also Brecht,
als gewissenhafter und zusammenhaltender Autor, die Front
seiner Hervorbringungen ab, so fallen gewisse burleske, bald
anarchistische, bald wieder allzu kollektivistische Züge ( beson
ders ni »Mann ist Mann « ) aus der Reihe. Doch wichtiger ist
eine andere Unfertigkeit, eine höchst positiv zu wertende, und
diese geht nicht nur den Autor an. Brecht will durch seine Pro
dukte den Zuschauer selbst verändern, so wirkt auch der ver
änderte Zuschauer (und Brecht gehört nun selbst dazu) auf die
Produkte zurück. Selten gab es weniger abgehobene Werke als
die Brechts; sie sind überhaupt keine im verdinglichten Sinn
dieses Worts, sondern - nach einem früheren Ausdruck des Au
tors - »Versuche«. An Brechts Gesammelten Werken (Band I
und II, erschienen im Malik-Verlag, London ) ist folglich so
wohl das Gesammelte wie das Werkhafte besonders zu verste
hen. Das Gesammelte stellt keine Ernte dar, die zufrieden in die
Scheune eingefahren wird. Säen, Schneiden, Binden, Dreschen,
diese fortdauernden Arbeiten sind vielmehr noch alle erkenn
bar. Das Stück »Mann ist Mann« beispielsweise konnte so wie
es »im Buche steht« als kollektivistische Propaganda mißver-
Ein Leninist der Schaubühne
setzend«, aber er will eben damit eine exakte Phantasie, die die
Dinge beim Namen nennt und sich nicht schmälern läßt. Brechts
Einfachheit hat dadurch gerade mit der abstrakten »Liquidie
rung« nichts gemein; vielmehr es melden sich politische Säure
und Fülle. Deren Ausdrucksweise sieht nun genau so variabel
drein wie die Natur ihrer Gegenstände, sie klingt schnöde ( » da
können Sie etwas lernen, Brown« ), dann vertrackt ( » Das Le
ben ist am größten, es steht nichts mehr bereit<< ), dann formu
latorisch ( »Über das Fleisch, das in der Küche fehlt, wird nicht
in der Küche entschieden« ). Und wo die Natur des Gegenstands
selbst keine Einfachheit zeigt, bildet sich erhaben reicher Aus
druck. Etwa in dem Zwiegesang von den Kranichen ( aus »Ma
hagonny« ), einer Dichtung von außerordentlicher Kostbarkeit
und des späten Goethe nicht unwürdig ( »So unter Sonn und
Monds wenig verschiedenen Scheiben/Fliegen sie hin, einander
ganz verfallen« ). Es ist der Alte in Brecht, der seine Einfachheit
gebraucht oder bridtt; der Alte mit Lutherdeutsch und Realis
mus aus Shakespeare; der Revenant aus den Bauernkriegen,
dann wieder der Besonnene aus Altchina, der in der Revolution
das Maß verehrt und von ihr sprid1t als einer Legende. Dieser
seltsam antiquarische Klang geht durch Brechts gesamtes Werk,
mischt sich wunderlich mit Tropensonne und Keßheit, bedeu
tend mit Handlungs-Regie und Marxismus. Sehr oft besteht
Brecht aus der schwäbischen Spätgotik, der sein Habitus ange
hört, eine Form, die im krassen Gegensatz zum Inhalt zu stehen
scheint; so im Gedichttitel »Hauspostille«, im »Choral« am
Schluß der »Dreigroschenoper« und in anderen Kirchenliedern
der Ungläubigkeit. Aber auch ein nod1 so aufgeklärter Inhalt
wirkt bei Brecht selten geheuer, es geht etwas um, und man
sieht, wieviel im Atheismus sted<t, wenn er nicht mehr bürger
lich begriffen wird, als bloße behaglich gewordene Verneinung.
Derart mengen sich die Farben, mehr als ein einziger Prozeß
macht sich zugleich auf den Weg, fast könnte man sagen: i n
Brechts Schrifttum ist ein Stück sehr alter deutscher Bolsche
wismus.
Den neuen, verschiedenen, fälligen zu betreiben, daran wird
hier von Fall zu Fall geprobt. Im Ernstfall wird ein Bühnen
fall unterlegt; an ihm soll das richtige Handeln untersucht und
Ein Leninist der Schaubühne 253
kommt leider wieder mit nach Mahagonny. Und was das Lied der
Seeräuberjenny in der nDreigroschenoper(( angeht, so muß man
bis zu Gnostikern und Kirchenvätern zurück, um einer solchen
Phantasmagorie von Inkognito, Rache und Auferstehung zu be
gegnen. Der Weltenrichter, den das arme Luder in der Spe
lunke umkreist, ist ein Pirat - >>Und das Schiff mit acht Segeln I
Und mit fünfzig Kanonen I Wird entsdtwinden mit mir.« Item,
das Werk Brechts hat es in sich, es taugt und wirkt großen Teils
zum langsam verändernden, fortbetreffenden. Von diesem Werk
gilt, was ein Plakat von Mahagonny verspricht: »Dort wurde
gestern erst nach euch gefragt«. Und die Finsternisse antworten,
mit Ärger die Kapitalfreundlichen, die nicht gefragt wurden,
mit Torheit die Sdtematischen links, die es nicht verstehen.
Der Schlag, den uns Brechts Tod zufügt, ist durch Brecht sel
ber gedämpft. Dem Leben wie dem Tod ist der Dichter mit
nüchtern-tiefer, klangvoll-genauer Weisheit gerecht geworden.
Ein anderer Westöstlicher Diwan, völlig neu und ebenso uralt,
Achtzehnter Brumaire und Laotse in Begegnung, das eine durch
das andere lesend und bewährend. Die Wolke, »sehr weiß und
ungeheuer oben«, von der Brechts nErinnerung an Marie A.«
spricht, wird nie vergehen. Sie ist er selber geworden, hoch und
nah, lauter Licht und ganz menschlich.
vor allem an. Und dabei ist am sichtbarsten, nicht nur an der Ober
Bäche, sondern wesentlich: es enthielt statt des daran herankon
struierten >>Imperialismus(( durchaus Antikapitalismus, subjek
tiv unzweideutigen, objektiv noch unklaren. Es enthielt objektiv
archaische Schatten, revolutionäre Lichter durcheinander, Schat
tenseiten aus einem subjektivistisch-unbewältigten Orkus, Licht
seiten aus Zukunft, Reichtum und Unabgelenktheit des mensch
lichen Ausdrucks. Eine Kunst, die weder mit den überlieferten
Formen noch vor allem mit dem ringsum Gegebenen einver
standen war, überzog damals die Welt mit Krieg. Dieser Krieg
hatte freilich keine anderen Waffen als Pinsel und Tube, als
direkten Schrei, und sein Schlachtfeld war die Leinwand oder
das musisch bedruckte Papier. Und die kriegführende Macht
bestand aus dem puren Subjekt, aus der emotionalen Not und
Wildnis des Subjekts, das sich mit seiner Laterna magica in eine
scheinbar gegenstandslose Welt projizierte. Die Bilder selbst
waren eben mit einer Mischung, die nur in Deutschland möglich
ist, im Dcut$chland Ossians, der Romantik und zuletzt noch des
sumpfblumigen, Freiheit träumenden Jugendstils, aus Archai
schem und Utopischem zugleich hergeholt, aufgeholt, ohne daß
genau zu sagen gewesen wäre, wo der Urtraum aufhörte, das
Zukunftslimt begann. Und die scheinbar gegenstandslos ge
machte Welt, auf die die Selbstentladung sich auftrug, gab den
»Kompositionen« oder >>Konstruktionen(( keinen Anschluß an
die wirkliche Welt; auch von hier aus war der Expressionismus
zum Teil ))abstrakte Kunst«, und zwar im schlechten Sinn dieses
in der Welt, bis weit über den bisher bekannten Ausdruck hin
aus; sie suchte den Schrei, der nid1t erst durch eine goldene
Harfe sauste, das ist, durch die Harfe der herrsd1enden Klassen
i res unehrlichen, dezimierenden Wohllauts. Das erst war
und h
edlter Expressionismus, gewiß noch eine innerbürgerliche Re
volte, eine innermythologische Oberwindung der Mythologie,
aber eine, die aus der Nad1t zum Licht wollte und sich nicht
sdleute, lieber aus der Nacht der Unterdrückten als aus dem
bisher herrschenden Tag das Licht herauszudestillieren.
Die Bewegung war also nicht von ungefähr, ebensowenig hat
sie das Ihre bereits getan. Die Nazis haben von ihren Resten
Nutzen gehabt, freilidl nur von ihren sdlal gewordenen und
balbierten. Von dem Dunkel ohne Dämmerung, vom Archai
smen ohne Utopie, vom schwindelhaften oder verworrenen
Schrei ohne mensdllidlen Inhalt. Und hier wie überall wäre
auch dieser partiale Nutzen nidlt entstanden, hätte man das
Irrationale nicht versumpfen lassen, statt es zu erforschen und
ibm konkret geredlt zu werden. Der Expressionismus, hat man
gesagt, sei so alt wie der künstlerisdle Ausdruck überhaupt; er
sei überall dort, wo das ungeregelte >>Gefühl« (gleidl welches)
den >>Verstand« überwiegt. Das ist zweifellos eine zu weite, eine
selber ungeregelte und vor allem inhaltlose Formulierung; nicht
nur die Form (gar die bloße Formlosigkeit), sondern der spe
zifisdl mensdlliche Inhalt macht die gültige Expression. Das
menschlich Subjekthafte bildet ja gerade das Positive an der un
leugbaren ( und bedenktimen) Subjektivität des Expressionis
mus; ein unabgelenkt Mensdlliches wurde expressionistisdl laut.
Als Flud1t, Protest und Verwirrung, als neue Form und Sdlöp
fung zugleich ward die Bewegung bei so erlauchten Namen wie
Gauguin, van Gogh, Rimbaud bereits angelegt; und unab
gegolten, als Strom, der im Unterirdischen am wenigsten ver
siegt, läuft sie im Surrealismus weiter. Deutlimer aber als der
Surrealismus (mit seiner Montage, seinen drohend zitierten
Bruchstücken aus dem neunzehnten Jahrhundert, seinem Phos
phoreszieren ins Unbekannte) - deutlicher war der Expressio
nismus ums Humane zentriert. Gegen die Karikaturen war
oben Keller herangezogen worden; als Zeugnis des original ex
pressionistischen Antriebs sei hier nun die Betrachtung eines
Der Expressionismus, jetzt erblickt
DAS PROBLEM
DES EXPRESSIONISMUS NOCHMALS (1940)
Der frische Zug ändert sich hier oben. Die Jugend liegt wirr
und böswillig zurück. Auch ihre Lehrer bauen seit langem ab,
aber ins schlechte Alte. Der Student trägt jetzt durchwegs das
Haus mit, dem er entstammt, am meisten das enge. übernimmt
die Wunsche, die Rachsucht, die ungelüfteten Meinungen der
sinkenden Mitte. Dem Denken weicht er aus, weil er erkennen
müßte, wie aussichtslos die Lage der Klasse ist, die er halten, in
der er fortkommen will. Nun suchen viele Studenten auf den
Universitäten eine Art Vater (meist, weil sie keinen ausreichen
den zu Hause gehabt haben); sie suchen ihn dringender als eine
Geliebte. Die Lehrer aber, die dazu dienen, entstammen als jün
gere meist derselben Mitte wie die Studenten, einer sinkenden,
gereizten, irrenden; als ältere, auch großbürgerliche, biedem sie
sich der Jugend nur an oder leben ohnehin im Kaiserwetter. Sie
verhalten sich zu den national-nrevolutionären« Studenten wie
die Schwerindustrie zu den SA-Truppen; sie sind die ideologi
schen Statthalter der Schwerindustrie beim akademischen Sturm.
Klar, daß unter so rostigen Verhältnissen, im Bund mit so wel
kem Bewußtsein die Studien nicht blühen. Der Ort überhaupt,
wo die nationalistischen Studenten sich Rats erholen, liegt nicht
mehr innerhalb der Universitiit, widerspricht jedenfalls ihrer
bisherigen, rational-humanistischen Tradition. Der Satz: nMan
stirbt nicht für ein Programm, das man verstanden hat, man
stirbt für ein Programm, das man liebt«, - dieser nationalsozia
listische Grundsatz, ein Glaube nicht nur dumpfer Jünglinge
und bewußtloser Überzeugungs-Verschwender, sondern der
feurigsten nAkademiker« von heute, führt in derwischhafte
Feldlager, nicht in Hörsäle. So ist die n Vernunft« deutscher
Hod1schulen höchstens noch in ihren technisch-zweckhaften
Fämern, das nsystematische« Bildungsideal (aus der Zeit Hum
boldts ) längst vorüber. Ja, selbst sozialistisch gesehen dürfte an
z8o Relativismen und Leer-Montage
DAS AUGE
Immerwieder fängt man nun von sich her an. Trägt ab, bis drau
ßen überhaupt nichts mehr ist. In zerstückter, dürrer Arbeit
wurde bürgerliches Denken ohnehin schwach, bescheiden. Sein
Stoff ging nicht mehr in Begriffe ein; diese wurden sd1wankend,
der Stoff selber zerfiel in bloß Gesehenes oder wich ganz zurück.
Da glaubte Ziehen schon aus dem Bau des Auges zu wissen, daß
der Mensch die Dinge nicht wahrnimmt, wie sie wirklich sind.
Daß aucll jede erkennende Aussage über sie ein Wort ist und
nicht mehr. Wie die Dinge sind, läßt man g"!rne draußen und
dahingestellt. Desto leichter fällt es, wechselnd über sie auszu
sagen, morgen anders als heute.
DIE FI KTIVEN
DIE E M P I R I STEN
Aus dem Zweifel kommen Kühle, indem sie ihn gänzlich mit
machen. Das reine Denken ist ilmen leer, das übrige Innen bloß
gefühlig, und was es >>erkennend« hinzugibt, gedichtet. Nur
zwei Denkweisen gelten hier als wirklich treffende: die neue
Logik, im mathematischen Sinn Russels, und das Verfahren der
einzelwissenschaftlichen, empirischen Forschung. Klar und deut
lich - der alte Ruf vom Anfang des bürgerlichen Denkens, der
Ruf des abstrakten Kalküls kehrt derart wieder; ·freilich, was
die Kraft des Kalküls angeht, aus sich heraus Wirkliches zu er
kennen, mit sehr gemindertem, sehr geschlagenem Anspruch.
Für den Kreis der »wissenschaftlichen« Philosophen gibt es
keine synthetischen Urteile a priori; Denken über die Erfahrung
hinaus greift in nichts, in Hirngespinste, in völlig gegenstands
lose Reste mythischen Denkens. Es gibt nur analytische Urteile
a priori; diese machen die neue Logik aus, als ein gehaltleeres
Gefüge von Tautologien, die zwar bedingungslos richtig sind,
aber nichts über das, »was der Fall ist«, aussagen (Wittgen
stein). Gehaltvolle Erkenntnis liefern einzig die empirischen
Wissenschaften, die synthetischen Urteile a posteriori, zurück
führbar aufs Gegebene und daran allein als wahr oder falsch
entscheidbar. Dem Philosophen obliegt lediglich, die »Form«
der einzelwissenschaftlichen Fragen und Urteile bis zur äußer,..
sten Helligkeit logistisch durchzudenken; denn durch Philo
sophie werden die wissenschaftlichen Sätze nur geklärt, durch
Erfahrung aber werden sie bewahrheitet. Philosophie wird so
Die Empiristen
Auch Weiches löst gern auf, was anders als es selber ist. Ihm ge
nügt das bloße Zählen, Greifen, Nennen, darin erschöpft es
sich. Was gegriffen wird, mag Brei sein und bleiben, ein ständig
fließend empfundener. Am sogenannten Id1 oder der Seele be
gann dieser B ick
l sachlich zuerst, setzt sich seitdem mäßig fort.
Verworn etwa schwächte, vor langem schon, alle psychischen
Begriffe zu bloßen Namen ab, die nichts Seiendes bedeuten. So
überall setzt das Denken hier bloße Zeichen, die dem endlos
Empfundenen als dem Einzigen, was ist oder vielmehr sd1webt,
nur hinzugefügt werden. Daran wirkte Machs Modell zuerst
und wurde angewandt: das Icll ist nicht zu halten, docll auch
alles in und außer ihm ist nur webend Empfundenes. Oberall
schüttelt dies Weben den harten, stellenden Begriff ab, wie der
Hund das Wasser oder vielmehr wie das Wasser den Hund, als
nicht zu ihm gehörig. Es gibt keine für sich selbst umrissenen
psychischen Zustände, es gibt auch keinen wirklicllen Scllarlacll,
erst red1t keine psyclliscll geschlossenen Krankheiten, sondern
nur die Ansicht, den Namen von ihnen, der Erscheinungen bald
hierhin, bald dorthin zusammenlegt. Es gibt aud1 keine getrenn
ten Leiber, Arbeiter, Unternehmer, Klassen; das ist die weitere
Folge solches rein ))phänomenalen« Blicks. All das existiert nimt
im unendlich Flüssigen der gegebenen Empfindung, es ist dar
aus nur in herangehaltene, handliche Gefäße geschöpft. Begriffe
werden derart reflexiv wie nie, und zwar alle Begriffe, aus
nahmslos; der Gedanke mad1t sicll klein. Nicht klein genug,
um nicht in ihm und seinen Folgen den schlauen Kreter sehen zu
lassen, der sagte, alle Kreter seien· Lügner. Indem er sich selbst
beschimpft und aufhebt, meint er, jede wirkliche Aussage zu
schlagen und aufzuheben. Und räumt doch nur jene bürgerlime
Sprache weg, die zu schwach geworden ist, um mehr zu sagen,
als daß sie nicllts mehr sagt.
Laxer, sozialer und physikalischer Relativismus
Soziale Reflexionen
Physikalischer Relativismus
Dinge. Sie ginge auf ein Taumeln der Dinge selbst, sei es, daß
dieses jetzt erst erkannt wird, sei es aber auch, daß dieses jetzt
erst, in solcher Stärke, ))erscheint((, Sicher zwar drückt auch der
Naturbegriff in erster Linie die Gesellschaft aus, worin er er
scheint; ihre Ordnung oder Unordnung, die wechselnden For
men ihrer Abhängigkeit. Diese Formen kehren auch im Natur
begriff überbauhaft wieder; so ist der urwüchsige, der magische,
der qualitativ gestufte, zuletzt r:ler mechanische großenteils als
Ideologie zu verstehen. Die mechanische Naturwissenschaft war
sogar in besonderem Maß Ideologie der bürgerlichen Gesell
sdlaft ihrer Zeit, zuletzt des Warenumlaufs; insofern wird
jetzt, mit dem Sprung dieser Gesellschaft, mit dem Andrang
unbeherrschter Materie gegen den Kalkül, auch ihr Naturbegriff
löcherig und fiktiv. Aber es ist bereits die schwere Frage, ob
dieser Naturbegriff, als verdinglichender und med1anischer,
nicht außerdem, jenseits der bloßen Ideologie, ein Stück selber
dinglichen, mecllanisierten Weltinhalt repräsentiert hat. Marxi
stisdl wird diese Frage zum Teil bereits positiv entschieden, man
traut gerade der bürgerlichen Naturwissenschaft, qua Natur
Wissensdlaft, zu, ein Stück Natur real erkannt zu haben; ob
wohl sonst überall in bürgerlicher Kunst und Wissensd1aft nur
Ideologie erscheint, mit der Wirtschaft als einzigem Kern. Am
»Zerfall« bürgerliclle r Naturwissensdlaft dagegen, am Relati
vismus Poincares, sogar an den Revolutionen der neuesten
Physik wird ein metasozialer Bezug marxistisdl oft verneint
oder nur widerwillig zur Kenntnis genommen. Das alte bürger
lidl-materialistische Naturbild bleibt marxistiscll zuweilen be
stehen; nicht nur als - im XVIII. Jahrhundert - revolutionär
geheiligt, sondern eben in der Form, wie es die gesättigte bür
gerliche Haturwissenschaft, im XIX. Jahrhundert, vor ihrer
Krise, ausnahmslos innehatte. Gerade für den alten Materialis
mus, sclleinbar noch in seiner Haeckelschen Form, hat Lenin
sein Budl >>Materialismus und Empiriokritizismus« gesd1rieben;
gegen Poincare und Macll. Vielmehr gegen deren Nachfolge
unter Marxisten, gegen jene ))Modernität«, welche audl noch
den marxistisd1en Materialismus als >>Metaphysik n
i der Natur
wissenschaft<< abzuschaffen sucllte und die Dialektik (soweit
sieüberhaupt nochbekannt war) erst redlt. Unaufhörlichbetont
La.xer, sozialer und physikalischer Relativismus
Nicht oft haben Denker ohne sich selbst begonnen. Das Abtun
seiner ist nur einzelwissenschaftlich üblich, gerät dann auch nicht
schwer. Denn Forscher brauchen nicht persönlich bedeutenJ zu
sein, nicht selber ein Stück Dasein außerhalb ihrer Arbeit zu
bedeuten. Ihre beste Eigenschaft ist Fleiß, Genauigkeit, Treue
im Kleinen; als ihr Glück gehört ihnen lediglich zu das Glück
des Findens. Dies Ichlose gilt nicht bloß für Mittlere, sondern
bis sehr hoch hinauf; ist doch der wissenschaftlichen Arbeit bis
her wesentlich, unabhängig vom erlebenden und auffasse.nden
Subjekt zu sein. Eigene Farbe, vielleicht 'Tiefe besteht besten
falls nebenher; ebenso Ortsgefühl seiner und seiner bürgerlichen
Lage in der Zeit. Daher denn die möglich nichtigen Erscheinun
gen außerhalb ihrer Arbeit; daher zum Anderen die naiven
Urteile, sobald Gelehrte zum Tag sprechen oder Historiker poli
tisch werden. Erst in letzter Zeit wurde ihnen wenigstens die
Klasse scharf, der sie zugehören.
Doch die eigentlichen Denker sahen selten so gesichtslos drein.
Ja, vielleicht zum erstenmal ist an Busserl der Fall, daß einer
ihrer Bedeutendes »leistete«, ohne es zu haben. Durch mühselige
Arbeit zunächst auf sprach- und zeidlenanalytischem Gebiet,
einem rein einzelwissenschaftlichen. (»Forscher« nannten sich
die Jünger der ersten Husserlschule mit Vorliebe; das Denken
war nodl mehr grammatisch, »die Rose ist rot« sein häufigster
Inhalt.) Sodann war das nicht vorhandene Personsein durch die
Neuscholastik überdeckt, wo nicht ersetzt, welcheHusserl durch
Franz Brentano überkommen war. Ein ganzes Herbarium ehe
maliger Vitalität, die Fülle alter Gesamtansd1auung wurde da
durch ins Forschen eingeliefert. So war in bestimmtem Sinn
auch hier nicht philosophische Person erforderlich, sondern wie
der nur das Glück des Findens; die Aufnahme vergessener inten
tio und adaequatio. Das durdltönende Plus, ohne das es keine
behaltbaren philosophischen Gedanken gibt, ist derart durch
eine Art Lombard ersetzt: und Husserl hat mit der geliehenen
Summe gearbeitet. Alle wichtigen Denker aber hatten ihr Plus
als durchtönend, als »personans«, als »Person« an sich selbst;
nicht in individueller oder audl eigenwilliger Weise, sondern
Grundstock der Phänomenologie 297
nONTOLOGIEN«
DER FÜLLE UND VERGÄNGLICHKEIT
zu sehen bekamen. Statt des Teilens und Auflösens ging der Be
griff auf Ganzes; dieses wurde im Kleinen wenigstens gesucht.
Es kam, wie bemerkt, Sehen von »Gestalt«, das breitete sich zu
näd1st nur einzelwissenschaftlich und harmlos aus, an einfachen
sinnlichen \Vahrnehmungen, am Ablauf von Krankheiten und
psychischen Vorgängen. Der Gestaltlehre ist hier das Ganze nur
mehr als die Summe seiner Teile und bleibt, als Melodie, auch
wenn alle seine Teile andere geworden sind. Das Ganze tritt, als
leibliche Konstitution, zu den Teilen auch in eine Art kausaler
Beziehung, so daß, wenn zwei Gestalten dasselbe leiden, es nicht
dasselbe ist. Wobei das analytische Denken dennom beibehalten
wird und sim auf eine Weise, die an wemselnde Modelle er
innert, mit dem gestaltsehenden austausmt. So daß eben Bazillen
und Pemvögel, Analysen und Konstitutionen, Virchow und die
Temperamente zugleim goutiert werden. Etwas ärmlich schwebt
hier Gestalt nom in der Luft, ohne daß die Welt, die ziemlich
alte Welt zu sehen ist, worin sie allein möglid1 wäre. Ein selt
samer Versum, rücksimtslos zu forsmen und dod1 komplex sein
zu können.
Er verlangt, in versduedenen Arten Sein wirklim zu gründen.
Das erst hält Gestalt als solme, als eine weder smeinbare und
zusammengesetzte nom im Fluß vergehende. Vor allem SeheZer
trieb hier Husserl material weiter, über die bloß begrifflime
Schau hinaus. Er hat zwar nimt das Zeichen gegeben, wohl aber
den Raum bestimmt, worin sim die ganze Gestaltlehre, von
Gelb, Wertheimer, Köhler, sogar Kretzsmmar angefangen bis
hinauf zu Spengler ausgebreitet hat. Und von hier wird vollends
deutlim, wozu, zu welmem Ende die scholastism-objektivisti
sche Komponente Husserls heute braud1bar geworden ist. Die
wissensmaftlime Gestaltlehre derWertheimer und anderen Psy
chologen ist davon abzutrennen ( Meinong etwa zeichnete die
Melodie und ähnlime Gruppen bereits als »Gestaltqualitäten«
aus, als weit und breit nom keine Statik simtbar war), Modell
denken war eingemischt, aum Begrenzung auf ganz bestimmte
Erscheinungen. Kretzsmmar freilich oder die mannigfame
Konstitutionslehre stehen bereits im fascistischen Übergang;
dieser wird perfekt bei den veritablen Gestalt-» Visionären« wie
Spann, dann (geographism) bei Banse und Passarge, dann bei
Onrologien
den vielen Wegen nach Rom war hier einer der metaphysischen
Halbtalentiertheit gekommen oder jeneBeziehung, welche nicht
aus Glaube, sondern aus Systemschwäche die alt-transzendente
Ordnung in ihre halbschürige einsetzte. Mit historischer Groß
artigkeit, selbst Korrektivgewalt leuchteten nun die Hierarchiet
des feudal-katholischen Idealismus auf, deren Ruhe die katho
lisch befriedete oder zufriedene Welt durchwaltet. Doch gleich
danach kam gerade dieser Kathedrale der Sprung, kam Schelers
letzte Wendung und der Untergang des Objektivismus: uner
füllte Akte rebellierten gegen das heilige Sein, der Gottesgarten
ewiger Ganzheiten verdorrte um die Gralsburg, Klingsors Zau
bergarten drang vor, Parsifal schwang kein Kreuz darüber. Der
» Drang« hob die katholische Grundkonstruktion, die Möglichkeit
einer ideal-realen Ontologie in der Welt auf; der Relativismus,
gegen den sie gegründet war, hatte gesiegt. Und zwar, da
nach wie vor Dialektik der Geschid1te ausblieb, Statik weiter
herrschte, siegte der Relativismus sogar als theologischer End
zustand; dem Untergang der bürgerlichen Klassenwelt gemäß,
auch noch in ihrer mittelalterlichen Armierung. Der letzte Sche
ler mußte die Gottesruhe der Kontemplation, die Rentner
existenz übernommener Frömmigkeit einem »moralisch-hero
ischen Atheismuscc ausliefern, einem Gott, der nicht ist und den
Mensdlen nur mehr als Kämpfenden und ungarantiert Hoffen.:
den, nicht mehr als Gläubigen hat. »Das große Sehen, das durch
die Welt gehtcc, verlor seine Gegenstände, den gesamten Nach
schein gestufter Harmonie. Der einsame Mensch in einer zusam
mengebrochenen Ideenwelt: diese »Anthropologie« blieb das
letzte Wort und die Zuflucht einer Phänomenologie, welche
bud1stäblich mit Gott und der Welt ausgezogen war. Welche
allen Subjektivismen und Relativismen gegenüber strengste
Ontologie hatte gründen wollen, Lehre der ontischen Veste.
Bald danach ging ein anderes Sehen einwärts, schränkte sich
aber sogleich darauf ein. Heidegger hob von vornherein mög
liches Sein nur als innen »befindlidlescc aus, ja, als ein auch hier
fragwürdiges, als Sein der Angst. Er lombardiert nicht Thomas,
sondern Kierkegaard; so eben brechen protestantische Züge in
der Seinsschau vor (die so lange nur katholische gekannt hat
te). Protestantische, selbst augustinische Innerlichkeit (von
Ontologien 307
Auch manch älterer Blick sucht hier, was ihm nod1 geblieben sei.
Nimmt sieb selbst ins Auge, spiegelt erst recht einsam und er
innernd. Sind die wirtschaftlid1en Verhältnisse sicher, sagt 'Jas
pers, so breitet sid1 der Sinn aus und vergißt, bedingt zu sein.
Sind sie unsicher (wie heute doch scheint), so wendet sich
J aspers, als letzter Phänomenologe, erst remt von ihnen ab -
ins rein Mensmliche, einsam Höhere und Gebildete. Der ))Sinn«
ist dann allein bedingt vom jeweiligen Träger, vom frei wählen
den Menschen, er drängt sid:t nicht mehr auf. Wissenschaft als
Beruf hat ohnehin nicht bekennerisch zu sein, doch auch Philo
sophie wird nur mehr als Philosophieren anerkannt, und höch
stens als sokratisches. Ja, in seiner >�Psyd:tologie der Welt
anschauungen« hatte Jaspers nicht einmal so viel zugegeben,
sondern war noch völlig unwertend, einzelwissenschaftlich
positiv. Er besd:trieb die großen Gedanken als rein psychisd:te
Gebilde, wie sie nun einmal da sind, ordnete sie bestimmten
Typen zu, blickte nur durch diese Typen auf die Welt, führte
Sinn zum Aussuchen, entsd:tied sich nicht oder nur unmerklich
und glaubte außer an die psychologisd:te Wahrheit an keine.
J I1 Existenzerhellung und Symbolschau
absurdum; sie weiß von ihnen nichts mehr, sie reißt sie aus jeder
Hierarchie heraus, sie stellt sie als Schriftzeichen ( nid1t mehr als
Statue n) in ein versuchtes »Diesseits als Wunden<. Erjagt hier
spätbürgerlid1es Gefühl nichts als sich selbst, wird das Probte tri
einer dialektischen »Bilderlehre« am Einzelnen wie am Ganzen
diese »Metaphysik<< vorübergehen, so am kosmisdlen Sdlrift
problem (dem die Phänomenologie Zoll zahlt) nicht.
Nicht nur trauernd sieht dieser Mann, wie alles hingeht. Er ist
ebenso zufrieden damit, in der Leere red1t scharfen Wind
zu machen. Blühende Wege ging Spengler geschichtlid1, fürs
Heute bleibt ihm nur der wilde Mann. Der kalt anfängt, dann
so fortfährt, als hätte es nie geschichtlichen Bau und Kleider
gegeben. Der Bau vergeht, wamsend tierisch tritt das soge
nannte Leben vor.
Zuerst sollte der heutige Mensch zwar kalt, doch auch red:tt
geschäftlich sein. Spengler, selbst alles betrachtend, gönnt dies
anderen nicht, sondern preist die Tat. Eben die großkapitali
stische, auch die des technischen Verstands; für Wildnis schien
1 9 1 8 die Lust vorbei. Aber auch unblutige Wildnis wurde nid:tt
gestattet; da der Sommer der Kultur vorüber, war sinnlos, zu
malen, zu musizieren oder zu did1ten. Keine >>Zeit<< im Abend
land mehr zu Traum; diese These setzte ein Bürger, dem seine
untergehende Klasse jede ist und sein besiegtes Land das Abend
land schlechthin. Die Untergangsthese sollte durch kein Allotria
in1 Unterrimt, durm keine phantasievolle Berufswahl gestört
werden; das verlangten Spenglers Lehrplan und das duo
nologische Schicksal. Im Pauschal erhielten alle künftigenTalente,
Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten 319
Beim Lob des Kontorstuhls war noch die Frage: ob es dazu sol�
ches - Umwegs bedurft hätte, ob es dreier »Kulturseelen«
bedurft hätte, um solche rochers de tombac zu stabilisieren?
Jedoch noch stärker erscheint diese Frage vor der Raubtier�
Philosophie berechtigt, zu der Spenglers Schau zuletzt zerfällt;
und noch weniger bleibt von aller abendländischen Kultur zu�
rück. Spenglers Mann der Spätzeit ist nid1t einmal Zivilisations�
bestie, wie nod1 Cecil Rhodes, sondern eine ganz nackte, eine
dampfende vor allem; ja, eine Art Mißgeburt, ein Krokodil mit
heißem Blut. So oberflächlich und summarisch, wie selbst an ihm
ungewohnt, dekretiert der Spengler von t93 2 ,, Vitalismen«,
deren Falsmheit nur noch von ihrer Banalität, deren Banalität
nur noch vom Zynismus hemmungsloser Ausbeutung übertrof
fen wird. Nun sondern sich endgültig die Böcke von den Schafen,
nun herrscht die ))vornehme Gesichtsethik« des Raubtiers über
die ))feige Gerud1sethik« der Beute. Nun ist »die eigentliche
Menschenseele jedermanns Feind«, denn »sie kennt den Rausch
des Gefühls, wenn das Messer in den feindlichen Leib schneidet,
wenn Blutgeruch und Stöhnen zu den triumphierenden Sinnen
dringen«. Nun ist, in kaum glaubhafter Hysterie, jede Greuel
propaganda über Deutschland bestätigt; und zoologischer Un
sinn aller Art kommt recht, um die ))Nacht der langen Messer«,
welche die Nazis verkündet haben, vorweg zu ideologisieren.
,,War' nicht das Auge sonnenbaft, wie könnt' die Sonne es erblik
ken<<, sang Goethe und wußte noch nichts von der ••Gesichts
ethik« des letztenDeutschen oderdem l'art pourl'art desMords.
Im ,,Untergang des Abendlandes«, als Antiquar, war Spengler ein
Gesang erhabener Stile, eine Sammlung von Kulturgärten quer
durch die bebaute und durdlformte Erde; nun lehrt der Anti
quar, den man mit Herder und Hege! verglichen hat, den .Men
sdlen als Gebiß, den Nebenmenschen als Rohkost, und alles
andere: die Athenamünze, die arabische Kuppel, die abendlän
dische Geometrie der Nacht- ist so vergangen, als wäre es nidlt
einmal gewesen. Windelband sprach einmal vom ))Didlter F.
Nietzsme« als dem nnervösen Professor, der gern ein wüster
Tyrann sein möchte«. Dieser Satz ist an Nietzsche ein Skandal,
aber am letzten Spengler kommt er nach Hause. Bei ihm lebt, als
Subjekt des ,,germanischen Endes<<, nicht einmal die blonde
Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten
Auch sonst hält das Ich nicht still. Daher sein Wühlen; von ihm
her beginnt nun, nodunals, eine Suche von vom. Doch mit an
derer Lust als der blassen des Zweifels. Statt seiner fassen sich
Triebe, die nichts zerfällt. Es muß ihnen vielmehr Platz ge
macht werden.
Das alles war im Rausd1 bereits, als dumpf. Licllt fiel nur
scllief, gleichsam zufällig herein. Hier nun erscheint es an Ort
und Stelle, als eigenes, das sozusagen Dunkel denkt. Dies Denken
geht in sein Gegenteil, um darin aufzuhören. Zieht seinen Sclllaf
nicht nur über Müde, aucll über Wache, am Morgen, wenn es
schon hell wird. Wenn alle Bilder ein Heute spiegeln, auch dort,
wo sie sich abkehren. So später Sdllaf stärkt selten, träumt nur
unruhig. Dünne Wand überall, wirrer Lärm dringt herein.
D E R GESPRENKELTE URFLUSS
Mancher scheint sicll ohne Blick schon richtig. Ratet dem Kopf,
sich zu legen, in Traum zu legen. Dahin zog Klages vor allem,
bequem, mit papierenem Gesang, auch verführend durcllaus.
Das bewußte Ich soll aufgegeben werden, dann crsmeint ein
Abgrund sozusagen. Worin alles Rausch ist; einer, der sich nicht
vorwärtsbewegt, der auf der Stelle tritt, vielmehr, auf der Stelle
quillt. Jede Art Wachheit, die gesamte Kultur wird als bloßer
gehemmter Trieb verneint. Der Denker Klages will sie mitsamt
der Wurzel abtragen.
Der gesprenkelte Urfluß 33 1
Seele ist Schauung- sie schaut aber die Wirklichkeit der Urbilder
- Urbilder sind erscheinende Vergangenheitsseelen zum Er
-
Das also gibt vor, lauter bunter Trieb zu sein. Lauter alter und
breiter, der das Heute scheinbar ausläßt. Zuerst war Klages
nicht so allgemein oder zeitlos; er sah sich, auf seine Weise,
durmaus in1 Leben um, gerade unter den einzelnen Iehen von
heute. Schriftdeutend, charakterforschend, winzige Teile eines
individuellen Daseins isolierend. Andere Triebfedern des Heute
wurden nid1t bemerkt, andere Instanzen nicht gedeutet. Über
stieg Klages daher die Mauern der Handsduift, des Charakters,
so lag die gefundene Burg nid:tt mehr in der Zeit, sondern ganz
und gar rückwärts. Der Trieb ohne Verstellung, der Charakter
ohne Zaum stampfte dann allerdings vorgesduchtlicll. So näm
ich,
l wie der miide Bürger sid:t als gewesenen Mensd:ten wünscht
und denkt, wie ihm Wildes und Buntes nachglühen. Die guten
Züge dieses Anfangs werden derart aus erbitterten Träumen
gemalt. Nicht so sehr aus Fülle, die selber eine ist und daher
vergangene trifft, zur Sprache bringt.
DerMensch soll hier nur ein ganzer sein, wo er rast. So voll und
ursprünglid1 war er angeblich vor zehntausend Jahren und mehr,
nämlich als rauschhaft. Aber hat es diesen »ursprünglichen«
Romantik des Diluvium 335
Seitdem geht der tl'äumende Trieb noch tiefer um. Man baut
auch seelisch den Tag ab, um zu diesem Dunkel herunterzu
stoßen. Ärzte zum Beispiel bewundern an Irren das Dunkel oft
mehr, als sie es heilen; so in mancher neueren Schule, in der
Jungs vor allem, die aus Freud ausgebrochen ist. Auch hier ist
der untere Mensch der wirkliche und der Kopf nur richtig,
wenn er wieder singen kann, was die Leber meint. Oder das
Herz; denn die Lichter werden umgestellt und sie bescheinen
sehr alte Dinge. Mancherlei Traum spült sie von unten herauf,
er kann nicht unbewußt genug sein.
Zwar auch Freud war nad1 unten gegangen, ja, er nahm zu
erst den Traum als Weg. Erst recht setzte er den Trieb als
Grund, den Geist als Reflex; aud1 seine Welt ist dunkel und der
Trieb als Libido genügend >>irrational(<. Aber baute Freud auf
den Grund ab, so geschah das nicht mit den Mitteln des Grunds,
sondern mit hellstem, analytischen Bewußtsein. Und der Gang
ins Unbewußte war ihm erst recht nicht die Heilung, sondern
heilend ist allein das schärfste Bewußtsein, sofern es die ))Kom
plexe«, also gerade die Unbewußtheit des Unbewußten durch
sticht. Dagegen nun gehen heute die Liebhaber des Traum
dunkels an, die Prinzhorn, Jung, Klages, die offenen oder
Krypta-Fascisten der Psychologie. Sehr interessant hier, wie
die Fascisierung der Wissenschaft gerade jene Elemente Freuds
ändern mußte, die noch der aufgeklärten, materialistischen
Periode des Bürgertums entstammen. Das fängt schon mit dem
Imago als Schein aus der »'Iiefea 345
Trieb selber an, er ist bei Jung nicht nur geschlechtlich, sondern
gierig, wild und träumend schlechthin. Vor allem ist das Unbe
wußte hier nicht mehr individuell, also kein erworbener Zu
stand im einzdnen, gleichsam liberalen Menschen, sondern ein
Schatz der rezent werdenden Urmenschheit; es ist ebenso nicht
Verdrängung, sondern gelungene Rüd{kehr, nicht Ursprung
der Neurose, sondern gegebenenfalls deren Heilung. Freud geht
diesen DQnkelfreunden gerade zu wenig weit zurück; denn e.r
sieht nur die gefälschte Person des XIX. Jahrhunderts und
glaubt sie geheilt, wenn er sie auf den bürgerlich-normalen
Menschen von heute bringt. Er sieht die Verlogenheiten der
Plüschzeit in theoretisd1 ziemlich ähnlicher Linie wie die dichte
rische oder religiöse nLüge«, nämlich beides nur als uSublimie
rungen«, mit verdrängter Libido als Kern. Jung dagegen über
springt diese aufgeldärte, auch allzu aufgeklärte Entzauberung
und sucht das Recllt, ja, genau: das Urrecht der künstleriscllen
Phantasie, der religiösen Mythen; er sucht es eben im Unbe
wußten, als dem nunabdingbaren« Urwert der Traumwelt.
Bereits die sexuelle Libido wird hier bürgerlich geschönt, Jung
nennt sie uLiebe«, manchmal auch >>psychische Energie«
schlechthin; das klingt nid1t mehr anstößig. Therapie aber ist
Rückkehr ins Unbewußte mit bestem Gewinn, das heißt: der
neurotiscll Amoralische hat seine verdrängte Anständigkeit zu
rückzunehmen, aber der Neurotiker aus Moral ( der häufigste
Fall) muß sich mit seinem unterirdischen Dämon gerade da
durch auseinandersetzen, daß er sich mit ihm zusammensetzt.
Das nAcherontische<<, das Freud seiner Traumdeutung nur als
Motto vorgesetzt hatte, wird dergestalt von seinen fascistischen
oder krypto-fascistischen Namfolgern, von den Benutzern
Bacllofens und der Romantik ins Tempelinnere selbst gebramt.
Wobei freilich die ebenso unabdingbare Bedeutung einer Person
den Dunkelfreunden einen Streidl spielt, den sie noch im Tem
pel selbst verspüren. Denn eben der alte Freud, der Lehrer des
nTodestriebs«, pflückt kraftseiner bedeutenden Person zuweilen
Früchte des Altwerdens, geht gerade in »Tiefen« , wie sie seit
dem letzten Goethe kaum formuliert worden waren: wogegen
Jung, mit seinem »ozeanischen Gefühl«, mit einer Tiefe, die sich
unaufhörlich als solme bekennt, die aus lauter Tiefe noch »alle
Imago als Schein aus der »'Iiefe«
Von hier ging die ganze lebende Lust erst an. Als verwandter
Blick auf Fließendes, möglichst mitten in ihm darin. Das Erleb
nis, worin ein Stück Zucker vergeht, ist bei Bergsan denkend
geworden. Hat seinen Quell im ungeteilten inneren Strom, als
dem gleichen, der im Ionern aller lebenden Dinge hochsteigt.
Mittels seiner läßt sich in diesem Ionern zugleich auftauchen:
mitlebend, mitverstehend, hineinversetzt, sympathisd1. Der Be
trieb, dem es gut geht, gibt sich als schwunghaft und blühend.
Flüssig wie das Leben, noch flüssiger will hier Denken sein.
Ein Wallen und Fluten instinktiver Kenntnisse, die sich jeder
Wendung anpassen. Getroffen wurde damit das Erlebniswirk
liche zunäd 1st, das Durdleinander seines Jetzt und Vorbei.
Sodann aber setzte sich ein Begriff ein, der das bloß erlebnis
wirkliche Belieben so ausrichtete wie füllte: der des gärenden,
352 Bergsons Elan vital
\
großen Vitalisten doch erwartbar gewesen wäre). Die erste Phi�
losophie Bergsons bleibt wesentlich eine des Unterneh'mer�
schwungs, eine der vielen Scheinimpulse des Vorkriegs, wohinter
nid1ts steckte als Rekordbruch, Ziellosigkeit und Verdeckung
des einzig wirklichen Ziels: des Profits. Die zweite Philosophie
dagegen reduziert den Unternehmerschwung - quixotehaft und
leicht großartig - auf Zielinhalte der Französischen Revolution
zurück; ja, der späte Bergson kennt beherrschte Technik (zum
Unterschied von der »tragikomischen Halbheit des heutigen
Zustands«) undZieldenken, wenn auch eines verblüffender Art.
Was dem ewig Neuen, folglich ewig Leeren des Elan vital -:las
Fremdeste war, nämlich Plan und Zielinhalt: das siegt zuletzt,
gemäß Bergsons phantastischer Weltdefinition: »l'universe une
macbine a faire des dieux<<. Eben mittels der technischen Ver�
nunft vollzieht sich der Übergang aus den >>organischen<< Gesell
schaftsweisen, geschieht der Sprung aus der nsociete close« in
die menschlich gewordene der nsociete ouverteu. Denn die
soziale Entwicklung hat sich nach Bergson in die societe close
von Familie, Stamm, Nation verkapselt, in eine gegen alles
Fremde abgeschlossene, nur sich selbst, nicht die Totalität wol
lende Gemeinschaft. Gerade diesem Naturzustand, einem Still
stand gegenüber, der sich souverän, gar die organische Fülle
selber dünkt und doch nur habitude ist, bejaht Bergson die
sprengende Technik, als ebenso geleitete wie vernunfthaft orga
nisierte. Als organisierte mit dem Zweck: den Elan vital aus den
societes closes zu einer societe ouverte überzuführen, den Le
bensstrom aus den Partialitäten bloßer Natur-Abhängigkeit zu
einer Freiheit zu befreien, welche nid1t einmal eine halber Men
schen ist, sondern ganzer -Götter. Der offenen Gesellschaft ent
spricht daher die »dynamische Religion<< : wie das red1te Leben
sid1 von Familie und Clan abhebt, so wendet sich die rechte
Frömmigkeit von den Göttern des Banns ab. Die »Liebe« des
NeuenTestaments steht übertreibend auf gegen die (völlig juri
stisch gefaßte) »Gerechtigkeit« des Alten; dynamische Religion
ist Mystik, nicht Mythologie, ist Kampf gegen alle Hypostasen
der Abhängigkeit, gegen alle Fabelwesen unwissender Selbst
entfremdung, gegen alle Transzendenz der Gewordenheit. Sie ist
Mystik des im eigenen Ionern zu entdeckenden Lebens: so löst
Bergsans Elan vital 355
Wir, mit unseren aufbauenden Kräften, sind jetzt mehr als das
bloße Leben. An uns kräftig Gesammelten allein ist, zu raten, zu
helfen, zu entscheiden, was nAuftriebcc ist. So geht es gerade zur
Tat, j a zur erst verachteten Maschine hinaus, zum Vergewal
tigen des Lebens, damit es Leben sei. L'homme vital gleicht nicht
jenem horazischen Bauern, der vergebens darauf wartet, daß
der Fluß abfließt; er wird noch weniger vor den ewigen Türen
des ewigen Lebendigseins antichambrieren statt die Zeit zu
überholen und den Mangel ihres Wohin zu füllen. Der beschleu
nigende Mitgang, um anzukommen, vertieft sich so gut und
besser als die nlntuitioncc in den Fluß, in die Dauer und das Wag
nis des Prozesses; aber er nimmt ihm die Eitelkeit des unabge
schlossenen Affekts, die ziellose Apotheose der Unordnung. Die
Aktion, welche die >>Tendenz« logisch verdeutlicht und real be
herrscht, führt gerade in eine andere Tiefe des Lebens, des vom
Rationalismus des Irrationalen, durchstrahlten Lebens, als sie
das bloße Beteuern des noch rein vitalistischen Bergson gewon
nen hatte, der das »Lebencc stets nur im Gegensatz zu »Begriffcc,
»Zwange<, »Ballast«, »Mechanismus« definiert hatte oder so
hilflos negativ wie Ovid das Chaos: damals gab noch keine
braune Kuh süße Butter. Seit freilich Bergson menschliche Be
stände in den Elan gebracht hat (seien es selbst übermensch
liche), ist auch die »schöpferische Unordnung« (das ist der
Un-Sinn: Zweck oder Ziel mit Kausalbann als »mechanischcc
gleichzusetzen) fast verschwunden. Die Angabe einer überall
vorhandenen, nur »vom Schlaf der Weltmaterie belauertencc
Bergsons Elan vital 3 57
D E R I MP U LS NIETZSCHE
Hier griff das schlecht lebende Ich sid1 selber an. Das bürgerliche
Ich, das sich will und nicht will, je nachdem, ob es von sich genug
hat oder nicht genug von sich bekommen kann. Der Ruf Leben,
er sagt so wenig und meint so viel, ging von Nietzsche aus. Die
ser schrie die Leere, die sonst nur an sich litt.
Über Weiche kam das zuerst, sie sted{ten sich einen Mann an.
Ein herrsdlendes Idl, das man im Traum werden mödlte, dem
man, wach, dient. Die Herren selbst aber fanden im Übermen
schen bald das Ihre, den nackten und verklärten Ausbeuter.
Ohne Gefühle des Mitleids, ohne humane Phrase; so hat der
übermensdl gewirkt, so fühlte er sidl tatsädllich. Nietzsdle
meinte es anders: er malte das Vornehme (statt des Guten) zu
künftig unbestimmt. »Wirf den Helden nidlt fort in deiner
Seele(( ; jedoch die blonde Bestie, in dieser Zeit verkündet, konnte
gar keine Seele haben und war imperialistisch. Insofern ist der
Übermensch ehrlich; aus seiner Klaue erkennt man nicht den
Löwen, wohl aber den Unmenschen, und wessen man sich von
ihm zu versehen hat. Die Lüge fiel ab, die laue Mitte hörte auf,
in einer Zeit bereits, die die Peitsche nur gebraucht hatte, wenn
sie zum Weibe ging.
Weiter aber ist der harte Mann hier ebenso gelöst wie er
Der Impuls Nietzscbe 359
Heiß zog sich dieser Wille zu leben auf sich selbst, nämlich
aufs Wilde zurück Teils, größten Teils, weil er als bürgerlicher
beim Denken, beim geschimtlichen Weitermachen nur zu ver
lieren hat. Teils aber auch, weil in der Tat das nBewußtsein« nur
ein Licht auf dem Weg ist und nicht der Wanderer selbst. Als
der Wanderer ersdlien bei Nietzsche Dionysos, das ist der
mythologische Name für das historisch verdrängte, unterschla
gene, geschwächte, mindestens abgelenkte nSubjekt«. Am Le
bensgott erst, der sich überhaupt nicht aufs Bewußtsein einließ,
der auf keinerlei Analyse hörte, der ihre Sprache a limine nicht
verstand, schien der Nihilismus ohne Macht. Ja, gerade aus dem
Abbau des Abbauenden selber, aus dem radikalen, nämlich vor
logischen Anfang selber schien das Grundwasser zu steigen, das
kein Begriff mehr verdampft. Freilich: aus welchem nAnfang<<
stieg das? - doch nur aus einem, den die Flucht vor jedem Begriff
aufzudecken scheint, in einem erträumten Außerhalb von
Gesd1ichte und Vernunft. Weiter: welches ))Subjekt« erschien in
Nietzsches ))Trieb«, nLeben«, sogar in Dionysos? - doch nur das
Der Impuls Nietzsdte
Nietzsche zwar richtet den Antichrist nur gegen Apollo und die
Folgen, nur gegen den klugen und Lichtgott; er trennt, -biblisch
gesprochen, den Baum des ,,Lebenscc vom Baum der ,,Erkennt
nis« auch hier. Wer aber ist der wahre Antichrist, den Nietzsche
so seltsam in Dionysos feiert, als den Weinstock des aufgehen
den Lebens? Antichrist dieses Sinnsist die erste Schlange, welche
vom Apfel essen ließ, indes auch jene zweite, lichtbringende,
welcher ,,zeuscc am Kreuzesstamm zum zweitenmal den Kopf
zertrat: der wahre »Antichrist(( des dionysischen Sinns, des Eritis
sicut Deus ist-J esus. Das ist ))Dionysos, der Gekreuzigte«, dar
auf dringt die einzige Erkenntnis, aus den 'liefen der christlichen
Ketzerei, und zwar der ältesten, ))ophitischen «, schlangenkun
digen, weld1e der ,,Auferstehung und dem Lebeace gemäß wird.
Dieser Christus ist der Verkünder einer unbekannten mensch
lichen Glorie, heller als daß sie der gegebene Leib noch equi
librieren könnte, gar die jetzt seiende Welt. Er ist die Eroberung
der Menschenglorie noch hinter dem geringsten und unerwartet
sten Fenster, und gerade dort, gerade m i Paradox des ganz und
gar Unerwarteten, nicht im zufriedenen Maß des bereits Er
schienenen, Herrschenden, Satten, wozu ihn die Kirche gefälscht
und entspannt hat. Der Jesus der Ketzer, also der echte, der Jesus
von dem die ))Ophiten« als Grundketzer geglaubt hatten, es sei
Der Impuls Nictzsdte
Hier s
i t dauernde Überschneidung des eingestürzten
Vorher, Nachher, Unten, Oben, und dahinter eine Fin
sternis. Romane der Wunde1·lichkeit und montiertes
Theater (S. 141)
D I E HAND IM SPIEL
Zu viel sieht man um das her. Es ist sehr bunt, was oben zerfällt.
Schreit, träumt, schlägt nach links und rechts zugleich. Kommt
aus der Leere nicht heraus, sondern macht sie fratzenhaft. Kräu
selt selbst die Flucht, welch� zurück will.
Geht alles schief, so bleibt auch der Fluß nicht gerade. Formen
brechen und schillern, Rauch von heute wallt auf, Nebenbei
macht sich wichtig. Eben die »Revue(( kommt derart, über den
Masken, denkend wieder; sie wird als Form logisch benutzt, um
Ineinander zu spiegeln. Eine philosophische Hand wie die Ben
jamins greift in dies Niedere hinein und in das Nebenbei, das
es kenntlich macht, zeigt daraus Dinge her, auf die ein vernünf
tiger Mann vor zehn Jahren kaum gekommen wäre. Wie in der
Dichtung, so im Gedanken taucht Wunderliches auf, betrifft sich .
Und nicht bloß der Dämmer spukt, der heute oben ist. Auch
die Zeit, woher wir kommen, die der Eltern; sie geht gespen
stisd1 auf und nieder. Doch ebenso mittelbar wurde das vorige
Jahrhundert merkwürdig; nämlich malerisch, poetisch, philo
sophisch, als surrealistisme Entdeckung. Sie liefert Reizstoffe,
man weiß noch nicht, für was; sie befruchtet einen höhnischen
Zauber, man weiß noch nicht, wozu. Das geschieht in einer
Garde, die aus der Oberschicht ausbrach, die mit der eben ver
gangeneo Zeit ihr Felder düngt. Was damals gefiel, bekommt
heute den Ausdruck grauenvoller,- dod1 wichtiger Träume; was
damals fühllose Mischung aller Stile war, wird heute quer mon
tiert. Desto merkwürdiger, als die meisten dieser Benutzer
Revueform in der Philosophie
Wo sie sich bildet, geht man recht heiter mit. Dann stört etwas,
wird gleich nebendran anders, biegt von neuem um. Derart er
geht es uns beim ersten Versuch, den Benjamin dieser Art unter
nommen hat. Spielende Vergleiche fehlen nicht, obwohl sie es
könnten. Auch die ernsten kommen nicht immer nach Hause,
vielmehr auf die Straße, die hier läuft.
Anderes ist teils zu eigen, teils klingt es unnötig an Altes an.
Eben in der Schrift ))Einbahnstraße«, die Benjamin erscheinen
ließ, und die hier als Typ für surrealistisd1e Denkart steht. Ihr
Ich ist sehr nahe, aber wechselnd, ja, es sind recht viele lebe;
ebenso setzt fast jeder Satz neu ein, kocht anders und anderes.
Die Schrift bedient sich höd'lSt moderner Mittel, mit später Gra
zie, für oft abseitige oder verschollene Inhalte. Ihre Form ist die
einer Straße, eines Nebeneinander von Häusern und Geschäf
ten, worin Einfälle ausliegen.
So etwas mochte nur heute wachsen, ohne selber ein Nebenbei
zu sein. Nur heute läßt sim innere, vor allem gegenständlime
Schrulle wichtig nehmen, ohne daß sie einsam, unmitteilbar,
unfaßbar bleibt. Denn weithin ist die große Form abgestanden;
altbürgerliche Kultur mit Hoftheater und geschlossener Bildung
blüht nicht einmal epigonal. Von der Straße, dem Jahrmarkt,
dem Zirkus, der Kolportage dringen andere Formen vor, neue
oder nur aus verachteten Wmkeln bekannte, und sie besetzen
das Feld der Reife. Genau brach der Clown ins sterbende Ballett,
die leichte Wohnmaschine in die lange schon toten Stile, durch
brochene Revue in den alten, schön gesmlossenen Bühnenbau.
Unmittelbar enthielt Revue zwar wenig außer ihrer ))Lod{e
rung« ( und aum diese läßt sich wieder festsmrauben ). Kein
neuer ))Mimus« ist aus der Rt.vue entstanden, sie diente über
wiegend Amüsierpöbel und war amorph wie dieser. Aber
Revueform in der Philosophie
Landschaft dieses Versuchs. Hier ist deshalb nicht bloß eine neue
Geschäftseröffnung von Philosophie ( die vordem ja ){eine Läden
hatte), sondern eine Strandgut-Orgie dazu, ein Stück Sur
Realistik der verlorenen Blicke, der vertrautesten Dinge.
Sieht man aufs kleine Ganze zurück, so steht es für manches,
das heute nicht kam. Ein Denker spürt Einzelnes genauestens
auf, prägt es scharf aus, um dennoch kaum zu sagen, wofür denn
die Münze gilt. Er gibt Schriftbild-Werte ohne bürgerlichen
Kurs, ohne noch faßbar anderen; sichtbar ist anarchische Bedeu
tung und die Bedeutung sammelnder, im Zerfall wühlender,
rettender, doch substanziell unausgerichteter Betroffenheiten.
Der gleiche Blick, der zerfällt, läßt den vielfältigen Fluß zugleich
gefrieren, verfestigt ihn (mit Ausnahme seiner Richtung) , elea
tisiert noch die Phantasie Variantester Verschlingung; das macht
dies Philosophieren gleichmäßig medusisch, gemäß der Defini
tion Medusas bei Gottfried Keller: als »der Unruhe erstarrtes
Bild«. Geht aber »Revue« mit Strom durchs surrealistische Phi
losophieren hindurd1, dann kommt durchaus, an den geretteten
Trümmer-Bedeutungen, ein anderes 11Kaleidoskop« ans Licht.
Denn die Hohlräume unserer Zeit (wie bereits des XIX. Jahr
hunderts, dessen Spuk-Allegorie ins surrealistische Philosophie
ren überall hereinragt ) liegen nicht im selber Leeren, sondern
im Reich konkreter Intention, materialer Tendenz, als einer
keineswegs unbestimmten. Benjamins Philosophie läßt jede In
tention den »Tod an der Wahrheit« sterben, und die Wahrheit
gliedert sich in gestillte »ldeencc und ihren Hof: die 11Bilder<<.
Indes gerade echte Bilder, die scharfen Angaben und präzisen
Tiefen dieses Schrifttums, seine zentrale Abseitigkeit wie die
Funde seiner Querbohrung wohnen nidlt in Sdmeckenhäusern
oder Mithrashöhlen, mit einer Glassdleibe davor, sondern im
öffentlid1en Prozeß, als dialektische Experiment-Figuren des
Prozesses. Das surrealistische Philosophieren ist musterhaft als
Schliff und Montage von Bruchstücken, die aber recht plura
listisch und unbezogen solche bleiben. Konstitutiv ist es als Mon
tage, die an wirklichen Straßenzügen mitbaut, dergestalt, daß
nid1t die Intention, sondern das Bruchstück an der Wahrheit
stirbt und für die Wirklichkeit verwertet wird; audl Einbahn
straßen haben ein Ziel.
.
RETTUNG WAGNERS
DURCH SURREALISTISCHE KOLPORTAGE (1929)
Traum, worin sie steht. Er überzieht heute das Bild ihrer Nip
pes; die Kindheit, woher er stammt, hatte in dem selber Hohlen
und Spukhaften des vorigen Jahrhunderts sehr guten Platz. Ja,
auch die Erwachseneo lagen damals im Bett, das Bürgertum lag
im Adelsbett; außerstande seine eigene Form zu haben, träumte
es alte Kultur nach, mit überfülltem Magen, ohne Zusammen
hang mit dem sehr nüd1ternen Arbeitstag. Der Kapitalismus
und seine Technik, der die überkommene Kultur zerstört hatte,
gestand sich noch nicht; neue Kräfte, die gerade aus dem kultu
rellen Hohlraum hätten schaffen können, waren noch nicht ge
kommen, vom Einsturz regierte nur der Staub daraus, der sich
zu dekorativen Wolken bildete. So kam dieser Traumkitsch
(nach dem Ausdruck Benjamins), aus allen Stilarten überein
ander gelegt, diese unsägliche Übersdmeidung historischer Ge
sichter, diese eigentliche Kitschmythologie, an der nicht einmal
mehr ideologisme Wahrheit ist. So kam vor allem das zweite
Merkmal der guten Stube, an und über dem Traum: nämlim der
vollendete Schein. Dieser aber ist, außer der bloß subjektiven
Lüge, nicht nur Flucht und widerlichstes Falsifikat, sondern er
entzauberte die Mythen, die der Kapitalismus zerstört hat,
nochmals durch vollendeten nästhetischen« Nicht-Ernst an ilmen.
Ohne das ebenso Auflösende wie Abhebende, Objektive dieses
Falschtons wäre die Musik im Biedermeier oder formalen Epi
gonenturn untergegangen, privat, gesellschafts- und inhaltslos;
Mendelssohn, Schurnano und Bessere sind davon das Zeichen.
So jedoch verband sich Musik mit der Traumkollektive der Zeit,
fand sich mit ihren Scheinsymbolen zusammen: mit Fronten
und Interieurs, die nicht grundlos Alkoven, Schreckverstecke
und wollüstig waren, mit Handel und Gewerbe als veritablen
Göttern, am Bankportal ausgehauen, mit Renaissance, die im
XVI. Jahrhundert keine Portieren hatte, die man aber m
i XIX.
nur als Portiere verstand, mit der Ludwigshafenia als ngeglaub
tercc Stadtgöttin, mit Traumgewirr und Bruchemblemen, mit
der Edda als maskiertem Zeitinhalt. Aus Dekoration kam diese
seltsame Form von »Allegorie((, die gar keine ist, wenigstens
nicht im üblichen Sinn, wie man ihn vom Klassizismus her kennt.
Im überfüllten Schein des XIX. Jahrhunderts sind Traumtränke,
Kyffhäuser, Fafner keine Versinnbildlimung von Abstraktionen,
374 Rettung Wagners
wie es noch die Allegorie des Biedermeier war, also keine Ab
mattung von geschauten Symbolen zu bekleideten Begriffen.
Sondern die Fülle historisch-mythischer Art eben ist die Einle
gung scheinsymbolischer Nachgeburten in Traumkitsch; der
ist von allen Göttern verlassen, im guten wie schlechten Sinn,
schwebt aber dennoch in einer Zwischenschicht von »Maske
rade«, die mit vollem Nicht-Ernst Symbol-Mythen reprodu
ziert, nicht mit halbem Ernst Allegorien denkt. Auch das eigen
tümlich »Große<< der Zeit, ihrer Zimmer, Bildformate, Möbel,
vor �llem Wagners selber stammt aus Maskenschein oder viel
mehr aus dem dekorativen Mythos darin, der seinen panhaften
Raum hindurchwarf. Der Schein selbst wirkt schon m i ersten
Schwindsehen Dekorieren, sättigt sich an der Theater- und Hi
storienmalerei, wird dreidimensional in der großen Oper, kul
miniert vierdimensional bei Wagner, allegorisiert sich wieder
bei Klinger und Böcldin, erheitert sich bis zu dem leichten Glüh
duft bei Strauss, stabilisiert sich zu dem so ganz anderen, gefrore
nen Wagner-Dunst im George-Kreis, zum hohen Goldschnitt.
Aber das Grundwerk des guten Stuben-, des großen Salonscheins
ist und bleibt der Ring: er steht in so dichter Theatralik, daß er
fast etwas von Wirklichkeit an sich hat, weshalb Wagner seinen
absoluten Schein ja auch gegen Meyerbeers Halbheit ausspielen
konnte, das ist, gegen den bloßen Effekt als »Wirkung ohne Ur
sache«; Wagner kämpfte gegen Meyerbeer mit fast den gleichen
Gründen, womit Nietzsche wieder den »Schauspieler« Wagner
entlarvt. Wagners Musik hat ihre »Echtheit« gerade in diesem
vollendeten Schein; nicht nur nach seiner illusionistischen, son
dern, worüber jetzt drittens zu sprechen ist, auch nach seiner
physiognomischen Seite, gegen das Sicht- und Sinnproblem hin.
Als vollendeter der guten Stube ist er zugleich ein rätselvoller,
zum Rätsel gewordener Schein, eine Hieroglyphe im Hohlraum
des XIX. 'Jahrhunderts. Bereits den E>..'Pressionismus hat nur die
Kürze seines Lebens daran gehindert, in Kleinbürgertapeten
von r88o Ausdrücke zu entdecken, die außer plumper Melange
und einfältiger Kopie noch ein Anderes sind. Das Glüd< des
Kitsches, der Gartenlaube, der gestellten und doch nicht völlig
irrealen Schönfassade gehört gleichfalls hierher; diese Zeit hatte
ein Auge für das auch objektive Mischlicht um die Dinge. Als
Rettung Wagners 3 75
angeblim nicht Gelockertes hat, also nicht sim erneuert und die
Zukunft aufruft. Wagners symphonische Oper war gerade ihrer '
Zeit eine absolute Sprengung, an deren Eklat man nicht zu er
innern braucht. Hat sich diese Sprengung in Wagners Werk auch
bald gesetzt und dogmatisiert, so ist Wagner doch zum Unter
schied von anderen Routiniers und zeitgebundenen Kompilato
ren ein musikalisches Genie schlechthin, mithin eine Gestalt, die
per definitionem genii nicht an Ort und Stelle bleibt. Denn nur
Talente bleiben an Ort und Stelle, sind fertig, voll ausgeschöpfte
Vergangenheit, können also auch für uns vergangen sein; indes
Genie in einem Werk ist das noch Weiterarbeitende in ihm, das
uns weiter Betreffende, der Beitrag einer Zeit zur Zukunft und
dem noch ungewordenen Überhaupt. Folglich scheint nicht so
sehr der Bayreuther Fundus zu drücken, als: man hat die »Genie
weise<< Wagners noch nicht gefunden, bleibt infolgedessen in
seiner Vergangenheitsweise, spielt ihn als sonderbares Gemisch
von Kassenmagnet und Ballast, vonWunderwerk, aufgedonner
tem Mittelvaleur und widerlid1ster Epoche. Dazu kommt der
Gegensatz Wagners zur Nummernoper, die wieder auftaucht,
zur Musik als Rosine, zur Lust an Abwechslung, Handlungs
fülle, Minutenszene. Das riegelt erst recht ab und hält Wagner,
trotz der einleuchtendsten Irritierung, in seiner Zeit, als wäre er
Meyerbeer oder Spontini (an denen man sich freilich nicht zu
ärgern braucht, weil sie in der Tat »vergangen« sind ). Darum
herrscllt Schlendrian und abstraktes Schweigen, ein Ruhenlassen
Wagners, gar ein fauler >>Patriotismus<! an seinem Makart
Strauß und Kaisermarsd1, jedoch keinerlei Erbschaft. Die einzig
versuchte Aktualisierung ist die durcll Striclle, zuletzt gar durch
den Vorschlag, den größten Teil des Rings zu sprechen und nur
die Höhepunkte singen zu lassen. n Wer sich diesen Film an
sieht«, stand auf einem Plakat zu den >>Brüdern Karamasow<<,
>>erspart sicll die zeitraubende Lektüre des umfangreimen Ro
mans<<; wenig anderes meint die verkrampfte Anti-Pathetik der
neuen Wagner-Saclllichkeit auch. Ist Wagners Ring nicht Dosto
jewskijs Ernstfall, so sind seine einzelnen Akte doch sympho
nisch gebaut, so exakt nacll dem Sonatensatz ausgewogen, daß
der Strid1 nur Beethoven, nicht Wagner aus Wagner austreibt.
Die bloß geminderte Quantität sclllägt noch nicht in die Qualität
Rettung Wagners 379
um, die man hier braudlt, vielleicht ahnt. Nur zum entschiede
nen Frisch-und Links-Aspekt ist die Zeit bereits reif: soll heißen,
Wagner ist heute von seinem unmittelbaren Zustand eotgiftbar.
Er braucht eine andere »Stimmung((, selbst Bruckner und Mah
ler, an denen ja viel Wagnerisches rein wurde, helfen der ge
wordenen Fettmusik noch nicht dazu, das Dynamit zu werden,
das sakrale, das sie zuweilen zu sein verdient.
Erst müßte die liebe Leiche darum mit Essig gewaschen wer
den. Wagner braucht seineo Offenbach, den er ohnedies schon
in sid1 hat, gegen den er deshalb keinenSpaß verstand. Die Kd
und leeren Pathosszenen müssen so hodl hinausgetrieben wer
den, daß sie von selber herunterfallen. Es ist nicht möglidt, das
Schlechte, gar Sächsische an Wagner zu lieben, so wie man etwa
Banalitäten an Verdi liebt, ja, ihn um dieser Dingewillen beson
ders liebt, den freundlich tiefen Geist. Wagner ist dafür zu
anmaßend, an den Blößen eines Gewaltzwingers ist nichts Rüh
rendes wie an den Schwächen eines Geliebten; vor allem sind
aum die Schwämen Wagners sächsisch, nicht italienisch. Vieles
wirkt bereits als Offenbach nodtmal parodiert, so daß, wie bei
doppelter Umkehrung, der Ernstfall herauszukommen scheint;
dies müßte zum unfreiwilligen Offenbach in Wagner zurück
gebradtt werden. Es ergäben sim dabei »Parodie<< und echtes
Pathos im gleidten Werk, oft an den gleichen Gestalten, gestaffelt
und gewiß sonderbar, doch jedenfalls als echter Zustand im
Werk, den man jetzt nur zudeckt. Das macht keinen quantita
tiven, sondern einen qualitativen Strich im Ring, den einzig
sinnvollen. Sodann müßte der wirklich »bedeutende<< Schwulst
in Grund und Boden varüert werden, eben das Klara Ziegler
Museum, das fremd gewordene, die Kitsdtmythologie der guten
Stube. Gerade aus unserer Umgebung haben wir alle diese
Stücke entfernt, und eine der besten Taten neuerer Ingenieur
konstruktion ist, uns vom kitschmythischen Bau des »wonnigen
Hausrat« befreit zu haben. Aber wie bemerkt: einen Schritt
weiter lebt das im Raum fort, nidtt seiner Gemütlidlkeit, son
dern seiner Unheimlichkeit nadl, als Hieroglyphe. Dient die
Ingenieurkonstruktion dieser Zeit dazu, daß der gelcommene
Hohlraum nun wenigstens nidtt einstürzt, so bildet - unter
anderem - das XIX. Jahrhundert genug Symbolstoff, der im
Rettung Wagners
die Maschine das Leben um. AuCh mit neuen Formen fühlte die
Industrie schon weit vor; durchs ganze Jahrbundert ziehen sich,
oft verblüffend, Versuche aus Glas, Eisen, unabgegrenztem, luft
durchspültem Raum. Giedion bat dies »Bauen in Frankreich«
gleichsam ausgegraben; »WO das XIX. Jahrhundert sich unbeob
achtet glaubt, wird es kühn«. Ein großer Sonderfall schließlich
ist die WISsenschaft dieses Jahrhunderts, ihr Wille zu positivi
stischer Genauigkeit und die Dienste, die sie mit ihrer riesigen
Materialsammlung dem Marxismus fast unmittelbar erweisen
konnte. Aber vom Sonderfall der Wissenschaft abgesehen ( des
sen Grenzen, dessen eigene Übergänge zum kontemplativen
Schein aufzuzeigen hier zu weit führen würde): ist Offenheit
in allen ideologischen Äußerungen dem Jahrhundert seine Ano
malie und Plüsch seine Regel. AkademischeArchitektur hinderte
die sogenannte funktionelle durchaus, dicke Stile lagerten sich
über die »Combinaisons aeriennes« ( deren Möglichke:ten Oc
taveMirbeau I 889 schon erkannt hatte ) ; »Ornament« vor allem
verblendete ( im wörtlichsten Sinn) die Konstruktion. Der Wi
derspruch zwischen der immer stärker beginnenden gesellschaft
lichen Produktionsweise ( der Industrie ) und der privatkapita
listischen Aneignungsform - dieser Widerspruch erschien in
zwei Gesichtern: dem ingenieurtechnischen hier, dem dekorativ
individualistischen dort oder der Anarchie der »Stile«. Nur daß
es gar keine zwei Gesichter waren; denn das erstere schämte sich
seiner Existenz, kam gar nicht auf, während die historische De
koration Zimmer, Haus, Lebensform, Kunst, Kultur von der
Wiege bis zum Grabe beherrschte. Auch erleichterte dieselbe
Weltwirtschaft, weld1e die eisernen Ausstellungshallen bauen
ließ, ebenso einen historischen Warenmarkt, nämlich die ver
logene Weltausstellung »aller Zeiten und Stile«. Der Schwindel,
den man seit Einführung der festen Preise im Geschäft überdeckt
hatte, brach nunwenigstens im Leben wieder vor. Die historische
NaChahmung aber, ein anderer Grundzug des Jahrhunderts,
entsprang der Lust des Parvenu, im eroberten Adelsbett zu
träumen, feudal sich aufzudonnern. In Deutschland vor allem,
bei politisch fortbestehendem Adel, in der altertümlichen
Dekoration dieses Reichs, blühte der bourgeois gentil'homme,
zoo Jahre nach Moliere, mit ungeahnter Pracht; seine innere
Hieroglyphen des XIX. Jahrhunderts
zunächst, noch ohne Deutung der Folgen, das Kind von damals
im Erwa'chsenen; dessen Reaktion ist Grauen und selber win
kelige, echoreiche Betroffenheit. Denn Kindheit, wir sagten es,
fand nie so viel Zacken und Verzierungen wie im XIX. Jahrhun
dert, so viel Verstecke, die schred{ten und verbargen, so viel
Traum der Späte, der archaischen der Frühe sich ansetzen ließ.
Doch vor allem ist die Zone des Schweigens passiert, weil die
Dinge des XIX. Jahrhunderts jetzt erst zerfallen, weil sie faulen
und dunghaft phosphoreszieren. Der Nationalsözialismus tut
das Seine als Gespenst, um die gute Stube recht unmittelbar zu
nutzen. Er lehnt gerade die »in die Zukunft weisenden« Ele
mente des XIX. Jahrhunderts ab, also sein erstes oder Ingenieur
Gesicht; doch nahe lebt er im zweiten, im Plüsch. Und je deut
licher die bisherigen Machtmittel zur Unterdrückung des
wirklichen Sozialismus versagen, je genauer das Großkapital
fascistischer Diktatur bedarf und der Narkos� dazu, als der
Diktatur in anderer Gestalt: desto häufiger auch aktualisiert es
den Festschein und Maskenball des vorigen Jahrhunderts, desto
geschickter wieder kann Dekorationsmalerei siegen. Die mittel
bare Rezenz dagegen, die seltsame Avantgarde des Surrealismus,
welche für ebenso seltsame, neu-symbolischeZwecke Haut-gout
destilliert, hat das XIX. Jahrhundert forensisch: als Chok und
Objekt, als lebendig gewesenes Wachskabinett und Spuk, als
Ausgrabung und »Antike« mit Totenflecken. Gaslicht kleinbür
gerlich über dem Eßtisch und dem Vertiko daneben; Gaslicht
großbürgerlich über bärtigen Fräcken und Plüschrondells. Gas
licht kleinbürgerlich auf den Stichen und Öldrucken der Zeit,
auf dem Mädchenengel, der ein Kind vor demAbgrund behütet,
auf dem savoyardismen Hirtenknaben, auf dem wasserrosigen
See und der geschmückten Gondelfrau, auf dem rot und grün
erleuchteten Ballsaal des Hintergrunds, worin Paare tanzen in
Decollete und Frack; Gaslicht großbürgerlich über Makartbil
dern, deren alabasterne Arme zu Leichenweiß verderbt sind,
deren Komposition als wilder Plunder zerfällt. Diese Gebiete
geben jetzt erst, durch Chok und Zerfall, ihre Bedeutungen frei:
als Hieroglyphen des Scheins und der Überfüllung, als Stil
Melange und bodenlose Mythologie. Dergestalt hat der Sur
realismus am XIX. Jahrhundert seine Empfindlichkeit, seinen
Viele Kammern im Welthaus
Acker und sein Kolosseum. Der Inhalt der Ausbeute aber ist
gerade die völlig zerfallende Traumstil-Melange, und das Mit
tel, womit deren Hieroglyphen verstärkt werden, um seltsam
betreffend, vielleicht sogarlesbar zu sein, ist diabolische Montage
der damals schon kreuz und quer durchschossenen Ornamente.
Die Photographien auf Staffeleien, die Thermometer auf Helle
barden, die rätselvolle Schreckenskammer der Zeit: dies Jahr
hundert ist näher als die Kindheit, ferner als China. Aber Sur
realisten wie Max Ernst, Chirico, Aragon, Benjamin entzünden
ein Kaminfeuer in der Chinesischen Mauer, rücken den kleinen
Goldstuhl aus der Konditorei heran, und die Chinesische Mauer
umschließt eine Zeit, die das Experiment des Menschen aus
Abhub ist. Ausrufer auf Jahrmärkten pflegen vor mancher Bude
zuzuraunen, hier seien zu sehen ndie Geheimnisse Griechen
lands«. Sie sind es im XIX. Jahrhundert nicht, doch die Zeit
enthielt andere Geheimnisse, nämlich die halbwüchsigen der
damals Erwachsenen; sie war spießbürgerlicher Tempel aus
Alkoven, ein neumythisches Alt-Mexiko aus lauter nBudapest«.
Kein Zweifel: verworfene Ecksteine (nicht immer blasphemi
schen Sinns ) dürften im Trümmerfeld noch findbar sein. Auch
ist die Fauna der Ornamente groß, und das Löwenhaupt am
Kanapee hält den Ring nicht mehr fest. Das Bergwerk dieses
XIX. Jahrhunderts liefert keine Kunstwerke wie die vorigen,
aber Urbilder, Archetypen (menschlicher Expression) aus
Einsturz.
Fast überflüssig zu sagen, wie sehr erst der Tod bricht und
verdunkelt. Der Beilhieb ins Mark, so daß dasselbe Fleisch ver
west, das sich zuerst so seltsam gebildet hat. Da liegt nun die
bittere Leiche, nicht mehr eingeschlossen in die Welt wie die
Frucht, wie das Kälbchen m
i Leibe der Kuh, die man zur
Schlachtbank fährt: sondern der denkende Mensch ist selber an
den Urort des Alogos gefahren, dicht neben der Stadt auf dem
Friedhof. Man hat den Tod in die organische Substanz selbst
einbezogen, ihn gleichsam an die Spitze eines eigenen Triebs,
des Todestriebs gelegt. Nicht nur als Sehnsucht des hohen Alters,
sondern gerade auch als Tendenz der Jugend, als mineralische
Tendenz gleichsam, die das Ich auslöschen, allhaft oder starr
vergehen lassen will. Auch in der Askese soll ein solcher Ver
nichtungstrieb wirken, nicht in der Askese der Arbeit, die es sich
sauer werden läßt, auch nicht in der Askese der Weltflucht um
eines inneren Lichts oder der Überwelt willen, wohl aber in der
baren Abtötungslust, die gleichsam eine Völlerei des Todestriebs
sein kann und an der die Religion eine Ideologie ist. Ebenso gibt
es gewiß mehrere Weisen, mitte1st derer der Tod in die psychi
sche Substanz einbezogen oder wenigstens von ihr gebraucht
wurde. Entweder direkt, wie bei den Ägyptern, als den Ver
ehrern der Starre, der Statuarik, der Osirislehre, oder indirekt
und gleichsam dialektisch in den Phänomenen des »Liebestods«,
zuhöchst des »Opfertods«, auch der echten Askese. Ästhetisch
gehört das Phänomen der Tragödie hierher, wie sie den Tod
zum Rahmen eines herausgetriebenen Lebenssinns macht. Je
doch wie richtig oder falsch auch diese Phänomene gedeutet sein
mögen: selbst ihre Einflechtungen geschehen immer nur am
Rand des Tods, an seiner zurecht gelegten Schauseite, nicht m
i
Zentrum. Er bleibt das fremde Nicht-Ich schlechthin, das Irra
tionale in der Ratio jeder Kultur, selbst der ägyptischen, selbst
der christlichen; der Tod ist der Prototyp jedes »verhängten
Schicksals«, als eines ebenso ungewollten wie fremd eingreifen
den wie unbegriffenen. Noch fremder als der Vormensch reicht
so der Nachmensch und sein Leichenreich in den BegrifFstag,
wird davon überhaupt nicht mehr oder nur mit ungeheuerster
Entfremdung überboten. Das aufgeklärte Lebensbewußtsein
kapituliert vor dem Tod, das kirchliche durchhaut ihn, aber
39 2 Viele Kammern im Welthaus
Sie hemmt heute weit. Es ist doch die zwölfte Stunde, sagt man.
Hinter ihr �er Abgrund, vor dem man steht oder gerade gestan
den hat. Vor dem im letzten Augenblick noch der Wagen zu
rüd<gerissen wurde. Dankbar wird man darum braun, blickt
auch immer wieder nach oben.
Was unten wohnen mußte, hatte zum Schaden mehr als
nur Spott zu ertragen. Unten sollte fast ohne Unterschied dum
mer Pöbel sein, das Pack, der faule, fred1e, unmusikalische
Sklave. Ein zeitgenössischer Schilderer erzählt von den zielbe
wußten Bauern des Bauernkriegs, als sie auszogen, sie »wußten
nit warum, die blinden, elenden, verstockte Leut«. Was immer
Lumpen trägt, Schnaps säuft, die sd1werste und sd1mutzigste
Arbeit schafft, weder Bildung noch Manieren zeigt, hat dies Mi
nus als Folge seiner angeborenen Roheit und nicht die Roheit als
Folge seines sozialen Minus. Ocli profanum vulgus et arceo,
singt Horaz., der Sohn eines Freigelassenen; dies Oberlehrer
gefühl ist geblieben, wo immer Menschen dienenden Standes
erscheinen, die den Respekt vergessen. Freche Dienstboten, tük
kische Bettler, gar meuternde Matrosen finden von Horaz bis -
Jack London kein Pardon. »Weh denen«, singt Schiller, »die
den ewig Blinden des Lichtes Himmelsfackel leihen«; der Rit
tersmann begehrt auch im sozialen Abgrund nicht zu schauen,
was die Götter gnädig bedeckt mit Nacht und mit Grauen.
Frauen der Revolution sind, die Sturmglocke läutend, durchaus
Hyänen; die sexuelleAngst und dasMißtrauen des Kleinbürgers
vorm allemal ungeordneten Weib steuern damit der Revolution
eine besonders chaotische Note bei. Conze, in seinem vielseitigen
Buch »Der Satz vom Widerspruch<<, hat die lehrreichsten dieser
Beispiele zusammengestellt, sie zeigen allesamt den >>Pöbel<< als
minderwertig von Natur aus. Seit Jahrhunderten wiederholt
die herrscl1ende Klasse, daß die Massen keinen Verstand, kein
Urteil haben, daß sie, wie Sombart es ausdrückt, >>intellektuell be
scluänkt, kurzsichtig, leicl1tgläubig<<, sogar kritiklos sind. Ortega
y Gasset, der Schönscl1wätzer und mißvergnügte Fascist, stellt
fest: »Heute wohnen wir dem Triumph einer Überdemokratie
bei, in der die Masse direkt handelt, ohne Gesetz ( !), und dem
Angst vorm »Chaos.
schließen sich an die gewesene an. Dieser war das Böse allemal
unten und das Licht bei den Herren, die zähmen. Da kriecht die
biblische Schlange auf dem Boden, muß Staub fressen ihr Leben
lang, sticht den Menschen in die Ferse, und er hat ihr den Kopf
zu zertreten. Da ist vom Sündenfall her das lüsterne Weib, muß
hart gehalten werden wie alle Begehrlichkeit, ist die Rotte
Korah und die große Hure von Babylon, die ebenfalls aus dem
Abgrund herauf will. Da ist das Chaos selber als Zustand von
Anfang an, der kosmische Untergrund der Welt und als solcher
drohend, wo immer die Bande braver Scheu, frommer Scheu
sich lösen. Auch dionysische Umkehr dieser Wertungen kommt
gegen die alteingefahrene, sozusagen vaterrechtlich eingefah
rene Reaktionsbasis nicht auf. Destoweniger als »Dionysos«
gänzlich zu einem Herrengott gemacht worden ist, zu einem
besonders skrupellosen, und dem Volk durchaus die »Sklaven
moral« bleibt, unter irrationalen Phrasen, die es lediglich
betäuben sollen. Gerade die Lebensangst des üblichen Klein
bürgers aber will Sicherheit; gerade die Ungleichzeitigkeit des
dämonisierten Kleinbürgers, welche faktisch frühere Be
wußtseinslagen streift und im Blutrausch steht, mindestens
in archaischen Träumen, will gestaltlos vorgestelltes Chaos
nicht, sondern geht dagegen an. Sie will als subaltern Führung
und Gefolgschaft, als dämonisiert Drachensieg und deutschen
Stern; Jubel von »Panchaotikern« schlechthin ist selten. Schwer
unterscheidbar, ob nicht auch die religiösen Wertgefühle, welche
den Begriff Materie in seiner langen Urgeschicllte begleitet
haben, in der heutigen Chaosangst, Materialismusangst stellen
weise rezent sind; mindestens in der »gebildeten«. Das Verdikt,
welclles die Kirche der Materie angedeihen ließ, reicht bereits
aus; denn die Kirche überliefert sie dem Bewußtsein (und heute
dem Unbewußtsein ) als »Nid1tsein«, als all das »Unvollkom
mene«, welches die »Nachtcc den Gestalten der Schöpfung bei
fügt. Sie überliefert die vaterrechtliche, die platonisch-mythische
Gleid1setzung von Materie mit Fleisch, Dunkelheit, verdäch
tigem Stoffdes Abgrunds, sie überliefert ebenso ))Ideecc alsForm
und einziges Licht. Das alles ist Beisteuer zur Chaosangst, wo
immer sie im Interesse der herrschenden Klasse liegt. Die christ
liche »Bewegungsumkehr der Liebecc, wonadl die Seele nicht
402 Angst vorm »Chaosc
DerTag ist leer. Die Arbeit fehlt. Der Dienst ist hart. Das Volk
braucht Reize. Der Nazi malt sie in die Stickluft, wie das >>Volk«
es wünscht, das Kapital befiehlt. »Arbeiter« der Stirn reichen
dem Arbeiter der Faust die Hand (sonst nichts ); große Kuxen
besitzer rufen Glückauf! und haben recht, als wackere Berg
leute. Allen anderen zeigt sich, hinter den Rache-Exzessen, dem
Phrasen-Portal immer nur die gleiche traurige unabgestellte
Wirklichkeit. Techniker sehen Maschinen gedrosselt, die Mil
lionen Brot schaffen könnten, sehen Erfindungen verhindert,
weil sie dem Profit im Wege stehen. Ärzte haben Menschen
für eine Hölle gesund und leistungsfähig zu machen, heilen
Krankheiten, die aus den Lebensbedingungen der heutigen
Gesellschaft immer wiederkommen wie Wunden im Krieg. Juri
sten sprechen Recht als nackten Ausdruck der Gewalt; der fasci
stische Staat duldet sie nur noch als Metzger höherer Ordnung
oder als Sophisten des Verbrechens. Lehrer, Künstler, Schrift
steller finden keine Kultur mehr auf dem Boden des Kapitals,
es sei denn eine ironische oder wunderliche, eine, welche die
Heimatlosigkeit, die direkte Objektlosigkeit selber ist. Trotz
dem steht kleinbürgerliche Gewohnheit jeder dieser Einsichten
im Wege. Trotzdem formt eine ganz kleine Schicht Interessierter
die revolutionäre Lage reaktionär und bedient sich derer, die
das XIX. Jahrhundert >>Desperados« genannt hatte. Trotzdem
aber auch hätte Reaktion niemals so weit verführen können,
wären ihre Mittel nicht gesprenkelt und widerspruchsvoll wie
die Lage selbst, wäre ihre Kunst nicht so ungestört geblieben,
im Dunkeln zu munkeln. Die »irrationalen« Bedürfnisse von
heute, gewiß, auch sie entstammen letzthin der wirtschaftlichen
Lage, doch nicht so glatt und einfach, sind darum auch nicht so
glatt und einfach behandelbar, behebbar. Wahrend der paar
Jahre »Sachlichkeit« hatte mancher Fortschrittsfreund behaup
tet: >>Unsere Zeit ist ein schlechter Nährboden für Gespenster«;
es hat sich gezeigt, ein wie guter sie ist. Denn gäbe es unter den
pauperisierten Schichten nicht ebensoviel ausgehungerte Phan
tasie wie beleidigten Standesdünkel, ökonomische Unwissen
heit und wirkliche Not: dann wäre unmöglich gewesen, die
Fahne rot und gold
Nationalsoziaismus
l zeigt, noch von zukünftigen. Gerade marxi
stische Dialektik ist kein immanenter Mechanismus; gerade sie
hat - vom subjektiven Faktor ganz abgesehen - als materiellsten
Motor: daß die Hauptsache, nämlich das wirkliche menschliche
Leben, in keinem Klassenzustand bereits geworden ist. Daher
der Wille, der human-vermehrende und nicht nur ökonomisch
freilegende Wille, die Klassengesellschaft n
i die sozialistische
überzufübren, nachdem alle ihre äußeren Bedingungen nicht
schlecht gereift sind. Daher die Losung, das Wozu und Ober
haupt, das man noch nicht kennt, als dauernde Frage zu halten.
Der Mensch lebt nicht von Brot allein, besonders wenn er keines
hat. Hat er es, dann s
i t der Traum des Mehr erst recht fällig
und rot.
GLAUBE O H N E LÜGE
die dünne Innerlichkeit oder die Seele im Sack sich der übrig- .
keit verbindet, sich christlich mit sich selber tröstet. Womit der
Lutherstaat aufs neue in seiner Härte, Roheit und Totalität sich
mythologisiert: als gottgesetzte Repressalie gegen den Sünden
knecht, als Repressalievor allem gegen den proletarischenKnecht,
der so wenig besitzt, daß er nicht einmal einen Glauben hat
und eine innere Manier. Allerletzt zwar murrt ein Pfarrernot
bund, weil er zuviel seines Staates sid1 gegenübersieht. Dod1 der
Lutherzorn selbst ist reaktionär vom Meister an; was dem An
fang identisdt war, kann der Folge nidtt weit entlaufen, die
Treue ist das Mark der Ehre. Es wäre ebenso das beste, an der
großen katholisdlen Kird1e mit vollendeter Erfahrung vorbei
zugehen. Ihr Geist, ehemals sdllau, audt kühn, bunt und weit,
heute »harmonisdt« und ausgebissen, ist einer der Sparkasse
geworden, nid1t der Verwandlung. Die Fragen und Willens
impulse, welche gegen das Zur-Ware-Werden des Mensdlen,
gegen die Mechanisierung durch Kapitalismus angehen, die
Antinomien, weldte der katholisdte Christ besonders ungleich
zeitig in dieser Gesellsdtaft erlebt, werden nid1t nur, wie stets,
mit Trost aufs ausgleichende Jenseits behoben, sondern dazu
nodl mit Draperien aus einer längst gerichteten Gesellschaft,
nämlich der feudalen des Mittelalters. Nicht einmal bei dieser,
immerhin relativenEntgegensetzung zumJetzt bleibt die Papst
kirche, vielmehr: sie ist praktisch vollkommener Modernismus,
sie bejaht und verteidigt den Kapitalismus und drosselt nur die
Revolutionselemente an ihm, nämlich die proletarischen »Ex
zesse«, die Akkumulation, die Dialektik. Die Kirche möcllte den
Kapitalismus nur auf gewisse mittelständisdle Wirtsdlafts- und
Denkstufen zurückbringen, damit er desto sicllerer verewigt
werde; weit davon entfernt, den praktisdten Mechanismus ab
strakt abzulehnen oder aber konkret zu Ende zu treiben, wählt
die Kirche einen unweisen Kompromiß, eine Harmonie aus Un
vereinbarkeit, nämlich praktisdlen Modernismus mit gotisd1er
Verzierung. Sie wählt einen Andachts-Kapitalismus, einen mil
den Profit mit ebenso milden Evangelien, einen sanften Beton
mit korrekten Symbolen aus dem thomistischen Musterbuch; so
fehlt das »Transzendierende« gerade, das »Transzendierendecc
im Jetzt, welche eine höllisdte Gegenwart sprengt. Darum auch
Glaube ohne Lüge
Kandinsky, Wassily 53, 83, 156, 166 Mahler, Gustav p, 54, rot, 379
Kant, Immanue! J96, 300, 343, 364 Makart, Hans 359, 377,386
Kar! der Große 13 I f. Manet, Edouard 83
Kautsky, Karl 146 Mann, Heinrich 168
Keller, Gottfried 54, 158 f., 161, 199, Mann, Thomas 198 f., 1 to
371, 385, 390 Mannheim, Karl z86ff., 311, JZ5
Keyserling, Hermann Graf 149, 313 Mare Aurel 317
Kierkegaard, Sören 198, 3o6, 308 f., Mare, Franz 53, 81 f., 85 f., 155 f.,
JI2,J17, J64 z6o, z66, z76
Kipling, Rudyard 251 Marx, Karl t8, 21, p, 72 , 95, 97, I 14,
Kirdmer, Ernst Ludwig 82 u8, tso, 154, 156, I69 ff., 196, 111,
Klages, Ludwjg 65, 84, 184, 197, 201, 269, 177, 186 f., 400
zu, 314, 319, 330 ff., J36 ff., ]48, May, Kar! 169 ff., 179 f., 1 to, 371,
350, 357· 385 377. ]80
Klee, Paul 83, 256 f., 16o, z66 Mazzini, Giuseppe 88
Kleist, Heinridx von 3 6 I Meinong, Alexius 303
Klemm, Friedeich 91 ff. Mendelssohn-Bartholdy, Felix 373
Klemperer, Otto 236, 377 Mesmer, Pranz Anton 337
Klinger, Max 3 73 Metternidt, Clemens Fürst von 163,
Köhler, Wolfgang 303 187
Kokoschka, Oskar 82, 166 Meyerbeer, Giacomo 3 74, 378
Kracauer, Siegfried 33 ff. Meyrink, Gustav 190
Kretsdtmcr, Ernst 303 Mirabeau, Gabriel-Honorc Riqueti,
Kurella, Alfred 164 f., 174f. Graf von 78
Mirbeau, Ocrave 382
Laotse 255, JZ7 Modersohn-Becker, Paula 83
Lasker-Schüler, Else 166 Moeller van den Bruck, Artbur 64,
Laue, Max von 189 1:1.], IJ9
Leib!, Wilhelm 384 Molesdtott, Jacob 399
Leibniz, Gottfried Wilhelm 93 Moliere, Jean Baptiste 3 81
Lenbadt, Franzvon 336 Montanus 143
Lenin, Wladirnir lljitsch 78, 147, ISO, More, Tbomas 1so
184, 188, 29I ff. Mörike, Eduard 270
Namenregister